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Full text of "Onanie und Homosexualität. (Die homosexuelle Neurose) [Störungen des Trieb- und Affektlebens II., 2., verbesserte und vermehrte Auflage]"

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ONANIE 


UND 


•  • 


HOMOSEXUALITÄT 


(DIE  HOMOSEXUELLE  NEUROSE.) 


VON 


DE  WILHELM  STEKEL 

NEBVENABZT  IN  "WIEN. 


Zweite,  verbesserte  und  vermehrte  Aullage. 


ürban   &   Sehwarzenberg 

BERLIN  WIEN 

N.,  FriedrichstraQe  106b.  I->  Mahlerstraße  1. 

1921. 


Verlag  von  ürban  &  Schwarzennerg  In  Berlin  und  Wien. 


Soeben  erschien: 

PSYCHOLOGIE  DER  FRAU. 

Versuch  einer  synthetischen,  sexualpsychologischen  Entwickelungslehre.  —  In 
zehn  Vorlesungen,  gehalten  an  der  Friedrich  Wilhelms-Universität  zu  Berlin  von 

W.  Liepmann. 

Mit  einer  Tafel  und  10  Textabbildungen.  H  i2~ >  ?eb.  M  54.—. 

VORWORT: 

Seitdem  ich  im  Jahre  1909  die  klassischen  Vorlesungen  v.  Winckels  über      L  '   . 

Frauenkunde  gelesen  hatte,  war  in  mir  stets  der  Wunsch  rege  gewesen,  eine 
ähnliche  Vorlesung  für  Studierende  aller  Fakultäten  hier  in  Berlin  zu  halten. 
Wissenschaftliche  Arbeiten,  Berufsgeschäfte  und  schließlich  der  Weltkrieg  ließen 
fast  ein  Dezennium  vergehen,  ehe  ich  diesen  Plan  zur  Ausführung  bringen  konnte. 
Als  ich  die  Vorlesungen  begann,  war  ich  über  die  Zahl  von  150  Hörern  und  Höre 
rinnen  aller  Fakultäten  überrascht;  als  ich  sie  schloß,  waren  es  mehr  als  700. 
Dieses  rege  Interesse  für  das  Problem  der  Frauenseele  un^  die  vielfachen  Bitten 
meiner  Hörerschar,  das  Gehörte  auch  nachlesen  zu  können,  bestimmten  mich, 
die  Vorlesungen,  die  nur  in  kurzen  Notizen  bestanden,  auszuarbeiten  und  dem 
Druck  zu  übergeben. 

So  wie  sie  entstanden,  wollen  sie  genommen  werden.  Nicht  die  Erfahrungen 
des  Frauenarztes,'  von  dem  v.  Winckel  behauptet,  „daß  er  das  Weib  in  allen  und 
jeden  Beziehungen  genau  kenne",  sollten  diesen  Vorlesungen  zugrunde  liegen, 
sondern  die  Genese  alles  Werdens.  So  wurden  sie  zu  dem  Versuch  einer  synthe- 
tischen, sexualpsychologischen  Entwicklungslehre.  Manche  von  den  Fragen,  die 
hier  nur  angedeutet  werden  konnten,;  JüsJ^en  Raum  nicht  über  Gebühr  in  An- 
spruch zu  nehmen,  habe  ich  mit  deikH£rer*rln>iner  sexual-psychologischen  semi- 
naristischen Übungen  sorgsam  besprochen. -und  diskutiert.  Manche  ernste  An- 
fängerarbeit ist  in  diesen  Übungen;;«*  W-9Stigefcommen,  die  anderen  Ortes  noch 
Frucht  tragen  soll.  Sie  würden  erwfeisen,  wie  wichtig  für  das  Leben  dieses  Problem 
und  seine  Behandlung  für  alle  Berührten,  geworden  ist.  Aber  eine  Frucht  meiner 
Vorlesungen  und  Übungen  sowohl  w^_e  meiner  volkstümlichen  Hochschulkurse 
durfte  in  diesem  Buche  nicht  fehlen :  das  sind  die  Bekenntnisse  am  Schluß  unserer 
Vorlesungen.  Sie  reden  ohne  viel  Kommentar  eine  beredte  Sprache,  sie  sind 
Illustrationen  des  Gesagten.  Aber  diese  Bekenntnisse  sind  nicht  nur  Illustration, 
sie  zeigen  auch,  was  uns  not  tut:  Wir  müssen  die  Natur  im  Bewußtsein  und  in 
der  Erziehung  des  Einzelnen  beleben,  vergöttlichen.  Sexual-pädagogische  Vor- 
lesungen sind  es,  die  wir  brauchen,  die  durch  die  Lehrer  den  Schülern,  durch  die 
Volkshochschulen  den  Eltern  nutzbar  gemacht  werden,  daß  die  Heiligkeit  alles 
Seins  statt,  der  Lüge  in  die  Herzen  der  neuen  Generation  einzieht.  Auch  hier- 
für geben  unsere  Vorlesungen  manch  einen  Fingerzeig,  besonders  in  den  Schluß 
deduktionen. 

VORWORT.  Inhaltsverzeichnis  im  Auszug: 

I.  Einleitung.  Biologische  Grundlagen  .    .       ...:......   .  s.       1—16 

II.  Biologische  Grundgesetze  der  psycholog.  Geschlechtsdifferenz  .  S.     17—55 

III.  Die  sekund.  Geschlechtscharaktere  in  ihrer  Beziehung  zur  Psyche  S.     56—69 

IV.  Sexualpsyche  und  Stammesentwicklung  (Phylogenese)    .    .    .    .  S.    70—100 
V.  Sexualpsyche  und  Völkerentwicklung ,   .  S.  101— 134 

VI.  Sexualpsyche    und    Individualentwicklung.    Tierpsychologische 

Einleitung S.  135—157 

VII.  Die  Durchgeistigung  der  Sexualpsyche  nach  der  Geschlechtsreife  .  S.  158—174 

VIII.  Die  Ehe  als  biolog.  Einheit  und  Stufe  zu  höherem  Menschentum  .  S.  175—194 

IX.  Die  Ursache  der  Promiskuität  und  die  Psyche  der  Prostituierten  .  S.  195—205 

X.  Die  Psychedes Weibes.  Vergleiche,  Zusammenfassung u. Ergebnis  S.  206—243 

Anhang:  Bekenntnisse  und  Arbeiten  meiner  Hörer  und  Hörerinnen  .  S.  244 308 

Anmerkungen  und  Hinweise S.  309— 315 


STÖRUNGEN 


DES 


TRIEB-  UND  AFFEKTLEBENS. 

n. 


< 


STÖRUNGEN 


DES 


TRIEB-  UND  AFFEKTLEBENS 


(DIE  PARAPATHISCHEN  ERKRANKUNGEN). 


VON 


DE  WILHELM  STEKEL, 


NEBVENARZT  IN  WIEN. 


IL 


ONANIE  UND  HOMOSEXUALITÄT. 


& 


URBAN   &   SCHWARZENBERG 

BERLIN  WIEN 

N.,  FRIEDRICHSTRASSE  106b  I.,  MAXIMILIANSTRASSE  4 

1921. 


ONANIE 


UND 


•  • 


HOMOS  EXUAL I  TAT 


(DIB  HOMOSEXUELLE  NEUROSE.) 


VON 


DR  WILHELM  STEKEL, 


NERVENARZT  IN  WIEN. 


ZWEITE,  VERBESSERTE  UND  VERMEHRTE  AUFLAGE. 


-»  •  *- 


u 


URBAN   &   SCHWARZENBERG 

BERLIN  WIEN 

N.,  FRIEDRICHSTRASSE  105b  I.,  MAXIMILIANSTRASSE  4 

1921. 


. 


Alle  Rechte,  gleichfalls  das  Becbt  der  Übersetzung  in  die  rassische  Sprache 

vorbehalten. 


^ 


Copyright,  1920,  by  Urban  &  Schwarzenberg,  Berlin. 


V 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Die  vorliegende  Auflage  enthält  einige  wichtige  Ergänzungen 
und  mehrere  neue  Beobachtungen.  Seit  der  Publikation  der  ersten 
Auflage,  die  eine  so  freundliche  Aufnahme  gefunden  hat,  hatte  ich 
Gelegenheit,  viele  Homosexuelle  beiderlei  Geschlechtes  zu  sehen 
und  zu  analysieren.  Ich  konnte  meine  Erfahrungen  vertiefen,  ohne 
an  meinen  Schlußfolgerungen  rütteln  zu  müssen.  Ich  kann  nur 
wiederholen,  was  ich  schon  in  der  ersten  Auflage  gesagt  habe : 
Die  Homosexualität  ist  eine  Seelenkrankheit  (Parapathie)  und  ist 
heilbar! 

Viele  Ärzte  aus  der  Schule  Hirschfelds  haben  mir  die  Er- 
gebnisse der  Experimente  von  Steinach  entgegengehalten.  Sie 
finden  in  dieser  Auflage  ihre  Antwort. 

Ich  hoffe  in  der  nächsten  Auflage  diesem  Werke  noch  eine 
Reihe  von  neuen,  überzeugenden  Analysen  hinzuzufügen.  Leider  bin 
ich  durch  den  Aufbau  der  neuen  Bände  zu  sehr  in  Anspruch  ge- 
nommen, als  daß  ich  schon  jetzt  diese  Pflicht  hätte  erfüllen  können. 

Ich  bin  aber  fest  überzeugt,  daß  die  Zukunft  mir  recht  geben 
wird.  Ich  hoffe,  daß  andere  Ärzte  meine  Ergebnisse  an  ihrem  Material 
nachprüfen  und  sich  von  ihrer  Wichtigkeit  und  Richtigkeit  über- 
zeugen werden.    Bis  heute  ist  es  noch  nicht  der  Fall  gewesen  .  .  . 

Wien,  Oktober  1920. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsangabe. 


Erster  Teil:  Die  Onanie. 

Seite 

I.  Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie  .   .   .    2—29 

Über  die  Sexualität  des  Kindes.  —  Coitus  im  Kindesalter.  —  Warum 
alle  Ärzte  die  Sexualität  der  Kinder  übersehen  haben.  —  Die  Asexuali- 
sierung  und  Vergöttlichung  des  Kindes.  —  Schilderung  der  Säuglings- 
onanie.—  Zwei  verschiedene  Typen.  —  Die  Friedmannscha  Krankheit.  — 
Onanierende  Kinder  werden  als  epileptisch  angesehen.  —  Freuds  Ansichten 
über  die  Säuglingsonanie.  —  Gibt  es  eine  Latenzperiode?  —  Die  Onanie  des 
talentierten  und  die  Onanie  des  geisteskranken  Kindes.  —  Paraphilie,  Pa- 
rapathie  und  Paralogie.  —  Neue  Ausdrücke  für  neue  Anschauungen.  — 
Rückständige  Ansichten  über  Onanie.  — Versuch  einer  Definition.  —  Die 
verschiedenen  Formen  der  Onanie.  —  Verschiedene  statistische  Angaben 
über  die  Häufigkeit  der  Onanie.  —  Alle  Menschen  onauieren.  —  Die  Neu- 
rose eine  Folge  der  Abstinenz,  nicht  der  Onanie.  —  Gibt  es  eine  Neur- 
asthenie als  Folge  der  Onanie?  —  Analyse  eines  Falles  von  sogenannter 
Neurasthenie.  —  Beschreibung  eines  älteren  Kinderfreundes,  der  sich 
durch  Onanie  vor  dem  Verbrechen  schützt.  —  Ein  onanierender  Lust- 
mörder. —  Die  Onanie  als  sozialer  Schutz  vor  sexuellen  Verbrechen. 

II.  Onanie  und  Neurose , 30—53 

Die  Onanie  ein  Abwehrsymptom.  —  Geisteskrankheit  und  Onanie.  — 
Die  Neurose  bricht  aus,  wenn  die  Onanie  aufgegeben  wird.  —  Fall  eines 
abstinenten  Studenten.  —  Eine  Arztensfrau,  die  in  den  Büchern  ihres 
Mannes  liest,  ihr  Kampf  gegen  die  Onanie,  ihr  Brief  vor  dem  Selbst- 
mord. —  Selbstmord  und  Onanie.  —  Die  Onanie  die  einzig  adäquate 
Form  der  Befriedigung  für  viele  Menschen.  —  Chronischer  Selbstmord 
durch  Onanie.  —  Onanie  und  Inzest.  —  Der  stotternde  Onanist.  — 
Analyse  eines  Schülerselbstmordcs.  —  Die  Bedeutung  der  spezifischen 
Phantasie  beim  onanistischen  Akte.  —  Ein  Fall  von  Onanie  wegen  Fi- 
xierung einer  Phantasie.  —  Ein  Fall  von  Onauismus.  —  Schaden  des 
Onanismus.  —  Konstitution  und  Onanie.  —  Übergang  von  der  Onanie 
zum  allerotischen  Verkehre.  —  Es  gibt  keinen  Kanon  für  die  normale 
Sexualität.  —  Die  verschiedenen  kriminellen  Phantasien  der  Onanisten.  — 
Die  Neurotiker  als  Schauspieler. 


VIII  Inhaltsangabe. 

Saite 

III.  Sanierte  Onanie ." 54—74 

Die  Pollution  als  onanistischer  Akt.  —  Der  Fall  von  Folien  Ca- 
bot.  —  Ein  anderer  Fall  meiner  Beobachtung.  —  Eine  Dame,  die  an 
Pollutionen  leidet.  —  Der  Kampf  gegen  die  Pollutionen.  —  Schlaflosig- 
keit und  Kopfdruck.  —  Ein  Student,  der  4—5  Pollutionen  in  einer  Nacht 
hat.  —  Erforschung  der  spezifischen  Phantasie.  —  Onanie  im  hysteri- 
schen Anfall.  —  Die  Schädlichkeit  der  Onanie  bedingt  durch  das  Schuld- 
bewußtsein, r—  Süße  Ohnmacht.  —  Reizung  erogener  Zonen.  —  Ver- 
längerung der  Vorlust  auf  Kosten  der  Endlust.  —  Verschleierter  Orgas- 
mus. —  Dermatosen  als  Ersatz  der  Onanie.  —  Pruritus  vulvae.  —  Sper- 
matorrhoe.  —  Analerotik.  —  Luthers  Leiden.  —  Tagträume  mit  geistiger 
Onanie.  —  Ein  Fall  von  Zwangsneurose  nach  Aufgeben  der  Onanie; 
Heilung  nach  Wiederaufnahme  der  Onanie.  —  Unbefriedigte  Menschen 
werden   Verbrecher. 

IV.  Andere  Formen  larvierter  Onanie.  —  Erotische  Rei- 
zungen als  Heilmittel.  —  Zur  Psychogenese  des  Schuld- 
bewußtseins   ;\  75_ioo 

Ein  Fall  von  geistiger  Onanie,  deskriptiv  von  Krafft-Ebing  be- 
schrieben. —  Mitteilung  eines  analytisch  aufgeklärten  Falles  von  larvierter 
Onanie.  —  Fixierung  einer  traumatischen  Szene  durch  Onanie.  —  Neben- 
wirkungen der  Prostatamassage.  —  Die  Heilkraft  des  Magnetismus  be- 
ruht auf  Sexualität.  —  Eine  Dame,  die  sich  von  einem  Magnetiseur  be- 
handeln läßt.  —  Wirkung  der  Massage  auf  den  Eros.  —  Der  Entero- 
kleaner.  —  Gonorrhoe  und  Neurose.  —  Ein  Fall  von  Wunderheilung  durch 
Prostatamassage.  —  Analyse  des  Schuldbewußtseins  der  Onanisten.  — 
Die  Onanie  als  Symbol  jeder  Schuld.  —  Ein  Beispiel  von  Schuldver- 
schiebung. —  Die  aufreizende  Wirkung  des  Verbotes.  —  Die  Gefahr  und 
die  Schuld  als  Steigerungen  der  Lust.  —  Prophylaxe  der  Kinderonanie.  — 
Erziehungsfehler.  —  Onanie  und  Potenz.  —  Die  Onanie  eine  Regression 
auf  das  Infantile. 

V.  Onanie  und  Religion jqi 117 

Die  Religion  der  Wächter  der  Sexualität.  —  Onanie  und  Frucht- 
barkeit. —  Der  alte  und  der  neue  Priester.  —  Ein  Fall  von  Religions- 
neurose. —  Einfluß  eines  Pfarrers  auf  seine  Gemeinde.  —  Glossolalie.  — 
Dement  infolge  des  Kampfes  gegen  die  Onanie.  —  Der  Onanist  selbst 
ein  Gott.  —  Die  Sexualität  durchsetzt  die  Religion.  —  Was  ein  Pfarrer 
über  den  Schaden  der  Onanie  schreibt.—  Der  Seelsorger  der  Zukunft.  — 
Ein  Fall  moderner  Seelsorge.  —  Die  neue  Religion  von  Marcinowshi. 

VI.  ZwangsliaiKllungenfeines  Onanisten.  —  Askese  und  Al»- 

stinenzbewegung.  —  Allgemeine  Betrachtungen  .   .   .  118—139 

Zwangshandlungen  eines  Philosophen,  der  die  Onanie  überwunden 
hat.  —  Sein  Zeremoniell  im  Klosett.  —  Zeremoniell  am  Morgen.  —  Beim 
Verlassen  der  Wohnung.  —  Im  Parke.  —  Auflösung  seiner  Zwangs- 
handlungen. —  Die  Psychologie  der  Askese  und  der  Abstinenz.  —  Der 
Wille  zum  Rausch.  —  Die  Abstinenzbewegung  eine  soziale  Phobie,  — 
Verschiebung  auf  das  Kleine  und  das  Große.  —  Soziale  Sicherungen  gegen 


Inhaltsangabe. 


IX 


die  Onanie.  —  Die  Eltern  als  sexuelle  Wächter  ihrer  Kinder.  —  Die 
Asexualisierung  des  Kindes.  —  Der  Onanist  sein  eigener  Gott.  —  Fi- 
xierung der  Onanie  aus  Trotz.  —  Die  Revolte  gegen  das  Teleologische.  — 
Die  Schule  des  Opfers  und  der  Liebe.  —  Läßt  sich  die  Onanie  aus- 
rotten? —  Sublimierung  der  sexuellen JEnergien. 


Seite 


Zweiter  Teil:  Die  Homosexualität. 

I.  Allgemeines.  —   Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der 

Homosexualität 143—166 

Krafft-Ebing  hält  die  Onanie  für  die  Ursache  der  Homosexu- 
alität. —  Verwechslung  von  Ursache  und  Folge.  —  Kraepelins  Ansichten 
über  Onanie  und  Homosexualität.  —  Die  Thesen  von  Krafft-Ebing.  — 
Die  Ansichten  von  Moll,  von  Havelock  Ellis,  Bloch,  Magnus  Hirschfeld,.  — 
"Wie  wird  die  Diagnose  der  Homosexualität  begründet?  —  Über  die  all- 
gemeine Bisexualität  aller  Menschen.  —  Zusammenhang  von  Neurose 
und  Homosexualität.  —  Die  Familie  der  Homosexuellen.  —  Blochs  An- 
sichten über  das  Rätsel  der  Homosexualität.  —  Die  Wirkung  der  Psyche 
auf  den  Organismus.  —  Der  Wunsch  als  wichtiger  Faktor  in  der 
Psyche.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.  —  Theorien  von  Kiernan 
Chevalier  und  Lombroso.  —  Der  Neurotiker  als  Rückschlagserscheinung.  — 
Frühes  Erwachen  der  Sexualität  bei  allen  Homosexuellen. 

II.  Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexua- 
lität. —  Das  kritische  Alter.  —  Don  Juan  und  Ca- 
sanova           167—201 

Entwicklung  der  Sexualität.  —  Das  bisexuelle  Ideal  aller  Men- 
schen. —  Das  sexuelle  Grundgesetz.  —  Bedeutung  der  Homosexualität 
für  die  Neurose.  —  Weibliche  Männer  und  männliche  Frauen.  —  Geron- 
tophilie.  —  Dirnenliebe.  —  Die  Bedeutung  der  sexuellen  Symbole.  — 
Verschiedene  Masken  der  Homosexualität.  —  Transvestiteu.  —  Ein  Fall 
von  Transvestismus.  —  Die  Bedeutung  der  Hose  als  Symbol.  —  Ein  Fall 
von  Verlieben  infolge  eines  Symbols.  —  Eine  Liebe  auf  den  ersten  Blick.  — 
Das  kritische  Alter.  —  Der  Wollüstling.  —  Der  Fall  eines  Mannes,  der 
das  kritische  Alter  durchgemacht.  —  Neurotische  Zerrbilder  der  Homo- 
sexualität. —  Der  Don  Juan.  —  Psychoanalyse  eines  Don  Juan.  —  Eine 
heiße  Liebe  im  hohen  Alter  verdächtig.  —  Analyse  eines  Don  Juan. 

III.  Satyriasis  und  Nymphomanie 302—223 

Diagnose  der  Satyriasis.  — .  Priapismus.  —  Ein  Fall  von  Satyriasis. 
—  Ein  zweiter  Fall  von  Satyriasis.  —  Ein  Fall  von  Nymphomanie.  — 
Nachweis,  daß  hinter  diesem  leidenschaftlichen  Drängen  der  homosexuelle 
unbefriedigte  Trieb  steckt. 

IV.  Der  rudimentäre  Don  Juan.  —   Die  moderne  Messa- 

liua 224—253 

Schilderung  von  Don  Juan-Typen,  die  sich  mit  der  Eroberung  be- 
gnügen und  auf  den  physischen  Besitz  verzichten.  —  Ein  Pechvogel.  —  Ein 
St  ekel,  Störungen  dos  Trieb-  und  Affoktlebons.  II.  S. Aufl.  b 


X  Inhaltsangabe. 

Seito 

Mann,  der  durch  Magenschmerzen  in  der  Liebe  gehindert  wird.  —  Eine 
Messaliria,  welche  durch  Erbrechen  ihre  Keuschheit  bewahrt.  —  Einfluß 
der  Religion  auf  diese  Neurosen. 

Y.  Homosexualität  und  Alkohol 254-271 

Der  Widerstand  der  Homosexuellen  gegen  ihre  Genesung  und  ihr 
Stolz  auf  ihren  Zustand.  —  Erworben  oder  angeboren?  —  Der  "Wahnsinn 
und  der  Alkohol  als  Verräter  des  inneren  Menschen.  —  Drei  Fälle  von 
Colla  betreffend  homosexuelle  Handlungen  im  Rausche.  —  Erfahrungen 
von  Nuuia  Praetorius.  —  Der  Fall  von  Hugo  Deutsch.  —  Die  Ansichten 
von  Juliusburg  er.  —  Zwei  eigene  Beobachtungen.  —  Ein  Fall  von  Moll. 

—  Ansichten  von  Fleischmann  und  von  Nicke.  —  Eine  eigene  Beobach- 
tung. —  Bloch  über  den  Weiberhaß. 

VI.  Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen 

Infektionen.  —  Einfluß  «1er  Traumen 272—294 

Kanu  der  Ekel  die  Ursache   der  homosexuellen  Einstellung  sein  ? 

—  Beobachtungen  von  Krafft-Ebing,  Fleischma7in  und  Ziemcke.  —  Eigene 
Beobachlungiund  ein  Fall  von  Bloch.  —  Ein  Trauma  in  späten  Jahren 
als  Ursache  der  Homosexualität.  —  Eigene  Beobachtung  einer  tardiven 
Homosexualität.  —  Zwei  Fälle  von  Bloch.  —  Weitere  Kasuistik.  —  Ein 
Fall  von  Pjister  und  einige  Traumanalysen. 

VII.  Das  Verhältnis  des  Homosexuellen  »um  anderen  Ge- 
sehleehte.  —  Angst,  Ekel,  Haß  und  Wut.  —  Homosexua- 
lität und  Epilepsie.  —  Die  Forschungen  Sadgers  .   .  295—315 

Die  Thesen  von  Hirschfeld.  —  Die  Angst  vor  dem  geschlechtlichen 
Partner.  —  Ekel  vor  dem  Weibe.  —  Sadistische  Einstellung.  —  Epilepsie 
und  Homosexualität.  —  Andere  Abwehrreaktionen.  —  Meine  ersten  Er- 
fahrungen. —  Die  Forschungen  Sadgers. 

VIII.  Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten 

zur  Mutter 316—350 

Erotik  und  Sexualität.  —  Das  Unerfüllte  als  treibende  Kraft.  — 
Der  männliche  Protest.  —  Das  Verhältnis  des  Homosexuellen  zur  Mutter. 

—  Das  Grundschema  von  Hirschfeld.  —  Infantile  Eindrücke.  —  Der 
Einfluß  des  stärkeren  Elternteiles.  —  Der  Brief  eines  Kenners  der  Homo- 
sexuellen. —  Analyse  eines  Homosexuellen.  —  Ein  Künstler,  der  für 
ordinäre  Männer  schwärmt.  —  Der  Einfluß  des  Vaters  auf  das  Schicksal 
des  Sohnes.  —  Zwei  Fälle  von  Fe"r(.  —  Einfluß  der  inneren  Sekretion 
auf  psychische  Vorgänge  und  umgekehrt.  —  Die  Krankengeschichte  eines 
akromegalen  Riesen,  der  ein  Weib  sein  will.  —  Die  Arbeiten  von  Steinach. 

IX.  Die  Bolle   des  Vaters  und   der  Geschwister.   —  Der 

Kinderhaß 351—378 

Der  Brief  eines  Homosexuellen,  der  sich  vor  den  „prüfenden  Blicken" 
der  Mädchen  fürchtet.  —  Eine  Ehe  mit  dem  .Vater.  —  Eifersucht  auf 
den  Vater.  —  Ein  Homosexueller,  der  seine  Mntter  haßt.  —  Ein  geliebter 
Knabe  als  Imago  der  Schwester.  —  Ein  Fall  von  Fdri.  —  Psychologie  der 
Familienliebe.  —  Die  Angst  vor  dem  Kinde.  —  Ein  Mädchen,  das  alle 
Kinder  haßt.  —  Differenzierung  von  der  Mutter. 


Inhaltsangabe. 


XI 


Seite 

X.  Homosexualität  und  Eifersucht 379—399 

Psychologie  der  Eifersucht.  —  Die  Bedeutung  des  Persönlichkeits- 
gefühles. —  Ur-Gefühle  und  Muttergefühle.  —  Ein  Mann,  der  seine 
Frau  betrügen  will.  —  Argwohn.  —  Eifersucht  als  Projektion  der  eigenen 
Unzulänglichkeiten.  —  Maskierte  Eifersucht.  —  Eine  eifersüchtige  Arztens- 
frau.  —  Homosexuelle  Wurzel  der  Eifersucht.  —  "Warum  Frauen  die 
Dienstmädchen  schlagen.  —  Verschiebung  der  Eifersucht  auf  die  Um- 
gebung.   —  Eifersucht  auf  den  Vater.   —  Eifersucht  auf  die  Wohnung. 

—  Eifersucht  auf  die  Vergangenheit.  —  Ein  Fräulein,  das  gegen  alle 
Geräusche  überempfindlich  ist. 

XI.  Homosexualität  und  Paranoia 400—419 

Die  Eifersucht  als  Projektion  'der  eigenen  Unzulänglichkeiten.  — 
Freuds  Forschungen  über  die  Paranoia.  —  Die  Forschungen  von  Julius- 
burger. —  Die  Eifersucht  eines  Paranoikers.  —  Eifersuchtswahn  eines 
Kaufmannes.  —  Eifersucht  und  Aljcoholismus.  —  Paranoia  und  Alkoholis- 
mus. —  Die  Entwicklung  der  Menschheit  von  der  Bisexualität  zur  Mono- 
sexualität.  —  Metamorphosis  sexualis  paranoica.  —  Der  Monotheismus 
der  Sexualität.  —  Eifersucht  und  Kriminalität. 

XII.  Homosexualität  und  Sadismus 420—435 

Ein   sadistischer  Homosexueller  (Beobachtung  von   Fleischmann). 

—  Der  lesbische  Lustmord.  (Kratter.)  —  Die  Wiederholung  der  spezi- 
fischen Szene.  —  Geständnisse  eines  sadistischen  Mediziners.  —  Ein 
psychanalytischer  Ahasver.  —  Schwanken  zwischen  unterwürfiger  Liebe 
und  tödlichem  Hasse.  —  Der  Einfluß  der  Eltern. 

XIII.  Analyse  eines  Homosexuellen 436—463 

Die  Analyse  eines  Homosexuellen.  —  Erste  Erinnerungen.  —  Die 
erste  Schilderung  seiner  Einstellung.  —  Die  Angst  vor  der  Tuberkulose. 

—  Sein  Verhältnis  zu  den  Eltern.  —  Der  erste  Traum.  —  Träume  von 
Pissoirs.  —  Analerotik.  —  Koprophagie.  —  Die  Mutter  als  Tyranuiu.  — 
Verkleidungstrieb.  —  Ein  wichtiger  Traum.  —  Voyeur  und  Exhibitionist. 

—  Andere  Träume.  —  Gedichte  an  die  Mutter.   —  Mutterleibsträume. 

—  Sadistische  Phantasien.  —  Ein  Spermatozoentraum.  —  Der  Traum 
vom  wilden  Bären.  —  Zusammenfassung  der  analytischen  Erkenntnisse 
dieses  Falles.  —  Die  Formel  der  Homosexualität. 

XIV.  Ergänzungen 464—477 

Der  Fall  von   Freud:  Analyse    einer   weiblichen  Homosexuellen. 

—  Ein  Fall  von  geheilter  Homosexualität.  —  Finten  und  Schliche  der 
Homosexuellen.  —  Wie  die  Ehe  eines  Homosexuellen  aussieht.  —  Die 
Bedeutung  der  Schläge  im  Kindesalter  für  die  Psychogenese  der  Homo- 
sexualität. 

XV.  Rückblick  und  Ausblick 478—497 

Die  Unfähigkeit  der  Neurotiker  zur  Liebe.  —  Der  Narzißmus  der 
Homosexuellen.  —  Fortschreitende  Geschlechtsditferenzierung  mit  fort- 
schreitender Kultur.  —  Stellung  des  Homosexuellen  im  Kampfe  der  Ge- 

b* 


XII  Inhaltsangabe. 

Seite 

schlechter.  —  Die  sozialen  Ursachen  der  Homosexualität.  —  Die  Homo- 
sexualität bei  den  Griechen.  —  Zunahme  der  polaren  Geschlechtsspannung. 
—  Die  verschiedenen  therapeutischen  "Wege.  —  Die  Hypnose.  —  Die 
Assoziationstherapie  von  Moll.  —  Die  Psychanalyse.  —  Der  Weg  der 
Heilung  und  die  Bedingungen  der  Heilung. 
Appendix: 

XVI.  Depression  und  Homosexualität 498—521 

Gibt  es  grundlose  Depressionen  ?  —  Die  Stimmungsschwankungen 
des  Tages.  —  Sonntagsneurosen.  —  Der  geheime  Kalender.  —  Ursache 
der  Morgendepressionen.  —  Depressionen,  die  jeden  zweiten  Tag  auf- 
treten. —  Jahresperioden  und  ihre  Ursache.  —  Die  Aussichtslosigkeit 
der  Liebe  als  Ursache  der  Depression.  —  Der  "Wille  zur  Krankheit.  — 
Todeswünsche.  —  Die  Haßbereitschaf t  der  Kranken.  -  Der  Realitäts- 
koeffizient.  —  Unterschied  zwischen  Melancholie  und  Trauer.  —  Homo- 
sexuelle Regungen  beim  Ausbruch  der  Depression.  —  Steinachs  Beob- 
achtungen an  künstlichen  Zwittertieren.  —  Verschiedene  Fälle  periodischer 
Depressionen  mit  Veränderung  der  sexuellen  Einstellung.  —  Allgemeine 
Psychotherapie  der  Depressionen. 


-ww— 


ERSTER   TEIL. 

Die  Onanie. 


Unsere  höchsten  Weisheiten  müssen  — 
und  sollen!  —  wie  Torheiten,  unter  Um- 
ständen wie  Verbrechen  klingen,  wenn  sie 
unerlaubterweise  denen  zu  Ohren  kommen, 
welche  nicht  dafür  geartet  und  bestimmt  sind.' 

Nietzsche. 


Stekel,  Störungen  deE  Trieb-  nnd  Aflektlebent.  II.  -J.  Aufl. 


_ 


Die  Onanie, 
i. 

Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie. 

Es  gibt  Bücher,  welche  für  Seele  und 
Gesundheit  einen  umgekehrten  Wert  haben, 
je  nachdem  die  niedere  Seele,  die  niedrigere 
Lebenskraft  oder  aber  die  höhere  und  ge- 
waltigere sich  ihrer  bedienen.    Nietzsche. 

Das  Geschlechtsleben  des  Menschen  beginnt  vom  Tage  der  Geburt 
und  endet  mit  seinem  Tode.  Andere  Forscher,  die  der  orthodoxen  Freud- 
schule  angehören,  wollen  noch  weiter  gehen  und  auch  dem  Fötus  eine 
gewisse  Sexualität  zuschreiben.  Ich  will  es  nicht  bestreiten,  aber  ich 
kann  es  nicht  bestätigen.  Dagegen  weiß  ich  aus  eigener-  langjähriger 
Anschauung,  daß  wir  bisher  über  den  Beginn  des  Geschlechtslebens 
falsch  unterrichtet  wurden.  Hieß  es  doch  immer,  beim  normalen  Menschen 
erwache  die  Sexualität  erst  in  der  Pubertät.  Wo  das  früher  der  Fall 
sei,  da  handle  es  sich  um  Ausnahmen  und  um  Zeichen  psycho'pathischer 
Konstitution.  Wollte  ich  die  Autoren  zitieren,  welche  noch  heute  dieser 
Ansicht  sind,  ich  würde  Bände  füllen  können.  Ich  habe  mich  immer 
gewundert,  daß  die  Ärzte  so  wenig  über  das  Sexualleben  der  Kinder 
wissen,  da  sie  doch  Gelegenheit  haben,  es  so  gründlich  zu  beobachten 
und  da  sie  nur  an  die  eigene  Jugend  denken  müßten.  Ich  kannte  damals 
noch  nicht  die  Phänomene  der  „geistigen  Skotome"  und  „des  Nicht- 
sehenwollens".  Es  hängt  zuviel  Persönliches  an  den  sexuellen  Dingen, 
als  daß  alle  Ärzte  unbefangen  urteilen  könnten.  So  kommt  es,  daß 
sich  lächerliche  Vorurteile  als  wissenschaftliches  Edelgut  durch  Jahr- 
hunderte behaupten  konnten,  so  kommt  es,  daß  unbefangene  Laien  und 
erfahrene  Prostituierte  noch  heute  einen  Jünger  Äskulaps  in  der  Sexua- 
logie  unterrichten  könnten. 

Wie  ist  es  möglich,  daß  alle  Menschen,  Mütter,  Väter,  Ärzte, 
Kinderfrauen  die  ersten  sexuellen  Regungen  des  Kindes  übersehen? 
Hier  hört  jede  Möglichkeit  auf,  diese  Erscheinung  rein  individuell  als 
eine  zufällige  zu  erklären.   Sie  ist  ein  soziales  Phänomen  und  vielleicht 

1* 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


das  bedeutendste  Zeichen  für  die  Stellung  des  Kulturmenschen  zu  seiner 
Sexualität.  Denn  es  handelt  sich  doch  da  um  ein  Nichtsehenwollen.  E  s 
ist  kein  Übersehen,  sondern  ein  Vorübersehen. 

Ich  möchte  jetzt  an  dieser  Stelle  auf  einen  prinzipiellen  Unter- 
schied zwischen  meiner  Darstellung  der  Störungen  der  Geschlechtsfunk- 
tionen und  der  bisherigen  hinweisen.  Die  Darstellung  dieser  Störungen 
war  eine  rein  deskriptive  oder  eine  individuelle.  Ich  bestrebe  mich,  diese 
Störungen  als  soziale  Erscheinungen  aufzufassen  und  immer  wieder 
auf  den  Zusammenhang  des  Einzelnen  mit  dem  Ganzen  hinzuweisen. 
Das  Übersehen  der  Kindersexualität  ist  auch  eine  wichtige  soziale  Er- 
scheinung, welche  uns  die  Menschheit  im  Kampfe  gegen  ihre  Sexualität 
zeigt.  Dies  Übersehen  mußte  sich  auch  auf  die  Ärzte  erstrecken.  Sie 
können  sich  dem  sozialen  Zuge  ebensowenig  entziehen  wie  die  anderen 
Menschen.  Das  ist  der  Grund,  weshalb  die  berühmtesten  Sexualforscher 
von  diesen  Tatsachen  nichts  wußten.1) 

Selbstverständlich  mußte  Freud,  als  er  die  Sexualität  der  Kinder 
neu  entdeckte,  auf  heftigsten  Widerstand  stoßen.  Das  Nichtsehenwollen 
bestand  auch  dem  einzigen  Forscher  gegenüber,  der  das  Phänomen,  das 
vor  aller  Welt,  die  sehen  wollte,  offen  da  lag,  wieder  beschrieb.  Daß 
Freud  dies  sehen  konnte,  mag  auch  darin  begründet  sein,  daß  wir  in 
einer  Zeit  leben,  die  sich  als  heftige  Reaktion  gegen  das  Verhüllen  der 
sexuellen  Frage  bezeichnen  läßt.  Denn  unabhängig  von  Freud  begannen 
viele  Forscher  mit  der  Veröffentlichung  sexueller  Tatsachen.  Die  Zeit 
war  wieder  für  das  Sehen  reif  geworden.  Ich  habe  wohl  als  erster  — 
unbekannt  mit  den  Lehren  Freuds  —  schon  im  Jahre  1895  auf  die 
Tatsache  kodierender  Kinder  aufmerksam  gemacht.  (Über  Koitus  im 
Kindesalter.  Eine  hygienische  Studie.  Wiener  med.  Blätter,  XVIII.  Jahr- 
gang, Nr.  16,  18.  April  1895.)  Die  Ausführungen  scheinen  mir  so  wichtig, 
daß  ich  sie  hier  zum  großen  Teil  wiedergebe. 

„Daß  der  Koitus  im  frühen  Kindesalter  ein  gar  nicht  seltener  Vorgang 
ist,  scheint  in  ärztlichen  Kreisen  eine  wenig  bekannte  Tatsache  zu  sein.  Einige 
der  hiesigen  Spezialisten,  die  ich  über  dieses  Thema  befragte,  gestanden  mir, 
darüber  noch  keine  Kenntnisse  zu  haben,  und  nahmen  meine  diesbezüglichen 
Mitteilungen  mit  ungläubigem  Achselzucken  auf.  Krafft-Ebing  berichtet  in 
seiner  siebenten  Auflage  der  „Psychopathia  sexualis"  bloß  von  Masturbation 
im  frühen  Kindesalter  und  glaubt  jedes  ohne  peripheren  Anlaß  entstehend« 
Geschlechtsleben  in  diesem  Alter  einer  neuro-psychopathischen  Belastung  zu- 
schreiben zu  dürfen,  eine  Behauptung,  die  nach  der  Ansicht  des  Verfassers 
keineswegs  für  alle  Fälle  zutrifft.  Merk  erzählt  von  einem  achtjährigen 
Mädchen,  das  seit  dem  vierten  Jahre  masturbierte  und  mit  Knaben  von  zehn 
bis  zwölf  Jahren  Unzucht  trieb.  Lombroso  weiß  nur  über  onanierende  Kinder 

l)  Moll  sieht  die  Erscheinungen  des  Geschlechtstriebes  vor  dem  siebenten  Lebens- 
jahre als  pathologisch  an.  Dann  freilich  bestünde  die  Welt  aus  lauter  krankhaft  ver- 
anlagten Individuen  und  dann  wäre  Sexualität  überhaupt  Krankkeit. 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  5 

von  drei  bis  sieben  Jahren- zu  berichten.  In  einem  unlängst  erschienenen  inhalts- 
reichen Aufsatze  „Die  Anthropologie  im  Dienste  der  Pädagogik"  („Die  Zeit", 
1895,  Nr.  27)  erwähnt  er  flüchtig  des  Geschlechtslebens  der  Kinder.  Dort 
heißt  es:  „Auch  kann  man  bei  Kindern  von  drei  bis  vier  Jahren,  selbstver- 
ständlich in  einer  durch  die  unvollkommene  Entwicklung  beschränkten 
Form  (?),  die  ersten  Anzeichen  der  Tendenz  zur  Unanständigkeit  beobachten". 

Zambuco  beschreibt  ein  siebenjähriges  Mädchen,  das  Unzucht  mit 
Knaben  trieb  und  pervers-sexuellen  Trieben  ergeben  war.  Für  bringer  datiert 
in  seinem  jüngst  erschienenen  Buche  „Die  Störungen  der  Geschlechtsfunktionen 
des  Mannes"  die  Erektion  durchschnittlich  vom  15.  Lebensjahre,  also  der  er- 
wachenden Pubertät,  hat  aber  gleich  Curschmann  Masturbation  bei  Kindern 
von  fünf  Jahren  und  darunter  gesehen.  Vom  Koitus  zwischen  Kindern  wird 
in  keiner  Weise  gesprochen. 

Henoch  erwähnt  trotz  seiner  reichen  Erfahrung  keinen  einzigen  Fall. 
Dagegen  beschreibt  er  die  von  ihm.  wiederholt  beobachteten  Wiegebewegungen 
des  Oberkörpers  bei  kleinen  Kindern,  die  er  als  Ausdruck  onanistischer 
Reizung  auffaßt.  Ein  einziger  Fall  (Henoch,  „Kinderkrankheiten",  S.  220) 
streift  unsere  Ausführungen.  Es  handelt  sich  um  einen  siebenjährigen  Knaben, 
Karl  A.,  der  seit  seinem  fünften  Jahre,  angeregt  durch  das  lange  Zu- 
sammenschlafen mit  einer  Verwandten,  welche  ihr  Spiel  mit  ihm  getrieben 
hatte,  an  Erschlaffung,  Enuresis,  Schlaflosigkeit  erkrankte,  vom  fünften 
Lebensjahre  an  heftig  masturbierte.  Leider  ist  nichts  über  das  Alter  der  Ver- 
wandten angegeben  und  auch  nicht  erklärt,  ob  der  Knabe  masturbiert  oder 
zum  Koitus  gebraucht  wurde. 

Eigene  Erfahrung,  klare  Erinnerung  und  Zufall  haben  mich  schon  vor 
einigen  Jahren  zu  Nachforschungen  auf  diesem  für  die  Hygiene  des  Kindes- 
alters so  wichtigen  Gebiete  geführt.  Fragt  man  eine  größere  Anzahl  intel- 
ligenter Personen  über  diesen  Punkt  aus,  fordert  man  sie  auf,  genau  nachzu- 
denken, so  wird  fast  jeder  Zweite  sich  an  gewisse  Vorgänge  in  seiner  Kindheit 
erinnern,  die  ihm  früher  unverständlich  waren,  die  sich  aber  bei  genauer  Be- 
trachtung als  die  ersten  Anfänge  des  Geschlechtstriebes  erweisen.  Fälle 
von  wirklichem  Koitus  sind  seltener.  Meist  kommt  es  zu  einem  mit  für  die 
Kinder  überraschendem  Wollustgefühl  verbundenen  Betasten  von  Genitalien. 
Oft  genügt  der  bloße  Anblick  derselben,  wie  er  sich  zufällig  beim  Spiel  ergibt, 
um  bei  den  Knaben  (und  nur  von  solchen  ist  ja  ein  gewissenhaftes  Geständnis 
zu  erhalten)  plötzlich  mit  elementarer  Gewalt  bisher  unbekannte  Geschlechts- 
gefühle hervorzurufen.  Im  Kindesalter  zeigt  sich  eben  klar,  wie  viel  von  dem, 
■was  die  Menschen  mit  Willen  und  Überlegung  zu  tun  glauben,  auf  Rechnung 
des  Instinktes  kommt.  Das  Kindesalter  ist  die  Brücke,  die  den  Homo  sapiens 
mit  dem  Tierreiche  verbindet.  Sieht  ja  z.  B.  Lombroso  bei  jedem  Kinde  gewisse 
Anzeichen  zum  Verbrecher,  weil  es,  wie  der  Fötus  in  den  ersten  Monaten  eine 
niedrigere  Tierspezies,  in  den  ersten  Jahren  den  niedersten  Menschentypus 
repräsentiert. 

So  wird  auch  der  Koitus  im  Kindesalter  meistens  von  den  Kindern 
—  instinktiv  —  auf  dem  Wege  des  Geschlechtstriebes  gefunden.  Fälle,  wo 
Kinder  von  älteren  Personen  mißbraucht  werden,  sind  ja  allbekannt  und  ge- 
hören nicht  in  den  Rahmen  dieser  Ausführungen. 

Ob  bei  dem  versuchten  oder  bei  dem  wiederholt  ausgeführten  Koitus 
auch  eine  vollständige  Immissio  penis  stattfindet,  ist  zweifelhaft.  Meistenteils 


6  Erster  Teil.  Die  Onanie. 


spielt  sich  der  Sexualakt  in  der  Vulva  ab.  Einige  meiner  Beobachtungen 
Schemen  jedoch  für  eine  teilweise  Immission  des  Penis  in  die  Vagina  zu 
sprechen.  -  Von  vornherein  ist  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weisen 

Das  u™:  \KmderTS  £tbehft  keinGSWegS  der  nötiSen  ***»  KonsMen 
Das-  Hymen  kann  rudimentär  entwickelt  sein  oder  es  kann  ja  ein  sogenanntes 
ringförmiges  Hymen  vorliegen.    Es  ist  mir  niemals  gelungen    S£S 

AfeLS.  RlT  ZU  entdeCken  °dGr  POSitiv  verwendbar!  fiU 
Schmerzen  Blutungen  usw.  zu  erhalten.  In  Huzulendörfern  -  so  teilte  mir 
ein  Student  mit  -  sei  der  Koitus  unter  Kindern  sehr  häufig.  Er  konnte 

iV^^d^^v/Jiar^rVhrnY1^^  ^»^"»  I 

E»  *■ -5  es  vielfcht  m  der  Jugend  so  reich  an  elastischen  Fasern   daß  es 

TT™  ^f.ch,  ff^'  (T°P°graphi-sche  Anatomie)  nimmt  ja  die  Stärke  des 
iSwenf  Jahl'en  "  ^  S0U  daSß6lbe  bei  alten  J-gfrauen  zlhu^ 

mPrkW,H  Kindei''  d^  *!fn  K°ituS  instinktiv  gefunden  haben,  wissen  aber  auch 

mSeT   dTT'  d3ß  SiG  ^  Er.fiDdung  V°r  den  Eltern  ^heim  Llten 
müssen.    Daher  kommen  so  wenige  Fälle  zur  Beobachtung  des  nrakti^hL 

Arztes,   der    unbekannt  mit  diesen  Tatsachen,  die  Eltern  nSt  rettzeft^ 
auf  gewisse  Vorsichtsmaßregeln  aufmerksam  macht.    Häufig    st  der  Ä 
oder  die  erwachte  Sinnlichkeit  die  Ursache  einer  früh  begLnenden  Onanie 
Der  Koitus  selber  scheint  für  die  Gesundheit  der  Kinder  keinen  ha 

SrbefÄ^76^116"    Eln  Tf  ^^  ^bezüglichen  robact 
tungen  betrifft  kraftige,  nichts  weniger  als  neuropathische  Männer." 

Ich  breche  jetzt    die  Publikation  dieser   kleinen  Studie  ab     Ich 
erwähne  nur,  daß  ich  noch  einige  Beobachtungen  anführe,  welche  uns 
beweisen,  daß  dies  Phänomen  bei  ganz  normalen  gesunden  Menschen 
vorkommt  und  eine  häufige  Erscheinung  ist,  die  alle  Ärzte  bisher  einfach 
übersehen  haben.   Der  erste  Fall,  den  ich  in  der  erwähnten  Studie  pu- 
blizierte, ein  Knabe,  der  mit  vier  Jahren  mit  einer  Freundin  den  Koitus 
ausführte,  schien  den  meisten  Ärzten  eine  Ungeheuerlichkeit    Aber  ich 
kenne  seit  jener  Publikation,  seit  der  ja  schon  25  Jahre  verstrichen  sind 
die  Materie  viel  besser.   Ich  habe  unzählige  Normalmenschen  über  ihre 
sexuellen  Erinnerungen  ausgefragt  und  alle  meine  Erfahrungen  bestätigt 
gefunden.  Ich  kenne  einige  Fälle,  in  denen  der  erste  Versuch  mit  2  bi. 
3  Jahren  unternommen  wurde.    Aus  diesen  Kindern  wurden  hochintel- 
hgente,  hochkulturelle,  feinsinnige  Menschen. 

Und  trotzdem  haben  alle  anderen  Ärzte  die  Kindersexualität  nicht 
sehen  wollen.   Wo  liegen  die  Gründe? 

Zuerst  wohl  in  dem  Umstände,  daß  alle  Menschen  sich  bemühen 
mre  eigene  sexuelle  Vergangenheit,  soweit  sie  der  Kindheit  angehört,' 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  7 

zu  vergessen.  Wir  alle  haben  das  latente  Bestreben  der  Entschul- 
dung. Wir  haben  die  Tendenz,  das  individuelle  Schuldbewußtsein  zu 
verringern.  Wir  betonen  gerne  die  Erziehungsfehler,  die  Sünden  der 
Jugend,  die  an  uns  begangen  wurden,  um  die  Verantwortung  von  uns 
abzuwälzen.  Wir  wollen  nicht  an  unsere  Jugend  denken,  in  der  alle 
Urtriebe  der  Menschheit  in  uns  lebendig  waren.  Wir  dürfen  diese 
Erscheinungen  an  den  Kindern  nicht  sehen,  weil  sie 
uns  an  unsere  eigene  Jugend  erinnern  würden. 

Die  Verdrängung  der  eigenen  infantilen  Sexualität  führt  auch 
zur  Nichtbeachtung  der  Sexualität  der  eigenen  und  der  fremden  Kinder. 
Wir  benehmen  uns  wie  der  Bauer,  der  im  Tiergarten  von  Schönbrunn 
vor  einem  Rhinozeros  staunend  steht  und  schließlich  ausruft:  „Zu  blöd! 
Ein  solches  Tier  gibt's  ja  gar  nicht!" 

Nein!  Es  gibt  für  die  meisten  Ärzte  keine  infantile  Sexualität, 
weil  sie  mit  ihr  nichts  anzufangen  wissen.  Wohin  sollen  dann  alle 
Schlagworte  vom  reinem  Kinde,  von  der  richtigen  Erziehung,  die  das 
reine  Kind  bewahrt,  kommen?  Soll  man  auch  immer  daran  erinnert 
werden,  wie  deutlich  unsere  Zusammenhänge  mit  der  Natur,  dem  Tiere 
und  dem  Verbrecher  sein  können? 

Eine  andere  Begründung  findet  dieses  Phänomen  in  dem  Verhalten 
des  Menschen  zum  Problem  der  Schuld.  Die  Gründung  sozialer  Ver- 
bände war  nur  möglich,  wenn  das  Selbstbewußtsein  des  Einzelnen  zu- 
gunsten des  Ganzen  verstärkt  wurde.  Die  Religion  machte  den  Starken 
schwach,  indem  sie  ihn  mit  Schuld  belastete.  Das  Symbol  dieser  Schuld, 
das  Sinnbild  der  Sünde  schlechtweg,  wurde  die  Sexualität.  Der  Mensch 
lebte  im  Paradies  asexuell,  bis  die  Schlange  Adam  verführte  und  er 
vom  Baume  der  Erkenntnis  kostete.  Rasch  vertrieb  ihn  die  Gottheit 
aus  dem  Paradies,  ehe  er  vom  Baume  des  Lebens  kosten  konnte.  Er 
wäre  dann  unsterblich  und  ein  Gott  geworden.  Das  heißt,  er  hätte  dann 
die  sexuelle  Lust  genießen  können,  ohne  sie  als  Schuld  zu  werten.  .  .  . 
Die  ganze  Disziplin  und  das  Gemeingefühl  des  Kulturmenschen  bauen 
sich  auf  diesem  Schuldgefühl  und  auf  der  Angst  vor  der  Strafe  auf.  Der 
Mensch  fühlt  sich  als  schwacher  Sünder. 

Das  Kind  soll  uns  über  uns  hinaus  entwickeln.  Das  Kind  soll  alle 
Stufen  erreichen,  die  wir  nicht  erreichen  konnten,  weil  unsere  Kräfte 
versagt  haben.  Es  soll  den  Traum  unserer  „großenhistorischen 
Mission"  erfüllen,  es  soll  unseren  brennenden  Ehrgeiz  stillen.  Können 
wir  selbst  nicht  Götter  sein,  so  wollen  wir  Götter  zu  Kindern  haben. 
Das  Kind  soll  die  Reinheit  zeigen,  die  uns  gefehlt  hat.  Das  Kind  soll 
uns  entschulden  und  entsühnen.  Sündige  Eltern  pflegen  oft  ihre  Kinder 
dem  geistlichen  Stande  zu  widmen.  Es  ist  dies  der  primitive  Ausdruck 
eines  uns  allen  innewohnenden  Wunsches,  das  Kind  heilig  zu  machen. 


8 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


So  kommt  es,  daß  der  Glaube  der  Eltern  an  die  Reinheit  ihrer  Kinder 
die  lächerlichsten  Grade  annimmt.  Ich  habe  es  erlebt,  daß  Mütter  die 
Ärzte  tätlich  angegriffen  haben,  weil  sie  ihnen  von  einer  unerwarteten 
Gravidität  der  ledigen  Tochter  Mitteilung  machten;  ich  habe  beobachtet, 
daß  kluge  Mütter  einen  Eid  geleistet  haben,  ihre  erwachsenen  Söhne 
.  wären  ganz  unschuldig  und  hätten  keine  Ahnung  von  solchen 
„schmutzigen  Dingen",  während  die  Söhne  schon  eine  reiche  Erfahrung 
hinter  sich  hatten.  Die  offenkundigen  Regungen  der  Sexualität  werden 
als  Zufall,  als  unsinnige  Spielerei,  als  ein  fremder  Instinkt  aufgefaßt. 
Das  Kind  hat  etwas  Heiliges,  Reines,  Erhabenes  für  die  Mütter.  Jede 
Mutter  fühlt  sich  als  Maria,  die  den  Heiland  geboren  hat.  Schließlich 
gibt  sie  zu,  daß  andere  Kinder  schon  so  früh  verdorben  sind,  aber  ihr 
Kind  mache  bestimmt  eine  rühmliche  Ausnahme. 

Und  in  Wahrheit  sind  alle  Kinder  einander  gleich.  Nur  die 
Formen,  in  denen  sich  die  Sexualität  äußert,  sind  verschieden. 

Es  ist  also  falsch,  daß  unser  Geschlechtsleben  erst  in  der  Pubertät 
beginnt.  Es  ist  falsch,  daß  die  Kinder  nur  durch  Verführung  und  durch 
fremdes  Beispiel  mit  den  Regungen  der  Sexualität  bekannt  werden,  und 
daß  es  nur  von  der  Erziehung  abhänge,  ob  das  Kind  frühreif  oder  'spät- 
reif werde. 

Die  Kinder  beginnen  mit  der  Onanie  gleich  in  den  ersten  Tagen 
nach  der  Geburt.  Bei  den  meisten  bemerkt  man  leichte  Wiegebewegungen 
rhythmischen  Charakters,  welche  uns  die  ersten  Zusammenhänge 
zwischen  Rhythmus  und  Sexualität  verraten.  Bald  aber  wird  die  Hand 
suchend  nach  unten  gestreckt  und  findet  die  Genitalien.  Kaum  geborene 
Säuglinge  zeigen  oft  Erektionen.  Jede  erfahrene  Hebamme  wird  diese 
Tatsache  bestätigen  können.  Ich  habe  Erektionen  schon  einige  Stunden 
nach  der  Geburt  beobachten  können.  Die  Säuglinge  betreiben  die  Onanie 
auf  verschiedene  Weise.  Manche  haben  ihre  Hand,  sobald  sie  frei  ist, 
sofort  unten  an  den  Genitalien  und  reiben  dieselben,  Knaben  an  dem 
Penis,  Mädchen  an  der  Klitoris. 

Außer  den  Genitalien  dienen  noch  alle  anderen  erogenen  Zonen 
des  Körpers  der  Gewinnung  der  autoerotischen  Lust.  „Der  ganze 
Körper",  sagt  Marcus  in  seiner  ausgezeichneten  Studie  „Über  ver- 
schiedene Formen  der  Lustgewinnung  am  eigenen  Leibe"1) ,  "„kann  als 
Lustquelle  dienen  und  diese  Art  der  Lustgewinnung  ist  die  aller-. 
häufigste.  Das  Kind  kann  durch  Saugen  (das  bekannte  Lutschen) ,  durch 
allerlei  Muskelspiele,  durch  Reizung  der  Haut,  der  Harnröhre,  des 
Afters,  mit  Hilfe  aller  Nerven  autoerotische  Lust  gewinnen.   Trotzdem 


*)  Zentralbl.  f.  Psychoanalyse,  III.  Bd.,  S.  225. 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie. 


halte  ich  dafür,    daß  wohl  am  häufigsten  die  Onanie   an  den  Genital- 
zonen schon  in  frühester  Kindheit  vorkommt." 

Nicht  in  allen  Fällen  kann  man  deutlich  das  Eintreten  des  Orgas- 
mus beobachten.  Es  scheint  mir,  daß  es  zweierlei  Typen  gibt:  Kinder, 
welche  eine  Art  permanenter  Lu6t  [die  Vorlust  Freuds1)]  empfinden 
und  Kinder,  welche  zeitweise  onanieren  und  dann  zum  Orgasmus  ge- 
langen. Viele  rätselhafte  Anfälle  der  Kinder  und  besonders  der  Säug- 
linge, das  bekannte  „Wegbleiben",  sind  nur  Erscheinungen  infantiler 
Onanie.  Da  die  Kinder  oft  eingebunden  sind  und  ihre  Hände  nicht  an 
den  Genitalien  sein  können,  so  erkennen  die  Eltern  und  Pflegepersonen 
nicht,  daß  es  sich  bei  den  rhythmischen  Bewegungen  um  Onanie  handelt. 
Der  onanistische  Anfall  beginnt  meist  mit  lebhafter  Bewegung  des 
Kindes  im  Becken;  die  Beine  bewegen  sich  auf  und  nieder;  oder  die  ■ 
Muskeln  werden  mit  aller  Kraft  angespannt,  die  Oberschenkel  fest  zu- 
sammengepreßt; die  Atmung  wird  rascher;  der  Blick  scheint  in  die 
Ferne  gerichtet  und  wie  glasig;  die  Wangen  röten  sich;  unter  allerlei 
Zuckungen,  oder  unter  Stöhnen  und  Seufzen,  unter  Keuchen  und  zeit- 
weisem Aussetzen  des  Atems,  in  dem  die  Kinder  ganz  blau  werden 
können,  geht  der  Orgasmus  vorüber.  Die  Eltern  sind  sich  über  die 
Natur  dieser  Anfälle  niemals  im  klaren  und  protestieren  meist  sehr 
ungläubig,  wenn  man  sie  aufklärt,  daß  es  sich  um  Onanie  handelt.  Die 
Ärzte  erscheinen  meist  nach  den  Anfällen,  haben  selten  Gelegenheit, 
sie  zu  beobachten  und  denken  auch  nicht  immer  daran,  daß  es  sich  um 
verschiedene  Formen  autoerotischer  Orgasmen  handelt. 

Der  Mannheimer  Neurologe  Friedmann  hat  als  erster  auf  die 
häufigen  Absenzen  der  Kinder  aufmerksam  gemacht;  daher  machte 
Bleuler  den  Vorschlag,  dieses  Leiden  die  „F  r  i  e  d  m  a  n  n  s  c  h  e  K  r  a  n  k- 
h  e  i  t"  zu  bezeichnen.  Schröder2)  nennt  sie  „Pyknolepsie".  Die 
einzelnen  Anfälle  sind  „kurze,  etwa  10  Sekunden  dauernde  Unter- 
brechungen der  Fälligkeiten,  zu  denken,  zu  ßprechen,  sich  willkürlich 
zu  bewegen,    aber  nicht  des  Bewußtseins    überhaupt    und  der    auto- 


')  „Es  scheint  mir  nicht  unberechtigt,  diesen  Unterschied  in  dem  Wesen  der 
Lust  durch  Erregung  erogener  Zonen  und  der  anderen  bei  Entleerung  der  Sexualstoft'e 
durch  eine  Namengebung  zu  fixieren.  Die  erstere  kann  passend  als  Yorlust  bezeichnet 
werden  im  Gegensatz  zur  Endlust  oder  Befriedigungslust  der  Sexualtätigkeit.  Die  Vor- 
lust ist  daun  dasselbe,  was  bereits  der  infantile  Sexualtrieb,  wenngleich  in  verjüngtem 
Maße,  ergeben  konnte;  die  Endlust  ist  neu,  also  wahrscheinlich  an  Bedingungen  ge- 
knüpft, die  erst  mit  der  Pubertät  eingetreten  sind.  Die  Formel  für  die  neue  Funktion 
der  erogenen  Zonen  lautete  nun:  Sie  werden  dazu  verwendet,  um  mittelst  der  von 
ihnen  wie  im  infantilen  Leben  zu  gewinnenden  Vorlust  die  Herbeiführung  der  größeren 
Befriedigungslust  zu  ermöglichen." 

2)  Prof.  P.  Schröder:  „Die  Bedeutung  kleiner  Anfälle  (AbBenzen,  petit  mal)  bei 
Kindern  und  Jugendlichen."  (Med.  Klinik,  1917,  Nr.  17.) 


■ 


10 


Erster  Te'l.  Die  Onanie. 


matischen  Bewegungen.  Die  Kinder  erstarren  einfach, 
stets  mit  aufwärts  gedrehten  Augen,  mit  Zittern  der 
Lider,  Arme  und  Beine  erschlaffen,  bald  wenig,  bald  etwas  mehr,  die 
Anfälle  brechen  meist  plötzlich  aus,  kommen  zwischen  6mal  bis  lOOmal 
täglich,  stören  im  übrigen  weder  das  Befinden  noch  die  geistige  und 
körperliche  Entwicklung.  So  dauert  der  Zustand  jahrelang,  um  schließ- 
lich vollkommen  zu  verschwinden." 

Friedmann  bezeichnet  die  kleinen  (pyknoleptisehen)  Anfälle  als 
erstaunlich  einförmig  und  gleichmäßig;  stets  hätten  sie  den  gleichen 
Typus  des  einfachen  Vorganges  der  höheren  Denk-  und  Willensfunk- 
tionen. Für  einen  großen  Teil  der  Fälle  trifft  das  sicherlich  zu;  die  An- 
fälle erscheinen  lediglich  als  Zustände  von  momentaner  Geistesabwesen- 
heit, ohne  alle  gröberen  Symptome.  „Die  Kranken  starren  einen  Moment 
gerade  aus,*  bekommen  nur  für  einen  Augenblick  einen  anderen  Ausdruck 
im  Gesicht  und  fahren  dann  sofort  in  ihrer  Beschäftigung  weiter,  als 
sei  nichts  gewesen;  Gegenstände,  die  sie  gerade  in  der  Hand  haben, 
lassen  sie  nicht  fallen,  sie  sinken  auch  nicht  zusammen,  fällen  z.  B.  auch 
nicht,  wenn  sie  gerade  auf  einem  Baum  herumklettern.  Das  unterscheide 
sie  wesentlich  von  Kranken  mit  epileptischen  Absenzen,  die  zumindest 
sehr  häufig  zusammensinken  und  in  gefährdeten  Stellungen  herab- 
stürzen. Oft  melden  die  Kinder  selber  den  Anfall  mit  „jetzt  war 
es  wieder"  —  „jetzt  habe  ich  es  wieder  gehabt"  usw., 
oder  sie  können  jedenfalls  auf  Befragen  angeben,  daß  ein  Anfall  dage- 
wesen sei.  Als  ganz  leichte  „motorische"  Erscheinungen  sind  auch  in 
diesen  typischen  Fällen  häufig  ein  Drehen  des  Kopfes  zur  Seite,  Lid- 
fiimmern,  Herabsinken  der  Lider  und  des  Kopfes,  sowie  ein  Ver- 
drehen   der    Augen   nach    obe n." 

„Von  diesem  Typus  aber  entfernen  sich  die  Anfälle  durchaus  nicht 
selten  mit  einzelnen  ihrer  Erscheinungen.  Vor  allem  kommt  es  vor  daß 
etwas  stärkere  Reiz-  und  Lähmungssymptome  auftreten:  Wackeln 
des  Kopfes,  Zucken  der  Augen,  steifes  Ausstrecken 
der  Arme,  Spreizen  der  Finger,  Taumeln,  auch  vorübergehend  mehr 
allgemeine  Starrheitund  Steifheit  oder  aber  auch  plötz- 
liches Reißen  an  den  Haaren,  Drehen  mit  den  Fingern,  Schmatz- 
bewegungen, Murmeln  einiger  Worte,  Fallenlassen  eines 
Gegenstandes;  in  einem  Fall  wendete  sich  die  Kranke  in  ihren  sehr 
vielen  Anfallen  jedesmal  dem  Licht  zu,  sie  lief  rasch  nach  dem  Fenster 
hin.  Fälle  mit  noch  gröberen  motorischen  Symptomen  müssen  zunächst 
fraglich  bleiben  bezüglich  ihrer  Zugehörigkeit  zur  Pyknolepsie.  Die 
Regel  ist,  daß  Anfälle  mit  etwas  gröberen,  über  die  einfache  momentane 
Geistesabwesenheit  hinausgehenden  Erscheinungen  erst  im  späteren 
Verlauf  des  Leidens  auftreten,  wenn  die  einfachen  kleinen  Anfälle  bereits 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onauie.  ±\ 

jahrelang  bestanden  haben,  und  daß  sie  dann  auch  wieder  verschwinden 
und  in  die  einfachen  übergehen.  Auch  die  Bewußtseinsstörung  kann 
manchmal  tiefer  sein,  derart,  daß  die  Kranken  tatsächlich  Amnesie 
für  den  Anfall  haben,  daß  sie  in  die  Knie  sinken,  zu  Boden  fallen;  doch 
ist  dies  stets  nur  ganz  selten  der  Fall,  ganz  vereinzelt  einmal  im  Ver- 
lauf von  vielen  Jahren  nebst  sonst  typischen  massenhaften  pyknolep- 
tischen  Anfällen.  Auch  die  Dauer  des  Anfalles  kann  gelegentlich  etwas 
größer  sein.  Ebenso  wird  in  gar  nicht  ganz  seltenen  Fällen,  aber  jedes- 
mal auch  nur  wieder  ganz  vereinzelt,  unwillkürlicher  Urinabgang  er- 
wähnt, der  sonst  als  charakteristisch  für  Epilepsie  gilt.  Zungenbisse 
sind  nie  beobachtet  worden,  wohl  aber  wiederum  gelegentlich  Pupillen- 
starre." 

Ich  habe  diese  Ausführungen  von  Friedmann  und  Schröder  wört- 
lich wiedergegeben,  weil  schon  die  Kenntnis  der  gesperrt  gedruckten 
Stellen,  die,  von  mir  hervorgehoben,  im  Originale  im  gleichen  Drucke 
dastehen,  dem  guten  Kenner  der  Sexualität  verraten,  daß  es  sich  bei 
der  Friedmannechen  Krankheit  oder  der  „Pyknolepsie"  um  autoerotische 
Akte  handelt,  wie  sie  bei  Kindern  und  selbst  bei  Säuglingen  sehr  häufig 
und  gerade  in  diesem  Alter  in  gehäufter  Form  auftreten.  Die  Schil- 
derung eines  Orgasmus  im  Kindesalter  ist  uns  schon  von  verschiedenen 
Kinderärzten  gegeben  worden  x) ,  aber  sie  ist  noch  immer  nur  einigen 
Auserwählten  bekannt  und  wird  von  ernsten  Forschern,  die  das  sexuelle 
Leben  des  Kindes  nicht  sehen  wollen,  beharrlich  ignoriert  und  übersehen. 
Der  veränderte  Ausdruck  im  Gesicht,  das  Drehen  der  Augen  nach  oben, 
das  Strecken  der  Extremitäten,  das  Murmeln  einzelner  Worte  ent- 
sprechen dem  Eintritt  des  Orgasmus,  der  nach  allerlei  onanistischen 
Manipulationen,  Wetzen,  Reiben,  Aneinanderpressen  der  Beine  (die 
einfachste  und  häufigste  Form,  die  beim  weiblichen  Geschlecht  auch  im 
späteren  Alter  persistiert)  zustande  kommt.  Darum  hat  die  Kinder- 
epilepsie oft  keine  Folgen.  Verschiedene  Ärzte  haben  darauf  hin- 
gewiesen, daß  so  oft  im  Kindesalter  Epilepsie  diagnostiziert  wird,  die 
dann  später  vollkommen  verschwindet.  Eine  Rundfrage  unter  den  Eltern 
vieler  epileptischer '  Kinder  hat  nach  zehn  Jahren  die  überraschende 
Tatsache  ergeben,  daß  die  meisten  geheilt  waren.2) 

Verschiedene  Krampfanfälle  der  Kinder,  welche  für  epileptisch 
gehalten  werden,  sind  auch  nur  Äquivalente  der  Onanie.  Immer  werden 
wir  die  zwei  Formen  beobachten  können:  Lawinenartig  anschwellenden 


>)  Vergl.  besonders  die  Arbeiten  des  Freudschülers  Friedjung:  „Erfahrungen  über 
kindliche  Onanie",  Zeitschr.  f.  Kinderheilkunde,  1912  und  „Erlebte  Kinderheilkunde", 
Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1919. 

')  Zappert:  Zur  Prognose  der  Epilepsie  im  Kindesalter.  Med.  Klinik.  1912.  Kr.  6. 


12  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

Orgasmus  und  dann  Abklingen  oder  einen  leichter  betonten,  aber  fast 
permanenten  Orgasmus. 

Freud  ist  auch  der  Ansicht,  daß  alle  Kinder  onanieren  und  seine 
berühmten  „Drei  Abhandlungen  zur  Sexualtheorie"  haben  diesen  Stand- 
punkt deutlich  genug  vertreten.  Freud  sieht  in  der  Kinderonanie  die 
erste  Onanieperiode,  die  nicht  lange  dauert  und  auf  die  dann  eine  Latenz- 
zeit folgt,  in  der  die  Onanie  ganz  aufgegeben  wird.  Wir  sehen  in  der 
Tat,  daß  die  Säuglingsonanie  bald  aufhört.  Die  Mädchen  hören  auf 
die  Hand  hinunterzugehen  und  in  der  Schamspalte  zu  halten,  die  Knaben 
reiben  nicht  mehr  an  den  Genitalien.  Fraglich  ist'  mir  aber,  ob  die 
Onanie  wirklich  aufhört.  Die  Kinder  stehen  schon  unter  dem  Einflüsse 
der  Erziehung  Die  Wärterin  nimmt  die  Hand  weg  und  schreit:  „Pfui! 
Hier  darfst  du  die  Hand  nicht  halten!"  Dem  Knaben  wird  ein  Klaps  auf 
die  Hand  gegeben.  Es  beginnt  das  Verstecken  der  Kinder  vor  den  Eltern. 
Die  Kinder  geben  die  Onanie  an  den  Genitalien  auf  und  benützen  zur 
Lustgewinnung  die  erogenen  Zonen.  Die  offene  Onanie  wird  zu  einer 
larvierten. 

Ich  glaube  also  nicht  an  die  Latenzperiode,  die  uns  Freud  be- 
schreibt. Ich  glaube  an  das  permanente  Fortbestehen  der  Onanie  mit 
zeitweiligen  Pausen.  Ich  möchte  aber  sagen:  Beim  Neurotiker  tritt  die 
scheinbare  Latenzperiode  deutlicher  zutage  als  bei  dem  Normal- 
menschen. 

Eine  Reihe  sehr  gut  beobachteter  Fälle  liefert  mir  den  Beweis, 
daß  die  Onanie  ein  ganzes  Leben  bestehen  kann  —  ohne  irgend  eine 
Latenzperiode.  Wo  diese  Latenzperiode  eintritt,  ist  sie  ein  Produkt 
der  Verdrängung  und  eigentlich  schon  der  Beginn  der  Neurose.  Wir 
werden  später  bei  der  Besprechung  der  therapeutischen  Maßnahmen 
sehen,  welch  unheilvollen  Einfluß  die  Abwehrmaßregeln  der  Umgebung 
auf  das  Kind  haben. 

Freud  äußert  sich  über  die  Latenzperiode  nach  der  Säuglings- 
onanie mit  einer  gewissen  Reserve  und  gibt  zu,  daß  Abweichungen  vor- 
handen sind : 

„Unter  den  erogenen  Zonen  des  kindlichen  Körpers  befindet  sich 
eine  die  gewiß  nicht  die  erste  Rolle  spielt,  auch  nicht  die  Trägerin  der 
ältesten  sexuellen  Regungen  sein  kann,  die  aber  zu  großen  Dingen  in 
der  Zukunft  bestimmt.  Sie  ist  beim  männlichen  wie  beim  weiblichen  Kind 
m  Beziehung  zur  Harnentleerung  gebracht  (Eichel,  Klitoris)  und  beim 
ersteren  m  einen  Schleimhautsack  einbezogen,  wahrscheinlich  damit 
es  ihr  an  Reizungen  durch  Sekrete,  welche  die  sexuelle  Erregung  früh- 
zeitig anfachen  können,  nicht  fehle.  Die  sexuellen  Betätigungen  dieser 
erogenen  Zone,  die  den  wirklichen  Geschlechtsteilen  angehört,  sind  ia 
der  Beginn  des  später  „normalen"  Geschlechtslebens." 


i 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  13 

„Durch  die  anatomische  Lage,  die  Überströmung  mit  Sekreten, 
durch  die  Waschungen  und  Reibungen  der  Körperpflege  und  durch  gewisse 
akzidentelle  Erregungen  (wie  die  Wanderungen  von  Eingeweidewürmern 
bei  Mädchen)  ist  dafür  gesorgt,  daß  die  Lusterapfindung,  welche  diess 
Körperstelle  zu  ergeben  fähig  ist,  sich  dem  Kinde  schon  im  Säuglingsalter 
bemerkbar  maehe  und  ein  Bedürfnis  nach  ihrer  Wiederholung  erwecke. 
Überblickt  man  die  Summe  der  vorliegenden  Einrichtungen  und  bedenkt, 
daß  die  Maßregeln  zur  Reinhaltung  kaum  anders  wirken  können  als  die 
Verunreinigung,  so  kann  man  schwerlich  die  Absicht  der  Natur  ver- 
kennen, durch  die  Säuglingsonanie,  der  kaum  ein  Individuum  entgeht, 
das  künftige  Primat  dieser  erogenen  Zonen  für  die  Gesehlechtstätigkeit 
festzulegen.  Die  den  Reiz  beseitigende  und  die  Befriedigung  auslösende 
Aktion  besteht  in  einer  reibenden  Berührung  mit  der  Hand  oder  in  einem 
gewiß  reflektorisch  vorgebildeten  Druck  durch  die  zusammenschließenden 
Oberschenkel.  Letztere  Vornahme  scheint  die  ursprünglichere  zu  sein 
und  ist  die  beim  Mädchen  weitaus  häufigere.  Beim  Knaben  weist  die 
Bevorzugung  der  Hand  bereits  darauf  hin,  welchen  wichtigen  Beitrag 
zur  männlichen  Sexualtätigkeit  der  Bemächtigungstrieb  einst  leisten 
wird." 

„Die  Säuglingsonanie  scheint  mit  dem  Einsetzen 
der    Latenzperiode   zu  schwinden,    doch  kann  mit    der 
ununterbrochenen    Fortsetzung    derselben    bis    zur 
PubertätbereitsdieerstegroßeAbweichungvonder 
für   den   Kulturmenschen    anzustrebenden   Entwick- 
lung gegeben  sein.    Irgend  einmal  in  den  Kinderjahren  nach  der 
Säuglingszeit  pflegt  der  Sexualtrieb  dieser  Genitalzone  wieder  zu  er- 
wachen °und  dann  wiederum    eine  Zeitlang    bis  zu  einer    neuen  Unter- 
drückung anzuhalten  oder   sich   ohne  Unterbrechung  fortzusetzen.    Die 
möglichen  Verhältnisse  sind  sehr  mannigfaltig  und  können  nur   durch 
genauere   Zergliederung    einzelner  Fälle    erläutert    werden.    Aber    alle 
Einzelheiten  dieser  zweiten  infantilen  Sexualbetätigung  hinterlassen  die 
tiefsten  Eindrucksspuren  im  (unbewußten)   Gedächtnis  der  Person,  be- 
stimmen die  Entwicklung  ihres  Charakters,  wenn  sie  gesund  bleibt  und 
die  Symptomatik  ihrer  Neurose,  wenn  sie  nach  der  Pubertät  erkrankt. 
Im  letzteren  Falle  findet  man  diese  Sexualperiode 
vergessen,    die  für    sie  zeugenden    bewußten  Erinne- 
rungen verschoben;  ich  habe  'schon  erwähnt,  daß  ich  auch  die 
normale  infantile  Amnesie  mit  dieser  infantilen  Sexualbetätigung  in  Zu- 
sammenhang bringen  möchte.    Durch  psychoanalytische  Erforschung  ge- 
lingt es,  das  Vergessene  bewußt  zu  machen  und  damit  einen  Zwang  zu 
beseitigen,  der  vom  unbewußten  psychischen  Material  ausgeht."  („Drei 
Abhandlungen  zur  Sexualtheorie",  S.  42— 43.) 

Es  gibt  also  kein  asexuelles  Kind!  Ich  sagte,  sein  Geschlechtsleben 
erwache  schon  in  den  ersten  Lebenstagen.  Es  zeigt  sich  als  Onanie  und 
als  Freude  an  jeder  erotischen  Lust.  Das  Saugen  an  der  Mutterbrust 
ist  gewiß  ein  erotischer  Akt  und  in  gewissem  Sinne  auch  das  Ludein,  das 
mitunter  bis  zum  Orgasmus  führen  kann.  Alle  Ludelbewegungen  möchte 
ich  aber  nicht  als  Onanie  ansprechen.  Das  Kind  hat  noch  die  unbefangene 


14 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Freude  an  allen  Reizzuständen  des  Körpers.  Von  allen  Seiten  strömt 
ihm  die  Libido  zu.  Es  befindet  sich  in  einem  förmlichen  ständigen 
Libidorausche.  Von  den  Genitalien,  von  dem  Munde,  aus  dem  Anus,  von 
der  ganzen  Haut  sammeln  sich  lustvolle  Innervationen,  die  noch  nicht 
als  verboten  und  Sünde  gelten.  Es  ist  eine  Lustorgie,  die  der  Erwachsene 
nicht  vergessen  kann.  Deshalb  treffen  wir  unter  den  Neurotikern  so 
viele  Menschen,  welche  die  Säuglingszeit  nicht  überwinden  können  sich 
nach  ihr  sehnen  und  den  Säugling  imitieren.  Ich  habe  sie  „ewige  Säug- 
linge" genannt. 

Nun  kommt  die  Erziehung  und  beginnt  mit  der  traurigen  Lehre, 
daß  das  Leben  keine  Folge  von  Lustmomenten,  sondern  eine  Kette  von 
Pflichten  bedeutet.  Es  beginnt  die  Arbeit  der  Verdrängung,  da  alle  lust- 
betonten kulturwidrigen  Regungen  des  Kindes,  wie  z.  B.  seine  Myso- 
phihe,  von  der  Umgebung  nicht  geduldet  werden.  Es  setzt  der  uner- 
müdliche Kampf  zwischen  dem  Egoismus  und  den  sozialen  Verpflich- 
tungen ein,  die  in  der  Kinderstube  beginnen. 

Ich  möchte  hier  nochmals  betonen:  Frühes  Erwachendes 
Geschlechtstriebes  ist  nicht  die  Ausnahme,  sondern 
die  Regel.  Koitus  und  Onanie  im  Kindesalter  sind 
nicht  Zeichen  von  Degeneration  und  Entartung, 
sondern  im  Gegenteil  häufig  die  ersten  Symptome 

eines  regen  Geistes,  einer  starken  Begabung,  deren 
erste  Anfänge  immer  ein  gesundes,  urkräftiges 
Triebleben  darstellen. 

Es  ist  dies  der  Trost,  den  ich  allen  Eltern  sage,  wenn  sie  zu  mir 
kommen  und  klagen,  daß  sie  entdeckt  hätten,  ihr  Kind  sei  schon  so  früh 
sexuell  erregt  und  onaniere:  „Das  kann  das  Zeichen  sein,  daß  Ihr  Kind 
außerordentlich  begabt  ist  und  daß  sich  in  ihm  schon  frühzeitig  starke 
Kräfte  regen." 

So  teilt  mir  ein  genialer  Student  der  Medizin  folgende  eigene  Er- 
fahrungen mit:  „Schon  als  kleines  Baby  von  einigen  Monaten  sqll  ich 
angefangen  haben  zu  onanieren.  Ich  hielt  die  Hände  immer  in  der  Scham- 
gegend. Mein  Penis  soll  vom  ewigen  Spielen  immer  gerötet  gewesen 
sein.  Trotzdem  man  meine  Hände  unzählige  Male  von  unten  entfernte 
gab  ich  sie  immer  wieder  hin.  Das  weiß  ich  aus  Mitteilungen  meiner 
Mutter.  Des  Nachfolgenden  erinnere  ich  mich  genau.  Als  vierjähriger 
Knabe  wurde  ich  von  einem  Sechsjährigen  angeleitet  zu  onanieren.  Ich 
gewöhnte  mich  daran  und  onanierte  4-6mal  in  der  Woche.  Ich  unter- 
richtete alle  meine  Spielkameraden  in  der  neuen  Kunst.  Im  neunten 
Jahre  hörte  ich,  daß  die  Onanie  schädlich  wäre.  Auch  meine  Mutter 
warnte  mich  in  sehr  vorsichtiger  Weise,  ohne  die  Schäden  zu  übertreiben. 
Tch  gab  ihr  das  Versprechen  aufzuhören,  konnte  aber  dies  Versprechen 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie. 


15 


nicht  halten.  Im  11.  Jahre  gab  ich  das  Onanieren  auf,  weil  meine  Freunde 
es  aufgegeben  hatten  und  ich  nicht  schwächer  sein  wollte  als  sie.  Mein 
Ehrgeiz  war  stärker  als  mein  Sexualtrieb.  Ich  war  nur  ein  Jahr  bis 
auf  einen  einzigen  Rückfall  abstinent.  Vom  zwölften  Jahre  onanierte 
ich  wieder  fast  täglich,  mitunter  sogar  5— 6mal  an  einem  Tage.  Im 
17.  Jahre  ging  ich  zu  einer  Dirne.  Ich  koitierte  mit  guter  Potenz  und 
normalem  Orgasmus.  Aus  Mangel  an  Geld  und  aus  Angst,  von  den 
Professoren  bemerkt  zu  werden,  zog  ich  die  Onanie  vor.  Jetzt  —  ich 
bin  21  Jahre  alt  —  onaniere  ich  nur,  wenn  ich  keine  Frauen  zur  Ver- 
fügung habe.  Mein  blühendes  Aussehen  beweist,  daß  die  Onanie  mir 
nicht  geschadet  hat.  Ich  bin  sehr  kräftig,  habe  eine  starke  Muskulatur 
und  eine  enorme  Ausdauer  in  verschiedenen  Sportsarten."  Geistig  er- 
scheint dieser  Mediziner  weit  über  seine  Jahre  entwickelt.  Er  hat  eine 
enorme  Belesenheit  und  große  Bildung,  spricht  viele  Sprachen  und  ver- 
spricht, ein  großer  Gelehrter  zu  werden.  Als  Schüler  war  er  immer  faul, 
war  aber  trotzdem  infolge  seiner  glänzenden  Anlagen  immer  einer  der 
Besten  in  der  Klasse. 

Es  handelt  sich  um  einen  hochbegabten  Menschen,  dessen  Trieb- 
leben mit  großer  Entschiedenheit  sehr  früh  einsetzte  und  eine  Parallel- 
erscheinung zu  seiner  Begabung  bedeutet. 

Ich  will  nicht  vergessen,  darauf  hinzuweisen,  daß  auch  das  Gegen- 
teil gar  nicht  selten  ist.  Daß  auch  abnorme  Kinder,  welche  den  Keim 
einer  schweren  Geisteskrankheit  in  sich  tragen,  auffallend  früh  stark 
zu  onanieren  anfangen.  Dann  wird  später  die  Geisteskrankheit  als 
Folge  der  Onanie  aufgefaßt,  während  das  hemmungslose  Trieblcben 
bereits  das  erste  Symptom  der  Krankheit  gewesen  ist.  Aber  bei  diesen 
Kindern  findet  man  auch  andere  Zeichen  der  Degeneration,  eine  v  e  r- 
spätete  geistige  Entwicklung,  während  die  nicht  psycho- 
pathischen onanierenden  Kinder  oft  eine  auffallende  Frühreife  zeigen. 
Manchmal  ist  die  Diagnose  jedoch  schwer  zu  stellen  und  erst  die 
späteren  Jahre  belehren  uns  über  den  wahren  Tatbestand.  Wie  wir  uns 
in  solchen  Fällen  zu  benehmen  haben,  das  will  ich  später  ausführen. 
Ich  möchte  nur  betonen,  daß  die  Onanie  bei  starkem  Widerstand  der 
Umgebung  heimlich  fortgesetzt  wird,  sich  aber  meistens  in  Formen 
äußert,  die  ich  als  larvierte  Onanie  beschrieben  habe.1) 

Doch  ich  spreche  immer  von  der  Onanie  als  einer  normalen  Er- 
scheinung und  dies  Buch  soll  die  krankhaften  Verirrungen  des 
Geschlechtstriebes  beschreiben.  Wenn  man  nur  wüßte,  wo  das  Kranke 
anfängt  und  das  Normale  aufhört!  Perversionen  gelten  als  krankhaft 
und  sind  bei  allen  Naturvölkern  verbreitet,  also  im  Grunde  genommen 


|     >)  Über  larvierte  Onanie.  Sexualprobleme.  9.  Jahrg.,  2.  EL,  Februar  1913. 


16 


Erster  Teil.  Die  Onauio. 


naturlich.  Sie  werden  aber  von  unserer  Zeit  als  krankhaft  empfunden 
*ie  ist  das  Normale  in  größerer  Wertung  gestanden  als  jetzt  und  nie 
wurde  im  Dienste  des  Normalen  mehr  Abnormes,  d.  h.  Naturwidriges 
verbrochen.  Ich  habe  eine  zu  tiefe  Bewunderung  für  die  Natur,  als  daß 
ich  mir  herausnehmen  wollte,  sie  zu  korrigieren  und  üire  Äußerungen 
als  krankhaft  hinzustellen.  Es  wird  meine  Aufgabe  sein,  nachzuweisen 
wie  vieles  von  dem  natürlich  ist,  was  wir  als  krankhaft  bezeichnen,  und 
wie  viel  Krankheit  in  unserem  Bestreben  steckt,  die  Natur  zu  verge- 
waltigen.  < 

•       m\Wmf -T  ln  die8em  Buche  den  Glichen  Ausdruck  Perver- 
sion (Naturwidrigkeit)  nicht   gebrauchen  und  mich  eines   anderen  be- 
dienen,   den  /.  S.  Kraus,  vorgeschlagen  hat :    P  a  r  a  p  h  i  1  i  e.     Dieser 
Ausdruck  paßt  in  mein  System  besser  hinein.  Ich  sehe  nämlich  in  allen 
sogenannten  Perversionen  „Parapathien",  d.  h.  Störungen  des  Affekt- 
lebens.  Die  Paraphihe  ist  also  nur  eine  besondere  Form  der  Parapathien 
Psychosen  werden  von  mir  als  Paralogien  bezeichnet.   Dies  betone  ich 
nur  zur  Information  des  Lesers,  der  sich  sonst  an  den  neuen  Ausdrücken 
Paraphihe,  Parapathie,  Paralogie  stoßen  wird.   Eine  neue  Auffassung 
verlangt  auch  eine  neue  Nomenklatur,  die  etwas  von  dem  Odium  zer- 
stört, das  den  Verirrungen  des  Sexuallebens  anhaftet.  Die  sogenannten 
Verirrungen    und    Laster"  sind  meist  nW  Variationen  eines  und 
desselben  Triebes!    Und  meine  Werke  sind  eine  Schilderung  der  Zu- 
stande, welche  die  Moralisten  insgesamt  als  „Laster"  und  ,  Folgen  der 
Laster"  bezeichnet  haben. 

Und  da  wüßte  ich  mir  kein  besseres  Beispiel  als  die  Besprechung 
der  Onanie!  Was  für  rückständige  Ansichten  herrschen  über  die  Onanie 
in  Ärztekreisen,  die  leider  in  sexualibus  nicht  viel  mehr  wissen  als  ge- 
bildete Laien,  die  ihren  Krafit-Ebing,  Block  und  Forel  gelesen  haben. 
Und  selbst  berühmte  Sexualforscher,  die  ihre  ganze  Lebensarbeit  dem 
Erkennen  der  Sexualprobleme  widmen,  wie  z.  B.  Rohleder,  sprechen  von 
der  Onanie  immer  als  dem  „Laster"  und  können  sich  gar  nicht  genug 
tun  in  dem  Bestreben,  die  zahllosen  Schäden  der  Onanie  aufzuzählen 
und  die  zahllosen  nutzlosen  prophylaktischen  und  therapeutischen  Be- 
helfe vorzuführen,  welche  das  Laster  „ein  für  allemal"  ausrotten  sollen. 
Über  die  angeblichen  Schäden  der  Onanie  äußert  sich  Kraepelin 
in    ungemein  temperamentvoller   Weise.    Es  handelt    sich  freilich    um 
eugenische  Bestrebungen  und  um  Schaffung  neuen  Menschenmaterials. 
Unter  den  „Arbeiten  der  vom  Ärztlichen  Verein  München  eingesetzten 
Kommission  zur  Beratung  von  Fragen  der  Erhaltung  und  Mehrung  der 
Volkskraft"  findet   sich   im  Artikel  Kraepelins    „Geschlechtliche   Ver- 
irrungen und  Volksvermehrung"    (M.  m.  W.  1918,  Nr.  5)   folgende  be- 
zeichnende Stelle: 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie. 


17 


„Auch  die  Onanie  ist  trotz  ihrer  außerordentlichen  Häufigkeit  nur 
ausnahmsweise  ein  dauerndes  und  unbedingtes  Hindernis  der  Fort- 
pflanzung. In  der  ganz  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  bleibt  sie  eine 
vorübergehende  Verirrung  der  Jugend-  und  Entwicklungsjahre,  und  auch 
dort,  wo  sie  beim  Erwachsenen  fortbesteht,  braucht  sie, die  natürliche  Ge- 
schlechtsbetätigung nicht  aufzuheben.  Wo  das  dennoch  geschieht,  handelt 
es  sich  ausnahmslos  um  psychopathische  oder  sonstwie  krankhafte  Ver- 
anlagung, namentlich  um  die  Anfänge  der  Dementia  praecox.  Begünstigt 
wird  eine  solche  Entwicklung  in  ersterem  Falle  durch  den  Eintritt 
psychischer  Impotenz,  in  letzterem  durch  die  dem  Leiden  eigentümliche 
„autistische"  Abschließung  von  der  Umgebung,  die  eine  geschlechtliche 
Annäherung  wesentlich  erschwert  oder  unmöglich  macht.  Ein  Umstand, 
der  hier  selbstverständlich  nur  als  erwünscht  bezeichnet  werden  kann. 
Dagegen  erscheint  das  Einwurzeln  der  Onanie  bei  Psychopathen  auch 
noch  insoferne  bedenklich,  als  sie  bei  diesen  bestimmbaren  Persönlich- 
keiten eine  dauernde  Verschiebung  des  Geschlechtszieles  begünstigen  und 
damit  einer  Reihe  anderer  geschlechtlicher  Verirrungen  die  Bahn  frei 
machen  kann.  Weiterhin  aber  verbreitet  sich  die  Onanie  erfahrungsgemäß 
sehr  leicht  durch  Verführung,  besonders  jugendlicher  Personen,  so  daß, 
wo  der  Boden  dafür  empfänglich  ist,  die  erwähnten  Folgen  sich  auch 
auf  mehr  oder  weniger  zahlreiche  weitere  Personen  ausdehnen  und  da- 
durch zu  einer  Gefahr  für  die  Volksvermehrung  werden  können.  Wenn  wir 
daher  auch  heute  an  die  ehemals  befürchteten  schrecklichen  Folgen  der 
Onanie  für  die  persönliche  Gesundheit  nicht  mehr  glauben,  so  werden 
wir  darüber  doch  nicht  im  Zweifel  sein,  daß  es  dringend  notwendig  ist, 
ihre  Entstehung  und  ihre  Verbreitung  mit  allen  Mitteln  zu  bekämpfen." 

Diese  argen  Übertreibungen  und  falsche  Darstellung  leistet  sich 
der  Münehener  berühmte  Psyehiater  im  Dienste  der  Menschenver- 
mehrung, als  ob  die  Unterdrückung  der  Onanie  die  Fortpflanzung  be- 
günstigen würde.  Wenn  es  sich  aber  nach  Kraepelin  um  so  furchtbare 
Psychopathen  handelt,  die  das  „Laster"  durch  das  ganze  Leben  schlep- 
pen, so  müßte  man  ihnen  eigentlich  dankbar  6ein,  daß  sie  auf  die  Fort- 
pflanzung verzichten  und  ihr  asozialer  Akt  wird  eine  eugenischc 
Maßregel. 

Ich  wünschte  mir,  mit  Keulenschlägen  in  den  ganzen  Wust  drein- 
hauen  zu  können,  um  Platz  für  eine  vernünftige,  von  Vorurteilen  nicht 
getrübte  Auffassung  zu  schaffen.  Ich  glaube,  daß  mein  Bestreben  ver- 
geblich ist  und  daß  ich  eher  Spott  und  Hohn  ernten  werde  als  Aner- 
kennung und  Nachprüfung.  Aber  ich  erfülle  meine  Pflicht  als  ehrlicher 
Forscher  und  weiß,  daß  es  nie  eine  größere  und  wichtigere  Pflicht  ge- 
geben hat. 

Da  ich  von  den  psychischen  Störungen  der  Sexualfunktion  sprechen 
will,  so  hätte  ich  eigentlich  kein  Recht,  mit  der  Onanie  anzufangen. 
Denn  sie  soll  ja  eine  unendliche  Reihe  von  physischen  Störungen  im  Ge- 
folge haben  Und  erst  durch  diese  Schädigungen  auf  die  Psyche  wirken. 

Stekel,  Störungen  doa  Trieb-  und  Affektlobens.  II.  2.  AuB.  2 


18 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Ich  behaupte  aber:  Alle  Schädigungen,  die  man  der 
Onanie  zuschreibt,  existieren  nur  in  der  Phantasie 
der  Arzte!  Alle  Schädigungen  sind  Kunstprodukte 
der  Arzte  und  der  herrschenden  Moral,  welche  seit 
zwei  Jahrtausenden  einen  erbitterten  Kampf  gegen 
die  Sexualität  und  alle  Lebensfreude  führt 

•  a  ,Dfi°Ch+da7I0in  Siäter!  Jeder  Weiß'  was  0nanie  ^  und  doch 
wird  definiert  und  klassifiziert,  eingereiht  und  eingeschachtelt,  erst  dann 
gibt  sich  die  Wissenschaft  zufrieden.  Rohleder  >)  definiert:  „Unter 
Onanie  versteht  man  diejenige  Betätigung  des  Geschlechtstriebes,  bei 
welcher  die  äußeren  Schamteile  nicht  wie  beim  Koitus  durch  Vereinigung 
und  Friktion  der  männlichen  und  weiblichen  Genitalien,  sondern  durch 
Manipulierung  mit  den  Händen  bis  zur  Ejakulation,  zur  Ausspritzung 

SÄT  £eim  weiblichen  Geschlecht  bis  zum  höchsten  GiPfel  g- 

schlechtlicher  Erregung  gereizt  werden,  entweder  allein  durch  die  Hände 
oder "  durch  irgendwelche  Instrumente."  Diese  Definition  ist  weder' 
richtig  noch  erschöpfend.  -  Sie  berücksichtigt  nicht  die  so  verbreiteten 
*  ormen  der  psychischen  Onanie,  bei  der  es  nie  zur  Berührung  der  Geni- 
talien kommt  sie  vernachlässigt  die  Onanie  an  den  erogenen  Zonen 
(z.  B  die  mechanische  Reizung  des  Afters),  sie  nennt  jeden  Lusterwerb 
am  geschlechtlichen  Partner  (durch  gegenseitige  Reizung)   Onanie 

Ich  halte  dafür,  daß  der  Ausdruck  von  Havelock  Ellis  Auto 
erotismus  dem  veralteten  und  mißbräuchlich  angewendeten  Onanie" 
vorzuziehen  wäre.  Denn  Onanie  ist  für  mich  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  nur  Autoerotismus.  Die  Onanie  ist  ein  asozialer  Geschlechts- 
akt. Das  ist  ihr  wesentliches  Merkmal.  Es  gibt  für  Männer  keine 
Onanie  beim  Weibe,  wenn  sie  ohne  besondere  Libido  kohabitieren  wie 
viele  Autoren  annehmen.  Es  gibt  für  mich  auch  keine  mutuelle  Onanie 
zwischen  zwei  Männern  oder  Frauen.  Meine  Definition  lautet  also- 
Jeder  sexuelle  Akt,  der  ohne  Mithilfe  eines  Anderen 
vollzogen  wird,  ist  Onanie. 

Dabei  kommen  die  Vorgänge  der  Phantasie  nicht  in  Betracht 
Denn  in  der  Phantasie  gibt  es  eigentlich  sehr  selten  einen  „auto- 
erotischen Akt  weil  man  ja  dabei  meistens  eine  oder  mehrere  Personen 
als  Objekte  der  Befriedigung  zur  Verfügung  hat.  Die  selteneren  Fälle 
ausgenommen,  in  denen  der  eigene  Körper  zum  Sexualobjekt  wird,  die 
auf  den  Narzissmus  (das  Verliebtsein  in  sich  selbst,  die  sogenannte 
„Ichliebe  ,  den  „erotischen  Egoismus")  zurückgehen.  Eigentlich  ist 
jeder  onamstische  Akt  ein  Symptom  des  Narzissmus.  Denn  die  Lust 
wird  am  eigenen  Körper  gewonnen,  überdies  zeigt  eine  genauere  psycho- 

')  Die  Masturbation.    III.  verbesserte    und  vermehrte  Auflage.    Berlin,    W  35 
Fischers  medizm.  Buchhandlung  H.  Kornfeld,  1912. 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  19 

logische  Untersuchung  der  Liebesbeziehungen,  daß  jeder  Mensch  sein 
Ich  in  der  nächsten,  sein  Ich  spiegelnden,  Umgebung  sucht  und  daß  jede 
Liebe  im  gewissen  Sinne  eine  „Ichliebe"  ist.  Wir  lieben  u  n  s  in  Anderen 
und  hassen  u  n  s  in  Anderen. 

Wir  bleiben  also  beim  historischen  Ausdrucke  „Onanie",  aber  wir 
verstehen  darunter  immer  nur  den  „Autoerotismus".  Wie  weit  käme 
man,  wollte  man  die  verschiedenen  Variationen  des  Liebesverkehres 
zwischen  Mann  und  Weib  oder  zwischen  zwei  Männern  Onanie  nennen! 
Nach  meinen  Erfahrungen  ißt  der  Koitus  zwischen  Eheleuten  absolut 
nicht  die  Regel.  Zahllos  sind  die  mir  bekannten  Fälle,  in  denen  zwischen 
Ehe  und  Liebesleuten  statt  des  Koitus  nur  die  gegenseitige  Frictio 
genitalium  stattfindet.  Die  Motive  sind  verschieden.  Teils  aus  Angst 
vor  Kindersegen,  teils  aber,  weil  der  Orgasmus  für  beide  Teile  so  stärker 
ist.  Auch  geht  es  nicht  an,  zu  sagen,  zwei  Homosexuelle  hätten  mit- 
einander Onanie  getrieben.  Das  ist  eben  keine  Onanie  mehr.  Das  sind 
keine  asozialen  Akte,  das  sind  schon  Liebesbeziehungen  zwischen  zwei 
Personen. 

Merkwürdigerweise  empfinden  die  wenigsten  dieser  Menschen  diese 
Akte  als  Onanie.  Das  Odium,  das  der  Onanie  anhängt,  klebt  vielmehr 
am  autoerotischen  Akte.  Das  hat  eine  tiefe  Begründung.  Die  seelischen 
Vorgänge  bei  der  solitären  Onanie  sind  ganz  andere,  als  die  bei  der  Be- 
friedigung durch  einen  anderen.  Wir  werden  später  beim  Eingehen  auf 
die  Psychologie  der  Onanie  noch  darauf  zurückkommen  müssen. 

Wir  kommen  jetzt  zur  Beantwortung  der  wichtigen  Frage:  Ist 
diese  autberotische  Betätigung  schädlich  oder  nicht?  In  dieser  allge- 
meinen Fassung  ließe  sich  die  Frage  kaum  beantworten.  Wir  könnten 
ebenso  fragen:  Ist.  die  Sexualität  schädlich  oder  nicht? 

Jeder  „normale"  Akt  kann  unter  bestimmten  Umständen  und  in 
bestimmter  Ausführung  eine  Schädlichkeit  werden.  Ein  Übermaß  von 
Essen,  Trinken,  Schlafen  und  vieler  anderer  physiologischer  Funktionen 
kann  durch  falsche  Anwendungsweise  und  durch  Übermaß  schädlich 
werden.  Meiner  Erfahrung  nach  steht  die  Onanie  an  Schädlichkeit  (wenn 
wir  von  den  sekundären  seelischen  Begleiterscheinungen  absehen)  in 
gleicher  Linie  wie  der  sogenannte  „normale"  Akt.  Es  gibt  verschiedene 
Variationen  des  autoerotischen  Aktes,  die  zu  einer  Reizung  der  Ge- 
schlechtsdrüsen und  zu  Störungen  der  inneren  Sekretion  führen.  Wir 
müssen  uns  daher  einen  flüchtigen  Überblick  über  die  verschiedenen 
Formen  der  Onanie  verschaffen. 

Wir  können  da  unterscheiden: 

A.  Die  Onanie  ohne  mechanische  Reizung. 

1.  Durch  die  Produktion  autochthoner  Phantasien. 

2.  Durch  obszöne  Reden. 

2* 


20 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


3.  Durch  Lektüre. 

4.  Durch   den   Anblick   einer    bestimmten    Situation   oder   eines 
bestimmten  Körperteiles. 

5.  Durch  verschiedene  Affekte  -  hauptsächlich  durch  Angst. 
Der   fünfte   Punkt    bedarf   einer   kleinen    Erörterung.     Es   gibt 

Onanisten,  die  sich  in  Situationen  bringen,  in  denen  sie  Angst  empfinden 
worauf  unter  großem  Lustgefühl  eine  Ejakulation  eintritt.    Ein  Mann 
meiner  Beobachtung  machte  einen  kaum  angedeuteten  exhibitionistischen 
Akt.  Dieser  führte  nur  eine  allgemeine  Spannung  herbei.  Dann  kam  die 
Phantasie,  er  würde  von  einem  Wachmanne  beobachtet  werden.  Er  er- 
griff nun  die  Flucht,    wobei  es    zur  Ejakulation    kam.    Ein    anderer 
onanierte  mit  der  Vorstellung  des  „Nicht  Erreichens".    Er  richtete  es 
so  ein  daß  er  z.  B.  sich  zu  einem  Zugesehr  viel  Zeit  ließ,  so  daß  er  sich 
im  letzten  Momente  sehr  „hetzen"  mußte.   Dann  kam  die  Vorstellung - 
Das    wirst    du    nicht    erreichen!    Sofort  setzte  eine  Angst 
ein  die  Sich  allmählich  steigerte,  bis  es  zum  Orgasmus  mit  allen  seinen 
Begleiterscheinungen  kam.   Dasselbe  konnte  er  auch  durch  die  Lektüre 
eines  beliebigen  Buches  erzielen.    Der  Leser  sagte  sich  plötzlich-     Du 
mußt  in  zehn  Minuten  mit  dem  Buche  fertig  werden.    Damit  du  dich 
aber  nicht  beschwindeln  kannst,  mußt  du  -laut  lesen  und  jeden  Vokal 
genau  und  deutlich  betonen."   Er  legte  die  Uhr  vor  sich  hin  und  bald 
hatte  er  wieder  die  gesuchte  psychische  Spannung  des  „Nicht  Erreichend 
durchgesetzt,  die  zum  Auslösen  des  Orgasmus  führte.    Dieser  Mann 
konnte  durch  eine  gewöhnliche  Friktion  kaum  einen  Orgasmus  erzielen 
Auch  m  solchen  Fällen  mußte  die  Phantasie  des  „Nicht  Erreichens'"  z„ 
Hilfe  genommen  werden,  um  den  Orgasmus  durchzusetzen.1)   Ähnliche 
Erscheinungen  kann  man  bei  anderen  Affekten  beobachten  (Zorn,  Haß 
Mitleid,  Scham  usw.). 

Wir  können  ferner   unterscheiden: 

B.  Onanie  mit  mechanischer  Reizung. 

1.  Mechanische  Reizung  ohne  Zuhilfenahme  der  Phantasie.  (Diese 
Form  ist  sehr  selten,  da  die  Phantasie  meist  „unbewußt"  bleibt 
worüber  wir  noch  ausführlich  sprechen  werden.) 

2.  Mechanische  Prozeduren  am  Schlüsse  der  Phantasie. 

3.  Die  Masturbatio  prolongata.   Die  Ejakulation  wird  durch  Auf- 
hörender Friktionen  oder  Einschieben  anerotischer  Phantasien  zurück- 

')  Hinter  diesem  Affekt  steckt  eine  ganz  bestimmte  (verborgene)  Phantasie 
Auf  den  Kern  reduziert,  ließ  sieh  in  dem  beschriebenen  Falle  eine  besondere  Para- 
plnlie«  nachweisen,  die  ihm  unerreichbar  schien.  Da  er  die  Situation  so  gestaltete  daß 
er  schheßhch  den  Zug  oder  das  andere  Ziel  doch  erreichte,  so  konnte  die  Wunsch- 
pl.antas.e  auch  mit  der  Erfüllung  abschließen,  die  sich  im  Orgasmus  ausdrückte. 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  21 

gehalten.  Nach  einer  Pause  kommt  es  zu  neuen  Friktionen  oder  Lust- 
produktionen, die  aber  wieder  vor  dem  Eintreten  des  Orgasmus  einge- 
stellt werden,  so  daß  eine  Verlängerung  des  sexuellen  Aktes  bis  zu  einer 
Stunde  und  darüber  hinaus  durchgesetzt  werden  kann. 

4.  Eine  besondere  Form  ist  auch  die  von  Rohleder  zuerst  be- 
schriebene Masturbatio  interrupta.  Bei  dieser  Form  wird  der  Orgasmus 
überhaupt  nicht  herbeigeführt.  Der  Onanist  begnügt  sich  mit  der  Vor- 
lust und  verzichtet  aus  hygienischen  oder  ethischen  Motiven  (Samenver- 
lust, Angst  vor  Schmutz)   auf  den  Orgasmus  und  die  Ejakulation. 

C.  Endlich  haben  wir  den  „Unbewußten  Auto- 
er o  t  i  s  m  u  s"  zu  erwähnen.  Die  verschiedenen  Formen  der 
Spermatorrhoe  (z.  B.  beim  Defäzieren)  und  die  Pollutionen  x) ,  manche 
rätselhafte  Krampfanfälle  mit  darauffolgender  süßer  Erschlaffung  (bei 
Kindern  und  Erwachsenen),  kleinere  und  längere  Absenzen  sind  ver- 
steckte autoerotische  Akte.  Bei  den  Pollutionen  macht  der  Träumer  ent- 
weder Friktionen  oder  die  charakteristischen  Bewegungen,  welche  den 
Orgasmus  herbeiführen.  Auch  die  Defäkation  wird  bei  solchen  Menschen 
unter  Begleitung  unbewußter  analerotischer  Phantasien  ausgeführt. 
Die  Spermatorrhoe  geht  unter  schwachem  Lustgefühl  oder  leichtem 
Kitzelgefühl  vor  sich.  Übrigens  ist  zu  erwähnen,  daß  es  vielen  Menschen 
gelungen  ist,  die  große  Endlust  dadurch  zu  maskieren,  daß  sie  die  Vor- 
lust in  kleinen  Libidoteilen  genießen.  Sie  kommt  nicht  mehr  als  Libido 
zum  Bewußtsein. 

Solche  autoerotische  Vorgänge  sind  sehr  häufig  und  meistens  sehr 
geschickt  maskiert.  Die  Erwachsenen  haben  dabei  z.  B.  keine  Erektion. 
Sie  halten  den  infantilen  Typus  der  Lustgewinnung  fest,  so  daß  eine 
Urinabsonderung  die  Ejakulation  ersetzt.  (Enuresis!)  Ähnliche  Vor- 
gänge sind  beim  Lutschen  und  beim  Hutschen  und  bei  verschiedenen 
Muskelaktionen  nachzuweisen.  Diese  Prozeduren  sind  in  praxi  nicht 
so  scharf  geschieden,  als  ich  sie  hier  geschildert  habe.  Denn  es  gibt 
unzählige  Kombinationen  und  Übergänge.  So  kenne  ich  einen  Mann, 
cer  zuerst  ohne  Friktion  mit  phantastischen  Vorstellungen  einer  Orgie 
onaniert.  Dann  spannt  er  seine  Muskeln  auf  das  Äußerste  an  und  setzt 
so  erst  den  Orgasmus  durch.  Andere  können  beim  Turnen,  Schwimmen, 
Radfahren,  Reiten  durch  Kombinationen  mechanischer  und  seelischer 
Reize  zur  Befriedigung  gelangen. 

Alle  Menschen  onanieren.  Von  dieser  Regel  gibt  es 
keine  Ausnahmen,  wenn  man  einmal  weiß,  daß  es  eine  unbewußte  Onanie 
gibt.   Man  könnte  sie  auch  die  maskierte  oder  larvierte  Onanie  nennen. 


*)  Vgl.  die  tvett'liehe  Schilderung    der  Pollutionen  von  Dr.  S.  A.  Tannenbaum  im 
IV.  Bd.  (Die  Impotenz  des  Mannes). 


22 


Erster  Teil.  Die  Ouanie. 


Einige  dieser  Formen  habe  ich  bereits  erwähnt.    Aber  es  gibt  deren 
anzählige.   Der  Eine  hat  die  Gewohnheit,  mit  dem  Finger  in  den  Anus 
zu  fahren,  angeblich  weil  er  den  harten  Stuhl  herausbringen  muß.  Denn 
die  Lustgewinnung  auf  dem  maskiert  autoerotischen  Wege  wird  immer 
„rationalisiert".    Der  Zweite  fühlt  ein  heftiges  Jucken  im  Mastdarm 
so  daß  er  immer  kratzen  muß.    (Häufig  bei  Hämorrhoidariern,  die  auch 
die  „süßen  Lustgefühle"  bei  diesem  Jucken  und  Kratzen  betonen.)  Die 
Dritte  leidet  an  einem  Pruritus  vaginae,  der  sie  zum  Kratzen  zwingt 
*  ach  dem  Orgasmus  hört  das  Jucken  allmählich  auf.  Diverse  Spiele  mit 
der  Zunge,  das  Kratzen  der  Haut,  das  Nasenbohren,  manche  Tics  ge- 
hören   in  dieses  Gebiet.    Charakteristisch   ist  dabei  immer,    daß    der 
Charakter  der  Lust  so  mitigiert  erscheint,  daß  er  dem  Beteiligten  gar 
nicht  als  „erotisch"   zum  Bewußtsein   kommt.    Beim  Manne  wird    die 
Phnr'^rT  gTanYU8geSchaltet-  Die  Erektion  würde  ja  den  sexuellen 
Charakter  der  Lustgewinnung  sofort  verraten.  Selbst  die  Ärzte  kennen 

üon1  ^e  tr "TT  C1Wakter  dleSer  Gewinnung  Ä 
!Z  J?  S~°rrl>oe  wird  «*  besondere  Schwäche  des  Sexual- 
apparates au  gefaßt.  Dieser  Ansicht  widerspricht  die  Tatsache  daß 
noch  immer  das  beste  Mittel  gegen  Spermatorrhoe  regelnder  Ge 
chlech  -erkehr  1S  Wenn  eben  eine  andere  Form  der  LustgewTnnung 
zur  Verfugung  steht,  ist  die  Spermatorrhoe  überflüssig 

,„«*         ?f  "T1^  ^  TatSaChe  der  allge^nen  Säuglingsonanie 

bXeiL     SpH16        qUltäre  Terbr1tUnS  ^  °nanie  im  «Päterfnllt 
bestreiten.    Sehen  wir  einmal  von  der  Säuglines    und  THn,w  u 

und  versuchen  wir  iestzueteHen,  wie  viele  UeZZ^tlTZm 
dem  Autoerotismus  huldigen.  *-uDertat 

stellt  gpß  1St  diefahl  d/rn°nanierenden  Menschen?  Ernßte  Forscher 
stellen  den  Prozentsatz   auf  90%  und  darüber.    Selbst  Rohteder   gibt 

eine  so  hohe  Ziffer  zu.    Dr.  Meirowsky  (Köln)  stellte  Rohleder   seine 
private  Statistik,  die  er  einer  brieflichen  Anfrage  bei  Ärzten  verdankt 
zur  Verfügung.    Von  88  Ärzten  hatten  78  masturbiert,    was  88  7% 
ergibt.    Rechnen  wir  aber  die  Fälle  von  larvierter  Onanie  hinzu   über 
die  wir  noch  sprechen  werden,  so  können  wir  ruhig  behaupten,  daß  alle 
Menschen  onanieren.   Die  Nicht-Onanisten  sind  die  Ausnahme.  Ich  habe 
einige  solcher  Exemplare  gesehen.  Es  waren  die  schwersten  Neurotiker 
und  auch  da  ergab  die  genaue  analytische  Durchforschung,  daß  sie  un- 
bewußte Onanie  trieben.  Eine  sexualpädagogische  Enquete  in  Budapest 
aber  hatte  sogar  96%  Onanisten  ergeben.  Ich  meine  natürlich  Menschen 
weiche  m  ihrem  Leben  überhaupt  jemals  onaniert  haben. 

Wie  verbreitet  die  Onanie  ist,  das  beweist  die  neueste  kleine 
Statistik  von  Johannes  Duck  (Sexualprobleme,  10.  Jahrgang  Heft  11)  • 
90.8%  seiner  Befragten  gaben  die  Onanie  zu.   Nehmen  wir  jetzt  die 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  23 

Fälle  von  unbewußter  Onanie  dazu,  ferner  den  Prozentsatz  der  Lügner, 
die  es  in  solchen  Fällen  immer  gibt,  und  man  wird  meinen  Satz  unter- 
schreiben müssen :  Alle  Menschen  onanieren!  75%  der  Be- 
antworter  sagten  aus,  daß  sie  keinen  Schaden  von  der  Onanie  verspürten. 
Über  die  Zahl  der  Onanisten  äußern  sich  andere  Autoren,  wie  folgt: 
Marcuse  92%,  Herrn.  Cohn  99%  und  Oskar  Berger  (Arch.  f.  Psychiatrie,' 
Bd.  6,  1876)  100%.  Wie  müßte  also  das  Menschengeschlecht  aussehen, 
wenn  dieses  „furchtbare  Laster"  in  der  Tat  schädlich  wäre?  .  .  . 

Und  doch  seilen  wir  eine  Reihe  von  Schädlichkeiten,  die  immer 
n  n.  c  h  onanietischen  Akten  auftreten.  Wir  hören,  daß  die  Leute  gleich 
danach  oder  am  nächsten  Tage  sich  matt  und  müde  fühlen,  daß  sie  über 
Kopf-  und  Kreuzschmerzen  klagen  und  unfähig  zur  Arbeit  scheinen  usw., 
eine  Erscheinung,  die  Ferenczi  „Eintagsneurasthenie"  genannt 
hat.  Ich  kann  jedoch  den  Beweis  liefern,  daß  diese  Eintagsneurasthenie 
ein  psychogenes  Gebilde  ist.  Ich  habe  viele  Menschen  gesehen,  welche 
diese  sogenannte  Eintagsneurasthenie  sofort  verloren  haben,  nachdem 
sie  von  mir  belehrt  wurden,  daß  der  onanistische  Akt  als  solcher  voll- 
kommen unschädlich  und  harmlos  ist  und  daß  nur  ihre  Angst  ihnen 
einen  Schaden  vorgetäuscht  und  dadurch  auch  erzeugt  hat. 

Unzählig  sind  die  Kranken,  die  mir  beweisen  wollten,  daß  sie  nach 
der  Onanie  die  sonderbarsten  Schwächezustände  erleiden.  Der  eine  kann 
nichts  arbeiten,  der  andere  fühlt  sich  wie  zerschlagen,  der  dritte  er- 
krankt an  Migräne,  der  vierte  zeigt  eine  schwere  Depression,  der  fünfte 
ist  verstopft,  der  sechste  hat  heftige  Herzbeschwerden,  der  siebente 
Schmerzen  im  Hoden  oder  im  Anus,  der  achte  einen  schier  unerträg- 
lichen Kreuzschmerz.  Ich  sah  Hypochonder,  welche  mir  bewiesen  haben, 
daß  sie  nach  einem  onanistischen  Akte  um  ein  Kilo  an  Gewicht  ab- 
nahmen. Die  Gewichtsabnahme  war  die  Folge  eine6  pathologischen 
Schwitzens  infolge  der  Angst  vor  den  grauenhaften  Folgen.1)  Alle 
diese  Beschwerden  sind  die  Folge  von  mächtigen  Autosuggestionen, 
welche  jene  Symptome  erzeugen,  vor  denen  sich  die  Kranken  fürchten. 
Auch  die  Besserungen  nach  dem  Aussetzen  der  Onanie  beweisen  nichts. 
Die  Onanisten  zählen  die  Tage,  welche  sie  onaniefrei  verbracht  haben, 
und  fühlen  einen  ungeahnten  Kräftezuwachs.  Der  Zauber  dauert  nicht 
lange.  Entweder  sie  werden  wieder  rückfällig  und  sind  so  unglücklich 
über  ihre  eigene  Schwäche,  daß  sie  sogar  zu  einer  Kastration  bereit 
wären,  um  Leben  und  Gesundheit  zu  retten,  oder  sie  erkranken  nach 


t 


*)  Der  Kranke  zeigte  den  bekannten  Heißhunger  der  Sexualhypochonder  nach 
onanistischen  Akten.  Diese  Kranken  versuchen  die  Samenverschwendung  durch  eine 
übermäßige  Ernährung  wettzumachen.  Unser  Patient  verzehrte  nach'einem  onanistischen 
Akte  am  nächsten  Tage  20  Eier,  selbst  in  der  Kriegszeit,  in  der  diese  restitutio  ad 
integrum  ihm  ein  kleines  Vermögen  kostete. 


24 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


dem  kurzen  Irühling  der  Genesung  an  einer  schweren  Neurose,  die  sie 
nicht ;  als  Folge  der  Abstinenz,  sondern  als  Folge  der  Onanie  auffassen. 
Der  furchtbare  psychische  Konflikt  ist  es,  der  die  Onanisten  ihrer 
seelischen  Energien  beraubt  und  sie  schwer  schädigt.  Ein  großer  Teil 
ihrer  seelischen  Energie  wird  im  Kampfe  gegen  die  Onanie'  aufgezehrt. 

a,IRk^T  \       Gren  Pßychischen  Kampf,  den  die  Onanisten 

auskämpfen  müssen     ehe  es  zum  Akte    kommt.    Sie  binden  sich    mit 

ausend  Eiden,  mit  Gebeten,  mit  Versprechungen  usw.    Sie  haben  sich 

£  Sril  mtr fallen- Dieses  Mai  eom  - d- «* 

T$J       ?      ?        a,ier  Elde  Und  Vor8ätze  erlie?en  si*  wieder  dem 
Tnebe  und  werden  rückfällig.- Dor  seelische  Katzenjammer  der  Nieder^ 

wSlfft1  ""  SChWere  Depressi0n"    °™  ^mmt 
jer  Einfluß  der  bekannten  Abschreckungsbücher  und  der  wohlgemeinten 

Erz  ehungsemflusse  der  Lehrer,  Eltern  und  des  Hausarztes    ES 

mehr   Schaden  angestiftet,    als  die  Onanie    selbst 
Alle  diese  Hemmungen  bilden  beim  Onanisten  schwere  psychische  Kon-' 

täuscht,  einer  Krankheit,  die  meiner  Erfahr  ™u 

rt  t  n i  c  h t  e  ■  x  i  .  t  i  e  r  t    und  die  nur  so la„ge  Sä»'  '* 
lange  man  eich  nicht  bemüht,    hinter    ihr  die  psychT.!    "  Sh 
Angstneuroee  Zwangsneurose,  Hypochondrie  «ÄLT^Ä, 
ein  eueres  Leiden  (Schizophrenie  -  Cyfclothymie  -  psyeZathi* he 
Mmder.er  igkeit)  herauszuschälen.   Klärt  man  die  MeLZ»       ■ 
Harmlosigkeit  des  autoerotischen  Aktes  auf  oder  haben  sie  diese  yer 
schiedenen  Hemmungen  nicht  erhalten,  so  tritt  anch  keine  Depression 
nach  der  Onanie  auf,  ja,  man  kann  wiederholt  hören,  daß  die  Leute  sich 
nach  emem  autoerotischen  Akte  erfrischt  fühlen  und  ihre  Angstzustände 
und  Zwangsyorstelhmgen  zurücktreten.  «ustanae 

Wie  wären  sonst  die  folgenden  Beobachtungen  zu  erklären?  Ein 
dre,undzwanz.gjähriger  Jüngling  mit    allen  Zeichen    einer    schweren 
Neurose  gibt  an   daß  er  seit  zwei  Jahren  die  Onanie  aufgegeben  hat 
kann/rT,    fV      .TV  ^  An^tz»««nden  und  Schlaflosigkeit.  B* 
Angstn    r  s        7t  ^  ™f™ks™  ■«*»,  daß  Onanisten  der 

unC  el%7  k  Venn  8fe  dle  °nanie  aufgeben-  Sie  "■*•  sich 
Tdt  Arz  Tft  -V  M  wMle  ?  ,eben'  DfeSe  feine  Beobachtung  kann 
W.h',  *?    ^'r  6ehen  di6  «»ersten  Neurosen,  wenn  die 

i-eute  die  lange  geübte  Onanie  aufgeben.     Dann    wird    infolge 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  25 

eines  Trugschlusses  die  Neurose  als  Folge  der 
Onanie  aufgefaßt.  Es  ist  aber  gerade  das  Gegen- 
teil wahr.  DieNeurose  ist  eine  Folg  e  der  Abs  tinenz.1) 

Auch  der  Jüngling,  der  die  Onanie  aufgegeben  hat  und  schwer  er- 
krankt ist,  leidet  an  der  Abstinenz.  Wir  geben  ihm  die  Onanie  frei,  da 
er  nicht  dazu  zu  bringen  ist,  ein  Weib  aufzusuchen,  und  siehe  da,  der 
vorher  kranke  Mensch  wird  vollkommen  gesund  und  zeigt  gar  keine 
Zeichen  einer  Parapathie. 

Es  ist  interessant,  daß  die  gleichen  Störungen 
bei.  Sexual-H  y  p  o  chondern  auch  nach  d  e  n  n  o  r  mal  e  n 
Geschlechtsakten  auftreten.  Der  Sexual  -  Hypochonder 
zittert  vor  den  schädlichen  Folgen  der  Samenverschwendung  und  produ- 
ziert die  bizarrsten  Krankheitssymptome  post  coitum.  Oft  genügt 
eine  einfache  Aufklärung  über  die  Harmlosigkeit  der  Samenverluste, 
die  sogar  ein  organisches  Stimulans  für  den  Stoffwechsel  bilden  und 
die  Vitalität  steigern,  die  Oxydationen  anregen,  lebensanregend  und 
lebenserhaltend  wirken,  und  die  vermeintlichen  Krankheitssymptome 
zerstieben  in  nichts  und  erweisen  sich  als  Folgen  der  lächerlichen  Auto- 
und  Heterosuggestion.v 

Solcher  Beobachtungen  könnte. ich  Hunderte  anführen.  Ich  wähle 
aus  meiner  Erfahrung  nur  einige  prägnantere  Fälle  hervor,  die  uns  den 
gleichen  Zusammenhang  zeigen  werden.  Unbegreiflich  ist  es  mir,  daß 
ein  Forscher  wie  Freud,  der  doch  auf  das  Typische  der  Kinderonanio 
hingewiesen  hat,  zum  Trugschlüsse  kommen  konnte,  die  Onanie  ver- 
ursache eine  Neurasthenie,  und  daraus  eine  „Aktualneurose"2)  kon- 
struierte. Sehen  wir  uns  einen,  solchen  Neurastheniker  etwas  näher 
an  und  erforschen  wir,  ob  seine  Symptome  auch  wirklich  die  Folge  der 
Onanie  sind. 

Fall  Nr.  1.  Herr  T.  0.,  ein  Dozent  der  Medizin,,  aus  dem.  Auslande  zu- 
gereist, stellt  sich  mir  als  typischer  Neurastheniker  vor.  Er  leidet  —  jetzt 
ein  34jähriger  Mann  —  an  einem  furchtbaren  Kopfdruck,  der  sich  meistens 
des  Morgens  einstellt  und  erst  im  Laufe  des  Tages  besser  wird.  Seine  Ver- 
dauung liegt    ganz  darnieder.    Er  ist  meist    obstipiert,    muß  Abführmittel 

')  Da  nach  Freud  die  Onanie  die  Ursache  der  Neurasthenie  ist,  das 
Aufgeben  der  Onanie  zur  Angstueurose  führt,  so  bliebe  den  armen  „Neu- 
rasthenikern"  nur  die  bange  Wahl  zwischen  Neurasthenie  oder  Angst- 
neurose, es  sei  denn,  sie  hätten  sich  zu  einem  ^normalen  Geschlechts- 
verkehre" entschlossen,  welcher  Weg,  wie  wir  bald  sehen  werden,  ihnen 
meistens  versperrt  ist. 

2)  Freud  kennt  zwei  Aktualneuroseu,  die  ohne  psychogenes  Moment,  uur 
durch  die  physische  Schädlichkeit  der  Sexualität  zustande  kommen:  1.  Die  Angst- 
neurose (Ursache  meist  eine  frustrane  Erregung,  wie  Coitus  interruptus).  2.  Die 
Neurasthenie. 


26 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


ShZfr  a/T  rtChten  A/Petit'  klagfc  über  eincn  faden>  Pappigen  Ge- 
schmack m  Munde.  Er  empfindet  keinen  rechten  Geschmack  bXlsen 
AK  was  er  ißt,  wird  ihm  zu  Stroh  und  hat  den  gleichen  Geschmack  Er 
fühlt  sich  müde,  matt  und  abgeschlagen.  Oft  fühlt  er  schon  nach  !wSL«2 
eines  Stockwerkes  heftige  Schmerzen  im  Rücken  HezWonfen  IT 
Müdigkeit,  daß  er  sich  am  liebsten  niederlegen  ShtfÄ  £  gln  t 
seh  af rig  und  muß  sich  durch  Tee  und  schwarzen  Kaffee  müS^aXechf 
halten.  Er  mochte  immer  schlafen  und  wenn  der  Abend  kommet  scWätt 
wohl  rasch  ein,  fahrt  aber  mit  einem  Angstschrei  aus  dem  Schlafe  auf  und 
kann   sehr    schwer   wieder   einseht  fW.      TT-    u  ++        \     7  ,1     t? 

5SÄÄW  r  KtfaF  Ar52?  - P" 

aufgeweckter  Ä'ÄSS ST"^  ^  ™d  "* 

begannt  tSÄS  Vt^Är  f "  wäre,  und 
zu  beschränken.  Wenn  er  aber  SS  e t  M,l  „'  l  Tf"  deB  Abcnde 

nicht  einschlafen    über  dioFW, •  eme,Mal  auslassen  wollte,  so  konnte  er 

klar.  Er  onaSe  ÄaÄÄÄÄ  -'  ?  <?f  f*  ga"Z 
Bild  in  den  Traum  überging.   läÄ^Ä«  Ut  SST* 

Ente,  nie  die  Hohe  erreicht  hätte,  wie  bef  der  Onanfe    Kr   toZte  da" 

*S  ^  Sber  trote  'wechiedener  Liebschaften,  zu  denen  er  bald 

gelangte,  noch  immer  des  Abends  onanieren  müssen.  Auch  der  Koitus  M. 
auf  ihn  eme  einschläfernde  Wirkung  und  er  schlafe  oft  in  den  Irmen  eint 
Frau  erm   Aber  es  gäbe  dann  bald  ein  angstvolles  Erwachen,  wahrend  dt 

Vor  vier  Jahren  hatte  ihm  Prof.  X.  geraten,  die  Onanie  schrittweise" 
aufzugeben  und  nur  mit  Frauen  zu  verkehren.  Er  habe  fem«  eile  1 
Willensanstrengung  durchgeführt.  Es  sei  aber  nicht  besser  geworden  im 
Gegenteil!  Seit  dieser  Zeit  hätten  alle  nervösen  BeschwerdT  begönnen 
Vorher  war  er  eigentlich  gesund,  er  machte  sich  nur  Gedanken  ob  die  Onon?. 
nicht  schädlich  wäre.    Er  suchte  nun  den  erwähnten  ProTessor  tTÄ 

MwÄT  ?T  abzub™hen-  Seit  damals  träten  erst  die  schädlichen 
Folgen  der  Onanie  hervor  Nun  habe  er  meine  Publikation  übe,  die  Onan™ 
gelesen  und  es  war  ihm  sofort  klar,  daß  es  sich  bei  ihm  auch  so  verhalte  Tch 
m?r  "  u,raSthenlech'  sat  «*  "ie  Onanie  aufgegeben  habe.  Doch  künnenst 
E  kl  *ng?  ""e  meme  S-™Pt0me  damit  z™hangen?  Ich  finde  kern 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  27 

Ich  setzte  dem  Kollegen  nun  auseinander,  wie  der  Kopfdruck  des  soge- 
nannten Neurasthenikers  entsteht.  Er  ist  nicht  toxischer  Natur,  sondern  die 
Folge  eines  beständigen  Kampfes  im  Innern  des  Kopfes.  Im  Gehirn  tobt  die 
Schlacht  zwischen  den  rebellischen  Gedanken,  die  deutlich  bewußt  werden  und 
sich  in  Taten  verwandeln  wollen,  und  den  Hemmungen  des  Bewußtseins.  Dieser 
Kampf  verstärkt  sich  bei  Nacht.  Deshalb  das  Aufschrecken,  wenn  die  rebel- 
lischen Gedanken  zu  siegen  drohen,  deshalb  am  Morgen  das  Gefühl  der  Mattig- 
keit, weil  der  Kampf  die  ganze  Nacht  nicht  ruhte.  Und  am  Morgen  ist  der 
Zustand  am  schlimmsten,  weil  die  Gedanken  in  das  Bewußtsein  brechen  wollen 
und  das  Bewußtsein  sich  mit  aller  Kraft  zur  Wehre  setzen  muß.  Aber  auch 
am  Tage  geben  diese  aufrührerischen  Wünsche  keine  Ruhe.  Sie  wollen  wieder 
Bewegungsfreiheit  und  diese  haben  sie  vorläufig  nur  im  Schlafe  als  Traum- 
gestalten. Deshalb  die  Schläfrigkeit.  Das  „nebenbewußte"  Ich  will  herrschen. 
Man  nickt  für  einige  Minuten  ein,  damit  der  verdrängte  Wunsch  doch  auch 
einige  Sekunden  im  Gehirne  ungestört  hervortreten  kann.  So  ein  Zustand  ist 
qualvoll  und  raubt  alle  geistige  Energie.  Alles  zersplittert  sich  in  inneren 
Kämpfen.  Solchen  Menschen  werde  die  Welt  lästig  und  sie  verlieren  die 
Lebensfreude,  und  das  äußere  sich  als  Appetitlosigkeit  und  Verstopfung,  die 
ja  die  Folge  jeder  Depression  und  Verlangsamung  des  Stoffwechsels  sei. 

„Welches  sind  aber  meine  rebellischen  Wünsche?  Was  läßt  mich  nicht 
schlafen?  Wogegen  kämpfe  ich?" 

„Gegen  den  Wunsch  zu  onanieren.  Das  wäre  freilich  oberflächlich  ge- 
sprochen. Besser  würde  ich  mich  ausdrücken:  Sie  kämpfen  gegen  jene  Trieb- 
richtung, welche  Ihnen  die  Onanie  ersetzt  hat!" 

„Ich  kämpfe  nicht  mehr  gegen  die  Onanie.  Ich  habe  gekämpft,  fühle 
aber  jetzt  gar  keine  Versuchung  mehr." 

„Das  ist  nur  scheinbar.  Der  Kampf  ist  für  das  Bewußtsein  erledigt. 
Für  die  neben-  und  unbewußten  Elemente  Ihrer  Psyche  tobt  er  jetzt  stärker 
denn  je.  Denn  Ihr  Leiden,  die  „Neurasthenie",  ist  das  Symptom  des  Kampfes. 
Sie  ist  das  Zeichen  eines  seelischen  Konfliktes!  Oder  gibt  es  noch  andere 
Konflikte,  welche  Sie  mir  verschwiegen  haben?" 

So  geht  unsere  Rede  hin  und  her.  Der  Patient  ist  nicht  befriedigt  von 
unseren  Auseinandersetzungen.  Er  fühlt,  daß  seine  jetzige  Neurasthenie  die 
Folge  seiner  Onanieabstinenz  ist,  aber  er.  kann  es  sich  nicht  erklären,  wie 
und  warum  die  Onanie  für  ihn  unersetzlich  sein  sollte.  Er  hat  mehr  Befriedi- 
gung an  Weibern  als  alle  seine  Bekannten.  Ich  erkläre  ihm,  daß  die  Onanie 
mit  einer  anderen  Sexualbetätigung  zusammenhängen  müsse.  Er  solle  einmal 
versuchen,  sich  über  die  Phantasien  klar  zu  werden,  die  er  beim  Onanieren 
hatte. 

Die  Antwort,  die  man  in  solchen  Fällen  zuerst  erhält,  heißt  meistens: 
„Ich  habe  mir  immer  eine  Frau  vorgestellt."  Erst  bei  näherer  Erforschung 
kommt  die  spezifische,  dem  betreffenden  Menschen  eigenartige  und  unersetz- 
liche Phantasie  hervor. 

So  auch  bei  unserem  Patienten.  Er  beobachtete  sich  und  bemerkte  mit 
Erstaunen,  daß  er  beim  Einschlafen  immer  einen  schönen  nackten  Knaben  vor 
sich  sah  und  daß  sich  aus  diesem  stereotypen  hypnagogen  Traumbilde  erst 
der  Traum  und  Schlaf  entwickelte.  Die  weitere  Analyse  ergab  das  Vorhanden- 
sein mächtiger  homosexueller  Triebkräfte,  die  sich  in  einer  leidenschaftlichen 
Knabenliebe  äußerten.  Dem  Kranken  waren  diese  Regungen  nicht  bewußt 
worden.    Erst  seit  er  krank  war,  fühlte  er  Interesse  für  schöne  Knaben  und 


28 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


konnte  sich  förmlich  in  sie  verlieben.  Nie  sei  ihm  der  Gedanke  gekommen 
mit  einem  Knaben  etwas  anzufangen.  .  .  .  Während  er  dies  spricht,  errötet 
er  und  ich  merke,  daß  er  sich  an  eine  Szene  erinnert.  In  der  Tat'  Voriges 
Jahr  habe  er  in  Ostende  mit  einem  Knaben  gebadet,  dem  konnte  er  stunden- 
lange zusehen  und  er  wollte  ihn  auch  ansprechen.  Dann  aber  habe  er  die 
Mutter  des  Knaben  kennen  gelernt  und  sie  sei  seine  Geliebte  geworden 

Er  hatte  eine  Transponierung  vom  homosexuellen   Interesse  auf  das 
Heterosexuelle  vorgenommen  und  die  Mutter  dieses  Knaben  erwählt,  weil  an 

mSS&X  *      haftete  und  er  sie  mit  dem  Knaben  iden' 

Wir  sehen  daß  die  Onanie  hier  einen  bestimmten  Zweck  hat.  Sie 

ST  hn  tXt  r  ?  f  h0m08exuelle  Betätigung,  welche  offenbar 
für  ihn  lustbetonter  ist  als  die  heterosexuelle 

Mrr  lStsrh  AUff  bGn/er  °nanie  i8t  die  Neurose  ausgebrochen,  weil 
wellr  w  ^^  nmPf  ^^  die  Horao^alität  eröffnet  wurde, 
welcher  wahrend  der  Onanieperiode  psychisch  erledigt  war.    Wir  ** 

mußte.  Bei  den  Frauen  konnte  er  nur  eine  Komponente  seiner  Sexualität 

Sl    TiT  "  mfte  "  ^  ^  PhantaSle  d6r  Onanie  bt» 
Seme  Traume  und  sein  sonstiges  Verhalten  zeigen,  daß  seine  aus- 
gesprochene Bisexualität  die  Ursache  seiner  Neurose  ist    Daß  e krank 

:iiS«  ss  — t  und ** h—  *&£ 

Man  stelle  sich  etwa  vor,  daß  dieser  Dozent  ein  Lehrer  sei   und 

SToZn  .T  ' daß  inrlchen  Fäl,en  die  0nanie  ein  Sch« 

die  Gesellschaft  sem  kann.    Ich  denke  dabei  an  folgenden  Fall: 

m  der  Kindheit  zu  onanieren  begonnen  und  diese  Gewohnheit  bis  zum  53  Jatl 

Ä  ■*  *X  TT9*  Jahren  suchte  er  öffentliche  Mädchen  auf  und  hatte 
schon  mit  13  Jahren  Verhältnisse  mit  jungen  Dienstmädchen.  Trotzdl 
mußt,  er  weiter  onanieren  und  mitunter  auch  vier-  bis  sechsmal  im  Ä 
er  ruhig  war.  Er  konnte  sich  manchmal  nicht  anders  beruhigen.  Mit  53  Jahren 

lt -  »  A  2?T  SÄ  WGil  6r  gl3Ubte'  Bie  kÖnnte  ihm  sch^n.  Er  verkehrte 
aber  bis  dahin  täglich  mit  seiner  Frau  und  mußte  manchmal  noch  überd  1 

ÄEÄ-        ¥*  ""T,1111*  einei'  b6Stimmten  Phantasie  onane 

flLÄ-  7  ?  u  h°b  ihnen  die  Röcke  auf  und  trieb  mi*  ihnen 

allerlei  Kindereien,  die  einer  bestimmten  Szene  seiner  Kindheit  entsprachen 

Solange  er  onanierte,  konnte  er  der  Versuchung,    dieTe 

Fr£?  \aS;n  ln-WlrklÄchkei*  umzusetzen,  widerstehen 
Er  betont,  daß  er  oft  genug  Gelegenheit  dazu  hatte.  Es  gäbe  in  jeder  großen 
Sta  «„eformhce  Kinderprostitution.  Die  betreffenden  Kinder  würden 
die  alten  Herren  sofort  erkennen,  welche  auf  sie  „fliegen"  und  sich  gleich  kn 

ZT?*\~SJ  öei.eS  ihm  im  Wiener  Prater  P«*«*.  daß  si<*  ibnKinder 
angeboten  hatten.    Er  habe  aber  bisher  leicht  widerstehen  können    Er    agte 


Allgemeines.  —  Die  soziale  Funktion  der  Onanie.  29 

s,ie  davon  und  onanierte  dann  in  einem  Gebüsche.  Jetzt  sei  er  auf  dem 
Lande  gewesen  und  dort  hätten  ihn  zwei  Kinder  immer  herausgefordert. 
Schließlich  sei  er  schwach  geworden  und  habe  sich  mit  ihnen  eingelassen. 
(Das  Gericht  fand  diese  Verführung  durch  Kinder  lächerlich  und  unwahr- 
scheinlich. Ich  habe  von  manchen  Frauen,  die  als  Kinder  ähnliche  Szenen  auf- 
geführt haben,  Geständnisse  gehört,  die  solche  schier  unglaubliche  Vorkomm- 
nisse aus  eigener  Erfahrung  bestätigen.)  Kurz,  er  ließ  sich  mit  den  Kindern 
ein,  da  er  um  keinen  Preis  der  Welt  wieder  onanieren  wollte.  Nun  hatte  ihn 
die  Leidenschaft  in  den  Krallen.  Er  wurde  bei  seiner  Frau  impotent  und  hatte 
jetzt  kein  anderes  Sinnen  und  Trachten  als  Kinder,  die  er  sich  um  jeden 
Preis  verschaffen  wollte  und  mußte.  Schließlich  kam  er  in  die  Hände  der 
Justiz  und  mußte  seine  Taten  durch  längere  Kerkerhaft  büßen. 

Für  diesen  Menschen  war  die  Onanie  eine  Rettung  und  ein  Schutz. 

Zugleich  aber  auch  ein  Schutz  für  die  Gesellschaft. 

Noch  wichtiger  scheint  mir  der  nächste  Fall  zu  sein: 

Fall  Nr.  3.  Herr  W.  V.,  ein  34j ähriger  Mann,  onaniert  seit  dem  achten 
Lebensjahre  mit  kurzen  Unterbrechungen.  Er  onaniert  immer  mit  der  Phan- 
tasie, daß  er  ein  Mädchen  vergewaltigt  und  erwürgt.  Mit  14  Jahren  wurde 
er  von  einem  Kollegen  über  die  Schädlichkeit  der  Onanie  aufgeklärt  und 
erhielt  auch  ein  Buch,  in  dem  furchtbare  Dinge  über  die  Folgen  dieses  Lasters 
standen.  Er  versuchte  sich  die  Onanie  abzugewöhnen.  In  den  Zeiten  der 
Abstinenz  traten  die  Phantasien  so  stark  auf,  daß  er  sich  fürchtete,  er  könnte 
«sich  zu  einem  Verbrechen  hinreißen  lassen.  Er  begann  wieder  zu  onanieren 
und  fühlte  sich  Yor  seinen  sadistischen  Trieben  sicher.  Mit  18  Jahren  versuchte 
er  normalen  Verkehr  mit  einer  Puella  publica,  war  aber  vollkommen  impotent. 
Mit  21  Jahren  ein  Suicidversuch,  nachdem  er  drei  Monate  nicht  onaniert  hatte. 
In  diesen  Zeiten  der  Abstinenz  ist  er  furchtbar  aufgeregt,  wird  von  sadistischen 
Träumen  gefoltert  und  flieht  alle  Menschen,  da  er  seiner  nicht  sicher  ist. 
Schließlich  mußte  er  sich  zu  regelmäßiger  Onanie  entschließen.  Er  fühlt  sich 
bis  auf  seine  krankhaften  Phantasien  gesund. 

Kann  man  diesem  Menschen  die  Onanie  entziehen,  wenn  man  weiß, 
daß  man  eventuell  ein  Verbrechen  provozieren  würde? 

Die  Onanie  hat  in  diesem  Sinne  eine  wichtige 
soziale  Bedeutung.  Sie  ist  gewissermaßen  ein 
Schutz  der  Gesellschaft,  gegen  unglückliche 
Menschen  mit  übermächtigen  Trieben  und  allzu 
schwachen  ethischen  Hemmungen.  Würde  man  die 
Onanie  vollkommen  unterdrücken,  die  Zahl  der 
Sittlichkeitsdelikte  würde  ins  Unglaubliche 
steigen.  Andrerseits  schützt  die  Onanie  manchen  Onanisten  vor 
dem  Verbrechen.  Er  tobt  sich  nur  in  seiner  Phantasie  aus  und  ist  sozial 
ungefährlich.  So  wird  der  asoziale  Akt  des  Autoerotis- 
muß   zu    einer    sozialen   Notwendigkeit. 


Die  Onanie. 

ii. 

Onanie  und  Neurose. 

Denken    ist    nur     ein    Verhalten    der 
Triebe  zueinander.  Nietzsche. 

In  dem  Kampf  zwischen  Trieb  und  Hemmung,    den  die  ganze 
Menschheit  durchführen  muß,  ist  die  Onanie  der  Repräsentant  dieses 
Streites  geworden.    Das  böse  Gewissen  des  Onanisten  entsteht  nicht 
immer  durch  die  Belehrung  der  ominösen  Rettungsbücher,  die  insgesamt 
behördlich  verboten  werden  sollten.   Das  böse  Gewissen  des  Onanisten 
entsteht  autochthon,  weil  er  sich  etwas  herausgenommen  hat,  was  ihm 
mit  den   ethischen   Satzungen  der  Kultur  nicht  vereinbar  erscheint 
Unter  Gewissen  verstehe   ich  die  Summe  aller  Hemmungen,    die  sich 
zwischen  Trieb  und  Tat  eingeschaltet  haben.  Das  Gewissen  ist  die  endo- 
psychische  Erkenntnis  der  Differenz  zwischen  der  individuellen  Anlage 
und  den  Forderungen  der  Kultur.   Noch  klarer  ausgedrückt:  Die  Span- 
nungsdifferenz zwischen  dem  Urmenschen  und  dem  Kulturmenschen.  Der 
Kampf  gegen  alle  kriminellen,  egoistischen  Triebe  des  Urmenschen  ruht 
keine  Sekunde.    Die  Onanie  wird  zum  Symbol  aller  Schuld,  weil  der 
Geschlechtstrieb  der  Repräsentant  aller  Triebe  wird.    Die  Verbindun- 
zwischen den  kriminellen  und  den  sexuellen  Trieben  tritt  sehr  früh  auf" 
weil  beide  der  Region  des  Verbotenen  angehören. 

Der  Analytiker  schaudert,  wenn  er  den  Urmenschen  im  Kultur- 
menschen entdeckt.  Er  merkt  mit  Grauen,  wie  viel  Geheimes  Ver- 
brecherisches, Grausames  in  allen  Neurotikern  schlummert.  Und  wie 
häufig  kann  er  konstatieren,  daß  beim  Neurotiker  alle  verbotene  Lust 
sich  m  den  onanistischen  Akten  entladen  muß,  wenn  er  sein  seelisches 
Gleichgewicht  nicht  verlieren  will!  Wie  viele  Lustmorde  wurden  -  um 
nur  ein  Beispiel  anzuführen  -  nicht  ausgeführt,  weil  die  Onanie  es 
den  Sadisten  ermöglichte,  ihre  Instinkte  in  der  Welt  der  Phantasien 
auszuleben ! 

Die  Onanie  wird  auf  diese  Weise  eine  Sicherung 
der    Gesellschaft    gegen    ihre    Vergangenheit.    Sie 


Onanie  und  Neurose.  31 

erfüllt  eine  bedeutsame  soziale  Funktion.  Sie 
schütztdasIndividuumgegendiestrengenStrafen 
der  Gesellschaft,  sie  behütet  es  vor  dem  „bürger- 
liehen Tode"  und  bewahrt  die  Gesellschaft  vor 
seinen  asozialen  Trieben. 

Ich  betone  diesen  Umstand  nicht  ohne  zwingenden  Grund.  Die 
Autoren  der  modernen  Schule  machen  einen  strengen  Unterschied 
zwischen  Onanie  und  Onanismus.  Die  Onanie,  das  ist  der  mäßig  be- 
triebene Autoerotismus,  wäre  harmlos  und  unschädlich.  Das  geben  jetzt 
fast  alle  ernsten  Forscher  zu.  Aber  der  Onanismus,  die  schrankenlos 
betriebene  Onanie,  wäre  sehr  schädlich  und  gefährlich.  Wo  liegt  die 
Grenze  zwischen  Onanie  und  Onanismus  ?  Bloch *)  sagt  in  seinem  vor- 
züglichen, rühmlichst  bekannten  Werke: 

'  „Eine  Grenze,  wo  die  ungefährliche  Onanie  aufhört  und  der  ver- 
derbliche Onanismus  anfängt,  läßt  sich  generell  nicht  bestimmen.    Die 
Verschiedenheit  der  Individuen  gestaltet  auch  die  Reaktionen  verschieden. 
So  erwähnt  Curschmann  einen  geistvollen  Schriftsteller,  der,  trotzdem 
er  seit  11  Jahren  der  Onanie  gefröhnt,  körperlich  und  geistig  frisch  ge- 
blieben, und  mit  bedeutendem   Erfolge  literarisch   tätig  war.  Gleiches 
berichtet  Fürbringer  von  einem  Dozenten.    Es  ist  hier  mit  der  Onanie 
wie  mit  dem  Geschlechtsverkehr,  dessen  Wirkungen  auch  individuell  ver- 
schieden sind." 
Ich  bin  der  gleichen  Ansicht.    Nur  vertrete  ich  die  Anschauung, 
daß  die  Schädlichkeiten  von  der  psychischen  Hemmung  herrühren  und 
durch  Autosuggestion    und  Suggestion  der  Ärzte  zustande    kommen. 
Wir  werden  in  unseren  Krankengeschichten  noch  öfters  auf  diese  Fragen 
zurückkommen.  Ich  möchte  hier  nur  gegen  die  Behauptung  protestieren, 
daß  die  Onanie  die  Ursache  der  Perversionen  werden  könne,  eine  An- 
sicht, die  auch  Bloch  vertritt.  Er  sagt: 

„Die  nahe  Beziehung  zwischen  Perversionen  und  Onanismus  liege 
auf  der  Hand.  Je  häufiger  der  onanistische  Akt  wiederholt,  je  mehr  die 
normale  Sensibilität  abgestumpft  wird,  desto  stärkerer  und  seltsamerer, 
vom  Gewöhnlichen  abweichender  Reize  bedarf  es,  um  Orgasmus  herbei- 
zuführen. Der  Inhalt  der  lasziven  Vorstellungen  muß  immer  häufiger 
variiert  werden  und  wird  bald  ganz  dem  Gebiete  des  Perversen  ent- 
nommen. Allmählich  nisten  sich  die  perversen  Ideen  ein  und  werden 
schließlich  zu  vollkommen  geschlechtlichen  Perversionen." 

Und  nun  wird  als  Beweis  der  Fall  von  Tardieu  angeführt,  daß 
ein  Mann,  der  sieben-  bis  achtmal  täglich  onanierte,  schließlich  seine 
Phantasie  bis  zur  Schändung  weiblicher  Leichen  erhitzte  und  zerrüttete, 
endlich  auch  zur  praktischen  Ausführung  dieser  scheußlichen  Idee  über- 


*)  Das  Sexualleben  unserer  Zeit.    41.  biß  60.  Tausend.    Luis  Marcus'  Verlag,  Ber- 
lin 1909. 


3'-  v  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

ging,  die  deutlich  sadistischen  Charakter  angenommen  hatte.  „Er  ver- 
schaffte sich  den  Anblick  aufgeschlitzter  Tierleiber,  tötete  Hunde  grub 
menschliche  Leichname  aus,  alles,  um  dadurch  seiner  durch  die  Onanie 
verderbten  Phantasie  und  damit  seiner  Libido  Befriedigung  zu  schaffen." 
Das  ist  der  gleiche  Trugschluß,  der  bei  der  Beschreibung  des 
Zusammenhanges  zwischen  Onanie  und  Geistesstörung  begangen  wurde 
Die  Geisteskranken  onanieren,  weil  ihre  Hemmungen  weggefallen  sind         . 
Die    Onanie    ist    die    Folge    der    Geisteskrankheit 
n  i  c  h  t  u  m  g  e  k  e  h  r  t,  eine  Erkenntnis,  die  wir  noch  Griesinger  zu  ver- 
danken haben.    Der  Kranke  Tardieus  kam  nicht  durch  die  Onanie  zur 
Perversion,  sondern  er  onanierte,  w  e  i  1  er  pervers  war,  offenbar  immer 
mit  der  bestimmten  perversen  Phantasie,  die  ihm  vielleicht  unbewußt 
war.    Solcher  fälle  könnte  ich  eine  Menge  anführen.    Welches  Glück 
für  die  Menschheit,  daß  wir  nicht  alle  Phantasien  kennen,  welcjhe  teils 
bewußt     teils  unbewußt  oder  nebenbewußt    jeden  erotischen  Akt  be- 
gleiten! Doch  davon  später.   Kehren  wir  zum  Thema  der  Schädlichkeit 
der  Onanie  zurück  und  lassen  wir  uns  durch  einige  Beobachtungen  be- 
lehren    wie  das  Aufgeben    der  Onanie    die  schwersten  Neurosen    zur 
rolge  hatte. 

Fall  Nr.  4.  Herr  D  L    stud.  med.,  26  Jahre  alt,  sehreibt  mir:  „Ich  habe 
vor  einiger  Zeit  Ihren  Aufsatz  über  Onanie  in  den  „Sexual-Problemen"  Se- 
esen und  darin  so  viel  Treffendes  gefunden,  daß  es  mich  drängt,  Ihnen  einige 
Mitteilungen  über  mein  Sexualleben  zu  machen.    Vielleicht  werden  sie  Ihnen 
in  irgend  einer  Art  dienlich  sein.    Ich  war  in  sexueller  Hinsicht  ein  sehr 
truhreifes    Kind.     Ich   verwandte   die   ganze   Schlauheit   eines   aufgeweckten 
Kindes  dazu,  um  möglichst  häufig  die  Genitalien  meiner  Umgebung  zu  sehen 
bah  ich  einen  nackten  Mann  oder  eine,  nackte  Frau,  so  wurde  ich  von  wol- 
lustigen Schauern  geschüttelt.    Ich  erinnere  mich  an  solche  Begebenheiten 
die  sich  in  meinem  vierten  Lebensjahre  abspielten.    Eine  andere  Erinnerung 
aus  meinem  fünften  Jahre  ist  für  ewig  in  mein  Gehirn  gegraben.    Ich  wurde 
unvernünftigerwei'se  von  meinen  Eltern  auf  einen  Ball  mitgenommen.    Dort  ■ 
erblickte  ich  eine  schöne  Dame  mit  einem  roten  Rooke,  der  auf  mich  einen 
unerhörten  Eindruck  machte.    Ich  wünschte  mir  damals,  nackt  mit  ihr  in 
einem  Bette  zu  liegen.    Ich  dachte  jahrelang  an  diese  Dame.    Immer  mit 
Erektionen,    die  schon  seit    frühester  Jugend    sehr  häufig  waren     Ich    war 
nicht  heiter  wie  die  anderen  Kinder.  Immer  traurig,  immer  unzufrieden,  immer 
in  Erwartung,  immer  wie  hungrig.    Keines  der  kindlichen  Spiele  machte  mir 
Freude. 

Mein  Bedürfnis  nach  Liebe  war  grenzenlos.  Schon  mit  sechs  Jahren 
verliebte  ich  mich  in  ein  kleines  schönes  Mädchen.  Während  die  anderen 
Knaben  spielten,  saß  ich  still  bei  meinem  Liebchen,  streichelte  und  bewunderte 
es.  Bis  heute  kann  ich  ohne  einen  Gegenstand  der  Liebe  nicht  leben.  Ich  muß 
immer  ein  Ideal  haben,  in  das  ich  verliebt  bin. 

Ich  wurde  im  12.  Jahre  von  Kollegen  zur  Onanie  verleitet.  Ich  legte 
nur  keine  Beschränkung  auf  und  onanierte  täglich  und  oft  auch  mehrere  Male 
im  tage. 


Onanie  uud  Keurose.  33 

Ich  war  14  ins  15.,  da  erwischte  mich  mein  Vater.  Er  hielt  mir  eine 
große  Strafpredigt,  erzählte  mir,  ich  werde  mich  ganz  krank  machen,  ich 
werde  einmal  blöd  werden,  wenn  ich  nicht  von  der  Selbstbefleckung  ablasse. 
Meine  ganze  Kraft  ginge  durch  den  Verlust  des  Samens  dahin.  Ich  nahm  mich 
zusammen  und  ließ  die  Onanie  ein  halbes  Jahr. 

Nun  erkrankte  ich  an  Herzklopfen,  Angst  zuständen, 
w.a  r.sehr  erregt  und  schlief  sehr  schlecht.  Bi6  zum  Auf- 
geben der  Onanie  war  ich  ganz  gesund  und  wußte  nichts 
von  anderen  Störungen,  als  von  meinem  ernsten  Te m- 
perament.  Jetzt  bekam  ich  Angst  vor  den  Schularbeiten  und  vor  lauter 
Angst  immer  Pollutionen.  Auch  sonst  stellten  sich  so  viel  nächtliche  Samen- 
ergüsse ein,  daß  ich  lieber  wieder  onanierte.  Ich  war  damals  sexuell  so  erregt, 
daß  ich  am  liebsten  Tag  und  Nacht  onaniert  hätte.  Dabei  war  ich  ein 
glänzender  Schüler  und  gab  Proben  eines  außerordentlichen  Gedächtnisses. 
Ich  brauchte  ein  drei  Seiten  langes  Gedicht  nur  einmal  durchzulesen  und 
konnte  es  schon  auswendig,  wußte,  in  welcher  Zeile  ein  bestimmter  Vers 
stand.  Ich  konnte  die  schwersten  Kopfrechnungen  in  unglaublicher  Zeit  zu- 
sammenbringen. 

Nun  begann  aber  wieder  der  Kampf  gegen  die  Onanie.  Mit  meiner  Ge- 
sundheit war  es  bald  dahin.  Ich  begann  an  Kopfschmerzen  und  Herzklopfen 
zu  leiden.  Mein  Kopf  schien  mir  wie  ausgebrannt.  In  der  Nacht  wurde  ich 
von  einem  schrecklichen  Urindrang  befallen.  Ich  mußte  jeden  Moment  auf- 
stehen und  zu  urinieren  versuchen.  Immer  war  ich  müde  und  schlechter 
Laune  und  lebensüberdrüssig.  In  der  Onanie  legte  ich  mir  die  größte  Be- 
schränkung auf,  betrieb  sie  aber  weiter.  Mit  16  Jahren  hatte  ich  Gelegenheit, 
einem  Dienstmädchen  bei  zuschlafen.  Meine  Potenz  war  sehr  gut,  ich  verkehrte 
mit  ihr  viele  Male  in  der  einen  Nacht. 

Der  Morgen  nach  dieser  Nacht  ist  mir  ewig  unvergeßlich.  Ich  fühlte 
mich  als  ein  neugeborener  Mensch.  Mein  Kopf  war  rein,  mein  Gemüt  zufrieden, 
die  ganze  Welt  erschien  mir  wie  ein  Paradies. 

Aber  leider  dauerte  das  Glück  nicht  lange.  Das  Mädchen  verschwand 
an  diesem  Tage  aus  dem  Hause  und  mein  Kampf  gegen  die  Onanie  fing  wieder 
an  mit  allen  seinen  .furchtbaren  Folgen.  Ich  war  18  Jahre  und  fühlte  mich 
matt  und  schwach  wie  ein  Greis.  Ich  lief  zu  Ärzten  und  klagte  mein  Leid. 
Alle  befahlen  mir  Zurückhaltung  von  der  Onanie.  Ich  erhielt  Brom,  Kalt- 
wasserkuren, Valeriana  und  keiner  empfahl  mir  natürlichen  Geschlechtsver- 
kehr als  einziges  Mittel  zur  Heilung.  Ich  wurde  abgeschreckt  und  hörte  ganz 
zu  onanieren  auf.  Nun  stieg  meine  Nervosität  aufs  höchste.  Ich  wurde  direkt 
trübsinnig,  kämpfte  mit  Selbstmordgedanken.  Nichts  gelang  mir,  was  ich 
mir  vornahm,  über  alles  mußte  ich  mich  ärgern.  Ich  litt  an  ewigen  Kopf- 
schmerzen, war  so  gereizt,  daß  man  mit  mir  nicht  auskommen  konnte.  Schon 
früh  morgens  war  ich  schlechter  Laune,  die  Glieder  zitterten  mir  wie  bei 
einem  alten  Manne.  Ich  konnte  meine  Gedanken  nicht  konzentrieren,  ich  war 
ewig  zerstreut  und  geistesabwesend.  Ein  Gefühl,  als  ob  der  ganze  Körper, 
speziell  die  Mundhöhle  verbrannt  und  vergiftet  wäre.  Dazu  gesellten  sich 
ein  ewiger  Urindrang  und  ein  unstillbares  Herzklopfen. 

Ich  konnte  nie  im  Zimmer  bleiben,  war  immer  draußen  und  immer  in 
Gesellschaft  von  Mädchen,  die  ich  ideal  liebte.  (Aber  ein  Mädchen,  das  ich 
ideal  liebte,  konnte  ich  nie  entwürdigen  und  zu  meiner  Geliebten  machen.  Ich 

Stekel,  Störungen  des  Trieb-  uud  Affektlebens.  II.  2.  Auti.  3 


u 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


war  in  solchen  Fällen  impotent.  Männerliebe  war  mir  stets  ein  Ekel  und 
ich  konnte  sie  nicht  begreifen.) 

Nun  war  ich  vollkommen  abstinent,  um  die  Samenverluste  meiner 
Kindheit  wieder  einzubringen.  Was  half  es  mir?  Manchmal  legte  ich  mich 
inä  Bett,  machte  nur  eine  Wendung  und  schon  kam  es  zur  Ejakulation.  Auch 
bei  Aufregungen  kam  es  zu  Pollutionen.  Mein  Gang  wurde  unsicher  ich 
traute  mich  keinem  Menschen  ins  Antlitz  zu  sehen.  Es  flimmerte  mir  vor  den 
Augen.  Ich  hatte  vor  allem  Angst,  selbst  vor  kleinen  Kindern.  Flimmern 
vor  den  Augen,  Diarrhöen. 

Ich  stand  vor  der  Matura.  Da  hatte  ich  wieder  Gelegenheit,  mit  einem 
Madchen  im  Hause  durch  drei  Wochen  täglich  zu  verkehren.  Ich  legte  mir 
keine  Beschrankung  auf.  Mein  Hirn  wurde  rein  und  klar  und  ich 
konnte  wieder  studieren  und  spielend  meine  Prüfung 
machen.  .      •      . 

Dann  aber  nahm  ich  mir  vor,  keusch  in  die  Ehe  zu  treten.   Ich  wurde 

,TnH  ti,Sw  ,  a^6  Z,uvo£1"nd  noch  schlimmer.  Ich  hielt  mich  für  verloren 
und  glaubte  daß  nun  die  Folgen  der  Onanie  aufgetreten  seien.  Erst  Ihr  Auf- 
satz hat  mich  belehrt  und  aus  mir  einen  neuen  Menschen  gemacht.    Ich  habe 

ZJS  ^\T  ^f^  Und  füMe  mich  geboren.    Ich  habe  alle  hypo- 
chondrischen Ideen  verloren  und  bin  in  jeder  Hinsicht  leistungsfähiger  als 
zuvor.  Ich  sehe  ein,  daß  ich  meine  ganze  Kraft  auf  einen  überflüssigen  Kamp 
Kj  Ä  DerpG1fcfhlechtstrieb  war  doch  immer  stärker  als  meine  W  Ue 
Ich  hatte  zahllose  Pollutionen  trotz  aller  Mittel,  die  ich  anwandte.   Nun  bin 

tröbS Zukunft*  b6trachte  die  VerSangenheit    nicht  mehr  als  Quelle    einer 

Der  Fall  ist  in  mancher  Hinsicht  sehr  lehrreich.  Erstens  gelang 
dem  jungen  Manne  der  Übergang  von  der  Onanie  zum  Koitus  sehr  leicht 
ein  Beweis,  daß  es  sich  nur  um  eine  Notonanie  handelte;  zweitens  aber 
sehen  wir,  wie  die  schweren  neurotischen  Symptome  erst  hervortreten, 
sobald  er  abstinent  lebt.  Es  handelt  sich  um  einen  Menschen  mit  sehr 
starkem  Geschlechtstrieb,  der  ohne  irgend  eine  Form  der  sexuellen  Be- 
tätigung nicht  leben  kann. 

Ebenso  lehrreich  ist  der  nächste  Fall: 

Fall  Nr.  5.  Frau  W.  Q.,  eine  Arztensgattin,  wird  mir  überwiesen,  weil 
sie  einmal  ein  Suicid  ausführte  und  nun  seit  Monaten  in  der  schwersten  De- 
pression lebt.  Sie  starrt  stundenlange  vor  sich  hin,  spricht  kein  Wort 
verweigert  die  Nahrung  und  magert  schrecklich  ab.  Überdies  hat  sie  Zwangs- 
vorstellungen, daß  ihre  Kinder  bald  sterben  werden,  daß  sie  der  Erziehung  der 
Kinder  nicht  gewachsen  sei,  daß  ihr  Mann  keine  rechte  Frau  an  ihr  habe  usw. 
Sie  erzählt,  daß  das  Leiden  folgendermaßen  entstanden  sei.  Sie  hätte  schon 
seit  dem  vierten  Lebensjahre  onaniert  und  vielleicht  noch  früher.  Aber  an  das 
vierte  Lebensjahr  erinnere  sie  eich  ganz  genau,  weil  sie  damals  diese  „Kunst" 
einem  anderen  Mäderl  vorzeigte  und  sie  dann  jede  für  sich  durch  viele  Jahre 
vor  einander  onanierten.  Sie  sei  immer  ein  aufgewecktes  Kind  gewesen  und 
wußte  die  Onanie  so  zu  verbergen,  daß  man  zu  Hause  davon  keine  Ahnung 
hatte.  Das  belehrte  sie  schon  ein  Instinkt,  der  ihr  sagte,  sie  dürfe  von  diesen 
Dingen  zur  Mutter  und  zur  älteren  Schwester  nicht  sprechen.  Sie  ent- 
wickelte sich  ausgezeichnet  und  war  immer  stärker  als 


Onanie  und  Neurose. 


35 


ihre  Mitschülerinnen.  Auch  ihre  Fortschritte  in  der 
Schule  waren  ausgezeichnete.  Sie  onanierte  mindestens  einmal 
täglich,  manchmal  auch  mehrere  Male. 

So  wuchs  sie  heran,  wie  alle  anderen  Mädchen,  interessierte  sich  für  die 
schönen  Künste,  lernte  vorübergehend  malen  und  hatte  keine  Sehnsucht  nach 
Liebe,  da  sie  sich  durch  die  Onanie  vollkommen  befriedigt  fühlte.  Sie  lernte 
mit  18  Jahren  ihren  jetzigen  Mann  kennen,  in  den  sie  sich  verliebte.  Sie 
heirateten  nach  einer  längeren  Verlobungszeit,  während  der  es  ihr  auffiel,  daß 
sie  wohl  ein  warmes  Gefühl  für  ihren  Mann  hatte,  aber  von  seinen  Kü6sen 
nicht  sinnlich  erhitzt  wurde.  Sie  tröstete  sich  damit,  daß  ihre  Liebe  eine 
geistige  wäre,  während  die  Onanie  für  ihre  körperlichen  Bedürfnisse  aufkam. 
Nach  der  Heirat  mußte  sie  weiter  onanieren,  da  sie  die  Umarmungen  des 
Mannes  kalt  ließen.  Sie  hatte  nur  ein  Wohlgefühl,  daß  sie  ihn  besitze,  und 
freute  sich,  daß  er  sie  so  heiß  begehrte,  aber  es  kam  nie  zu  einem  Orgasmus. 
Als  ihr  Mann  einmal  ihre  Klitoris  durch  Friktion  erregen  wollte,  war  es  ihr 
unangenehm,  und  sie  bat  ihn,  das  zu  lassen.  Sie  schämte  sich.  .  .  .  (Es  be- 
stätigt sich  immer  wieder,  daß  das  Schamgefühl  sich  an 
die  stärksten  erogenen  Zonen  heftet.)  Sie  onanierte  still  für 
sich  weiter,  widmete  sich  ihren  Kindern,  welche  sie  trotz  fehlendem  Orgasmus 
ihrem  Manne  in  der  Zahl  eines  Vierteldutzend  schenkte. 

Da  begann  sie  in  der  Bibliothek  ihres  Mannes  herumzustöbern  und 
fand  Geschmack  daran,  verschiedene  Werke  zu  lesen.  Sie  las  auch  ein  Buch, 
das  von  der  Masturbation  handelte.  Erst  wußte  6ie  nicht,  wa6  das  zu  be- 
deuten hatte,  aber  bald  merkte  sie,  daß  es  sich  um  die  Form  von  Befriedigung 
handelte,  welcher  sie  ihr  Leben  lang  fröhnte.  Dort  las  sie,  daß  die  Onanie 
furchtbare  Folgen  hätte.  Besonders  erschreckte  sie  ein  Bericht,  in  dem  es 
hieß,  „es  hatte  das  gräßliche  Laster  bei  diesem  zarten  Kinde  die  Gesundheit 
arg  zerrüttet"'.  An  anderer  Stelle  aber  stand  von  den  entsetzlichen  Folgen 
für  die  Nerven  und  den  Geist,  und  es  hieß:  Wo  die  Folgen  sioh  nicht 
gleich  zeigten,  da  kämen  sie  später.  .  .  .  Nun  war  es  ihr  klar, 
daß  sie  verloren  war.  Bisher  war  sie  heiter  und  voll  Lebenslust  gewesen,  6ie 
sang  wie  eine  Lerche  den  ganzen  Tag,  machte  die  schwersten  Arbeiten.  Nun 
wandelte  sich  alles  in  das  Gegenteil.  Sie  wurde  mißmutig,  verschlossen,  sie 
hörte  auf  zu  singen.  Bisher  wußte  sie  nichts  von  körperlichen  Besehwerden. 
Jetzt  begannen  Schmerzen  in  den  Beinen,  im  Rücken  und  besonders  im  Kreuze, 
die  sich  bis  zur  Unerträglichkeit  steigerten.  Es  stand  für  sie  nun  fest,  daß 
sie  sich  auch  innerlich  geschädigt  haben  müsse.  Im  Buche  war  ja  zu  lesen, 
daß  heftige  Schmerzen,  Krämpfe,  Konvulsionen,  Hysterie,  selbst  Epilepsie 
die  Folge  der  Onanie  seien.  Die  Schmerzen  traten  jetzt  im  Unterleibe  auf 
und  wurden  zur  Zeit  der  Menstruation  unerträglich. 

Es  war  ihr  nun  sichere  Gewißheit,  daß  sie  infolge  der  Onanie  so  krank 
geworden.  Sie  schwur  sich,  daß  sie  nicht  mehr  onanieren  werde  und  hielt 
den  Schwur  drei  Wochen  nach  der  verderblichen  Lektüre.  Dann  überraschte 
sie  sich,  daß  sie  in  einer  Art  Halbschlummer  onanierte.  Ihr  Entsetzen  war 
namenlos  und  sie  fürchtete  nun  einzuschlafen,  band  sich  ein  Tuch  um  die 
Schamgegend  und  fuhr  immer  mit  Schrecken  aus  dem  Schlafe  auf.  Trotzdem 
überwältigte  sie  das  Verlangen,  so  daß  sie  rückfällig  wurde.  Sie  war  nicht 
imstande,  sich  ihrem  Manne  zu  entdecken.  Denn  er  hatte  einen  so  hohen  Be- 
griff von  der  Reinheit  der  Frau,  daß  er  sie  sicher  verachten  und  vielleicht 
von  sich  weisen  würde.   Sie  aber  liebte  ihn  leidenschaftlich  und  konnte  ohne 

3* 


36 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


ihn  nicht  leben.    In  ihrer  Verzweiflung  beschloß  sie,  zu  sterben,  nahm  eine 
große  Dosis  Veronal  und  schrieb  ihrem  Manne  einen  Abschiedsbrief   den  wir 
als  erschütterndes   Dokument  menschlicher  Leiden  hier  publizieren  wollen 
bie  überstand  die  schwere  Vergiftung,  nachdem   sie  30  Stunden  geschlafen 
hatte,  ohne  schädliche  Folgen  für  den  Organismus. 

Der  Brief  lautete: 

.       Mein  lieber  Otto! 

T,h  «fiW°L?U  tie:euBrief  liest'  bin  ieh  nicht  meh1'  unter  den  Lebenden. 
trLll"!  me!ne,Schulkd  J*  dem  Tode,  da  ich  nicht  länger  ein  Leben  er- 
KÄ1  em'Ch  dw  schrecklich^en  Laster  verfallen  bin,  während 
£r  foni!? r  TT  W/S™  mUt  So  wißse  denn:  Ich  fröhne  seit 
ne  ttd  ttl  £ ^I  d?u0»fatol  Es  Nami  in  der  frühesten  Kind- 
ern Z  a  X  m^  /n  vr  E,le  f0rt  Da  ich  merke>  daß  ich  ™  schwach 
skh  Z  m  In  ,  "  ZeTS™hT?  Jfrtig  ZU  Werden>  da  ich  merke,  daß 
D  ch  lh    m  t   "  dle  f  hT kh(Sen  FoIgen  d^  Esters  einstellen  und  ich 

5EÄ  ÄJ?  kÖ~  *  Ä  so^l-  h 

«11p  TiprLICnkann  ni0ht  S°  Weiter  leben!  Habe  Dank,  Du  Guter   für 

F    u    teicheer  D^'ni^  ^t  «"S"*4  hast    Ich  ^^  ^ir'e  n 
schenkt-    Suoho  Di,  J^bens  Dein   Vertrauen    und  Deine  Liebe 

intrLn     tu    LT  Z™*'  *l  Deiner  WÜrdig  ist!  Kto  die  süßen 
rvinaercnen.    Von   ihnen  scheide  ich  am  schwersten. 

Verzeihe  mir!  Ich  kann  doch  nichts  dafür! 

Meine   letzten  Seufzer  gehören  Dir. 

Deine 


.  Dei  tief  erschütterte  Mann  versprach,  ihr  zu  helfen  und  in  dem  schweren 
Kampfe  beizustehen.  Sie  versprach,  ihm  von  jedem  onanistischen  Akte 
sofort  Mitteilung  zu  machen.    Dies  Versprechen,  das  ihr  heilig  war   schilt 

sie  vor  weiterer  Onanie Aber  wie  böse  entwickelte  sich  ihr  Seelenleiden  t 

Sie  onanierte  nicht  mehr,  aber  sie  war  schlaflos,  hatte  Weinkrämnfe  mar-ht« 
sich  endlose  Vorwürfe,  kam  physisch  sehr  herunter,  so  daß  sie  in  ein  Sann 
tonum  gebracht  werden  mußte.  Als  ihr  der  Arzt,  nachdem  er  alle  Mittel 
vergeblich  versucht,  raten  mußte,  wieder  zu  onanieren  und  sie  zu  überzeugen 
suchte  daß  die  Onanie  nicht  die  Krankheit  hervorgerufen,  sondern  das  Auf- 
geben der  Onanie  verlor  sie  das  Vertrauen  zu  ihm.  Sie  rief  ihm  zu:  „Selbst 
wenn  ich  wußte,  daß  ich  gesund  werde,  ich  könnte  nicht  mehr  onariSen* 
Ich  habe  viel  zu  viel  mitgemacht,  ich  bin  viel  zu  stolz  darauf,  daß  ich  jetzt 
nicht  mehr  onaniere/-  Ihr  Mann  aber,  dem  sie  den  Rat  des  Arztes  mitteilte 
oL  a^  U  6t  oU\dm  ?anatori™  ™d  machte  dem  einsichtigen  Kollegen 
in  hl  IT,!??  dJann  ZU  mir  und  erzählte  mir  alle  Vorgänge,  die 

ich  ber  geschildert  habe  In  der  Analyse  traten  dann  verschiedene  Fixierungen 

mit^aßZn  $*rl?*/ie  Gnm,?age  der  0nanie  gebildet  hatten-  E*  t5at 
unter  großen  Widerstanden  eine  die  Onanie  begleitende  Phantasie  hervor 
welche  immer  wieder  eine  Szene  enthielt: 


Onanie  und  Neurose.  37 

Sie  war  noch  ein  kleines  Kind.  Da  kam  ein  großer  Bub  und  hob  ihr 
das  Kleidchen  auf  und  begann  sie  an  der  Scheide  zu  kitzeln.  Diese  Phantasie 
erwies  sich  als  die  Wiederholung  einer  infantilen  Szene,  in  der  ihr  um  sechs 
Jahre  älterer  Bruder,  eine  Rolle  spielte.  Es  ergaben  sich  Fixierungen  an  die 
Familie  und  ausgesprochene  homosexuelle  Tendenzen.  Nach  der  Analyse  eine 
große  Besserung.  Allerdings  gelang  es  mir,  die  sonderbare  Ablehnung  auf- 
zulösen, die  sie  gegen  die  Frictio  clitoridis  von  Seite  ihres  Mannes  an  den 
Tag  legte.  Es  war  das  Erinnerungsbild  an  die  pathogene  Szene  ihrer  Ver- 
führung, das  sich  aufdrängte.  Etwa  ein  unbewußter  Gedanke,  der  lautete: 
„Wenn  dein  Mann  wüßte,  daß  dein  Bruder  das  mit  dir  getan  hat  und  daß  du 
nicht  unschuldig  warst,  al6  er  dich  heiratete!"  Sie  hatte  eine  Differenzierung 
zwischen  Mann  und  Bruder  vollzogen.  Für  den  Koitus  war  sie  Virgo  intacta, 
für  die  Frictio  nicht. 

Eine  weitere  Determination  ihres  Selbstmordversuches  ergibt  der  Um- 
stand, daß  der  Bruder  um  diese  Zeit  geheiratet  hatte  und  sie  nicht  zur 
Hochzeit  des  Bruders  fahren  konnte,  weil  ihr  Mann  und  ihr  Bruder  sich  schon 
lange  entzweit  hatten.  Nach  der  Analyse  jedoch  konnte  sie  die  Frictio  clitori- 
dis vertragen  und  kam  dabei  zu  starkem  Orgasmus.  Sie  hatte  wieder  ihre  Be- 
friedigung und  das  war  wohl  der  große  Fortschritt,  dem  sie  ihre  endgültige 
Genesung  verdankte.  Sie  gelangte  auch  zu  einer  anderen  Auffassung  der 
Onanie  und  lernte  es  bald,  daß  sie  sich  alle  Leiden  als  Folgen  der  Onanie  ein- 
gebildet hatte. 

Zwei  wichtige  Gesichtspunkte  haben  wir  bei  der  Betrachtung  des 
Falles  neu  gewonnen:  Der  erste,  daß  Selbstmordideen  eine  Beziehung 
zur  Onanie  haben.  Ich  habe  mit  aller  Schärfe  schon  vor  Jahren  auf 
diese  Beziehungen  hingewiesen.1)  Zweitens  die  Wichtigkeit  der  den 
onanistischen  Akt  begleitenden  Phantasien. 

Der  Selbstmord  stellt  nur  die  extremste  Folge  der  Onanieabstinenz 
dar.  Es  läßt  sich  eigentlich  eine  Skala  konstruieren,  die  lauten  würde: 
Angstneurose,  Hypochondrie,  Verstimmungen,  Depressionen,  Melan- 
cholie, Selbstmord.  Mit  dem  Aufgeben  der  Onanie  verliert  für  diese 
Menschen  das  Leben  jeden  Wert. 

Der  Unerfahrene  kann  ja  die  Frage  aufwerfen:  Warum  verschaffen 
sich  diese  Menschen  nicht  ihre  Befriedigung  auf  dem  allerotischen  Wege? 
Warum  suchen  sie  nicht  die  Libido  im  normalen  Geschlechtsverkehre 
oder  in  perversen  Akten  mit  anderen  Personen?  Das  rührt  eben  daher, 
daß  die  Onanie  für  sie  die  e  inz  i  g  mö  gliche  adäquate  Form 
direr  Befriedigung  darstellt.  Ich  betonte  schon:  Würde  man  alle  Phan- 
tasien der  Onanisten  kennen,  man  wäre  entsetzt  über  die  unerfüllbaren 
Forderungen  ihres  Triebes.  Da  gibt  es  Onanisten,  welche  mit  krimi- 
nellen Phantasien  onanieren,  andere,  welche  perverse  Akte  vollbringen, 
die  dritten  feiern  Orgien,  deren  Erfüllung  die  Macht  eines  Nero  ver- 
langen würde,  die  vierten  spielen  eine  bestimmte  Szene  ihrer  Kindheit 


*)  Siehe  meinen  Beitrag  in  den  Diskussionen  „Über    den    Selbstmord", 
insbesondere  den  Schülerselbßtmord.    Verlag  J.F.Bergmann,  Wiesbaden. 


B8 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


und  eine  Unzahl  anderer  schwelgt  in  Inzestphantasien,  welche  ihnen 
nicht  bewußt  sind.  Vor  dem  onanistischen  Akte  gibt  es 
eine  Art  Rausch  oder  Ekstase,  in  der  die  Gegenwart 
ganz  versinkt  und  die  verbotene  Phantasie  allein 
herrscht.  Nur  einige  Minuten  oder  Sekunden,  und  dann  fällt  der 
Vorhang  über  dem  Geheimnis  und  das  Licht  des  Bewußtseins  vermag 
nicht  durch  diesen  Vorhang  zu  dringen.  Diese  Onanisten  spielen  vor 
sich  und  mit  sich;  das  Spiel  gelingt  meistens;  sie  haben  wirklich  eine 
Zweiteilung  der  Persönlichkeit,  welche  es  der  einen  gestattet,  mit  einer 
Phantasie  zu  onanieren,  welche  die  andere  nicht  kennt,  nicht  kennen 
will  oder  nicht  kennen  darf.  \ 

Wir  haben  gesehen,  wie  die  Neurose  ausbricht,  sobald  die  Onanie 
aufgegeben  wird,  und  wie  die  Folgen  der  Onanieabstinenz  dann  als 
Folgen  der  Onanie  aufgefaßt  werden.  Ebenso  konnte  man  behaupten, 
die  Onanie  zerrütte  die  Nerven  so,  daß  die  Onanisten  zu  Selbstmördern 
werden  Die  nächsten  Fälle  beweisen  das  Gegenteil.  Sie  beweisen  uns 
alle,  daß  viele  Menschen  unfähig  sind,  ohne  die  Onanie  zu  leben  und 
daß  sie  lieber  auf  das  ganze  Leben  verzichten,  als  ohne  die  gewohnte 
Befriedigung  zu  verschmachten. 

Es  gibt  unter  den  Onanisten  auch  viele,  welche  gewarnt  wurden 
und  die  Abschreckungsbücher  gelesen  haben.  Sie  onanieren  dann  mit 
dem  Stolze  des  Menschen,  der  über  sein  Leben  selbst  verfügen  und 
sich  auf  diese  lustbetonte  "Weise  ums  Leben  bringen  will  Der  Selbst- 
mordversuch durch  den  Abusus  der  Onanie  ist  gar  nicht  so  selten 
und  kommt  besonders  in  Gefängnissen  vor.  Es  ist  eine  Form  der 
Selbstvernichtung,  die  ich  als  „chronischen  Selbstmord"  be- 
zeichnet habe. 

Es  ist  wenig  bekannt,  daß  die  Onanie  auch  als  Strafe  und  Buße, 
als  ein  Mittel,  sich  das  Leben  zu  verkürzen,  angewendet  wird.  Die 
Verknüpfung  von  Luet  und  Strafe  ist  uns  ja  nichts  Unbekanntes.  Wir 
brauchen  nur  an  den  Flagellantismus  und  die  Askesen  wunderlicher 
Heiliger  zu  denken.  Wir  werden  bald  ersehen,  welch  gewaltige  Rolle 
der  Onanie  beim  Zustandekommen  eines  Selbstmordes  zukommt.  Ich 
möchte  aber  schon  jetzt  betonen,  daß  die  Drohungen  der  Eltern,  welche 
Kindern  die  Onanie  dadurch  abgewöhnen  wollen,  daß  sie  ihnen  die 
furchtbarsten  Folgen  für  Leben  und  Gesundheit  bei  Fortsetzung  des 
Lasters  prophezeien,  oft  den  entgegengesetzten  Effekt  erzielen:  gerade 
um  das  Leben  zu  verkürzen,  setzen  manche  störrische  Kinder  die  Onanie 
fort:  für  die  geheime  Lust  büßen  sie  dadurch,  daß  sie  einen  Teil  ihrer 
Lebenskraft  zu  opfern  wähnen.  Das  Verbotene  und  das  gruselige  Spiel 
mit  dem  Tode  erhöhen  den  Reiz  des  Lustgewinnes.  Vom  chro- 
nischen Selbstmord  bis  zu  dem  akuten  führt  eine  gerade  Linie. 


Onanie  und  Neurose.  39 

Der   antisexuelle   Instinkt   ist  eigentlich  der   lebensfein  d- 
liehe  Instinkt. 

Es  gibt  Menschen,  die  den  Mut  zur  Liebe  verloren,  denen  Hem- 
mungsvorstellungen, Imperative  der  Eltern  und  der  Gesellschaft  den 
Genuß  der  Liebe  geraubt  haben,  die  unfähig  sind,  Libido  ohne  Schuld- 
bewußtsein zu  empfinden.  Ich  denke  hier  an  ein  Mädchen,  das  von 
glühender  Liebeslust  erfüllt  war,  das  alle  Instinkte  dazu  drängten,  sich 
sexuell  auszuleben,  das  jedoch  eine  übermoralische  Erziehung  mit  so 
vielen  Verboten  und  Hemmungen  umgeben  hatte,-  daß  es  schließlich 
keinen  anderen  Ausweg  wußte,  als  aus  dem  Leben  zu  gehen.  Die  Angst 
vor  der  Liebe  war  fast  60  groß,  als  da6  Verlangen  nach  ihr.  Sie  war  zu 
schwach  ihre  sexuellen  Instinkte  auszuleben;  zu  moralisch,  zu  schwer 
mit  bürgerlich  hausbackener  Moral  belastet.  Andrerseits  war  das 
Leben  ohne  Ausleben  der  erotischen  Instinkte  für  sie  nicht  lebenswert 
und  so  wollte  sie  den  unlöslichen  Konflikt  dadurch  lösen,  daß  sie  zu 
sterben  beschloß. 

Allerdings  beweist  uns  dieser  Fall  auch  die  Wahrheit  der  von 
Freud .  vorgebrachten  Beobachtungen,  daß  Selbstmorde  sehr  häufig 
mit  Inzestgedanken  zu  tun  haben,  die  oft  die  Quelle  des  tiefsten  Schuld- 
bewußtseins darstellen.  Auch  dieses  Mädchen  hatte  ein  inzestiöses 
"Trauma  in  der  Kindheit  erlebt.  Auch  ein  Trauma  mit  dem  Bruder !  Und 
vielleicht  war  ihre  Unfähigkeit  zu  lieben  darauf  gegründet.  Sie  war  zu 
fest  bei  der  Familie  verankert.  Außer  den  moralischen 
Hemmungsvorstellungen  kam  noch  das  geheime  Band  in  Betracht,  das 
sie  an  den  Bruder  knüpfte.  Sie  kannte  nur  eine  wahre  Liebe:  die  zu 
ihrem  Bruder,  ihrem  ersten  Geliebten,  den  man  doch  nie  vergessen 
kann.  Aus  diesem  Dilemma  wählte  sie  dann  den  Ausweg  des  Selbst- 
mordes. Aber  noch  einen  neuen  Gesichtspunkt  lernen  wir  bei  der 
Analyse  dieses  Falles,  einen  Gesichtspunkt,  den  ich  eigentlich  bisher 
in  keinem  der  von  mir  beobachteten  Fälle  von  Selbstmord  oder  Selbst- 
mordabsichten vermißt  habe.  Die  Selbstmordideen  traten  bei  dieser 
Patientin  erst  zu  einer  Zeit  auf,  nachdem  sie  die  Onanie  auf- 
gegeben hatte.  Die  strenge  Abstinenz  war  mit  eine  der  Ursachen 
des  Selbstmordes.  Wir  wissen  schon,  daß  für  solche  Personen  die 
Onanie  deshalb  so  wertvoll  ist  und  sogar  durch  den  sexuellen  Akt 
nicht  ersetzt  werden  kann,  weil  sie  mit  verschiedenen  Phantasien  einher- 
geht. Die  Vorwürfe,  die  sich  die  Patienten  wegen  der  Onanie  machen, 
richten  sich  eigentlich  gegen  die  Phantasien.  So  war  es  auch  in  diesem 
Falle.  Die  Patientin  verband  mit  dem  Autoeroti6mus  die  Phantasie 
an  das  Erlebnis  mit  ihrem  Bruder.  Das  Aufgeben  der  Onanie  verlangte 
zugleich  das  Aufgeben  der  Inzestphantasie.  Den  Selbstmord,  der  zum 
Glücke  nur  ein  Selbstmordversuch  war,  vollzog  sie,  nachdem  sie  sich 


40 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


aus  dem  Elternhause  entfernt  und  eine  Stelle  in  der  Fremde  gefunden 
hatte.  Sie  verschaffte  sich  Morphium  und  Veronal,  welche  Mischung  sie 
jedoch  gleich  erbrach.  Der  Lebenstrieb  wehrte  sich  gegen  den  Selbst- 
mord. In  ihr  schrie  eine  Stimme:  „Du  kannst  noch  glücklich  werden!'' 
Diese  Stimme  behielt  recht.  Sie  fand  nach  einigen  Jahren  einen  Mann, 
der  sie  glücklich  machte.  Es  war  ein  Vetter,  der  ihrem  Bruder  in  vielen 
Stücken  glich. 

Noch  beweisender  scheint  mir  ein  anderer  Fall  zu  sein,  der  Selbst- 
mordversuch eines  hochbegabten  Künstlers,  der  sich  von  einem  Freunde 
eine   größere  Dosis  Zyankali    geben  ließ,    sie  rasch  austrank  in    der 
sicheren  Gewißheit,  in  den  Tod  zu  gehen.   Es  hatte  sich  aber  nur  um 
eine  gehörige  Dosis  Bromkali  gehandelt,  denn  der  Ärmste  erwachte  nach 
einem  etwas  längeren  Schlaf  mit  einem  dumpfen  Kopf  und  war  dem 
Leben  wiedergegeben.  Auch  dieser  Patient  litt  ebenso  wie  unter  Zwangs- 
vorstellungen und  Selbstmordimpulsen  unter  den  Vorwürfen/die  er  sich 
wegen  der  bis  ins  hohe  Alter  hinein  betriebenen  Onanie  machte.  Seine 
schwerste  Zwangsvorstellung  lautete:  Es  könnte  ihm  jemand  entgegen- 
kommen und  an  ihm  ein  Attentat  verüben.  Eigentlich  eine  homosexuelle 
Reminiszenz  aus  seinem  9.  Lebensjahre.   Die  Angst  entsprach  hier  dem 
brennenden  Wunsche,  jene  einzige  Art  der  Befriedigung  zu  finden   die 
die  höchste  Libido  erzielt  hatte,   weil  auch  aus   homosexuellen  Trieb- 
quellen Lust  zuströmte.  Auch  dieser  Patient  hatte  ein  schweres  Inzest- 
trauma  hinter  eich  (mit  der  Schwester!)  und  auch  bei  diesem  Kranken 
erwies    sich  das  Aufgeben    der  Onanie  verknüpft    mit  dem    schweren 
Schuldbewußtsein  als  wichtigste  Triebfeder    des   Selbstmordimpulses. 
Die  Angst,  es  könnte  ihm  jemand  „entgegenkommen",  entsprach  dem 
Wunsche,  seine  Schwester  sollte  ihm  entgegenkommen.    Sein  höchster 
Wunsch,  der  ja  seine  tiefste  Angst  werden  mußte. 

Noch  von  einem  dritten  Patienten  möchte  ich  erzählen,  der  bis  zum 
34.  Lebensjahre  onanierte.  Mit  dem  Aufgeben  der  autoerotischen  Be- 
friedigung traten  die  Selbstmordimpulse  auf.  Auch  hier  bewies  die 
Analyse  in  klarer  Weise  die  Verknüpfung  des  autoerotischen  Aktes  mit 
Inzestphantasien.  Er  hatte  in  der  Kindheit  an  Blasenstörungen  gelitten. 
Die  den  Penis  sanft  streichelnde  Hand  der  Mutter  konnte  die  Anurie 
leicht  beheben.  Bei  den  onanistischen  Akten  imitierte  er  diesen  Vor- 
gang. Ist  doch  jede  Onanie  eine  Rückkehr  zur  infantilen  Form  der  Be- 
friedigung, zu  den  ersten  Lustquellen.  Auch  seine  Potenz  war 
launisch  und  die  Erektion  konnte  in  manchen  Fällen  nur  durch  denselben 
Griff  zustande  kommen.  Noch  ein  zweites  Moment  ist  bei  diesem  wie 
bei  allen  anderen  Fällen  in  Betracht  zu  ziehen.  Handelt  es  sich  doch  bei 
allen  onanistischen  Akten-  (siehe  den  vorigen  Fall)  um  ein  Kompromiß 
aus  homo-  und  heterosexuellen  Regungen!  Speziell  in  diesem  Falle  war 


Onanie  und  Neurose. 


41 


es  ganz  deutlich,  daß  die  Onanie  neben  der  Inzestphantasie  auch  einen 
homosexuellen  Akt  darstellte. 

Alle  diese  Menschen  waren  unfähig,  ein  Leben 
ohne  Onanie  zu  ertragen.  Für  sie  war  die  Onanie 
nicht,  wie  ich  es  früher  erwähnt  habe,  Strafe  und 
Buße,  sondern  geheime  Lust,  an  die  sich  ein  tiefes 
Schuldbewußtsein  knüpfte.  Dieses  Schuldbewußtsein  kann 
eich,  wie  Beobachtungen  anderer  Ärzte  zeigen,  so  steigern,  daß  der 
Selbstmord  direkt  nach  einem  onanistischen  Akt  ausgeführt  wird.  Hier 
gpielt  neben  der  Onanie  der  Ekel  eine  große  Rolle.  Solche  Auto- 
erotisten  betrachten  ihre  Selbstbefriedigung  als  einen  „ekelhaften", 
erniedrigenden  Akt.  Der  Ekel  vor  der  eigenen  Person  steigert  sich  zum 
Ekel  vor  dem  Leben,  zum  Weltekel.  Das  Leben,  das  stets  sexuell  ge- 
wertet wird,  verliert  jeden  Wert.  Es  steht  im  Affekte  der  Ablehnung. 
So  führt  die  Onanie  auch  in  ihren  Verdrängungsformen  zum  Selbstmord. 
Besonders  Onanisten,  die  lange  Zeit  hindurch  abstinent  waren  und 
denen  es  gelungen  war,  die  Onanie  wirksam  zu  bekämpfen,  neigen  nach 
einem  Rückfall,  der  sie  ihrer  stolzen  Hoffnungen  auf  Genesung  beraubt, 
leicht  dazu,  „Hand  an  sich  zu  legen"  und  mit  dem  letzten  onanistischen 
Akt,  das  ist  mit  dem  Selbstmorde,  die  letzte  große  Strafe  an  sich  zu 
vollziehen. . 

Ich  möchte  hier  noch  die  Analyse  eines  Knaben  erwähnen,  bei  dem 
Selbstmordideen  eine  große  Rolle  spielten,  dessen  Krankengeschichte 
ich  in  meiner  Arbeit:  Zwangszustände,  ihre  psychischen  Wurzeln  und 
ihre  Heilung"  (Medizinische  Klinik,  1910,  Nr.  5—7)  beschrieben  habe. 
Ich  erlaube  mir,  das  eine  uns  interessierende  Stück  dieser  Krankenge- 
schichte hier  mitzuteilen: 

Fall  Nr.  6.  „In  meinem  Buche  „Nervöse  Angstzustände"  habe  ich  auf 
die  psychischen  Wurzeln  des  Stotterns  hingewiesen.  Ein  stotternder  Knabe, 
den  ich  im  letzten  Jahre  behandelte,  teilte  mir  mit,  daß  er  nicht  stottere, 
wenn  er  die  Hand  auf  die  Nase  lege.  Er  drückte  den  rechten  Zeigefinger  auf 
den  Nasenrücken  und  konnte  sofort  fließend  und  deutlich  sprechen.  Dieser 
Knabe  war  ein  arger  Onanist.  Seine  heimliche  Angst  bestand  darin,  man 
könne  ihn  vielleicht  entlarven,  man  könnte  vielleicht  erkennen,  daß  er 
onaniere.  Sein  Vater  hatte  ihm  einmal  aufgetragen,  die  Hände  im  Bette 
immer  auf  der  Decke  ruhen  zu  lassen.  Also  schien  sein  Vater  Onanie  zu  be- 
fürchten. Was  drückte  er  nun  durch  diese  symbolische  Handlung  aus?  Wenn 
er  die  Hand  in  der  Tasche  hatte,  so  konnte  er  onanieren.  Dadurch,  daß  er 
die  Hand  auf  die  Nase  legte,  demonstrierte  er  aller  Welt:  Seht  nur  her,  ich 
onaniere  nicht,  ich  habe  Ja  nicht  die  Hand  in  der  Tasche,  sie  liegt  auf  meiner 
Nase.  Dabei  war  ihm  die  Nase  das  Symbol  des  Gliedes  und  er  drückte  durch 
diese  Zwangshandlung  dem  Kundigen  gerade  so  viel  von  seinem  Geheimnis 
aus,  als  er  verbergen  wollte.  Derselbe  Knabe  litt  eine  Zeitlang  auch  an 
Zwangslügen.    Eines  Tages  erzählte  er  mir  eine  lange  Geschichte,  der  ich 


42 


Erster  Teil.  Die  Ouauie. 


sofort  anmerkte    sie  wäre  erlogen.    Ich  fragte  ihn  sofort,  warum  er  mich 

S  und  fl^^^  **  e^Te  nJChtS  dafür'  »eß  komme  Such  über 
ihn  und  dann  müsse  er  lugen".    Gestern  habe  er  den  Vater  angelogen    ohne 

Als  e'rrTÄrT  ^J*  L?hw  erkrankte  Und  sie  bekamen"  ch^YeT 

we  1  dZt&SSt    n '  tag,tö  €5f?m  Vater'  Sie  hatten  ßchuIfrei  bekommen, 
weil  das  schadhafte  Dach  der  Schule  ausgebessert  werden  müsse.    Für  diese 

Luge  wisse  er  keinen  Grund  anzugeben.   Ob  er  sich  sehr  darüber  gefreu    habe 

daß  sie  einen  schulfreien  Tag  gehabt  hätten?  „Ja  sehr!"  ' 

gewordflst^^attm^ih^Äf^  ^ff  gefreut'  daß  der  Lehrer  krank 
Schuld  gehört«    *  m  Mlüeid  ZU  haben'  Wie  eß  eich  für  einen  braven 

kranken1  möibune[r;  "  S?tte  Sich  "ao  °ft  gewünscht,  daß  der  Lehrer  er- 

äxtä  rar  uredRTg, vor  seinem 

^Ä  Ä  ~  SeT^L"  *  Va^ertr  ^gr  £ 
daß  er  onSier^dÄ  rÄÜSJt  St » 

übergeben  worden  war,  und  er  Xitaa^Ä^^^^^^S^ 

sah  ihm  prüfend  ins  Gesicht  und  sagte      Du  onan faS?  n  ?  **"*  Y^ 

das  Schlechteste,  was  er  tun  konnte    D  5 "d toSib.  St  T  T^ 

Angst,  alle  Welt  bemerke,  daß  er   onaniere     Gerade  Inlolee  dW  I      l 

war  er  verlegen  und  stotterte  in  Gesellschaft,  vo seine r  Ä„  T        &t 

Vater  -  kurz  vor    aller  Welt,  während  er/  wlTÄr         T 

Stotterer  fließend  sprechen  konnte.  Nun  wu  de  e ^  durch  d?  fertJS       6 

der  Meinung  bestärkt,  man  könne  sein  heimliches  Stt«  Ätf™ 

Blick   erkennen.     Er    demonstrierte    dann   durch     die    ZwaLshandS,    S" 

Hand  auf  der  Nase)  aller  Welt,  daß  er  nicht  onaniere.   DtoÄS 

von  ihm.  Weshalb  hatte  er  mich  nun  belogen?    So  wie  er  In  mit  dei  LüS 

die  Allwissenheit  seines  Vaters  zu  Schanden  machen  wollte,    o  log  e    auch 

mich  an,  um  mich  zu  „prüfen"  und  sich  zu  überzeugen,  ob  ich  wirklich  luZ 

SI2  weil  ?^a  so  viele  Dinge  von  semem^Ä*^ 

zahlt,  die  keiner  vor  mir  bei  ihm  vermutet  hatte.   Dieses  Lügen  geschah  1 

Sffi    »?«*»«*"  Motiven    und    war  deshalb    voTÄC 

In  diesem  Falle  sehen  wir  das  ganze  geheime  Räderwerk-  Das  frliriM 
bevv-ußtsein  dem  Vater  und  dem  Lehrer  gegenüber,  denen  er  den  Tod  gewünscht 
hatte;  die  Hemmungen,  mit  denen  er  belastet  wurde.   Wir  begreifen   daß (mit 
treten  mußtn      ^  ^^  auf8ngebeb'  Selbstmordimpulse  folgerichtfg  aTf- 

•*■    KZUmo  ,vChluß    di6Ser    Außführun8en    über    den    Zusammenhang 
nmtm  Selbstmord   und  Onanie  wil!  ich  die  Analyse   eine«  Schüler 


Onanie  und  Neurose. 


u 


Selbstmordes  mitteilen,    welche  mir  geeignet  erscheint,  die  hier  vorge- 
brachten Ansichten  in  unwiderstehlicher  Weise  zu  bestätigen. 

Fall  Nr.  7.  Es  handelt  sich  um  einen  18jährigen  Handelsschüler,  der 
noch  des  Vormittags  in  die  Schule  ging,  am  Unterrichte  sehr  aufmerksam  teil- 
nahm und  sich  eine  Stunde  später  eine  Revolverkugel  in  den  Kopf  6choß.  Die 
Ursachen  dieses  Selbstmordes  waren  scheinbar  leicht  zu  ergründen.  Das  Motiv 
hieß :  „Unglückliche  Liebe."  Er  hatte  seit  2  Monaten  ein  Liebesverhältnis  mit 
einem  gleichaltrigen  Mädchen  und  teilte  seinen  Eltern  den  Entschluß  mit, 
sich  mit  diesem  Mädchen  zu  verloben.  Weil  die  Eltern  ihm  die  Einwilligung 
nicht  gegeben  hatten  und  er  sich  unfähig  fühlte,  ohne  Unterstützung  der 
Eltern  weiter  zu  leben,  wollte  er  sich,  so  lautete  seine  erste  Aussage,  das  Leben 
nehmen.  Nach  mehrwöchentlichem  Krankenlager  konnte  er,  vollkommen  ge- 
nesen, seine  Studien  fortsetzen.  Die  durch  die  Tat  erschreckten  Eltern  gaben 
ihm  die  Einwilligung  zur  Verlobung;  allein  schon  während  des  Kranken- 
lagers hatte  er  bemerkt,  daß  seine  Geliebte  für  ihn  den  Wert  verloren  hatte, 
und  so  war  es  ihm  ein  Leichtes  und  gar  kein  Opfer  mehr,  nach  mehreren 
Monaten  das  Verhältnis  vollständig  aufzugeben. 

Er  gibt  zu,  daß  die  gegen  die  Eltern  gerichteten  Rachephantasien  bei 
der  Tat  den  Ausschlag  gegeben  haben.  Er  hatte  sich  als  verlorenen  Menschen 
betrachtet,  der  nicht  mehr  denken  könne,  dem  der  Wahnsimi  bevorstehe.  Zeit- 
lebens hatte  er  ein  großes  Bedürfnis  nach  Zärtlichkeiten  und  diese  wurden 
ihm  auch  von  einer  älteren  Schwester  zuteil.  Wir  erfahren,  daß  in  dem  Ab- 
sagebrief der  Eltern  sich  auch  ein  Schreiben  seiner  Schwester  befand,  die 
ebenfalls  mit  sehr  energischen  Worten  auf  die  Aussichtslosigkeit 
seiner  Liebe  hinwies.  Kurze  Zeit  nach  Erhalt  des  Schreibene  führte  er 
den  Selbstmord  aus. 

Sein  Geschlechtsleben  zeigt  bei  erster  Erforschung  keine  besonders  auf- 
fälligen Abweichungen  von  den  normalen  Linien.  Von  Kollegen  verführt  Suchte 
er  mit  15  Jahren  eine  Prostituierte  auf  und  versagte  die  ersten  Male  voll- 
kommen. In  der  siebenten  Gymnasialklasse  begann  er  zu  onanieren,  wobei 
er  eine  Libido  empfand,  die  ihm  bisher  unbekannt  gewesen.  Er  las  jedoch  ver- 
schiedene Bücher,  die  ihn  über  die  Schädlichkeiten  der  Onanie  belehrten,  so 
daß  er  sie  aus  Angst,  sich  das  Leben  zu  verkürzen,  aufgab.  'Er  hatte  dann 
spärlichen  sexuellen  Verkehr  mit  Dirnen  und  Dienstmädchen.  In  der  achten 
Gymnasialklasse  onanierte  er  bloß  3mal  im  Jahre.  Er  gab  aber  zu,  daß 
die  Höhe  der  Libido  beider  Onanie  niemals  von  dem 
normalen  Akt  erreicht  wurde.  Und  nun  erfahren  wir,  daß  die 
Onanie  bei  ihm  tatsächlich  mit  Inzestphantasien  verknüpft  war.  Es  war 
ihm  beim  ersten  onanietischen  Akte  plötzlich  eingefallen,  ob  er  nicht  eine 
alte  Frau  besitzen  könne.  Plötzlich  tauchte  zu  seinem  Entsetzen  vor  seinen 
Augen  die  Mutter  auf.  Wir  begreifen  jetzt,  warum  er  die  Onanie  aufgegeben 
hat.  Es  war  die  Inzestphantasie,  die  ihn  als  hochmoralischen  Menschen  an 
der  Fortsetzung  dieser  Art  von  Befriedigung  hinderte.  Er  erinnerte  sich 
auch  an  verschiedene  Vorkommnisse,  die  eine  Inzestneigung  zur  Mutter  be- 
stätigen. Tief  im  Gebirge  traf  er  auf  einer  Wanderung  eine  alte,  häßliche 
Bäuerin;  da  tauchten  ihm  „böse  Gedanken"  auf,  die  er  voll  Ekel  sofort  ver- 
drängte. Verschiedene  Träume  handelten  von  seiner  Mutter  und  von  seiner 
Schwester.  Jetzt  erfahren  wir  auch,  daß  das  Verhältnis  mit  dem  Mädchen 
eigentlich  ein  sehr  intimes  gewesen  und  wahrscheinlich  zu  den  letzten  Kon- 


44 


Erster  (Teil.  Die  Onanie. 


Sr'T  f fÜhrt  MWe'  wenn  er  nicht  ei"  hemmende  Kraft  in  sich  «fühlt 
zu  eriSen      '°l    ^  ,A"»**™*  seiner  bebten  hinderte,  von ihr  Bes ttfe 

.  s»  ä  asrsa  *s  sä»  i- 

M  h  De™1kku"dl8eJn  Psychotherapeuten  wird  es  sofort  klar,  daß  es  sich 

d     sXel?      ^  7,eine  "P°ena  taIionis"  Setad*  hat    Ein  Brte 
**-e'  M""6"-.  ^r  von  der  Aussichtslosigkeit  der  Lieh 

auf  dT Peliit    h         •  ™n    6r  Mutter'  der  Schwc8ter  U»<1  dem  Bruder 

sfl§tii§5§ 

tiefes     Schuldbewußtsein     -      die     TfL 
seiner  seelischen  Konflikte  u  nd'  di  e^nflhi   ^ 
die  Onanie    als  Ersatz    der  Inz es t n h » n+       •  i 

homosexuellen  Akte  wei  t  er  llToltVsT  '  '"  ™? 
Wir  hören  ferner,  daß  der  erste  onanistische  Akt  direkt  nach 
einem  Besuche  bei  einer  Prostituierten  -  wohl  gemerkt  nach 
erfolgreichen  -  ausgeführt  wnrde.  Das  beweist  "ns  daß  die  Wirk!  cT 
tat  ,hm  „.cht  die  Befriedigung  geben  konnte,  wie  sie  der  m^der  InZ  t" 
Phantas,e  verknüpfte  autoerotische  Akt  zn  gewähren  vermochte 

Die     Bedeutung     der     spezifischen     Phant»»i- 
beim  onan.Lti.ehe»  Akte  kann  gar  nicht  hoch       » 
eingeschätzt  werden.    Das  Schuldgefühl,  daV 

an  die  Onanie  knüpft,  hängt  damit  zusammen    ,h    ' 
auch   d        Hähe   des   Lustgefühles     Erst        ««.aber 

tische    Phantasie    gibt    dem    onan  i  s  ti  sehen  Tkte 
seine  besondere  Färbung,  seine  hoho  LustquaHtä 
und  seine  Unersetzlichkeit.  «"antat 

Es  gibt  Beobachtungen,  welche  solche  Zusammenhänge  förmlich 
ra  Reinkultur  bringen.   Eine  solche  mag  jetzt  an  dieser  Stelle  folgen 

Fr  „,/""  Nr'8'  Herr  B-,M-  konsultiert  mich  wegen  folgender  Erschein™», 
d«  ihm  sehr  gnt  gefiel.  «Mit  Ä^-  *«3Ä 


Onanie  und  Neurose. 


45 


plauderte  mit  ihr  besser  als  mit  jeder  anderen.  Schließlich  machte  er  ihr 
den  Antrag,  mit  ihm  eine  Reise  zu  machen.  Sie  ging  darauf  ein  und  sie 
machten  eine  sehr  schöne  Reise,  die  6  Wochen  dauerte.  Allein  seine  Hoffnungen 
auf  den  Besitz  des  Mädchens  gingen  nicht  in  Erfüllung.  Sie  legte  sich  mit 
ihm  ins  Bett;  wenn  er  sie  jedoch  berühren  wollte,  so  wehrte  sie  sich  und  er 
konnte  nichts  erreichen.  Sie  schrie,  er  wolle  sie  unglücklich  machen.  Er  hoffte, 
mit  Geduld  und  durch  Erregung  des  Mädchens  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen. 
Vergebens.  Alle  Bemühungen  scheiterten  an  dem  Widerstände  der  Geliebten, 
so  daß  er  genötigt  war,  in  dem  Bette  an  ihrer  Seite  zu  onanieren. 

Nach  der  Reise  versuchte  er  vergebens  bei  anderen  Mädchen  seine  Glut 
zu  kühlen.  Er  war  impotent  und  konnte  weder  Erektion  noch  Orgasmus  er- 
zielen. Aber  er  mußte  täglich  onanieren  und  stellte  sich 
immer  das  Mädchen  vor.  Auf  meine  Frage,  warum  er  sie  nicht  ge- 
heiratet habe,  erwidert  er: 

„Das  geht  nicht.  Der  soziale  Unterschied  ist  zu  groß.  Sie  war  Er- 
zieherin, also  ein  besseres  Dienstmädchen,  und  ich  bin  akademisch  gebildet, 
bin  Advokat.   Dann  habe  ich  eine  Mutter,  die  das  nie  zugegeben  hätte.  .  ." 

„Sind  Sie  der  einzige  Sohn?" 

„Jawohl  .  .  .  und  ich  lebe  mit  meiner  Mutter  so  harmonisch,  so  schön 
und  so  friedlich,  daß  ich  eine  Ehe  nicht  benötige.  Ich  habe  mir  vorgenommen, 
nie  zu  heiraten.  Aber  die  Leidenschaft  für  das  Mädchen  wurde  so  groß,  daß 
ich  fürchtete,  sie  heiraten  zu  müssen.  Ich  kam  auf  die  Idee,  ihr  zuzureden, 
nach  Amerika  zu  fahren,  und  gab  ihr  auch  das  Geld  für  die  Reise.  Jetzt  ist 
sie  in  Amerika.  .  .  .  Trotzdem  sie  so  weit  ist,  kann  ich  sie  nicht  vergessen. 
Ihre  Briefe  werden  immer  kühler,  ich  aber  liebe  sie  wie  vorher  und  liebe  sie 
täglich  mehr." 

Er  führt  einen  erbitterten  Kampf  gegen  die  Onanie  und  muß  sich  be- 
schämt eingestehen,  daß  er  immer  wieder  erliegt.  Obwohl  er  sich  in  diesen 
vier  Jahren  physisch  ganz  außerordentlich  erholt  hat,  fürchtete  er,  daß  ihm 
die  Onanie  doch  schade.  Er  fürchte  für  sein  Rückenmark  und  für  sein  Ge- 
dächtnis. Er  möchte  die  Liebe  vergessen  und  wieder  andere  Mädchen  besitzen 
können. 

In  diesem  Falle  sehen  wir  die  Macht  eines  unerfüllten  Wunsches  der 
immer  wieder  auf  Erfüllung  dringt.  Solche  unerfüllte  Wünsche  sterben  nicht 
Hatte  er  das  Mädchen  geheiratet,  so  wäre  die  Entwertung  durch  den  Besitz 
eingetreten.  ...  Der  große  Orgasmus  bei  der  Onanie  rührt  hier  daher  daß 
er  sich  immer  wieder  das  Mädchen  vorstellt  und  ihren  Besitz  phantasiert. 
Hier  bringt  die  Phantasie  die  Erfüllung  und  die  einzige  Erfüllung,  die  er 

Die  einzige?  Das  müßte  erst  eine  sehr  genaue  Analyse  lehren.  Es  ist 
sehr  wahrscheinlich,  daß  hinter  dem  Mädchen  die  Fixierung  an  die  Mutter 
steckt.  Das  Mädchen  und  die  Mutter  haben  viel  Gemeinsames.  Sie  sind  beide 
unerreichbar,  beide  dem  sexuellen  Wunsche  gegenüber  negativistisch. 
Oer  Mutter  halber  hat  er  das  Mädchen  nicht  geheiratet,  weil  er  die  Mutter 
hätte  verlassen  müssen.  Das  beweist,  daß  die  Mutter  die  stärkere  ist  und 
daß  wir  in  seiner  Onanie  auch  eine  Regression  auf  die  Lustquellen  der  Kind- 
heit erblicken  müssen.  Er  arrangierte  auch  das  Verhältnis  so,  daß  sie  ihm 
fern  und  unerreichbar  wurde.  Er  wandte  auch  keine  Gewalt  an,  weil  er 
hoffte,  das  Mädchen  werde  sich  freiwillig  ergeben.    Frauen  wollen  aber  ge- 


46 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


nommen  sein,  um  sich  vor  den  selbst  mit  der  vis  major  entschuldigen  zu 
WesenT      g  '  ebenS°  m  d6r  °na^e  m  der  Seite  eines  begehrten 

Der  M^S^w^  ZU  Zlehen>  er6cheint  "*  überflüssig. 
JJei  Fall  ist  deshalb  so  instruktiv,  weil  er  uns  die  Bedeutung  der  die  Onanie 
begleitenden  Phantasie  wie  kein  zweiter  vor  Augen  führt 

uab  ganze  naus  nabe  unter  seiner  Nervosität  oaiiU**.     v    t  v  , 

Nachts  Erregungszustände  gehabt,  wÄe  S^^Ä5S*fi 
sie  um  den  Hausarzt  schickte.   Der  aber  riet  ihm  !   1^7     u!'  , 

Die  Onanie  ersetzte  ihm  das  für  ewig  verlorene  Marien    n„.    m-j  u 
aber  „  „  ein  Symbol  der  Mutter.   Da!  «ÄÄVSÄ^ 

^  "  bei  anton  l^^ÄÄ^ 

Er  war  aber  fernerhin  bei  anderen  Mädchen  impotent.  Allein  er  könnt* 
nicht  mehr  einschlafen  und  wurde  von  einem  nervösen  Zittern  befallen  Wann 
er  sich  ins  Bett  legte,  begann  sein  ganzer  Körper  zu  zittern  und  zu'  bebT 
Es  arbeitete  in  ihm  wie  in  einer  Maschine.  Er  sprang  auf  und  lief  wie  «in 
Verrückter  im  Zimmer  umher.  Schließlich  sagte  er  sich:  Jetzt  onanierst  7„ 
auch  wenn  dein  Leben  dabei  zugrunde  geht.  Dann  beruhigte  er  sieh  ™S 
konnte  wieder  schlafen.  Nachdem  er  eine  mäßige  Onanie  wieder  aufgenommen 
hatte,  besserte  sich  sein  Zustand,  er  wurde  wieder  arbeitsfähig  und  war  all!« 
seinen  schweren   Aufgaben  vollkommen   gewachsen.  '"'   " 

Ich  könnte  Hunderte  von  ähnlichen  Fällen  anführen.  Nur  einige 
die  mir  gerade  einfallen,  seien  noch  kurz  erwähnt:  Eine  Frau    die  bis 
zum  Aufgeben    der  Onanie    vollkommen    gesund  war    und    dann    an 
Melancholie  erkrankte,  als  sie  auf  den  Rat  eines  Arztes  abstinent  wurde 
(Sie  hatte  ihn  wegen  eines  unschuldigen  Fluor  konsultiert.)  Ein  Arzt 
der  bis  zum  35.  Jahre  onaniert  hatte  und  dann  nach  Lektüre    eines 
medizinischen  Werkes  die  Onanie  aufgab.  Nach  einigen  Wochen  traten 
Zwangsvorstellungen  bei  ihm  auf,  er  werde  ßeine  Frau  ermorden.  Ein 
mtessor,  der  bis  zum  vierzigsten  Jahre  täglich  onanierte,  verhältnis- 
mäßig gesund  war  und  aus  eigenem  Antriebe  die  Onanie  aufgab.  Nach 


Onanie  und  Neurose.  An 

einigen  Monaten  traten  Schwindel,  Platzangst,  Unfähigkeit  zu  essen 
und  andere  neurotische   Symptome  auf. 

Das  ist  eine  Beobachtung,  die  wir  immer  wieder 
machen  können.  Die  Neurose  bricht  erst  aus,  wenn 
die  Menschen  die  Onanie  aufgeben.  Die  Krankheit 
wird  dann  fälschlich  als  eine  Folge  der  Onanie  und 
nicht  als  eine  Folge  des  Aufgebens  der  Onanie  auf- 
gefaßt. Man  nehme  sich  die  Mühe,  die  Anamnesen  schwerer  Fälle 
Ton  Neurosen  durchzusehen.  Man  wird  häufig  genug  finden,  daß  die 
Kranken  die  Onanie  aufgegeben  haben,  und  daß  dann  danach  die  Neu- 
rose ausgebrochen  ist.  In  meinem  Buche  „Nervöse  Angstzustände  und 
ihre  Behandlung"  findet  sich  eine  ganze  Menge  hierher  gehörender  Fälle. 

Dagegen  kenne  ich  Menschen,  die  Jahrzehnte  täglich  onanieren  und 
gar  keine  Spur  eines  Schadens  zeigen.  Ein  54jähriger  Mann  gestand 
mir,  daß  er  seit  seiner  frühesten  Jugend  täglich  onaniere.  Manche  Tage 
mehrere  Male.  Er  ist  verheiratet  und  übt  überdies  noch  täglich  den 
Verkehr  mit  der  Frau  aus.  Seine  Potenz  ist  vorzüglich  und  er  zeigt 
keinerlei  Zeichen,  die  man  gebräuchlicherweise  als  neurasthenische 
Stigmata  bezeichnet.  Ein  anderer  Fall  meiner  Beobachtung  betrifft 
einen  Künstler,  der  seit  seinem  vierten  Lebensjahre  bis  zum  16.  Jahre 
onaniert  hatte.  Nachher  litt  er  an  täglichen  Pollutionen,  die  ihn  fast 
zur  Verzweiflung  brachten,  bis  ihm  ein  Arzt  den  Rat  gab,  die  Pollu- 
tionen durch  häufigen  Geschlechtsverkehr  zu  heilen.  Solange  er  nur 
einmal  in  der  Woche  verkehrte,  half  das  Mittel  gar  nichts.  Erst  als  er 
das  Glück  hatte,  eine  Geliebte  zu  finden,  die  an  ihn  große  Ansprüche 
stellte,  verschwanden  die  Pollutionen,  um  nie  wiederzukehren.  Dieser 
Mann  zeigt  keinerlei  Schaden  an  Leib  und  Seele  und  erreichte  eine  hohe 
Stelle  auf  der  sozialen  Stufenleiter.  Auch  seine  Potenz  hatte  nicht  ge- 
litten und  gestattete  ihm  die  Rolle  eines  bekannten  Don  Juans. 

Hier  möchte  ich  auf  die  Lebensgeschichte  eines  41jährigen  Advo- 
katen hinweisen,  die  ich  im  „Zentralblatt  für  Psychoanalyse"  (III.  Bd., 
S.  250)  zum  Teile  publiziert  habe.1) 

Fall  Nr  9.  „Ich  leide  an  abnormaler  Geschlechtsempfindung,  welche 
durch  Onanie  befriedigt  wird.  Im  16.  Lebensjahre  onanierte  ein  Schulkollege 
vor  mir.  Einige  Wochen  später  erweckte  in  mir  der  Anblick,  als  ein  Herr 
einer  Dame  ehrerbietig  die  Hand  küßte,  ein  noch  nie  empfundenes  wollüstiges 
Gefühl.  Abends  im  Bette  reproduzierte  ich  in  meiner  Phantasie  die  gesehene 
Handkußszene,  erinnerte  mich  an  den  onanisti'schen  Akt  meines  Schulkollegen 
und  onanierte  das  erstemal.  Von  da  an  onanierte  ich  täglich  einmal,  später 
auch  öfter,  sogar  auch  sechsmal  des  Tages.  Die  begleitende  Phan- 

J)  In  den  Krankenberichten,  Briefen,  Träumen  sind  der  Stil  und  die  Ortho- 
graphie der  Patienten  fast  gar  nicht  geändert.  Eb  handelt  sich  oft  um  Ausländer, 
welche  die  deutsche  Sprache  nicht  beherrschen.    Diese  Bemerkung  ein-  für  allemal! 


48 


Erster  Teil.  Die  Ouanie. 


tasie  war  immer  ein  Handkuß,  den  ich  oder  ein  anderer  einer  Dame  gab.  Wenn 
ich  jemand  die  Hand  einer  Dame  küssen  sah,  oder  wenn  ich  selbst  hierzu  Ge- 
legenheit hatte,  oder  wenn  ich  einer  solchen  Episode  in  einer  Lektüre  oder 
auf  einem  Bilde  begegnete,  so  empfand  ich  heftige  Libido,  welche  sodann  durch 
Onanie  befriedigt  wurde.  Je  mehr  Devotion,  Erniedrigung  sich 
im  Handkusse  äußerte,  um  so  gröller  war  dieLibido  Da 
ich  fast  immer  Gelegenheit  hatte,  Handküsse  zu  sehen,  oder  selbst  auszu- 
üben, so  hatte  meine  Geschlechtsempfindung  immer  neue  Nahrung,  was  immer 
wieder  zu  onamstischen  Akten  führte.  Als  ich  in  meinen  Universitätsiahren 
zur  Kenntnis  gelangte,  daß  meine  Geschlechtsempfindung  eine  abnormale  und 
deren  Befriedigung  eine  schadhafte  sei,  da  war  in  mir  der  perverse  Trieb  schon 
derart  emgewurzelt,  daß  ich  das  Laster  nicht  mehr  bekämpfen  konnte.  Trotz 
h in<W Tmlr  i?  Vei'hel.|ch  bei™  geringsten  Reize  wieder  der  Onanie.  Dies 
c hm  IT'  PZe;  WGlllg  an  dei"  BeendiSung  '»"ner  Studien,  denn  wenn 
n  ZLti  Pl'llf';ng  vorbereitete,  so  hatte  mich  die  hierzu  notwendige 

Einsamkeit  tomer  zu  häufiger  Onanie  veranlaßt.    Statt  zu  studieren    hing 

Ko^Lf^^-^^^  nach"    Zweimal  versuchte  deinen 
•fbe r  <üe Ä tS  *  "?£   Die  Puella  rdzte  mich  zwa<"-   Nachdem 

St     k  ,       g$am  VÜI*  81Ch  gmg'  fin«  die  Puella  ^  ungeduldig  und 

spottisch  zu  werden,  was  sodann  die  Stimmung  ganz  verdarb     Ein  scUes 

oaZZGeSUd  ß'ic  mlCh  aVnd,fVich  -en  Reiz  aus,  und  ich  ha^ 
beledigen  konnte  ""  Geschleehtstrieb  in  ^rmaler  Art  und  Weise 

Hohe  AÄF  vef  kam  meine8  WiSSenS  k6ine  gGi8tige  0d-  **»**£ 

Als  körperliche  Folgeerscheinungen  kann  ich  nur 
etwas  Mattigkeit  und  öf  te  r  s  Re  i  ßen  In  den  Gliedern 
besonders  in  den  Füßen  anführen.  Geistig  bin  ich  ganz' 
normal  bekunde  sogar  einen  Scharf einn,  und  entfalte 
als  Leiter  einer  großen  Adv  o  katu  rekanzlei  re«e 
geistige    Tätigkeit."  ege 

So  der  Bericht  eines  Onanisten.    Er  gesteht  mir,    daß   er    in    de» 
letzten  zehn  Jahren  niemals  weniger   als   dreimal    tü„ 
lieh   onaniert  hat.  g" 

Und  wie  sieht  der  Mann  aus?  Wir  sehen  einen  blühenden,  gut  genährten 
Menschen  vor  uns,  der  kein  graues  Haar  zeigt.  Die  Muskelkraft  normal  die 
Reflexe  leicht  gesteigert,   sonst  keinerlei  pathologischer  Befund. 

Also  ein  sogenannter  „Onanisraus"  durch  25 Jahre  und  keinerlei 
Zeichen  einer  Neurasthenie,  wie  sie  Freud1)  in  einem  Aufsatze  als  charak- 
teristisch für  die  Onanie  anspricht.  Kein  Kopfdruck,  keine  leichte  Ermüd- 
barkeit (höchstens  etwas  Mattigkeit),  keine  Dyspepsie,  keine  Stuhlverstopfun-* 
und  keine  Spinalirritation! 


J)  Die  Sexualität  in  der  Ätiologie  der  Neurosen.  Sammlun- 
kleiner  Schriften  zur  Neurosenlehre.  Erster  Band.  (Franz  Deuticke,  1906,  Leipzig  und 
Wien.)  Dort  heißt  es  wörtlich:  „Die  Neurasthenie  läßt  sich  jedesmal  auf 
einen  Zustand  des  Nervensystems  zurückführen,  wie  er  durck 
exzessive  Masturbation  erworben  wird."  (S.  187.)  Jetzt  möchte  Freud  diese 
Behauptung  abschwächen. 


.  ', 


Ouauie  und  Xeurose. 


49 


Die  Symptome  Mattigkeit  und  Reißen  in  den  Gliedein  machen  doch 
keine  „Krankheit"  aus!  Das  Reißen  ist  ausgesprochen  rheumatischer  Natur. 
Auf  die  Psychologie  dieses  Falles  will  ich  nicht  eingehen.  Hier  stammt  die 
Libido  aus  einem  Gefühl  der  Unterwerfung  unter  das  Weib,  mit  dem  er  mög- 
licherweise seine  Schwäche  geschickt  maskiert.  Denn  die  Episode  bei  der 
Merctrix  beweist,  daß  er  in  der  Phantasie  auf  eine  Demütigung  eingestellt 
ist,  sie  aber  in  der  Realität  nicht  vertragen  kann.  Aber  allen  Sexologen  sei 
dieser  Fall  zur  Beachtung  empfohlen,  wenn  sie  von  den  Schäden  der  Onanie 
sprechen.  Ich  verweise  auf  einen  anderen  Fall,  den  ich  in  den  „Diskussionen" 
erwähnt  habe.  Ein  hoher  Vierziger,  der  täglich  onanierte  und  außerdem  noch 
täglich  einen  Kongressus  mit  seiner  Frau  ausführte,  dabei  über  eine  ausge- 
zeichnete Potenz  verfügte,  wofür  ich  das  Zeugnis  seiner  Frau  anführen  kann, 
die  er  während  eines  Kongressus  mehrmals  zum  Orgasmus  brachte. 

Ich  kenne  sehr  viele  Männer  und  Frauen,  welche  gegen  sich  ge- 
wütet haben,  in  der  Absicht,  sich  auf  diese  süße  Weise  umzubringen. 
Ähnlich  gesteht  ja  auch  Goethe,  daß  er  in  Leipzig  gegen  seine  physische 
Natur  gewütet  habe.  So  kenne  ich  eine  Frau,  welche  sehr  lange  Zeit 
bis  zu  sechs  Malen  in  der  Nacht  masturbierte.  Sie  las  von  Japanerinnen, 
die  sich  durch  Einführen  von  kleinen  Silberkugeln,  die  durch  Schaukeln 
zur  Vibration  gebracht  werden,  erregen  und  schaffte  sich  einen  Vibrator 
an,  den  sie  angeblich  gegen  Schmerzen  verwenden  mußte.  Sie  benützte 
den  Vibrator  zur  Erregung  der  Klitoris,  mitunter  auch  zur  inneren  Er- 
regung, so  daß  sie  einen  außerordentlichen  Orgasmus  erzielte.  Während 
der  Zeit  der  Onanie,  die  in  der  Tat  ein  ausgesprochener  Onanismus  war. 
blühte  sie  auf  und  nahm  um  acht  Kilo  an  Gewicht  zu.  Erst  der  Kampf 
gegen  den  Vibrator  begann  eine  Neurose  auszulösen,  die  bald  ver- 
schwand, als  sie  zu  ihrer  Befriedigung  zurückkehrte.  Sie  wollte  von 
mir  nur  wissen,  ob  sie  wirklich  rückenmarksleidend  werden  müßte, 
wenn  sie  die  Onanie  nicht  aufgeben  würde.  Versuche  einer  analytischen 
Erforschung  ihres  Sexuallebens  wurden  zurückgewiesen.  Es  wären 
Dinge,  über  die  sie  mit  keinem  Menschen  in  der  Welt  sprechen  könne. 
Ich  sah  sie  nach  einigen  Jahren  zufällig  auf  der  Straße.  Sie  sah  blühend 
aus  und  behauptete,  vollkommen  gesund  zu  sein.  Über  die  Art  der 
weiteren  Befriedigung  war  nichts  zu  eruieren. 

Also  auch  das  Übermaß  der  Onanie,  der  furchtbare  „Onanismus", 
zu  dem  die  Onanie  führen  kann,  scheint  mir  nicht  so  gefährlich  zu  sein, 
wie  wlr  es  lesen  und  hören.  Die  Krankengeschichten  erzählen  uns  immer 
nur  von  Menschen,  die  im  Kampfe  mit  der  Onanie  stehen  und  infolge  des 
Katzenjammers  erkranken  oder  die  nach  der  Abstinenz  und  infolge  der 
t  nanieabstinenz  erkranken.  Immer  sind  es  die  Reue,  das  Gewissen,  der 
Kampf,  die  die  Onanisten  krank  machen.  Ich  kenne  einen  Jüngling,  der 
durch  viele  Monate  in  geradezu  exzessiver  Weise  onaniert  hatte.  Er 
onanierte  jede  Nacht  mehrere  Stunden  hintereinander,  wobei  er  fünf- 

Stekel,  StörunRun  ,dos  Trinb-  und  Affoktlabens.  II.  2.  Ana.  4. 


50 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


bis  sechsmal  ejakulierte.  Er  sah  gar  nicht  schlecht  aus  und  zeigte  sehr 
unbedeutende  somatische  und  geistige  Störungen.  Es  war  ein  frischer 
und  munterer  Junge,  der  sich  auch  hervorragend  künstlerisch  betätigte. 
Er  gab  die  Onanie  auf  meinen  Rat  auf  und  wurde  ein  Frauenjäger.  Er 
war  ein  sexueller  Athlet  und  hatte  großes  Glück  bei  Frauen  und  das 
Unglück,  ein  Mädchen  zu  verführen,  das  er  heiraten  muße.  Er  stellte 
sich  mir  dieser  Tage  als  Familienvater  vor.  Obwohl  er  seit  früher 
Jugend  und,  wie  gesagt,  in  den  erwähnten  Monaten  exzessiv  onaniert 
hatte,  konnte  ich  keinerlei  Folgen  der  exzessiven  Onanie  konstatieren. 
Man  kann  ja  behaupten,  dieser  Jüngling  habe  eine  außerordentlich 
kräftige  Sexualkonstitution  aufzuweisen.    Sicherlich! 

Diese  Konstitution  hat  ihn  ja  eben  zur    exzes- 
siven B  e  t  ät  i  gung  g  etr  i  eb  en.  Die  Onanie  soll  leicht  zur  Un- 
maßigkeit  führen.    Ich  habe  das  nie  beobachtet.    Der  Geschlechtstrieb 
aßt  sich   nie  unterdrücken.    Aber  er  läßt    sich  auch  nicht  so    leicht 
künstlich  steigern,  als  man  gemeiniglich  annimmt.    Wenn  die  Libido 
abgeführt  wird,  so  entfällt  der  Anreiz  zur  Onanie.  Mensehen,  di  e 
sehr  oft  onanieren,  haben  ein  sehr  großes  Bedürf- 
nis. Wie  lächerlich  ist  es,  nach  Martin  Luther  den  Menschen  Regeln 
vorzuschreiben!    Unsere  nach  ärztlichen  Imperativen    hungernde  Zeit 
verlangt  durchaus  Vorschriften  für  die  Häufigkeit  des  Verkehres     Es 
gibt  auch  da  keine  Vorschriften.  Alles  richtet  sich  nach  dem  Bedürfnis. 
Ich  kenne  Ehemänner,  die  durch  viele  Jahrzehnte  den  Koitus  täglich 
ausgeführt  haben,  andere,  die  sehr  wenig  Bedürfnis  haben.    Ich  habe 
auch    nie    beobachten    können,     daß    häufiger    Geschlechtsgenuß    die 
Lebensdauer  abkürzt.1)   Ein  starker  Trieb  verlangt  eine  stärkere  Be- 
tätigung.   Ich   habe   immer    wieder    gefunden,    daß    die 
Mensehen    erkranken,    wenn  sie    ihrer   inneren  Natur 
und  ihren  Bedürfnissen  aus  den  verschiedensten 
Motiven  Gewalt  antun.2) 


*)    Ausführliches    darüber    in    meiner   Broschüre:     „Keuschheit   und   Gesundheit" 
0  erlag  Paul  Knepler,  Wien)  und  in  Band  IV:  „Die  Impotenz  des  Mannes". 

2)  Es  kommt  vor,  daß  Onanisten  einen  onanistischen  Akt  erzwingen  wollen 
obgle.ch  keine  Erektion  vorhanden  ist.  (Auch  Frauen  versuchen  oft  ohne  Libido  einen 
Orgasmus  zu  erzwingen.)  Mitunter  gelingt  es,  die  Libido  aufzupeitschen.  Aber  das  ist 
nur  der  Fall,  wenn  irgend  eine  tiefverborgene  Komponente  der  Sexualität  (Kannibalismus- 
Vampinsmus-Nekrophilie),  die  einem  strengen  Veto  unterliegt,  vordringen  will  Dann 
steht  der  „Wille  zur  Lust"  gegen  den  „Willen  zur  Macht  über  sich  selbst".  In  solchen 
Fällen  handelt  es  sich  immer  um  schwere  seelische  Konflikte,  deren  Lösung  nur  durch 
eine  eindringliche  Analyse  möglich  ist.  Auch  Menschen,  die  unter  unsäglichen  Kämpfen 
und  Qualen  die  Onanie  aufgegeben  haben,  scheinen  später  unfähig  zu  sein,  auf  diesem 
autoerotischen  Wege  -Orgasmus  zu  erzielen.    Die  Hemmungen  sind  zu  groß 


Onanie  und  Neurose.  51 

Und  es  gibt  eben  viele  Menschen,  welche  ohne  die  Onanie  nicht 
leben  können.  Nimmt  man  ihnen  die  Onanie,  so  verliert  das  Leben  für 
sie  jeden  Reiz,  wie  ich  es  in  meinen  Ausführungen  über  den  Selbstmord 
nachgewiesen  habe. 

Die  Onanie  ist  für  viele  Menschen  deshalb  un- 
ersetzlich, weil  sie  für  sie  die  einzig  adäquate 
Form    der    Befriedigung    darstellt. 

Die  „spezifischen"  Phantasien  machen  die  Onanie  dem  Individuum, 
das  sich  an  sie  gewöhnt  hat,  unentbehrlich.  Sie  können  in  den  seltensten 
Fällen  von  der  Wirklichkeit  erreicht  und  durch  eine  nur  einigermaßen 
befriedigende  Realität  abgelöst  werden.  So  wird  die  Onanie  zur  einzigen 
adäquaten  Form  der  Befriedigung  für  viele  Menschen.  Am  klarsten 
sehen  wir  das  an  der  Homosexualität.  Von  der  großen  Bedeutung  der 
Homosexualiät  für  die  Neurosen  und  unsere  ganze  Kultur  läßt  sich  die 
Schulweisheit  noch  lange  nichts  träumen,  obwohl  die  Arbeiten  unserer 
Schule  aller  Welt  hätten  die  Augen  öffnen  können.  Wie  viele 
Homosexuelle  gibt  es,  die  es  selbst  nicht  Avissen! 
Deren  ganze  Neurose  eine  Flucht  vor  den  homo- 
sexuellen Regungen  darstellt!  Für  alle  diese 
Menschen,  ebenso  für  die  bewußt  Homosexuellen, 
die  sich  vor  einem  homosexuellen  Akte  aus  ver- 
schiedenen Gründen  scheuen,  ist  die  Onanie  das 
einzige  Surrogat,  das  ihnen  ein  gewisses  Ausleben 
der  Triebe  gestattet.  (Es  ist  ja  eigentlich  jede  Onanie  ein 
homosexueller  Akt  und  dient  auch  beim  sogenannten  Normalen  zur  Be- 
friedigung der  nie  fehlenden  homosexuellen  Komponente.) 

Aber  wie  viele  andere  verbotene  Regungen  können  durch  die 
Onanie  einen  Ausdruck  und  eine  Abfuhr  finden!  Soll  ich  die  ver- 
schiedenen Formen  des  Fetischismus,  des  Sadismus,  des  Masochismus  ' 
die  kriminellen  Regungen  erwähnen?  Nimmt  man  diesen  Menschen  die 
Onanie,  so  werden  sie  unglücklich  und  sterben  daran.  Es  ist  eine 
billige  Phrase,  solchen  Kr  anken  zu  säg  en-  Gehen 
Sie  zum  Weibe  oder:  Suchen  Sie  sich  einen  Mann. 
Wie  viele  alte  Jungfern,  keusche  Witwen,  einsame  Hagestolze  machen 
sich  das  Leben  nur  durch  die  Onanie  erträglich,  die  sie  wenigstens  keinen 
sozialen  Gefahren  aussetzt!  Ich  habe  zahlreichen  jungen  Leuten  und 
auch  älteren  den  Rat  gegeben,  den  normalen  Geschlechtsverkehr  aufzu- 
suchen. In  vielen  Fällen  ist  das  unmöglich,  weil  die  Onanisten  bei  dem 
Weibe  impotent,  die  Frauen  beim  Verkehre  anästhetisch  sind.  Aber  nicht 
weil  die  Onanie  sie  impotent  und  anästhetisch  gemacht  hat.  Nein!  Weil 
sie  gar  nicht  das  Weib  (respektive  den  Mann)  suchen.  Emanzi- 
pieren   wir    uns    einmal    in    sexuellen    Dingen    von 

4* 


52 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


dem  Kanon  des  Normalen,  der  in  Wirklichkeit 
nicht  existiert!  Der  Homosexuelle  kann  heiraten  und  Kinder 
zeugen  und  trotzdem  unbefriedigt  sein,  weil  er  die  ihm  adäquate  Form 
der  Sexualbefriedigung  nicht  findet.  Er  erkrankt  unter  Umständen  an 
einer  Angstneurose,  die  er  verliert,  wenn  er  sich  durch  eine  mäßig  be- 
triebene Onanie  einen  Ersatz  verschafft. 

Würde  man  die  Onanie  ganz  unterdrücken  können,  die  Zahl  der 
Sexualverbrechen  würde  ins  Unermeßliche  steigen.  Auch  die  Kriminali- 
tät würde  sich  rapid  verbreiten.  Ich  will  liier  nur  ein  einziges  Beispiel 
anführen.  Ich  konnte  bei  einem  Onanisten  nachweisen,  daß  er  mit  der 
Phantasie  onaniert,  seinen  Vater  zu  erschlagen,  wohlgemerkt  mit  der 
unbewußten  Phantasie.  Der  Penis  (der  Gebärvater)  wurde  ihm  zum 
Symbol  des  Vaters,  die  Ejakulation  war  ein  Blutstrom,  der  dem  Leben 
des  „Erzeugers"  ein  rasches  Ende  mächte.  Das  Kollabieren  des  Phallus 
symbolisierte  das  Sterben.1)  Doch  diese  Phantasie  ist  nur  eine  der 
Phantasien  aus  den  unzähligen,  die  diesem  Kranken  zu  Gebote  standen. 
Er  spielte  in  der  Onanie  alle  Rollen,  ähnlich  wie  es  der  geniale  Ent- 
deckerblick Freuds  für  den  hysterischen  Anfall  nachgewiesen  "hat.  Er 
war  Weib  und  Mann  zugleich  (bisexuelle  Tendenzen) ,  also  aktiv  und 
passiv  beteiligt.  Je  nach  der  Lage  konnte  er  die  eine  oder  die  andere 
Rolle  spielen,  meistens  beide  zugleich.  Erst  die  Analyse  konnte  ihn 
von  diesen  wilden  Phantasien  befreien,  indem  sie  alle  ans  Licht  des 
Tages  zog  und  ihm  so  den  Weg  zum  Weibe  frei  machte. 

Ärzten,  welche  die  Schleichwege  neurotischer  Phantasien  nicht 
kennen,  mag  diese  Schilderung  lächerlich  und  phantastisch  vorkommen. 
Psychotherapeuten  kommen  bald  darauf,  daß  ihre  Kranken  bestimmte 
Rollen  spielen  und  bestimmte  Theaterstücke  aufführen.  Der  eine  ist 
Christus,  der  andere  Judas,  der  dritte  Ahasver.  Es  gibt  unter  ihnen 
einen  Faust,  einen  fliegenden  Holländer,  einen  Napoleon,  ein  Gretchen. 
eine  Ophelia,  ein  Lottchen  und  eine  Messalina.  Je  stärker  die  Tätigkeit 
der  Phantasie  ist,  desto  hartnäckiger  wird  die  Fiktion  festgehalten.2) 
Ich  kenne  Patienten,  welche  den  verlorenen  Sohn  spielen  und  alles  so 
inszenieren,  daß  die  Tatsachen  des  Lebens  sich  mit  ihren  Phantasien 
decken.  In  der  Onanie  wird  Jede  Phantasie  reichlich  ausgenützt.  Ich  ' 
kenne  eine  Dame,    welche   die  Desdemona  posiert,    immer  mit    der 

1)  Sein  tiefes  Schuldbewußtsein  stammte  aus  dieser  Quelle.  Er  gab  die  Onanie 
auf  und  erkrankte  an  einer  schweren  Zwangsneurose.  jEs  gelang  ihm,  die  Sexualität 
so  zu  unterdrücken,  daß  er  keine  Erektion  mehr  hatte.  Er  wurde  keusch  —  aber 
vollkommen   lebensunfähig. 

2)  Vergleiche  „Schauspieler  des  Lebens"  in  „Nervöse  Leute"  (Wien 
1911)  und  „Der  Neuro  tiker  als  Schauspieler"  (Zentralbl.  f.  Psvchoanalv,* 
I.  Bd.,   1911). 


Onanie  ,uud  Neurose. 


53 


Phantasie  onaniert,  daß  sie  ein  schwarzer  Mann  erwürgt.  Im  Momente 
des  Erwürgens  tritt  der  Orgasmus  auf. 

Eine  andere  Patientin  onanierte  mit  der  Phantasie,  ihre  Mutter 
zu  ermorden.  Sie  machte  sich  später  heftige  Vorwürfe.  Sie  habe  durch 
die  Onanie  ihre  Gebärmutter  ruiniert.  Sie  habe  sich  etwas  „innerlich" 
zerrissen.  Sie  habe  deshalb  keine  Kinder  und  sei  deshalb  in  der  Ehe 
frigid.  Das  sei  die  gerechte  Strafe  für  die  schwere  Sünde  der  Onanie. 
Wir  sehen  aber,  daß  diese  Vorwürfe  sich  eigentlich  nicht  auf  den 
onanistischen  Akt  als  solchen,  sondern  auf  die  den  Akt  begleitenden 
Phantasien  beziehen.  Das  verraten  uns  die  hypochrondischen,  nach  dem 
Prinzipe  der  Talion  aufgebauten  Befürchtungen,  sie  habe  ihre  „G  e- 
bärmutte  r"  ruiniert  usw.  Wir  sehen,  wie  kompliziert  die  Frage  des 
Schuldbewußtseins  bei  der  Onanie  ist. 

Bevor  wir  aber  zur  Analyse  des  Schuldbewußtseins  bei  der  Onanie 
schreiten  und  die  für  unsere  Ausführungen  wichtigen  Schlußfolgerungen 
ziehen,  müssen  wir  uns  noch  mit  der  Analyse  einzelner  Fälle  und  be- 
sonders mit  den  Formen  der  larvierten  Onanie  eingehend  beschäftigen. 
Das  Verständnis  der  Onanie  wird  uns  das  Verständnis  aller  Paraphilien 
vermitteln.  Die  meisten  Paraphilien  sind  mit  onanistischen  Akten  ver- 
bunden, d.  h.,  sie  spielen  sich  nur  in  der  Phantasie  des  Autoerotisten 
ab.  Sie  sind  oft  nur  Umwege  und  Schleichwege  der  Onanie. 
Halten  wir  die  wichtigsten  Errungenschaften  fest: 

1.  Die  Onanie  ist  nicht  die  Ursache  der  Neu- 
rosen. Die  Neurose  bricht  aus,  wenn  die  Onanie 
aufgegeben   wird. 

2.  Die  Onanie  bezieht  ihre  psychische  Wertig- 
keit aus  der  sie  begleitenden  spezifischen  Phan- 
tasie. 

3.  Bei  vielen  Individuen  erlischt  die  Lebens- 
freude, wenn  sie  die  Onanie  aufgeben. 

4.  Die  psychischen  und  organischen  Schädi- 
gungen der  Onanie  und  des  Onanismus  existieren 
nur  in  der  Phantasie  der  Ärzte. 


Die  Onanie. 

in. 

Larvierte  Onauie. 

Es  gibt  nur  eine  Art  Liebe,  aber  tau- 
send verschiedene  Nachahmungen. 

Im  Rochefoucauld. 

Kampf  und  Spiel  sind  die  Lebenselemente  .  des  Menschen.  In  der 
Neurose  richten  sich  Kampftrieb  und  Spieltrieb  nach  innen.  Man 
kämpft  mit  sich  selbst  und  spielt  mit  und  vor  sich  selbst. 

Auch  in  der  Onanie  muß  sich  der  Trieb  der  Selbstbefriedigung  als 
eine  Form  des  Kampfeß  und  als  eine  Art  von  Spiel  äußern.  Uns  inter- 
essieren jetzt  besonders  die  Formen,  in  denen  der  Kampf  zum  Spiele 
wird.  Es  gibt  unzählige  Menschen,  die  sich  brüsten,  sie  hätten  die 
Onanie  sehr  leicht  überwunden.  Die  nähere  Erforschung  des  Falles 
zeigt  aber,  daß  sie  eine  bewußte  Onanie  in  eine  spielerische  halbbewußte 
oder  unbewußte  verwandelt  haben.  Daß  so  viele  Menschen  das  Auf- 
geben der  Onanie  leicht  vertragen,  hängt  von  zwei  Momenten  ab. 
Erstens  war  die  Onanie  für  sie  nur  eine  Notonanie  und  konnte  von  dem 
Geschlechtsakt  abgelöst  werden.  Die  spezifische  begleitende  Phantasie 
war  eben  nur  der  Geschlechtsakt  ohne  Komplikation,  ohne  Paraphilie, 
ohne  erschwerende,  nicht  realisierbare  Begleitumstände.  Zweitens  aber 
onanieren  diese  Individuen  im  Schlafe  weiter.  Man  nennt  diese  Form 
der  Onanie  Pollution.  Es  gibt  aber  viele  Menschen,  die  gar  nicht  wissen, 
ob  und  daß  sie  eine  Pollution  gehabt  haben,  und  dann  stolz  verkünden, 
daß  sie  sehr  lange  Zeit  abstinent  leben  können.  Wir  werden  bald  eine 
ganze  Serie  von  Formen  larvierter  Onanie  kennen  lernen.  Sie  ist  nach 
meinen  Erfahrungen  häufiger  als  die  bewußte  Onanie.1)  Ich  zitiere  nach 
Rohleder  einen  sehr  charakteristischen  Fall  von  Folien  Cabot. 

Fall  Nr.  10.  Ein  geistig  und  körperlich  gesunder,  auch  auf  sexuellem 
Gebiete  normaler  Student  von  22  Jahren  träumte,  daß  er  ohne  Gefahr  für 
seine  Gesundheit  masturbieren  könne,  ja  diese  Art  der  sexuellen  Befriedigung 

')  Rohleder   s.chätzt   auf  hundert   bewußte   Onanisten    einen   unbewußten ! 


.1 


Larvierte  Onanie. 


55 


für  ihn  die  beste  sei.  Post  ejaculationem  erwachte  er,  hochgradig  deprimiert, 
unwillig,  sich  selbst  zum  Ekel.  Die  Folge  war  Verlust  des  eigenen  Selbst- 
vertrauens und  Furcht  vor  geistiger  Erkrankung.  Alle  Anstrengung  zur 
Heilung,  Brom,  Regulierung  der  Diät,  der  körperlichen  und  geistigen  Betäti- 
gung, selbst  Festbinden  der  Hände  und  ein  Verband  um  die  Genitalien  sind 
erfolglos.  Lederhandschuhe,  die  angelegt  wurden  (im  Handgelenk  mit  einem 
Schlüssel  verschlossen!),  wurden  trotzdem  des  Nachts  im  Traume  geöffnet, 
nachdem  Patient  im  bewußtlosen  somnambulen  Zustand  den  in  einer"  Vase 
verborgenen  Schlüssel  gefunden  hatte.  Nach  dem  Erwachen  vollständige 
Amnesie.   Heilung  durch  eine  Ehe.  .  .  . 

Wie  anders  waren  doch  die  Alten!  Sie  hätten  die  Stimme  des 
Traumes  als  göttliche  Eingebung  aufgefaßt,  wie  wir  solche  Aufforde- 
rungen zur  Onanie  häufig  bei  Geisteskranken  bemerken  können.  Sie 
berufen  sich  auf  himmlische  Stimmen,  die  von  ihnen  das  Onanieren  ver- 
langen. Ich  behandelte  einmal  einen  etwas  exaltierten  Studenten,  der 
mir  nach  langem  Zögern  mitteilte,  er  allein  habe  das  Mittel  gefunden, 
das  Leben  zu  verlängern,  ja  vielleicht  unsterblich  zu  werden.  Dies  Mittel 
war  die  Onanie  und  er  erstaunte  später  nicht  wenig,  als  er  hörte,  dieses 
Mittel  wäre  nach  den  Behauptungen  so  vieler  Ärzte  so  schädlich, 
während  eine  innere  Stimme  das  Gegenteil  behauptet  hätte.  Solche 
Fälle  von  Onanie  im  Schlafe  und  Traume,  wie  der  oben  zitierte,  habe 
ich  häufig  beobachtet.  Ich  habe  diesen  nur  referiert,  um  zu  zeigen,  wie 
barbarisch  in  der  modernen  Zeit  der  Geschlechtsinstinkt  mißhandelt 
wird.  Die  Heilung  durch  Ehe  beweist,  daß  es  sich  nur  um N  eine  Not- 
onanie gehandelt  hat  und  daß  dem  jungen  Manne  nichts  fehlte. als  eine 
entsprechende  Ergänzung.  Statt  dessen  erhielt  er  Lederhandschuhe  und 
Keuschheitsschlösser,   die  an  das  graueste   Mittelalter   erinnern! 

Gleich  der  nächste  Fall  wird  u-ns  zeigen,  wie  ein  Mann  seine  Pollu- 
tionen sehr  richtig  als  „unbewußte  Masturbation"  auffaßte. 

Fall  Nr.  11.  Ich  erhalte  von  einem  Kranken  folgenden  Brief: 

Sehr  geehrter  Herr  Doktor! 

Ich  versuche  es,  Ihnen  meinen  gegenwärtigen  trostlosen  Zustand  sowie 
die  Entwicklung  meines  Leidens  zu  schildern. 

Ich  bin  gegenwärtig  23  Jahre  alt.  In  der  Elementarschule  war  ich  ein 
sehr  lebhafter' und  talentierter  Junge,  doch  habe  ich  damals  an  periodischem 
Kopfschmerz  und  Bettnässen  gelitten,  sonst  war  ich  nie  ernstlich  krank. 

Im  13.  Lebensjahre  lernte  ich  von  einem  meiner  Schulkameraden  die 
Onanie  kennen,  ich  betrieb  sie  fast  täglich  und  dachte  dabei  immer  an  den 
normalen  Koitus;  erst  später  bin  ich  davon  abgekommen  und  habe  unter  dem 
Eindrucke  der  Angst  masturbiert. 

Bei  jeder  Schularbeit  habe  ich  gefürchtet,  ich  könnte  zur  rechten  Zeit 
nicht  fertig  werden,  sofort  bekam  ich  eine  große- Angst,  die  sich 
rasch  steigerte  und  mit  der  Ejakulation  endete,  wobei  es 
aber  zu  keiner  vollständigen  Erektion  gekommen  war. 


56  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

Anfangs  habe  ich  mir  gar  kein  Gewissen  daraus  gemacht,  doch  höchstens 
einmal  täglich  das  Laster  betrieben  und  fühlte  mich  ganz  gesund.  Später  aber 
liel  mir  ein  Buch  in  die  Hand,  das  die  schrecklichen  Folgen  der  Selbstbe- 
fleckung schilderte.  Von  dem  Zeitpunkte  habe  ich  immer  einen  schweren 
seelischen  Kampf  auskämpfen  müssen,  ehe  ich  nachgab.  Ich  habe  mir  immer 
fest  vorgenommen,  es  nie  mehr  zu  wiederholen,  doch  alle  Vorsätze  halfen 
nicht,  ich  wurde  immer  rückfällig.  Die  Folge  war  wieder  eine  schwere  De- 
pression. 

Aus  diesen  Kämpfen  kam  ich  nie  heraus,  ich  wurde  traurig,  zog  mich 
zurück,  wurde  zerstreut,  vergeßlich,  kam  mit  meinen  Studien  nicht  recht 
vorwärts  und  bedurfte  im  Obergymnasium  ständiger  Nachhilfe,  obwohl  ich 
in  den  ersten  zwei  Klassen  Vorzugschüler  gewesen  war. 

In  der  Sexta  verliebte  ich  mich  in  die  14jährige  Tochter  meines  neuen 
Kostgebers.  Es  war  meine  erste  Liebe,  die  auch  erwidert  wurde.  Rein  plato- 
nisch. Nie  habe  ich  Erektionen  bei  der  Anwesenheit  des  Mädchens  gehabt, 
obwohl  wir  oft  längere  Zeit  beisammen  waren  und  uns  viel  geküßt  und  um- 
armt hatten.  Diese  innige  Freundschaft  dauerte  so  ein  ganzes  Jahr,  ich  wurde 
dem  Müßiggang  und  den  Grübeleien  über  mein  Leiden  entzogen  und  kämpfte 
auch  mit  mehr  Erfolg  gegen  dasselbe,  ich  brachte  es  sogar  zustande,  1  bis 
2  Wochen  lang  nicht  zu  masturbieren  und  war  mit  mir  zufrieden.  Doch  bald 
wurde  ich  auf  die  Pollutionen  aufmerksam,  die  ich  bis  dahin  nicht  gekannt 
hatte.  Ich  hielt  sie  für  unbewußte  Masturbation  und  wußte 
nun,  daß  es  für  mich  keine  Rettung  mehr  gab,  denn  sobald  ich  mit  der  Onanie 
aufhörte,  kamen  die  Pollutionen,  die,  wie  ich  gelesen  hatte,  ebenfalls  Irr- 
sinn und  Impotenz  zur  Folge  haben ;  ich  onanierte  lieber  bewußt  und 
hatte  nicht  mehr  unter  den  Pollutionen  zu  leiden. 

Gelegentlich  versuchte  icli  einmal  mit  einem  Bauernmädchen  den  Koitus 
auszuführen,  der  infolge  unvollständiger  Erektion  mißlang.  Ich  hielt  mich 
also  für  impotent  und  wagte  einen  letzten  Versuch,  indem  ich  mich  an  einen 
Spezialisten  wandte;  der  erteilte  mir  jedoch  den  Rat,  mich  zur  Kur  in  seine 
Heilanstalt  zu  begeben,  wobei  er  mir  allerdings  vollständige  Heilung  ver- 
sprach, doch  konnte  ich  teils  aus  materiellen  Gründen,  teils  aus  Furcht,  mein 
Leiden  könnte  allen  meinen  Bekannten  verraten  werden,  den  Rat  nicht 
befolgen. 

Ich  gab  jede  Hoffnung  auf  Rettung  auf,  wechselte  das  Kosthaus,  um 
mit  dem  Mädchen  nicht  zusammen  zu  kommen,  das  mich  an  ein  nie  zu  er- 
reichendes Glück  erinnerte. 

Ich  mied  jede  Gesellschaft,  fühlte  mich  tief  unglücklich  und  habe  oft 
an  Selbstmord  gedacht. 

In  der  Schule  machten  mir  die  einfachsten  Sachen  Schwierigkeiten,  mein 
Gedächtnis  wurde  geschwächt  und  ich  absolvierte  mühsam  das  Gymnasium. 

Nach  der  Matura  setzte  ich  mir  ein  anderes  Ziel.  Ich  beschloß,  auf 
alle  Freuden  der  Welt  zu  verzichten  und  mich  ganz  der 
Wissenschaft  zu  widmen. 

Das  erste  Universitätsjahr  habe  ich  auch  wie  eine  Maschine  gelebt,  mit 
niemandem  verkehrt  und  fort  studiert,  so  daß  ich  am  Ende  des  zweiten 
Semesters  die  ersten  drei  Prüfungen  mit  Auszeichnung  bestehen  konnte.  Doch 
diese  Erfolge  brachten  mir  keine  Ruhe  und  Zufriedenheit,  ich  bin  immer 
traurig  und  unglücklich,  besonders  wenn  ich  sehe,  wie  meine  Kollegen  lustig 
leben  und  immer  voll  Witz  und.  Humor  sind. 


Larvierte  Onanie.  q"j 

Mein  Leben  ist  für  mich  eine  ständige  Qual,  bei  der  geringsten  Ver- 
anlassung habe  ich  eine  große  Angst,  das  Herz  schlägt  dann  sehr  heftig  und 
ich  bin  dann  ganz  krank.  Mein  Gedächtnis  ist  sehr  geschwächt  und  ich  habe 
keine  Lust  zu  irgend  einer  Beschäftigung.  Ich  habe  nur  wenig  Hoffnung,  daß 
mir  noch  Heilung  zuteil  werden  kann,  da  ich  fürchte,  daß  mein  Leiden  schon 
zu  weit  vorgesehritten  ist,  doch  bitte  ich  Sie,  Herr  Doktor,  wenn  irgendwie 
möglich,  mich  der  körperlichen  und  geistigen  Vernichtung  zu  entreißen,  der 
ich  sonst  ganz  sicher  entgegensehe.  .  .  .  stud.  med.  G.  H. 

Der  Fall  zeigt  uns  die  bekannte  Form  der  Onanie  mit  Ausnützung 
von  Affekten.  Er  onaniert  mit  Hilfe  der  Angst.  Ferner  sehen  wir,  wie 
schon  durch  die  Angst,  die  Onanie  erzeuge  Impotenz,  der  Jüngling  bei 
seinen  Versuchen  impotent  ist,  ja  impotent  sein  muß.  Auch  das  Schreck- 
bild des  Irrsinns  erscheint  an  der  Bildfläche.  Wir  sehen  ferner  die  oft 
betonte  Askese;  er  will  auf  alle  Freuden  der  Welt  verzichten  und  sich 
der  Wissenschaft  widmen.  Die  Onanie  mit  Hilfe  der  Angst  gibt  schlechte 
Aussichten  für  eine  Überleitung  des  sexuellen  Bedürfnisses  auf  das 
Weib,  weil  er  in  dieser  Situation  immer  Angst  produzieren  wird  und 
bestenfalls  mit  einer  Ejaculatio  praecox  reüssiert,  außer  es  gelänge 
einer  analytischen  Behandlung,  ein  „redressement  psychique"  zu  er- 
zielen. 

Die  Einsicht  in  das  Wesen  der  Pollution  macht  dem  angehenden 
Arzte  alle  Ehre,  sie  wird  von  vielen  seiner  fertigen,  erfahrenen  Kollegen 
nicht  gekannt. 

Viel  tiefer  in  alle  unsere  Probleme  führt  uns  der  nächste  Fall: 

Fall  Nr.  12.  Im  Sommer  dieses  Jahres  konsultierte  mich  eine  Frau 
wegen  Schlaflosigkeit.  Die  Form  der  Schlaflosigkeit  war  eine  solche,  wie 
man  sie  bei  der  Angstneurose  sehr  häufig  beobachtet.  Die  Dame  schläft  bald 
ein,  wacht  aber  plötzlich  mit  Herzklopfen  und  einem  heftigen  Angstgefühle 
auf,  wälzt  sich  stundenlang  auf  dem  Lager  und  kann  nicht  wieder  einschlafen. 
Durch  den  Kopf  gehen  ihr  allerlei  wirre  Gedanken,  über  die  sie  keine  Aus- 
kunft geben  könne.  Das  Leiden  sei  wahrscheinlich  durch  die  Onanie  ent- 
standen, welche  sie  seit  ihrer  Jugend  bis  vor  einigen  Monaten  betrieben  habe. 
Sie  wisse  von  Ärzten  und  aus  Büchern,  daß  sie  sich  die  Nerven  durch  das 
Laster  vollkommen  ruiniert  habe.  Sie  mache  sich  die  heftigsten  Vorwürfe. 
Ihr  Mann  wisse  von  der  Schlaflosigkeit  gar  nichts,  sie  fürchte  sich,  ihm  die 
Krankheit  einzugestehen,  weil  er  sich  denken  werde:  Aha  —  sie  hat  sicher 
onaniert!  Jetzt  sei  zu  der  Schlaflosigkeit  noch  eine  quälende  Grübelsucht 
gekommen.  Sie  müsse  immer  denken,  wie  glücklieh  sie  sein  könnte,  wenn  sie 
nicht  onaniert  hätte.  Sie  mache  im  Geiste  der  Mutter  die  heftigsten  Vor- 
würfe, weil  sie  sie  nicht  entsprechend  belehrt  und  vom  Laster  abgehalten 
hätte.  Sie  kämpfe  mit  Selbstmordgedanken  und  wolle  nicht  länger  leben, 
wenn  ich  ihr  keinen  tiefen  Schlaf  verschaffen  würde. 

Dieser  Fall  ist  typisch.  Unsere  Kranke  war  so  lange  gesund,  als  sie 
onanierte.  Einige  Wochen  nach  der  Abstinenz  setzte  die  Schlaflosigkeit  und 
bald  darauf  die  Grübelsucht  ein.   Diese  Beobachtung  können  wir  immer  wieder 


58 


Erster  Teil.  Die  Oaauie. 


machen.  Auch  unsere  Patientin  dachte  an  Selbstmord.  Nun  gibt  es  ein 
wichtiges  Gesetz  im  psychischen  Leben,  das  der  Talion,  der  W^defvergeTtune 
Keiner  tötet  sich  selbst,  der  nicht  einen  anderen  töten  wollte  I  S2 
sieht  verlangt  unser  Fall  noch  nähere  Erklärungen 

Koitus  verbiete,  le  fügte  S  d™  ^J ^"Ä  ^  lhm  einen  häufi§en 
es  zu  Pausen  von  ÄtlT?1  ^  ^  ArZte8>  W°bei 
mädchen  zu  ihr  und  kündigte  ihr?iP  TS"  Eme\+Tagee  kam  das  Stubefl- 
„gnäd.ge  Herr"  lasse  ihr keL Ruhe  | SS**  im  *?U8e  "*«.  der 
und  sie  habe  kein  anderes  MtJ  „™  £  ?t  lg!  ?e  Schon  seit  Monaten 
kündigen.  Die  Wirkung  die!  r ^Ä£\ Unschuld  zu  wahren,  als  zu 
fürchterlichen  Szenen.  Si T^Zl iTÄ ^SL^Sf  **  *&  VOn 
reuigen  Mann  jede  Gunstbezeigung.  Was  Bt  a™ ?JS  ^  Jf7?i"rto  dem 
Vergangenheit.  Sie  war  eine  schöne  S^£,fi  S8tea  krankte'  War  ihre 
nachgestellt  hatten  und  ATöÄfet'1*^ 
Gedanke  war,  sich  zu  revanchieren    AIl2J5X*ff    k  ^   Ihp  erster 

Und  sollte  sie  jetzt  mit  40  Jahren  anWen  schlecht?  erWachsenLKinder- 
bisher  konsequent  den  Pfad  der  TugJ^^i?  ""S  naChdem  * 
so  dumm  gewesen?  Wenn  sie  die  Macht  hätte   31  V  ~  t *?rum  War  Ble 

zu  machen  und  die  ewig  Vtal^gÄ1*^ 
Gedanken  der  Revanche  näherzutreten.   Aber  der  M^S  il  S?  de? 
und  eifersüchtig  und  suchte  nach  Gelegenheiten,  um  i  der  UntZ  ^k  * 
uhren  und  so  quitt  zu  sein.    Sie  konnte  auch  nicht  ,,  o  schS?^  f6? 
wenn  sie  es  wollte.   Sie  war  zu  moralisch  erzogen.    Solange  der Mann'  |2? 
2e   «yhn   nicht   betrügen!     Dieser   Gedanke   blitzte   ihr   durch    d   ' 
W?n'  als.def  -Mann  «*nmal  fiebernd  nach  Hause  kam.    Und  JLtiuLw 
Wenn  dem  Mann   jetzt  stirbt,   so    bist   du   frei   und   kannst   machen    t 
du   wülst    Der   Mann   wurde   gesund,    das    Haus    noch   ungemTt hZ'r  IT 
bi  her.     Bald    setzten    weitere    Beseitigungsideen    ein,    die    sTch 1    v£ 
giftungsphantasien  verdichteten,  aUe  im  Dienste  der  RachetendenZen     dTI 
£n*fl  !TVareVCuh0n  ^ÄteateilB  unbewußt.    Jetzt  war  der  p^ch^Z 

S8ÄS^ da  eiü  T6il  der  Motive  und  ***  *^ss 

Und  jetzt  erst  hörte  sie  zu  onanieren  auf.  Sie  hatte  eigentlich  beim 
,1,1  FmeLKne  JmBfeiB?  gfhabt  Sie  ™  in^n  anästhetisch,  so  daß  T 
Ko  iL  Pi-  ;°r  ^^tom/betnebpe  Onanie  ihr  mehr  bedeutete  5?  der 
A-oitus.   Plötzlich  aber  kam  ihr  der  Gedank«  «io  >„k0  «-.t.  a      v  7-    A 


Larvierte  Onanie.  59 

Schuldgefühle,  die  aus  anderen  Quellen  stammen,  aber  nicht  bewußt  werden 
dürfen  und  können.   Die  Onanie  ist  der  Repräsentant  aller  Schuld. 

So  war  es  in  diesem  Falle.  Diese  Frau  machte  sich  Vorwürfe  über  die 
Todeswünsche  und  kriminellen  Phantasien.  Diese  Affekte  verschoben  sich  auf 
die  Onanie.  Jetzt  verstehen  wir  erst  ihre  Selbstmordtendenzen.  Sie  waren  die 
Strafe  für  ihre  Vergiftungsideen.  Auch  das  Aufgeben  der  Onanie  entstammte 
einem  Verdikte  des  inneren  Richters.  Sie  hatte  sich  für  schuldig  gefunden  und 
strafte  sich  mit  der  Entziehung  der  höchsten  Lust,  die  sie  kannte,  der  Onanie. 
Sie  war  aber  unfähig,  ein  Leben  ohne  Onanie  zu  tragen.  .  .  Sie  war  schlaflos, 
weil  die  wichtigste  Wurzel  der  Schlaflosigkeit  die  mangelnde  sexuelle  Befriedi- 
gung ist,  wie  ich  an  anderer  Stelle  in  meinem  Buche  „Nervöse  Angstzu- 
stände"1) ausführlich  dargestellt  habe.  Ihre  Schlaflosigkeit  hatte  aber  den 
merkwürdigen  Typus,  daß  sie  erst  ruhig  einschlief  und  dann  aus  wirren 
Träumen  plötzlich  mit  Schrecken  erwachte.  Was  für  Träume  konnten  das 
sein?  Sie  teilte  mir  einige  davon  mit.  Es  handelte  sich  um  Liebesszenen  mit 
fremden  Männern.  Sie  wachte  knapp  vor  dem  Orgasmus  oder  während  des 
Orgasmus  auf  und  fand  ihre  Hand  regelmäßig  an  ihrem  Genitale.  Sie  onanierte 
also  im  Schlafe  weiter. 

Auch  hier  sehen  wir  die  häufigste  Form  der  unbewußten  Onanie: 
die  Pollutionen.2)  Alle  Neurotiker  haben  ein  wichtiges  Prinzip,  ohne 
dessen  Kenntnis  sich  viele  ihrer  Handlungen  nicht  erklären  lassen.  Es 
lautet:  Lust  ohne  Schuld.  Die  Pollution  ist  eine  Form  der  Onanie,  für 
die  man  nichts  kann.  Die  Vorwürfe  können  sich  nicht  mehr  an  die 
eigene  Adresse  wenden.  Aber  unsere  Patientin  übernahm  auch  die  Ver- 
antwortung für  ihre  Träume.  Sie  wollte  auch  im  Traume  nicht  fallen 
und  wollte  keinen  Orgasmus  mit  der  Phantasie  einer  Sünde.  Sie  wollte 
keusch  bleiben.  Es  war  das  die  geheime  Strafe,  die  sie  sich  unbewußt 
auferlegt  hatte.  Es  setzte  dann  bei  ihr  eine  Angst  vor  der  Nacht  ein, 
die  eigentlich  nur  eine  Angst  vor  den  bösen  Gedanken  der  Nacht  war." 
Sie  schlief  nicht  ein,  weil  sie  sich  bewachen  mußte,  um  nicht  im  Schlafe 
zu  onanieren. 

Ich  will  nun  diesen  Fall  zu  Ende  referieren.  Die  Aufklärung  der 
Beseitigungsideeh,  die  offene  Aussprache  der  Patientin  hatten  einen 
ziemlich  guten  Erfolg.  Die  Kranke  konnte  mit  einem  halben  Gramm 
Adalin  fünf  Stunden  schlafen.  Aber  sie  wachte  in  der  Nacht  auf  und 
nahm  aus  Angst,  sie  könnte  schlaflos-  bleiben,  wieder  ein  halbes 
Gramm  U6w.  Nun  ist  eine  solche  Kranke  nicht  geheilt,  wenn  sie  nicht 
ohne  Schlafmittel  schlafen  kann  und  ßie  nicht  die  Angst  vor  der  Nacht 
verliert.  Diese  Angst  wollte  nicht  weichen.  Eines  Tages  jedoch  kam  sie 
glückstrahlend  zu  mir.  Sie  habe  die  ganze  Nacht  ruhig  geschlafen.  Sie 
war  geheilt.  Nach  Wochen  gestand  sie  mir,  daß  sie  er6t  schlafen  konnte, 
als  ßie  wieder  .zu  onanieren  anfing.    Ihr  Aussehen  veränderte  sich  auf- 


/)  Vgl.  Bd.  I,  3.  Aufl.,  das  Kapitel  „Schlaflosigkeit". 
s)  Vgl.  das  Kapitel  „Pollutionen"  in  Bd.  IV. 


60 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


fallend.  Sie  wurde  wieder  lebensfreudig,  konnte  lachen,  eich  unterhalten 
kurz,  sie  fühlte  sich  als  Gesunde  und  war  es  auch. 

Wo  sind  also  in  diesem  Falle  die  schädlichen' Folgen  der  Onanie» 

■  jJSüT  ,  rr,rUhig  TT""1  NutZe"  6prechen-  ohTO  «™  ^<*te8 
n  müssen,  als    Onanieadvokaten"  verschrien  zu  werden.  Denn  meiner 

tXl^'t"  diet°riead™kat-  -*■«*  weniger  Schaden 
f*  a!  d,e,.<>na';leJ8ta^a™älte-  ■  ■  Wir  ersehen  aber  aus  diesem 
Tet   VI    seZ      7     W  *?»  **  ^Bewußtseins  bei  der  Onanie 

Onante  aus^lr  ;lne0n,'rtnäCkigen  Kami'f  gegm  die  ™be<™«te 
Unanie  aus  Gründen  der  Selbstbestrafung 

Ich  kennehZwae„^nhtUnfeJ1  *T  **"  unbefa"«ene  Beobachter  machen. 
W  kenne  Zwangsneurotiker,  die  vollkommen  gesund  wurden,  an  Ge- 
wicht zunahmen  leistungsfähiger  wurden,  wenn  man  ihnen  ein  Gewisses 

mir  heTr       Sfer!,edigUn8  he^    AU»  P^^otlierapeuen    Verden 

Zw        !ff '  dle  6ChWerSten  PäIk  TOn  N««»  Jen"  sind  die  an 

geblich  vollkommen  abstinent  sind  und  nie  onaniert  haben 

4„„n  a""  »k  ,'Ch  eingangS  an«eführt,  daß  alle  Menschen  onanieren 
Au  h  diese  Abstinenten  müssen  onaniert  haben.  Und  das  Hab  n  ie 
auch  und  meistens  in  ausreichendem  Maße.  Daß  sie  es  „ Li,  Jssen 
nicht  einmal  ahnen,  zeigt  uns  die  Größe  der  Verdrtanin*  Z  «L!T  ' 
der  Spaltung  ihrer  Psyche,  zeigt  uns  die  K^tÄt^Ä 
wußtsein  und  Unterbewußtsein  dehnt.  Deshalb  sind  diese *S  so 
»chwere,  weil  es  große  Mülle  kostet,  die  infantile  und  larvierte  Onan  c 
zu  entdecken  und  bewußt  zu  machen.  Denn  alle  diese  scheinbar  Ab 
stinenten    betreiben    irgendeine    Form    der    unbewußten    (larvierten) 

Die  häufigste  ist  -  wie  schon  erwähnt  -  die  Pollution  Viele 
Menschen  nehmen  sehr  energisch  Stellung  gegen  die  Pollutionen  und 
fuhren  gegen  sie  einen  schweren  erbitterten  Kampf.  Der  Gesunde  nimmt 
nie  Pollution  als  ein  Fatum,  ja  sogar  in  manchen  Fällen  als  eine  will 
koramene  Erleichterung  auf.  Er  hat  sieb  mit  dieser  Art  der  Onanie 
ohne  „Schuld  des  Bewußtseins"  abgefunden  und  freut  sich  dieses  harn, 
osen  Betruges.  Der  Neurotiker,  dessen  die  Onanie  begleitenden  Pham 
tas.en  immer  ins  Verbotene  münden,  kämpft  gegen  die  Onanie,  weil  sie 
mit  Inzestphan  asien   kriminellen  Regungen,  „Paraphilien"  verknüpft 

K Lf F  r6Ur     St  ei"eJ  Strenge  Diat'  hartes  La«<*.  Medikamente 
Kuh  senden,  Erschöpfung  durch  physische  Arbeit,  Hypnose  usw.  de 

Pollutionen  Herr  zu  werden.  Jede  P„llution  erfüllt  ihn  mit  Sorge,  Angs 
m  d,e  Gesundheit  und  Verzweiflung.  Meistens  treten  diese  Pollutionen 

WarnZl-  n6       7  T'    ^^    durCh    eines    der  preislichen 
Süonen  v        ^  •V""'  *"  0"anieren  «*»*«-    Ma"  «ieht  die 

P ollutmnen  verschwinden,  wenn  sie  wieder  zu  onanieren  anfangen  Wir 


Larrierte  Onanie.  öl 

wissen  es  schon :  Der  normale  Geschlechtsverkehr  ist 
nicht  immer  ein  Heilmittel  gegen  die  Pollutionen. 
Man  sieht  manche  Männer,  deren  Pollutionen  vollkommen  aufhören, 
wenn  der  normale  Verkehr  aufgenommen  und  häufig  genug  ausgeübt 
wird.  Andere  jedoch  gehen  zu  einem  Weibe  und  bekommen  noch  nachher 
eine   Pollution  oder   müssen  nachher  onanieren.    Woher   kommt   das? 

Das  rührt  daher,  daß  diese  Menschen  beim  Weibe  nicht  ihre 
adäquate  Form  der  Sexualbefriedigung  gefunden  haben,  oder  daß  nur 
eine  Komponente  ihrer  Erotik  bei  dem  Akte  in  Aktion  trat,  die  anderen, 
wie  alle  hungrigen  Triebe,  auf  Erfüllung  lauern.  So  gibt  es  heimliche 
Homosexuelle,  die  selbst  nicht  wissen,  daß  sie-  homosexuell  begehren, 
welche  immer  nach  einem  Akte  bei  einer  Meretrix  onanieren  müssen. 

Also  die  verschiedenen  Formen  der  Pollutionen  sind  nichts  als 
eine  mehr  oder  minder  geschickt  larvierte  Onanie.  Manche  Patienten 
geben  das  direkt  an.  Sie  überraschen  sich  dabei,  daß  sie  im  Schlafe  die 
Hände  bei  den  Genitalien  halten,  wehren  sich  dagegen  und  versuchen, 
durch  allerlei  Manipulationen  die  Hände  außerhalb  der  Decke  zu  fixieren. 

Denn  der  Kampf  gegen  die  Pollutionen  kann  ebenso  erbittert  ge- 
führt werden  wie  gegen  die  bewußte  Onanie.  Ich  kenne  viele  Menschen, 
die  an  Schlaflosigkeit  leiden  x) ,  weil  sie  sich  vor  den  Pollutionen  und 
vor  dem  die  Pollution  einleitenden  Traum  fürchten.  Häufig  wird  der 
anstößige  Traum  vergessen.  Ein  „wüster  Kopfschmerz"  am  Morgen 
oder  ein  arger  Kopfdruck  (der  bekannte  eiserne  Reifen  Um  den  Kopf, 
lange  Zeit  ein  Stigma  der  „Neurasthenie")  verraten  dem  Psychothera- 
peuten, daß  die  Kranken  nach  dem  Erwachen  große  Anstrengungen 
gemacht  haben,  um  den  Traum  der  Nacht  zu  „verdrängen". 

Besonders  tragisch  nehmen  Jünglinge  die  gehäuften  Pollutionen. 
Es  sind  wahre  Orgien  des  Unbewußten,  die  in  wirren  wechselnden  Traum- 
bildern gefeiert  werden.  Zu  dem  Schuldbewußtsein  wegen  der  den  Traum 
begleitenden  Traumbilder  treten  noch  die  hypochondrischen  Vorstel- 
lungen. Die  erschreckten  Pollutionisten  wähnen,  daß  ihre  Gesundheit 
vollkommen  ruiniert  sei,  sie  fürchten,  daß  sie  sich  nie  mehr  im  Leben 
erholen  und  rückenmarksleidend  oder  wahnsinnig  werden  könnten.  Sie 
laufen  zitternd  von  Arzt  zu  Arzt  und  flehen  um  Hilfe.  Aber  alle  inneren 
Mittel  (Brom,  Kampfer,  Lupulin),  alle  diätetischen  Maßnahmen  er- 
weisen sich  als  machtlos  und  selbst  die  Psychotherapie  kann  vollkommen 
versagen,  wenn  die  Kranken  nicht  den  Mut  zur  Aufrichtigkeit  finden. 

Mitunter  gelingt  es,  durch  freundlichen  Zuspruch,  durch  Be- 
lehrung, durch  offene  Aussprache  die  Patienten  zu  beruhigen  und  ihnen 


1)  Vgl.  „Der  Wille    zum    Schlaf!"    Ein   Vortrag.    (Verlag  von    J.  F.  Bergmann, 
Wiesbaden  1915.) 


62 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Ruhe  und  Heilung  zu  verschaffen.  In  dem  Falle,  den  ich  jetzt  referieren 
werde,  ist  das  leider  nicht  gelungen.  Der  Fall  ist  auch  deshalb  von  Be- 
deutung, weil  der  Kranke  bald  zur  Einsicht  kam,  daß  die  Pollutionen 
nur  Onanie  wären.  Diese  Einsicht  wurde  ihm  nicht  von  mir  aufgedrängt 
Er  fand  sie  selbst.  Immer  werden  wir  unter  den  Patienten,  die  uns 
wegen  nächtlicher  Pollutionen  konsultieren,  einige  finden,  für  die  der 
Ausdruck  Pollutionen  ein  Euphemismus  für  „Onanie"  bedeutet.  Es  ist 
die  Art,  wie  sie  dem  Arzt  die  Onanie  gestehen.  Besonders  ältere 
Menschen    schämen  sich,,  zuzugeben,    daß    sie    gezwungen    sind,    zu 

ÄÄ*T ÜW  Pollutionen' die  wider  tan  **-  * der 

tioJi^^Ä^  *5*  daß  er  iede  Nacht  4-5Pollu- 

muS,  Si£S^^äSt%  Äi^^ 

a  ä  «  s™^^ 

seien    *  SftSÄÄ*?  fc  ■**  ^  Pollutionen  Entlieh  Onanie 
w  L  Sem  Zustande  besinnungslos,  wie  in  einem  Traum    und 

wisse  nicht,  was  er  mache.  Er  sei  am  nächsten  Tage  nach  den  p2«I 
(oder  eigentlich  nach  der  Onanie,  denn  er  berühre  mit  der  Hand  da  S 
ganz  zerbrochen  und  zu  jeder  geistigen  Arbeit  unfähig.  Trägt  sich  mit  Selbst- 
mordgedanken fürchtet  wahnsinnig  zu  werden.  Ordination  3  p  SeTobÄ 
Abends.  Empfehle  ihm  nach  Ablehnung  einer  Psychanalyse  Jbk  Sanatorium 
welchen  Vorschlag  er  mangels  von  Mitteln  nicht  annimmt.  (Wie  es sTch  2 
herausstellte,  wollte  er  nicht  in  ein  Sanatorium  gehen!)  *  SPater 

Trotz  Sedobrol  der  gleiche  Zustand.  Onanie  „unzählige"  Male  Er 
könne  gar  nicht  angeben,  wie  oft  er  onaniert  habe.  Ich  erfahre  endlich'  daß 
die  Pollutionen  eingesetzt  haben,  seit  er  mit  dem  Bruder  und  dem  Freund 
in  einem  Zimmer  schläft.  Der  Bruder  wird  von  dem  Kranken  furchtbar 
tyrannisiert.  Er  will  nicht  allein  ausgehen,  er  fühlt  sich  zu  schwach  Er 
benotigt  den  ganzen  Tag  die  Hilfe  des  Bruders.  Ich  rate,  er  möge  in  einem 
eigenen  Zimmer  schlafen,  und  motiviere,  daß  er  frische  Luft  brauche 

Hat  den  Rat  nicht  befolgt.    Er  kann  nicht  ohne  den  Bruder  allein  im 
Zimmer  bleiben.  Er  fürchtet,  daß  er  sterben  werde.   Er  kann  nicht  allein  sein 
&r  beschuldigt  den  Bruder,  daß  er  an  seinem  Leiden  schuld  sei.   Der  Bruder 
ÄÄ  r™^?  ^^verkehr,  weil  er  ihm  sage,  daß  er 
Frauen      T  ^  ™*1   Der  Brud<*  Bei    gegen  jeden  Verkehr    mit 

Tauen.      Imraer    deutlicher    wird    es,    daß    er    mit    homo- 


Larvierte  Onanie.  63 

sexuellen  Phantasien  onaniert.  Die  Phantasien  beim  Onanieren 
kennt  der  Kranke  nicht.  Er  will  nicht  wissen,  was  er  während  der  Onanie 
denkt,  und  behauptet:  (rar  nichts. 

Der  Versuch,  die  Libido  auf  ein  Mädchen  abzuleiten,  wurde  wieder  unter- 
nommen und  hatte  folgendes  Kesultat:  Er  erzielte  keinen  Orgasmus.  Die 
Erektion  hielt  stundenlang  an,  aber  es  erfolgte  keine  Ejakulation,  die  sonst 
während  der  Berührung  mit  der  eigenen  Hand  sofort  eintrat.  Er  wehrt  sich 
noch  immer  mit  allen  Kräften  gegen  meinen  Vorschlag,  allein  zu  schlafen, 
will  auch  keine  Anstalt  aufsuchen.  Ob  der  Bruder  nicht  nebenan  in  einem 
Zimmer  schlafen  könnte?  Er  motiviert  die  Angst  vor  dem  Alleinsein  mit 
Krankheit,  Schwäche,  Angst.  Er  gesteht,  daß  er  trotz  der  Anwesenheit  des 
Mädchens  onaniert  habe. 

„Woran  denken  Sie,  wenn  Sie  onanieren?" 

„Ich  weiß  es  nicht." 

„Sie  wollen  es  nicht  wissen." 

„Sie  haben  recht.  Ich  will  es  nicht  wissen.  Mir  fällt  immer  etwas 
Dummes  ein.   Das  werde  ich  Ihnen  nie  erzählen"  .  .  . 

„Warum  nicht?" 
„Weil  ich  mich  schäme.  Oder  ich  kann  es  Ihnen  andeuten.  Es  ist  eine 
Szene  aus  der  Kindheit.  Dummheiten,  wie  sie  die  Kinder  untereinander  machen. 
An  diese  Dummheiten  denke  ich  immer.  Sagen  Sie  mir,  gibt  es  keine  Hilfe 
gegen  diese  Gedanken?  Warum  verfolgen  sie  mich  die  ganze  Nacht?  Ich  schlafe 
immer  ruhig  ein,  um  7»1  oder  1  Uhr  erwache  ich  und  fange  mit  den  Pollu- 
tionen an.    Ich  erwache  schon  mit  der  Pollution." 

„Das  heißt,  Sie  onanieren  .  .  ." 

„Ja,  ich  kann  mir  nicht  helfen.  Ich  onaniere." 

Nach  zwei  Tagen  wird  mir  berichtet,  daß  er  sich  erschossen  habe.  Ein 
Beitrag  zum  Thema:  Selbstmord  und  Onanie.  Er  nahm  das  Geheimnis  seines 
Leidens  mit  ins  Grab.  Es  ist  anzunehmen,  daß  er  sich  mit  aller  Kraft  gegen 
homosexuelle  Phantasien  wehrte.  Die  Frauen  hatten  für  ihn  jeden  Wert  ver- 
loren. Der  Bruder  und  der  Freund  waren  sein  einziger  Umgang.  Er  nahm  sie 
ganz  für  sich  in  Anspruch  und  verhinderte  es,  daß  sie  mit  anderen  verkehren 
konnten.  Er  hatte  nur  ein  einziges  Mal  in  den  letzten  zwei  Monaten  einen 
Orgasmus,  als  er  mit  der  Geliebten  des  Freundes  verkehrte.  Wir  werden  bei 
der  Besprechung  der  Homosexualität  diese  Tatsache  eingehender  würdigen. 
l)ie  Gehebte  des  Freundes  war  der  Umweg,  wie  er  den  Freund  besitzen 
Konnte  eine  „Maske  der  Homosexualität".  Nachdem  er  sich  überzeugt  hatte, 
üaü  er  bei  anderen  Frauen  keinen  Orgasmus  erzielen  konnte,  wurde  er  traurig 
und  verstimmt.    Kein  Weib  konnte  ihm  den  Orgasmus  der  Onanie  ersetzen. 

1    In  i°r  mcht  Weiter  onanieren  un<*  schied  lieber   aus  dem   Leben, 

als  lau  er  sich  seine  homosexuellen  Phantasien  eingestehen  wollte.  Der  Durch- 
bruch dieser  Phantasien  in  das  Bewußtsein  stand  drohend  vor  seinem  geistigen 
Auge  Lr  drohte  ihm,  so  daß  sich  sein  armer  Kopf  verwirrte  und  er  an 
„Angst  vor  dem  Wahnsinn"  erkrankte.  Damit  motivierte  er  seinen  Selbst- 
mord. Diesen  vollzog  er  in  der  Wohnung  des  geliebten  Bruders.  Er  zog  sich 
in  den  Abort  zurück,  nachdem  der  Bruder  ihm  einen  kleinen  Wunsch  ab- 
schlagen mußte,  und  jagte  sich  eine  Kugel  durch  den  Kopf. 

Zur  Erforschung  der  spezifischen  Phantasie 
sind  die  die  Pollutionen  begleit  enden  Träume  von 


64 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


aller  grüßt  er  Bedeutung.  (Wir  werden  solche  Beispiele  noch 
kennen  lernen,  wie  ja  überhaupt  die  späteren  Ausführungen  häufig  die 
Bestätigungen  dieser  Ausführungen  bringen  werden.)  Läßt  man  sich 
den  Pollutionstraum  erzählen,  so  hört  man  oft,  daß  die  Patienten  ihn 
vergessen  haben  oder  daß  sie  sich  das  Gesicht  des  Sexualobjektes  nicht 
gemerkt  haben.  Andere  sprechen  ihre  Verwunderung  über  die  ver- 
schiedenen Paraphilien  aus,  die  sie  im  Traum  ausführen,  und  versichern 
komischerweise,  daß  ihnen  so  eine  Handlung  „selbst  nicht  im  Traum" 
einfallen  würde. 

Für  die  Therapie  der  Pollutionen  ergeben  sich  aus  diesen  Be- 
trachtungen die  wichtigsten  Anhaltspunkte.  Oft  müssen  die  Verhält- 
nisse erforscht  werden,  in  denen  die  Patienten  leben.  Man  kann  durch 
einlache  Maßregeln,  wie  durch  eine  veränderte  Umgebung,  die  wunder- 
barsten Heilungen  erzielen.  So  kommt  es,  daß  manche  Menschen  in 
Wien  an  Pollutionen  leiden  und  in  Salzburg  davon  verschont  bleiben. 
Sie  pflegen  das  auf  die  Luft  zu  schieben.  Es  hängt  aber  mit  den  Assozia- 
tionen zusammen,  welche  aus  der  betreffenden  Gegend  zuströmen,  es 
hangt  von  den  Reizen  des  Milieus  ab.  So  empfahl  ich  dem  letzten 
Patienten  die  Abreise  aus  Wien.  Ich  bin  überzeugt,  daß  sich  der  Zu- 
stand des  hoffnungsvollen  Menschen  in  anderer  Umgebung  rasch  ge- 
bessert hätte,  daß  ein  Aufenthalt  in  einer  Anstalt  das  kostbare  Leben 
des  hochtalentierten  Menschen  hätte  retten  können. 

Eine  weitere  Form  unbewußter  Onanie  ist  die  Onanie  in  hyste- 
rischen Anfällen,    die  in    allen   möglichen  Abstufungen    vom    großen 
hysterischen  Anfalle  mit  Are  de  cercle  bis  zur  vorübergehenden  Absence 
von  einer  Sekunde  vorkommen.    In  allen  diesen  Vorgängen,   in  denen 
das  Bewußtsein  ausgeschaltet  ist,  gehen  verbotene  Handlungen  vor  sich 
Eine  dieser  Handlungen,  und  zwar  die  häufigste,  ist  die  Onanie.    Die 
Onanie  ist  mit  verschiedenen  Phantasien  verbunden,  mit  kriminellen  x) 
und  perversen  Vorstellungen.   Droht  der  Durchbruch  einer  dieser  Phan- 
tasien ins  Bewußtsein,    so  wird  durch  einen   hysterischen  Anfall    der 
onanistische  Akt  im  Unbewußten  erledigt.    Die  charakteristischen  Be- 
wegungen mancher  Hysterischen  lassen  ja  darüber  gar  keinen  Zweifel 
ebenso  kann  man  auch  direkte  Onanie,  Bettnässen,  Samenabgang  bei 
diesen  Anfällen  beobachten.   Nach  dem  Anfall  fühlen  die  Kranken  ent- 
weder ein  tiefes  Schuldbewußtsein,  quälende  Reue,  oder  sie  geben  an, 
daß  sie  sich  auffallend  leichter  (wie  ohne  Gewichte,  als  wenn  sie  Flügel 
hätten)  vorkommen.    Solche  Beobachtungen  kann  man  auch  nach  dem 
Koitus  oder  dem  onanistischen  Akte  machen.    Kein  Wort  ist  falscher 

*)  Vgl.  meinen  Aufsatz  „Die  psychische  Behandlung  der  Epilepsie".   Zentralblatt 
für  Psychoanalyse,  I.  Bd.  und  „Nervöse  Angstzustände",  3.  Aufl. 


Larvicrte  Onanie.  .  65 

als  das  bekannte  lateinische  Post  coitum  omne  animal  triste!  Die 
Stimmung  nach  dem  Akte  hängt  nur  davon  ab,  ob  sich  ein  Schuldbe- 
wußtsein an  den  Akt  knüpft  oder  nicht. 

Die  Frage  nach  der  Schädlichkeit  der  Onanie  erledigt  sich  mir 
nur  in  diesem  Sinne.  Wer  ohne  Schuldbewußtsein  (ohne  Angst)  onaniert, 
empfindet  bei  mäßiger  Onanie  keinerlei  Schaden,  auch  keine  schädlichen 
Nachwirkungen.  Alle  gegenteiligen  Beobachtungen  sind  falsche  Auf- 
fassungen einer  psychogenen  Depression.  Glaubt  der  Onanist  sieh  ge- 
schädigt zu  haben,  hat  er  irgend  ein  Buch  über  die  Schäden  der  Onanie 
gelesen,  oder  wurde  er  vom  Arzte  oder  Erzieher  falsch  belehrt,  so  wird 
nach  jedem  Akte  das  Schuldbewußtsein  alle  jene  Symptome  erzeugen, 
die  man  der  Onanie  zuschreibt.  Ich  habe  noch  nie  einen 
Schaden  von  der  Onanie  beobachten  können  bei 
Menschen,  die  an  den  Schaden  nicht  geglaubt  haben. 
Alle  die6e  Schäden  kommen  von  autosuggestiven  Angstvorstellungen. 
Die  Ärzte  wissen  noch  immer  nicht,  daß  die  Angst  die  schwersten 
Krankheiten  hervorrufen  kann.  Sah  ich  doch  bei  einem  Arzte,  der  eine 
Lues  überstanden  hatte,  infolge  der  Angst  vor  Tabes  eine  hysterische 
Pseudotabes  auftreten ! 

Doch  zurück  zu  unseren  larvierten  Formen  der  Onanie.  Da  gibt 
es  Frauen,  denen  plötzlich  schlecht  wird,  sie  werden  schwach  und  fühlen 
eine  süße  Ohnmacht.1)  Diese  süße  Ohnmacht  ist  der  Orgasmus  nach 
einem  unbewußten  oder  nur  halbbewußten  onanistischen  Akte  an  der 
Nähmaschine  oder  nach  einer  Phantasie  (geistige  Onanie) ,  nach  einem 
automatischen  Spiel,  z.  B.  im  Täschchen,  das  auf-  und  zugemacht  wird, 
wobei  der  Finger  hineingesteckt  wird.  Solche  symbolische  Formen  der 
Onanie  sind  sehr  häufig.  Hierher  zählt  das  Nasenbohren,  gewisse  Be- 
wegungen mit  den  Fingern,  Spiele  mit  den  Taschen,  den  Ringen,  Reiben 
der  verschiedenen  Öffnungen  des  Körpers,  z.  B.  Ohrmuschel,  der  Anal- 
gegend usw. 

Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  die  Phantasie  erregt  oder  eine  ero- 
gene  Zone  gereizt  wird.  Diese  erogene  Zone  kann  die  Haut  oder  eine 
Schleimhaut  sein,  es  können  aber  alle  Stellen  des  Körpers  dazu  ver- 
wendet werden.  Ieh  habe  an  dieser  Stelle  keineswegs  alle  Möglichkeiten 
der  larvierten  Onanie  erschöpfend  geschildert.  Das  ist  fast  unmöglich. 
Ich  wollte  nur  zeigen,  daß  es  Onanieformen  gibt,  welche  von  den  Ona- 
msten  nicht  als  Onanie  erkannt  und  gewertet  werden.  Ich  kenne  eine 
Dame,  die  durch  Immissio  et  frictio  digitis  in  anum  onaniert.  Sie  weiß 
aber,  daß  sie  onaniert,  und  erzielt  auf  diese  Weise  vollen  Orgasmus 
•Uas  ist  offene  Onanie.   Eine  andere  Dame  aber  behauptet,  sie  müsse 

')  Vgl.  „Nervöse  Angstzustände",  3.  Aufl.,  S.  000. 

Steköl,  Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebens.  II.  2.  Aufl.  5 


66 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


TnL  b*-  a  "T^ÜT'  WaS  S6hr  ßchmerzha^  und  unangenehm  wäre 
sonst  könne  der  Stuhl  nicht  passieren.  Sie  öffnet  sich  den  Anus  vor' 
jedem  Stuhlgang.  Das  ist  larvierte  Onanie.  Wieso  kommt  es  aber  Z 

kälned^naSmUS  mCht  ^  daß  WeSen  dieser  Prozed-  bBleh^tT  Oder 
kann  der  Orgasmus  ganz  ausbleiben? 

In  allen  diesen  Fällen  von  Onanie  in  maskierter  Form  kommt  es 

....... ......  ::.d::.^"-.r,.'~  :„ ; »<•; 

können  auch  auf  einem  an  eren  Wege   SJtf'Ä  °TT" 
erzeugt  werden    u  vm«„    •      r,  .  auf  dem  autoerotischen 

Laien  ausgeführt  wurde  und  in  Jeder  ÄÄ^  Sen 

Ptel    Li' mda     T'  BreCh,rel2  rd  ^  R6ihe  and-r  nemsVst- 
K™L       u    rff    ™a*w*«Kg«  Krampfzustände,    in    denen   Ter 
Kranken  alle  Glieder  „steif"  wurden.   Dabei  klaate  sin  8U  p     . T 
und  heftige  Magenschmerzen.  Am  Schluß ÄL«  ^  5£*? 
Masse  Gesicht  und  es  trat  eine  angenehme  Erschlag  £  MudigkeH 
ein.  Diese  Krämpfe  waren  die  unbewußte  Wiederholung  rt«,  m™ 
Dm  Steifheit  der  Glieder  entsprach  einem  *ÄftSÄ 
Hohe  des  Orgasmus  und  hatte  ihr  Analogen  in  dem  bekannten  Ar,  dl 
-rele  der  Hysterischen  und  der  an  Erotomanie  IdLdtTrlüen  L, 
kenne  Turner,  die  mit  Hilfe  ihrer  Muskeln  onanieren    Sie  smnnl  In 
Muskeln  des  Körpers  aufs  stärkste  an  und  erzielen  so  den  O^L o 
In  ahDl'cher  Weis*  «<**"  ™le  Formen  larvierter  Onanie  voHch  >') 

")  Vgl.  den  schon  erwähnten  instruktiven  Artikel  ,on  Ermt  K™„      m. 


Larvierte  Onanie. 


67 


Alle  diese  Menschen  wissen  angeblich  nicht,  daß  sie  einen  Orgas- 
mus empfunden  haben.  Im  Gegenteil!  Sie  klagen  über  Schmerzen.  So 
auch  die  erwähnte  Dame,  die  jedesmal  vor  der  Massage  versicherte,  es 
wäre  ihr  eine  Tortur  und  sie  wäre  glücklich,  wenn  die  Martere!  vorüber 
wäre.  Aber  sie  ging  immer  wieder  zur  Massage  und  protestierte  lebhaft, 
als  ihr  Mann  die  Kur  abbrechen  wollte,  weil  er  merkte,  daß  in  ihr  eine 
sonderbare  Veränderung  vorging.  Sie  motivierte,  man  müsse  eine  be- 
gonnene Behandlung  zu  Ende  führen  und1  die  „kleinen  Unannehmlich- 
keiten" ertragen.  Sie  wollte  auf  ihren  Orgasmus  nicht  verzichten.  Hätte 
man  sie  über  den  Charakter  der  Schmerzen  aufgeklärt,  sie  hätte  ent- 
rüstet protestiert.  So  wollen  sich  die  Menschen  selten  dazu  bekennen, 
daß  sie  in  versteckter,  heuchlerischer  Form  weiter  onanieren.  Soll 
doch  diese  Form  dazu  dienen,  das  Gewissen  zu  beruhigen  und  sich  die 
lästigen  Vorwürfe  zu  ersparen,  die  sich  an  den  auto erotischen  Akt 
knüpfen! 

Noch  häufiger  sind  die  Formen  der  larvierten  Onanie,  die  sich 
in  Hautjucken  äußern.  Z.  B.  eine  siebzigjährige  Frau,  die  an  Pruritus 
vulvae  leidet  und  nicht  einschläft,  ehe  sie  sich  „ordentlich"  gekratzt 
hat.  Das  Kratzen  ersetzt  die  Onanie  und  wird  bis  zum  mitigierten 
Orgasmus  fortgesetzt.  Eine  fünfzigjährige  Frau  produziert  jeden  Abend 
ein  heftiges,  unerträgliches  Jucken  am  ganzen  Körper;  die  ganze 
Familie,  der  Mann,  die  Tochter,  der  Sohn  müssen  sie  kratzen.  Zuletzt 
kratzt  die  Dame  selbst  überall,  wie  gesagt,  wo  es  sie  am  heftigsten 
beißt,  fühlt  plötzlich  einen  heftigen  Urindrang,  womit  die  Szene  be- 
endet erscheint  und  sie  einschlafen  kann.  Jeden  Abend  wiederholt  sie 
das  Manöver.  Viele  rätselhafte,  jeder  Therapie  trotzende  Fälle  von 
Urtikaria  und  anderen  Neurodermatosen,  die  mit  heftigem  Jucken  ein- 
hergehen, sind  nur  larvierte  Formen  der  Onanie. 

Eine  häufige  Form  der  Onanie,  die  Spermatorrhoe  der  Männer, 
habe  ich  schon  als  typisches  Leiden  der  Sexualabstinenten  erwähnt' 
Bei  Menschen  die  häufigen  Geschlechtsverkehr  pflegen,  habe  ich  sie  nie 
beobachtet  Die  Spermatorrhoe  geht  manchmal  mit  einer  leisen  oder 
komln1^,  l  kel  LustemPfind™S  **«.  Solche  Lustopfindnngen 
ro37  ^StUhlgang  V°r  ^  Ve™ten>  daß  d^  Anus  eine 

72TI  l      ?  ^  Gben  dn  Irrtum'  daß  <*«  Onanie  nur  an  Geni- 

Z£  V1  a  g  *'  JGde  er°gene  Zone  kan»  ™  Onanie  benützt 
werden.   Der  Anus  ist  eine  erogene  Zone  ersten  Ranges.    Daher  gibt 

aLT  JT161186  ?°  F0men  Werter  Onanie  an  dieser  Stelle. 
Manche  bohren  mit  dem  Finger  wegen  Jucken,  ein  anderer,  ein  Stuhl- 
hypochonder -  man  entschuldige  das  unappetitliche  Thema  -,  um 
sich  den  Stuhl,  der  angeblich  nicht  herauskommen  will,  mit  dem  Finger 
zu  entfernen,  ein  dritter,  um  seine  Hämorrhoiden  zu  untersuchen  nnd 

5* 


68 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


zu  reponieren,  die  erwähnte  Dame,  um  den  Anus  zu  erweitern.  Es 
werden  immer  organische  Unlustempfindungen  benützt,  imi  sich  den  un- 
entbehrlichen Orgasmus  zu  verschaffen. 

Viele  Analerotiker  leiden  an  Obstipation.  Sie  benützen  das  Leiden 
dazu,  um  mit  Hilfe  des  Stuhles  zu  onanieren.  Schon  die  kleinen  Kinder 
halten  den  Stuhl  gern  zurück,  weil  sie  beim  Durchpressen  des  harten 
Stuhles  Libido  empfinden.  Deshalb  klagen  die  an  Spermatorrhoe 
Lernenden  meist  über  Verstopfung  und  geben  an,  daß  mit  dem  Stuhle 
Sperma  abgeht.  Sie  gestehen  ungern,  daß  sie  dabei  einen  mehr  oder 
minder  stark  ausgeprägten  Orgasmus  empfinden.  Andere  Analerotiker 
haben  eine  anregende  Spielerei  mit  dem  Irrigator  und  fühlen  sich  nach 
einer  ausgiebigen  Stuhlentleerung  erfrischt,  wie  neugeboren,  geben  zu. 
daß  das  Defäzieren  die  größte  Wonne  ihres  Lebens  ist.  Ihr  ganzer 
geistiger  Horizont  ist  von  analerotischen  Vorstellungen  erfüllt.  Auch 
Hämorrhoiden,  Analfissuren,  die  unter  Umständen  große  Beschwerden 
machen,  sind  oft  artifiziell  erzeugt,  die  Folge  der  zahllosen  Manipula- 
tionen  m  der  Analgegend. 

Der  Irrigator  ist  oft  nur  ein  Objekt  der  Lustgewinnung  und  dient 
bei  Mannten  und •  Weiblein  zu  mechanischen  Reizungen  unter  dein 
Deckmantel  hygienischer  Maßnahmen.  Vielen  Menschen  ersetzt  der 
Irrigator  ein  Liebesobjekt,  so  daß  es  mich  nicht  Wunder  nimmt,  daß 
er  m  den  Phantasien  der  Onanisten  und  Fetischisten  eine  so  über- 
ragende Rolle  spielt.1) 

Mit  großer  Offenheit  schildert  Luther  seine  analen  Beschwerden 
5°  r i  \*S  m  *inem  Briefe  an  Melanchthon:  „Der  Herr  schlug  mich 
durch  heftigen  Schmerz  in  den  Posterioribus;  mein  Stuhl  ist  so  hart,  daß 
ich  gezwungen  werde,  ihn  unter  großem  Schmerz  herauszupressen,  bis 
mir  der  Schweiß  herabrinnt;  uud  je  länger  ich  es  aufschiebe,  um  so  härter 
ist  der  Stuhl.  Gestern  ging  ich  seit  vier  Tagen  wieder  einmal,  und  des- 
halb schlief  ich  die  ganze  Nacht  nicht,  noch  habe  ich  jetzt  Ruhe.  Dies 
Leiden  wird  unerträglich,  wenn  es  fortschreitet,  wie  es  begonnen  hat" 
Das  Leiden  wird  so  arg,  daß  er  auf  alle  Heilmittel  verzichten  will 
„Indes  —  berichtet  Ebstein*)  —  war  das  Fleisch  noch  immer  verletzt 
und  wund  durch  die  alten  Einrisse,  obgleich  er  ausgiebig  sich  der 
Laxantien  bediente.  Trotz  aller  Abführmittel  habe  er  nicht  weniger 
Schmerzen  im  After  verspürt,  sei  es  durch  die  gewaltsame  Wirkung  der 
Pillen,  sei  es  durch  irgend  einen  anderen  Zufall." 

Solche  Schmerzen  sind  Surrogate  der  Libido.  Natürlich  nicht  immer 
aber  in  vielen  Fällen.  Luthers  Obstipation  wird  auf  der  Wartburg- 
besser,  aber  sein  Gemütsleiden  viel  schlimmer.  Mitunter  vergleicht  er 
sich     mit   einer   aufgerissenen,    verletzten    blutigen   Wöchnerin.    Seine 


*)  Interessante  Beispiele  finden  sich  im  3.  Bande  „Die  Geschlechtskälte  der  Frau" 

v  t     ])®r-Wilheln  Ehstein:   Dr- Martin   Luthers   Krankheiten.   Stuttgart,    Ferdinand 
i'.nii!'.  iyUö. 


Larvierte  Onanie. 


69 


Hämorrhoidalblutungen  nennt  er  „Molimina  excretoria".  Ein  Steinleiden 
quält  ihn  überdies,  von  dem  er  sagt,  daß  es  als  der  Satan  in  ihm  wüte. 
1528  schreibt  er  über  seine  Blutungen  an  Justus  Jonas :  „Meine  Krankheit 
war  eine  solche,  daß  mit  dem  Stuhlgange  zugleich  eine  angeschwollene 
L  i  p  p  e  des  Afters  hervortrat.  Darauf  saß  eine  kleine  juckende  Erhaben- 
heit. Dieselbe  machte  um  so  mehr  Beschwerden,  je  weicher  der  Stuhl 
war.  Ging  geronnenes  Blut  ab,  so  befand  ich  mich  um  so 
wohler  und  angenehmer,  ja  mit  Vergnügen  ver- 
bunden war  der  Akt  der  Stuhlentleerung.  Je  mehr 
Blutgerinnsel  abgingen,  um  so  mehr  Vergnügen 
hatte  ich,  so  daß  diese  angenehme  Empfindung 
mich  mehrmals  täglich  veranlaßt e,  zu  Stuhle  zu 
gehen.  Drückte  ich  mit  dem  Finger,  so  juckte  das 
äußerst  angenehm  und  es  floß  Blut.  Deshalb  durfte 
nach  meiner  Ansicht  dieser  Blutstuhl  durchaus 
nicht    gestillt    oder    vermindert    werde  n." 

Deutlicher  kann  man  die  Libido  beim  Stuhlgang  und  die  Lust- 
erapiindungen  durch  Kratzen  wohl  nicht  beschreiben.  Später  litt  er 
auch  an  Diarrhöen  und  Tenesmus.  Der  Abort  ist  für  ihn  immer  ein 
kritischer  Aufenthalt.  1546  entging  er  glücklich  der  Lebensgefahr,  indem 
ein  „sehr  großer  Stein,  der  von  der  Decke  sein  Haupt  bedrohte", 
kurz  nachher  herunterfiel,  „nachdem  Luther  sein  natürliches  Geschäft 
verrichtet  hatte".  Bald  nachher  hatte  er  ein  Phantasma:  Ihm  gegenüber 
saß  der  Teufel  am  Röhrtroge  und  kehrte  ihm  seinen  Hintern  zu. 

Von  seinem  Kampfe  gegen  die  Sexualität  in  der  Jugend  erzählt 
Ebstein;  „Er  wurde  erst  von  geschlechtlichen  Erregungen  nicht  sehr 
gepeinigt,  je  mehr  er  sich  aber  kasteite,  um  so  mehr  traten  auch  diese 
Reizungen  hervor.  Dabei  bewahrte  er  aber  seine  Keuschheit.  Er  legte 
sich  durch  seine  übermäßige  Enthaltsamkeit  allerlei  schwere  Ent- 
behrungen auf,  ferner  brachte  er  die  Nächte  auf  möglichst  hartem  Lager 
mit  unzureichender  Bedeckung  zu,  andrerseits  lief  er  in  der  heißen  Jahres- 
zeit mit  entblößtem,  von  den  Sonnenstrahlen  gequältem  Haupt  herum. 
Er  magerte  ab  und  nennt  sich  selbst  ausgemergelt  und  ausgedörrt.  In 
diesem  Zustande  körperlicher  und  geistiger  Erschöpfung  stellten  sich 
einmal  heftige  geistige  Erregungszustände  und  ein  anderes  Mal  exzen- 
trische Gemütsverstimmungen  ein,  welche  seine  Klostergenossen  zu  dem 
Glauben  verführten,  daß  er  ein  Epileptiker  oder  ein  von  Dämonen  Be- 
sessener sei. 

Ich  habe  den  Fall  nur  erwähnt,  weil  er  uns  eine  ausgezeichnete 
Schilderung  der  analerotischen  Spielereien  gibt. 

Zu  ähnlichen  Spielen  wird  natürlich  auch  jede  andere  Schleimhaut, 
der  Mund  und  besonders  die  Zunge  benützt.  Die  verschiedenen  Formen 
des  Wonnesaugens  (Ludeins)  gehören  hierher,  die  bekannten  Spiele 
mit  der  Zunge,  die  im  Munde  gerollt  wird,  an  der  gesogen  wird,  usw. 

Noch  häufiger  sind  die  Formen  der  larvierten  geistigen  Onanie, 
bei  denen  keinerlei  Manipulation  vorgenommen  wird.  Die  Betreffenden 
versinken  in  ihre  Träumereien,  die  mit  Ekstasen  enden.  Sie  wissen  nie, 
woran  Sie  gedacht  haben,  wenn  man  sie  aus  den  Träumen  herausreißt. 


70 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Manche  kleine  Symbolhandlung  verrät  den  Inhalt  der  Phantasien  So 
üatte  ein  Mann  meiner  Beobachtung  die  Gewohnheit,  bei  den  Tas- 
traumen  deren  Inhalt  ihm  unbekannt  war,  den  Penis  in  der  Hand  zu 
halten.  Er  hatte  sich  deshalb  ein  Loch  in  die  Hose  gemacht.  Im  Leben 
war  er  Mitglied  eines  Vereines  zur  Bekämpfung  der  Schmutzliteratur 
ein  Apostel  der  Reinheit  und  brachte  halbe  Tage  mit  den  larvierten 
Formen  der  Onanie  zu.  Seine  Träume  brachten  mir  dann  den  Zugang 
zu  seinen  Tagesphantasien.  Ja  gerade  die  negative  Beschäftigung  mit 
der  Erotik  in  Form  von  Ekel,  Abscheu,  Entrüstung  ist  eine  FW  der 
geistigen  Onanie,  die  in  unserer  Zeit  der  Heuchelei  und  Priiderei  unge- 
mein verbreitet  ist   Es  gibt  Menschen,  die  sich  eine  artige  Sammlung 

eZr^lT\      vren-  naCkten  L™^™>  Ansichtskarten  an 

Zu  Hüflttn  /l  61  ?*  *•  KünStler  hetzen'  den  Staatsanwalt 
zu  Hüte  rufen,  und  d*e  sich  doch  nur  mit  diesen  Dingen  beschäftigen 
weil  sie  ihnen  eine  Reihe  erotischer  Anregungen  gewähren.  Esl  M 
eben  eine  larvierte  Form  der  Onanie,  die  sich  in  negativer  Form  als 
Abwehr  der  erotischen  Reize  äußert.  In  diese  Gruppe  genören  aut 
Weltverbesserer,  Schwärmer  für  die  sexuelle  Aufklärung  Es  Ist  "2 
eine  Ar  ,  wie  che  rohen  erotischen  Triebe  sublimiert  und  in  den  Dienst 
der  Kultur  gesteht  werden.  So  kenne  ich  einen  Mann,  der  an 2er  71 
unbewußten  Pa^aphahe,  der  Neigung  zu  Kindern  leidet,  7e  e" 
Dertat  7*5*;*  **  die  ßich  als  "ha-lose"  Kinderliebe  äußert 

der  kZ    N  ^  "f  ff legentliCl1  mlt  der  sexueUen  Aufklärung 

der  Kinder.  Nun  wäre  es  töricht,  schon  diese  Form  der  Sexualbetätigung 

Onanie  zu  nennen.  Aber  gerade  bei  solchen  Keuschheitsfanatikern,  ffitt- 

hchkeitsaposteln,  Asketen,  Abstinenten  aus  Überzeugung  kann  man 

die  schönsten  Formen  der  larvierten  Onanie  beobachten.  Die  Natur  läßt 

71  7?  !n? ht  vergewaltiSen'  ™d  wenn  dter  Geschlechtstrieb  das 
Feld  des  Bewußtsems  räumen  muß,  so  schleicht  er  sich  über  Umweße 
ms  Unbewußte  und  setzt  sich  gegen  den  Willen  des  Kämpfers  durch 
So  streichelt  der  Kinderfreund  die  Kinder,  wobei  ihm  ein 
warmer  Strom  über  den  Körper  rieselt,  er  ganz  heiß 
wird,  was  er  als  die  Manifestation  der  idealen  Liebe  auffaßt 

Es  ist  mir  gelungen,  in  einer  Reihe  von  Zwangsvorstellungen  den 
Eisatz  der  Onanie  zu  finden.  Freud  hat  bekanntlich  darauf  hingewiesen 
daß  viele  Zwangsvorstellungen  -  er  meinte  seinerzeit  sogar  alle  - 
\orwurfe  über  eine  mit  Lust  begangene  sexuelle  Aktion  der  Jugend 
darstellen.  Diese  Erklärung  steht  noch  heute  für  viele  Zwangsvorstel- 
lungen zu  Recht,  wenn  sie  auch  nicht  den  Reichtum  der  Zwangsvor- 
stellungen,    die    vielfach     determiniert    erscheinen,     erschöpft   'jede 

häTtTf  7®  wg  iSt/in  Kompromiß  aus  ^eb  und  Hemmung  und  ent- 
halt auf  dem  Wege  des  neurotischen  Kompromisses  in  einem  Symptom 


Larvierte  Onanie.  ^i 

beide  Strömungen.  Man  kann  nun  viele  Zwangshandlungen  beobachten, 
welche  eine  Darstellung  der  Onanie  bezwecken  und  auch  eine  Art  von 
larvierter  Onanie  darstellen. 

Unter  den  Menschen,  die  an  Zwangsneurose  leiden,  findet  man 
sehr  häufig  solche,  welche  angeblich  nie  onaniert  haben  oder  die  Onanie 
„überwunden"  haben.  Ihre  Zwangshandlungen  zeigen  aber,  daß  sie 
sich  immer  mit  der  Onanie  beschäftigen,  von  ihr  nicht  loskommen, 
ferner  findet  man  die  schönsten  Formen  larvierter  Onanie  unter  diesen 
Überwindern. 

Besonders  häufig  treten  solche  Zwangshandlungen  auf,  wenn  die 
Neurotiker  die  Onanie  aus  ethischen  oder  hygienischen  Motiven  auf- 
geben.  Ein  solcher  Fall  soll  diese  Ausführungen  illustrieren. 

Fall  Nr.  14.  Es  handelt  sich  um  einen  26jährigen  Angestellten,  der  in 
seinem  Geschäfte  solche  Unsicherheit  zeigte,  daß  er  in  Gefahr  war,  seinen 
Posten  zu  verlieren.  Er  mußte  alles  mehrere  Male  zählen  und  war  dann  noch 
immer  im  Zweifel,  ob  er  sich  nicht  geirrt  habe.  Solche  Erscheinungen  der 
Arithmomanie  sind  bei  Onanisten  sehr  häufig.  Zählen  sie  doch  im  Kampfe 
gegen  die  Onanie  die  Tage,  da  sie  keusch  sind.  Manche  sind  glücklich,  wenn  sie 
acht  Tage  widerstehen  können,  und  fallen  regelmäßig  in  bestimmten  Inter- 
vallen. Andere  können  länger  widerstehen,  haben  größere  Intervalle,  die 
allerdings  von  mehreren  Tagen  unterbrochen  werden,  in  denen  sie  stürmisch 
onanieren.  Alle  diese  Onanisten  führen  ein  genaues  Tagebuch  über  ihre  Onanie 
(natürlich  meistens  nur  im  Geiste).  Wenn  sie  die  Onanie  dann  aufgeben, 
setzt  sich  das  Zählen  fort,  kommt  aber  durch  die  larvierte  Onanie  und  durch 
die  Pollutionen  ins  Schwanken.  Unser  Patient  wußte  nicht,  wieviel  Geld  ihm 
der  Chef  übergeben  hatte  (ein  Symbol  seiner  Schuld!),  er  konnte  nicht  fest- 
stellen, vor  wieviel  Tagen  sich  ein  V.orfall  abgespielt  hatte,  er  zählte  die  ihm 
übergebenen  Briefe  oder  Pakete  bi6  zur  Erschöpfung  durch,  ohne  deren  Zahl 
bestimmt  feststellen  zu  können.  Diese  Erscheinungen,  die  sich  mit  vielen 
hypochondrischen  kombinierten,  waren  in  dieser  Stärke  seit  den  zwei  Jahren 
aufgetreten,  seit  er  nicht  mehr  onanierte.  Natürlich  führte  jeder  Medikus 
BeiJxe '  »»Neurasthenie",  so  nannten  die  meisten  Ärzte  seine  Zwangsneurose, 
auf  die  Onanie  zurück,  was  seine  vorgefaßte  Meinung  bestätigte.  Dieser 
Patient  kam  jede  Woche  für  ein  halbes  Stündchen  zu  mir  und  ließ  sich  von 
mir  über  seine  Krankheit  belehren.  Er  war  ein  sehr  gelehriger  Schüler  und 
einer  meiner  schönsten  Erfolge.  Ich  kann  nicht  genug  staunen  über  die  Ver- 
änderung zum  Guten,  die  sich  mit  dem  Kranken  vollzogen  hat.  Er  hat  jeden 
Zweifel  verloren  zählt  nicht  mehr,  ist  vollkommen  sicher,  fühlt  sich  frisch 
und  gesund,  sieht  blühend  aus  und  hat  in  den  ersten  Monaten,  seit  er  wieder 
onaniert,  um-  3  Kilo  zugenommen.  Der  vorher  unruhige  Schlaf  ist  tief  und 
ruhig.  Die  Pollutionen  haben  aufgehört.  Wie  in  aller  Welt  kann  man  hier 
von  einem  Schaden  der  Onanie  sprechen?  Warum  wollen  die  Ärzte 
nicht  sehen,  daß  es  auch  einen  Nutzen  der  Onanie 
gibt,  daß  der  Autoer otismus  zahllosen  Witwen,  alten 
Jungfern,  Hagestolzen  die  einzig  mögliche,  sozial 
mögliche  Form  der  Sexualbetätigung  darstellt?  Ich 
lasse  die  von  dem  erwähnten  Patienten  nach  zwei  Jahren  der  Genesung  ver- 


12 


Erster  Teil.  Die  Onauie. 


faßte   Krankengeschichte   in   ihrer  naiven   stilistischen   Fassung   ungeändert 

fillTÜf  fT/p  ^iebene"  L°bPreisun^  ^  Krauken  nST 
Last  zu  legen    Diese  Publikation  wäre  geschmacklos,  wenn  sie  nicht  einen 
tiefen   Einblick   m   die   dankbare   Psyche   des   Wiederhergestellten   gestatt" 

'JJk  "Von7glli.cklJichen  und  dankbaren  Gefühlen  erfüllt,  will  ich  kurz  meine 
seelischen  Zustande  vor  und  nach  meiner  Kur  niederschreiben. 

Vor  allem  muß  ich  bemerken,  daß  ich  meine  Heilung  lediglich  durch 
folgende  angewendete  Mittel  erreicht  habe:  Giguen  duicn 

wußteeinttLhfwr^1'"118?  ^mpfindungen  und  Gedanken  zu  klarem  Be- 
^ÄÄ^h"*  ^V1^  He™^^hlen  infolge  Auf- 
mm  verschiedenen  ÄÄ  1Ch  mir  *™  freiere  Weltanschauung 
mC&mm^M  ^^  Gewissensbisse  verflüchtigten  sich  und 

.2.  Durch  Regelung  des  Geschlechtslebens,  nämlich  durch  die   Onanie. 

treten  AundSmußtfPinPla:rei,S  ^%  JCh  $*  GeSetze  der  Kirche  ■***  '*&• 
Sir4rdS  SteS?»  Ä^S  abstinentes  Leben  führen.  Ich 
gonnT  hafen  wäh  S  t™  ^"^tellungen  im  19.  Lebensjahr  be- 
onanierte  fasT'täS    nh     V^a,  ägli°heS   Nach»et    verrichtete.    Ich 

^ückdrängem  Dadu,h  wurde  ich  wirr^ethÄm'  ^  ^ £ 
Worte,  dieselben  Absätze  unzählige  Male.  Zur  selben  Zeit  fing  ich  auch  an 
unsicher  zu  arbeiten.  Eines  Tages  wurde  mir  die  falsche  Thf orie  über  2 
verheerende  Wirkung  der  Onanie  mitgeteilt.  '       ' 

atäÄ-^  k  lChte  tT?  .mÜ"  Vonvürfe>  gesündigt  und  meinen  Körper  be- 
schädigt zu  haben.  Ich  habe  mich  mit  aller  Energie  gegen  einen  RücfhlHn 
die  alte  Gewohnheit  gewehrt,  zählte  die  Wochen* Monate?  ja  auch  Jah?  s 
waren  sogar  vier,  meiner  mir  zur  Pflicht  gemachten  Keuschheit,  indem 'ich 
eine  robuste  Gesundheit  und  Wohlbefinden  als  natürliche  Folge  meiner  Fnt. 
haltsamkeit  erhoffte.  Ich  erfuhr  das  Gegenteil.  Bei  der  Arbeit  wurde  ich 
immer  zerstreuter,  unsicherer,  besonders  beim  Rechnen.  Ich  glaubte  stets 
falsch  gerechnet  zu  haben,  mehr  Ware  ausgefolgt  zu  haben,  ich  glaubte  stets 
daß  ich  meinen  Chef  betrüge,  glaubte  jeden  Menschen  benachteiligt  zu  haben' 
Eines  Tages  flog  mir  der  Gedanke  durch  den  Kopf,  ich  wäre  ein  Mörder  Als 
namheh  mein  Vater  vor  mehreren  Jahren  im  Sterben  lag,  legte  ich  ihm  meinen 
Finger  m  den  Mund.  Nun,  nach  einigen  Jahren  erinnerte  ich  mich  an  die 
Situation  und  redete  mir  ein,  ich  hätte  den  Vater  dadurch  erdrosselt  Bald 
darauf  peinigten  mich  neue  und  neue  Mordbeschuldigungen,  selbst  wenn  ich  die 
Leute  vor  mir  sah,  die  ich  ermordet  zu  haben  mir  einredete.  Ich  konnte  nichts 
unternehmen,  denn  ich  hatte  stets  Angst,  daß  dies  schreckliche  unglückliche 


Larvierte  Onanie.  73 

Konsequenzen  nach  sich  ziehen  könnte,  die  mich  zum  Verbrecher  machen 
würden.  Zeitweise  wurde  ich  melancholisch,  schlaflos,  gereizt  und  sehr 
empfindlich  gegen  Geräusche.  Natürlich  wurde  ich  täglich  energieloser,  verlor 
alles  Selbstvertrauen  und  wurde  mir  dieses  Leben  nur  zur  Qual.  Nach  fast 
vierjähriger  Selbstqüälerei,  von  der  ich  durch  Brom,  kalte  Waschungen, 
Tropfen  etc.  befreit  werden  sollte,  entschloß  ich  mich  zum  letzten  Versuche, 
nämlich  zur  psychotherapeutischen  Behandlung. 

Durch  sie  wurde  mir  eine  neue  Welt  geöffnet.  Ich  wurde  einer  ana- 
lytischen Behandlung  unterzogen.  Vor  allem  wurde  mir  klar  gemacht,  daß 
ich  ein  geregeltes  Geschlechtsleben  führen  muß,  entweder  durch  den  Koitus 
oder  durch  Onanie.  Ich  entschloß  mich  vorläufig  für  das  letztere.  Mein  Zustand 
besserte  sich  täglich.  Die  Behandlung  eröffnete  mir  neue  Gesichtspunkte.  Ich 
lernte  mein  Inneres  und  seine  rohen  Triebe  kennen.  Verdrängte  Gedanken 
wurden  mir  zum  Bewußtsein  gebracht.  Allerlei  traumatische  Erlebnisse  aus 
der  Kindheit  kamen  mir  in  Erinnerung.  Es  wurde  mir  klar  gezeigt,  seit  wann 
diese  oder  jene  nervösen, Erscheinungen  datieren,  es  wurde  die  Wurzel  der  ver- 
schiedenen Chaosgedanken  aufgesucht  und  mir  gezeigt.  So  wurde  mir  deut- 
lich gezeigt,  welche  unangenehme,  unsichere,  melancholische  und  energielose 
Zustände  das  Zurückdrängen  des  Geschlechtstriebes  bewirkt.  Natürlich  hatte 
mich  im  Anfange  das  Aufwühlen  der  unbewußten  Gedanken  auch  sehr  auf- 
geregt, doch  als  ich  später  mich  mehr  in  die  Anschauungen  meines  Arztes 
vertiefte,  lernte  ich  mit  offenem  Auge  auf  den  schmutzigen  Untergrund 
des  Menschen  schauen,  ihn  anders  beurteilen.  Ich  lernte,  mich  über  vieles 
Kleinliche,  welches  so  oft  das  Leben  des  Menschen  trübt,  hinwegzusetzen.  Wie 
atmete  ich  nach  jeder  Ordination,  in  der  ich  gebeichtet  und  mein  Gewissen 
erleichtert  habe,  auf!  Wie  lebensfroh  wurde  ich,  nachdem  ich  jedesmal  so  viel 
Schönes,  Neues,  Fesselndes  zugelernt  habe!  Mein  Selbstvertrauen  und  mein 
Lebensmut  steigerten  sich  nach  jeder  Aussprache.  Und  nun  bin  ich  über- 
zeugt, daß  Aussprache,  das  furchtlose  Überlegen  jedes  Gedankens,  geregeltes 
Geschlechtsleben  resp.  richtige  Ausnutzung  der  überschüssige^  Energien  die 
sichersten  Mittel  zur  Heilung  der  Kranken  und  zur  Erhaltung  der  gesunden 
Psyche  sind.  Beim  Eückblicke  und  der  Übersicht  über  meine  Krankheits- 
geschichte sehe  ich  erst,  wieviel  ich  gelitten,  deshalb  weiß  ich  die  Heilung 
um  so  mehr  zu  schätzen  und  um  so  stärker  ist  mein  Dankgefühl." 

Bei  diesem  Kranken  zeigte  es  sich,  daß  eine  innerliche  Frömmig- 
keit ihm  verbot,  vor  der  Ehe  zu  einem  Weibe  zu  gehen.  Er  stand  auf 
einer  ziemlich  hohen  ethischen  Stufe.  Nun  möchte  ich  noch  nachtragen, 
daß  dieser  Mann  seither  —  ich  beobachte  den  Fall  schon  acht  Jahre  — 
geheiratet  hat  und  außerordentlich  potent  ist. 

Solche  Fälle  sind  gar  nicht  so  selten.  Viele  Menschen  tragen  eine 
latente  Neurose  mit  sich  herum,  die  erst  ausbricht,  wenn  das  Leben 
sie  ihrer  Lustquellen  beraubt.  Mit  dem  Aufgeben  der  Onanie  sinken  die 
Lebensfreude  und.  der  Lebensmut.  Unbefriedigte  Menschen  sind  immer 
unglückliche  Menschen.  Tritt  aber  einmal  der  Sexualhunger  ein,  so  löst 
er  verborgene  Kräfte  und  auch  die  anderen  gebändigten  Triebe  rütteln 
an  ihren  Ketten.  So  macht  ein  Rebell  die  ganze  Gemeinde  rebellisch. 
In  dieser  Hinsicht  ist  die  psychologische  Erforschung  der  Verbrechen 


74 


Erster  Teil.  Die  Onanie.  Larvierte  Onanie. 


von  allergrößter  Bedeutimg.  Auch  bei  diesem  Kranken  traten  Mordim- 
pulse in  negativer  Form  (Abwehr  des  Gedankens,  Selbstbeschuldiguxig) 
erst  auf,  als  er  ganz  abstinent  und  unglücklich  wurde.  Ich  habe  bei 
vielen  Verbrechern  konstatieren  können,  daß  sie  erst  nach  einer  großen 
Liebesenttäuschung  hemmungslos  wurden.  Es  ist  eine  alte 
Erfahrung,  daß  eine  glückliche  Liebe  gut  macht, 
wahrend  eine  unglückliche  die  ganzeBüchse  der 
rand'ora  öffnet.  .  .  . 


Die  Onanie. 

IV. 

Andere   Formen    larvierter   Onanie.    —    Erotische   Reizungen    als 
[Heilmittel.  —  Zur  Psychogenese  des  Schuldbewußtseins. 

Man  wird  am  besten  für  seine  Tugenden 
bestraft.  Nietzsche. 

Klärt  man  die  Patienten  über  die  Gefahrlosigkeit  der  Onanie  auf, 
so  bemerkt  man  häufig,  daß  sie  ungläubig  den  Kopf  schütteln  und  die 
neue  Lehre  nicht  glauben  wollen.  Sie  können  das  Spiel  mit  der  Gefahr 
nicht  entbehren.  Oder  sie  fürchten  die  Onanie,  weil  sie  bei  ihnen  mit 
den  oft  erwähnten  Phantasien  verknüpft  ist.  Die  Onanie  gestattet 
nämlich  eine  Verschiebung,  welche  oft  die  interessantesten  Konflikte 
verbirgt.  Dabei  ist  nicht  immer  die  manuell  betriebene  Onanie  die 
Quelle  des  Schuldbewußtseins.  Daß  auch  psychische  Onanie  dieselben 
Erscheinungen  zeitigen  kann,  beweist  der  nächste  Fall.  Der  Kampf 
gegen  die  psychische  Onanie  ist  noch  schwerer  als  der  gegen  die 
physische,  weil  sich  ja  die  lasziven  Vorstellungen  immer  wieder  auf- 
drängen und  sich  nicht  so  leicht  durch  allerlei  Hemmungen  des  All- 
tags abweisen  lassen.  Auch  sehen  wir  in  der  nächsten  Beobachtung 
deutlich  die  Pollution  als  Onanieersatz,  resp.  die  unbewußte  Onanie  an 
Stelle  der  bewußten  treten.  Krafft-Ebing1)  teilt  folgenden  charak- 
teristischen Fall  mit: 

Fall  Nr.  15.  Frl.  X.,  30  Jahre,  aus  belasteter  Familie,  von  Kindes- 
beinen auf  neuropathisch,  versichert,  daß  schon  in  ihrem  6.  Jahre  bei  ihr 
lüsterne  Bilder  auftraten,  denen  sie  sich  immer  mehr  überließ.  Es  kam 
mit  der  Zeit  zu  förmlicher  psychischer  Onanie  und  in  den  letzten  Jahren 
•stellten  sich  Beschwerden  im  Sinne  einer  Neurasthenia  sexualis  ein. 
Patientin  ahnte  den  Zusammenhang  zwischen  Leiden  und  schädlicher 
Gewohnheit.  Das  populäre  Buch  von  Bock  schaffte  ihr  die  gewünschte 
Aufklärung  unter  heftigen  Gemütsbewegungen.  Diese  wurden  noch  ver- 
mehrt durch  Schicksalsschläge,  welche  die  Familie  trafen.  Patientin 
ließ  nun  ab  von  ihrer  schlechten  Gewohnheit,  aber 
gleichwohl  verschlimmerte  sich  von  nun  an  ihr 
Befinden   zusehends.   Sie  wurde  nervös,  sehr  erregt,  dysthymisch. 


l)  P6ychopathia  sexualis.  14. Auflage.  Stuttgart,  Ferdinand  Enke,  1912. 


76 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


litt  an  schlechtem,  unerquicklichem,  von  lasziven  Träumen  gestörtem 
öchlate,  Spinalirritation,  Anämie,  schwachen  und  schmerzhaften  Menses 
Die  von  jeher  schwache  Neigung  zum  männlichen  Geschlechte  und  zum 
Eingehen  einer  Ehe  sank  auf  ein  Minimum,  dagegen  wurde  Patientin 
trotz  allen  Widerstrebens  immer  mehr  das  Opfer  eines  dem  Priapismus 
des  Mannes  ähnlichen,  an  und  für  sich  nicht  wollüstigen,  oft  geradezu 
peinlichen  genitalen  Orgasmus.  Es  gesellten  sich  nächtliche  Pollutionen 
hinzu,  insofern  Patientin  anläßlich  lasziver  Traumsituationen  mit  einem 
Wolluetgefuhl  erwachte  und  eine  Nässe  in  den  äußeren  Genitalien  ver- 
spürte.   Nach   solchen  Pollutionen  fühlte  sie  sich  tagelang  ganz 

^^S^^^^^  Und  VOn  heftiger  Spinalirritation 
heimgesucht.    Die  nächtlichen   Pollutionen  wurden   mit  der    Zeit   auch 

eszu?nX^eften/aSZiVeJ\TräUme  aU8gelöst  und  -hließlich  kam 
ltT£  Zustanden  auch  bei  Tage.  Patientin  entschließt  sich  mit 
ÄÄ?  Konfidenzen  dem  Arzt  zu  machen.    Sie  ist  blut- 

säl  mSSSa  T*°$  Jv'f hrt-    Die  Lenden-  u»d  Nackenwirbel- 
ich    ^^h;  druckempfindlich.  Patientin  schläft  wenig  und  unerquick- 
lich,  fühlt   sich    matt   und  elend,    klagt   über    Ziehen   und    paraWhe 

IraSi'  in  dfuiC^et..Ruucke"raa^sleiden  und  findet  den  Grund  ihrer 
Lkttt  von  ßnl  langiahr!gei;  Panischen  Onanie.  Erst  durch  die 
ftft n l T  £  S1Ch  lhres  Unrechts  bewußt  geworden    Mastur- 

Äe  und  SÄSf^  Jft »Hauptklage  ist  eine  fast  kontinulr  1 
Unruhe  und  Aufregung  m  den  Genitalien.   Es  sei  wie  beim  Magen  wenn 
er  hungrig  werde.    In  den  Genitalien  (objektiver  Befund  n2)  Jpüre 
e  em  qualvolles  Brennen,    Hitze,    Pulsieren,    Unruhe,    wT  wenn  ön 
Uhrwerk  drinnen  los  wäre.    Nur   höchst  selten  verband^  aicTJa^t 
v^llustige  Gedanken    Diese  sexuale  Neurose  wirke  enteetzlich  deprim    - 
rend  auf  sie.    Sie  habe  nur  vorübergehend  Ruhe,  wenn  der  Zustand  hfa 
zur    Pollution    ausarte,    und   diese   vermehre   dann   wieder  Ihre   „eur" 
patinschen  Beschwerden.    Zur  menstrualen  Zeit  leide  sie  am  heftigsten 
Halbbäder  von  23—19°  R,   Suppositorien  von  Camphor.  monobrom  0  fi 
mit  Extr.  belladonn.  0,04,  Bromnatrium  3  bis  4,0  abends    Pulver 'ni 
Camphora  0,1,  Lupulin  0,5,  Extr.  secal.  0,08,  zweimal  täglich,  brachten 
der  Kranken  große  Erleichterung  und  tageweise  völlige  Ruhe.    Damit 
kehrte  auch  das  schwer  erschütterte  Vertrauen  in  die  Zukunft  und  Hip 
Ruhe  des  Gemütes  wieder." 

Auch  in  diesem  Falle  sehen  wir  eine  bedeutende  Verschlimmerung 
auftreten,  sobald  die  Patientin  den  Kampf  gegen  ihre  psychische  Onanie 
eröffnet,  welche  ihr  ja  doch  nur  eine  halbe  Befriedigung  gewährte.  Sie 
hilft  sich  schließlich  mit  den  Pollutionen.  Sie  ersetzt  die  bewußte  psy- 
chische Onanie  durch  die  unbewußte. 

Wie  gering  sind  eigentlich  diese  Erkenntnisse,  welche  uns  solche 
rem  deskriptiv  berichtete  Fälle  bringen!  Die  verschiedenen  Formen 
„unbewußter  Onanie"  kann  man  nur  durch  genaue  Nachforschung 
im  analytischen  Sinne  kennen  lernen.  Diese  Erforschung  ist  aber  kein 
einfaches  Ausfragen.  Sie  erfordert  Kenntnis  der  Tech- 
nik und  Erfahrung.    Deshalb  besteht  zwischen  den 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  77 

wirklichen  Analytikern  und  den  Ärzten,  welche 
ohne  Kenntnis  der  Technik  die  Resultate  der  Ana- 
lytiker nachprüfen  wollen,  eine  unüberbrückbare 
Kluft. 

Interessant  ist,  daß  auch  Schmerzen  eine  larvierte  Onanie  ver- 
bergen können.  Nicht  immer  ist  die  Erkenntnis,  daß  es  sich  um  Orgasmen 
handelt,  so  leicht  zu  erwerben,  und  auch  dem  Analytiker  kommen  Fälle 
unter,  in  denen  er  zweifelt.  Und  ich  wiederhole  es:  Erst  die  den 
onanistischen  Akt  begleitende  Phantasie  kann  uns  volle  Aufklärung  , 

über  seine  Bedeutung  bringen. 

Der  nun  folgende  Fall  ist  in  mancher  Hinsicht  von  großem 
Interesse. 

Fall  Nr.  16.  Eine  zweiundvierzigjährige  Frau  wird  mir  von  einem 
Landarzte  wegen  nervöser  Bauchschmerzen  zugeschickt.  Diese  Schmerzen 
quälen  die  Frau  schon  seit  neun  Jahren.  Es  handelt  sich  um  eine  merk- 
würdige Neuralgie  in  der  Gegend  des  Appendix,  gegen  die  Blase  und  den 
Kücken  ausstrahlend.  Der  Mac  Burneysche  Punkt  ist  nicht  druckempfindlich. 
Dagegen  wächst  die  Druckempfindlichkeit,  je  näher  man  der  Medianlinie 
kommt.  Die  Patientin  wurde  verschiedentlich  behandelt.  In  Wien  führte 
man  die  Schmerzen  auf  eine  Retrofiexio  uteri  zurück.  Schließlich  schlug 
ihr  ein  berühmter  Gynäkologe  die  Exstirpation  des  Uterus  vor.  Sie  willigte 
mit  Freuden  ein,  um  endlich  von  den  Schmerzen  ganz  erlöst  zu  werden. 
Zuerst  war  die  Wirkung  ausgezeichnet.  Aber  schon  drei  Wochen  nach  der 
Operation  meldete  sich  der  Schmerz  in  alter  Intensität  und  noch  stärker 
wieder.  Nun  kamen  die  Ärzte  darauf,  daß  der  Schmerz  ein  nervöser  sei,  und 
begannen  sie  mit  Brom,  Valeriana,  Elektrizität  zu  behandeln.  Alles  ohne 
Erfolg.  Dr.  H.,  ein  Arzt,  der  mein  Buch  „Nervöse  Angstzustände"  gelesen 
hatte,  sandte  mir  die  Patientin  mit  der  Bemerkung  zu,  der  Fall  habe  sicher 
eine  psychogene  Wurzel.    Er  sei  außerstande,  sie  aufzufinden. 

Die  analytische  Durchforschung  des  Falles  ergab  gleich  in  der  ersten 
Stunde  ein  wichtiges  Resultat.  Ein  halbes  Jahr  vor  dem  Beginn  der  Schmerz- 
anfälle trat  ein  Lusttraum  auf  (der  sich  später  wiederholte),  worauf  sie 
das  erste  Mal  in  ihrem  Leben  einen  Orgasmus  gefühlt  habe.  Während  ihrer 
Ehe  war  sie  immer  anästhetisch.  Sie  hatte  mit  23  Jahren  geheiratet.  Und 
erst  mit  33  Jahren  begann  sie  im  Anschluß  an  einen  Traum  zu  „empfinden". 
Sie  fragte  —  trotz  des  Lustgefühles  —  sehr  besorgt  und  erregt  ihre 
Freundinnen,  was  das  wäre,  und  beruhigte  sich,  als  sie  hörte,  es  sei  normal, 
jede  Frau  müsse  das  empfinden.  Das  erlebte  sie  im  Alter  von  33  Jahren! 
Und  nun  erzählte  sie,  daß  ein  Zusammenhang  zwischen  dem  Schmerz  und 
der  Lustempfindung  existiert.  Sie  habe  gefunden,  daß  der 
Schmerz  immer  heftiger  auftrete,  wenn  sie  einen 
„süßen"  Traum  gehabt  hatte.  (Es  hat  den  Anschein,  als  ob  der 
Schmerz  die  Strafe  für  eine  verbotene  Lust  wäre.) 

Des  Inhaltes  der  süßen  Träume  kann  sie  sich  nicht  erinnern.  Sie  glaubt, 
sie  träume,  daß  ihr  Mann  mit  ihr  verkehre.  Manchmal,  daß  sie  an  seiner 
Brust  liege  und  sauge.  Manchmal  etwas  anderes,  an  das  sie 
sich  nicht  erinnern  kann.  Sie  habe  auch  jetzt  bei  ihrem  Manne 
keinen  Orgasmus,  empfinde  nur  ein  „leeres  Hin  und  Her". 


»*; 


78  Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Schließlich l macht  sie  noch  eine  merkwürdige  Mitteilung:  Wenn   der 
Schmerz   sehr  stark   sei,    so   müsse   sie   sich   massieren 

fZ  t  refd-uSch:erZ  nach>  aber  si*  empfinde  ei„ 
N«  h,  Lust^fnuhl  »nd  wisse  dann  sicher,  daß  in  dieser 
Nacht    ein    süßer    Traum    kommen    werde 

*~  n        +6r  näCMEtenv.  SAtZung  erzählt  öi«  mir  Yon  ihrer  Enttäuschung  nach 

tnn  P,n        ^  Mf  hattr,e  ihr  6Tzmt>  daß  eie  kein*  ^au  mehr  sdn  werde 
wenn  alles  entfernt  sei    Darum  ging  sie  mit  Freuden  auf  den  Vorschlag  eS 

gtn ^ÄaSfc  t/t T,  6ntfrepn  ZU  laSS6n-  Denn  "^ 
SErJ  fi  -o „ und  strebte  nach   Reinheit.    Drei   Wochen   war   sie 

f  5ÄJS  SDeer  SS  kam;  ^^  hStte  ßie  drd  ÄXuSe 
am  Ssten  Ta^it  ?tzte  ZUgleich  mit  einer  tiefen  ^Pression 

W     mlZ    et  ZZmderer'  ia  mit  n°ch  8tärkerer  Inten8ltät  ™- 

«    , ..  ^h.8eh*  in  ein  Zuckerlgeschäft,  um  mir  Zuckerl  zu  kaufen     Die 
Verkäuferin  gibt  mir  statt  der  Zuckerln  Tinte.    Ich  mache  mich  ganz 
schmutzig.    Dann  nehme  ich  einige  Bäder,  um  mich  rein  zu  waschen 
Ich  mache  die  Patientin,  der  gar  nichts  zu  diesem  Traume  einfallen 
will,  aufmerksam,  daß  sie  etwas  erlebt  haben  müsse,  wodurch  sie  sich  befleckt 
fühle.    Sie  suche  sich  nun  reinzuwaschen.  .  .  Das  sei  der  Sinn  des  Traumes 
Sie  gibt  ihre  stereotype  Antwort:    Sie  habe  nichts  erlebt,  sie  wisse  sich  an 
nichts  zu  erinnern.    Dann  frage  ich,  ob  sie  etwas  in  einem  Zuckerlgeschäft 
erlebt  habe.    Darauf  erzählte  sie:   „In  einem   Zuckerlgeschäft  nicht     Aber 
jetzt  fallt  mir  plötzlich  etwas  Wichtiges  ein,  das  ich  ganz  vergessen  habe 
Ich  war  sieben  Jahre  alt;    da  lockte  mich  ein  Geselle,  der  bei  meinem  Vater 
in  Diensten  stand,  mit  Zuckerln  in  eine  Scheune.    Dort  sagte  er,  er  werde 
mir  etwas  Süßes  zeigen.    Er  hob  mir  das  Kleid  auf  und  vollführte  mit  mir 
einen  Verkehr. 

„Haben  Sie  den  Eltern  etwas  davon  erzählt9" 

„Nein,  ich  schämte  mich  zu  sehr.  Aber  ich  bat  den  Vater,  den  Gesellen 
wegzugeben,  ich  konnte  ihn  nicht  leiden.  Ich  wich  ihm  aus  und  floh  immer 
seine  Nahe,  wenn  er  mit  mir  wieder  allein  war.  Ich  war  aber  schon  'siebzehn 
Janre  alt,  als  er  wegging. 

„Haben  Sie  ihn  dann  wiedergesehen?" 

„Ja,  aber  da  war  ich  schon  lange  verheiratet." 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  79 

„Wie  alt  waren  Sie  da?" 

„Es  war  gerade  im  Jahre  nach  meinem  Abortus,  also  mit  33  Jahren." 
„In  demselben  Jahre,  als  Ihre  Pollutionen  und  Schmerzen  anfingen?" 
„Ja  —  in  demselben  Jahre.    Von  meiner  Heimat  ging  ich  dann  nach 
Wien." 

Hier  muß  ich  eine  kleine  Einschaltung  machen.  Wir  nennen  einen 
solchen  Vorfall  ein  „Trauma".  Die  Bedeutung  dieser  Traumen  ist  von  der 
Freudschule  in  ihren  ersten  Publikationen  entschieden  überschätzt  worden. 
Allein  man  muß  sich  davor  hüten,  die  dauernde  Wirkung  eines  so  furcht- 
baren Erlebnisses  zu  unterschätzen.  Es  sind  mehrere  Wirkungen  möglich. 
Das  Trauma  wird  glänzend  vertragen  und  das  Individuum  überwindet  den 
Shock.  Oder  der  Mensch  wird  später  neurotisch  und  benützt  das  Trauma 
nachträglich  in  der  Dynamik  der  Neurose.  Das  Erlebnis  kann  ebenso  ein 
Anreiz  zum  Leichtsinn  wie  die  Ursache  einer  pathologischen  Hypermoralität 
werden.  Es  kann  als  Aufforderung  zur  Wiederholung 
oder  als  Warnung  vor  der  Wiederholung  wirken.  Im 
letzteren  Falle  werden  die  Kinder  durch  das  Schreckliche  des  Vorganges, 
durch  die  Brutalität  des  Erlebnisses  dem  antisexuellen  Instinkte  ausgeliefert 
und  zur  Keuschheit  getrieben.  Der  Drang  nach  Wiederholung  wird  durch 
das  Bestreben,  der  Wiederholung  auszuweichen,  überwunden.  Ein  Trauma 
dieser  Art  hat  schon  aus  manchem  Mädchen  eine  Nonne  gemacht.  Ich  kenne 
einige  Fälle,  die  im  Kloster  endeten.  Oder  es  wird  eine  Keuschheit  betont, 
welche  unnatürlich  ist.  So  war  es  auch  in  diesem  Falle.  Das  kleine  Mädchen 
wurde  übertrieben  schamhaft,  scheu  und  fromm.  Im  Herzen  hatte  es  die 
stille  Hoffnung,  der  Bursche  werde  seine  Sünde  durch  eine  Heirat  wieder 
gut  machen.  Denn  es  liebte  den  Gesellen  und  konnte  ihn  nie  mehr  vergessen. 
Es  betrachtete  sich  als  seine  Frau  und  heiratete  erst  nach  langem  Zögern  mit 
23  Jahren.  Aber  der  Bursch  war  noch  ledig.  Sie  konnte  die  Hoffnung  einer 
alles  reinwaschenden  Ehe  noch  aufrecht  erhalten.  In  ihrer  Heimat  sah  sie 
den  Burschen  zum  ersten  Male  als  Ehemann,  sie  erfuhr,  daß  er  verheiratet 
sei.  Sie  reiste  nach  Hause  und  ein  starker  „Fluß"  zwang  sie,  nach  Wien 
zu  fahren.  Dieser  Fluor  war  schon  ein  Zeichen  ihrer  übergroßen  Erregbar- 
keit. Die  lange  zurückgestaute  angesammelte  Libido  wollte  durchbrechen. 
In  den  nächsten  Sitzungen  erfuhr  ich  erst,  daß  sie  in  Wien  massiert" 
wurde.  Die  Patientin  gab  an,  daß  der  Schmerz  vorne  und  hinten  "eigentlich 
innen  aufgetreten  sei.  Ich  dachte  sofort  an  eine  bimanuelle  Untersuchung 
die  sie  aber  leugnete.  Sie  habe  bei  der  Untersuchung  nie  Schmerzen  oder 
Lustgefühle    gehabt.     Am    nächsten   Tag    erinnert    sie   eich    schon    an   die 

SÄÄ    Sie  Sei  naCbher  fmer   ganZ   hin  gßwesen.  we™  der 
große  starke  Doktor  m  ihr  herumgearbeitet  habe.    Man  habe  bei  ihr  eine 

Kuckwartsknickung  der  Gebärmutter  konstatiert  und  ihr  Massage  verordnet. 

Sie  habe  blaue  Flecken  gehabt  und  die  Nacht  danach  vor  Aufregung  nicht 

geschlafen     Vor    der    Massage   habe    sie   immer    gezittert,   wie   vor    etwas 

Fürchterlichem.  .  . 

Kurz,  ich  erfahre,  daß  die  Massage  im  höchBten  Grade  auf  'sie  erregend 
gewirkt  und  nach  langer  Zeit  wieder  deutliche  Lustgefühle  vermittelt  habe, 
Lustgefühle,  die  mit  Schmerzen  kombiniert  waren. 

Der  Fall  wird  nun  klar.  Das  Kind  hatte  beim  ersten  Koitus  neben 
den  Schmerzen  ein  starkes  Lustgefühl  empfunden.  Das  Mißverhältnis  zwischen 
großem  Phallus  und  der  infantilen  Vagina  war  zu  groß.  Als  sie  nun  heiratete, 


80  Erster  Teil.  Die  Üuanie. 

enttäuschte  sie  schon  in  der  Brautnacht  die  (natürlich  nur  relative!)  Klein- 
heit des  Membrum  virile.  Sie  blieb  anästhetisch.  Die  Erinnerung  an  den 
großen  Phallus  der  Kindheit  störte  den .'  Eindruck  der  Gegenwart  Der 
Anblick  des  verheirateten  Geliebten  weckte  die  alte  begrabene  Erinnerung 
zu  neuem  Leben.  Die  Massage  aber  brachte  die  alte  traumatische  Szene 
in  veränderter  Form.  Einen  großen  Gegenstand  (die  Hand  des  riesengroße» 
Masseurs,  der  in  ihrem  Innern  herumwühlte,  wohl  auch  Erinnerungen  an 
die  gänzlich  vergessene  Kinderonanie.  Nun  war  die  Sperrung,  der  ihre 
Sexualität  unterlegen  war,  wieder  aufgehoben.  Sie  hatte  häufig  Träume 
welche  diese  Massage  wiederholten. 

Jetzt   verstehen   wir,   warum   der   Schmerz   aufhört,   wenn 

PnllVA«   massiert:    und    warum     sie    dann    sicher    eine 

„         »f\Pi         "8rt    Die  eigene  Mas8a«e  weckte  die  Erinnerung 

^  .  Hand  L  f^  T*  dff  Kindert™a-  ™d  im  Schlafe  vollendete 
ihre  Hand  den  autoerotischen  Akt. 

zu  maeh^T™  **"  W^*  Über  iie  unbewußt«  Onanie  keine  Vorwürfe 
SchSdSßfe  Sn  1St  3a  ^'an  SChuldl0S-  Und  doch  hat  ™  «in  tiefes 
und  deri!-zt  S1G  beWigt  ihren  Mann  mit  dera  ersten  Geliebte» 

In  diese  Phantasien  mischen  sich  auch  Todesgedanken,  die  alle  Hinder- 
nisse zwischen  ihr  und  der  ersten  Liebe  hinwegräumen 
t      a     ?Ä  die,Erklärung  dieses   Schmerzes.   Wir   sehen,   wie  recht  der 
Landarzt  hatte,  als  er  eine  psychogene  Wurzel  annahm.    Und  wir merk* 
mit   Grauen,  wie  viele  Operationen  Überflüssigerweiße  gemacht  werdeT 
•         Wieder  stoßen  wir  auf  eine  pathogene  Szene,  welche  durch  die 
Onanie  festgehalten  wird.*)  Es  ist,  als  ob  sich  alle  Fähigkeit  zur  Libido 
auf  diese  Szene  konzentrieren  würde.    Bei  der  Besprechung  der  An- 
ästhesie der  Frau  werden  wir  auf  ähnliche  FäUe  zu  sprechen  kommen 
(Bd.  III) .  Die  Analyse  wirkt  auf  diese  kalten,  verzauberten  Frauen  da- 
durch erlösend,  daß  sie  die  traumatische  Szene  bewußt  macht  und  es 
ermöglicht,  die  an  sie  fixierte  Libido  auf  die  anderen  Formen  des  Sexual- 
verkehrs überströmen  zu  lassen.    Es  sollte  mich  nicht  wundern,  wenn 
diese  Frau  bald  auch  bei  ihrem  Manne  einen  Orgasmus  empfinden  würde. 
Ich  habe  keine  weitere  Nachricht  von  ihr  erhalten. 

In  dieser  Krankengeschichte  erfahren  wir  wieder  etwas  von  der 
erotischen  Wirkung  ärztlicher  Behandlungen. 

Jedem  erfahrenen  Arzte  ist  es  bekannt,  daß  gewisse  medizinische 
Prozeduren  als  erotische  Reizungen  auf  die  Patienten  wirken.  Schon 
die  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Frauen  bei  einer  genauen  Untersuchung 
benehmen,  verrät  sofort,  wie  sie  den  Arzt  werten.  Für  viele  Kranke 
bleibt  er  eben  immer  nur  ein  Mann.  Sie  produzieren  teils  bewußt,  teils 
mit  geheimer  Absicht  allerlei  Widerstände,  betonen  ihre  Schamhaftig- 
keit,  meinen,  der  Arzt  solle  sich  umdrehen  und  wegschauen,  er  solle 

*)  Die  Onanie   ist  das  Fixativ,   durch  das  leicht  hingeworfene   Pastellbilder  un- 
zerstörbar werden  oder  dank  dem  sie  zumindest  dem  Einflüsse  der  Zeit  widerstehen. 


Andere  Formen  iarvierter  Onanie  usw.  gj^ 

nur  einen  bestimmten  Teil  des  Körpers  untersuchen,  fragen,  ob  sie 
das  Hemd  „unbedingt"  ablegen  müssen.  Je  unbefangener  sich  eine  Dame 
entkleidet,  desto  weniger  denkt  sie  daran,  die  Untersuchung  als  ero- 
tischen Akt  aufzufassen.  Daß  sich  viele  Frauen  nur  aus  erotischen 
Motiven  untersuchen  lassen,  kann  ich  aus  der  Zeit,  da  ich  noch  prak- 
tischer Arzt  war,  bestätigen.  Ja,  eine  ältere,  sehr  zurückhaltende  Dame 
sagte  mir  einmal:  „Wenn  ich  Ihnen  einen  Rat  für  Ihre  Praxis  geben 
sollte,  ich  müßte  Ihnen  sagen:  Untersuchen  Sie  die  Frauen  immer 
so  genau  als  möglich  und  bleiben  Sie  dabei  immer  der  Arzt.  Die 
Frauen  verlangen  das  und  sind  beleidigt,  wenn  man  es  nicht  tut.  Ich 
habe  immer  die  Ärzte  tadeln  gehört,  die  aus  Gründen  der  Zurück- 
haltung oder  aus  Zeitmangel  oberflächlich  untersucht  haben.  Ich 
glaube,  die  Frauen  haben  ihre  geheime  Lust  an  diesen  Dingen  und 
gestehen  es  sich  nicht  ein." 

Die  Dame  hat  wirklich  recht.  Alle  diese  Reizungen  liegen  auf 
der  Linie  „Lust  ohne  Schuld".  Doch  von  diesen  alltäglichen  Vorgängen 
will  ich  gar  nicht  sprechen.  Viel  wichtiger  scheint  mir  aber  der  Um- 
stand zu  sein,  daß  der  Frauenarzt  —  ohne  es  zu  wissen  —  erotische 
Reizungen  ausübt.  Scheint  mir  schon  die  Untersuchung  für  manche 
Frauen  eine  Art  Trauma,  das  ihre  Phantasie  immer  wieder  beschäftigt, 
so  ist  die  bimanuelle  Massage  oft  nur  eine  Form  der  allerotischen  Be- 
tätigung, wie  wir  sie  früher  Onanie  genannt  haben.  Das  wissen  die 
erfahrenen  Frauenärzte  und  wenden  allerlei  Vorsichtsmaßregeln  an. 
Die  Frauen  aber,  die  sich  an  die  Massage  gewöhnen,  sind  manchmal 
unglücklich,  wenn  sie  aussetzen  müssen.  Aus  meiner  Praxis  erinnere 
ich  mich  an  eine  Dame,  die  ich  wegen  eines  Exsudats  vorsichtig 
massierte.  Ich  bemerkte  deutlich  die  reizende  Wirkung  und  riet  der 
Frau,  die  einen  ordentlichen  Orgasmus  produzierte,  von  der  Fort- 
setzung der  Behandlung  ab.  Sie  bestand  aber  hartnäckig  darauf,  es 
wäre  da6  einzige,  was  ihr  helfen  könnte  und  ....  suchte  einen  anderen 
Arzt  auf.  Manche  Damen  verbergen  ihren  Orgasmus  unter  allerlei 
Schmerzensäußerungen,  sie  werden  vor  Schmerzen  rot  im  Gesicht,  be- 
tonen, es  wäre  äußerst  schmerzhaft  und  unangenehm.  Beim  Orgasmus 
winden  sie  sich  „vor  Schmerzen",  um  den  Charakter  der  Lust  zu 
maskieren. 

Alle  diese  Formen  der  sexuellen  Betätigung  sind  von  manchen 
Kranken  hochgeschätzt.  So  erzählte  mir  ein  Frauenarzt,  er  habe  in 
seiner  Klientel  mehrere  alte  Jungfern,  die  jeden  Monat  einmal  oder 
einige  Male  zur  Untersuchung  kämen.  Diese  Untersuchung  scheine 
ihrer  Phantasie  einen  Stützpunkt  zu  geben.  Sie  ist  offenbar  der  be- 
rühmte „Fetzen  der  Realität",  welchen  der  Neurotiker  als  „Flagge" 
seiner  Phantasien  benötigt.    Deshalb  werden  von  vielen  Hysterischen 

Steksl,   Störungen  de6  Trieb-  und  AfTiiktlebens.  n.  2.  Autl.  g 


82  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

■ 

die  bekannten  Erfindungen  vorgebracht,  der  Arzt  hätte  bei  ihnen  ein 
sexuelles  Attentat  versucht  oder  ausgeführt,  Beschuldigungen,  die  sich 
in  den  seltensten  Fällen  als  wahr  erwiesen  haben.  Die  Betreffenden 
sind  schon  mit  der  Erwartung  eines  Attentates  zum  Arzte  gekommen. 
Oft  ist  die  phantastische  Erzählung  die  Strafe  für  das  anständige  Be- 
nehmen des  Arztes,  das  manche  Frauen  direkt  als  Beleidigung  auf- 
fassen. Jede  Frau  wertet  den  Umstand,  daß  man  sie  begehrt,  als  eine 
Huldigung.  Wenn  die  Form  keine  rohe  ist,  so  wird  sie  diese  An- 
erkennung ihrer  Reize  immer  dankbar  quittieren.  Manche  anständige 
Frau  hat  den  Arzt  schon  innerlich  zornig  verlassen,  weil  er  sie  nicht 
als  Weib  berücksichtigt  hat,  d.  h.  ihr  gezeigt  hat,  daß  ihre  Reize  ihm 
ganz  gleichgültig  sind. 

In  der  Analyse  treten  diese  Erscheinungen  sehr  deutlich  zutage. 
Die  Kranken  werben  um  die  Liebe  des  Arztes  und  ihre  Träume  bringen 
immer   wieder    Situationen,    in   denen    der    Arzt    sie   untersucht.     Die 
Kranken  wenden,  großes  Raffinement  auf,  um  den  Arzt  zu  bewegen 
seine  Regel  aufzugeben,  die  da  lautet:    Patienten,  die  man  analytisch 
behandelt,  untersucht  man  nicht!    Aber  die  Kranken  wollen  den  Arzt 
zur  Untersuchung  zwingen.    Sie  zeigen  irgend  eine  Effloreszenz  am 
Unterarm  oder  am  Sternum,  weil  sie  wegen  „einer  solchen  Kleinigkeit" 
nicht  zu  einem  andern  Arzte  gehen  wollen.   Sie  behaupten,  das  nervöse 
Magenleiden  wäre  bestimmt  organisch.    Der  Arzt  solle  doch  einmal 
untersuchen,  dann  werde  er  sich  schon  überzeugen.   Sie  hätten  bestimmt 
eine  Geschwulst,  es  bilde  sich  eine  Kugel,  der  Magen  stelle  sich  auf 
und  derlei  Monstrositäten  mehr,  nur  um  den  Arzt  aus  seiner  Reserve 
zu  locken.    Ja,  es  sind  mir  schon  viele  Fälle  vorgekommen,  daß  die 
Frauen  am  Schlüsse  der  Behandlung  gesagt  haben:  „Jetzt  sind  Sie 
mit  der  Analyse  fertig,  jetzt  können  Sie  mich  ja  innerlich  behandeln." 
Ganz  am  Anfang  meiner  analytischen  Praxis  kam  eine  Dame  nach  dem 
Schlüsse  der  seelischen  Behandlung  und  bat  dringend,  ich  möge  sie 
gynäkologisch  untersuchen.   Sie  habe  nur  zu  mir  Vertrauen  und  werde 
sich  von  keinem  andern  Arzte  anrühren  lassen.    Sie  fürchte  aber,  sie 
hätte  einen  Krebs.  ...  Ich  war  damals  noch  praktischer  Arzt  und 
kannte  nicht  die  Fallen  und  Finten  der  Kranken.   Ich  untersuchte  sie, 
konnte  sie  wegen  des  Krebses  beruhigen,  sah  sie  aber  niemals  wieder. 
Sie  hatte  offenbar  gehofft,  daß  der  Anblick  ihrer  versteckten  Reize 
mich  überwältigen  und  zu  ihrem  Sklaven  machen  werde.   Sie  hätte  mich 
vielleicht  zurückgewiesen,  wenn  ich  um  sie  geworben  hätte,  weil  sie 
mich  als  Siegerin  verlassen  wollte.    So  ging  sie  nach  ihrer  Auffassung 
als  Besiegte  davon  und  ließ  sich  nicht  mehr  blicken.    Einen  ähnlichen 
Ausgang  nahm  ein  anderer  Fall.    Eine  Dame  wollte  mich  zu  ihrem 
Hausarzte  machen  und  begann  mit  der  Forderung  einer  gynäkologischen 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  g3 

Untersuchung!  Was  sie  von  mir  erwartet  hatte,  ahnte  ich  nicht.  Aber 
sie  kehrte  niemals  wieder.  Später  äußerte  sie  sich  zu  einer  Freundin, 
ich  wäre  kein  Mann. 

Daß  Gespräche  über  erotische  Themen  als  sexueller  Reiz  wirken, 
müssen  sich  die  Analytiker  immer  wieder  vor  Augen  halten.  Ich  weiß,  daß 
viele  Ärzte  mit  ihren ,  Kranken  ziemlich  offen  sprechen  und  sich  dabei  des 
gebräuchlichen  sexuellen  Jargons  bedienen.  Ich  betrachte  es  als  einen  be- 
sonderen Vorzug,  daß  ich  bei  Besprechung  dieser  heiklen  Themen  über  alles 
sprechen  kann,  ohne  verletzend  zu  wirken. 

Sehr  viel  hängt  von  der  Art  und  Weise  ab,  wie  man  mit  den  Kranken 
spricht.  Prinzipiell  vermeide  ich  alles  peinliche  Ausfragen,  die  Form,  wie 
sich  Hoche  und  Näcke  die  Analyse  vorstellen.  Ich  trage  nichts  in  den 
Kranken  hinein  und  lasse  ihm  das  Wort.  Ich  erleichtere  ihm  die  Geständnisse 
und  weiß  mich  immer  wieder  zu  verständigen,  so  daß  der  Kranke  oder 
die  Kranke  sich  nicht  verletzt  fühlen.  Ich  möchte  aber  nicht  unterlassen, 
zu  betonen,  daß  viele  Patienten  sich  von  der  Analyse  die  Vorstellung 
machen,  man  müsse  nur  über  seine  geheimen  sexuellen  Gedanken  sprechen, 
alles  andere  sei  Nebensache.  Nun  beginnen  sie  eine  Unmenge  erotischer 
Phantasien  zu  produzieren,  die  sich  immer  wieder  erneuern,  so  daß  man 
leicht  verleitet  werden  könnte  zu  glauben,  man  habe  nur  diese  Phantasien 
zu  analysieren.  Manchmal  ist  diese  erotische  Massenproduktion  eine  Form 
des  Widerstandes  und  ein  Versuch,  die  Analyse  ad  absurdum  zu  führen. 
So  kam  eine  außerordentlich  feinsinnige  Dame  wegen  Zwangsvorstellungen 
in  meine  Behandlung.  Sie  setzte  sofort  damit  ein,  daß  sie  mir  ihre  Gedanken 
nicht  sagen  könnte.  Sie  bezögen  sieh  auf  meine  Sexualität.  Sie  wollte  so 
die  Kur  unmöglich  machen.  Sie  hatte  von  einer  Freundin  gehört:  „Du  wirst 
fürchterliche  Sachen  hören  und  sprechen  müssen.  Denke,  du  mußt  alles  sagen, 
was  du  dir  denkst  .  .  ."  Ich  hörte  mir  diese  Phantasien  einige  Tage  an  und 
dann  sagte  ich:  „Sie  sind  von  heute  an  der  Regel  enthoben,  alle  Gedanken 
zu  sagen.  Das  heißt,  Sie  sprechen  jetzt  die  Gedanken,  die  meine  Person 
betreffen,  nicht  aus.  Ich  will  überhaupt  nicht'  alles  hören.  'Sie  können 
sprechen  und  auslassen,  was  Sie  wollen."  Von  diesem  Tage  an  verschwanden 
die  Vorstellungen,  die  meine  Person  betrafen,  vollkommen.  Sie  hatte  auf 
T  k  aUg  der  Analyße  mit  einem  Zwang  geantwortet,  der  diesen  Zwang 
ad  absurdum  führen  sollte.  Die  Analyse  ging  flott  vorwärts  und  es  gelang 
mir,  einen  großen  Erfolg  zu  erzielen.  Es  trat  dann  jene  Reduktion  auf  das 
Natürliche  ein,  welche  die  notwendige  Besprechung  der  sexuellen  Themen 
ermöglichte. 

Ich  will  zu  meinem  Thema  zurückkehren.  Manche  wunderbare 
Heilwirkung  eines  Heilmittels  geht  auf  erotische  Reizungen  zurück. 
So  habe  ich  schon  „Neurasthenien"  nach  länger  dauernden  Massagen 
der  Prostata  verschwinden  gesehen. 

Es  ist  erfahrenen  Urologen  aufgefallen,  daß  Patienten,  die 'eine 
Prostatamassage  mitmachen,  schwer  loszuwerden  sind.  Sie  kommen 
sehr  gerne  und  lassen  sich  willig  quälen.  Sie  betonen  beständig,  wie 
schmerzhaft  Ulld  peinlich  ihnen  die  Massage  wäre,  aber  sie  hielten  es 
gerne  aus  wenn  der  Erfolg  nicht  ausbleiben  werde  .  .  .  Und  sie  kommen 
immer  wieder  und  begehren  die  unentbehrliche  Massage. 

6* 


84 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Auch  die  Gonorrhoe-Behandlung  mit  Sonden  kann' bei  manchen 
Patienten,  die  an  „Ure  t  hr  a  1-E  r  o  tik"  (Sadger)  leiden  —  bei 
denen  also  die  Urethra  eine  erogene  Zone  ist  —  zu  erotischen  Reizungen 
fuhren.  Das  erklärt  uns  die  Fixation  mancher  chronischer  Gonorrhoiker 
an  ihre  Gonorrhoe  und  ihren  Arzt.  Onanie  durch  Einführung  von 
Gegenständen  in  die  Urethra  ist  gar  nicht  so  selten.  Jeder  erfahrene 
Urologe  kennt  diese  Fälle,  welche  oft  zu  schwierigen  Operationen 
führen.1) 

In  ähnlicher  Weise  wirken  verschiedene  andere  Massagen,  Strei- 
chungen, Reibungen,  manche  Bäder.  Daß  Sonnenbäder  ein  Tummelplatz 
von  Menschen  sind,  welche  Exhibitionisten  oder  bewußt  oder  unbewußt 
homosexuell  sind,  brauche  ich  nicht  zu  betonen.  Weniger  bekannt  ist 
dies  von  den  Wasserprozeduren,  deren  erquickende  Wirkung  in  manchen 
Fallen  aus  den  erotischen  Anregungen  stammt.  Ich  will  hier  nicht  von 
dem  famosen  Reibesitzbad  von  Kühne  sprechen,  welche  Prozedur  offen 
eine  erotische  Reizung  bezweckt  und  einen  onanistischen  Akt  unter  der 
Maske  einer  ärztlichen  Verordnung  darstellt.  Aber  die  Menschen  sind 
glucklich,  wenn  man  ihnen  gestattet,  sich  und  die  Mitwelt  zu  belügen 
Es  handelt  sich  ihnen  nur  darum,  das  Gewissen  zu  beruhigen  und  nach 
dem  Prinzipe  „Lust  ohne  Schuld"  zu  genießen. 

Betrachten  wir  als  Beispiel  einer  unbewußten  erotischen  Reizung 
eine  Beschreibung  der  magnetischen  Heilungen,  wie  sie  uns  Kollege 
Meissner  in  den  „Therapeutischen  Monatsberichten"  gegeben  hat. 

„Wie  der  Patient  —  erklärt  der  Autor  —  es  selber  merkt,  wenn 
die  Elektroden  seinen  Körper  berühren,  so  wird  der  „empfängliche 
Patient",  der  magnetisiert  werden  soll,  nicht  mit  magnetischen  Appa- 
raten, nein,  durch  den  Lebensmagnetismus  der  streichelnden  Hände  sehr 
bald  in  seinem  Körper  ein  ihm  fremdes  Etwas  bemerken,  fühlen,  ver- 
spüren. Aber  man  glaube  natürlich  nicht,  daß  dieses  „Etwas"  sich 
ebenso  aufdringlich  im  Körper  bemerkbar  machen  wird  wie  die  Elektri- 
zität, die  dem  Körper  künstlich  mit  Apparaten  zugeführt  wird.  Es 
zeigt  seine  Gegenwart  vielmehr  meist  in  viel  zarterer,  milderer  Weise 
an,  sei  es  wie  ein  sanfter  Luftzug,  ein  leiser  Wind,  der  den  betreffenden 
Körperteil  leise  umfächelt,  oder  wie  ein  Kribbeln,  ein  leises  Eiii- 
geschlafensein,  wie  ein  Zuströmen  von  Blut,  z.B. unter  die  Fingernägel, 
und  dann  wie  ein  sanfter,  warmer,  lauer  oder  auch  kühler  Strom  durch 
einzelne  Körperglieder  oder  durch  den  ganzen  Körper  der  Gesamtlänge, 
-breite  oder  -tiefe  hindurch,  je  nachdem  die  „magnetischen  Luftstriche" 


*)  Vgl.  Schäfer:  Ein  interessanter  Fall  von  masturbatorischer  Handlung.  (M.  m.  W., 
Bd.  63,  1916,'  Nr.  52.)  —  Es  ist  mir  in  diesem  Werke,  das  die  Psychologie  der  Onanie 
behandelt,  unmöglich,  den  ganzen  Reichtum  masturbatorischer  Handlungen  auszubreiten. 
Die  Kombinationen  sind  so  unendlich  und  so  abenteuerlich,  daß  sie  ein  besonderes 
Werk  füllen  würden.  Übrigens  werden  'die  nächsten  Bände  dieses  Werkes  zahlreiche 
Beispiele  bringen. 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw. 


85 


oder  die  einzelnen  Arten  des  Handauflegens  geschehen.  Fast  immer  sind 
die  Gefühle  Empfindungen  eines  hindurchgehenden,  meist  recht  schwachen 
elektrischen  Stromes,  mit  dem  Auftreten  eines  außerordentlichen  Wohl- 
gefühls verbunden.  Schon  manchmal  haben  wir  selbst  zur  Winterszeit, 
wo  oft  kaum  13°  R  Wärme  im  Zimmer  waren,  Leute,  die  vorher  vor 
Fieberfrost  froren,  als  ich  Sie,  wenn  dafür  empfänglich,  selbst  bis  auf 
Zimmerlänge  von  mir  ab,  am  halbentblößten  Körper  magnetisierte,  be- 
wundernd gesagt,  daß  sie  wie  Sommerwärme  in  ihren 
Körper  eindringen  fühlten;  andere  kranke  Personen,  die 
über  lästige  Körperhitze  klagten,  empfanden  beim  Magnetisieren  an- 
genehmes Gefühl  leichter  Kühlung.  Und  nicht  zu  selten  ist  es 
mir  vorgekommen,  daß  die  Kranken,  meist  waren  es  nur  speziell  Kranken- 
kassenpatienten, denn  bei  Privatpatienten,  die  selber  zahlen  sollen, 
wagte  ich  aus  Furcht  vor  übler  Nachrede  meist  das  Magnetisieren  nicht, 
also  solche  für  den  magnetischen  Körperstrom  leicht  und  schnell  emp- 
fängliche Kranke,  bei  welchen  manchmal  kaum  ein  paar  Sekunden  nach 
Beginn  der  Strom,  von  dem  ich  ihnen  nichts  sagte  (ich  erklärte  ihnen 
nur  ich  wollte  einmal  ihr  Hautgefühl  prüfen!),  schon  von  ihnen  als 
durch  den  ganzen  Körper  gegangen  konstatiert  bzw.  nur  signalisiert 
wurde  plötzlich  mit  der  Erklärung  hervortraten,  wie  merkwürdig  es  sei, 
daß  ihre  vorher  kalt  gewesenen  Füße  schon  ganz  warm  würden." 

Nun,  diese  Wunder  des  Magnetismus  sind  die  Wunder  der  Liebe 
und  der  Erotik!  Kalte  Füße  werden  auch  warm,  wenn  die  fröstelnde 
Frau  von  ihrem  Geliebten  umarmt  wird.  Sie  fühlt  es  dann  wie  ein 
heißer  Strom  durch  den  ganzen  Körper  rieselt.  Die  Sexualität  kann 
alles!  Alle  diese  scheinbar  übernatürlichen  Wirkungen  kommen  durch 
erotische  Reizungen  zustande.  Daß  die  Sexualität  in  jeder  Form  die 
Menschen  belebt,  wer  wollte  das  bezweifeln?  Andrerseits  können  auch 
derartige  Reizungen  sehr  schädlich  wirken,  wenn  sie  Wünsche  wecken 
die  unerfüllbar  sind  und  die  Prozedur  nicht  zu  dem  erlösenden  Orgasmus 
fuhrt.  ^  Ein  äußerst  lehrreicher  Fall  meiner  Beobachtung  zeigt  uns 
diese  Zusammenhänge  in  besonders  klarer  Weise. 

.  ,,  Jül\Nr;  17;  Eine  37jährige  Dame,  Frau  R.  S.,  sucht  mich  wegen 
Schlaflosigkeit  auf.  Sie  wünscht  hypnotisiert  zu  werden.  Sie  schlafe  schon 
seit  einigen  Wochen  nicht.  Das  Schlafbedürfnis  sei  außerordentlich  groß 
Wie  sie  sym  aber  ins  Bett  lege,  beginne  sie  der  Gedanke  zu  quälen:  Du 
wirst  nicht  einschlafen  und  morgen  sehr  schlecht  aussehen.  Wie  dieser  Ge- 
danke komme,  sei  es  um  ihre  Ruhe  geschehen.  Sie  werde  furchtbar  auf- 
geregt und  erzwinge  schließlich  den  Schlaf  mit  einem  Gramm  Adalin  oder 
einem  halben  Gramm  Veronal.  „Meine  Schlaflosigkeit  -  erzählt  'sie  -  begann 
erst,  als  ich  mich  an  einen  Magnetiseur  wandte.  Ich  litt  vor  2  Jahren  an 
nervösen  Magenschmerzen  und  suchte  damals  über  den  Rat  einer  Freundin 
den  Magnetiseur  Dr.  B.  auf.  Er  magnetisierte  mir  den  ganzen  Bauch  und  ich 
fühlte  sofort  eine  ungeheuer  beruhigende  Wirkung.  Nach  2  Wochen  waren  die 
Magenschmerzen  ganz  verschwunden.  Ich  glaube  an  den  Magnetismus.  Demi 
bei  Dr.  B.  ging  mir  vom  Magen  aus  ein  heißer  Strom  durch  den  ganzen 
Körper.    Ich  suchte  vor  3  Wochen  Dr.  B.  wieder  auf,  weil  ich  an  einem 


86 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Zittern  im  ganzen  Körper  und  an  Herzklopfen  litt.  Der  Arme  war  schon  ge- 
storben. So  ging  ich  zu  einem  anderen  Magnetiseur,  Dr.  X.,  der  mir  ver- 
sprach, mich  in  einigen  Tagen  vollkommen  zu  heilen.  Ich  war  schon  furcht- 
bar aufgeregt,  wie  ich  ihn  aufsuchte.  Ich  zitterte  am  ganzen  Körper.  Er 
setzte  mich  in  einen  Sessel  und  streichelte  mir  den  ganzen  Körper.  Er'  war 
magnetisch  viel  stärker  als  Dr.  B.  Sofort  fühlte  ich  einen  heißen  Strom, 
der  den  ganzen  Körper  durchrieselte.  Es  wurde  mir  heiß  und  kalt.  Dr.  X.' 
betonte:  „Sie  sind  für  den  Magnetismus  außerordentlich  empfindlich.  Sie 
sind  ein  ausgezeichnetes  Medium."  Schon  am  zweiten  Tage  befahl  er  mir 
ihm  nachzugehen  und  seine  Bewegung  nachzumachen.  Ich  stand  unter  seinem 
magnetischen  Einfluß.  Ich  tanzte  durch  das  ganze  Zimmer,  wie  es  Dr  X 
wollte.  Aber  ich  schlief  die  ganze  Nacht  nicht.  Dr.  X.  sagte:  ,;Das  ist  die 
Krise.  Sie  werden  jetzt  bald  gesund  werden."  Aber  meine  Aufregung  wurde 
immer  großer  und  ich  war  einmal  bei  Dr.  X.  so  erregt,  daß  er  die  magne- 
tischen Streichungen  nicht  fortsetzen  konnte.  Er  meinte:  „Sie  sind  heute 
für  den  Magnetismus  zu  aufgeregt.  Ich  werde  mit  Ihnen  ins  Kino  gehen." 
Wir  fuhren  dann  in  ein  Kino.  Ich  saß  neben  Dr.  X.  und  fühlte  so  stark  den 
magnetischen  Strom,  daß  ich  von  der  Vorstellung  nichts  wahrnahm." 

Die  Vorgeschichte  dieser  nervösen  Erkrankung  ist  folgende.  Frau  R.  S. 
war  schon  als  kleines  Kind  sexuell  aufgeklärt.  Sie  onanierte  seit  den  Kinder- 
tagen und  onanierte  auch  mit  Freundinnen  gemeinsam.  Als  sie  13  Jahre  alt 
war  hatte  sie  ein  Verhältnis  mit  einer  Freundin,  die  ihr  den  KunnilinguS 
machte.    Sie  war  außerordentlich  kokett  und  hatte  keine  anderen  Gedanken, 

äl^aTi  1P7arTaPhll,e?"  V  ■;  Sle  kS  mit  Leidenschaft  pornographische 
Bucher.  Mit  17  Jahren  lernte  sie  einen  Mann  kennen,  der  sie  deflorierte  und 
sie  heiraten  wollte.  Orgasmus  hatte  sie  nur  selten  bei  ihm,  aber  das  störte 
öie  nicht  weil  sie  immer  durch  Onanie  post  coitum  den  Orgasmus  erzielte. 
Mit  19  Jahren  lernte  sie  einen  andern  Mann  kennen,  der  ihr  seelisch  viel 
besser  gefiel.  Er  machte  ihr  einen  Heiratsantrag.  Da  er  aber  Offizier  war 
konnten  sie  nicht  heiraten,  weil  sie  nicht  die  Kaution  hatten.  Sie  lebten 
zufrieden  in  sehr  glücklicher  freier  Ehe.  Sie  liebte  ihn,  weil  er  ein  lieber 
feiner  Mann  war  und  sie  in  jeder  Weise  verwöhnte.  Sie  wußte  es,  daß  er 
ihr  treu  -war  und  sie  sicher  heiraten  werde,  sobald  es  die  Verhältnisse  be- 
statten würden.  Nun  war  in  ihrem  Wesen  eine  große  Wandlung  vorgegangen. 
Sie  wurde  ernst  und  begann  sich  mit  Kunst  und  Literatur  zu  beschäftigend 
Auch  freute  es  sie,  daß  in  letzter  Zeit  der  Orgasmus  beim  Koitus  häufiger 
auftrat  als  früher. 

Infolge  dessen  gelobte  sie,  die  Onanie  aufzugeben.    Dies  Versprechen 
hielt  sie  auch.    Es  sind  schon  zwei  Jahre,  daß  sie  nicht  onanierte.    Nach" 
der  Onanieabstinenz  trat  der  nervöse  Magenschmerz  auf,  der  bald  verschwand 
und  einer  allgemeinen  Nervosität  Platz  machte. 

Das  Leiden  hängt  mit  den  Verhältnissen  des  Krieges  zusammen.  Ihr 
Geliebter  stand  im  Felde.  Sie  war  die  ganze  Zeit  allein  mit  ihrer  Schwester 
und  lebte  abstinent.  Die  Versuchung  zur  Onanie  war  sehr  groß.  Sie  wider- 
stand aber  sehr  tapfer. 

Nun  war  sie  aber  durch  die  Lehren  des  Magnetiseurs  Dr.  X.  in  einen 
großen  Konflikt  gekommen.  Dr.  X.  hatte  ihr  nach  einer  Woche  gesagt: 
„Ihnen  fehlt  eigentlich  nur  ein  Mann.  Das  Nervenleiden  kommt  von  Ihrer 
Enthaltsamkeit."  Das  hatte  sie  furchtbar  aufgeregt.  „Ich  wollte  —  erzählte 
sie  mir  —  nicht  wieder  onanieren.    Um  keinen  Preis  der  Welt.    Ich  war 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw. 


87 


glücklich,  daß  ich  mir  das  Laster  abgewöhnt  hatte.  Die  Worte  des  Magne- 
tiseurs  wirkten  auf  mich  ungeheuer  erregend.  Die  Streichungen  beruhigten 
mich  nur  einen  Moment,  dann  wurde  es  ärger.  Ich  lief  auf  die  Gasse  und 
es  hätte  nicht  viel  gefehlt,  ich  hätte  mich  einem  fremden  Manne  hingegeben. 
Ich  war  rasend  vor  Aufregung  und  vor  Verlangen.  Nun  sind  alle  meine 
Nerven  zerrüttet,  mein  Schlaf  ist  hin.  .  .  .  Helfen  Sie  mir!  .  .  .  Ich  kann 
meinem  Geliebten  nicht  untreu  sein.  Ich  nehme  mir  lieber  das  Leben.  Wenn 
Sie  seine  Briefe  vom  Kriegsschauplatz  lesen  würden.  Er  will  mich  sofort 
heiraten,  wie  er  zurückkommt.  Und  ich  soll  mir  hier  einen  Geliebten  nehmen 
und  ihn  betrügen!" 

Es  gibt  wohl  keinen  schlechteren  Rat  und  der  Arzt  ist  nie  berechtigt, 
ihn,  zu  geben.  Denn  wäre  die  Dame  nicht  im  Kampfe  mit  ihrer  Sexualität, 
wäre  sie  nicht  so  „moralisch"  und  neurotisch,  sie  hätte  sich  schon  den 
entsprechenden  Rat  selbst  gewußt.  Hier  würde  ein  Schritt  vom  Wege  den 
inneren  Konflikt  verschärfen  und  aus  der  nervösen  Frau  eine  ganz  ge- 
brochene machen.  .  .  .  Sie  ist  fromm,  geht  täglich  in  die  Kirche,  beichtet. 
Sie  betrachtet  ihr  Verhältnis  als  eine  Ehe,  was  es  ja  im  besten  Sinne  des 
Wortes  ist.   .  . 

Sie  berichtet  von  jhren  schlaflosen  Nächten.  Sie  erzählt  dann,  daß  sie 
ihre  Schwester  weckt,  welche  sich  an  ihr  Bett  setzt  und  sie  streicheln  muß. 
Wir  erfahren,  daß  sie  für  den  Magnetismus  besonders  disponiert  erscheint, 
denn  die  Haut  ist  ihre  erogene  Zone.  Der  Geliebte  erzielt  nur  dadurch 
Orgasmus,  daß  sie  von  ihm  vorher  lange  gestreichelt  wird  ...  Es  ist 
eine  typische  infantile  Einstellung. 

Nach  einigen  Stunden  kann  ich  mir  ein  Bild  von  der  Entstehung  der 
Neurose  machen.  Es  wirkten  hier  viele  Momente  zusammen,  um  das  schwere 
Krankheitsbild  zu  erzeugen.  Sie  hatte  von  ihrem  ersten  Geliebten  noch 
immer  Nachrichten.  Schon  bei  der  Trennung  hatte  er  ihr  gesagt,  daß  er 
immer  auf  sie  warten  und  nicht  heiraten  werde.  Sie  hatte  ihm  den  zweiten 
vorgezogen,  weil  er  materiell  besser  gestellt  war  und  einen  sanfteren  Charakter 
hatte.  Der  erste  war  jähzornig,  spielte,  trank  hie  und  da  und  konnte  sehr 
unverträglich  werden.  Der  zweite  war  sanft  und  milde.  Der  Intellekt  sprach 
für  den  zweiten,  das  Herz  für  den  ersten.  Man  sieht  es  häufig,  daß  rohe 
Männer  die  Frauen  besser  an  sich  binden,  sie  'stärker  fesseln  als  die  sanften. 
Sie  wecken  viel  mehr  die  Vorstellung,  daß  de  ein  „wahrer  Mann"  sind. 
Der  zweite  hatte  etwas  Weibliches  an  sich,  obwohl  er  Offizier  war.  Und 
das  spielte  in  der  Neurose  eine  große  Rolle.  Ihr  psychischer  Konflikt  war 
momentan,  daß  sie  einen  Gedanken  verdrängte,  der  so  'lautete:  Wenn  dein 
Geliebter  im  Felde  fällt,  so  bist  du  frei  und  kannst  den  ersten  heiraten, 
der  ja  noch  immer  auf  dich  wartet.  Doch  bist  du  noch  jung  und  schön,  um 
ihm  zu  gefallen?  Der  Spiegel  sagte  ihr  täglich:  Ja!  Sie  fürchtete  sich 
vor  dem  Altwerden,  vor  den  Runzeln,  vor  der  Häßlichkeit.  Sie  hatte  deshalb 
nicht  auf  die  Ehe  gedrängt,  um  sich  die'  Hoffnung  auf  den  anderen  noch 
immer  zu  erhalten.  Mit  der  Ehe  wäre  dann  die  Fiktion  endgültig  zerstört. 
Sie  brauchte  dieses  Stück  Realität,  um  ihre  Phantasien  daran  zu  knüpfen. 
An  diese  Dinge,  an  den  Todeswunsch  wollte  sie  nicht  denken.  Deshalb  trat 
dann  die ]  Vorstellung  auf:  Du  mußt  schlafen  und  diese  Dinge  ganz  ver- 
gessen. Du  solltest  den  ganzen  Krieg  verschlafen.  Ihr  Begehren  steigerte 
sich,  weil  die  Abstinenz  alle  Triebe  entfesselte.  Nun  kam  die  Suggestion 
des  Doktors,  der  ihr  sagte,  sie  brauche  einen  Mann.    Da  ihr  Geliebter  im 


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Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Felde  stehe,  müsse  sie  sich  einen  anderen  suchen.  Sofort  fiel  es  ihr  ein: 
Wer  sollte  der  andere  sein,  wenn  nicht  der  erste  Geliebte,  den  sie  nie  ver- 
gessen hatte,  weil  ja  kein  Weib  den  Mann  vergißt,  der  ihre  Jungfräulichkeit 
genossen  und  sie  in  die  Liebe  eingeführt  hat?! 

Da  trat  die  Zwangsvorstellung  auf:  Du  wirst  nicht  schlafen  können 
und  morgen  schlecht  aussehen.  Du  wirst  alt  aussehen!  Sie  mußte  sich  ja 
für  den  anderen  jung  erhalten.  ...  Sie  klammerte  sich  an  diese  Zwangs- 
vorstellung, sie  hatte  nun  den  ganzen  Tag  keinen  anderen  Gedanken  als: 
Schlafen.  .  .  Schlafen  hieß:    den  ganzen  Konflikt  vergessen. 

Ein  zweiter  Antrieb  kam  aus  dem  Infantilen  und  aus  der  Homo- 
sexualität. Unvergeßlich  war  ihr  die  Zeit,  da  sie  von  der  Freundin  durch  den 
Kunmlingus  befriedigt  wurde.  Das  Zusammenwohnen  mit  der  Schwester 
mußte  sie  auf  den  Wunsch  bringen,  von  der  Schwester  befriedigt  zu  werden. 
Spontan  sagte  sie  mir:  „Ich  glaube,  es  ist  nicht  gut,  daß  ich  mit  der 
Schwester  zusammen  wohne.  Wir  streiten  den  ganzen  Tag  und  nachts  rufe 
ich  sie,  damit  sie  mich  wie  ein  Kind  streichelt  und  beruhigt.  Ich  kann  aber 
nicht  allem  sein.  Ich  brauche  immer  einen  Menschen,  der  bei  mir  ist.  Woher 
Hatte  ich  einen  solchen  Menschen   nehmen  können?" 

Ich  habe  keine  weiteren  Erfahrungen  über  das  Schicksal' der  Patientin 
Ich  glaube  aber  annehmen  zu  können,  daß  sie  zu  dem  Magnetiseur  zurück- 
gegangen ist,  da  sie  mir  in  der  letzten  Stunde  versicherte,  der  Magnetiseur 
habe  ihr  doch  gut  getan.  Wenn  der  Doktor  nicht  von  dem  Mangel  an 
Befriedigung  gesprochen  hätte,  so  wäre  sie  dort  gesund  geworden.  Ich  ver- 
mutete gleich,  daß  die  Neigung  zu  Dr.  X.  sie  wieder  in  seine  Hände  treiben 
werde  Denn  sie  erzählte  mir  unglaubliche  Dinge  über  seine  Stärke  und  seine 
Macht  Was  sie  aber  nicht  sehen  will,  ist,  daß  sie  den  Tod  des  Geliebten 
wünscht  und  den  Anderen  liebt,  Sie  zittert,  wenn  ein  Brief  kommt  Sie 
zittert,  wenn  sie  die  Verlustlisten  liest.  Man  könnte  sagen  aus  Liebe  und 
Angst  um  den  Geliebten.  Das  ist  ja  die  Komödie,  die  sie  sich  vorspielt 
Sie  braucht  einen  energischen  Mann,  weil  sie  fürchtet,  der  Liebe  zum  Weibe 
zu  erliegen. 

Läßt  man  sich  "von  dieser  Patientin  die  Einwirkung  des  Magne- 
tiseurs  schildern,  so  erkennt  man  sofort,  daß  seine  Streichungen  die 
im  Zustande  libidinöser  Erwartung  befindliche  und  durch  eine  besonders 
erogene  Haut  ausgezeichnete  Dame  in  besondere  Erregung  versetzten. 
Durch  die  Abstinenz  und  das  Aufgeben  der  Onanie  war  ihr  eine  regel- 
mäßig zuströmende  Lustquelle  entzogen  worden.  Sie  hatte  es  ver- 
standen, die  Libido  fast  ganz  auf  den  heterosexuellen  Verkehr  2u  über- 
tragen. Nun  stellte  sie  die  Abstinenz  vor  neue  schwere  Aufgaben.  Sie 
sollte  auf  Onanie  und  Koitus  verzichten.  Die  streichelnde  Hand  des 
Magnetiseurs  weckte  so  viele  heiße  Wünsche,  daß  sie  schlaflos  wurde. 
Dazu  kamen  noch  die  Aufklärungen  und  Andeutungen  auf  Heilungs- 
möglichkeiten durch  den  Verkehr  mit  anderen  Männern,  so  daß  die 
ohnedies  übererotische  Frau  vollkommen  aus  dem  Gleichgewichte  ge- 
bracht wurde.  Die  Vorlust  des  heißen  Stromes,  den  die  erotische 
Reizung  des  Magnetiseurs  erzeugte,  genügte  ihr  nicht  mehr.  Sie  ver- 
langte nach  mehr.    Diese  Dame  war  eine  fanatische  Anhängerin  der 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  $9 

Massage.  Sie  hatte  sich  schon  die  verschiedensten  Schmerzen  „weg- 
massieren" ■  lassen.  Masseusen  wirkten  auftsie  sehr  erregend,  sie  war 
dann  wie  im  Fieber. 

Wie  viele  Massagen  mögen  auf  diese  wunderbare  Weise  wirken? 

Ich  möchte  noch  die  erotisierenden  Streichungen  bei  der  Hypnose 
und  die  sexuelle  Wirkung  der  Wachsuggestion  erwähnen,  welche  bei 
masochistisch  veranlagten  Personen  sogar  zu  Orgasmen  führen  können. 
Die  Hypnose  wirkt  als  Unterwerfung  unter  den  Partner  auf  dem  Wege 
der  Faszination  (Ferenczi)  und  wird  oft  von  gewissenlosen  Hyp- 
notiseuren in  sexueller  Absicht  mißbraucht.  Freilich  sind  die  Schilde- 
rungen hysterischer  Damen,  die  behaupten,  sie  wären  in  der  Hypnose 
„vergewaltigt"  worden,  nur  mit  großer  Vorsicht  aufzunehmen.  Sie 
ersetzen  oft  ihre  Erwartungen  und  Phantasiebilder  durch  erdichtete 
Realitäten,  um  sich  an  dem  Hypnotiseur  zu  rächen,  der  ihren  Er- 
wartungen nicht  entgegengekommen  ist.  Es  läßt  sich  aber  nicht  be- 
streiten, daß  hypnotische  und  sogar  spiritistische  Seancen  als  erotische 
Reizung  wirken  können.1) 

Eine  große  Rolle  spielt  die  erotische  Reizung  bei  einem  neuen 
Apparate,  der  glänzende  Erfolge  erzielen  soll,  bei  dem  sogenannten  Entcro- 
kleaner.  Es  handelt  •  sich  um  ein  in  einem  Bade  verabreichtes  Klysma,  bei 
dem  große  Wassermengen  zur  Verwendung  gelangen.  Es  werden  15— 20  Liter 
Wasser  und  darüber  hinaus  durchgespült.  Die  Wirkung  bei  Obstipation  und 
bei  anderen  Erkrankungen  des  Darmes  soll  außerordentlich  günstig  sein. 
Bei  dieser  therapeutischen  Wirkung  spielen  aber  auch  erotische  Reizungen 
eine  große  Rolle,  wie  ich  dem  Buche  des  Privatdozenten  Dr.  Anton  Drosch 
„Das  subäquale  Innenbad",  II.  Auflage,  Franz  Deuticke,  Leipzig  und  Wien 
1912,.  entnehme. 

So  schildert  Brosch  die  Wirkung  seines  Enterokleaners  folgendermaßen : 

.„Auf  der  Anal-  und  Rektalschleimhaut  kommt  nur  die  höchst 
angenehme,  leicht  prickelnde  Empfindung  einer  Massage  durch  einen 
Flüssigkeitsstrom  zur  Geltung,  in  ähnlicher  Weise,  wie  wir  dies  auf 
der  äußeren  Hautoberfläche  beim  Anprall  eines  Wasserstromes  emp- 
finden. Augenscheinlich  besitzt  die  Rektal-  und  Analschleimhaut  be-" 
6onders  sensible  Nerven,  welche  uns  dieses  ausgesprochene  Lustgefühl 
besonders  intensiv  empfinden  lassen.  Hervorgehoben  werden  muß,  daß 
diese  Lustempfindung  ganz  verschieden  ist  von  einer  Erregung  ge- 
schlechtlicher Natur.  Bei  Anwendung  von  kühlem  und  kaltem  Innen- 
badewasser  macht  sich  sogar  im  Gegenteil  auf  die  Geschlechtsorgane 
eine  ungemein   beruhigende  Wirkung  geltend." 

„Das  kühle  subäquale  Innenbad  ahmt  gewissermaßen  künstlich 
die  Orgasmusmechanik  nach;  es  verschafft  uns  alle  physischen  und 
psychischen  Vorteilendes  Orgasmus  ohne  die  Nachteile  des  Koitus." 

„Dieser  künstliche  Orgasmus  sine  usu  genitalium  gibt  uns  auch 
flen  Schlüssel  in  die  Hand  zum  Verständnis  der  so  überaus  erquickenden, 


')  Vgl.  „Der  Psychographißmus  und  seine  Polgen".  (Med.  Klinik,  1919,  Nr.  47.) 


90  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

erfrischenden  und  stärkenden  physischen  und  psychischen  Wirkung  de6 
subäqualen  Innenbades." 

„Wenn  es  für  Zweifler  noch  eines  Beweises  bedürfte,  daß  dieser 
künstliche  Orgasmus  fast  identisch  ist  mit  dem  natürlichen  Orgasmus, 
so  kann  dieser  Beweis  sofort  erbracht  werden  durch  zwei  dem  natür- 
lichen und  künstlichen  Orgasmus  in  gleicher  Weise  zukommende  Eigen- 
schaften, nämlich  erstens  das  köstlichste  Wohlgefühl  und  zweitens  den 
völligen  Libidomangel  nach  der  Prozedur." 


Ich  konstatiere  mit  Befriedigung,  daß  der  Autor  den  Mut  gefunden  hat, 
für  die  Heilwirkung  der  Sexualität  einzutreten.  Jede  Ehrlichkeit  ist  ein 
Fortschritt.  Und  ich  kann  es  mir  lebhaft  denken,  daß  der  Arzt  oft  in  die 
Lage  kommen  wird,  ein  solches  Bad  zu  verordnen,  mit  der  bewußten  Ab- 
sicht, einem  armen  gequälten  Menschen  zu  -einem  Orgasmus  zu  verhelfen, 
ohne  sich  die  Tatsache  zu  verschleiern.  Denken  wir  nun  an  das  Heer  von 
Stuhlhypochondern,  denen  der  Anus  tatsächlich  der  „Mittelpunkt  der  Welt" 
bedeutet.  Aber  man  wird  sich  wohl  hüten  müssen,  dem  Kranken  diese 
erotischen  Reizungen  zu  versprechen.  Sie  müssen  ihm  heimlich  gegen  seinen 
Willen  zugeführt  werden. 

Ich  kann  aber  nicht  verschweigen,  daß  diese  Reizungen  auch  eine 
gewisse  Gefahr  in  sich  bergen.  Es  wird  gewiß  viele  Menschen  geben,  die 
sich  nach  solchen  Orgasmen  schlechter  fühlen  werden,  in  denen  eine  mächtige 
Übermoralitat  selbst  gegen  diese  „subcutanen"  Lustempfindungen,  revol- 
tieren wird.  Wie  in  allen  Fällen,  so  mag  erst  bei  einem  so  mächtigen  Heil- 
mittel der  Satz  gelten:  Eines  schickt  sich  nicht  für  Alle!  Eine  viel  größere 
Gefahr  besteht  aber  in  der  Gewöhnung.  Bekanntlich  brechen  die  schweren 
Iseurosen  erst  aus,  wenn  uns  eine  Lustquelle  entzogen  wird.  Brosch  sieht 
jetzt  die  Wunder  der  sexuellen  Befriedigung.  Er  wird  bald  die  Schrecken 
der  Abstinenz  'sehen.  .  .  .  Denn  solche  Prozeduren  erzeugen  doch  keine 
Dauerwirkung!  Er  erzielt  vorübergehend  glänzende  Erfolge.  Zugegeben. 
Aber  was  geschieht  mit  den  armen  Patienten,  wenn  diese  Orgasmen  aufhören? 
Jede  Lust  verlangt  nach  Wiederholung  und  sogar  nach  Steigerung.  Die 
Patienten  werden  sich  an  den  Enterokleaner  gewöhnen,  sie  werden  Sklaven 
des  Enterokleaners  werden. 

Über  das  Kapitel  erotische  Reizungen  als  Heilfaktor  wäre  noch 
sehr  viel  zu  sagen.  Wie  viele  Erfolge  kommen  in  Sanatorien  und  in 
der  Praxis  durch  Übertragung  zustande?  Doch  dies  Kapitel  wäre 
endlos,  wollte  man  versuchen,  es  zu  erschöpfen.  Ich  habe  in  diesen 
Ausführungen  nur-  einige  Beispiele  geben  wollen.  Ich  halte  es  für 
würdiger  und  richtiger,  wenn  die  Ärzte  sich  darüber  klar  sind,  daß 
sexuelle  Reizungen  Heilmittel  sein  können,  als  daß  sie  sich  ebenso 
wie  den  Kranken  täuschen.  Sie  sollten  wenigstens  verstehen,  wie  die 
schönsten  Heilerfolge  zustande  kommen. 

Diese  Frage  interessiert  mich  auch  von  einem  anderen  Standpunkte. 
Ich  trete  immer  wieder  für  die  Unschädlichkeit  der  Onanie  ein.  Diese 
Prozeduren  werden  meistens  als  onanistische  bezeichnet.  Wenn  man 
auch  alle  onanistischen  Akte  als  autoerotische  auffaßt,  Massagen  aber 


Andere  Formeu  larvierter  Onanie  usw.  gj 

schon  nicht  mehr  autoerotisch  sind,  so  hat  man  sich  schon  gewöhnt, 
bei  diesen  Vorgängen  von  Onanie  zu  sprechen.  Wir  sehen  hier  die 
Onanie  als  Heilfaktor.  An  der  Onanie  hängt  das  Odium  von  Jahr- 
tausenden. Eine  medizinische  Prozedur  umgeht  dieses  Odium.  Sie 
macht  aus  dem  gleichen  Reize  einen  Heilfaktor  und  erspart  dem  Kranken 
die  Vorwürfe  und  die  Belastung  durch  das  Schuldbewußtsein.  Hat  der 
Enterokleaner  diese  wunderbaren  Erfolge,  so  ist  nicht  einzusehen, 
weshalb  eine  onanistische  Prozedur  nicht  den  gleichen  Effekt  haben 
sollte.  Der  Kranke  könnte  ja  die  Analschleimhaut  auf  eine  andere 
Weise  reizen.  .  . 

In  der  Tat,  derartige  Fälle  sind  nicht  selten.  Wenn  ich  aus  der  . 
Fülle  meiner  Erfahrung  einen  einzigen  herausgreife,  so  geschieht  das, 
weil  er  in  das  Kapitel  der  unbewußten  Onanie  gehört  und  weil  er  einen 
interessanten   Beitrag   zur   Frage   „Wie  kommen   die    therapeutischen 
Erfolge  zustande?"  liefert. 

Ich  kannte  einen  Spezialarzt,  der  immer  darauf  verwies,  wie  häufig 
die  Neurasthenie  eine  Folgeerscheinung  der  chronischen  Gonorrhöe  sei. 
Man  treffe  unter  den  Neurasthenikern  immer  einen  großen  Prozentsatz 
von  Menschen,  die  eine  schwere  Gonorrhöe  überstanden  haben  oder 
noch  daran  laborieren.  Speziell  chronische  Prostatitis  sei  so  häufig  in 
der  Anamnese  und  im  Befund  der  Neurotiker,  daß  er  sich  nicht 
wundere,  daß  viele  Spezialärzte  an  diesen  Zusammenhang-  glauben  und 
eine  toxische  Theorie  der  Neurasthenie  aufgestellt  hätten.1) 

Dieser  Kollege  erzählte  mir  von  wunderbaren  Heilungen,  welche 
bei  Neurasthenikern  nach  einer  lange  fortgesetzten  Prostatamassage 
zu  beobachten  wären.  Nun  habe  ich  schon  die  Erfahrung  erwähnt,  daß 
Menschen  mit  unterdrückter  Homosexualität  mit  ihrem  Tripper  nie 
fertig  werden  und  immer  wieder  zum  Arzte  laufen.  Gar  nicht  so  selten 
wird  aus  Anlaß  der  gonorrhoischen  Infektion  das  Weib  mit  Ekel  belegt 
und  die  bisher  latente  Homosexualität  wird  manifest. 

Ich  hätte  also  gerne  diese  Erfolge  kontrolliert,  da  ich  a  priori 
die  Ansicht  hatte,  es  müßten  auch  erotische  Einflüsse  den  Erfolg 
zeitigen.  Nun  führte  mir  der  Zufäll  einen  Expatienten  des  Kollegen 
zu,  der  mich  wegen  Platzangst  in  seine  Wohnung  bitten  ließ. 

Fall  Nr.  18.  *  Herr  Adam  leidet  seit  einem  Jahre  an  Platzangst  und 
kann  das  Zimmer  nicht  verlassen.  Er  erzählt  eine  lange  Krankengeschichte, 
in  der  anale  Beschwerden,  Obstipation,  Analkrämpfe,  Analfissuren  neben 
einer  Neurasthenie  und  einer  Gonorrhöe  besonders  betont  werden.  Er  hat 
mich  bitten  lassen,  weil  er  hörte,  ich  wäre  ein  geschickter  Hypnotiseur  und 


*)  Über  den  Zusammenhang  von  Prostatitis  und  Neurasthenie  vgl.  „Nervüse 
Ang6tzustände",  S.  45,  3.  Aufl.,  und  Max  Marcuse:  „Über  atonische  Prostatitis."  Med. 
Klinik,  1912. 


92 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


könnte  ihm  seine  Platzangst  „wegsuggerieren".  Er  wäre  schon  bei  einigen 
berühmten  Hypnotiseuren  gewesen,  habe  aber  gleich  gemerkt,  daß  er  es  mit 
Schwindlern  zu  tun  hätte  (denn  er  hätte  „alle  Bücher  über  Hypnose"  gelesen). 

„Wie  haben   Sie  das  erkannt?" 

„Sehr  einfach.  Im  Vorzimmer  sind  schon  einige  Leute  hypnotisiert 
gelegen  und  haben  geschlafen.  Ich  bin  ja  nicht  so  dumm.  .  .  Ich  bin  gleich 
davongerannt." 

Der  erfahrene  Analytiker  merkt  sofort,  daß  der  Patient  Angst  vor 
der  Hypnose  hat  und  sich  vor  dem  Hypnotiseur  fürchtet.  Er  stellt  sich  nur 
so,  als  ob  er  sich  hypnotisieren  lassen  wollte,  wird  aber  immer  ein  Motiv 
finden,  sich  mit  dem  Hypnotiseur  nicht  einzulassen. 

Ich  mache  dem  Menschen  klar,  daß  er  sich  wahrscheinlich  gar  nicht 
werde  hypnotisieren  lassen.  Er  habe  jetzt  schon  alle  Werke  über  Hypnose 
gelesen,  aber  nicht  um  sich  zu  informieren,  sondern  um  sich  gegen  Jen 
Hypnotiseur  zu  schützen. 

„Das  sage  ich  Ihnen  gleich!  .  .  ."  ruft  der  Kranke  aus.  „Mir  werden 
Sie  nie  etwas  suggerieren  können,  was  mir  nicht  paßt.  Das  ist  meine  ein- 
zige Furcht.  Sie  könnten  mir  etwas  suggerieren,  was  mir  unangenehm  oder 
gefährlich  werden  kann."  • 

„Und  was  wäre  das?" 

„Zum  Beispiel  einen  sexuellen  Akt,  der  mir  nicht  paßt  .  .  .  ." 

„Was  für  einen  sexuellen  Akt?    Drücken  Sie  sich  näher  aus!" 

„Einen   homosexuellen  Akt." 

....  Jetzt  wußte  ich,  warum  der  Kranke  die  Hypnose  suchte  und 
fürchtete.  Er  sehnte  sich  nach  einem  homosexuellen  Akt.  Aber  dieser  sollte 
in  der  Hypnose  nach  dem  Prinzip'e  „Lust  ohne  Schuld"  vor  sich  gehen. 
Andrerseits  fürchtete  er  sich  davor.  Er  stand  unter  der  Herrschaft  von 
zwei  widerstrebenden   Seelenströmungen. 

Nun  zu  seiner  Krankengeschichte.  Er  war  immer  ein  Stuhlhypochonder. 
Schon  diese  Beschäftigung  mit  der  analen  Zone  beweist,  daß  der  Anus  mit 
seiner  Erogenität  intime  Beziehungen  hatte.  Er  hatte  lange  onaniert.  Der 
Anfang  nicht  erinnerlich.  Mit  24  Jahren  begann  er  zu  Frauen  zu  gehen 
und  mit  40  Jahren  hatte  er  das  Unglück,  sich  eine  Gonorrhöe  zu  holen 
die  nicht  heilen  wollte.  Das  Wort:  „Die  Gonorrhöe  ist  ein  Prüfstein  der 
schwachen  Gehirne"  bewahrheitete  sich  bei  ihm.  Er  wurde  schwer  krank 
und  bekam  alle  möglichen  Angstzustände.  Er  sah  immer  Komplikationen, 
lief  immer  wieder  zum  Arzte  und  verlangte,  daß  etwas  gemacht  werde. 
Die  Gonorrhöe  heilte  schließlich,  aber  die  nervösen  Beschwerden,  besonders 
Angstzustände  unbestimmter  Natur,  Herzklopfen,  Schlaflosigkeit  blieben.  Da 
wurde  ihm  ein  berühmter  Spezialist  empfohlen,  der  eine  Entzündung  der 
Prostata  konstatierte  und  ihn  durch  drei  Monate  massierte. 

Während  dieser  Zeit  ging  es  ihm  glänzend.  Er  verlor  alle  Beschwerden 
und  blühte  auf.  Er  verlor  alle  Angstgefühle  und  konnte  seinen  Wunder- 
arzt nicht  genug  preisen.  Er  hätte  am  liebsten  die  Behandlung  ewig  fort- 
gesetzt. Doch  eines  Tages  erklärte  ihm  der  Doktor,  er  wäre  jetzt  genesen, 
man  dürfe  nicht  mehr  massieren.  Er  war  -darüber  sonderbarerweise  nicht 
sehr  erfreut.  Und  schon  nach  einiger  Zeit  traten  neue  Beschwerden  auf  und 
er  suchte  den  Spezialisten  wieder  auf.  Dieser  jedoch  untersuchte  ihn  und 
meinte,  die  Prostata  wäre  jetzt  vollkommen  geheilt,  die  Beschwerden  wären 
rein  nervöser  Natur  und  verwies  ihn  an  einen  Nervenspezialisten.    Dieser 


v 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  93 

war  ihm  sehr  unsympathisch  und  er  blieb  lieber  ohne  jede  Behandlung.  Aber 
bald,  nach  einigen  Wochen,  trat  die  Platzangst  auf  und  er  konnte  nicht 
mehr  sein  Haus  verlassen,  es  sei  denn,  daß  er  von  seinen  Freunden  geführt 
wurde,  wie  zu  dem  berühmten  Hypnotiseur. 

Die  Entstehung  der  Platzangst  war  folgendermaßen  zu  erklären. 
Durch  die  Prostatamassage  war  eine  vorübergehende  Befriedigung  seiner 
analerotischen  Triebkräfte  zustande  gekommen,  welche  die  Besserung  seines 
Zustandes  herbeiführte.  Die  plötzlich  einsetzende  Abstinenz  erzeugte  wieder 
eine  Verschlimmerung.  Seine  Angst  vor  der  Straße  war  die  Angst  vor  der 
homosexuellen  Gefahr,  welche  zugleich  sein  Verlangen  war.  Die  Angst  war 
al60  eine  Sicherung  gegen  die  homosexuellen  Triebkräfte. 

Zu  ergänzen  ist,  daß  der  Kranke  immer  die  anale  Onanie  durch  Ein- 
führen eines  geölten  Glasstabes  ausgeführt  hatte.  Beim  Koitus  hatte  er  nur 
sehr  geringen  Orgasmus,  während  der  Orgasmus  bei  der  analen  Onanie  sehr 
stark  war. 

Die  Prostatamassage  war  also  die  Wiederholung  seiner  überwundenen 
Onanieperiode  und  mußte  wieder  das  Verlangen  nach  der  infantilen  Form  der 
Befriedigung  wecken.  Er  .war  ein  Mensch,  der  ohne  den  Irrigator  nicht  leben 
konnte.  Wenn  die  Beschwerden  zu  arg  waren,  so  machte  er  sich  immer  eine 
Irrigation.  Es  war  dies  die  larvierte  Form  seiner  Onanie.  Nachher  fühlte  er 
sich  immer  angenehm  entspannt  und  erleichtert. 

Die  Hypnose  sollte  seinen  Widerstand  gegen  einen  homosexuellen  Akt 
brechen.  Von  ihr  erhoffte  er,  das  nochmals  zu  erleben,  was  er  durch  die 
Prostatamassage  empfunden  hatte.  Der  Arzt  sollte  auch  der  Arzt  seiner 
sexuellen  Not  sein  .  .  .  ; 

Er  erzählte  einen  typischen  Traum: 

Ich  bin  auf  der  Straße.  Da  merke  ich,  daß  mir  jemand  von.  hinten 
nachgeht.  Ich  laufe  vor  lauter  Angst  davon.  Es  könnte  ja  ein  Räuber 
sein.  Da  fühle  ich,  wie  ein  heißes  scharfes  Schwert  mich  hinten  berührt 
und  erwache  mit  Schrecken. 

Eine  Analyse  dieses  Traumes  ist  überflüssig.  Das  Schwert  ist  als  ein 
phallisches  Symbol  aufzufassen. 

Ich.  habe  schon  betont,  daß  die  erotische  Reizung  des  Arztes  das 
Schuldgefühl  umgeht,  das  sich  sonst  an  den  autoerotischen  Akt  knüpft. 
Die  Frage  der  Onanie  ist  nicht  zu  verstehen,  wenn  wir  nicht  die  Genese 
dieses  Schuldgefühles  kennen. 

Bevor  wir  zur  Analyse  des  Schuldbewußtseins  des  Onanisten  über- 
gehen, müssen  wir  noch  ein  wichtiges  Moment  hervorheben.  Die  Onanie 
ist  immer  eine  Regression  (Freud)  auf  infantile  Lustquellen.  Sie  ersetzt 
sogar  die  erste  und  stärkste  Lust  des  Menschen:  die  Säuglingslust.  Ich 
habe  wiederholt  bei  den  Onanisten  Phantasien  konstatieren  können, 
daß  der  Penis  die  Amme  sei,  die  gemelkt  werde.  Der  onanistische  Akt 
bei  Männern  wird  häufig  als  ein  Melken  bezeichnet.  In  meinem  Buche 
„Die  Sprache  des  Traumes"  finden  sich  bei  den  Ammen-  und  den  Onanie- 
träumen genügend  Bestätigungen  für  diese  Behauptung. 


94 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Wir  können  schon  aus  diesen  Ausführungen  ersehen,  daß  es 
Menschen  geben  wird,  denen  die  Abgewöhnung  von  der  Onanie  unmög- 
lich ist.  Bei  anderen  geht  diese  Entwöhnung  leicht  vor  sich.  Diese 
Menschen  haben  schon  mit  Phantasien  aus  dem  normalen  Geschlechts- 
leben —  wenn  ich  mich  zum  Verständnis  so  ausdrücken  darf  —  onaniert 
Die  Onanie  war  für  sie  nur  ein  Surrogat  des  Erreichbaren,  aber  damals 
noch  nicht  Erreichten.  ; 

Diese  Menschen  haben  auch  für  gewöhnlich  wenig  Schuldbewußt- 
sein, das  ja  sonst  im  Leben  der  Onanisten  eine  so  große  Rolle  spielt 

Wir  erleben  da  merkwürdige  Überraschungen.  Es  kommen  Kranke 
zu  uns,  die  sich  wegen  der  Onanie  die  heftigsten  Vorwürfe  machen.  Man 
klart  sie  auf  und  sagt  ihnen:    Eine  mäßig  betriebene  Onanie   ist  un- 

™t.  ^ber  Sie  bleiben  "ÄnWg  und  machen  sich  weiterhin  Vor- 
wurfe. Wir  begreifen  diesen  Vorgang,  wenn  wir  wissen,  daß  sich  diese 
Vorwurfe  auf  die  begleitenden  Phantasien  beziehen.  Wir  decken  alle 
diese  Phantasien  in  der  Analyse  auf  und  merken,  daß  die  Vorwürfe  noch 
immer  nicht  weichen  wollen.  Endlich  merken  wir,  daß  eine  Affektver- 
schiebung stattgefunden  hat.  Die  Onanie  hat  eine  Reihe 
von  Vorwürfen  übernommen,  die  bewußtseins- 
remd  sind,  weil  sie  viel  p  ei  nlich  e  r  si  n  d,  als  die 
Vorwürfe  wegen  der  Onanie.  Die  Onanie  ist  ein 
Nährboden  für  alle  Vorwürfe.  Sie  ist  das  Schuld 
reservoir  für  alle  Schuld.  Sie  ist  gewissermaßen 
das   Symbol   der   Schuld.- 

Daß  die  Onanie  von  dem  einen  glänzend  vertragen  wird,  von  dem 
anderen  nicht,  das  hängt  nur  davon  ab,  ob  sich  mit  ihr  ein  Schuldbe- 
wußtsein verbindet  oder  nicht.  Wo  sich  Schuld  an  die  Onanie  hängt, 
da  treten  alle  jene  Erscheinungen  auf,  die  wir  als  Folgen  der  Onanie 
beschrieben  bekommen.  Wo  die  Schuld  fehlt,  bleiben  diese  Symptome 
der  Neurose  aus.  Es  ist  von  großer  Bedeutung,  dies  Phänomen  der 
Schuldverschiebung  zu  kennen.  Wir  können  ja  die  Erfahrung  fast  täg- 
lich in  unserer  Sprechstunde  machen.  Die  Patienten  geben  die  Onanie 
zu.  Aber  das  letzte  Mal  vor  drej  Jahren  u.  dgl.  Später  erfährt  man,  daß 
der  letzte  autoerotische  Akt  vor  einem  Tage  stattgefunden  hat.  Ähn- 
lich verfahren  die  Kranken  bei  einer  Gonorrhöe.  Sie  haben  die  Tendenz, 
den  schuldigen  Koitus  zurückzudatieren. 

Dies  Prinzip  der  Verschiebung  in  die  Vergangenheit  spielt  eine 
große  Rolle  bei  den  Zwangsvorstellungen.  Ein  Beispiel  für  viele.  Eine 
Dame  machte  sich  Vorwürfe,  sie  hätte  vor  20  Jahren'  einen  Abortus 
ausführen  lassen.  Zwanzig  Jahre  lebte  sie  in  Ruhe  und  Frieden  und 
plötzlich  taucht  der  alte  Vorfall  auf  und  macht  sie  schlaflos.  Notabene 
hatte  sie  damals  den  Abortus  auf  den  Rat  ihres  Hausarztes  durchführen 


•1 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  95 

lassen.  Die  Analyse  ergab,  daß  sie  nach  einer  Krankheit  ihres  Mannes 
erkrankt  war.  Man  möchte  nun  glauben,  das  sei  die  Folge  der  auf- 
opfernden Pflege  und  der  Sorgen.  Im  Gegenteil!  Sie  hatte  während  der 
Krankheit  des  ungeliebten  Mannes  den  verbrecherischen  Wunsch: 
„0,  möchte  er  sterben,  daß  ich  nun  frei  über  sein  Vermögen  verfügen 
könnte,"  Dieser  Wunsch  war  verdrängt  worden!  Der  Affekt  jedoch 
suchte  einen  Punkt,  wo  er  sich  im  Bewußtsein  festsetzen  konnte.  Die 
Schuld  ließ  sich  nicht  betäuben.  Sie  durchforschte  die  Vergangenheit. 
Hatte  sie  nicht  einmal  einen  Mord  begangen?  War  ein  Abortus  nicht 
ein  Kindermord  ?  Und  waren  die  Todeswünsche  gegen  den  Gatten  nicht 
ein  Äquivalent  eines  Mordes?  Mord  für  Mord.  So  knüpfte  sich  das 
Schuldbewußtsein,  das  aktuellen  Anlässen  entsprang,  an  einen  fast  ver- 
gessenen Vorfall  und  füllte  ihn  mit  frischen  Affekten. 

Ähnlich  geht  es  den  Menschen  mit  der  Onanie.  Sie  suchen  in  der 
Vergangenheit  nach  einem  Vorfall,  der  ihnen  gestattet,  ihr  Schuldbe- 
wußtsein zu  fixieren.  Dazu  ist  die  Onanie  besonders  geeignet.  Denn 
kein  zweiter  Vorgang  führt  uns  den  Kampf 
zwischen  Trieb  und  Hemmung  so  deutlich  vor 
Augen.  Die  Onanie  ist  das  Symbol  für  den  Kampf 
zwischen  Trieb  undHemmun  g.1)  Sie  wird  zum 
Verbotenen    und    Sündhaften    schlechtweg.    Deshalb 


)  Die  Kranken  gestehen  un6  diese  Verhältnisse,  wenn  wir  ihre  geheime  Sprache 
genau  verstehen.  So  sagte  mir  eine  an  Zwangsneurose  leidende  Dame,  die  an  der 
Vorstellung  litt,  sie  werde  ihren  Vater  oder  ihre  Mutter  umbringen,  nach  einem  auto- 
erotischen Akte  folgende  Worte:  „Ich  habe  gestern  nach  zehn  Jahren 
das  erste  Mal  wieder  onaniert.  Jetzt  habe  ich  eine  entsetz- 
liche Angst.  Ich  denke  mir,  daß  ich  jetzt  auch  den  Mord- 
impulsen nachgeben  werde,  weil  ich  mich  bei  der  Onanie  auch 
nicht    beherrschen    konnte." 

Diese  Kranke  war  vor  der  Analyse  arbeite-  und  lebensunfähig.  Der  ganze  Tag 
verging  im  Kampfe  gegen  die  Mordimpulss.  Sie  konnte  das  Zimmer  nicht  mehr  ver- 
lassen und  ging  nie  allein  über  die  Straße.  Jetzt  ist  sie  selbständig  in  einem  Büro 
tätig,  wo  sie  tagelang  allein  arbeiten  muß.  Wie  die  Analyse  ihrer  Träume  nachweisen 
konnte,  hatte  sie  die  ganze  Zeit  über  bei  Nacht  onaniert.  Aber  sie  wußte  von  der 
Onanie  nichts  und  brauchte  sich  keinerlei  Vorwürfe  darüber  zu  machen.  Sobald  sie 
gesund  wurde,  fing  sie  an,  hie  und  da  bei  Tage  zu  onanieren.  Es  war  eben  ein  Teil 
ihrer  Phantasien  dem  Bewußtsein  wieder  zugänglich.  —  Ich  kümmerte  mich  bei  der 
Analyse  um  die  Onanie  gar  nicht.  Ich  erklärte  ihr  nur,  daß  die  Onanie  unschädlich 
sei  und  daß  ihr  Schuldbewußtsein  anderen  Motiven  entspringe.  Diese  Kranke  hatte 
6ich  in  der  Beherrschung  der  Onanie  eine  gewisse  Beruhigung  geholt.  Wenn  du 
-nicht  onanieren  mußt,  so  wirst  du  auch  nicht  töten.  Als  sie  in- 
folge der  Analyse  ihre  Mordgedanken  als  ein  harmloses  Spiel  ihrer  überhitzten  Phantasie 
durchschaute  und  sich  nicht  mehr  vor  ßich  selbßt  fürchtete,  konnte  sie  wieder  „bewußt" 

•nanieren. 

r 


96 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


buchten  die  Belehrungen  über  die  Schadlosigkeit  autoerotischer  Vor- 
gange gar  nicht.  Die  Vorwürfe  entstammen  ja  anderen  Quellen  und 
können  nur  an  diesen  Quellen  gefaßt  und  in  das  richtige  Strombett 
geleitet  werden. 

Die  Menschen  haben  ja  alle  einen  Denkfehler,  der  sich  nie  ganz 
ausmerzen  laß  .  Es  *  dies  das  teleologische  Denken.  Die  Religion  hat 
den  Geschlechteak    in  den  Dienst  der  Menschheit  gestellt.    Der  lust- 

FoTlT  a7't  f  ?"*■  Wem  CT  nicht  dem  höhe™  Zwecke  der 
Ä^T  "  Sem  teleoIo«isohen  Si™  «  die  Onanie  eine 
seh chtTakl S25*  ™n  :ertV0,len,  Material-  Dcr  achtbare  Ge- 
Ona^e  aber  NT  T6mf  eM  *"  """»tf«*  «Aeiligten  Akt.  Die 

dTZ  den  F „        w  Und,belastet  das  0**««  *s  Kulturmenschen. 

Da,  wäre  die  tZf  fTtä  We6hal°?  "**'  ^kommen  kann. 
Uas  wäre  dle  teleologische  Quelle  des  Schuldbewußteeins 

Andrerseits  erfüllt  das  Schuldbewußtsein  eine  wichtige  Funktion 

SÄaS?'*^*  fede  Lust  hat  das  ihr  '— t 

Wed  fioZt  cot™ Tf  r  VeTrIa',8Gn-   Nun  Verliert  ^  ^*  «urch 
tu,  /de,   V       ,  !     lhl'eS  Lusteharakters.   Sie  strebt  in  die  Rich- 

r„"lt  °"    °dei'  Ver'angt  nach    einer  Steigerung    der  Reiz 

Diese  Stagepmg  wäre  aber  bei  der  Onanie  schwer  möglich  RaTZ 

LS  r^  St"f e  "Der  KÜn6tkr"  (im  Ve^   ™n  Heller     Vi  „ 
zuerst  ausgesprochen,  „daß  wir  uns  die  Lust  dim*  sm,„#         • 

Widerstände  erhöhen  wollen".  Alles,  ^g  ^E 

können,  ist  uns  keine  Lust  mehr.   Wir  alle  suchen  dZ^S-Ö 

Wr  sind  eigentlich  alle  Kämpfernaturen,  denen  der  C*& 

XTlt      '  T.  KU!tUr  m$  ni°ht  Gel6genhdt  z™  Kamp     nach 
außen  gibt  so  wendet  sich  der  Kampf  nach  innen.   Wir  schaffen     I 

künstliche  Widerstände,  um  sie  überwinden  zu  können  u„d  sofe  Be 
deutung  des  Sieges  zu  vergrößern.  Dadurch,  daß  die  Onanie 
$;$)■     'St'     "hSlt    "«     ^     •*»'>.%.     Lust«* 

So  wird  das  Schuldbewußtsein  bei  der  Onanie 
zu  einem  stimulierenden  Faktor.  Wir  können 
auch    hier   die     Bipolarität   aller   seelischen    Phä 

R^zTnd    d?r    RChten-      D '  *     =  ""'"""     Wird      »» 
Re'Z    U"d    d"    Eeiz    zur    Hemmung.     Jeder  onanistische 

Man   Im  ^rt*'*™^  ■**  Waffen,  Lust  ohne  Hemmung  Zu  vertrag» 

bcnaaen,  weil  sie  den  Sexualverkehr  zur  Sund«  monht*     m  r  ,;,    .,  "    B 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw.  q7 

Akt  wird  zu  einem  Kampf  spiel  mit  einem  hohen  Einsatz.  Es  ist  der 
Entwertung  durch  allzuhäufige  Wiederholung  eine  Schranke  gesetzt. 
Das  Schuldbewußtsein  funktioniert  dann  automatisch;  es  steigert  die 
Lust  und  schützt  gegen  das  Übermaß. 

Wenn  wir  aber  diese  komplizierten  Verhältnisse  überdenken,  die 
Onanie  als  Schulreservoir  und  die  Schuld  als  stimulierenden  Paktor,  so 
wird  es  uns  klar,  daß  bloße  Belehrung  über  die  Unschädlichkeit  der 
Onanie  den  an  Angst  vor  den  Folgen  der  Onanie  Erkrankten  keine 
Ruhe  bringen  kann.  Oder  nur  eine  vorübergehende  Ruhe,  wie  sie  der 
Hypochonder  genießt,  wenn  der  Arzt  ihm  versichert,  er  wäre  voll- 
kommen gesund.  Nach  einigen  Stunden  oder  Tagen  kommt  das  Schuld- 
bewußtsein wieder,  und  der  Kranke  beginnt  neuerdings  zu  zweifeln 
und  zu  fürchten:  Die  Onanie  müsse  doch  schädlich  sein.  Es  stehe  ia 
in  den  Büchern.    Sein  eigener  Verstand  sage  es  ihm  usw 

Man  kann  nämlich  sehr  häufig  beobachten,  daß  Menschen  zu 
onanieren  aufhören,  ohne  daß  sie  von  fremder  Seite  vor  den  Folgen  der 
Onanie  gewarnt  wurden.  Eine  innere  Stimme  sagt  ihnen  plötzlich: 
..Mache  das  nicht;  es  ist  eine  Sünde  und  sehr  gefährlich!"  Manchmal 
sind  ehalte  infantile  Imperative,  welche  sich  wieder  melden  und  als 
neue  Überlegungen  imponieren.  Manchmal  jedoch  ist  es  die  Angst  vor 
der  Lust,  die  den  modernen  Kulturmenschen  nie  verläßt.  Auch  hier 
klammert  sich  ein  aus  anderen  Triebkräften  stammendes  Schuldbewußt- 
sein an  die  Onanie.  Eine  Stimme,  die  auch  bedeutet:  „Du  bist  all  die 
Lust  nicht  wert!"  Eine  geheime.  Strafe  des  inneren 
Kichters  trifft  den  Menschen  dort  am  schwersten 
wo  seiner  die  höchste  Lust  harrt*:  Bei  der  Onanie 
«MW  i  °  dleSe  kranken  Menschen  kann  nur  die  ^alyse  oder  eine  tiefe 
Surol  IT"18  V  n-*?  drückenden  Schuldbewußtsein  und  von  der 
Neurose  befreien.    Die  Onanie  ist   nur  der  Boden,    auf  dem  sich  der 

sÄzt  vtanstem' Begehrtem  und  «ÄS  SÄ 

bie  rührt  dem  Menschen  immer  wieder  seine  Schwäche  vor  Augen  und 
zwingt  ihn  zu  Abwehraktionen  und  Schutzmaßregelungen   Zu  Sperr" 
gen   und  Sicherungen.    Sie  ist  aber  seine    beste  Sicheinmg  gegen   I 
Aktivierung  der  Paraphilien.    So  lange  er  onaniert,  kann  er  auf  di 
Ausfuhrungen  seiner  Phantasien  verzichten 

...  A™alhr\  "*5J  Ausführungen  geht  also  hervor,  daß  ein  an  und 
für  sich  harmloser  Akt  teils  Ursache  einer  Neurose  werden,  teils  in 
der  Dynamik  der  Neurose  eine  große  Rolle  spielen  kann. 

Ich  möchte  auch  einige  Worte  über  die  Behandlung  und  Pro- 
phylaxe der  Onanie  sprechen.  Die  Kinderonanie  hört  von  selbst  auf  und 
erfordert  gar  kein  Einschreiten  von  Seite  der  Eltern.  Lächerlich  ist 
es,  mit  Abschneiden  des  Gliedes,  Schlägen,  mit  Krankheit  zu  drohen 

Stekel,  Störungen  den  Trieb-  und  Affektlebens.  n.  2. Aufl.  17 


98 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


und  das  empfindliche  Kinderherz  mit  Angst  zu  erschüttern.-  Man  sorge 
dafür,  daß  das  Kind  nicht  zu  vielen  Reizungen  bei  der  Kinderpflege 
ausgesetzt  wird,  obwohl  ich  im  Gegensatz  zu  Sadger  nicht  der  Ansicht 
bin,  die  Kinderpflege  sei  die  alleinige  Ursache  der  Onanie.  Bekanntlich 
onanieren  auch  Hunde  und  Affen  und  manche  andere  Tiere,  bei  denen 
diese  Momente  nicht  in  Frage  kommen.  Wir  sorgen  also  dafür,  daß 
das  Kind  keinen  erotischen  Reizungen  ausgesetzt  wird,  beschäftigen 
es  intensiv  durch  anregende  Spiele  und  übersehen  wissentlich  die  ver- 
schiedenen autoerotischen  Handlungen 

Die  Onanl^M  ^  T?  **"  **  *"*»  SP°ntan  ZU  *»*—  "* 
*tt  hattTdt  ?;e7ffenbar  eine  ^Wtee  Funktion  In  der  Säuglings- 
zeit hatte   das  Kind  eine  unerschöpfhehe  Quelle    der  Lustgefühle    im 

IZskZZ^  ^S- Die  Entwöhnung  ist  ein  schwe- Tra- 

Nach  Z  Fntw"!  hem^gslos  seine  L^>  wo  es  sie  eben  findet. 

Nach  der  Entwöhnung  wird  die  autoerotische  Tätigkeit  stärker  betont. 

KamprTea      dtt  ^- ^^    Wie    v*ngnisvolI    der 

.Kampf  gegen  die  Onanie,  den  die  Erzieher  mit  den  ungeschickteste 
Mitteln  dui^hführen,  auf  die  Psyche  des  Menschen  whtafaS  t  fe 
Dynamik    der  Neurose  hat    das  Onanieverbot    als  Repräsentant    de 
Verbotenen  eine  große  Bedeutung.   Viele  schwere  Neurosen  ge  ien  au 
die  Drohungen    der  Eltern  zurück.    Man  erstaunt  immer  wieder   übe 
die  absonderlichen  Ideen,  auf  welche  Erzieher  verfallen,  um  den  Kindern 
die  Onanie  abzugewöhnen!   Ein  Vater  läßt  seinen  Sohn  ..bei  seinem 
Leben    schworen,  daß  er  nicht  mehr  onanieren  werde;  der  Sohn  erlieft 
bald  der  Versuchung  und  fühlt  sich  dann  als  Vatermörder.  ZaS 
Vater  droht  mit  Kastration,  wenn  er  den  Sünder  noch  einmal  erwischen 
werde!  Der  dritte  schildert  seinem  Sohn  die  furchtbaren  Folgen  in  so 
schrecklichen  Bildern,  daß  jede  Onanie  durch  die  Assoziation  zu  diesen 
Bildern  (Verblödung,    Paralyse,    Rückenmarksleiden,    Impotenz     Aus- 
zehrung, frühes  Altern  usw.)   zu  einem  gefährlichen  Akte  wird    Und 
nicht  immer  wirkt  diese  Schilderung  der  Gefahren  abschreckend    Ich 
habe  schon  darauf  hingewiesen,  daß  die  Onanie  als  chronischer  Selbst- 
mord angewendet  wird,   um  das  Leben  zu  zerstören.    Verbote   haben 
noch  nie  erzieherisch  gewirkt.    Du  sollst  nicht!  -  wie  oft  wirkt  dies 
gerade  als  Anreiz! 

Erzieher  sollten  auch  berücksichtigen,  daß  das  Verbotene  die 
Kinder  ganz  besonders  reizt.  Das  Verbot  wirkt  als  Lusterhöhung.  Da- 
gegen kann  man  viel  leichter  zum  Ziele  kommen,  wenn  man  eine  mäßige 
Onanie  gestattet.  Ich  glaube  überhaupt,  daß  die  Onanie, 
wenn  sie  gestattet  wäre,  den  größten  Reiz  ver- 
lieren würde.1) 

l)  Wir  sehen  ja  z.  B.,  daß  die  Homosexualität  in  Italien,  wo  sie  nicht  bestraft 
wird,   eine  geringere   Rolle  spielt  als  in   Deutschland.     In  Italien  ist  die  homosexuelle 


Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw. 


99 


In  ganz  ähnlicher  Weise  verfahre  ich  mit  den  Erwachsenen.  Ich 
kläre  sie  über  die  Ungefährlichkeit  des  auto  erotischen  Aktes  auf  und 
überlasse  es  ihrer  Entscheidung,  was  sie  weiter  machen.  Ich  versuche 
immer,  wo  es  nur  angeht,  die  mir  anvertrauten  Kranken  auf  den  „nor- 
malen" Weg  zu  bringen.  Aber  ohne  Zwang.  Manchmal  gelingt  es.  Aber 
nicht  immer.  Man  bedenke,  welche  Hemmungen  Jünglinge  haben,  welche 
eine  Infektion  (Lues,  Gonorrhöe  und  ihre  Polgen)  fürchten.  Andere  sind 
fromm  und  sehen  jeden  außerehelichen  Koitus  als  schwere  Sünde  an. 
Für  diese  Menschen  ist  die  Onanie  das  Hilfsmittel,  das  sie  bis  zur  Ehe 
lebensfähig  und  arbeitsfreudig  erhält. 

Manche  Autoren  glauben,  sie  verringere  die  Potenz  und  sei  die 
Ursache  einer  Ejaculatio  praecox.  Aber  man  macht  sonderbare  Be- 
obachtungen bei  den  an  Ejaculatio  praecox  leidenden  Männern.  Sie 
kommen  eines  Tages  zu  einer  Frau,  bei  der  sie  außerordentlich  potent 
sind.  Oder  sie  probieren  irgend  eine  Variante,  welche  verdrängte 
Libidoteile  freimacht  und  siehe  da,  sie  sind  überraschend  potent.  Alle 
diese  Menschen  sind  ausgesprochen  Bisexuelle  oder  Perverse,  welche 
an  dieser  Schwäche  leiden,  weil  sie  nur  mit  einem  Teile  ihrer  Sexualität 
arbeiten. x) 

Ich  will  hier  nur  ein  Beispiel  erwähnen.  Ich  gab  einem  Manne,  der 
über  Ejaculatio  praecox  klagte  und  bei  dem  man  deutliche  Zeichen 
einer  homosexuellen  Einstellung  konstatieren  konnte,  den  Rat,  den 
Koitus  inversus  zu  machen  und  die  Frau  zu  spielen  oder  es  mit'  einer 
anderen  Position  zu  versuchen.  Der  Mann  kam  ganz  glückstrahlend 
zu  mir.  Die  Potenz  wäre  so  ausgezeichnet  gewesen,  daß  seine  Frau 
zweimal  zum  Orgasmus  gekommen  sei.  Die  Kenntnis  der  „ars  amandi" 
ist  ein  mächtiges  Hilfsmittel  in  der  Hand  des  diskreten  Arztes'    Oft 

hZl,!T  nmder  Wlrnen-  Lelder  nlCht  immer!  Da  gerade  die  Onaiüsten 
förX l6  ^°n+10SexUfle  ™d  einer  anderen  Paraphilie  verfallen  sind, 
ZXm  K°ltusJmcht  die  ihnen  adä(lliate  Form  der  Sexualbefriedigung 
darrt eilt,  so  wird  man  naturgemäß  unter  ihnen  viele  finden,  die  an 
Ejaculatio  praecox  oder  an  einer  psychischen  Impotenz  leiden  ») 

^s  ist  die  höchste  Zeit,  daß  die  weitver- 
breitete Legende  von  der  Schädlichkeit  der 
Onanie  gründlich  zerstört  wird.  Die  Ärzte 
können  in  dieser  Frage  kaum  klar  sehen,  weil 
Sie  achter  und  Partei  zugleich  sind.  Das  Schuld- 
Prostitution  hauptsächlich  für  die  Fremden  da  und  ein  blühender  Erwerb,  zu  dem  die 
Ausländer  am  meisten  beitragen. 

*)  Vgl.  das  Kapitel  „Psychologie  der  Ejaculatio  praecox"  in  Band  rV. 
2)  Über  den  Zusammenhang  zwischen  „Onanie  und  Potenz"  findet  sich  eine  aus- 
führliche Abhandlung  in  Band  IV. 


7* 


10Ü 


Erster  Teil.  Die  Onanie.  Andere  Formen  larvierter  Onanie  usw. 


bewußtsein,  das  sich  an  jede  Onanie  knüpft,  be- 
einflußt auch  die  Ärzte,  die  gleich  allen  anderen 
Menschen  auch  einmal  onaniert  haben.  Deshalb 
werden  so  viele  unwahre  und  verlogene  Ansichten 
mit. dem  Brustton  der  vollen  Überzeugung  vor- 
getragen. '  , 

Man  kann  es  aber  kaum  ermessen,  welches  grenzenlose  Elend 
durch  diese  falschen  Ansichten  und  die  sogenannten  Warnungsbücher 
unter  der  Menschheit  erzeugt  wurde.  Wer  einmal  offenen  Auges  die 
schweren  Neurosen  gesehen  hat,  die  durch  die  falschen  Belehrungen 
der  Arzte  entstanden  sind,  der  muß  zur  Einsicht  kommen,  daß  die 
Onanie  das  geringere  Übel  ist,  als  das  Mittel,  mit  dem  sie  bekämpft 

Wir  müssen  unsere  Ansichten  über  die  Onanie  gründlich  ändern. 
Es  gibt  keinen  normalen  Geschlechtsakt.  Es  gibt  nur  eine  dem  Indivi- 
duum adäquate  Sexualbefriedigung.  Und  diese  ist  ihm  häufig  ver- 
schlossen. Durch  seine  Ethik,  durch  die  Religion,  durch  die  Gesetze 
des  Landes.  Hier  gibt  es  tausend  Übergänge,  und  wer  wollte  so  ver- 
messen sein,  zu  bestimmen,  wo  das  Normale  aufhört  und  das  Patho- 
logische beginnt? 

Die  Onanie  ist  die  Rückkehr  zur  infantilen 
Lustgewinnung.  Sie  ist  ein  Symptom  des  psy- 
chischen Infantilismus,  an  dem  der  Neurotiker 
krankt.  Wenn  wir  aus  dem  Kinde  einen  Erwach- 
senen machen,  dann  kann  er  auf  die  infantilen 
Formen  verzichten.  Das  geht  aber  unmöglich 
durch  Verbote  und  Drohungen,  sondern  nur 
durch  die  Erziehung  und  Befreiung,  wie  sie  die 
Analyse    leistet. 


Die  Onanie. 


v. 

Onanie  und  Religion. 

Wo  nur  auf  Erden  bisher  die  religiöse 
Neurose  aufgetreten  ist,  finden  wir  sie  ver- 
knüpft mit  drei  gefährlichen  Diät  Verord- 
nungen :  Einsamkeit,  Fasten  und  geschlecht- 
licher Enthaltsamkeit.  Nietzsche. 

Die  schwersten  Kämpfe  macht  der  Onanist  mit,  wenn  sich  zu 
den  übrigen  Hemmungen  die  religiösen  gesellen.  Die  aus  Schriften  uud 
mündlicher  Belehrung  stammende  Befürchtung,  sich  die  Gesundheit  zu 
ruinieren,  ein  Rückenmarksleiden,  Impotenz,  frühes  Siechtum  oder  ver- 
minderte   Geisteskraft    zu    erleiden,    erhält    eine    ebenso    gewichtige 
ethische  Verstärkung.    Der  Onanist  ist  einem  „Laster"  verfallen    er 
hat  nicht  das  Repht,  sich  zu  den  „reinen  Menschen"  zu  zählen  und 
begeht  eine  Sünde.    Die  Hemmungen  der  Religion  machen  den  Kampf 
viel  bedeutender,  schwerer  und  erbitterter.   Denn  es  handelt  sich  nicht 
nur  um  das  Wohlergehen  auf  Erden,  es  steht  die  ewige  Seligkeit  auf 
dem  Spiele.    Der  Onanist  kämpft  also  dann  auch  für  sein  künftiges 
Leben  nach  dem  Tode.    Jeder  einzelne  Akt,  der  ihm  eine  flüchtige 
momentane  Lust  zuführt,  bringt  ihn  um  die  Freuden  der  Ewigkeit  und 
lietert  ihn  der  Verdammnis  aus.    Ist  es  doch  merkwürdig,   daß  alle 
Religionen  einen  heftigen,  unnachsichtlichen  Kampf  gegen  die  Onanie 
geiunrt  naben,  die  griechische  ausgenommen,  welche  uns  die  gesündesten 
Menschen  bescherte.    Jede  Religion  ist  der  Wächter  der  Sexualität. 
M  ist  eine  Zeremonie  von  allergrößter  Bedeutung,  daß  die  Hochzeiten 
in  einem  Gotteshause  gefeiert  werden.    Die  Religion  gestattet  dem 
Menschen  nicht,  über  seine  Lust  frei  zu  verfügen.    Er  muß  sie  als 
Geschenk  Gottes  aus  der  Hand  des  Priesters   annehmen.    Die  freie 
Liebe  war  immer  die  Religion  der  Atheisten  oder  der  Ethiker,  die  sich 
abseits  jeder  Religionsgemeinschaft  stellten. 

Die  Onanie  aber  entzieht  dem  Priester  die  Kontrolle  über  die 
Sexualität  seiner  Schutzbefohlenen.  Sie  macht  sie  selbstherrlich  und 
frei  und  emanzipiert  sie  von  jeder  sozialen  Verpflichtung.  Sie  stellt 
aber  auch  den  Sexualtrieb  über  jede  teleologische  Verpflichtung.   Der 


102 


Erster  Teil.  Die  Ouauie. 


UrtlV.BIBL, 
BERLm. 


Geschlechtstrieb  ist  den  anerkannten  Religionen  nur  das  Mittel  zur 
Fortpflanzung.    „Du  sollst  dich  mehren  wie  der  Sand  im  Meere  und 
darfst  deshalb  deinen  Samen  nicht  unnütz  vergeuden!"  Diese  Lehre 
stammt  noch  aus  der  Zeit  des  Nomadentums,  in  der  der  volksreichere 
Stamm  der  stärkere  war.  Es  lag  im  Interesse  der  Priester,  ihre  Völker 
zur  größten  Fruchtbarkeit  anzuspornen.    Man  sieht  auch  noch  heute 
daß  die  frommen  Juden  in  Rußland  und  Galizien  alle  Mittel  zur  Ver- 
hinderung der  Konzeption  als  schwere  Sünde  verabscheuen  und  selbst 
im  schlimmsten  Elend  die  sozialen  Folgen  der  reichen  Fruchtbarkeit 
gerne  auf  sich  nehmen.    Die  Onanie  und  die  Homosexualität  standen 
dem  Staatsinteresse  hindernd  im  Wege.    Sie  mußten  in  der  Erkenntnis 
bekämpft  werden,  daß  die  Vermehrung  eines  Stammes  sein  wichtigstes 
Interesse  ist.    Die  Zeiten  haben  sich  geändert.    Der  Mensch  ist  nicht 
mehr  das  kos  barste  Kapital  des  Staates.  Aber  er  war  es  sicher  einmal. 
Und  da  wir  leider  stets  die  Religion  der  Vergangenheit  besitzen  und 
die  der  Zukunft  uns  noch  nichts  zu  sagen  und  zu  befehlen  hat,  so 
schleppen  wir  für  immer  eine  Menge  Dogmen  mit  uns,  welche  für  die 
Vergangenheit  von  größter  sozialer  Bedeutung  waren,  für  die  Gegen- 
wart .jedoch  überflüssig  und  zum  Teil  auch  schädlich  sind 

Übrigens  erleben  wir  jetzt  eine  Neuauflage  dieser  Sehnsucht  nach 
dem  Menschenmaterial.  Der  männermordende  Krieg  führte  zu  einem 
Kampfe  der  um  die  Rekrutenanzahl  besorgten  Gelehrten  gegen  alle 
1  raventivmaßregeln,  gegen  Onanie  und  Homosexualität,  da  jedes  ein- 
zelne Spermatozoon  in  den  Dienst  der  Nation  gestellt  werden  soll 
Speziell  der  Kampf  gegen  die  Onanie  wurde  von  Kräpelin  in  leiden- 
schaftlicher Weise  eröffnet.  Die  Hygiene  übernimmt  die  alten  Forde- 
rungen der  Religion. 

Wenn  ich  sagte,  die  Religion  habe  keine  Kontrolle  über  die 
Onanie,  so  muß  ich  eine  Religion  ausnehmen:  die  katholische.  Wir 
werden  später  eine  Reihe  von  Fällen  besprechen,  die  uns  zeigen,  welchen 
Einfluß  die  Ermahnungen  der  Beichtväter  auf  den  Verlauf  der  Onanie- 
neurose genommen  haben.  Auch  die  evangelischen  Priester  verstehen 
es,  ohne  Beichte  ihre  Schutzbefohlenen  zu  beeinflussen  und  sie  zu  einer 
freien  Beichte  zu  bringen.  Es  fehlt  mir  nicht  an  Beispielen  zur  Be- 
gründung dieser  Behauptung.  Freudig  zu  begrüßen  ist  es,  daß  die 
Priester  jetzt  beginnen,  sich  mit  der  Psychologie  und  besonders  mit 
der  Analyse  zu  beschäftigen.1)  Der  Segen,  den  sie  stiften  können,  ist 

*)  Es  wäre  ungerecht,  würden  wir  hier  nicht  des  wackeren  Dr.  Oskar  Pfister  in 
Zürich  erwähnen,  des  ersten  Pfarrers,  der  den  Mut  hatte,  sich  offen  mit  der  Paych- 
analyse  zu  beschäftigen.  Sein  großes  Werk  „Die  psychanalytieche  (er  sagt 
sprachlich  richtig  Psychanalyse  und  nicht  Psychoanalyse!)  Methode"  (Verlag  Julius 
Khnkhardt  in  Leipzig  und  Berlin,    1913)  ist  einer  der  wertvollsten  Beiträge,  welche 


Onanie  und  Religion.  \0'A 

noch  größer  als  der  Schaden,  den  manche  voreilige  Äußerungen  an- 
richten können  und  angerichtet  haben. 

Vor  allem  ist  es  notwendig,  daß  sie  beginnen,  die  Allmacht  des 
Geschlechtstriebes  und  seine  Äußerungen  kennen  zu  lernen  und  ilin 
durch  die  verschiedenen  Masken  zu  erkennen. 

Der  nächste  Fall,  über  den  ich  hier  referieren  will,  führt  uns  in 
eine  der  größten  Städte  Deutsclüands.  Er  versetzt  uns  aber  auch  ins 
finstere  Mittelalter  und  läßt  Bilder  vor  unseren  Augen  erstehen,  die 
wir  nicht  für  „zeitgemäß"  halten  können.  Der  antisexuelle  Instinkt 
—  und  einen  solchen  muß  es  unbedingt  geben,  sonst  wären  solche  Er- 
eignisse nicht  möglich  —  entspricht  dem  Höhendrange  des  Menschen 
und  seinem  Unabhängigkeitsbedürfnis.  Er  will  sich  über  alles  Irdische 
und  Triebhafte  hinausentwickeln  und  will,  sich  nicht  gehorchen  müssen. 
Er  will  Herr  sein  auch  über  seine  Triebe.  Daß  dies  ohne  schwere  Opfer 
nicht  möglich  ist,  weiß  niemand  besser  als  der  Analytiker,  der  immer 
die  Schwerverwundeten  und  fürs  Leben  Verstümmelten  zu  sehen 
bekommt. 

Fall  Nr.  19  Fräulein  0.  Z.,  eine  28jährige  Lehrerin,  hat  seit  ihrer 
Kindheit  onaniert  und  sich  dabei  immer  sehr  wohl  befunden.  Sie  war  stets 
ein  kluges,  kraftiges  Kind  und  eine  sehr  gute  Schülerin.  Sie  machte  ihre 
*2 Ä  anBta"dslT0ß  und  h^nn  schon  sehr  früh  dem  schweren  Berufe 
einer  Bildnerin  der  Jugend  zu  leben.  Sie  war  stets  im  Kreise  ihrer  Eltern 
und   erfreute   diese  durch   ihr  lebhaftes   Temperament   und   ihren   gesunden 

SS   ü  Syhm^r\me  Gedai?ken  Über  die  0nanie>  wel<*e  sie  übrigens 
meist  taglich  betrieb.    Sie  war  sehr  aufgeklärt  und  dachte:  „Ich  weiß  ia 

zu Ä«  £  heiraten  ™<*e.  Wer  nimmt  heutzutage  eine  arme  Lehrerin 

ZZJifil    f      War,   u1  °ht  sonderllch  anziehend,  sehr  schlank  und  mager 

52 1    aus    Z    M-^   hatVinfle\häßliChen   Teint     Sie  machte   «ch  nfcht 

Mrfflft  *szKär  der  nach  der  fr-^s 

„Qw  :l°tZhf  ka,m  Sie  nach  Wien  zurUck-  Ihre  Mutter  holte  sie  weil  sie 
taÄÄr    S   b6gann  P/Ötzlich   an   Anfällen    zu Vden    u, 

Ihr  zu  wecken  2?T  J?llkom?n?11Verlor  Und  für  die  keine  Erinnerung  in 
im   zu  wecken  war     In  diesen  Anfällen  onanierte  sie  ohne  iede  Scheu  und 

^itSff'^^  die  Umgebung  M^d2 

Zi£ wirlrTÄÄ"  keUSCheS  ^^  bekamt  War-    D°ch 

AT,föi."ICh^ill/hnen  auf™htie  und  wahrheitsgetreu  schildern,  wie  meine 
Anfalle  entstanden  sind  Ich  war  immer  ein  kerngesundes  Mädel,  hie  und 
da  ein  bißchen  verträumt  und  romantisch,  ein  kleiner  Hang  zur  Schwärmerei, 

für  die  Erweiterung  und  Verbreitung  der  Analyse  geleistet  wurde.  Das  Buch  wendet 
eich,  an  alle  Pädagogen  und  besondere  an  die  Seelsorger.  Es  ist  aber  auch  allen  Ärzten, 
welche   die   Psychanalyse   nicht    kennen,    als    ausgezeichnete    Einführung   zu   empfehlen! 


104 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


aber  sonst  immer  tatkräftig  und  energisch.  Sie  wissen,  daß  ich  seit  der 
Kindheit  onaniert  habe.  Ich  will  Ihnen  nun  schildern,  wie  sich  mein  Kampf 
gegen  die  Onanie  abgespielt  hat  und  welche  schreckliche  Folgen  er  für 
mich  hatte. 

Vor  längerer  Zeit  kam  ich  in  ein  größeres  Damenpensionat.  Es  herrschte 
dort  ein  streng  kirchlich^christlicher  Geist,  besonders  getragen  durch  eine 
Mitpensionärm  und  gestützt  durch  das  nahe  Freundschaftsverhältnis  des 
Hauses  zu  einem  evangelisch-lutherischen  Geistlichen.  Mir  war  diese  Atmo- 
sphäre völlig  neu  und  fremd.  Weder  im  Elternhause  noch  im  Freundeskreise 
sonst  waren  mir  je  Menschen  begegnet,  wie  ich  sie  jetzt  täglich  um  mich 
salr  Ich  freundete  m.ch  mit  zwei  jungen  Damen  -  beide  älter  als  ich  - 
bald  an  und  wir  gewannen  uns  herzlich  lieb.  Der  an  mich  gerichteten  Auf- 
forderung,  ,n  die  Predigten  und  Bibelstunden  des  Geistlichen  zu  kommen, 

indteh1v«haMa+ngS-teil6JaUS  HöfIichkeit>  teiI*  ™ch  aus  Neugierde  Folge 
und  ich  verhehlte  niemand  meinen  ganz  anderen,  freien  Standpunkt,  Bald 
aber  fesselten  mich  nicht  nur  die  Worte  dieses  Geistlichen,  sondern  die  ganze 
Religion  erschien   mir  in  ein    anderes  Licht   gerückt.     Leidenschaftlich    gab 

iS  ?Z  TT  GefÜh,e,n  nhin\  DaS  SchÖnG>  ******  «er  christlichen 
Religion  zog  mich  so  an,  daß  ich  nur  den  einen  Wunsch  hatte,  auch  so 

glauben  zu  können  und  so  rein  und  keusch  zu  sein  wie  meine  Freundinnen 

Ich  gab  mir  das  Gelübde,  die  Onanie  aufzugeben.    Dies  tat  ich  im  geh™ 

Vor  meinen   Freundinnen   sprach   ich   nur  von   der   Wandlung,   die   sich   in 

religiöser  Hinsicht  m  mir  vollzogen.    Meine  Freundinnen  und  der  Geistliche 

unterstutzten  mich  und  suchten  mir  meine  Zweifel  zu  nehmen.    Immer  und 

immer  wieder  versuchte  man,  mich  von  einer  mehr  in  meiner  Natur  liegenden 

mJ£\T^Z  HlT ?e  ^  t-  Rdigi0n  ZU  einera  napkten  GlaXn  zu 
bnngen.    Ich  fühlte  mich  lange  Zeit  in  dieser  Umgebung  äußerst  wohl    - 

Bemerken  muß  ich  daß  ich  zu  einer  Zeit  in  diese  Umgebung  kam,  wo'  ich 
besonders  empfänglich  war  für  neue  Eindrücke,  die  ablenkend  und  ich  möchte 
sagen  beruhigend  auf  mich  wirkten.  Ich  hatte  -  von  einer  Freundin  in 
der  Kindheit  verführt  -  die  Onanie  kennen  gelernt,  Ich  onanierte  fast  iede 
Nacht  vor  dem  Einschlafen.  Nun  gab  ich  unter  dem  Einflüsse  der  frommen 
Umgebung  das  Laster  nach  langem,  hartem  Kampfe  auf.  Die  Frömmigkeit 
war  mir  ein  reicher  Ersatz,  das  Gefühl,  ein  „reines"  Wesen  zu  sein,  erhob 
mich.  Ich  schlief  schlecht  und  lebte  eigentlich  immer  in  Ekstase.  Es  war 
dieser  Zustand  wohl  nicht  unnatürlich,  aber  doch  oft  quälend,  da  er  auf 
meine  Sinne  erregend  wirkte.  Eine  Zeitlang  gelang  es  mi>  ja,  die  Erinne- 
rungen an  die  Onanie  und  die  erotischen  Phantasien  zu  bannen,  aber  nicht 
lange.  Körperliche  Arbeit,  die  mir  gesunde  Müdigkeit  gebracht  hätte,  hatte 
ich  nicht,  nur  geistige  Arbeit,  und  die  verscheuchte  den  Schlaf,  statt  ihn 
zu  fordern.  Ich  war  oft  nervös,  gereizt  und  unruhig.  Meine  Freundin,  die 
mich  liebevoll  beobachtete,  fragte  nach  dem  Grunde  meiner  Erregung  und 
Unruhe.  Ich  hielt  es  zunächst  nicht  für  nötig,  anderen  (und  sei  es  auch 
dieser  mir  besonders  nabestehenden  Freundin)  von  meinen  schweren  Kämpfen 
und  ^sinnlichen  Versuchungen  zu  reden,  in  der  Überzeugung,  daß  man  damit 
am  besten  allem  fertig  wird.  Sie  drang  jedoch  wieder  und  wieder  in  mich 
sagte  auch,  daß  sie  mir  sicher  helfen  könnte.  Ich  war  durch  anstrengende 
geistige  Arbeit  schon  nervös  erregt,  nun  wuchs  die  Erregung  noch,  ich  wurde 
angstlicher  und  ängstlicher,  glaubte  aus  Andeutungen  meiner  Freundin  zu 
hören,  daß  sie  doch  alles  erriet  und  verdammte  —  und  ich  vertraute  mich 


Onanie  und  Religion. 


105 


ihr  rückhaltslo's  an,  d.h.,  sie  stellte  Fragen  und  ich  antwortete,  durch  diese 
Fragen  mich  6elbst  freilich  in  mancher  Hinsicht  anders  beurteilend,  als  ich 
es  ohne  ihr  Dazutun  getan  haben  würde.  Nun  stellte  sie  mir  meine  Unruhe 
als  sündhafte  Erregung  dar,  gegen  die  ich  mit  geistlichen  Waffen  kämpfen 
müßte.  Sie  drang  mit  aller  Entschiedenheit  darauf,  daß  ich  alles  meide, 
was  mich  ablenken  könne  von  dem  Wege,  auf  dem  allein  sie  für  mich  Ruhe 
für  möglich  hielt.  Sie  wünschte,  daß  ich  den  Verkehr  mit  einer  Jugendfreundin 
völlig  abbreche,  da  mich  diese  in  ganz  entgegengesetzter  Weise  beeinflußte 
wie  sie.  Es  war  dies  eine  junge  Künstlerin,  ein  sehr  intelligentes  Mädchen, 
dessen  freiere  Denkungsweise  mich  bisher  durchaus  nicht  unsympathisch 
berührt  hatte  und  die  mir  vor  allem  nie  schlecht  und  sündig  erschienen 
war.  Ich  war  grenzenlos  erregt,  alles  das  als  sündig  hingestellt  zu  sehen. 
Ich  konnte  die  Notwendigkeit  eines  Bruches  mit  der  mir  lieben  Jugend- 
freundin nicht  einsehen.  Mit  allen  Erinnerungen  sollte  ich  Schluß  machen, 
auch  äußerliche  Andenken  an  meine  Jugendzeit  vernichten,  gegen  jede  sinn- 
liche Erregung  mit  geistlichen  Waffen  kämpfen  —  es  gelang  mir  eben  nicht! 
Und  das  alles  wurde  mir  von  einem  Menschen  gesagt,  der  mit  seiner  ruhigen 
Sicherheit,  seiner  ernsten  Güte  und  Liebe  zu  mir,  einen  gewaltigen  Einfluß 
auf  mich  ausübte  und  sich  dieses  Einflusses  auch  wohl  bewußt  war.  Ich 
war  überzeugt,  daß  6ie  alles  aus  bester  Absicht  tat  —  aber  ich  konnte 
nicht  einsehen,  daß  all  das  Sünde  sei!  Ich  sollte  nicht  nur  brechen,  sondern 
freudig  brechen  —  Christus  fordere  freudigen  Gehorsam  —  „das  Opfer  des 
Liebsten  ist  die  Pforte  zum  Reiche  Gottes!"  Ja,  das  konnte  ich  nun  mal 
nicht!  Und  immer  und  immer  wieder  dies  schreckliche:  Du  mußt!  Dieses: 
Entweder  —  Oder!    Christus  oder  Satan!    Ganz  mit  allem,  allem  brechen 

—  sonst  nützt  es  nicht!  —  In  dieser  Zeit  mußte  ich  ein  Examen  in  zwei 
fremden  Sprachen  machen.  Diese  Aufregungen  kamen  noch  dazu.  Meine 
Freundin  unterstützte  mich    in    den   Tagen    in   jeder  nur   möglichen    Weise 

—  aber  auch  während  der  Zeit  hielt  sie  mir  wieder  und  wieder  vor,  daß 
mein  Glaubensleben  durch  Bezwingen  meiner  Neigungen  stetig  wachsen  müsse, 
daß  alles  andere  Nebensache  sei.  Ich  wurde  60  hochgradig  erregt,  daß  ich 
wiederholt  Schwindel  und  Ohnmachtsanfälle  bekam,  daß  ich  mich  kaum  die 
Examenstage  aufrecht  halten  konnte.  Ich  war  nahezu  verzweifelt  und  glaubte 
nun  wirklich,  daß  meine  Gedanken  und  Gefühle,  meine  Neigungen  so  durch- 
aus sündhaft  seien.  Ich  kämpfte  mit  heller  Verzweiflung  dagegen  an!  Ich 
hatte  ja  nur  den  einen  Wunsch:  Ruhe!  Und  das  versprach  man  mir  ja 
davon!  Aber  anstatt  ruhiger  zu  werden,  wurde  ich  immer  erregter.  Ich 
redete  nun  mit  meiner  alten  Freundin  in  dem  Sinne,  daß  ich  sie  bat,  den 
Verkehr  zu  lassen  -  aber  als  ich  das  getan  hatte,  quälte  mich  das  wieder. 
Und  nun  wieder  die  Angst  und  Erregung,  daß  mir  es  als  Sünde  hingestellt 
wurde,  daß  ich  nicht  rasch  und  freudig  bräche  mit  den  alten  Beziehungen. 
Und  das  ging  nicht!  Meine  Freundin  suchte  mich  zu  beruhigen  und  in  der 
Tat  gelang  es  ihr,  mir  über  manche  bange  Stunde  fortzuhelfen,  durch  ruhiges 
Zusprechen,  durch  gemeinsames  Beten.  Aber  wenn  ich  allein  war,  besonders 
in  der  Nacht,  dann  packte  mich  die  Verzweiflung:  was  soll  aus  dir  werden? 
Und  dabei  redete  ich  mir  fortwährend  ein,  daß  es  so  das  Rechte  für  mich 
sei,  daß  dieser  Kampf  gut  sei  und  endlich  zum  Siege  führen  müsse.  Ich 
war  grenzenlos  erregt  und  dabei  doch  so  müde!  Ich  war  soweit  zu  Ende 
mit  meinen  —  physischen  und  psychischen  —  Kräften,  daß  es  zu  einem 
Schluß  kommen  mußte.    Ich  mußte  Ruhe  haben  und  man  verhieß  sie  mir 


106 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


davon.    Sie  kannte  aUes  in  meiner  Ä^ÄMS 

mehr.  llSaTZSäS^V^  ^  .T*  ich  nichts  G« 
Punkt.  Ich  soll  mTcl  wie  ™fl!TS  ?  Lden  Nächten  ihren  Höhe- 
mich  im  Bette  uXgZiK»  ifabeTnS  ^  ^  gGSChrien'  ^ufen> 
haben,  was  mich  woS^moÄan^  «"2  "^  V°m  HerZen  geredet 
hatte  an  all  da«  keine  Erinnerung  n^  ^  IL  flSS??  *W  ^  Ich 
von  einem  unnennbaren  Etwas  ir rJrif  !  ? *5  '    aS  lch  damals  hatte: 

eben  reden  ohne  und  £i  ViU^t  af  i  c  w7l  ^  "V' 
weiß    ich    nicht.    Man  holte  dm    Ar!?'  aIles    B*?H 

Herrn   -  und   der  gab   dn  m   u      ~  ?**"  ***  gänzlich  fremden 

wurde  gerufen,  der  fuf  mdne  5^-  *  T*^!  Auch  der  Gliche 
meine  Freundin  geraten  un?  J^S?  gI*°ßen  EMuß  hatte"  Alles'  ** 
-  wenn  auch  (glaube  ich)  ohn!  *?**&**  ganZ  im  Sinne  des  Warrors 
hielt  e,  nun  fürnotwendtg    fl£ '  ' ff  ,  geSchehen-    Mei™   Freundin 

-einem  Ringen,  meinen  Zweien.  *  h  fiÄ ^  J^  ^  K« 
nie  zu  meinem  Vertrauten  gemacht  wenT  iot  1  Geistlichen  m  den  Sachen 
Eigenschaften  als  Mensch  jSsS^t^^  *  T?  VOrZüglichen 
er  jetzt  alles  und  nahm  die  ganze  sfchP  Z  H  *St'TV*tet*  Nun  erfuhr 
erst  späte,  -  Nachdem  Ä£*#  Df h  Ja-  -fuhr  ich 
ruhig;  es  war  eine  vollkommene  S  „  ft  J^  1Ch  PUhig'  ganz 
vorbei  und  war  so  froh  über  das  bißchen F^iedt ,  ,  f  °  -mir  *"•  nun  sei  es 
m   die  Bibelstunde,    wo    der   Geist   che    Z  S h  ^  mit  den  äderen 

gesinnt  sein  ist  der  Tod,  ■ÄfÄ3^^T25-  *  »Fleischlich 

ganze  Rede,  ein  tiefernste  BußpredJ gal m  f  £?*  Und  F™d*-"  Die 
wahrend  es  Fremden  verborgen  bleiben  mußte    Mrfn  te  daS  genau- 

gekämpft    Erregung  began nieder,  2  S £# RffÜfe1**": 

Freundinnen  y„  mich  nta  nl^T  t'  **  ""f  PlÖMidh  meine  W*- 
schaft  für  Dich  stad  an«  V T  k  ^  ""^  VertraM1.  <™ere  Freund- 
Du  hast  in  H«,  >F  w  haben  auch  gar  kein  Mitleid  mohr  mit  Dir' 

DU  bSt  dur"  ^Z^T*?*1*  ¥*  ,*"  ^^*W 
ergeben.    DTbtaTfiu  toÄ  t  *"  ^f'^ten  Leidenschaften 

zurückzugewinnen,™  Sfe^SÄ  !erSUCh6  *?*  mS 
Ein  Zusammenleben  mit  Dir  ist  für  ,?„  -  ?  I    «  0der  Wlr  zleh611  aus- 

nichts  mehr  zu  sagen  "  _  iS  '"a""1    unmo«1'cl>-  .So,  nun  haben  wir  Dir 

gar  nicht  so  sehr  Sin.    £  Et  «3?£m'T*  &  V°^  TZ" 


Onanie  und  Religion.  ^(yj 

meine  Anfälle  war  ich  doch,  nicht  verantwortlich  zu  machen?!  Ich  wußte 
ja  nicht,  was  ich  in  diesen  schrecklichen  Zuständen  gesprochen  hatte  und 
weiß  es  heute  noch  nicht.  Kein  Mensch  kann  sich  meine  Verzweiflung 
vorstellen. 

Ich  weiß  nicht,  wie  ich  die  nächsten  Tage  verbrachte,  ich  weiß  nur, 
daß  alles  so  wund  und  weh  war,  und  dann  immer  das  verzweifelte:  Warum? 
Sie  waren  doch  sonst  gut  zu  dir!.  Du  hast  doch  nichts  getan!  —  Meine 
Eltern,  von  anderen  über  meinen  Zustand  verständigt,  riefen  mich  schnell 
heim.  Meine  Freundinnen  verweigerten  mir  jede  Aussprache.  Ich  ging  noch 
einmal  zu  dem  Geistlichen.  Er  hielt  mir  meine  ganze  Schlechtigkeit  vor, 
nannte  mein  Verhalten  in  der  Nacht  „satanisch"  und  schüchterte  und  ängstigte 
mich  dergestalt  ein,  daß  ich  mich  nicht  verteidigen  komite.  Ich  war  fast 
überzeugt,  daß  ich  wirklich  so  schlecht  sei,  daß  ich  all  das  verdiente  — 
ich  glaube,  ich  hätte  mich  aller  Verbrechen  damals  schuldig  bekannt,  die 
ich  nie  vorher  gekannt  —  nur  um  doch  einen  Entschuldigungsgrund  für  das 
harte,  lieblose  Verhalten  meiner  Freundinnen  zu  haben,  von  denen  ich  so 
hoch  dachte.  Der  Geistliche  versprach  mir  seine  Hilfe  für  später.  Ich 
dankte  ihm  für  alles  und  glaubte  ihm  alles!  —  Man  sagte  mir,  daß  man 
noch  für  mich  beten  wollte  —  wie  lange  man  das  könnte,  wüßte  man  nicht! 
Aber  helfen  könnte  man  mir  nicht  mehr:  „Wir  fühlen  uns  nicht  mehr  be- 
rufen, Ihr  Heiland  zu  sein!"  Also  ausgestoßen,  fortgeschickt!  In  hellster 
Verzweiflung,  mit  dem  ewigen  „Warum?"  in  mir,  reiste  ich  heim!  Die  ersten 
Wochen  daheim  waren  vielleicht  die  schlimmste  Zeit;  da  nun  alle  äußeren 
Erregungen  aufhörten,  quälte  ich  mich  innerlich  ab.  Ich  hatte  für  nichts 
Sinn  und  Interesse.  Hatte  nur  den  einen  Gedanken:  „Wenn  du  so  schlecht 
bist,  was  soll  dann  werden?"  Und  dann  wieder:  „Warum  tat  man  dir  da3?" 
Meine  Eltern  waren  ganz  ratlos.  Und  endlich  kam  auf  wiederholte  dring- 
liche. Anfragen,  Bitten  um  Aufklärung  von  Seite  meiner  Eltern  die  Wahr- 
heit! In  einem  Briefe  schrieb  der  Pastor,  daß  er  es  gewesen  sei,  der  die 
jungen  Damen  zum  Bruche  mit  mir  veranlaßt  hat.  Und  der  Grund?  Er 
hätte  gefühlt,  daß  meine  Liebe  zu  meiner  Freundin  perverser  Natur  sei' 
Gestützt  auf  die  Worte  des  Arztes:  „Nicht  anrühren",  gestützt  auf  die 
Erzählung  meiner  Freundin,  daß  ich,  als  sie  mich  liebevoll  in  die  Arme 
nahm,  ruhiger  geworden  sei,  schleuderte  er  diesen  Verdacht  gegen  mich' 
Meine  Freundin  selbst  hatte  nie  dergleichen  unnatürliche  Gefühle  an  mir 
gemerkt  Sie  waren  auch  (was  die  zweite  Freundin  damit  zu  tun  hat  ist 
mir  noch  unklar)  durchaus  nicht  gleich  von  Herrn  Pastors  Meinung  über- 
zeugt -  aber  schließlich  doch.  Ohne  jedweden  triftigen  Grund  sahen  sie 
sich  veranlaßt,  mir  obenangeführte  Worte  zu  sagen,  mich  aus  dem  Hause 
zu  weisen  -  mich  in  Zweifel  und  Angst  heimreisen  zu  lassen!  Ohne  mir 
die  Wahrheit  zu  sagen!  Ich  bat  um  Beweise;  meine  Eltern  baten  den 
Geistlichen  um  Angaben  von  auch  nur  einem  triftigen  Grund  für  seinen 
Verdacht,  der  so  folgenschwer  für  mich  werden  sollte!  Keine  Antwort!  — 
Und  in  dem  Brief  war  außerdem  noch  die  Drohung  enthalten,  mich  den 
Schulbehörden  anzuzeigen,  wenn  meine  Eltern  seine 
Stellung  zu  untergraben  versuchten!  —  Mein  Zustand 
wurde  nicht  besser,  nachdem  ich  den  Inhalt  dieses  Briefes  erfahren  hatte. 
Das  war  wieder  etwas  ganz  Neues,  wovon  ich  nie  gehört  hatte;  was  man 
mir  jetzt  vorwarf!  Zu  allen  Selbstvorwürfen  kamen  Vorwürfe  gegen  die 
anderen.   Und  dann  doch  immer  wieder  dies  Nichtverstehenkönnen  und  dies 


108 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


halfen   -  UÄÄ^ttl  d-   ^Iß°rger 

.  J^Ä  W^IS  älÄ  romem  "^T^  »i?dete~n 
der  Satan  treibt  ÄJ^ÄÄSSTSÄ  **  ^  «« 
^.ÄaTÄÄ*  &Ä  -f  Sie  «  h  vor- 
her.   Sie  sprach  imverstäSÄSS»  7cL  f  .9**™****  hin  und 

und  da  einzelne  Ausdrücke  wie  Geliebte'^  W  "  ^  85  denen  man  hie 
horte.   Dann  steckte  sie  den  Finger  7n  £, '  A l  ^  '  »E"tzücke»"  heraus- 

bohrende Bewegungen,  die  SäSTÜ ^  Or«Rtdfffla^fcur?e'  heftige" 
einen  ekstatisch  verklärten  Ausdruck  bot  %t  u8ten'  ,n  dem  ihr  Gesicht 
der  einer  Prau  a  posteriori  beTwohnte  ****  SCheinbar  *»  Mann, 

schemungen  verschwanden.    Belffi'Ä^iS   alle  krankhaften   Er- 
alle meh,    Noch  jetzt  -  aht  Jahre  ÄÄf  S*  U*  keine  An" 
hie  und  da  einen  Brief  von  ihr.    Sie  i«    vollen™  ehandIung  -  erhalte  ich 

Ln  h\mit  der  ersten'  freisinnig  ftÄtS  ^  ^  hat  den 
hatte  schon  vorher  in  halbbewußten  iSSSSjE^  aufgen01™-  Sie 
Phantasien  onaniert.  Aber  sie  wußte  nicMs  von  H  °  mit  hom°sexuellen 
geb lic  nicht  daß  es  solche  BeSt^ÄT*'  ahnte  an" 
Erst  durch  den  Pfarrer  und  durch  meine  Aufkl?  FraU6n  geben  kö™*- 

ihrer  Freundschaftsbeziehungen  kC  L  i  'f  U"gen  Wurde  **  die  Art 
feeb richten  kennen  unTSnn^ie  wLÄS  ^  Menschli^  «— 
auch,  daß  sie  wieder  in  größeren  Z^Jt-  emndeiL  Sie  schrieb  mir 
danach  innner  e^chtert^d ^5?SS T  ^^  daß  sie  ^h 
£**  Und/€ß  nichts  ™*r  von  sich  h^ren     ÄTftÄS**?8    Sie>    Wurd* 

«d^  -  er 

ÄSSÄ  «ÄÄ^Ä  ÄS 

Religiöse  Strömten  VoZ  lUa]lt>  "  TT  ^^  ZU  ■*** 
ihre  Liebe  zu  den  Preundinn!  Z  7  ?otuu***  rammen.  Denn 
■  •  -  auch  von  fl££fc» T  *  h™UelIe  *** 
langten  sie  die  Opferung  deT^T^  7  Tu^  EiferSUCht  Ver' 
alle  in  der  Verehrung  feil  ,  *****  **?«*  fand**  ■» 
- g  IUr  den  Seelsorger,  einer  Verehrung,  die  ihren 

^  seJr  MÄÄ^  ,"«  6lbt  ^  °Sk-  *~ 
automatischen  Kryptographie  «  (Thrb„c M t  ^  WUSiÖßeD  G1°8S°la,ie  Und  der 
Verlag  P.  Deuticke    ^en  und  B^ltt  m^&lyÜSche  F—hUngen.  EH.  Band. 


Onanie  und  Religion.  jnn 

erotischen  Ursprung  auch  nicht  verleugnen  konnte.  Die  rasche  Heilung 
ist  ebenso '  bemerkenswert  wie  die  Überwindung  der  frommen  Periode, 
welche  eigentlich  eine  Regression  auf  eine  infantile  Einstellung 
bedeutete. 

Viel  einfachere  Aspekte  bietet  der  nächste  Fall,  der  aber  thera- 
peutisch eine  schwerere  Aufgabe  darstellt. 

Fall  Nr.  20.  Herr  T.  L,  ein  24jähriger  Jurist,  ist  in  seinen  Studien 
stecken  geblieben  und  leidet  an  schweren  Depressionen.  Er  sitzt  meistens 
zu  Hause  und  starrt  in  Wachträumen  vor  sich  hin,  beteiligt  sich  kaum  am 
Gespräch  und  benimmt  sich  fast  wie  ein  dementes  Individuum.  Er  schläft 
•sehr  viel  und  sehr  tief-,  liegt  sehr  lange  des  Morgens  im  Bette,  fühlt  sich 
müde  und  zerschlagen  und  quält  seine  Familie,  der  er  immer  wieder  in 
Beinen  redseligen  Momenten  auseinandersetzt,  daß  er  nicht  lange  leben  werde 
Er  ist  schwer  zu  behandeln,  da  er  fast  kaum  zum  Sprechen  zu  bringen  ist! 
Schließlich  überwinde  "ich  seine  Hemmungen  und  erfahre  folgende  Lebens- 
geschichte. Er  war  immer  ein  stilles  Kind,  aber  trotzig,  jähzornig  und  ver- 
schlagen.   Mit  sechs  Jahren  begann  er  zu  onanieren,  ohne  daß  er  verführt 

Zntw  'S  e  fr  r°?nie  Selbst  und  fröhntc  ihr  in  der  Kindheit  ohne 

Hemmung.  Bis  zum  16.  Lebensjahre  onanierte  er  ohne  Störung  weiter,  war 
ein  guter  Schuler  und  entwickelte  sich  physisch  ganz  ausgezeichnet  Da 
aber  begann  die  Belehrung  von  Seite  seiner  Mitschüler.  Er  hörte  viel  von 
Onanie  reden  nnd  wußte  nicht,  was  darunter  gemeint  sei.  Er  hörte,  wie 
gefährlich  das  wäre,  daß  man  davon  blöd  und  rückenmarksleidend  werden 
müsse.  Er  erkundigte  sich  genauer,  was  denn  Onanie  wäre,  und  hörte  mit 
Schrecken  daß  «  der  Akt  der  Selbstbefriedigung  wäre,  den  er  schon  so  lange 
ausgeführt  hatte.  Lr  versuchte  sich  zurückzuhalten,  es  ging  aber  nur  sehr 
schwer.  Das  Einzige,  was  er  erzielen  konnte,  war,  daß  er  etwas  seltener  als 
Diener  onanierte.  Er  war  immer  ein  sehr  frommes  Kind  und  hatte  sich  seinen 
Glauben  auch  im  Gymnasium  in  alter  Stärke  unvermindert  erhalten  Er 
Deichtete  also  das  Laster  und  hörte  jetzt,  daß  es  eine  gefährliche  Sünde 
wäre.  &r  dürfe  sich  nicht  „unkeusch  berühren"!  Er  gab  dem  Priester  das 
versprechen,  nicht  mehr  zu  onanieren.    Dies  Versprechen  hielt  er  drei  Monate 

Degangen  hatte,  die  er  büßen  müßte,  sollte  er  nicht  um  die  ewige  Seliekeit 

^™ten  SbGSChV  ?'  ZU1;  Buße  dn  MönCh  ZU  W6rden  und  -  ein  KU 
nicht  d  F'JZ-  Va£Vber  wollte  davon  nicht*  wiesen  und  erteilte  ihm 
wl?  Erlaubnis.  Er  begann  also  auf  eine  andere  Weise  Buße  zu  tun  Er 
kasteite   s.ch   mit   Fasten,   entzog   sich   alle   irdischen   Vergnügen   und   gab 

werde^TmSv"',  ^  ?  kT?  *  Herr  Seines  Sexualtriebes 
Z       '  Bnh  V°n  der  0nanie  ZU  heilen  und  ^ine  Gesundheit  zu  retten, 

Ä"pWv D;me,\ZU  **»•  Er  wcar  "hr  erschrocken,  als  er  wieder  in 
tlnl™  v  Gr  "\  a^er0Sünder  und  vom  Regen  in  die  Traufe 

gekommen  sei.  Er  müsse  nach  den  Satzungen  der  Religion  keusch  bleiben. 
Lr  wurde  nur.  ganz  abstinent  und  versuchte  durch  eminenten  Fleiß  alle 
sinnlichen  Gedanken  zurückzudrängen. 

Er  hörte  in  der  Tat  auf,  an  sexuelle  Dinge  zu  denken  und  wurde  auch 
SL?6^  ?n  Versuchungen  belästigt.   Aber  wie  hatte  sich  sein  Wesen  ge- 

w  il     SrMk°nn?te  ni°lht  8*udleren  und  seine  Gedanken  nicht  konzentrieren 
Welcher  Schluß  lag  näher  als  der,  daß  er  sich  durch  die  Onanie  ruiniert  habe 


110 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


ange  es  noch  dauern  würde,  bis  er  in  das  Irrenhaus  käme.   Wozu  S  Z 

Geisteskranken Tspi Ä^fS^S  SEf^J8'  begann  also  den 

ein  veraSi^ÄÄ?  ff  £  Sc^kenteinpo  vor  sich.  Er  ist 
Solche  Kranke  können  stundenlang  bat  TSTT"'  ^.^  zu  8a*eD- 
sie  sprechen  sollen.  Sie  vezTantn  7^1^  T*  WMT  nicht'  Was 
nicht,  ihre  Einfälle  frei  aneinandelreThen  "*  ****'    Sie  Wag8n  eS 

Onanie^Ä  Bemrchtungen.  Die  Folgen  der 

gehen.    Dann  gesteh    er    daR P    t>?     mU8B?  ^tin™t  *»   ein   Irrenhaus 

unternommen  h?be  Wir  Lmen  ia die SSJSP'S  T   fl*hB« 
und  Onanie.    Dieser  MteK^^r4  Beziehungen  von  Selbstmord 

Fenster  h^u-il^SfB^w^^  5"S!  W°llt6  *  ^  ™ 
konnte  ihn  noch  rechtzeitig  retten  VirLK  ,  q  T™*,  anwesend  ™d 
nehmung.  Es  war  mehr  ein SpS 'mit dem ^tt  ^elerische  dieser  Unter- 
er einen  ernstlichen  ÄSÄÄr^  Den  Mtte 
nicht  vor  den  Augen  des  BnrfJÄTSÄSS^  "**•  -  ?a 
Gegenwart  seines  Schwagers  vor  sich  Dieser  Sfaf *»  eidversuch  SmS  in 
Einfluß  auf  ihn  genommen,  als  er  ihn  e  n  'inl L rÄ?!  f*" 
Depression  befragte,  ob  er  onaniere.  Als  er  bejahte SÄÄ^ 
vor  den  schädlichen  Polgen  dieser  Befriedigung  u^d  Am  f?  ff  WageF 
gehen  Vor  ihm  wollte  er  sich  den  Schädel  X«KiS£Ä£  «2?°?  ZU 
Versuch  wurde  verhindert.  Es  ist  bemerkenswert  daß  all'e  V»  I  /""Ü 
hinausgehen,  das  Gehirn  zu  zertrümmern.  Dort  sfttn  die  r.T  t  ^ 
Versuchung  und  dort  lauert  die  Angst  vor  dem  Wahn  nn  Er  will?  T  ^ 
gleich  mit  dem  Leben  vernichten.  ^r  will  den  Feind 

Zwei  Träume  der  ersten  Tage  sind  bemerkenswert.   Der  erste  lautet- 

Mein  Freund  K.  ist  im  Theater,  wo  ein  mir  unbekannte  <?+«  i" 

gespielt  wird.    Er  macht  sich  über  den  Autor  lustig  und  vTräßtW 

räsonierend  das  Theater  venaut  laut 

der  öÄTSui? aUm  i6d0Ch  bFingt  UnS  d6m  Verstä^nisse  der  Neurose  und 

Ich  träume  daß  ich  im  Bette  auf  dem  Bauche  liege  und  von 
einem  Unbekannten  mit  einem  Stock  geprügelt  werde.  Es  tut  nicht 
besonders  weh,  was  mich  sehr  wundert. 


Onanie  und  Religion.  jii 

Ein  dummer  Traum,  der  gar  keinen  Sinn  hat!  .  .  .  kritisiert  der  Ana- 
lysand  seinen  Traum.  Diese  Kritik  enthält  einen  Widerstand  und  versucht, 
wichtiges  Material  zu  entwerten,  wozu  ja  Spott  am  besten  geeignet  ist. 

Wir  können  uns  aber  auf  masochistische  Einstellungen  gefaßt  machen. 
Patient  erzählt  nun,  daß  er  von  seinem  Vater  in  der  Kindheit  oft  verprügelt 
wurde.  Schon  wegen  Kleinigkeiten,  denn  Papa  war  sehr  streng.  Einmal  bekam 
er  Schläge,  weil  er  kein  Vorzugszeugnis  nach  Hause  brachte  .  .  .  Die  Schläge 
waren  angeblich  nie  lustbetont.  Er  will  von  masochistischen  Phantasien  und 
einer  masochistischen  Einstellung  nichts  wissen. 

Wer  nie  einen  Patienten  analysiert  hat,  der  sich  vorgenommen  hat,  etwas 
Wichtiges  nicht  zu  sagen,  der  kann  sich  von  den  Schwierigkeiten  der  Analyse 
keine  VorsteDung  machen.  Der  Kranke  kommt  jeden  Tag,  setzt  sich  hin  und 
wartet,  daß  man  ihn  ausfragt.  Diese  kindische  Vorstellung  von  der  Analyse 
haben  ja  viele  Ärzte.  Sie  sprechen  immer  wieder  von  einem  peinlichen  Kreuz- 
verhör, das  man  mit  dem  Kranken  anstellt.  Derartige  Verhöre  und  das  hoch- 
notpeinliche Ausfragen  haben  gar  keinen  Sinn.  Was  der  Kranke  nicht  spontan 
sagt,  hat  meistens  keinen  Wert,  selbst  wenn  es  .ihm  erpreßt  wird  und 
wenn  es  von  Bedeutung  wäre.  Er  muß  verstehen,  daß  es  sich  um  einen 
Läuterungsprozeß  seiner  Seele  handelt  und  daß  er  sich  schadet,  wenn  er  den 
Arzt  belügt  und  ihm  wichtige  Tatsachen  verschweigt  .  .  . 

So  geht  es  auch  mit  diesem  Kranken.  Man  merkt  ihm  einen  furchtbaren 
Kampf  an.  und  er  gesteht,  daß  es  Dinge  gibt,  die  er  nicht  sagen  kann  obwohl 
er  sie  sagen  möchte  .  .  . 

Er  erzählt  von  sonderbaren  schädlichen  Szenen,  wie  ich  sie  in  meinen 
„Nervösen  Angstzuständen"  eingehend  geschildert  habe.    Er  leidet  an  Angst 
vor  einem  Herzschlag.   Fast  jede  Nacht  hat  er  einen  Anfall,  der  das  ganze 
Haus  alarmiert.    Er  beginnt  zu  stöhnen  und  nach  seinem  Herzen  zu  greifen 
Dann  aber  erscheint  zuerst  der  Vater  und  beginnt  ihm  freundlich  zuzureden 
was  ihn  ein  Wenig  beruhigt.    Später  kommt  auch  die  verheiratete  Schwester 
und  streichelt  ihn  wie  ein  kleines  Kind  und  macht  ihm  Umschläge  auf  das 
erregte  Herz.   Dann  erst  wird  er  ruhig  wie  ein  kleines  Kind  und  schläft  ein 
Wir    kennen    die    Psychogenese    solcher    nächtlicher    Anfälle    aus    den 
Analysen  neurotischer  Kinder.    Es  sind  Sehnsucht  und  das  Verlangen  nach 
Liebe,  die  sich  in  solchen  nächtlichen  Anfällen  äußern.  Die  Schwester  erscheint 

Er  ÄÄ  tYatTl  d"  ^^  iSt  dGr  ^ittelpunkfdTrÄTe' 
Lr  ruft  die  Objekte  herbei,  welche  seine  geheimen  Gedanken  mit- allerlei  Phan- 
tasien umspinnen.  Welcher  Art  diese  Phantasien  sind,  das  können  wir  mur 
ahnen  aber  wir  werden  es  erst  wissen,  bis  der  Kranke  seinen  inneren 
Widerstand  gebrochen  hat  und  uns  weitere  Mitteilungen  macht.  Daueret 
wird  uns  der  Kampf  gegen  die  Onanie  und  das  Schuldbewußtsein  verständlich 
werden. 

Langsam  entrollt  sich  das  Bild.  Die  Einstellung  zum  Vater  erhält  neue 
Ueiiexe.  Erst  war  sie  eitel  Liebe  und  Ergebenheit,  jetzt  meldet  sich  der  Haß 
und  schickt  seine  Vorposten  zögernd  in  das  analytische  Gefecht.  Der  Vater  ist 
sehr  strenge  gewesen.  Er  war  sicherlich  sehr  gut,  viel  zu  gut,  aber  er  konnte 
auch  strenge  sein  und  dann  war  er  unbarmherzig.  Wegen  eines  minder  guten 
Ausweises  wurde  er  geschlagen.  Der  Vater  verlangte  von  ihm  immer  die 
besten  Noten.  Wenn  er  sie  einmal  nicht  erreichte,  so  gab  es  Schläge.  Er  war 
schon  16  Jahre  alt  und  erhielt  Schläge,  weil  er  ohne  Erlaubnis  des  Vaters 
einen  größeren  Ausflug  unternommen  hatte.    Er  lief  damals  davon  und  war 


112 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


zwei  Tage  nicht  zu  finden.  Endlich  wurde  er  im  Walde  entdeckt  und  nach 
Mause  gebracht.  Der  Vater  sprach  dann  einen  ganzen  Monat  zu  ihm  kein 
W  ort.  Das  war  die  empfindlichste  Strafe  seines  Vaters.  Wenn  er  den  Kindern 
zurate,  horte  er  auf,  mit  ihnen  zu  sprechen.  Der  Kranke  kann  auch  in  der 
Analyse  durch  lange  Zeit  nicht  sprechen.  Ein  ungeheurer  Trotz  beseelt  ihn 
und  macht  ihm  das  Reden  unmöglich.  Er  kopiert  den  Vater,  der  ihn  so 
bestrafte  und  an  dem  er  sich  jetzt  durch  seine  Krankheit  rächt.  Denn  in 
seiner  Verstimmung  schweigt  er  auch  im  Hause  durch  lange  Wochen,  sitzt 
stumm  brütend  in  einem  Winkel  und  wird  ganz  verschlossen.  Seine  Depression 

I  er  mm  h L  h?  t^  ^u^f  ^  ^  8t^Q  *  die  Schlä^  des'vaters, 
fst  es  „tdii  Sr  n°Ch  ??*  rrgeSSeQ  hat  Noch  nicht  zu  entscheiden 
Hwt'^nf'  PSFV?*  lustbet0Qt  ™«  ™d  ob  er  die  Wiederholung 
dieser  Szenen  erwartet.  Er  hat  wiederholt  Träume,  in  denen  er  geschlagen  wird 

MasocMstLTnT        °n    Widerständen    ««teht    er    eines    Tages,    daß    er 
vorkommt    wL  V"  "ZTST******  *********  *TOr  eine  Prügelszene 
echsten  Bande  hTu  hlmtf™*™  ^^  **t,  das  werden  wir  erst  im 
nm   lt  Rh  BesPrefhung   des  Masochismus  erfahren.    Ich  will   hier 

nui  die  Beziehungen  zur  Onanie  feststellen.  Es  zeigte  sich  ferner  daß  er 
an  die  Familie  fixiert  ist.    Er  liebt  den  Vater,  den  Bruder  und  dTsdiwaUr 

vLef  Schi  eXnt11  Pf gelSZenen  bd  86inen  «"Ä£  ££& 
m  erden.    Schließlich tritt   noch   eine  inzestuöse  Einstellung   zur   Schwester 

zutage.  Das  Schuldbewußtsein  des  Kranken  bezieht  seine  stärk  ten  Affekte 
""diesen  Quellen.  Nicht  wegen  der  Onanie  macht  er  sich  dfe VorwU  fe 
sondern  wegen  seiner  Inzestphantasien.  Wie  alle  Menschen  aZ  1  Atl  p  ' 

fixiert  sind,  läuft  er  davon  und  macht  stets  vergebHche  \tR^h.  t 
der  Familie  frei  zu  machen.  Immer  tiefer  verstrickt  ihn  «TS  '  S1  T 
Netz  der  FamiHenliebe,  immer  unfähiger  Ältta?^ 
schließ  ich  ein  Kind  wird,  das  von  der  Gnade  seines  Vaters  1 ot  Mt  ,  ™ 
zeitweilig  überwundenen  Infantilismus  treten  die  Seilen  B™ 
wieder  hervor.  Mordphantasien  sind  keine  Seltenheit  so  daß  "es  * Hern 
Wege  der  Talion  zu  Selbstmordimpulsen  kommt.  dem 

Was  er  von  der  Religion  erwartete,  das  konnte  nicht  eintreten-  Er- 
lösung von  seinen  krankhaften  Trieben  und  vollkommene  Befreiung  Er 
erwartete  von  Gott,  was  er  selbst  nicht  leisten  konnte.  Er  stellte  sich  dann 
vorübergehend  zur  Religion  mit  Trotz  ein,  hatte  eine  Periode,  in  der  er 
Blasphemien  aussprach  und  ein  atheistisches  Tagebuch  führte,  in  das  er 
täglich  Bewe.se  von  der  Nichtexistenz  Gottes  eintrug.  Die  Beweise  mußten 
ihn  wenig  überzeugt  haben,  denn  er  fiel  bald  wieder  in  die  infantile  Form 
der  Frömmigkeit  zurück,  sagte  seine  Kindergebete  auf,  machte  freiwillige 
Gelübde  und  legte  sich  strenge  Kasteiungen  auf. 

.  Das  größte  Opfer  jedoch,  das  er  sich  auferlegte,  war  das  Aufgeben  der 
Onanie  Wohl  traten  nach  dem  Verzichte  auf  diese  bewußte  Form  der  auto- 
erotischen  Betätigung  Pollutionen  auf.  Allein  er  empfand  sie  nicht  als 
Sunde.  Er  hatte  sich  nicht  unkeusch  berührt.  Denn  er  war  wieder  fromm 
und  nahe  daran  ein  Frömmling  zu  werden.  Er  lief  in  der  Dämmerung  in 
die  Kirche  kniete  inbrünstig  nieder  und  bat  um  Erlösung  und  Vergebung 
tur  seine  Sünden.  Er  konnte  in  der  Nacht  unzählige  Vaterunser  aufsagen 
um  seine  Gedanken  abzulenken  und  sich  zu  beruhigen.  Er  vertiefte  sich  in 
einen  schwärmerischen  Marienkult,  der  verständlicher  wird,  wenn  man  weiß 
daß  seine  Schwester  auch  Maria  heißt  und  daß  seine  Marienbilder  ihre  Züge 


• 


Onanie  und  Religion.  113 

nachbildeten.  So  vergiftete  ihm  die  Sexualität  die  reine  Quelle  seines 
Glaubens  und  mengte  sich  in  seine  Gebete.  Er  wollte  um  jeden  Preis  rein 
sein  und  wollte  sogar  den  höchsten  Preis  einsetzen,  sein  Leben.  Er  studierte 
nicht  und  kümmerte  sich  nicht  um  die  Pflicht  des  Tages,  da  ihm  ein  höheres 
Ziel  vorschwebte.  Er  wollte  seine  Seligkeit  nicht  verlieren.  Er  wollte  die 
Wonnen   des   Jenseits  erobern. 

Er  lebte  in  seinen  Dämmerzuständen  jene  seltsame  Mischung  von 
Religiosität  und  Erotik,  die  nur  die  Asketen  kennen.  Es  kam  zu  Ekstasen, 
welche  ihn  wie  Wonneschauer  durchzuckten.  Kein  bewußter  Gedanke  mahnte 
ihn,  daß  er  seine  Libido  in  das  Religiöse  verschoben  hatte  und  nun  doppelt 
schuldig  war.  Allein  sein  Inneres  ahnte  und  kannte  diese  Zusammenhänge. 
Er  wurde  immer  schwerer  krank  und  fürchtete  bald  jede  Berührung  mit  der 
Umwelt.  Er  zog  sich  auf  seine  Familie  und  auf  das  „Kindsein"  zurück, 
immer  in  der  Phantasie,  er  könnte  das  Leben  noch  einmal  beginnen  und 
ein  neuer,  wiedergeborener  Mensch  werden. 

Die  Analyse  wurde  vom  Kranken  plötzlich 'abgebrochen,  als  sich  Er- 
innerungen an  homosexuelle  Spiele  mit  dem  jüngeren  Bruder  melden  wollten. 
Dadurch  glaubte  er  .eine  schwere  Schuld  auf  sich  geladen  zu  haben.  Er  konnte 
nun  wieder  studieren  und  das  genügte  ihm.  Meine  Forderung,  er  möge  sich 
längere  Zeit  von  seiner  Familie  trennen,  stieß  auf  hartnäckigen  Widerstand. 
Soviel  war  zu  erreichen,  daß  die  nächtlichen  Anfälle  aufhörten  und  er  die 
Türe  seines  Zimmers  des  Nachts  absperrte.  Das  war  die  letzte  seiner  Kon- 
zessionen. Dann  aber  zitterte  er  davor,  seine  geliebte  Familie  verlassen  zu 
müssen.  Er  begann  so  eifrig  und  mit  so  gutem  Erfolge  zu  studieren,  daß 
sein*  Vater  der  Ansicht  war,  er  wäre  vollkommen  geheilt,  und  sich,  bei  mir 
in  überschwanghchcn  Worten  bedankte.  Der  Kranke  spielte  die  Heilung 
weil  er  nicht  tiefer  in  sein  Inneres  blicken,  sich  nicht  erkennen  und  weil  er 
nicht  die  letzten  Konsequenzen  ziehen  wollte.  Ich  hörte  noch  nach  drei 
Monaten,  daß  der  Erfolg  anhaltend  war.  Er  hatte  keine  Anfälle  mehr  und 
bestand  sein  Examen. 

Ich  könnte  noch  manche  Beispiele  anführen,  die  uns  von  dem 
Einflüsse  der  Seelsorger  auf  den  Kampf  ihrer  Schutzbefohlenen  mit  der 
Onanie  erzählen.  Ich  widerstehe  der  Versuchung  und  will  mich  nur 
auf  ein  paar  allgemeine  Bemerkungen  beschränken.  Ich  habe  schon 
eingangs  dieser  Ausführungen  auf  den  hartnäckigen  Kampf  der  Religion 
gegen  den  Autoerotismus  gesprochen.  Der  Geistliche  des  ersten  Bei- 
spieles hatte  mit  Recht  auf  die  Bibelstelle  hingewiesen:  „Fleischlich 
gesinnet  sein  ist  der  Tod,  geistlich  gesinnet  sein  ist  Leben  und  Friede." 
Dieser  Satz  enthält  das  Programm  des  Kampfes  der  Religion  gegen 
die  bexuahtät.  Er  wäre  unverständlich,  wüßte  man  nicht,  daß  unter 
dem  lod  das  Verlieren  der  Seligkeit  und  unter  „Leben  und  Friede"  die 
Belohnung  im  Jenseits  zu  verstehen  sind.  Mit  einer  bewundernswürdigen 
Hartnäckigkeit  hat  die  Kirche  das  Opfer  der  sexuellen  Lust  als  Prämie 
für  die  ewige  Lust  verfochten. 

Nie  wäre  der  Sieg  einer  solchen  Lehre,  die  alle  natürlichen  Werte 
umkehrt,  gelungen,  wenn  nicht  die  Menschheit  selbst  das  Bestreben 
hätte,  sich  von  allem  Irdischen  zu  lösen  und  sich  durch  Überwindung 

Stekel,  Störungen  de8  Trieb-  und  Affektlebens,  n.  2. Aufl.  g 


114 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


der  Triebe  vom  Tiere  zur  Gottähnlichkeit  zu  entwickeln.  Der  Auto- 
erotist  zeigt  uns  diesen  Kampf  gegen  und  für  sich  selbst  in  seiner 
schärfsten  Form.  So  lange  er  sich  die  Lust  selbstherrlich  spendet, 
dünkt  er  sich  sein  eigener  Gott.  Einer  meiner  Patienten,  der  einen 
schweren  Kampf  gegen  die  Onanie  durchzumachen'  hatte,  zeigte  mir 
sein  Tagebuch,  das  er  im  zwölften  Lebensjahre  begonnen  hatte.  Nach 
Überwindung  einer  religiösen  Abstinenzperiode  fing  er  wieder  zu 
onanieren  an  und  schrieb  mit  großen  Lettern  auf  die  erste  Seite  seines 
Tagesbuches  das  stolze  Wort:  Auto  theo  s!  Es  ist  der  göttliche 
Funke  des  Empörers  Prometheus,  der  in  den  Seelen  dieser  Kämpfer 
aufflammt  Freilich  erlischt  der  Brand  meistens  so  schnell,  wie  er  ent- 
standen. Die  stolze  freie  Selbstherrlichkeit  währt  nicht  lange.  Auch 
unser  Autotheos  ist  ein  jämmerlicher  Neurotiker  geworden,  ein  halber 
Freigeist  und  ein  halber  Frömmling,  der  schließlich  alle  seine  eigenen 
Gesetze  dem  großen  Moralgesetze  seine*  Religion  opferte 

Es  wäre  sehr  verlockend,  an  seinem  Beispiele  nachzuweisen,  wie 
die  verdrängte  Sexualität  sich  rächte  und  seine  ganze  Religiosität 
durchsetzte.  Das  ist  die  Rache  jeder  unterdrückten  Erotik  Sie  be- 
mächtigt sich  der  Kraft,  die  sie  verdrängen  will,  und  stellt  sie  in  ihren 
Dienst.  Das  große  Beispiel  im  nächsten  Kapitel  wird  uns  das  in 
seltener  Klarheit  vor  Augen  führen.  Das  Verdrängte  über 
waltigt  das  Verdrängende.  So  verliert  der  Mensch  dann 
Deides:    Semen  Glauben  und  seine  Sexualität. 

Unsere  Beispiele  haben  uns  aber  gezeigt,  wie  wichtig  eine  Reform 
der  beelsorge  und  eine  analytische,  sexuologische  Erziehung  der  Lehrer 
und  Priester  ist.  Wollte  man  die  verschiedenen  Schriften  der  ganzen 
und  halben  Pfarrer  über  die  Onanie  zitieren,  man  bekäme  erst  einen 
Einblick  in  das  furchtbare  Treiben,  würde  erst  bemerken,  wie  unglaub- 
lich leichtsinnig  hier  mit  der  Gesundheit  des  Volkes  umgegangen  wird. 
Ich  zitiere  nach  Pfister1)  das  in  der  Schweiz  weitverbreitete  Schriftchen 
des  Pfarrers  Hauri2)  : 

„Wenn  ein  junger  Mensen  heimlich  allerlei  Dinge  treibt,  wodurch 
er  seinen  Leib  befleckt,  dann  leidet  auch  seine  Gesundheit  schlimmen 
Schaden.  Er  wird  müde  und  schlaff,  seine  Sinae  werden  geschwächt,  er 
verliert  alle  Spannkraft  und  Willenskraft.  Immer  weniger  vermag  er 
der  bösen  Lust  zu  widerstehen.  Auf  Schritt  und  Tritt  verfolgen  ihn 
seine  bösen  Gedanken  und  bringen  ihn  einmal  ums  andere  Mal  zu  Fall 
Er  verliert  die  Freude  an  der  Arbeit.     Er    wird    im    Aussehen 

und  in  der  Haltung  einem  Greis  ähnlich,  und  schließ- 
lich rafft  ihn  vielleicht  irgend  eine  Krankheit,   der 


*)  1.  c.  S.  476. 

a)  Eine  Konfirmandenstunde  über  das  7.  Gebot.    St.  Gallen  1910. 


Onanie  und  Religion.  -.  ■•  - 

er  sonst  leichten  Widerstand  geleistet  hätte,  in  frühem  Jahren 
schon  weg.  Wie  mancher  Mann  ist  auf  solche  Weise 
schon  in  ein  frühes  Grab  gesunken,  und  andere  sind 
elend  und  kränklich  geworden,  oder  schwermütig  und 
lebensüberdrüs'öi  g." 

Leider  gibt  es  unzählige  solcher  Hauris.  Will  man  den  großen 
Fortschritt  ermessen,  den  wir  in  dem  letzten  Jahrzehnt  gemacht  haben, 
so  höre  man  die  treffende  Antwort,  die  P fister1)  seinem  Kollegen  gibt: 

Wer  den  Jammer  von  Masturbanten  gesehen  hat,  die  bei  heißem 
Kampf  jhren  Sexualtrieb  nicht  zu  beherrschen  imstande  waren,  denkt 
mit  Grauen  an  die  Verwüstungen,  die  solche  schauerliche  Weissagungen 
anstiften    müssen.     Hauris    Ausführungen    sind    um    so    mehr    zu    be- 
dauern, als  nachdem   Zeugnis  jedes  erfahrenen  Arztes  und  Erziehers 
die  von  ihm  gegebenen  Winke  für  die  meisten  Masturbanten .  nicht  von 
ferne   ausreichen,   um   Erlösung  vom  Laster   zu   finden.   Warnung   vor 
bösen    Gedanken,   unsaubern   Büchern,    schlechter    GeseUschaft     Müßig- 
gang, Nachtschwärmerei,  Unmäßigkeit,  unwahre  BehaupCen  überdie 
Notwendigkeit  der  Sexualbetätigung,  Aufforderung  zu  Sw  und 
frommem  Chnstenwandel  -  mehr  als  diese  BineenwahrLtmÄff^ 
nicht  anzugeben  -  helfen  nur  einem  kleinen  Teil  der  ÄdSm D Z 
übrigen,  die  sich  gegen  den  Feind  nicht  zu  helfen  wissen   t^tt  H 
mit  entsetzlichen  Todesdrohungen,  die  sich  J ?JZ$}£*F S 
kehrter  ausnehmen,  als  nach  den  Versicherungen  der  Sw       *    T 
über  90%   aller  Jünglinge  Masturbation  Sin  ha W  ^t  s^ 
daß  sehr  oft  eine  Neurose  ausbricht,  wenn  Onanie  abgelegt  wurde    fe 
wir  sollen  uns   mit   brutalen  Drohun^n   a„f   Ai*     *     Sl  ™*e<    Und 
Madien  stürzen?    Ein  ÄSÄ^rfSK*1*.  T* 
■     SchcrgendKnsten  nicht  hergeben,  wie  sie  Hauri  aus  ünwLenhe't Irden ' 
Pßeter  betont  dann,  daß  man  die  Onanie  nicht  mit  einem  all- 

HiZT  Wf  T    Uni,f°rmen  Sa^*ü°™,  »*  Ausspielet  von 
ammcl  und  Holle  bekämpfen  könne.    Er  untersucht  jeden  FaU  und 

»oge  nun  35  W'e  ^  ^^  ****»'  ^  ***  vorgeht, 

Gewohnt  ist  eW^zw  1  Ö  m?£*  W  8e8Chlagen'  D" 
an  Errätunmmrlit^mJV  i.  i.  ünSrfa1"'  ebensolange  laboriert  er 
durch  iriletterL  ^f^^rzm.  Ausgelost  wurde  die  Onanie 
dör  Juni  wäS E^Vf  Tu™tunfcI)  Einige  Wochen  später  rieb 
_JIer^Junge  wahrend  der  Schulpause  unter  der  Bank  masturbatorisch  die 

')  1.  c.  S.  476. 

"1  P/irter,  l.c.S.478. 

3)  Ein  außerordentlich  häufiges  Vorkommnis. 


116  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

Beine  aneinander,  als  neben  ihm  ein  Knabe  aufs  Gesäß  geschlagen  wurde. 
Alsbald  setzte  die  obsedierende  Vorstellung  ein.  Natürlich  belebte  das 
Schulerlebnis  frühere  Episoden.  Als  früheste  fand  sich  folgendes  im 
vierten  oder  fünften  Jahr  spielende  Erlebnis:  Im  Hausgang  war  durch 
unbekannten  Täter  eine  Wand  mit  Bleistift  verkritzelt  worden.  Die 
Nachbarin  bezichtigt  die  Schwester  unseres  Analysanden  der  Urheber- 
schaft. Letzterer  aber  nimmt  die  Schuld  auf  sich,  jedoch  keineswegs, 
um  die  Schwester  zu  retten.  Da  kein  anderer  Grund  ersichtlich,  vermute 
ich,  er  habe  einer  masochistischen  Anwandlung  nachgegeben.  Bald 
reute  ihn  die  falsche  Selbstanklage.  Die  Schwester  klagt  den  Bruder 
an,  findet  aber  keinen  Glauben  und  bekommt  Schläge  aufs  Gesäß,  wobei 
der  Bruder,  wie  er  sich  deutlich  erinnert,  Wollust  fühlt,  während  er 
sonst  ohne  sexuelle  Empfindungen  der  Züchtigung  zugesehen  hatte; 
auch  Schuldgefühl  stellt  sich  ein.  Vorher  hatte  er  sexuelle  Erregungen 
empfunden,  wenn  er  selbst  auf  die  Nates  geschlagen  wurde.  In  späteren 
Jahren  traf  das  sadistische  Gefühl  nur  dann  ein,  wenn  einer  seiner 
Kameraden  Prügel  bekam,  weil  er  ihm  ein  Unrecht  zugefügt  hatte. 

Die  sadistische  Komponente  wurde  somit  zu  bewußten  Gefühls- 
äußerungen erst  dann  angestachelt,  wenn  Haß  im  Spiele  war.  Der  Haß 
einerseits  tritt  in  unserem  Fall  offenbar  als  verdrängte  Inzestliebe  auf 
In  ihr  liegt  auch  die  Triebkraft  zur  Obsession  und  Masturbation.  Die 
pädanalytische  Beeinflussung  gelang  leicht.  Als  angenehme  Kom- 
pensation stellte  sich  neben  gesteigerter  Lebens-  und  Arbeitsfreude  ein 
günstiges  Verhältnis  zur  Schwester  an  Stelle  des  bisherigen  Kriegs- 
zustandes ein." 

So  der  Bericht  des  Pfarrers.  Wie  anders  wirkt  dies  Zeichen  auf 
mich  ein!  Es  sind  Wege  der  Zukunft,  die  P fister  kühnen  Mutes  be- 
schreitet. Wege,  welche  zur  Befreiung  der  Moralsklaven  und  in  eine 
neue  Zeit  führen.  An  Stelle  des  strafenden  Gottes  tritt  der  verstehende 
an  Stelle  der  äußeren  Moral  die  innere!  Die  Analyse  soll  eine  neue 
Moral  anbahnen. 

Zeigt  uns  einerseits  dies  Beispiel  von  P fister,  wie  sich  allmählich 
eine  Reform  der  religiös-moralischen  Anschauungen  anbahnt,  wie  der 
Sexualität  wieder  Raum  und  Berechtigung  zugestanden  wird,  so  finden 
wir  auch  andrerseits  Beispiele,  daß  Analytiker  es  versuchen,  ihren 
Kranken  eine  neue  freiere  Weltanschauung  zu  geben.  Ich  weiß,  daß 
sich  viele  Analytiker  bemühen,  ihre  Kranken  aus  den  Banden  einer 
veralteten  Moralanschauung  zu  befreien,  manche  sogar,  ihn  areligiös 
und  atheistisch  zu  machen.  Ich  halte  das  nicht  für  richtig,  da  sich 
der  Glaube  der  Neurotiker  als  zu  gut  fundiert  erweist  und  wir  den 
Kranken  durch  so  ein  Vorgehen  oft  in  neue  Konflikte  versetzen.  Unsere 
Aufgabe  beschränkt  sich  nur  darauf,  den  geheimen  Kampf  in  einen 
offenen  zu  verwandeln  und  den  Neurotiker  von  dem  individuellen 
Schuldbewußtsein  zu  befreien. 

Viele  Kollegen  gehen  weiter,  predigen  eine  neue  Form  der  Religion 
und  werden  dadurch  selbst  zum  Priester. 


Onanie  und  Religion.  ii| 

Am  schönsten  hat  dies  Marcinowski  in  seinem  prächtigen  Buche 
'„Der  Mut  zu  sich  selbst!"1)   ausgesprochen: 

„Uneern  Vätern  galt  der  Gehorsam  gegen  Moralgebote  doch  auch 
nur  als  ein  Gehorsam  gegen  Gott.  Thronte  der  aber  im  Zeitalter 
dualistischer  Religionsformen  außerhalb  der  lebendigen  Welt,  und  hielt 
er  ihr  von  dort  aus  seine  lebensfeindlichen  und  lebeneinengenden  Gesetze 
entgegen,  so  wohnt  unsenn  jungen  Geschlecht  die  Gottheit  im  Lebendigen 
selbst.  Sie  -ist  uns  der  immanente  Gehalt  des  "Weltalls  an  Geist,  an 
Kraft  und  Zielstrebigkeit,  Sie  wohnt  in  uns,  wie  unser  Leben  in  ihr 
wurzelt.  Wir  haben  keinen  Gott  mehr,  der  uns  gegenübertrete,  in  die 
engen  Grenzen  einer  menschenähnlichen  Persönlichkeit  gebannt.  Wir 
sind  zu  einer  anderen,  viel  echteren  Gottinnigkeit  gelangt  Wir  ver- 
nehmen seine  Stimme  nicht  mehr  draußen  vom  Sinai  her  auf  uns  her- 
untergrollen; aber  wir  spüren  sie  deutlich  in  der  Tiefe  des  eigenen 
Herzens;  und  das  so  laut  und  so  vernehmlich,  daß  wir  ihr  gehorchen 
müssen  rücksichtslos  gegen  die  äußeren  Folgen,  die  das  für  uns  und 
andere  haben  könnte.  Darum  ist  uns  eine  neue,  natürliche  Moral  viel- 
leicht noch  vielmehr  Gehorsam  gegen  Gott,  als  unseren  Vätern  die  alte, 
denn  sie  fußt  auf  einem  viel  stärkeren  Bewußtsein  innerster,  konflikt- 
losester Übereinstimmung  unseres  Lebens  und  seines  Lebenswillens.    Sie 

n      W!,\1Cnel nannte'  auf  bewußter  Gottinnigkeit,  und  das  alte  Wort: 
„uu  soi  st  Gott  mehr  gehorchen  als  den  Menschen!"  gilt  für  uns  auch 

TZ  ,u      \7°  V"  ™*  den  Waffen  g^chichtlichen  Wissens  die  Gesetze 
der  alten  Moral  in  Trümmer  schlagen." 

Es  ist  eine  schwere  Aufgabe,  die  sich  Marcinowski  gestellt  hat. 
Alle  Neurotiker  sind  Gottsucher,  aber  alle  wollen  ihn  auf  eigenen 
Wegen  suchen,  wollen  selbst  ihre  Erlöser  werden.  Es  ist  fraglich,  ob 
sie  unsere  Wege  gehen  können.  Ich  versuche  niemals,  die  Patienten 
zu  m  e  i  n  e  n  Anschauungen  zu  bekehren.  Wenn  wir  den  Autoerotisten 
von  dem  Zwange  seiner  die  Onanie  begleitenden  Phantasie  erlösen 
wenn  wir  ihn  der  Einsamkeit  entreißen,  wenn  wir  ihn  sozial  umgestalten' 
dem  Leben  wiedergeben,  ihn  lebens-  und  arbeitsfreudig  machen  dann 
bndet  er  selbst  seinen  „inneren  Gott",  dessen  Stimme  er  falsch  ver- 
standen oder  überhört  hat. 

')  Verlag  von  Otto  Salle,  Berlin   1912. 


Die  Onanie. 

vi. 

Zwangshandlungen   eines   Onanisten.   -    Askese   und  Abstinenz- 
bewegung.       Allgemeine  Betrachtungen. 

Der  Unterleib  ist  der  Grund  dafür, 
daß  der  Mensch  sich  nicht  so  leicht  für 
einen  Gott  hält.  Nietzsche. 

Wer  Gelegenheit  hatte,  eine  schwere  Zwangsneurose  zu  ana- 
lysieren, der  wird  immer  wieder  konstatieren  können,  daß  sich  alle 
Symptome  dieses  Leidens  um  die  Onanie  gruppieren.  Ich  möchte  aus 
einer  größeren  Analyse  hier  nur  ein  Stück  publizieren,  das  die  Be- 
ziehungen von  Onanie  und  Beichte  illustriert. 

PhilnJnhL*!/''22'     ES    hSdS*   Sich    Um   einen   28iäh"gen    Studenten   der 
Philosophie,  denn  seinen  Studien  stecken  blieb  und  seine  Familie  durch  eine 
Keine  schwerer  Zwangshandlungen  in  Angst  versetzte.    Zuerst  wurde  er  ein 
80  strenger  Vegetarianer,  daß  er  nicht  einmal  Milch  und  Eier  essen  wollte 
weil  sie   Tierprodukte  wären.    Er  nährte  sich  von   Früchten   und  kam  s9 
herunter,  daß  er  einen  erschreckenden  Anblick  bot.    Er  klagte  über  die  un- 
angenehmsten Zwangsvorstellungen  und  Zwangshandlungen.    So  litt  er  ent- 
setzlich unter  der  Angst,  etwas  zu  verlieren.    Er  zählte  fortwährend  alle 
seine  Gegenstände,  die  er  in  den  Taschen  mit  sich  herumführte,  um  zu  kon- 
statieren   daß  er   nichts   verloren   hatte.     Zahlte  er  irgendwo    irgend  eine 
bumme  Geldes,  so  mußte  er  noch  hundertmal  seine  Barschaft  nachzählen 
um  sich  zu  überzeugen,  daß  er  dabei  nichts  verloren  hatte.    Doch  dies  war 
nur  eine  seiner  unzähligen  Zwangshandlungen  und  Zwangsvorstellungen    Der 
ganze  Tag,  vom  Morgen  bis  zum  Abend,  war  erfüllt  mit  Zwangshandlungen. 
Ich  führe  an  dieser  Stelle  nur  einige  an,  besonders  das  Zeremoniell  in  dem 
Aborte.    Ich  möchte  noch  vorher  erwähnen,  daß  er  schon  seit  zwei  Jahren 
keine  geschlechtliche  Regung  mehr  zeigte.    Bis  vor  vier  Jahren  hatte  er 
sehr  heftig  onaniert.   Dann  litt  er  an  Pollutionen,  die  ihn  ebenso  betrübten, 
als  wenn  er  onaniert  hätte.   Später  aber  war  er  allmählich  asexuell  geworden 
Er  wäre  damit  sehr  zufrieden,  wenn  die  Zwangshandlungen  ihn  nicht  gequält 
hatten    Doch  sie  verbitterten  ihm  sein  Dasein  und  machten  es  zur  „Hölle" 
Lassen  wir  dem  Kranken,  der  als  Russe  die  deutsche  Sprache  nicht 
vollkommen  beherrscht,  das  Wort: 

Verschiedene    meiner    Zwangshandlungen. 

,.        Das  Zeremoniell   im  Klosett.  „Im  Zimmer  noch  prüfe  ich 
die  Taschen  der  Hosen,  ob  sich  in  ihnen  nichts  befindet,  obgleich  ich  in  ihnen 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw. 


119 


nichts  halte.    Ich  mache  es  meistens  so,  daß  ich  mit  den  beiden  Händen 
gleichzeitig  in  die  Hosentaschen  fahre  und  dieselben  untersuche.    Dies  tue 
ich  so,  daß  ich  den  Finger  von  dem  inneren  Winkel  der  Tasche  bis  zum 
äußeren  Winkel  gleichsam  promenieren  lasse  in  ganz  kleinen  Schritten,  damit 
ja  keine  Stelle  der  Tasche  unberücksichtigt  bleibe.    Ich  betaste  oder  besser 
gesagt  stoße  mit  ziemlich  großer  Kraft  in  die  einzelnen  Stellen  der  Tasche, 
dabei  zähle  ich:  1,  2,  3,  4,  5,  6  usw.,  bis  ich  zur  Außenseite  gelange.   Die 
Höhe  der  Ziffer  ist  verschieden,  je  nachdem  wie  groß  die  Abstände  sind 
bei  der  Untersuchung.   Meistens  ist  es  die  Zahl  11,  welche  ich  erreiche,  doch 
gibts  hier  keine  Regel,  auch  verschiedene  kleinere   Ziffern  kommen  heraus. 
Das   zweite  und   dritte   Mal   untersuche   ich   es   nicht   mehr   mit   derselben 
Genauigkeit,   ich   betaste  mit   allen   Fingern   zugleich,   wobei   meistens   die 
Zahl  4    herauskommt.     Ich    wiederhole    die    Prozedur    mehrere    Male.     Die 
rechte  Tasche  untersuche  ich  oft  auf  diese  Weise,  daß  ich  gleichzeitig, 
während  ich  die  Prozedur  drinnen  vornehme,  mit  der  linken  Hand  von  außen 
die  Tasche  festhalte,  um  mir  die  Untersuchung  zu  erleichtern.    Schneller  geht 
es  schon  mit  der  hinteren  Hosentasche,  in  welcher  ich  ebenfalls  gar  nichts 
halte.    Hier  begnüge  ich  mich  meistens  damit,  daß  ich  dieselbe  von  außen 
em  paarmal  untersuche,  während  ich  mir  gleichzeitig  vorsage:    in  dieser 
Tasche   halte   ich    grundsätzlich    gar   nichts.     Oft    jedoch 
bin  ich  genötigt,  auch  diese  Tasche  genau  zu  untersuchen,  wobei  ich  sie 
gleichzeitig  von  der  äußeren   Seite  mit  der  linken  Hand  festhalte.    Diese 
Maßregel  dient  sonst  dem  Zwecke  der  Genauigkeit  der  Untersuchung,  wie 
auch  als  Vorbeugungsmittel,  damit  beim  Herausziehen  der  Hand  nicht  'auch 
die  Tasche  mitherausgezogen  wird.   Aus  demselben  Grunde  geschieht  es  auch, 
daß  ich  bei  Untersuchung  der  rechten  Hosentasche  dieselbe  mit  der  linken 
Hand  festhalte.    Ausgerüstet  mit  Klosettpapier,  welches  ich  immer  in  der- 
selben oberen  Rocktasche  halte,  gehe  ich  ins  Klosett.    Ich  schiebe  den  Riegel 
zurück  und  schlage  nun  mit  aller  Kraft  in  denselben  meistens  fünfmal,  ich 
zähle  immer,  das  letztemal   drücke  ich  obendrein  mit  aller  Kraft  zu,'  um 
festzustellen,  daß  die  Türe  gut  zugemacht  ist.    Dann  werfe  ich 
einen  ängstlichen  Blick  in  den  Garten,  ob  mich  niemand  im  Klosett  sieht. 
Dann  schlage  ich  meine  Hosen  auf,  damit  dieselben,  während  ich  am  Brette 
stehe,  dasselbe  nicht  berühren.  Wenn  das  Brett  aufgehoben  ist,  nehme  ich 
von  der  Wand  ein  Stück  Papier  und  lasse  mit  Hilfe  desselben  das  Brett 
herunter,  ebenfalls,  um  dasselbe  nicht  mit  der  Hand  zu  berühren.   Dann  steige 
ich   aufs  Brett   hinauf,   wobei   ich  einen  ängstlichen   Blick  werfe,   ob   mich 
niemand    dabei    gesehen.     In    dieser   stehenden   Position1)    verrichte 
ich  meine  Notdurft,  während  ich  mit  der  linken  Hand  meinen  Rock  in  der 
Weise  festhalte,  daß  derselbe  das  Brett  nicht  berühre.    Das  Abwischen  er- 
folgt in  der  sorgfältigsten  Weise.    Beim  Verlassen  des  Klosetts  untersuche 
ich  zunächst  das  Brett  in  einer  ganz  bestimmten  Art  und  Weise.    Zunächst 
prüfe  ich  denjenigen  Teil  der  Bretter,  welcher  sich  unmittelbar  unter  der 
Wand  befindet,  einmal  aus  Angst,  ich  könnte  da  einen  Gegenstand  zurück- 
lassen, andrerseits  aus  Angst,  ob  ich  ihn  nicht  mit  Kot  beschmiert  habe.   Das 
letztere  ist  für  diesen  Teil  des  Brettes  gar  nicht  möglich.   Die  Untersuchung 
selbst  geschieht  in  der  Weise,    daß    ich    das    Brett    ideell    teile, 
meistens  in  4  Teile,  und  so  jeden  einzelnen  Teil  untersuche.    Dabei 


1)  Eigentlich  ist  es  ein  Kauern  in  halb  gebückter  Haltung! 


120 


Erster  Teil.  Die  Onanie.' 


zähle  ich  wieder:  1,  2,  3,  4  oder  hier  mehr  usw.  Dabei  mache  ich  entsprechende 
Bewegungen  mit  der  rechten  Hand,  was  mir  die  Feststellung  der  Teile,  die 
sich  auf  dem  Brette  gar  nicht  belinden,  erleichtert.  Ich  sage  dabei:  Hier 
ist  nichts!  Hier  ist  nichts!  und  sage  das  so  oft,  als  ich  die  Untersuchung 
vornehme.  Am  schwersten  ist  die  Untersuchung  des  eigentlichen  Brettes. 
Hier  ist  maßgebend  nur  die  Angst,  ob  nicht  Kot  auf  demselben  liege.  Zu- 
nächst ein  rascher, '  flüchtiger  Blick  auf  den  äußeren  und  inneren  Rand  des 
Brettes.  Dann  setzt  die  systematische  Untersuchung  ein.  Ich  beuge  mich 
ein  bißchen  über  das  Brett  und  prüfe  zunächst  meistens  den  inneren  Rand. 
Ich  folge  auf  das  Genaueste  mit  dem  Blick  jedem  Teilchen  im  Kreise  herum. 
Dabei  mache  ich  die  entsprechende  kreisförmige  Bewegung  mit  dem  Finger 
in  der  Luft  und  sage  mir  wieder:  Hier  ist  nichts!  usw.  Dio  Prozedur  dauert 
sehr  lange  —  ich  muß  mehrere  Male  konstatieren.  Besonders  genau  und 
peinlich  ist  die  Untersuchung  derjenigen  Teile  des  Brettes,  wo  die  Möglich- 
keit des  Beschmierens  mit  Kot  -tatsächlich  vorhanden  ist.  Die  Untersuchung 
geht  hier  ähnlich  vor  wie  bei  den  Hosentaschen.  Immer  ist  sie  verbunden 
mit  Zählen.  Dieselbe  Prozedur  bei  dem  äußeren  Rande  des  Brettes.  Sodann 
widme  ich  besondere  Aufmerksamkeit  den  einzelnen  Flächen,  welche  sich 
auf  dem  Brette  belinden,  oder  wenn  ein  Tropfen  Wasser  bei  Abspülung  auf 
dasselbe  gefallen  ist.  Ich  muß  dieselben  lange  betrachten,  bis  ich  festgestellt 
habe,  daß  dort  kein  Kot  vorhanden  ist.  Viel  rascher  erfolgt  nachher  die 
Untersuchung  des  Fußbodens,  sie  geschieht  nur  aus  Angst,  ob  ich  nicht 
etwas  verloren  habe.  Zunächst  Untersuchung  des  linken  Winkels,  dann  des 
rechten  mit  Teilung  und  Zählen,  dann  der  einen  Hälfte.  Nachher  gehe  ich 
hinüber  auf  die  schon  untersuchte  Seite  und  untersuche  die  andere  Hälfte. 
Wieder  langwierig  ist  die  Untersuchung  des  Fensters  aus  Angst  zu  ver- 
lieren. Vor  dem  Fenster  ist  eine  schräge  Fläche,  eine  beinahe  steil  nach 
unten  laufende  Wand.  Jeder  Gegenstand  müßte  von  derselben  tatsächlich 
herunterfallen.  Diese  .Wand  untersuche  ich  sehr  langwierig  in  der  gewohnten 
Weise  mit  Teilung  und  Zählen.  Dann  fixiere  ich  die  einzelnen  Flecke  lange, 
um  zu  konstatieren,  daß  sie  rein  sind.  Dann  kommt  der  Zug  an  der  Wasser- 
spülung. Nach  Abspülung  Untersuchung,  ob  nicht  ein  Stück  Kot  im  Reservoir 
geblieben  ist.  Endlich  werfe  ich  noch  einmal  einen  schnellen  Blick  auf  Brett, 
Fußboden  und  Fenster  und  verlasse  das  Klosett.  Noch  drinnen  müßte  ich 
die  Hose  wieder  herunterziehen,  damit  niemand  auf  den  Verdacht  komme, 
daß  ich  mit  den  Schuhen  auf  das  Brett  trete.  Während  ich  noch  nach  allen 
Seiten  ängstlich  schaue,  ob  mich  niemand  beim  Verlassen  des  Aborts  gesehen, 
gelange  ich  in  mein  Zimmer.  Nachdem  ich  meine  Zimmertür  geschlossen 
habe,  prüfe  ich,  ob  sie  zu  ist.  Ich  tue  es  so,  daß  ich  zunächst  meistens 
fünfmal  fest  in  die  Türe  stoße  —  dann  an  der  Klinke  ziehe.  Sodann  wasche 
ich  mir  sehr  sorgfältig  die  Hände,  auch  in  einer  bestimmten  Fasson.  In 
Wien  habe  ich  alte  Schuhe,  welche  ich  -mir  anziehe,  wenn  ich  ins  Klosett 
gehe.  Diese  Schuhe  haben  keine  scharfen  Nägel  an  den  Absätzen  und  ich 
würde  sie  nie  auf  der  Straße  tragen.  In  anderen  Schuhen  habe  ich  Angst, 
auf  dem  Brette  Ritzer  zu  machen  oder  es  mit  Straßenstaub  zu  beschmutzen, 
so  daß  man  darauf  kommen  könnte,  daß  ich  mit  den  Stiefeln  auf  das  Brett 
steige.  Vor  dem  Gehen  in  das  Klosett  nehme  ich  also  diese  Schuhe,  wobei 
ich  die  Bänder  in  der  Weise  binde,  daß  sie  das  Brett  nicht  berühren  können. 
Wenn  ich  zurückkomme,  wechsle  ich  die  Schuhe  und  prüfe  die  abgelegten 
auf  Absatz  und  Sohle  genau,  ob  kein  Kot  darauf  ist,  wieder  mit  Teilung 
und  Zählen,  wobei  ich  sage:    Hier  ist  nichts!    Hier  ist  nichts! 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  121 

Das  Zeremoniell  am  Morgen:  Die  ersten  Dinge  nach  dem 
Erwachen  sind:  Wieviel  Stunden  habe  ich  geschlafen?  Zu  diesem  Behelfe  muß 
ich  mir  vor  Augen  halten,  um  wieviel  Uhr  ich  mich  abends  niederlegte;  dann 
kommt  die  Frage:  wie  lange  kann  es  gewährt  haben,  bis  ich  eingeschlafen? 
Ich  nehme  eine  spätere  Stunde  an  als  die  wahrscheinliche  —  berechne  dann 
die  Zahl  der  Stunden  bis  zum  Erwachen,  dann  wird  der  Teil,  welchen  ich  beim 
Aufwachen  in  der  Nacht  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  verloren  habe,  sub- 
trahiert. Das  Ergebnis  ist  schwer  festzustellen.  Das  Minimalmaß  ist  7  Stunden. 
Habe  ich  das  festgehalten,  dann  sage  ich  mir:  „Septem  horas  dormire  satis 
est,  sagen  die  Römer"  und  bin  in  diesem  Punkte  beruhigt.  Nach  dem  Auf- 
stehen hänge  ich  meinen  Mantel,  mit  dem  ich  mich  bedecke,  an  die  Türe  in 
der  Weise,  daß  das  Schlüsselloch  verdeckt  ist,  damit  mich  niemand  beim 
Waschen  sehe. 

Die  hauptsächlichsten  Zwangserscheinungen  setzen  ein  beim  Ver- 
lassen der  Wohnung:  Alles  aus  Angst  zu  verlieren.  Zunächst  wende 
ich  mich  dem  Kasten  zu.  Hier  prüfe  ich  drei  Schubladen,  ob  sie  geschlossen 
sind.  Vorher  schon  habe  ich  sie  geschlossen.  Am  längsten  prüfe  ich  die  erste 
Schublade,  von  der  ich  mich  überzeugt  habe,  daß  sie  trotz  Schließens  aufgeht. 
Ich  probiere  an  den  Klinken,  ob  sie  zu  ist,  indem  ich  die  Schublade  ziemlich 
an  mich  ziehe.  Dabei  zähle  ich,  je  .nachdem  .verschieden,  manchmal  bis  30  und 
noch  mehr.  Viel  leichter  geht  es  mit  zwei  anderen  Schubladen,  hier  mache  ich 
es  bloß  fünfmal.  Dann  prüfe  ich  den  Schrank,  ob  er  zu  ist,  auf  ähnliche  Weise. 
Dann  kommt  das  Sofa  dran.  Ich  stelle  mich  immer  in  eine  gewisse  Entfernung 
vor  demselben  und  untersuche  dann,  ob  nichts  auf  demselben  geblieben  ist. 
Ich  beginne  mit  dem  Polster.  Dieser  ist  mit  einer  Serviette  bedeckt.  Zunächst 
prüfe  ich  den  linken  Rand  des  Polsters,  welcher  von  der  Serviette  frei  ist. 
Ich  prüfe  in  der  gewohnten  Weise  jedes  kleinste  Teilchen,  verbunden  mit 
Zählen  von  oben  nach  unten  gehend.  Dann  die  Serviette  in  drei  ideelle  Teile 
geteilt.  Die  Untersuchung  des  rechten  Randes  geht  schnell  vor  sich.  Folgt 
Untersuchung  des  Sofas  in  drei  geteilt.  Jetzt  folgt  der  Tisch.  Zunächst  fasse 
ich  hier  die  einzelnen  Gegenstände  ins  Auge.  Es  sind  immer  dieselben  Gegen- 
stände und  sie  müssen  immer  in  derselben  Ordnung  aufgestellt  sein.  Ich 
fixiere  die  einzelnen  Gegenstände  und  sage  mir  vor:  „Hier  ist  das  Blumen- 
sträußchen —  hier  das  Löschpapier  —  auf  demselben  Karten  —  einige  be- 
schrieben —  andere  unbeschrieben.  Zwischen  dem  Sträußchen  und  dem  Lösch- 
papier befindet  sich  gar  nichts."  Längere  Untersuchung!  (Zweifel.)  Weiter. 
Hier  ist  der  Umschlag  vom  Kalodont  (welchen  wegzuwerfen  ich  mich  nicht 
traue),  hier  ist  die  Lampe,  hier  das  Tintenfaß,  hier  die  Tasse.  Ich  schaue, 
ob  unter  der  Tasse  und  unter  dem  Löschpapier  gar  nichts  steht.  Dann  zerlege 
ich  den  Tisch  in  3  oder  4  ideelle  Teile  und  untersuche  jeden  einzelnen  Teil 
besonders.  Dabei  versuche  ich  jeden  einzelnen  Teil  auf  einmal  zu  überblicken 
Es  gelingt  erst  nach  einer  gewissen  Frist,  dazu  ist  eine  große  Konzentration 
erforderlich.  Endlich  ziehe  ich  mit  einer  energischen  Geste  eine  Luftlinie  über 
den  bestimmten  Teil  und  sage  mir  vor:  Hier  ist  nichts!  So  bei  jedem  einzelnen 
Teile.  Jetzt  wende  ich  mich  wieder  dem  Toilettekasten  zu.  Auf  ihm  liegt  eine 
Serviette.  Auf  derselben  steht  auf  einer  Tasse  ein  Wasserkrug  und  ein  Glas. 
Die  Überprüfung  dieser  Serviette  ist  am  schwierigsten.  Die  Serviette  war 
zusammengelegt,  davon  sind  Falten  entstanden,  welche  dieselbe  in  4  teilen. 
Die  Vierteilung  benütze  ich  bei  meiner  Untersuchung.  Überhaupt  suche  ich 
immer  nach  irgendwelchen  natürlichen  Zeichen,  welche  mir  die  Teilung  und 


122 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


somit  auch  die  Untersuchung  erleichtern.  Außerdem  befindet  sich  auf  der 
berviette  eine  bestimmte  Zeichnung.  Diese  Zeichnung  läßt  mich  wieder  jeden 
einzelnen  Teil  in  mehrere  Stücke  zerlegen  und  jedes  besonders  überprüfen.  Soli 
ich  zur  letzten  Untersuchung  schreiten,  so  stelle  ich  zunächst  den  Wasser- 
krug auf  die  linke  Seite  des  Kastens  neben  der  Wand.  Er  steht  dann  auf  dem 
ersten  der  4  Teile  der  Serviette,  die  anderen  3  Teile  bleiben  frei.  Mit  diesen 
3  Teilen  verfahre  ich  in  der  gewöhnlichen  Weise,  also  mit  Zählen,  doch  nimmt 
es  nicht  lange  Zeit  in  Anspruch.  Sehr  schwer  ist  die  Prüfung  des  ersten 
Teiles,  auf  welchem  die  Tasse  steht,  welchen  ich  immer  zuletzt  untersuche. 
Die  lasse  wird  zunächst  weggenommen  und  dieser  Platz  untersucht,  dann 
setze  ich  die  Tasse  auf  diese  Stelle  und  beginne  mit  dem  Rest  des  Teiles.  Der 
Teil  wird  zunächst  wieder  in  einzelnen  kleinen  Stücken  untersucht,  und  zwar 

ZZTl     ?T?  peitf-  Endlich  gÜt  es'  ihn  auf  einmaI  zu  überschauen.   Es 
ist  de    peinlichste  Punkt  im  ganzen  Zeremoniell.    Wieder  ist  eine  lange  Zeit 

«forderlich  und  eine  große  Konzentration.    Zuletzt  werden  noch  alle  4  Teile 

ZZ    I  ■  i   gG  ^T ht    JetZt  Wende  ich  mich  dem  Bette  ™-  I«h  unter- 
suche, ob  ich  nichts  unter  dem  Polster  zurückgelassen  habe.    Teilung  in  3 

mit  d^r  V™  w   nn?  ?r  *******  ~  wied<*  langwierig.    Der  Leuchter 
mit  der  Keize  wird  fortgenommen,  die  den  Nachtkasten  bedeckende  Serviette 

Leuchte  ei'nCht'  na1?liChe  uTf  ^ "  4  ZUgmnde  ^  Dann  P-fe  ich  den 
Leuchter.    Hier  sind  gewöhnlich  2  oder  3  abgebrannte  Zündholzer     Jede* 

wZ       TJ  ßXTrt  .(Zr1M)-     Dann  nehme    ich  ein  Stück  Klosettpapier 
welches  auf  dem  Tische  liegt,  mit  welchem  ich  mir  am  vorigen  Tage  abend 

nach  Anwendung  der  Zinkpasta   welche  ich  gegen  ein  Ekzem  verwende,  die 
Hand  abgewischt  habe.    Ich    habe    stets    Angst,    daß    es    eine 
Banknote    ist,     untersuche     es     langwierig,     bis     ich     es 
in   den   büß   werfe.   Nun  betaste  ich  noch  3 Taschen,  um  mich  zu  über- 
zeugen, daß  ich  mein  Portemonnaie,  meine  Uhr  und  Schlüssel  in  Ordnung  habe 
endlich  stelle  ich  mich  in  die  Mitte  des  Zimmers,  um  noch  einmal  zu  kon- 
statieren, daß  ich  alles  in  Ordnung  geprüft  habe.  Dabei  zeige  ich  mit  vorge- 
strecktem Pinger  auf  jeden  einzelnen  Gegenstand  und  sage  mir  gleichzeitig 
vor:  Das  ist  untersucht  worden!    Es  muß    hier  wieder    eine    ganz    präzise 
Ordnung  eingehalten  werden  und  es  darf  nicht  unterbrochen  werden,  sonst 
muß  ich  von  neuem  anfangen.    Schließlich  verlasse  ich  das  Zimmer  '  sperre 
die  Tur  hinter  mir  sorgfältig  ab,  hänge  den  Schlüssel  auf.  Jetzt  stoße  ich  noch 
einige  Male  fest  in  die  Türe  und  prüfe  an  der  Klinke,  ob  sie  zu  ist  und  berühre 
paarmal  den  Schlüssel,  um  mich  zu  überzeugen,  daß  er  hängt.   -  Ich  komme 
m  den  Park,  prüfe  die  Bank,    wo  ich  mich  hinsetzen  will,    ob  sie  nicht   be- 
schmutzt ist,  und  lege  hier  meinen  Mantel,  Schirm  und  Hut  nieder    Sodann 
gehe  ich  in  der  Allee  auf  und  ab.   Bevor  ich  mich  aber  irgend  einer  Arbeit  zu- 
wenden kann    muß  ich  noch  die  Untersuchung  der  Taschen  erledigen     Es 
handelt  sich  darum,  ob  ich  die  3  Gegenstände,  Börse,  Uhr  und  Schlüssel   bei 
mir  habe.  Diese  Untersuchung  ist  höchst  peinlich  und  langwierig.  Ich  beginne 
mit  den  Schlüsseln.   Diese  trage  ich  in  der  unteren  linken  Tasche  des  Rockes 
samt  Klosettpapier  und  Spiegel.    Ich  ergreife  nun  diese  Schlüssel  durch  den 
Rock,  aber  von  außen  —  die  Schlüssel  sind  zusammengebunden  —  zunächst 
den  einen  und  sage  mir  vor:  Also  der  eine  Schlüssel  ist  da.   Jetzt  nehme  ich 
den  zweiten  Schlüssel  und  sage:  Der  eine  Schlüssel  ist  da  und  der  andere  ist 
auch  da.  Dabei  drücke  ich  mit  aller   Kraft  die  Schlüssel, 
um  mich    von   deren   Vorhandensein   zu   überzeugen.  Dann 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw. 


123 


schlage  ich  mit  der  Hand  in  die  Tasche,  damit  ich  die  Schlüssel  klirren  höre. 
Jetzt  wende  ich  mich  der  Börse  zu.  Diese  steckt  in  der  oberen  linken  Rock- 
tasche. Ich  stecke  die  Hand  in  die  Tasche  und  lasse  da  die  Börse  einige  Male 
fallen,  damit  mich  der  Laut  beim  Herunterfallen  von  der  Existenz  der  Börse 
überzeugt.  Dann  nehme  ich  meistens  die  Börse  heraus  und  drücke  sie  mit 
aller  Kraft  zu,  um  mich  zu  überzeugen,  daß  sie  geschlossen  ist.  Das  mache 
ich  gewöhnlich  fünfmal,  das  letzte  Mal  am  längsten  und  am  stärksten  und 
viel  anhaltender  als  vorher.  Dann  schaue  ich  in  die  Tasche  hinein,  um  mich 
durch  den  Gesichtssinn  zu  überzeugen,  einmal,  daß  die  Börse  vorhanden  ist, 
andrerseits,  ob  sie  geschlossen  ist.  Ich  betrachte  sie  so  sehr  lange  Zeit  auch 
in  einer  ganz  bestimmten  Weise,  indem  ich  die  einzelnen  Teile  derselben 
fixiere.  Dann  fange  ich  wieder  mit  dem  Werfen  an,  wobei  ich  zähle,  endlich 
betaste  ich  sie  noch  einige  Male  von  der  Außenseite  des  Rockes.  In  ähnlicher 
Weise  verfahre  ich  mit  der  Uhr,  doch  etwas  kürzer.  Dann  überprüfe  ich  alle 
3  Gegenstände  noch  mehrere  Male.  Eine  Zeitlang  im  Sommer  trug  ich  einen 
Lüsterrock  —  damals  trug  ich  die  Schlüssel  in  der  linken,  die  Börse  in  der 
rechten  Hosentasche.  Ich  versuche  nun  häufig,  mich  zu  beruhigen,  indem  ich 
mir  vorsage:  „In  der  linken  Hosentasche  waren  die  Schlüssel,  diese  sind  nun 
im  Rock,  in  der  rechten  war  die  Börse,  diese  ist  jetzt  da,  folglich  alles  in 
Ordnung!  In  der  hinteren  Hosentasche  trage  ich  ja 
prinzipiell  nichts!"  (Untersuchung),  also:  Schlüssel,  Börse, 
Uhr  —  jedes  einzelne  Wort  betone  ich  sehr  scharf  —  3  Gegenstände  —  die 
Dreieinigkeit    ist    da  —  also  alles  in  Ordnung. 

Weitere  Zwangshandlungen  im  Parke:  Habe  ich  mich  auf  eine 
Bank  niedergesetzt,  so  erfaßt  mich  die  Unruhe,  ob  die  Lehne  nicht  be- 
schmutzt ist.  Ich  drehe  mich  um  und  prüfe  dieselbe  mit  Teilung  und  Zählen. 
Gehe  ich  auf  und  nieder  und  denke  über  ein  Problem  nach,  so  stellt  sich  die 
Angst  zu  verlieren  in  folgender  Form  ein:  Mein  Blick  fällt  auf  ein  auf  dem 
Boden  liegendes  Blatt  —  ich  kann  nicht  feststellen,  was  das  ist.  Ich  fixiere 
das  Blatt,  dann  trete  ich  auf  dasselbe,  stampfe  paarmal  mit  dem  Fuße,  wobei 
ich  zähle,  oder  ich  zerdrücke  es  mit  dem  Fuße.  Dann  beuge  ich  mich  über 
das  Blatt  und  betrachte  genau  jedes  einzelne  Teilchen  desselben,  wobei  ich 
zähle,  meistens  bis  5.  Nach  einem  Moment  beunruhigt  mich  ein  anderes  Blatt 
—  ich  fixiere  alle  möglichen  Blätter  unter  Bezweiflung  ihrer  Identität  und 
zähle  sie  alle.  Ab  und  zu  werde  ich  von  der  Angst  erfaßt,  ob  alle  Gegen- 
stände, die  ich  auf  der  Bank  niederlegte,  vorhanden  sind.  Geht  ein  Mensch 
vorbei,  so  muß  ich  schon  stehen  bleiben  und  genau  zuschauen,  denn  ich  habe 
Angst,  er  könnte  einen  Gegenstand  entwenden.  Oder  ich  fürchte,  daß  der 
Wind  einen  Gegenstand  fortreißen  könnte  auch  bei 
ruhigster  Luft.  Es  ist  meistens  der  Mantel  und  der  Hut  —  dazu 
gesellt  sich  mitunter  als  Angstobjekt  der  Schirm.  Ich  wende  mich  dann  der 
Bank  zu  und  sage  mir  vor,  während  ich  gleichzeitig  auf  jeden  Gegenstand 
zeige  oder  wenigstens  im  Gedanken  eine  Geste  mit  der  Hand  ausführe:  Also 
der  Mantel  ist  da,  der  Hut  ist  da,  der  Schirm  ist  da.  Also  es  sind  drei  Ob- 
jekte da.  Ich  überzeuge  mich  mehrere  Male.  Oft  stellt  sich  der  Zweifel 
ein,  ob  ich  nicht  mehrere  Gegenstände  mitgenommen  habe.  Ich  pflege  daher 
meistens  schon  beim  Verlassen  der  Wohnung  festzustellen,  wieviel  Stücke 
ich  zu  tragen  habe.  AlßO :  Mantel,  Schirm,  Buch  —  also  3  und  fixiere  schon 
die  Zahl  3.  Stellt  sich  der  Zweifel  ein,  so  berufe  ich  mich  dann  darauf,  daß 
eben  3  Gegenstände  waren.   Die  Angst  stellt  sich  ferner  immer  ein,  wenn  ich 


124  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

ein  Sacktuch  herausnehme.    Dann  prüfe  ich  in  der  gewohnten  Weise  nicht 
nur  die  Stelle  am  Coden,  wo  das  geschehen  konnte,  sondern  die  ganze  Stelle 
in  beiden  Richtungen  —  soweit  ich  auf  und  niedergehe.    Sehr  peinliche  Proze- 
dur erfolgt  beim  Verlassen  der  Bank.    Ich  fürchte,  etwas  zurückzulassen.  Zu 
diesem  Zwecke  prüfe  ich  zunächst  sehr  lange  den  Sitz  in  gewohnter  Weise, 
dann  die  Lehne,  dann  besonders  die  beiden  Ausläufer  der  Bank  —  dann  den 
Boden  vor  der  Bank,  manchmal  auch  unter  der  Bank.  Sind  in  der  Nähe  andere 
Bänke  oder  ein  Tisch,  so  untersuche  ich  dieselben  auch,  doch  viel  rascher ;  des- 
wegen ist  mir  jede  Änderung,  jede  Übersiedlung  von  einer  Bank  auf  die  andere 
sehr  unangenehm,  weil  sie  stets  mit  dieser  Untersuchung  verbunden  ist.    Un- 
angenehm ist  mir,  wenn  in  der  Nähe  Personen  sitzen.   Ihre  Anwesenheit  wirkt 
auf  mich  störend.    Ich  will  nicht,  daß  sie  meine   Zwangshandlungen  sehen 
und  bin  demnach  gezwungen,  dieselben  ohne  alle  äußere  Manifestierung,  näm- 
lich ohne  die  Handbewegungen  vorzunehmen,  was  mir  die  Untersuchung  er- 
schwert.   Ich  wende  mich  dann  der  Bank  zu  und  fixiere  sie  längere  Zeit  — 
scheinbar  in  Gedanken  versunken,  ebenso  ist  es,  wenn  ich  irgendwo  in  einem 
Geschäfte  meiner  Börse  Geld  entnehme.   Ich  habe  stets  Angst,  Geld  auf  dem 
Pulte  zurückzulassen,  und  muß  die  Überprüfung  mit  Teilung  vornehmen  — 
doch  manövriere  ich  immer  so,  daß  es  der  Kaufmann  nicht  bemerkt.   Ferner 
bekomme  ich  Angst,  daß  in  den  Taschen  des  Mantels  etwas  Fremdes  enthalten 
ist.    Ich  muß  wieder    untersuchen.    Meistens  plage  ich  mich  aber    mit  den 
Taschenklappen.    Ich  fürchte,  ob  die  Klappe  nicht  drinnen  in  der  Tasche  ist, 
was  das  Herausfallen  eines  Gegenstandes  erleichtern  könnte,  und  das  führt 
zu  einer  Zwangshandlung,  daß  ich  die  Klappen  auf  eine  ganz  besondere  Art, 
verbunden  mit  Zählen  streichle.    Habe  ich  meinen  Schirm  und  meinen  Hut 
auf  einen  Tisch  gelegt,  dann  habe  ich  Angst,  daß  sie  herunterfallen  könnten. 
Ich  fixiere  dann  den  Schirm  und  sage  mir  folgendes  vor:  „Der  Schirm  ist 
ja  da  —  1,  2,  3,  4,  5.  Er  liegt  ja  in  der  Mitte  des  Tisches.  Es  ist  unmöglich, 
daß  er  herunterfällt.  Es  ist  ja  vom  Rande  eine  Distanz  von  wenigstens  20  cm. 
Von  dieser  Seite  auch,  von  jener  auch!"  Ich  nähere  mein  Gesicht  dem  Tische, 
um  die  Distanz  zu  prüfen,  wobei  ich  sie  wieder  mit  Teilung  und  Zählen  be- 
rechne.  Genau  so,  wenn  ich  im  Zimmer  am  Tische  sitze,  fürchte  ich,  daß  die 
einzelnen   Gegenstände   herunterfallen    könnten,    und    verfahre    in    ähnlicher 
Weise.    Sehe  ich  ein  Blatt  am  Boden,  dessen  Identität  ich  bezweifle,  dann 
halte  ich  mir  folgendes  vor,  um  mich  zu  beruhigen:  „Schau  —  hier  ist  doch 
die  Hauptader  und  hier  sind  die  einzelnen  Adern,  1,  2,  3,  4,  5  usw.!"  Besonders 
häufig  beunruhigt  mich  oft  eine  weggeworfene  Zigarette  oder  ein  Zündholz. 
Wenn  ich  beim  Weggehen  die  Bänke  untersuche,  beunruhigt  mich  besonders 
jeder  Fleck  von  Vogelkot  oder  ein  Blatt.    Dieses  muß  ich  dann  prüfen  und 
herunterwerfen.    Charakteristisch  für  meinen  Zustand  ist  das  zwangsmäßige 
Ausspucken.    Ich  spucke  häufig  stundenlang  ununterbrochen,   um  mich  von 
dem  Schleim  zu  befreien." 

Noch  viel  komplizierter  sind  die  Zwangshandlungen  beim  Einschlafen, 
welche  auch  eine  Teilung  und  Untersuchung  des  ganzen  Zimmers  enthalten, 
ein  sehr  kompliziertes  Zeremoniell  des  Auskleidens  und  schließlich  eine  Reihe 
von  scheinbar  sinnlosen  Handlungen,  welche  aber  alle  nach  Kenntnis  ihrer 
Bedeutung  einen  tiefen  Sinn  verraten. 

Wir  wollen  aber  nicht  alle  seine  Zwangshandlungen  analysieren,  nur 
einen  Teil,  der  mit  unserem  Thema  direkte  Verbindungen  hat.    Wer  öfters 


Zwangshandlungen  eines  ünanisteu  usw. 


125 


mit  Zwangsneurotikern  zu  tun  hat,  der  weiß  schon,  daß  der  e r  s  t e  Z  w  an  g, 
dem  sie  ausgesetzt  waren,  die  Onanie  war,  und  daß  ihr  ganzes.  Leben  dann 
ein  fortgesetzter  Kampf  gegen  die  Onanie  ist.  Ein  Moment  mag  schon  dem 
nicht  analytisch  Geschulten  bei  der  Lektüre  der  Zwangshandlungen  aullallen: 
der  Kranke  ist  ein  vielgeplagter  Mann,  den  seine  Zwangshandlungen  den 
ganzen  Tag  beschäftigen  und  der  sicherlich  zu  keiner  Lebensfreude  kommen 
kann.  Man  versteht  es,  wenn  er  behauptet,  er  habe  keine  Zeit  zum  Studieren, 
selbst  wenn  er  das  Gelesene  auffassen  könnte.  Aber  sein  Kopf  behält  gar 
nichts.  Es  geht  nichts  hinein.  Den  ganzen  Tag  beschäftigen  ihn  die  Zwangs- 
vorstellungen, so  daß  der  Tag  in  rasender  Eile  vergeht  und  ihm  keine  Zeit 
zu  irgend  einer  Beschäftigung  bleibt.  Man  sieht,  diese  Zwangsvorstellungen 
und  Zwangshandlungen  haben  eine  doppelte  Aufgabe:  Sie  sind  eine  empfind- 
liche Strafe  für  den  Kranken,  eine  Bußhandlung  für  irgend  eine  schwere  Sünde, 
und  sie  füllen  sein  Hirn  so  aus,  daß  sie  keinen  neuen  sündigen  Gedanken 
aufkommen   lassen. 

In  der  Tat!  Der  Kranke  ist  ein  vollkommener  Asket.  Er  hat  seit 
zwei  Jahren  überhaupt  keinen  Geschlechtstrieb!  Er 
kennt  keine  sinnlichen  Erregungen  und'  Versuchungen,  er  hat  nie  eine  Erektion, 
kennt  keine  Pollutionen.  Sein  Geschlechtsleben  ist  für  ihn  tot  und  erledigt. 
Für  einen  Menschen,  der  noch  nicht  30  Jahre  alt  ist,  eine  merkwürdige  Tat- 
sache. Aber  an  ihrem  Bestehen  ist  nicht  zu  zweifeln,  der  Kranke  zeichnet  sich 
durch  eine  seltene  Wahrheitsliebe  aus,  die  schon  beinahe  fanatisch 
ist.  (Das  Zeichen  eines  Onanisten,  der  aller  Welt  eine  Tatsache  [seine  Onanie!] 
verschwiegen  hat  und  diese  Lüge  durch  Wahrheitsfanatismus  überkompen- 
siert.) Er  zeigt  noch  andere  asketische  Tendenzen.  Alle  Zwangshandlungen 
enthalten  eine  Buße,  eine  Strafe  für  Sünden  der  Vergangenheit.  Wofür  aber 
etraft  sich  der  Kranke?  Welches  schwere  Vergehen  bedrückt  sein  Gemüt? 
Er  ist  ein  Freigeist,  der  sich  bis  vor  seiner  Erkrankung  mit  Philosophie 
befaßt  hat  und  noch  heute  am  liebsten  in  den  freien  Stunden  seinen  Nietzsche 
liest.  Er  ist  seit  dem  16.  Jahre  ein  überzeugter  Atheist  und  hat  den  Versuch 
gemacht,  atheistische  Schriften  in  philosophischen  Fachblättern  zu  publizieren. 
Nichtsdestoweniger  schließt  die  Zwangshandlung  am  Abend  mit  einem  Gebete 
ab.  Diese  Tatsache  gesteht  er  sehr  ungern  und  unter  Widerstreben;  es  sei 
eine  unglaubliche  Kinderei,  aber  er  tue  es,  um  besser  einzuschlafen,  er  habe 
keine  rechte  Ruhe,  ehe  er  sein  Gebet  gesagt  habe,  es  sei  eine  Gewohnheit 
aus  den  Kindertagen,  er  tue  es  nur  rein  mechanisch  aus  Gewohnheit  usw.  .  .  . 
Hinter  diesen  Ausflüchten  steckt  die  Tatsache,  daß  er  fromm  ist  und  diese 
Frömmigkeit  nicht  sehen  will.  Alle  Zwangsneurotiker  sind  fromm  und  ihr 
Konflikt  ist  eben  der  Kampf  zwischen  der  uneingestandenen  Frömmigkeit  und 
den  eingestandenen  oder  auch  verborgenen  Trieben.  Wir  hören  auch,  daß 
er  als  Kind  enorm  fromm  war  und  die  feste  Absicht  hatte,  in  ein  Kloster 
zu  gehen  und  Mönch  zu  werden. 

Ich  übergehe  den  langen  und  mühevollen  Weg,  den  ich  zurückgelegt 
habe,  um  den  Schlüssel  dieser  wirren  Zwangehandlungen  zu  finden.  Aber  ich 
lernte  eineß  Tages  mit  Hilfe  eines  Traumes *)  seine  „Angst  vor  dem  Verlieren" 
verstehen  EßWäie  Angst,  die  ewige  Seligkeit  zu  ver- 
lieren -'  Der  Kranke  spielte  nur  äußerlich  den  Freigeist  und  war  inner- 
lich fromm."  Er  lebte  in  der  ständigen  Angst   vor    der  Sünde   und    dieses 


>)  Mitgeteilt  in  „Nervöse  Angstzustände",  2.  Auflage,  S.377. 


126  Erster  Teil.  Die  Onanie. 


zeremoniell  mußte  uns  die  Aufklärung  geben,  was  eigentlich  die  Sünde  des 
Kranken  war  und  welcher  Art  dieses  Vergehen  war.  Diese  Aufklärung  gelang 
mir  o  h  n  e  H  i  1  f  e  des  Kranken,  der  aber  später  alle  Auflösungen  durch  Mit- 
teilung der  nachfolgenden  Tatsachen  bestätigen  mußte 

Seine  Sünde  war:  Er  hatte  onaniert,  solange  er  sich 
w  ?tnT  t  ■  a  0S^«te.  .ohne  viel  darüber  nachzudenken,  und  erhielt 
!iL  V  P  m  derfBe/cI^  die  F^,  ob  er  sich  unkeusch  berühre.  Er  ver- 
stand diese  Frage  sofort.  Er  hatte  schon  in  den  früheren  Beichten  die  Onanie 
wissentlich  verschwiegen.  Diesmal  wurde  er  direkt  darum  gefragt  und  stell te 
sich  so  als  ob  er  nicht  verstehen  würde.   Schon  vorher  war  er  von  dem  Beicht- 

G?^tLTsVr7o^crh  lm  GymnaSiT  W^  Grmahnt  W°rden>  «S  Ä 
^  e  w  i  s  s  e  n  s  e  r  t  o  r  s  c  h  u  n  g   vorzunehmen,  und  hatte  mit  sich  eekänrnft 

Zi^JuZ  iftft  ^  7"g-  -Ute.  Er  dacTte  SSTfi 
St  und  In  ™ ?f  ?de  !f  Ä  rede  gar  nichts  davon-  Nun  wurde  er 
£  BewiafTi         ^  BeWU1ßteein-  weil  »ein  Beichtvater  sein  Lehrer 

Nun  hatte  er  aber  eine  Todsünde  begangen  und  die  ewige  Seliekeit  für 

eme  scüwere  Buße.  Sein  ganzes  Leben  seit  dem  18.  Lebensjahre  war  darum 
eine  permanente  Askese  und  Buße.  Die  Zustände  wurden  aber  m?t  den  Jahren 
nicht  besser    sondern  viel  schlimmer,    weil  die    fortgesetzte  Abstinent ein 

mch meh «,  Hi 1*1 \  ,'  W16^ir1wisßen.  bald  seinen  Glauben  und  woTlte 
wa ^  kränkte  sth  £Sfc  U  ,T  B?Chte-f hen"  Seine  Mutter'  di*  sehr  fromm 
SÄS  darUb6/  ™d  bfSchw0r  lhn'  doch  hie  ™*  da  zu  beichten  und 
IZlZ  l  Z  S  'S  dl\Kirche1T  Zu  ^en.  Er  hatte  nur  Spott  und  kühle 
die ST/."1*  n  ^mUtUng-  7ori!bergehend  schien  es,  daß  er  sich  durch 
könnte  Fr  ?  1  fenkeüS  KaUS  **?, Krall6n  der  Versündigungsideen  retten 
St  mit  A  T  beg\™  Mädche»  aufzusuchen,  machte  seine  erste 
rrulung  mit  Auszeichnung.  Unter  dem  Einflüsse  homosexueller  Trieb- 
regungen jedoch  die  ihm  nie  ganz  bewußt  waren,  kam  es  zu  e  nem  neuen 
Kampe  gegen  die  Sexualität  und  er  beschloß,  in  Keuschheit  Z   Jeben,  Z 

SELSt hS?m/ff   Da"jt  War  der  KaraPf  ^en  *>™  bewußte 
otn  tslr^nen  Zustande^  "  ^^^  "*"■  ™  *»  *-■* 
Wir  sehen  also:  Sein  schweres    Trauma  ist  die  Beichte 
und    der  Umstand,    daß    er    den  Beichtvater   bei    der  Ge 

OneaSneineServf0rS\hUng  bel°geD  hatte"  Er.  hatte  dU 
verachwieV/«  Wl-6ige-  1"'?,  offenbar  wohlweislich 
teils    mit    h„™  ?Je     t5il8     mit     Inzestphantasien, 

teils    mit    homosexuellen    Phantasien    verbunden    war 

ni,K*  S!  W-r'J    daß      S6ine     Zwangshandlungen 

nichts  anderes  sind  als  eine  Wiederholung  der 
Beichte,  als  ein  ewiges  Gutmachen  der  einen  Sünde, 
die  ihn  um  die  Seligkeit  und  Ruhe  gebracht  hatte! 
Er  wiederholt  immer  die  Beichte  und  die  Gewissenserforschung  und 
konstatiert,  daß  er  nichts  vergessen  habe.  Nun  analysieren  wir  diese  merk- 
würdigen Zwangshandlungen  und  versuchen  wir,  sie  als  einen  Reueakt  dar- 
zustellen, als  eine  tägliche  Warnung  und  Wiederholung. 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  127 

Was  war  seine  Sünde?  Daß  er  die  Gewissenserforschung  nicht  exakt 
vollzogen  hatte  und  daß  er  den  Schmutz  (Kot!)  der  Onanie  nicht  beichten 
wollte.  Der  Aufenthalt  am  Klosett  wird  für  seine 
spielerische  Phantasie  eine  Beichte  und  der  Akt  der 
Defäkation  wird  zur  Reinigung  der  Seele.  Selbstredend 
erweist  schon  die  Wahl  des  symbolischen  Vorganges  eine  starke  bipolare  Be- 
tonung dieser  Reue.  Seine  alten  Blasphemien,  deren  er  sich  als  Jüngling 
schuldig  gemacht  hatte,  als  seine  erste  atheistische  Periode  begonnen  hatte, 
setzen  sich  in  dem  symbolischen  Akte  ebenso  durch,  wie  das  Verlangen  nach 
tätiger  Reue.  Er  wiederholt  täglich  die  Beichte,  täglich  unzählige  Male  die 
Gewissenserforschung  und  kommt  immer  zu  dem  nur  vorübergehend  tröst- 
lichen und  beruhigenden  Resultate:  Da  ist  nichts!  Da  ist  nichts!  Du  hast 
alles  gebeichtet  und  nichts  vergessen. 

Er  beginnt  mit  der  Untersuchung  der  Taschen  und  zählt  bis  11.  Um 
dieses  Jahr  hatte  sich  ja  die  falsche  Beichte,  seine  Todsünde,  ereignet.  Die 
Tasche  wird  ihm  ein  Symbol  seiner  Seele  und  er  forscht  nach,  ob  sich  irgend 
ein  Gegenstand  in  der  Tasche  befindet,  den  er  zu  der  Beichte  mitnehmen  darf. 
Hier  mengen  sich  die  erotischen  Beziehungen  mit  den  religiösen.  Er  wieder- 
holt es  in  bezug  auf  die  hintere  Tasche:  In  dieser  Tasche  halte  ich  prinzipiell 
nichts!  Das  heißt  mit  anderen  Worten:  Wenn  auch  der  Anus  für  mich  als 
erogene  Zone  eine  große  Bedeutung  hat,  so  stecke  ich  prinzipiell  in  diese 
Tasche  nichts  hinein.  Er  teilt  alles  beim  Untersuchen  in  vier  Teile.  Er  teilt 
sein  Leben  in  vier  Teile.  28  Jahre  ist  er  alt;  jeder  Teil  besteht  dann  aus 
6ieben  Jahren.  Die  Gewissenserforschung  erstreckt  sich  dann  auf  alle  28  Jahre 
und  umfaßt  immer  eine  siebenjährige  Periode.  Eigentlich  trat  nach  seiner  An- 
sicht alle  sieben  Jahre  immer  eine  Änderung  ein.  Mit  7  Jahren  erinnert  er 
sich  an  die  ersten  Szenen  der  Onanie;  mit  14  Jahren  begann  er  sich  gegen 
die  Frömmigkeit  zu  empören  und  mit  21  Jahren  setzte  die  schwere  Neurose 
ein.  Jetzt,  mit  28  Jahren,  begab  er  sich  in  die  analytische  Behandlung,  was 
schon  seinen  Willen  beweist,  sich  wieder  zu  ändern  und  eine  neue  Metamor- 
phose durchzumachen. 

Doch  eine  andere  Frage:  Ist  er  sich  bewußt,  daß  er  innerlich  fromm 
i6t  und  immer  wieder  die  neue  Beichte  spielt?  Daß  er  die  alte,  falsche  Beichte 
rückgängig  macht  und  sich  beweist,  wie  man  das  als  reifer  Mensch  machen 
müßte?  Er  hat  keine  Ahnung,  daß  diese  Zwangshandlungen  einen  religiösen 
Charakter  haben  und  daß  sie  Gebete  ersetzen.  Er  will  auch  keine  Ahnung 
davon  haben.  Er  hat  seine  Persönlichkeit  in  zwei  Teile  geteilt,  wobei  der  eine 
Teil  von  dem  andern  nichts  wissen  darf.  Deshalb  spielt  das  gute  Versperren 
aller  Türen  und  Kästen  eine  große  Rolle.  So  muß  seine  Seele  versperrt  sein, 
einerseits  gegen  die  bösen  Versucher,  andrerseits  gegen  die  bewußten  Ge- 
danken, welche  nichts  von  den  inneren  Strömungen  erfahren  sollen.  Er 
fürchtet  auch  das  Gesehenwerden.  Er  wirft  aus  dem  Klosett  ängstliche  Blicke 
in  den  Garten,  ob  er  nicht  bei  der  Defäkation  gesehen  werden  könnte.  Das 
geht  noch  auf  eine  infantile  Angst  -zurück :  Gott  sieht  alles  und  hört  alles. 
Gott  ist  allwissend.  Er  hat  auch  seine  falsche  Beichte  gesehen  und  ihn  dafür 
mit  Blödheit  und  Blindheit  gestraft.  Denn  er,  der  ehrgeizigste  Mensch,  den 
ich  je  kennen  lernte,  bleibt  trotz  seiner  reichen  Anlagen  im  Studium  stecken 
und  kommt  nicht  weiter. 

Eine  weitere  Auflösung.  Woher  kommt  diese  unangenehme  stehende 
Position  bei  der  Defäkation?  Er  wird  oft  so  müde,  daß  seine  Beine  zu  zittern 


128  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

anfangen,  und  würde  sich  um  keinen  Preis  der  Welt  trauen,  sich  auf  das  Brett 
zu  setzen.  Dafür  gibt  uns  der  Kranke  eine  ausreichende  Erklärung.  Er  habe 
in  jener  kritischen  Beichte  sich  nicht  getraut,  sich  niederzusetzen.  Er  wäre 
auch  zu  klein  gewesen.  Stehend  war  er  für  die  Öffnung  zu  groß.  Also  nahm 
er  eine  Stellung  in  einer  halben  Kniebeuge  ein.  Diese  gleiche  Stellung  muß 
er  bei  der  Wiederholung  der  Beichte  unbedingt  einhalten.  Die  anderen 
Symbolismen,  z.  B.  daß  er  sich  zu  beschmutzen  fürchtet,  daß  er  eigene  Schuhe 
hat,  um  ins  Klosett  zu  gehen,  Schuhe,  auf  denen  nicht  ein  Stäubchen  vom  ge- 
meinen Straßenstaub  haften  darf,  sind  durchsichtig.  Diese  Schuhe  sind  ein 
Symbol  seiner  Neurose,  seiner  geheimen  Frömmigkeit,  es  sind  seine  Büßer- 
schuhe,  die  ihn  in  das  Land  der  Ewigkeit  bringen  werden.  Er  steht  unter  dem 
Eindrucke  einer  Phantasie.  Er  lebt  in  einer  Welt  des  Scheines.  Er  anul- 
liert  die  Tatsache  der  falschen  Beichte  und  setzt  an 
ihre  Stelle  eine  aufrichtige.  Die  Szene  besagt :  Er  ist  kein 
Sünder.  Er  hat  noch  einmal  gebeichtet,  er  hat  sich  geprüft  und  kann  ruhig 
sagen:  Hier  ist  nichts!  Denn  er  onaniert  nicht  mehr,  er  hat  mit  grausamer, 
übermenschlicher  Kraft  die  ganze  Sinnlichkeit  aus  seinem  Leben  herausge- 
rissen und  ist  ein  Asket  geworden,  der  sein  ganzes  Dasein  in  büßenden  Gebeten 
verbringt.  Er  handelt  so,  als  ob  er  die  Sünde  nicht  begangen  hätte.  Als  wäre 
er  noch  ein  Kind  und  stünde  vor  der  Beichte.  Seine  ganze  Krankheit  ist 
tätige  Reue.  Er  trachtet  gut  zu  machen,  was  er  verbrochen.  Er  spielt  immer 
wieder  die  Szene  der  Beichte  und  hält  sich  vor,  wie  er  hätte  beichten  sollen. 
Sein  ganzes  Leben  geht  in  dieser  Szene  auf.  Sein  Leiden  ist  eine  ewige  Beichte. 

So  wiederholt  er  täglich  im  Klosett  das  Trauma  seines  Lebens,  so  deter- 
miniert die  Onanie  alle  seine  Handlungen,  raubt  ihm  die  Möglichkeit  zur  Be- 
tätigung und  die  Fähigkeit,  andere  Gedanken  zu  denken,  ausgenommen  die 
der  Reue  und  Buße. 

Beim  Verlassen  der  Wohnung  aber  spielt  er  seinen  Tod,  seine  letzte 
Reise  und  macht  noch  einmal  die  große  Prüfung  seiner  Seele  durch.  Er  wird 
vor  dem  Tod  einen  Priester  rufen  lassen,  wird  ihm  alles  beichten,  und  er  und 
Gott  müssen  ihm  verzeihen,  wenn  sie  merken,  was  er  gelitten  und  gebüßt  hat. 
Alles  wird  ihm  zum  Symbol  seines  Daseins :  die  Serviette,  der  Krug,  der  Kasten, 
das  Sträußchen.  Und  diese  fürchterliche  Angst,  etwas  zu  verlieren!  Hat  er 
nicht  die  ewige  Seligkeit  verloren?  Er  kann  kein  Stückchen  Papier  wegwerfen, 
es  könnte  vielleicht  eine  Banknote,  ein  Schatz  sein.  Hat  er  nicht  den  schönen, 
sicheren  Kinderglauben  weggeworfen  und  gewähnt,  er  wäre  wertlos,  und  er 
war  mehr  als  alles  irdische  Geld  und  Gut? 

Wenn  er  aber  nur  wüßte,  ob  es  wirklich  einen  Gott  gibt,  ob  es  wahr 
ist,  daß  er  alles  sieht  und  weiß!  Er  ist  ja  ein  Zweifler  und  weiß,  daß  das 
Ding  an  sich  etwas  anderes  ist  als  das  Ding,  das  man  zu  sehen  glaubt.  Er 
beginnt  an  der  Identität  aller  Dinge  zu  zweifeln.  Ist  der  Schlüssel  auch  wirk- 
lich ein  Schlüssel?  Hat  er  nicht  ein  Recht,  daran  zu  zweifeln,  da  alle  Dinge 
für  ihn  Symbole  von  viel  höheren  Werten  sind?  Die  Tasche,  der  Kasten,  das 
versperrte  Zimmer  werden  Sinnbilder  seiner  Seele.  Er  ist  selbst  ein  Blatt, 
das  fahl  zur  Erde  fällt  und  vergehen  muß.  Der  Schlüssel  öffnet  die  Pforten 
des  Paradieses.  Alles  wird  Symbol  und  nichts  ist  in  dem  Spiele  wirklich.  Er 
muß  an  der  Echtheit  der  Dinge  zweifeln,  weil  sie  für  ihn  nie  in  ihrer  nackten 
Realität  existieren.    Er  steht  unter  der  Herrschaft  der  Symbolismen. 

Er  fürchtet,  ein  Wind  könnte  auch  bei  ruhiger  Luft  seine  Schätze  fort- 
tragen. Was  ist  der  Wind?  Ein  Symbol  seiner  seelischen  Regungen.  Er  fürchtet, 


- 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  129 

eine  neue  Regung  der  Seele  könnte  ihn  um  die  Früchte  seines  mühevollen 
Kampfes  bringen.  Wie  die  Tasche  durch  die  herabfallenden  Taschenklappen 
geschützt  ist,  so  möchte  er  sich  gegen  jedes  Eindringen  von  außen  schützen, 
so  möchte  er  seine  geheime  Religion  behalten.  Allen  Schmutz  möchte  er  aus 
seiner  Seele  entfernen.    Er  besorgt  das  symbolisch  durch  ewiges  Ausspucken. 

Durch  alle  Zwangshandlungen  zieht  sich  die  Erinnerung  an  die  Onanie, 
an  die  einzige  Zeit,  in  der  er  unbeschränkt  Lust  genossen  hat.  Seine  Hosen- 
tasche war  immer  zerrissen,  so  daß  die  Hand  an  den  Penis  fahren  und  ihn 
halten  und  reizen  konnte.  Damals  hat  er  verschiedene  Gegenstände  verloren, 
weil  die  Taschen  ja  immer  zerrissen  waren.  Jetzt  aber  kann  er  hineingreifen 
und  konstatieren,  daß  er  keine  Erektionen  mehr  hat.    Da  ist  nichts! 

Grenzenlos  ist  neben  diesen  religiösen  Erscheinungen  seine  Hypo- 
chondrie, seine  Angst,  infolge  der  Onanie  früher  zu  sterben.  Er  hat  sein  Leben 
durch  das  Laster  verkürzt,  er  muß  jetzt  alles  tun,  um  durch  eine  naturgemäße 
Lebensweise  sein  Leben  zu  verlängern  und  seine  erschütterte  Gesundheit  zu 
stärken.  Er  zeigt  jenen  Gesundheitsfanatismus,  den  wir  so  oft  bei  Onanisten 
finden.  Er  ist  Vegetarier  und  Naturmensch  in  jeder  Hinsicht.  Er  zittert,  daß 
eine  halbe  Stunde  verlorenen  Schlafes  ihn  ein  halbes  Jahr  seines  Lebens  kosten 
könnte.  Er  schiebt  ja  dadurch  auch  die  letzte  große  Abrechnung  vor  Gott 
hinaus,  und  jedes  Jahr  der  Buße,  das  er  länger  lebt,  macht  seine  Schuld 
geringer.  Er  berechnet  ängstlich  jeden  Tag,  wie  lange  er  spazieren  gegangen 
ist.  Er  trägt  nur  hygienische  Wäsche  und  kann  sich  nicht  genug  tun  in 
Hygiene  und  naturgemäßer  Lebensweise.  Er  trat  für  diese  seine  Anschauungen 
auch  öffentlich  ein.  Er  konnte  nicht  genug  gegen  die  Ärzte  wettern,  welche 
keinen  Sinn  für  die  Gebote  der  Natur  hatten.  Dabei  versündigte  er  sich  gegen 
das  wichtigste  Gebot  der  Natur:  Triebe  sind  zur  Betätigung  vorhanden! 

So  hatte  der  Kampf  gegen  die  Onanie  seine  ganze  Existenz  gefährdet 
und  seine  reiche  Intelligenz  untergraben.  Daß  er  sich  eine  Weltanschauung 
konstruierte,  welche  für  die  Sexualität  keinen  Raum  übrig  ließ,  ist  ja  selbst- 
verständlich. 

Interessant  ist  es,  zu  konstatieren,  wie  seine  Heilung  vor  sich  ging.  Er 
fing  eines  Tages  wieder  maßlos  zu  onanieren  an.  Es  war,  als  wollte  er  das 
Versäumte  nachholen.  Er  trieb  Mißbrauch  mit  der  neuen  sexuellen  Freiheit. 
Dann  fing  er  an,  Fleisch  zu  essen  und  bald  hatte  er  eine  Geliebte,  so  daß  er  die 
Onanie  ganz  aufgeben  konnte.  Die  Zwangshandlungen  verschwanden,  er 
machte  sein  Examen  und  widmete  sich  einem  bürgerlichen  Berufe.  Von  seiner 
ganzen  Askese  blieb  nur  die  Abstinenz  vom  Alkohol. 

Einmal  versuchte  er  nach  langer  Zeit,  auch  wieder  Alkohol  zu  sich  zu 
nehmen.  Da  zeigte  es  sich,  daß  er  trotz  heterosexuellen  Verkehres  an  diesem 
Tage  onanieren  mußte.  Er  merkte,  daß  der  Alkohol  in  ihm  Hemmungen  frei 
machte,  welchen  er  nur  bei  Besitz  aller  bewußten  Kräfte  gewachsen  war.  Er 
blieb  dann  dauernd  Alkoholabstinent.  Es  war  die  einzige  Abstinenz, 'die  ihm 
von  allen  seinen  asketischen  Abstinenzen  geblieben  war.  Und  diese  Abstinenz 
hielt  er  nicht  ohne  Berechtigung. 

Unter  den  Alkoholabstinenten  habe  ich  auffallend1  viele  Onanisten 
gefunden,  welche  nach  harten  Kämpfen  die  Onanie  aufgegeben  haben. 
Sie  gestanden  mir  meist,  daß  sie  nach  kleinen  Alkoholdosen  rückfällig 
werden  und  daß  die  Abstinenz  sie  gegen  diese  Rückfälle  schützt.  Das 

Stekel,  Störungen  dos  Trieb-  nnd  AfMitlebHis.  II.  2.  Aufl.  9 


130 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


zeigt  uns  die  tieferen  Motive  der  Antialkoholbewegung,  die  sich  meist 
als  hygienische  Maßregel  maskiert. 

Für  viele  Neurologen  ist  das  Verhalten  des  Menschen  gegen  Al- 
kohol ein  Symptom,  das  wichtige  Rückschlüsse  gestattet.  Belastete  kön- 
nen sehr  wenig  Alkohol  vertragen  und  werden  leicht  berauscht.  Bei 
solchen  Menschen  lösen  schon  kleine  Alkoholdosen  unheilvolle  Trieb- 
handlungen aus.  An  diesen  Tatsachen  ist  nicht  zu  zweifeln.  Ich  wül  nun 
einige  Beobachtungen  mitteilen,  welche  beweisen,  daß  bei  der  Alkohol- 
toleranz auch  psychologische  Motive  neben  der  organischen  Disposition 
eine  Rolle  spielen  können.  Es  verhält  sich  mit  dem  Rausch  ähnlich  wie 
mit  dem  Schlaf.  Wir  schlafen  nicht  nur,  weil  wir  müde 
sind,  sondern  weil  das  Unbewußte  herrsch en  will. 
So  gibt  es  auch  einen  Willen  zum  Rausch.  Dagegen  könnte  sprechen, 
daß  manche  Neurotiker  sich  einen  Rausch  antrinken  wollen  und  nicht 
berauscht  werden.  Das  beweist  natürlich  nichts  als  die  Existenz  eines 
Nebenwillens.  Dieser  Nebenwille  sträubt  sich  gegen  den  Rausch  und 
sagt:  „Du  darfst  das  Bewußtsein  nicht  verlieren!     Denn  sonst .  .  ." 

Wir  werden  im  Buche  über  den  Fetischismus  einen  Mann  kennen 
lernen,  der  sich  eine  sehr  komplizierte  Paraphilie,  eine  wunderliche  Art 
von  Fetischismus  zurechtgezimmert  hat.  Es  drängt  ihn  immer  wieder, 
seinen  Trieben  nachzugeben  und  irgend  einem  Fetisch  nachzulaufen, 
ihn  anzusprechen  usw.  ...  In  seiner  Verzweiflung  beginnt  er  sich  Mut 
zuzutrinken.  Allein  nach  einigen  Gläsern  tritt  ein  Ekel  ein,  der  es  ihm 
unmöglich  macht,  weiter  zu  trinken.  Als  ob  eine  Stimme  in  seinem 
Innern,  eine  Stimme,  die  er  aber  nicht  vernimmt,  sagen  würde:  „Jetzt 
hast  du  genug  getrunken,  jetzt  könnte  es  gefährlich  werden!"  Versucht 
er  weiter  zu  trinken,  so  muß  er  Sofort  erbrechen.  Wir  sehen  hier  den 
Ekel,  wie  in  vielen  anderen  Fällen,  als  Schutzwall  gegen  die  Triebe. 
Er  steht  direkt  im  Dienste  einer  moralischen  Tendenz,  um  da6  In- 
dividuum gegen  sich  selbst  zu  schützen.  Ein  anderes  Mal  trinkt  der 
Kranke  sehr  viel  und  wird  trotzdem  nicht  trunken.  Das  heißt,  sein 
Bewußtsein  hält  scharfe  Wache  und  duldet  keinen  Rausch. 

Das  Gegenstück  ist  ein  Mann,  der  seine  Urolagnie  immer  unter 
der  Wirkung  kleiner  Alkoholdosen  ausführt.  Aber  er  verübt  seine 
Paraphilie  auch  ohne  Alkohol  und  er  kennt  auch  den  Rausch  ohne 
Alkohol.  Er  leidet  direkt  an  Rauschzuständen,  ohne  einen  Tropfen 
getrunken  zu  haben.  Er  will  berauscht  sein.  Hier  dient  der  Alkohol  als 
Entschuldigung.  In  der  nachfolgenden  Periode  des  moralischen 
Katzenjammers  entschuldigt  er  sich  selbst  durch  den  Umstand,  daß  er 
getrunken  habe.  Am  stärksten  ist  der  Katzenjammer,  wenn  er  nichts 
getrunken  und  doch  einen  urolagnistischen  Akt  ausgeführt  hat.  Dann 
fehlt  dies  Motiv  der  Entschuldigung  und  er  macht  sich  die  schwersten 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  io-i 

Vorwürfe.  Das  Leitmotiv  aller  Neurotiker,  auf  das  ich  immer  wieder 
hinweise,  „Lust  ohne  Schuld",  dringt  in  dieser  Handlung  durch.  Es  gibt 
ja  verschiedene  Variationen  dieses  Motivs,  unter  denen  die  Verringerung 
der  Schuld  eine  große  Rolle  spielt,  Hier  wird  dem  Alkohol  diese  Rolle 
des  Prügelknaben  zugeteilt. 

Die  Abstinenzbew.egung  entschleiert  sich 
von  diesem  Gesichtspunkt  aus  als  eine  soziale 
Phobie.  Die  Menschen  trinken  nicht,  weil  sie 
Angst  vor  sich  und  ihren  Trieben  haben.  Sie  schützen 
sich  dadurch,  daß  sie  diese  Erkenntnis  auf  die  Allgemeinheit  übertragen. 
Der  Neurotiker  zeigt  eben  diese  beiden  bipolaren  Bestrebungen:  Die 
Verschiebung  auf  das  Kleine  und  Kleinste  (Freud)  und  die  Verschie- 
bung auf  das  Große  und  Größte.  So  behandle  ich  einen  Neurotiker,  der 
sich  gern  der  Idee  hingibt,  die  Vagina  habe  im  Laufe  der  Jahrtausende 
viel  von  ihrer  Vollkommenheit  verloren.  Eine  Vagina  der  Etruskerinnnen 
und  Ägypterinnen  müsse  ein  Ideal  gewesen  sein,  das  wir  jetzt  nicht 
finden  können.  Dieser  Neurotiker  zeigt  auch  eine  ausgesprochene 
Gerontophilie.  Aber  er  verschiebt  seinen  peinlichen  Konflikt  auf  das 
Historische.  Der  von  ihm  verurteilte  Gedanke  an  alte  Frauen,  an 
dekrepide  Greisinnen,  der  auch  offen  ins  Bewußtsein  brach,  wurde  zum 
Gedanken  an  die  Etrusker  und  Ägypter.  Die  ursprüngliche  Formel  „die 
Vagina  alter  Frauen"  und  besonders  „die  Vagina  einer  alten  Frau" 
wurde  vergrößert  und  als  die  „Vagina  der  Alten"  wieder 
bewußtseinsfähig  gemacht.  Das  ist  die  Verschiebung  auf  das  Größte. 
Diese  Verschiebung  macht  aus  dem  Vater  die  Gottheit  und  erhebt  die 
persönlichen  Konflikte  zu  religiösen. 

Die  Abstinenzbewegung  ist  auch  eine  Verschiebung  auf  das  Große 
und  Soziale,  um  die  eigenen  Komplexe  leichter  zu  bewältigen. 
Furtmüller  hat  in  seiner  gedankenreichen  Arbeit  „Ethik  und  Psycho- 
analyse" (Verlag  von  Reinhardt  in  München,  1912)  nachgewiesen,  daß 
der  Neurotiker  die  Vorschriften  und  Hemmungen  der  Autoritäten  zu 
seinen  Vorschriften  gemacht.  Er  gehorcht  nicht  fremden  Imperativen, 
er  gehorcht  nur  sich.  Er  ist  sein  eigener  Herr.  In  diesem 
Falle  aber  bemerken  wir  den  verkehrten  Mechanismus.  Der  Pro- 
pagandist der  Abstinenzbewegung  überträgt  seine  Hemmungen,  um 
sie  leichter  zu  ertragen,  auf  eine  große  Gemeinschaft,  auf  die  All- 
gemeinheit. So  schützt  er  sich  durch  Flucht  in  die  Öffentlichkeit, 
durch  öffentliche  Bindung  dadurch,  daß  er  sich  der  allgemeinen 
Kontrolle  unterwirft.  Ähnlich  hat  sich  der  bekannte  Philosoph 
Weininger  gegen  das  Weib  geschützt.  Sein  bekanntes  Werk  „Geschlecht 
und  Charakter"  sollte  eine  Mauer  zwischen  ihm  und  dem  Weibe  auf- 
richten und  seine  Keuschheit  für  alle  Zeiten  sichern.  Als  er  einsah,  daß 

9* 

. 


132  Erster  Teil.  Die  Onanie. 

es  nicht  möglich  war,  nach  den  öffentlich  preisgegebenen  Grundsätzen 
ruhmlos  zu  leben,  zog  er  es  vor,  ruhmvoll  zu  sterben  .  .  . 

Soziale  Bewegungen  entstehen  gewiß  aus  sozialen  Ursachen.  Daß 
aber  der  einzelne  sich  durch  individuelle  Motive  treiben  läßt,  erscheint 
mir  ziemlich  sieh  er.  Ich  kannte  einen  Arzt,  der  ein  feuriger  Apostel  der 
Abstinenzbewegung  in  sexueller  Hinsicht  war.  Er  gründete  in  der 
Provinz  eine  solche  Gesellschaft  und  erzielte  mit  einer  großen  Rede, 
welche  die  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten  durch  Abstinenz 
behandelte,  einen  kolossalen  Erfolg.  Dieser  Arzt  war  psychisch  impotent 
und  versagte  bei  der  Dirne  vollkommen.  Was  lag  ihm  also  näher,  als 
die  Dirne  überhaupt  aus  dem  Kreise  der  Möglichkeiten  auszuschalten? 
Er  übertrug  seinen  Konflikt  auf  das  Soziale.  Das  Nachspiel  seiner  Rede 
ist  sehr  heiter.  An  dem  Abend  der  Gründung  des  Vereines  zur 
Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten  erzielte  er  mit  seiner  Rede 
gegen  die  Prostitution  einen  so  kolossalen  Erfolg,  daß  er  umjubelt  und 
stürmisch  gefeiert  wurde.  Sein  geheimer  Gedanke  war:  Heute  wärest 
du  vielleicht  auch  bei  der  Dirne  potent.  Er  fühlte  sich  als  ganzer  Mann. 
Gedacht  —  getan!  Nach  der  Versammlung  fuhr  er  in  ein  Lupanar.  Ein 
Gefühl  der  Minderwertigkeit  hatte  ihn  impotent  gemacht.  Das 
gesteigerte  Selbstbewußtsein  machte  ihn  wieder  potent.  Nach  dem 
gelungenen  Koitus  war  seine  Weltanschauung  eine  andere  und  er  fand 
den  Verein  überflüssig  und  lächerlich. 

Ziehen  wir  die  Nutzanwendung  dieser  Ausführungen  für  unser 
Thema,  für  die  Onanie.  Es  sind  so  viele  Bücher  über  Onanie  geschrieben 
worden  und  es  gibt  so  viele  Forscher,  die  gegen  die  Onanie  kämpfen. 
Sind  das  nicht  auch  Sicherungen  der  eigenen  Individualität,  Ver- 
schiebungen der  Probleme  vom  Individuellen  auf  das  Soziale?  Ich  führte 
es  schon  wiederholt  an  dieser  Stelle  aus:  alle  Menschen  onanieren.  Jeder 
hat  einen  mehr  oder  minder  heftigen  Kampf  gehabt,  um  mit  seiner 
Onanie  fertig  zu  werden.  Er  braucht  Verstärkungen  seiner  Hemmungen, 
er  braucht  Warnungstafeln  und  er  möchte  sich  immer  wieder  zurufen: 
Onaniere  nicht,  denn  du  verkürzest  dein  Leben.  Deshalb  sind  die  zahl- 
losen Bücher  über  dieses  Thema  immer  wieder  nur  subjektive  Bücher 
und  nie  objektive  Feststellungen  von  Tatsachen.  Auch  ist  zu  bedenken, 
daß  sich  der  Einzelne  —  ob  er  will  oder  nicht—  in  den  Dienst  sozialer 
Kräfte  stellt.  Die  Entwicklung  der  Menschheit  verlangt  immer  neue  und 
immer  größere  Opfer.  Die  Ansprüche  ah  den  Menschen  werden  immer 
größer,  sein  Anteil  an  der  Lebenslust,  an  der  göttlichen  Freude  immer 
geringer.  Das  Leben  darf  kein  Fest  sein,  es  darf  kein  Tanz  von  lust- 
betonten Stunden  sein.  Das  Leben  ist  köstlich,  wenn  es  Mühe  und  Arbeit 
gewesen. 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  i  a  o 

So  sehen  wir,  daß  auch  die  Ärzte  von  der  asketischen  Tendenz 
ganz  durchsetzt  werden  und  daß  sie  dem  Menschen  das  Recht  streitig 
machen,  über  seine  Lust  selbstherrlich  zu  verfügen.  Die  Ärzte  benehmen 
sich  dabei  genau  wie  die  Eltern  ihren  Kindern  gegenüber.  Da  alle 
Menschen  onanieren,  haben  auch  alle  Ärzte  einmal  onaniert. 

Aber  auch  alle  Eltern  waren  in  der  Jugend  Onanisten.  Wie  kommt 
es,  daß  sie  so  furchtbar  gegen  die  Onanie  wüten?  Ich  kenne  Mütter,  die 
es  als  die  wichtigste  Aufgabe  der  Erziehung  betrachten,  das  Kind  vor 
der  Onanie  zu  bewahren.  Wer  hat  in  seiner  Ordinationsstunde  nicht  die 
verzweifelten  Väter  gesehen,  die  irgend  einen  jungen  Knaben  bringen, 
der  onaniert,  und  den  sie  mit  Gewalt  von  seinem  Laster  heilen  wollen! 
Da  werden  Medikamente  zur  Beseitigung  der  „aufgeregten  Nerven" 
eingegeben,  die  Kinder  werden  strenge  bewacht,  es  werden  ihnen  die  . 
abenteuerlichsten  und  lächerlichsten  Bandagen  angelegt  der  Vater  ist 
verzweifelt,  die  Mutter  sieht  das  Kind  schon  als  Blödling  in  einer 
Irrenanstalt.  Andere  Väter  lassen  sich  jeden  Morgen  von  ihrem  Knaben 
beichten,  ob  er  onaniert  hat,  und  halten  dem  rückfälligen  Sünder  eine 
Strafpredigt  oder  prügeln  ihn,  so  daß  sie  ihn  noch  zum  Flagellanten 
machen. 

Es  ist  dies  die  Rache  der  Väter  dafür,  daß  ihnen  die  Lust  der 
Onanie  geraubt  wurde.  Sie  greifen  jetzt  in  das  Leben  der  Kinder,  wie 
man  in  das  ihre  gegriffen  hatte.  Die  merkwürdige  Amnesie  der  Eltern 
für  ihre  eigene  Jugend  tritt  besonders  in  bezug  auf  die  Sexualität  in  den 
lächerlichsten  Formen  auf.  Die  Eltern  gebärden  sich  so,  als  wären  sie 
selbst  alle  Catones  in  der  Jugend  gewesen,  und  wissen  für  die  Kinder 
gewöhnlich  kein  anderes  glorreicheres  Beispiel  als  die  eigene  Person. 
Das  Kind  soll  schaudernd  den  Abgrund  ermessen,  der  sich  zwischen 
seiner  eigenen  Lasterhaftigkeit  und  der  Engelsreinheit  der  Erzieher 
dehnt.  Muß  es  nicht  zur  Erkenntnis  kommen,  es  sei  ganz  verworfen  und 
lasterhaft  wie  der  arme  Jüngling,  dessen  Zwangsvorstellungen  uns 
soeben  beschäftigt  haben? 

Es  ist  eine  psychologisch  sehr  bemerkenswerte  Tatsache,  daß  alle 
Eltern  den  Kindern  das  Recht  der  freien  Sexualität  bestreiten  wollen,  sie 
darum  vielleicht  beneiden,  sich  jedenfalls  das  Recht  der  sexuellen  Bevor- 
mundung bis  in  das  späteste  Alter  zu  bewahren  versuchen. 

Alle  Eltern  haben  die  Tendenz,  die  sexuelle  Betätigung  ihrer 
Kinder  möglichst  lange  hinauszuschieben.  Mütter  zittern  schon  beim 
Anblick  ihrer  Säuglinge,  wenn  sie  bedenken,  daß  sie  als  Erwachsene 
„Fremde"  lieben  und  sexuellen  Gefahren  ausgesetzt  sein  werden;  ich 
habe  unzählige  Mütter  und  Väter  bei  ähnlichen  Gedankengängen  ertappt. 
Ich  kannte  einen  auffallend  schönen  Knaben.  Ich  war  gewöhnt,  daß  alle 
Menschen  seiner  Mutter  sagten:   „Auf  den  werden  Sie  gut  aufpassen 


134 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


müssen!  Dem  werden  alle  Weiber  nachlaufen!"  Immer  war  die  Aufgabe 
der  sexuellen  Behütung  betont.  Eltern  sind  aber  nicht  die  Hüter  der 
Sexualität  ihrer  Kinder,  es  sei  denn,  daß  sie  sie  von  den  Verführungs- 
künsten der  Erzieher  und  Erzieherinnen,  der  Ammen  und  Dienstboten 
bewahren  müssen.  Sie  haben  zur  richtigen  Zeit  für  die  richtige  Auf- 
klärung zu  sorgen.  (Doch  davon  noch  später  in  den  letzten  Kapiteln, 
die  von  der  Prophylaxe  handeln.  Ich  will  hier  nur  das  Thema  so  weit 
besprechen,  als  es  in  diesem  Zusammenhange  nötig  ist.)  Eltern  vergessen 
ihre  eigene  Jugend  und  haben  die  Tendenz,  die  sexuelle  Betätigung 
ihrer  Kinder  möglichst  lange  hinauszuschieben.  Ich  kenne  eine  Mutter, 
die  mir  sagte,  als  ich  ihr  riet,  den  24;jährigen  (reichen)  Sohn  heiraten 
zu  lassen:  „Ich  fürchte,  er  wird  beim  Geschlechtsakt  zusammenfallen. 
1  Ich  kann  mir  nicht  denken,  daß  mein  Kind  als  Mann  wie  andere  Männer 
eine   Frau  umarmt." 

Nun  hat  dieser  Ausspruch  auch  eine  tiefere  psychologische 
Bedeutung.  Die  Eltern  wollen  ihrem  Kinde  nicht  das  Recht  des  freien 
Lusterwerbes  lassen.  Sie  wollen  bestimmen,  wann  das  Kind  eine  Freude 
empfinden  soll  und  wann  nicht.  So  war  es  in  der  frühen  Kindheit  und  so 
soll  es  bleiben.  Alle  Freude  und  alle  Lust  sollen  von  Gnaden  der  Eltern 
kommen.  Das  gleiche  Recht  maßt  sich  dann  der  Staat  an.  Alle  Gesetze 
dienen  dazu,  den  freien  Lusterwerb  aufzuheben.  Die  Eltern  fühlen  sich 
so  lange  der  Gott  ihrer  Kinder,  so  lange  sie  über  Lust  und  Unlust 
entscheiden  können.  Dann  sinken  sie  in  das  Nichts  ihrer  menschlichen 
Existenz  zurück.  Sie  beherrschen  das  Kind,  wenn  es  sein  muß,  mit  einer 

Lüge aber  sie  geben  die  Herrschaft  über  die  Sexualität  nicht 

aus  der  Hand.  Sie  benehmen  sich  wie  der  alttestamentarische  Gott  der 
Bibel.  Auch  er  droht  dem  Adam:  „Aber  von  dem  ■  Baume  der 
Erkenntnis  des  Guten  und  Bösen  sollst  du  nicht  essen;  denn  welchen 
Tages  du  davon  issest,  wirst  du  des  Todes  sterben!" 

Aber  Adam  ließ  sich  nicht  um  die  Erkenntnis  von  Gut  und  Böse 
betrügen  und  aß  von  dem  Baume  der  Erkenntnis.  Da  überkam  dem 
Lenker  der  Welten  ein  Bangen  an  und  er  sprach:  „Siehe,  Adam  ist 
worden  als  unser  einer  und  weiß,  was  gut  und  böse  ist.  Nun  aber,  daß  er 
nicht  ausstrecke  seine  Hand  und  breche  auch  von  dem  Baume  des  Lebens 
und  esse  und  lebe  ewiglich."  Und  nur  deshalb  trieb  ihn  der  Cherub  mit 
flammendem  Schwert  aus  dem  Eden.  Ist  diese  Schöpfungsgeschichte 
nicht  die  Geschichte  eines  jeden  Menschen?  Benehmen  sich  die  Eltern 
anders?  Sie  verwirren  die  Begriffe  des  Kindes  über  Gut  und  Böse  und 
drohen  mit  den  Schrecken  des  Todes.  Sie  jagen  das  Kind  aus  dem 
Paradiese,  in  dem  es  sich  die  Genüsse  holte,  wann  es  ihrer  bedurfte. 
Sie  hindern  es  daran,  göttlich  zu  werden  und  vom  Baume  des  Lebens 
zu  essen. 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usvr.  135 

Onanismus  und  Atheismus  hängen  innig  zusammen.  Jeder  Onanist 
ist  der  Autotheos,  denn  er  anerkennt  keinen  Herrn  über  seine  Lust. 
Die  Eltern  wollen  aber  die  Götter  der  Kinder  bleiben.  Sie  haben  nicht 
das  Bestreben,  sich  ihnen  als  Menschen  zu  zeigen.  Deshalb  werden  die 
eigenen  Streiche  der  Jugend  vergessen  und  dem  sündigen  Kinde  immer 
wieder  vorgehalten,  was  für  ein  unerreichtes  Muster  Seine  Heiligkeit  der 
Vater  und  Ihre  Heiligkeit  die  Mutter  gewesen.  Die  Tendenz  zur 
Vergöttlichung  der  Eltern  tritt  besonders  im  Mutterkultus  deutlich 
zutage.  Mir  erscheint  es  als  das  Schönste,  Menschen  mit  allen  ihren 
menschlichen  Fehlern  zu  lieben  und  über  ihren  Vorzügen  ihre  Fehler 
zu  vergessen. 

Ich  habe  von  der  Tendenz  der  Eltern  gesprochen,  ihren  Kindern 
die  Libido  zuzuteilen  wie  einen  Bissen  Brot.  Man  sieht  das  immer 
wieder:  Mütter  sind  nicht  eifersüchtig,  wenn  die  Söhne  die  Frauen  ihrer 
Wahl  heimführen.  Väter  wollen  auch  den  Schwiegersohn  wählen  und 
es  gibt  nicht  wenige,  welche  ihrem  Sohne  die  Braut  bestimmen,  und  ich 
kenne  sogar  solche,  die  so  geschmacklos  waren,  ihre  Söhne  in  ein  Bordell 
zu  führen.  Immer  wieder  zeigt  sich  die  Tendenz,  den  Kindern  der  Gott 
zu  sein,  der  ihnen  alle  Lust  zuteilt.  Deshalb  wird  auch  der  Kampf 
gegen  die  Onanie  mit  besonderer  Erbitterung  geführt.  Die  Onanie 
befreit  den  Menschen  von  den  sozialen  Verpflichtungen  der  Dankbarkeit. 
Der  Onanist  verdankt  sich  alle  Lust.  Wir  sollen  aber  alle  Lust  höheren 
Mächten  verdanken.  So  kommt  es,  daß  die  Onanie  das  Zeichen  der 
Trotzeinstellung  gegen  die  Eltern  wird.  Kinder,  um  deren  Onanie  sich 
die  Eltern  nicht  kümmern,  hören  selbst  zu  onanieren  auf.  Die 
stärkste  Fixierung  erhält  der  Trieb  zur  Onanie, 
wenn  das  Kind  fühlt,  daß  es  seinen  Eltern  damit 
zuwider  handelt  und  nun  aus  neurotischeim  Trotz 
weiter  onaniert.  Ich  kenne  viele  solcher  Kinder,  die  immer 
onaniert  haben,  wenn  sie  die  Eltern  bestrafen  wollten. 

Ich  habe  eingangs  meiner  Ausführungen  über  die  Onanie  betont, 
daß  die  Eltern  sich  bestreben,  im  Kinde  jene  Reinheit  zu  erreichen,  die 
ihnen  selbst  versagt  blieb.  So  kommt  es  zur  Vergöttlichung  des  Kindes. 
Denn  alles  Streben  der  Menschheit  geht  dahin  hinaus,  sich  der  Gottheit 
zu  nähern,  gottähnlich  zu  werden.  Das  beweisen  mir  die  zahllosen  Fälle 
von  Christus-  und  Marienneurosen,  die  ich  zu  analysieren  Gelegenheit 
hatte.  Im  Kinde  wollen  die  Eltern  die  Gottheit  erreichen.  Nun  merkt 
das  Kind  diese  Absicht  und  will  ein  Mensch  werden.  Je  reiner  die  Eltern 
das  Kind  erhalten  wollen,  desto  größer  werden  die  Tendenzen  des 
Kindes,  sich  dem  Tierischen  zu  nähern.  Du  sollst  dich  bis  zur  äußersten 
Grenze  der  Menschlichkeit  entwickeln!  .  .  .  lautet  der  Imperativ  der 
Kultur.   Der  Sinn  deines  Daseins  ist  eben  die  Entwicklung,  sagen  die 


136 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


Theologen.  Dein  Geschlechtstrieb  hat  nur  einen  Sinn,  wenn  er  der  Fort- 
pflanzung dient.  Die  Lust  ist  nur  eine  zufällige  Prämie  dieser  Pflicht. 
Die  Liebe  ist  kein  Vergnügen,  sondern  eine  Aufgabe.  Nicht  ohne  Grund 
spricht  unsere  Zeit  von  ..ehelichen  Pflichten".  Pflicht  ist  Zwang, 
Zweckmäßigkeit  eine  Form  der  Bevormundung. 

Es  liegt  in  der  Onanie  auch  die  Revolte  des  Menschen  gegen  das 
Teleologische.  Zweck  und  Sinn  des  Lebens  liegen  im  Leben  selbst. 
Wenn  Menschen  fragen:  Wozu  lebe  ich  denn?  —  dann  sind  sie  sexuell 
nicht  befriedigt.  AVer  glücklich  liebt  und  befriedigt  ist,  fragt  nicht  nach 
dem  Sinn  des  Lebens.  Die  Frage  nach  dem  Sinn  des  Lebens  ist  durch 
die  Tatsache  des  Glückes  erledigt.  Unglückliche  Menschen  finden  das 
Sinnlose  ihrer  Existenz  und  flüchten  aus  dem  Leben.  Diese  Revolte 
gegen  das  Zweckmäßige  der  Liebe  treibt  aber  das  Individuum  auch  zur 
Homosexualität.  Hier  ist  nicht  zwischen  Trieb  und  Lust  der  Imperativ 
der  Fortpflanzung  eingeschoben.  Die  Liebe  hat  keinen  anderen  Sinn 
als  den  des  Lusterwerbes. 

Wenn  wir  aber  den  Kampf  der  Menschheit  gegen  die  Onanie 
überblicken,  so  merken  wir  eine  ungeheure  Menge  von  Opfern.  Unwill- 
kürlich fragen  wir  uns  nach  dem  tieferen  Sinn  dieses  Kampfes.  Denn  die 
Bewegung,  welche  die  Onanie  unterdrückt,  liegt  auf  der  Linie  der 
Fortentwicklung  des  Menschengeschlechtes. 

So  kämpft  auch  das  Individuum  diese  Kämpfe,  weil  es  von  sozialen 
Kräften  dazu  gedrängt  wird.  Alle  Liebe,  die  sich  einst  auf  das  eigene 
Ich  wandte,  die  sich  mit  dem  Egoismus  deckte,  wandelt  sich  im  Laufe 
der  Jahrtausende  und  wird  sozial.  Erst  liebte  der  Mensch  nur  sich 
selbst,  er  war  Narzisst  und  Autoerotist  (im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes!).  Diese  Kräfte  sind  noch  heute  in  ihm  vorhanden.  Dann 
begann  er  die  Liebe  auf  die  nächste  Umgebung  auszustrahlen.  Liebe 
deinen  Nächsten  wie  dich  selbst!  Und  geht  der  Fortschritt  nicht  in  eine 
weitere  Richtung:   Liebe  deine  Nächsten  mehr  als  dich  selbst!? 

Die  Entwicklung  der  Menschheit  läßt  sich  auf  die  Grundformel 
zurückführen :  Der  Mensch  lernt  immer  mehr  lieben 
und  immer  mehr  geben.  Wenn  wir  auf  versunkene  Zeiten 
zurückblicken,  ersteht  vor  unserem  geistigen  Auge  der  Urmensch,  ein 
halbes  Tier,  egoistisch,  nur  für  sich  bedacht,  alles  hassend,  was  sich 
den  eigenen  Wünschen  in  den  Weg  stellt.  Hunderte  Millionen  von 
Jahren  mußten  verstreichen,  ehe  der  Mensch  das  Lieben  lernte.  Die 
Schule  und  das  sichtbare  Zeichen  dieser  Liebe  war  das  „Opfer".  Die 
ersten  Götter  wurden  gefürchtet.  Ehrfurcht  ist  das  Rudiment  der 
einst  grenzenlosen  primitiven  Furcht  vor  der  Gottheit.  Aus  Angst 
vor  den  strafenden,  rächenden  Gewalten  wurden  die  ersten  Opfer  ge- 
bracht.   Ungern  trennte  sich  der  Urmensch  von  den  Gaben,  die  der 


4 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  137 

Altar  verzehrte.  Noch  kannte  der  Mensch  das  höchste  Opfer  nicht, 
das  Opfer  aus  Freude  am  Geben.  Selbst  die  Griechen,  vor  deren  Kultur 
sich  Jahrtausende  gebeugt  haben,  opfern  nur  aus  Angst  und  aus  Be- 
rechnung. In  den  Stunden  der  Not  malmen  die  Helden  des  Homer  die 
Götter  an  ihre  Opfer.  Zeus  wird  erinnert,  wie  viele  Hekatomben  ihm 
zu  Ehren  zum  Himmel  geraucht  haben,  Pallas  Athene  wird  als  un- 
dankbar gescholten,  wenn  sie  den  Helden  im  Stiche  läßt,  der  ihr  fett©' 
Lendenstücke  geopfert  hat.  Das  griechische  Opfer  ist  ein  Geschäft 
auf  Gegenseitigkeit.  Wehe  dem  Schiffer,  der  das  Meer  durchsegelt  und 
Poseidon  vergessen  hat!  Eifersüchtig  und  kleinlich  wartet  der  grie- 
chische Gott  auf  sein  Opfer,  unversöhnlich  und  rachsüchtig  verfolgt  er 
die  Helden,  die  an  ihn  vergessen  haben. 

Doch  schon  keimt  die  allmächtige  Saat  der  Liebe  einer  neuen 
Zeit  entgegen.  Der  Grieche  liebt  seine  Heimat  mit  allen  Fasern  seines 
Herzens  und  opfert  sein  Leben,  wenn  es  gilt,  sie  zu  verteidigen.  Das 
Vaterland  ist  die  Gesamtheit,  ist  das  Soziale  im  Gegensatz  zum  In-  • 
dividuellen,  ist  die  Liebe  über  das  Leben  hinaus.  Man  stirbt  für  die 
andern,  auch  wenn  man  für  sich  gelebt  hat.  Aber  noch  steht  hinter 
diesem  Opfer  die  Aussicht  auf  Belohnungen  im  Jenseits.  In  allen 
Religionen  steht  das  Opfer  im  Dienste  des  Jenseits.  Allah  gibt  seinen 
Gläubigen,  die  für  ihn  sterben,  alle  irdischen  Wonnen  vervierzehnfacht, 
sich  immer  erneuernd;  Wotan  sammelt  die  gefallenen,  Helden  in  Wal- 
halla zu  ewigen  Kämpfen  und  ewigem  Ruhme;  Rhadamantis  wägt  die 
Seelen,  die  über  den  Styx  kommen,  und  scheidet  die  Helden  von  den 
Feiglingen.  Auch  Christus,  der  die  höchsten  Opfer  fordert,  verspricht 
als  Lohn  die  ewige  Seligkeit,  die  tiefe  Ewigkeit  der  höchsten  Lust.  .  .  . 

Jede  Religion  fordert  Opfer  des  Trieblebens  für  geistige  Werte; 
sie  tauscht  Realitäten  gegen  irreale  Werte.  Besonders  Hunger  und 
Liebe  sind  das  Substrat  der  religiösen  Beschränkung.  Fasten  und 
sexuelle  Beschränkung  sind  Inhalt  der  Gebote,  sind  Strafe,  sind  Ein- 
satz, um  das  Irdische  überwindend  zum  Himmlischen  zu  gelangen. 

Wir  haben  aus  zahlreichen  Krankengeschichten  sehen  können, 
wie  dieser  Handel  um  die  ewige  Lust  vor  sich  geht.  Die  Onanie  wird 
als  Opfer  für  eine  höhere  Lust  aufgegeben.  Die  Lust  der  Askese  kann 
die  Lust  der  sexuellen  Betätigung  überwinden. 

Ist  es  aber  immer  nur  ein  Handel  um  die  Lust  der  Ewigkeit? 
Ißt  68  HÄ  Wlmehr  ein  Fortentwickeln  einer  fernen  Zukunft,  einem 
Ziele  zu,  das  uns  schier  unerreichbar  dünkt?  Einer  Zeit  der  Opfer 
aus  Freude  am  Opfer,  einer  Zeit  des  seligen  Sichselbstverschenkens 
aus  der  Wonne  des  Gebens  heraus? 

Die  Onanie  repräsentiert  die  Ursexualität  des  Menschen.  In  sie 
münden  alle  unterdrückten  und  asozialen  Strömungen  der  Sexualität, 


138 


Erster  Teil.  Die  Onanie. 


in  ihr  tobt  sich  der  sexuelle  Urmensch  aus,  der  sich  seine  Lust  raubte, 
wo  und  wie  er  wollte,  ohne  auf  den  anderen  Rücksicht  zu  nehmen. 
Seine  Lust  war  sein  einzigstes  und  wichtigstes  Gebot.  Heute  hat  der 
Mensch  nur  e  i  n  e  n  Körper,  der  ihm  willenlos  ausgeliefert  ist,  seinen 
eigenen.  An  dem  kann  er  sich  noch  die  Lust  rauben  wie  in  der 
Zeit  des  Urmenschen. 

• 

Es  ist  klar,  daß  das  Bedürfnis  nach  der  Onanie  wachsen  muß,, 
je  höher  die  kulturellen  ethischen  Forderungen  werden,  je  verfeinerter 
unser  Liebesleben  wird.  Das  Verlangen  nach  Onanie  steigt,  je  schwerer 
es  wird,  die  Libido  an  die  Umgebung  abzuführen.  Wir  können  uns 
eine  Zeit  vorstellen,  in  der  die  Onanie  eine  sehr  geringe  Rolle  gespielt 
hat.  Der  Urmensch  kannte  keine  Schranke  und  holte  sich  die  allerotische 
Lust,  die  auf  seinem  Wege  lag.  Mit  der  Entwicklung  der  ethischen 
Imperative  „Du  darfst  nicht!"  mußte  die  Libido  autoerotisch  gesucht 
v.  erden. 

Ich  glaube  also,  daß  die  Onanie  mit  der  fort- 
schreitenden Kultur  immer  zunimmt.  Damit  muß 
auch  die  Reaktion  gegen  diese  Art  des  Lust- 
erwerbes  zunehmen.  Der  Kampf  gegen  die  Onanie 
muß  wachsen,  weil  das  Bedürfnis  nach  ihr  größer 
wird.  Jede  Kraft  trägt  in  sich  die  Reaktion  der  entgegengesetzten. 
Druck  erzeugt  Gegendruck.  Der  Kampf  gegen  die  Onanie  ist  zugleich 
ein  Kampf  gegen  die  Vergangenheit  der  Menschheit,  ein  Kampf  gegen 
die  kulturwidrigen  Urinstinkte.  Immer  wieder  wird  von  dem  Individuum 
das  „Opfer  der  Onanie"  verlangt  werden. 

Wir  sehen  die  Berechtigung  dieses  Kampfes  ein  —  wie  eigentlich 
alles,  was  ist,  seine  Berechtigung  hat  und  soziale  Strömungen  Kom- 
promisse aus  vielen  Notwendigkeiten  darstellen.  Trotzdem  müssen  wir 
als  Ärzte  jedem  einzelnen  seine  sexuelle  Freiheit  und  die  Möglichkeit 
der  Genesung  wiedergeben.  Wir  merken,  daß  die  Menschheit  im  Kampfe 
gegen  ihre  Vergangenheit  ein  übriges  getan  hat,  daß  die  notwendige 
Drosselung  der  wilden  Urkraft  Sexualität  zu  stark  vorgenommen  wurde. 

Ich  fühle  mich  auch  nur  als  einen  Teil  der  großen  sozialen  Welle, 
welche  jetzt  ungestüm  die  größere  sexuelle  Freiheit  fordert.  Aber  ich 
täusche  mich  nicht  und  glaube  nicht,  daß  jetzt  die  Ära  eines  un- 
gehinderten, freien  Sexuallebens  anbricht.  Die  Entwicklung  der  Mensch- 
heit geht  in  eine  andere  Richtung  und  verlangt  immer  neue  Opfer 
des  Trieblebens.  Wir  Ärzte  sehen  blutenden  Herzens  die  Opfer  dieser 
furchtbaren  Kämpfe. und  müssen  trachten,  die  Wunden  der  Gefallenen 
zu  verbinden.  Wir  sind  nur  Samariter.  Mag  unsere  Tätigkeit  noch  so 
viele  Individuen  retten  —  der  Kampf  wird  deshalb  nicht  aufhören. 


Zwangshandlungen  eines  Onanisten  usw.  139 

Für  so  viel  verlorene  Lust,  wie  sie  das  Aufgeben  der  autoero- 
tischen Triebe  verlangt,  mußte  Ersatz  geschaffen  werden.  Ohne  Libido 
geht  der  Mensch  zugrunde.  Die  Energien  der  Sexualität  sublimieren 
sich  und  wandeln  sich  um.  Im  Genüsse  des  Schönen,  der  Natur,  der 
Kunst,  in  der  Freude  des  Gebens,  in  der  sozialen  Betätigung  strömen 
dem  Menschen  neue  Quellen  der  Lust.  Alle  diese  Kräfte  der  Askese 
sind  nicht  verloren  gegangen.  Die  Menschheit  wertet  sie  für  ihre  Zwecke 
um.  Alles  Große  und  Erhabene  wurzelt  in  den  Tiefen  der  Sexualität. 
Das  ist  eine  alte  Weisheit: 

OüSeva  yap  evö-ovciacriAÖv  aveu  -r5j;  spwTtx^; 
STCCTvotac  cuaßaivs'.  Ytveiftai. 

Geheimnisvoll  wirken  unbekannte  Kräfte  in  uns  und  treiben  unß 
zu  fernen  Zielen,  die  wir  nur  dunkel  ahnen  können.  Wie  verworren 
schlingen  sich  die  Fäden,  die  Vergangenheit  und  Zukunft  verbindend, 
ans  mit  dem  Schicksal  der  Welt  verknüpfen!  Wie  hilflos  treiben  wir 
im  Strome  des  Lebens,  getragen,  wenn  wir  zu  tragen  glauben, 
geführt,  wenn  wir  zu  führen  wähnen,  ans  Land  geworfen,  wenn 
wir  uns  brüsten,  den  sichern  Strand  gesucht  zu  haben! 


ZWEITER  TEIL 

Die  Homosexualität. 


Was  aus  Liebe  getan  wird,  geschieht 
immer  jenseits  von  Gut  und  Böse. 

Nietzsche. 


Homosexualität. 

i. 

Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität. 

„Leben  —   ist  das   nicht   gerade   ein 
Andersseimvollen,  als  diese  Natur  ist?" 

Nietzsche. 

Daß  es  bedeutende  Ärzte  gibt,  die  allen  Ernstes  die  Onanie  als 
Ursache  der  Homosexualität  ansehen,  würde  man  kaum  für  möglich 
halten.  Man  könnte  die  Onanie  ebenso  als  die  Ursache  der  Sexualität 
bezeichnen.  Wir  haben  gesehen,  daß  Onanie  die  Folge  unbefriedigter 
homosexueller  Triebregungen  sein  kann.  Sie  ist  unter  Umständen  der 
Ersatz  eines  homosexuellen  Aktes,  ebenso  wie  sie  al6  Notonanie  der 
Ersatz  eines  heterosexuellen  Aktes  sein  kann.  Sie  ist  der  Eratz  der 
momentan  adäquaten  Form  der  Sexualbefriedigung.  Ich  sage  der 
„momentanen  Form",  weil  auch  das  Sexualziel  nicht  immer  das  gleiche 
bleibt  und  die  sexuellen  Leitlinien,  um  den  trefflichen  Ausdruck  von 
Hans  Blüher1)  zu  gebrauchen,  häufig  verlassen  werden.  Die  falsche 
Auffassung,  die  Onanie  erzeuge  die  Homosexualität,  wurde  besonders 
von  Krafft-Ebing  vertreten,  dessen  große  Autorität  in  Fragen  der 
Psychopathia  sexualis  noch  heute  nicht  erschüttert  ist.  Seine  Ver- 
dienste sind  gewiß  groß  und  es  ist  anzuerkennen,  daß  er  sich  schließ- 
lich zu  der  Ansicht  von  Hirschfeld  bekannt  hat,  daß  die  Homosexualität 
angeboren  ist,  daß  es  erworbene  und  angeborene  Homosexualität  gibt.2) 
Aber  in  der  letzten  (14.)  Auflage,  die  1912  erschienen  ist,  läßt  sein 
Herausgeber  Alfred  Fuchs  den  Passus  über  Onanie  an  der  Spitze  des 
Kapitels  stehen  und  unterstützt  und  unterstreicht  sogar  die  Aus- 
füllungen seines  großen  Lehrers. 

Diese  Ansicht  von  Krafft-Ebing  ist  keineswegs  „veraltet".  Sie 
wird  auch  von  Stier  (Zur  Ätiologie  des  konträren  Sexualgefühls. 
Monatsschr.  f.  Psych,  u.  Neur.,  1914,  Bd.  XXXII)   vertreten  und  an 


*)  Hans  Blüher:  Studien  über  den  perversen  Charakter.  Zentralbl.  f.  Psychoana- 
lyse. Oktober  1913. 

2)  Neue  Studien  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität.  Jahrb.  f.  sexuelle  Zwischen- 
stufen, Bd.  III.  Leipzig. 


144  Zweitor  Teil.  Die  Homosexualität. 

gleicher  Stelle  von  Hirschfeld  und  Burchard  (zu  Stiers  Artikel  usw.) 
sehr  energisch  bekämpft.  „Nicht  verständlich  ist  es  —  sagen  die 
Autoren  —  wie  Stier  der  Onanie  einen  spezifischen  Einfluß  im  Sinne 
der  Homosexualität  zuschreiben  kann.  Bei  ihrer  —  nach  der  Ansicht 
der  meisten  Sachverständigen  —  ubiquitären  Verbreitung  könnte 
man  sie  mit  demselben  Recht  für  jede  Art  sexueller  Entwicklung  ver- 
antwortlich machen."  Nach  Stier  wirkt  eine  früh  einsetzende 
und  lange  Zeit  fortgesetzte  (besonders  mutuelle)  Onanie  schädigend, 
„weil  sie  das  auch  dem  unverdorbenen  Erwachsenen  noch  anhaftende 
Schamgefühl  gegenüber  den  eigenen  Genitalien  und  der  Beschäftigung 
damit  beseitigt".  Auch  Fleischmann  (Beiträge  zur  Lehre  der  konträren 
Sexualempfindung,  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Neur.  u.  Psych.,  7.  Bd.,  1911) 
findet  unter  60  Invertierten  33  exzessive  Onanisten  und  schließt,  „daß 
die  Onanie  gleich  dem  Alkohol  einen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der 
Perversion  haben  muß".  —  Viele  seiner  Patienten  setzen  die  Onanie 
in  kausalen  Zusammenhang  zum  Beginn  der  Homosexualität.  Wir  wissen 
ja,  daß  alle  Schuld  von  der  Onanie  übernommen  wird.  Aber  Fleisch- 
mann sieht  darin  einen  Beweis.  „Der  Einfluß"  —  führt  er  aus  —  „der 
Onanie  auf  die  Entwicklung  der  sexuellen  Perversion  liegt  darin,  daß 
sie  mit  zunehmender  Willensschwäche  die  geschlechtliche  Erregbarkeit 
steigert  bei  immer  mehr  zunehmender  Ablenkbarkeit  des  Geschlechts- 
triebes vom  normalen  Sexualziel  und  Sexualobjekt." 

Auch  Kraepelin  (M.  m.  W.,  1918,  Nr.  5)   sieht  einen  Zusammen- 
hang zwischen  Onanie  und  Homosexualität.    Er  führt  aus: 

„Den  Anstoß  zur  Entwicklung  der  Homosexualität  gibt  einmal 
.  die  Verschiebung  des  Geschlechtszieles  auf  das  eigene  Geschlecht  durch 
die  Onanie  bei  geschlechtlicher  Frühreife  mit  späterer  psychischer  Im- 
potenz, ferner  die  Anknüpfung  frühzeitiger  lebhafter  geschlechtlicher 
Regungen  an  gleichgeschlechtliche  Beziehungen,  endlich  die  Verführung. 
Begünstigend  wirkt  der  Einfluß  des  Alkohols.  Die  Bekämpfung  der 
geschlechtlichen  Verirrungen  wird  in  erster  Linie  der  Onanie,  nament- 
lich auch  der  mutuellen,  entgegenzuarbeiten  haben.  Das  geschieht  durch 
,  erzieherische  Maßregeln,  Abhärtung,  Stählung  des  Willens  durch  Leibes- 
übungen, Zurückdämmen  vorzeitiger  geschlechtlicher  Anregungen,  Ver- 
meidung der  Verführung,  rechtzeitige  und  vorsichtige  Aufklärung.  Der 
Eindämmung  der  Homosexualität  dient  dann  neben  Förderung  kamerad- 
schaftlicher Beziehungen  zwischen  beiden  Geschlechtern  und  Begünsti- 
gung der  Frühehe  vor  allem  die  Fernhaltung  von  jugendlichen  Personen 
und  die  Ausrottung  der  männlichen  Prostitution." 

Wenn  auch  die  Ausführungen  von  Kraepelin  das  psychologische 
Moment  in  der  Genese  der  Homosexualität  betonen,  so  ist  doch  hervor- 
zuheben, daß  die  Onanie  mit  der  Entwicklung  der  Homosexualität 
nichts  zu  tun  hat.   Der  Onanist  hat  sieh  der  Onanie  ergeben,  weil  ihm 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        145 

der  Weg  zum  Weibe  versperrt  ist.  Die  Meinung  von  Kraepelin,  daß  die 
Onanie  diesen  Weg  versperrt,  ist  falsch!  Zugegeben,  daß  die  mutuelle 
Onanie  zu  Homosexualität  führen  kann  (mutuelle  Onanie  ist  eben  keine 
Onanie  mein-,  sondern  ein  homosexueller  Akt!),  wie  will  Kraepelin 
diese  gelegentlichen  Ursachen  ausschalten?  Etwa  durch  Zwangsmaß- 
regeln gegen  die  männliche  Prostitution?  Das  würde  nur  zu  einer 
Verstärkung  der  geheimen  Prostitution  und  zur  Vermehrung  des  Er- 
pressertums  führen. 

Wir  müssen  endlich  einmal  die  Psychologie  der  Homosexualität 
kennen  lernen  und  dann  zu  einer  entsprechenden  Prophylaxe  kommen. 

Mein  Buch  soll  zeigen,  daß  mit  der  deskriptiven  Methode  der 
Sexualforschung  gebrochen  werden  muß.  Die  erste  Erzählung  des 
Kranken  ist  nur  die  Mitteilung  der  manifesten  Bewußtseinsinhalte 
seiner  Paraphilie.  Es  handelt  sich  aber  um  die  latenten  Inhalte,  es 
handelt  sich  um  die  unbewußten  und  nebenbewußten  Kräfte.  Die  de- 
skriptive Form  der  Sexualforschung  muß,  der  Strömung  unserer  Zeit 
Rechnung  tragend,  von  der  psychologischen  abgelöst  werden.  Auf 
keinem  zweiten  Gebiete  kann  die  Analyse  so  glänzend  und  überzeugend 
ihre  Überlegenheit  beweisen. 

Wie  stand  es  vor  der  Analyse?  Krafft-Ebing  sah  die  Homo- 
sexualität ursprünglich  als  Folge  einer  erblichen  Belastung  an,  eine 
Hypothese,  welche  die  Erfahrung  aller  Beobachter  nicht  bestätigen 
konnte.  Es  gibt  nämlich  —  und  das  macht  das  Verwirrende  dieser 
Frage  aus  —  verschiedene  Momente,  welche  das  Manifestwerden  der 
allen  Menschen  latenten  Homosexualität  begünstigen.  Darunter  ist 
zweifellos  auch  das  Milieu  zu  betrachten,  das  durch  „nervöse"  und 
„psychopathische"  Eltern  geschaffen  wird.  Doch  davon  später.  Diese 
angeblich  hereditäre  Belastung  soll  sieh  bei -den  Homosexuellen  schon 
dadurch  zeigen,  daß  ihr  Geschlechtstrieb  sehr  früh  erwacht  und  daß 
sie  schon  in  den  Kinderjahren  zu  onanieren  anfangen.  Wir  wissen,  daß 
die  Homosexuellen  diese  Eigenschaft  mit  allen  Menschen,  besonders 
aber  mit  den  Neurotikern,  teilen.  Ein  starkes  Triebleben  ist  nicht  die 
Folge,  sondern  die  Ursache  der  Neurose.  Nach  Krafft-Ebing 
jedoch  ist  die  Kinderonanie  die  Ursache  der  später  ausbrechenden 
Homosexualität  und  Pseudo-Homosexualität.  „Nichts  ist  geeigneter  — 
sagt  er  —  die  Quelle  edler,  idealer  Gefühlsregungen,  die  aus  einer 
normal  sich  entwickelnden  geschlechtlichen  Empfindung  ganz  von  selbst 
sich  erheben,  so  zu  trüben,  ja  nach  Umständen  ganz  versiegen  zu 
machen,  als  in  frühem  Alter  getriebene  Onanie.1)    Sie  treibt  von  der 


*)  Diese  Behauptung  ist  vollkommen  unrichtig.    Ich  habe  nie  so  viele  und  eo 
ausgesprochene  Idealisten  gefunden  als  unter  den  Onanisten.    Gerade  bei  jungen  Künst- 

Stekol,  Störungen  dos  Trio))-  und  Affi-ktlebons.  II.  2. Aufl.  10 


146  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

sich  entfalten  sollenden  Knospe  Duft  und  Schönheit  und  hinterläßt  nur 
den  grobsinnlichen  tierischen  Trieb  nach  geschlechtlicher  Befriedigung. 
Gelangt  ein  dergestalt  verdorbenes  Individuum  in  das  zeugungsfähige 
Alter,  so  fehlt  ihm  der  ästhetische,  ideale,  reine  und  unbefangene  Zug, 
der  zum  anderen  Geschlechte  hindrängt.  Damit  ist  die  Glut  der  sinn- 
lichen Empfindungen  erlöscht  und  die  Neigung  zum  anderen  Geschlecht 
eine  bedeutend  abgeschwächte.  Dieser  Defekt  beeinflußt  die  Moral,  die 
Ethik,  den  Charakter,  die  Phantasie,  die  Stimmung,  das  Gefühls- 'und 
Triebleben  des  jugendlichen  Masturbanten,  sowohl  des  männlichen  als 
des  weiblichen,  in  ungünstiger  Weise  und  läßt  nach  Umständen  das 
Verlangen  nach  dem  anderen  Geschlecht  auf  den  Nullpunkt  sinken,  so 
daß  Masturbation  jeglicher  naturgemäßen  Befriedigung  vorgezogen 
wird." 

Man  stelle  sich  die  verderbliche  Wirkung  dieser  Zeilen  auf  den 
Jungling  vor,  der  masturbiert.  Vollends  wenn  er  liest,  daß  die  Homo- 
sexualität am  besten  dadurch  behandelt  wird,  daß  man.  die  Mastur- 
bation bekämpft  (S.  336) . 

Der  große  Forscher  verwechselt  Ursache  und  Wirkung  Die 
Masturbanten  vermeiden  den  Weg  zum  Weibe  nicht  deshalb  weil  sie 
masturbiert  haben.  Sondern  sie  ma  s  t  u  r  b  i  er  en,  weil  ihnen 
der  Weg  zum  Weibe  versperrt  ist.  Die  Masturbation  ist 
vielen  Menschen  die  einzige  mögliche  Form  der  Sexualbefriedigung,  die 
sie  sozial  nicht  ächtet.  Für  Menschen,  welche  eine  stark  betonte  Homo- 
sexualität haben,  bleibt  oft  kein  anderer  Weg  frei,  besonders  wenn 
der  Weg  zum  Weibe  infolge  bestimmter,  später  zu  besprechender 
neurotischer  Einstellungen  verrammelt  ist. 

Die  Onanie  ist  nie  die  Ursache  der  Homosexualität!  Sie  tritt 
nicht,  wie  Krafft-Ebing  glaubt,  bei  Homosexuellen  sehr  früh  auf,  sondern 
bei  allen  Menschen  —  und  zwar  ohne  Ausnahme.  Die  Homosexuellen 
haben  die  Erinnerung  an  die  Kinderonanie  nicht  verloren,  weil  sie 
andere,  viel  peinlichere  Erlebnisse  verdrängt  und  aus  dem  Gedächtnisse 
vertrieben  haben.  Doch  davon  später.  Viel  wichtiger  erscheint  uns 
jetzt  die  Beantwortung  der  Frage:  Wie  kommt  die  Homosexualität 
zustande?  Ist  sie  angeboren  oder  anerzogen?  Ist  sie  ein  unabwend- 
bares Fatum  oder  nur  die  Folge  bestimmter  Familienkonstellationen? 
Ist  sie  die  Folge  einer  erblichen  Belastung?  Während  Krafft-Ebing 

lern,  Dichtern  und  Musikern  habe  ich  sehr  häufig  einen  unbezwinglichen  Hang  zur 
Onanie  konstatiert,  was  ja  mit  der  ausgesprochenen  Bisexualität  aller  Künstler  zu- 
sammenhängt, auf  die  besonders  Flicss  aufmerksam  gemacht  hat.  Sie  sind  oft  so  zart 
und  empfindsam,  daß  sie  in  dem  sexuellen  Akt  nur  eine  tierische  Roheit  erblicken  und 
eich  mit  ihrer  Sexualität  vor  aller  Welt  verstecken.  Unter  den  Onanisten  trifft  man 
die  Wahrheitsapostel,  die  Übermoralischen,  die  Ethiker  und  die  Phantasten 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Plomosexualität.        147 

ursprünglich  dieser  Meinung  war  und  noch  die  These  aufstellen  konnte: 
„Es  ist  überhaupt  zu  bezweifeln,  daß  bei  normal  veranlagten  Menschen 
zu  irgend  einer  Zeit  ihres  Lebens  eine  Person  des  eigenen  Geschlechtes 
sinnlich  eine  Attraktion  ausüben  könne",  hat  er  später  seine  Ansicht 
gründlich  geändert  und  sich  zur  Ansicht  bekannt,  daß  es  eine  an- 
geborene Homosexualität  gebe,  freilich  nur  bei  erblich  Belasteten. 

Er  stellte  folgende  Thesen  auf: 

„1.  Das  Geschlechtsleben  derartig  organisierter  Individuen  macht 
sich  in  der  Regel  abnorm  früh  und  in  der  Folge  abnorm  stark  geltend. 
Nicht  selten  bietet  es  noch  anderweitige  perverse  Erscheinungen,  außer 
der  an  und  für  sich  durch  die  eigenartige  Geschlechtsempfindung  be- 
dingten abnormen  sexuellen  Richtung. 

2.  Die  geistige  Liebe  dieser  Menschen  ist  vielfach  eine  schwärme- 
risch exaltierte,  wie  auch  ihr  Geschlechtstrieb  sich  mit  besonderer,  selbst 
zwingender  Stärke  in  ihrem  Bewußtsein  geltend  macht. 

3.  Neben  dem  funktionellen  Degenerationszeichen  der  konträren 
Sexualempfindung  finden  sich  oft  anderweitige  funktionelle,  vielfach  auch 
anatomische  Entartungszeichen. 

4.  Es  bestehen  Neurosen  (Hysterie,  Neurasthenie,  epileptoide  Zu- 
stände usw.).  Fast  immer  ist  temporär  oder  dauernd  Neurasthenie  nach- 
weisbar. Diese  ist  in  der  Regel  eine  konstitutionelle,  in  angeborenen 
Bedingungen  wurzelnde.  Geweckt  und  unterhalten  wird  sie  durch 
Masturbation   oder  durch  erzwungene   Abstinenz."1) 

Das  klingt  freilich  schon  viel  milder  und  es  werden  die  idealen 
Regungen  der  Homosexuellen  zugegeben,  obgleich  sie  ja  —  wie  wir 
wissen  —  alle  onaniert  haben.    Krafft-Ebing  weiß  eben  nicht,  daß  alle 


1)  Vgl.  dagegen  die  Ausführung  von  Block:  „Daß  die  konträre  Sexualempfindung 
an  und  für  sich  nicht  als  psychische  Entartung  oder  gar  Krankheit  betrachtet 
werden  kann,  geht  unter  anderem  daraus  hervor,  daß  sie  sogar  mit  geistiger 
Superiorit,  ät  vereinbar  ißt.  —  Beweis  dafür  Männer  bei  allen  Nationen, 
deren  konträre  Sexualität  festgesetzt  ist  und  die  gleichwohl  als  Schriftsteller,  Dichter, 
Künstler,  Feldherren,  Staatsmänner  der  Stolz  ihre6  Volkes  sind.  Ein  weiterer  Beweis 
dafür,  daß  die  konträre  Sexualempfindung  nicht  Krankheit,  aber  auch  nicht 
lasterhafte  Hingabe  an  das  Unsittliche  sein  kann,  liegt  darin,  daß 
6io  alle  die  edlen  Regungen  des  Herzens,  welche  die  heterosexuale  Liebe  hervorzubringen 
vermag,  ebenfalls  entwickeln  kann  —  in  Gestalt  von  Edelmut,  Aufopferung,  Menschen- 
liebe, Kunstsinn,  eigene  schöpferische  Tätigkeit  usw.,  aber  auch  die  Leidenschaften  und 
Fehler  der  Liebe  (Eifersucht,  Selbstmord,  Mord,  unglückliche  Liebe  mit  ihrem  deletären 
Einfluß  auf  Seele  und  Körper  U6w.)."  (Bloch,  1.  c.  S.  543.)  —  Im  Gegensatz  zu  Block 
schildert  Fried  in  seiner  Broschüre  „Das  männliche  TJrningtum  in  seiner  sozialen  Be- 
deutung" den  Homosexuellen  als  Schädling  und  Verbrecher  und  schließt  seine  \us- 
führungen  mit  dem  Ausrufe:  „  crasez  l'infame!".  Hingegen  stellt  wieder  Blüher  in 
seinem  vielbeachteten  Buche  „Die  Rolle  der  Erotik  in  der  männlichen  Gesellschaft" 
(Eugen  Dicderichs,  Jena  1917  und  1919)  die  These  auf,  die  ganze  Sozialisierung  der 
Menschheit  lasse  sich  auf  die  mann-männliche  Liebe  zurückführen. 

10* 


148  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Künstler  Neurotiker  sind  und  daß  die  Neurose  einen  wichtigen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Problem  des  Schaffens  aufweist.  Er  kennt  also 
auch  eine  echte  und  falsche  Homosexualität,  eine  Bisexualität  (psy- 
chischen Hermaphroditismus)   und  andere  Formen,  wie  sie  Hirschfeld 

aufgestellt.1) 

Krafft-Ebing  merkt,  daß  ein  Zusammenhang  zwischen  Homo- 
sexualität und  Neurose  besteht.  Da  er  aber  noch  auf  dem  Boden  der 
Belastungstheorie  steht,  muß  er  schließlich  zugeben,  daß  Homo- 
sexualität auch  bei  nicht  Belasteten  vorkommt  und  somit  keine  Krank- 
heit sein  kann. 

Ganz  anderer  Ansicht  ist  Moll,  dem  wir  das  erste  große,  zu- 
sammenfassende Werk  über  Homosexualität  verdanken:  „Wenn  wir 
den  Geschlechtstrieb  nicht  als  ein  Mittel  zum  Vergnügen,  sondern  zur 
Fortpflanzung  betrachten,  so  müssen  wir  die  ausschließliche  Homo- 
sexualität in  das  Gebiet  der  Pathologie  verweisen."  (Die  konträre 
Sexualempfindung,  Berlin  1899,  3.  Auflage.)  Dieses  Argument  ist  wohl 
nicht  stichhältig.  Denn  einen  Fortpflanzungstrieb  als 
solchen  gibt  es  nicht,  nur  einen  Geschlechtstrieb. 

*)  Freilich   wäre  es   Pflicht  des  neuen  Herausgebers   dieses   vielgelesenen  Werkes 
gewesen,  auf  die  letzten  Ansichten  von  Krafft-Ebing  zurückzukommen.    In  seinen  „Neuen 
Studien  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität"   sagt  er:  „Der   Erkenntnis  gegenüber, 
daß  die  konträre  Sexualität  eine  angeborene  Anomalie,  eine  Störung  in  der  Evolution 
des  Geschlechtslebens  monosexualer  und  der  Artung  der  Geschlechtsdrüsen  kongruenter 
seelisch-körperlicher  Entwicklung  darstellt,  läßt  sich  der  Begriff  der  „Krank- 
heit" nicht  festhalten.   Viel  eher  kann  man  hier  von  einer  Mißbildung  sprechen 
und  die  Anomalie  mit  körperlichen  Mißbildungen,  z.  B.  anatomischen  Abweichungen  vom 
Bildungstypus  in  Parallele  stellen.    Damit  ist  aber  der  Annahme  einer  gleichzeitigen 
Psychopathie    nichts    präjudiziert,    denn    Personen,    welche    derartige    anatomische    und 
auch    funktionelle     Abweichungen     vom     Typus     (Stigmata     degenerationis)     darbieten, 
können     zeitlebens     physisch     gesund     bleiben,     ja     selbst    über- 
wertig sein."   „Immerhin  wird  ein  so  schwerwiegendes   Ausderartschlagen  wie  die 
verkehrte  Geschlechtsempfindung  eine  viel  größere  Bedeutung  für  die  Psyche  haben,  als 
so   manche   anatomische    oder   funktionelle   Entartungserscheinung.     So    erklärt   es   sich 
wohl,  daß  die  Störung  in  der  Entwicklung  eines  normalen  Geschlechtslebens  öfters  der 
Entstehung    einer    harmonischen    psychischen    Persönlichkeit    abträglich    werden    kann. 
Nicht     selten     stößt     man     bei     Konträrsexualen     auf     neuro- 
pathisehe    und   psychopathische    Veranlagungen,    so    z.  B.  auf    kon- 
stitutionelle Neurasthenien  und  Hysterien,  auf  mildere  Formen  periodischer  Psychose, 
auf  Entwicklungshemmungen  psychischer  Energien  (Intelligenz,  moralischer  Sinn),  unter 
welchen    besonders    die    ethische    Minderwertigkeit,    namentlich    wenn    zugleich    Hyper- 
sexualität  vorhanden  ist,   zu  den  schwersten  Verwirrungen   des   Geschlechtstriebes   führen 
kann.    Immerhin  kann  man  nachweisen,  daß,  relativ  genommen,  die  Heterosexualen  viel 
größere    Zyniker    zu    sein    pflegen    als    die   Homosexualen.     Auch    weitere    Entartungs- 
erscheinungen auf  sexuellem  Gebiete  in  Gestalt  von  Sadismus,  Masochismus,  Fetischismus 
finden  6ich  ungleich  häufiger  bei  den  ersteren  .  .  ." 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        149 

Die  Wissenschaft  ist  nicht  die  Lehre  der  Zweckmäßigkeiten,  sondern 
die  Konstatienmg  der  Tatsachen.  Die  Wissenschaft  darf  und  kann 
sich  nicht  in  den  Dienst  der  Teleologie  stellen.  Allerdings  scheint  Moll 
geneigt  zu  sein,  die  Homosexualität  als  Neurose  aufzufassen:  In 
neuerer  Zeit  sei  immer  mehr  und  mehr  die  Neigung  aufgetreten,  ein 
Grenzgebiet  zwischen  Geisteskrankheit  und  Geistesgesundheit  auf- 
zustellen, „und  in  dieses  Gebiet  hat  man  viele  Fälle  von  psychischen 
Entartungen  —  ich  erinnere  z.  B.  an  manche  Zwangsvorstellungen  usw. 
—  gerechnet.  Ich  glaube,  daß  wir  gut  tun  werden,  auch  die  konträre 
Sexualempfindung  zu  diesen  Zuständen  zu  rechnen."  S.  435  1.  c.)  Er 
verweist  auf  Westphal1),  der  die  Homosexualität  mit  der  Moral  in- 
sanity  vergleicht. 

Moll    gegenüber   ist   zu    erwähnen,    daß    die   meisten   modernen 
Forscher  betonen,  sie  hätten  viele  Homosexuelle  untersucht,  die  ganz 
normal    sind   oder    sich   zumindestens    als   normal    bezeichnen.     Sehr 
treffend  sagen  Havelock  Ellis  und  Albert  Moll2)   in  ihrem  letzten  ge- 
meinsamen Werke:  „Näcke  hat  wiederholt  behauptet,  daß  Homosexuelle 
vollständig   gesund   seien  und  abgesehen   von  ihrer   spezifischen   Ab- 
weichung in  jeder  Beziehung  normal  sein  können.    Es  ist  dies  stets 
mein  Standpunkt  gewesen,  obwohl  ich  im  Gegensatz  zu  Näcke  annehme, 
daß    die   Homosexualität    sehr   häufig    in    enger   Be- 
ziehung  zu   nervösen   Zuständen  geringen   Grade6 
steht.    Wir   können  Hirschfeld   zustimmen,    daß    sich   Heredität   bei 
nicht  mehr  als  25%   Homosexuellen  findet  und  daß,   wenn  auch  eine 
neuropathische   Grundlage   bei   der   Homosexualität   besteht,    der   de- 
generative Faktor  sehr  gering  ist."  Diese  Autoren  finden  die  Hypo- 
these, daß  jeder  Mensch  eine  Mischung  aus  weiblichen  und  männlichen 
Elementen  darstelle,  kühn  und  zu  hypothetisch.  „Aber  es  ist  sicherlich 
gerechtfertigt,    wenn    wir    die    Homosexualität    als    eine    angeborene 
Anomalie  ansehen  oder,  um  genauer  zu  sprechen,  als  eine  Anomalie, 
die  auf  angeborenen  Bedingungen  beruht,  die,  wenn  sie  pathologisch 
ist,  es  nur  in  Virchows  Sinne  so  weit  ist,  daß  die  Pathologie  nicht  die 
Wissenschaft  von  Krankheiten,  sondern  die  von  Anomalien  ist,  so  daß 
ein  Homosexueller  ebenso   gesund  sein  kann  wie  ein  Farbenblinder. 
Eine  angeborene  Homosexualität  steht  also  auf  derselben  Stufe  wie 
eine  biologische  Variation;    es  ist  eine  Variation,  die  vielleicht  durch 
unvollständige  sexuelle  Differenzierung  veranlaßt  ist,  nicht  aber  einen 


*)  Die  konträre  Sexualempfindung.  Symptom  eines  neuropatliischen  (psycho- 
pathischen)   Zustandes.    Arch.  f.  Psych,  u.  Neur.,  2.  Bd.,  S.  106.  Berlin  1870. 

2)  Handbuch  der  Sexualwissenschaften.  (Die  Punktionsstörungen  des  Sexuallebens.) 
Leipzig,  Verlag  F.  C.  W.Vogel,  1912.  S.  652 


]  50  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

erkennbaren  Zusammenhang  mit  irgend  einem  Krankheitszustand  des 
Individuums  hat." 

Dies  möchte  ich  nun  bezweifeln.  Welche  Beweise  haben  wir,  daß 
die  Homosexuellen  vollkommen  gesund  sind,  wenn  wir  wirklich  einen 
Kanon  der  Gesundheit  annehmen  wollten,  der  nicht  existiert?  Wir 
haben  nur  ihre  Aussagen.  Sie  bezeichnen  sich  alle  als  gesund.  Wio 
oft  hören  wir  das  von  schweren  Psychopathen!  Es  fehlt  ihnen  das 
Krankheitsgefühl.  Das  scheint  aber  speziell  für  die  Homosexuellen 
charakteristisch  zu  sein.  Sie  wollen  ihren  Zustand  als  einen  normalen 
anerkannt  wissen.  Sie  wollen  gesund  sein,  wünschen  in  sehr  seltenen 
Fällen  eine  Änderung  und  kommen  meist  erst  zum  Arzt,  wenn  sie  mit 
dem  Strafgesetz  in  Konflikt  geraten  sind  und  ihnen  Gefahr  droht. 
Sehr  treffend  betonen  die  beiden  Autoren:  „Was  die  Männer  anbelangt, 
so  stellen  sich  Homosexuelle  selbst  gern  als  normal  hin  und  suchen 
ihren  Standpunkt  zu  rechtfertigen.  Diejenigen,  die  gegen  ihren  Trieb 
ankämpfen,  dauernd  ihr  Verhalten  mißbilligen  oder  auch  nur  Zweifel 
fühlen,  sind  eine  kleine  Minorität,  weniger  als  20%." 

Freilich,  die  große  Zahl  homosexueller  Ärzte  hat  immer  wieder, 
ihre  Beobachter  zu  überzeugen  gesucht,  daß  sie  normal  seien  und  sich 
sonst  in  gar  nichts  von  anderen  Menschen  unterschieden.    Alle  un- 
befangenen Beobachter  mußten  aber  die  Fülle  neurotischer  Züge  zu- 
geben, die  der  Homosexuelle  zeigt.    Ich  bin  sine  ira  et  studio  an  die 
Prüfung  dieser  Frage  herangetreten  und  habe  zahllose  Homosexuelle 
gesehen  und  viele  eingehend  kennen  gelernt.    Noch  nie  habe  ich 
einen    Homosexuellen    gefunden,    der    kein    Neuro- 
tiker  gewesen  wäre.   Er  muß  es  sein,  wie  ich  später  ausführen 
werde.    Er  muß  es  sein  ebenso  wie  der  Heterosexuelle,  der  ein  starkes 
Stück  Homosexualität  zu  bewältigen  und  zu  verdrängen  hat.   So  betonen 
auch  Havelock  Ellis  und  Moll  gleich  Krajft-Ebing  eine  Neigung  zu 
Neurasthenie.    Doch  wer  ist  heutzutage  nicht  neurasthenisch?    hört 
man  oft  sagen.    So  kommt  es,  daß  sich  vorurteilslose  Forscher  wie 
Iwan  Bloch  bekehrt  haben  und  eine  angeborene  Homosexualität  an- 
nehmen, die  nicht  als  Krankheit  aufzufassen  ist.    Bloch  vertrat  lange 
Zeit  einen  anderen  Standpunkt,  wurde  aber  durch  Hirschfeld  und  durch 
den  Verkehr  mit  Homosexuellen  eines  Besseren  belehrt.   Er  glaubt  jetzt 
an  die  angeborene  Homosexualität  und  ließ  sich  besonders  durch  die 
Erzählungen  der  Homosexuellen  dazu  bestimmen.  Wir  werden  später 
beweisen,  wie  trügerisch  diese  Erzählungen  sind.    Allerdings  konnte 
einem  so  scharfen  Beobachter  wie  Bloch  die  auffallende  Zahl  nervöser 
Homosexueller  nicht  entgehen.   Er  glaubt  aber,  sie  wären  nervös,  „weil 
die  Homosexualität  auf  sie  wie  ein  psychisches  Trauma  wirken  müsso". 
„Nach  meinen  Untersuchungen  und  Beobachtungen  ist  -  das  Verhält- 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.         151 

nis  von  Gesundheit  und  Krankheit  bei  Homo- 
sexuellen ursprünglich  das  gleiche  wie  bei  Hetero- 
sexuellen und  wird  im  Laufe  des  Lebens  infolge  der  sozialen  und  in- 
dividuellen Isolierung  der  Homosexuellen,  die  wie  ein  psychisches 
Trauma  wirkt,  zugunsten  der  Krankheit  etwas  verschoben;  hier 
handelt  es  sich  meist  um  erworbene  nervöse  Leiden  und  Beschwerden, 
um  die  Ausbildung  eines  eigenartigen  Typus  „homosexueller 
Neurasthenie",  die  bei  oberflächlichen  Beobachtern  sehr  wohl 
eine  Verwechslung  des  „post  hoc"  mit  dem  „propter  hoc"  hervorrufen 
kann."  Es  ist  sicher,  daß  die  Gefahren  homosexueller  Betätigung  die 
Entwicklung  von  Angstzuständen  begünstigen.  Man  sieht  aber  diese 
nervösen  Zustände  auch  in  den  Fällen,  in  denen  gar  keine  Veranlassung 
zur  Angstentwicklung  vorhanden  ist,  und  die  Angstzustände  erweisen 
»ich  oft  gar  nicht  durch  die  Homosexualität  bedingt. 

Für  die  Homosexualität  als  normale  Erscheinung  tritt  mit  der 
ganzen  Wucht  seiner  Erfahrung  Magnus  Hirschfeld  ein.  Zahllos  sind 
seine  Arbeiten,  die  dieses  Gebiet  betreffen.  Nun  liegt  aber  sein  großes 
Buch  über  dieses  Thema  vor:  „Die  Homosexualität  des  Mannes  und 
des  Weibes."  (Berlin,  SW.  61,  Verlag  Luis  Marcus.)  Kein  Forscher, 
der  sich  mit  diesem  Thema  beschäftigt,  kann  an  diesem  gründlichen 
und  erschöpfenden  Werke  vorübergehen.  Fassen  wir  die  Ansichten 
von  Hirschfeld  zusammen,  so  können  wir  definieren:  Es  gibt  eine 
echte  angeborene  Homosexualität,  die  wir  nicht 
als  Krankheit  bezeichnen  dürfen.  Diese  Homosexualität 
ist  nicht  mit  der  Bisexualität  und  nicht  mit  der  Pseudohomosexualität 
zu  verwechseln.  Auch  Hirschfeld  hat  eine  Wandlung  in  seinen  An- 
sichten durchgemacht.  Er  faßte  die  Homosexualität  als  sexuelle 
Zwischenstufe  zwischen  Mann  und  Weib  auf  und  prägte  den  bekannten 
Ausdruck:  Das  dritte  Geschlecht.  Alle  Menschen  sind  ja  bekanntlich 
bisexuell.  Hirschfeld  suchte  bei  Homosexuellen  nach  den  bekannten 
körperlichen  Zeichen  der  Bisexualität.  Bei  den  Männern  fand  er  Busen- 
andeutung, weibliches  Becken,  eine  zarte  Haut  usw.,  bei  den  Frauen 
Andeutung  des  Bartwuchses,  männliche,  energische  Züge  u.  dgl.  m. 
So  konnte  er  in  seinem  Buche  „Der  urnische  Mensch"  noch  behaupten: 
„Einen  Homosexuellen,  der  sich  körperlich  und  geistig  nicht  vom  Voll- 
mann unterscheidet,  habe  ich  unter  1500  nicht  gesehen  und  glaube 
daher  an  sein  Vorkommen  nicht  eher,  bis  ich  ihn  persönlich  kennen 
gelernt  habe."  In  seinem  neuesten  Werke  jedoch  heißt  es:  „Der 
androgyne  Männer-  und  der  gynandrische  Frauentypus  sind  keineswegs 
immer  an  Homosexualität  geknüpft.  Es  gibt  gewisse  Typen,  die  man 
als  eunuchoide  bezeichnet  hat,  sie  machen,  ohne  verschnitten  zu  sein, 
den  Eindruck  von  Kastraten,  besitzen  weibliche  Körperformen,  hohe 


152 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Stimme,  bartlose  Gesichter.  Meist  besteht  Azoospermie,  vielfach 
Anorchie.  Urnen  entsprechen  Frauen,  die  körperlich  viel  Männliches 
haben.  Diese  auffallend  weiblichen  Männer  und  männlichen  Weiber 
werden  oft  für  homosexuell  gehalten,  sind  aber  nicht  selten  völlig 
heterosexuell  insofern,  als  sie  Ergänzungen  ihrer  In- 
dividualität unter  Typen  finden,  die  dem  anderen 
Ge schlechte  angehören.  Diese  sie  fesselnden 
Typen    sind    allerdings  auch  androgyn."1) 

Hirschfeld  erkennt  in  dieser  Wahl  des  androgynen  Typus  nicht 
die  Kraft  der  latenten  Homosexualität.  Ein  Homosexueller,  der 
nicht  manifest  homosexuell  fühlt,  ist  für  ihn  kein  Homosexueller. 
Grundlage  der  Diagnose  ist  nicht- mehr  die  Körperbildung  mit  Ein- 
schlag des  entgegengesetzten  Geschlechtes.  Maßgebend  ist  Hirschfeld 
nur  das  Fühlen  des  Menschen.  Fühlt  er  homosexuell  (und 
zwar  von  Kindheit  an),  so  ist  er  ein  Homosexueller. 
Die  eigenen  Worte  von  Hirschfeld  lauten:  „Der  springende  Punkt 
bleibt  also  nach  wie  vor  bei  der  Diagnose  der  Homosexualität  der 
exakte  Nachweis  der  konträren  Sexualempfindung  selbst;  wesent- 
lich unterstützt  wird  diese  Diagnose  durch  das  negative  Verhalten 
gegenüber  dem  anderen  Geschlechte,  sowie  durch  die  alterosexuellon 
Einschläge,  die  aber  beide  für  sich  allein  genommen  eine 
sichere  Diagnose  nicht  gestatten."  Da  auch  Bloch  gesteht, 
daß  es  zahlreiche  virile  Homosexuelle  von  durchaus  männlichem 
Körperbau  gibt,  so  sehen  wir,  daß  uns  die  organische 
Diagnose  der  Homosexualität  ganz  im  Stiche  läßt. 
Auch  Hans  Blüher,  ein  guter  Kenner  der  Homosexualität,  kennt  den 
reinsten  homosexuellen  Typus,  den  er  den  „Männerhelden"  nennt,  der 
in  Charakter  und  Habitus  durchaus  männlich  bleibt  und  sich  dadurch 
vom  zweiten  Typus,  dem  „invertierten  Weibling",  unterscheidet.    Der 

)  Ich  finde  bei  Bloch  eine  sehr  interessante  Bemerkung,  die  weiteste  Verbreitung 
verdient:  „Eine  letzte  und  nicht  unwichtige  Erscheinungsform  der  Pseudo-Homosexualität 
ist  das  Z  wittert  um  oder  der  Hermaphroditismus.  Es  ist  merkwürdig, 
daß  die  Wissenschaft  erst  in  den  letzten  Jahren  eich  eingehender  mit  den  herma- 
phroditischen Zuständen  beschäftigt  hat,  die  bisher,  wie  auch  Blumenreich  hervorhebt, 
in  ihrer  sozialen  Bedeutung  und  ihrer  Häufigkeit  weit  unterschätzt  wurden.  Es  ist 
das  große  Verdienst  von  Neugebauer  und  Magnus  Hirschfeld,  die  allgemeine  Aufmerk- 
samkeit auf  diese  merkwürdigen  sexuellen  Zwischenstufen  gelenkt  und  ihre  eminent 
praktische  Bedeutung  nachgewiesen  zu  haben,  von  der  niemand  vorher  eine  Ahnung 
hatte,  wie  sich  aus  dem  auffälligen  Umstände  ergibt,  daß  das  neue 
Bürgerliche  Gesetzbuch  für  das  Deutsche  Reich  die  zivil- 
rechtlichen Bestimmungen  des  alten  preußischen  Landrechts 
über  die  Zwitter  gänzlich  beseitigt  hat,  mit  der  Begründung, 
es  gebe  keine  Personen  unbestimmten  oder  unbestimmbarem 
Goschlechtes!" 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        153 

dritte  Typus  wäre  der  latent  Homosexuelle.  (Die  drei  Grundformen 
der  Homosexualität.  Eine  sexuologische  Studie.  Leipzig.  Jahrbuch  für 
sexuelle  Zwischenstufen,  Band  XIII.) 

Wir  müssen  das  Unglaubliche  dieser  Diagnosenstellung  wieder- 
holen und  unterstreichen.  Für  die  Diagnose  der  Homosexua- 
lität gibt  es  eigentlich  kein  objektives  Zeichen! 
Maßgebend  ist,  daß  der  Homosexuelle  betont,  daß 
er  immer  homosexuell  empfunden  hat  und  dem 
anderen    Geschlechte    gegenüber    indifferent    ist. 

Nur  der  Analytiker  kann .  die  Unhaltbarkeit  dieser  Diagnostik 
in  ihrer  ganzen  Schwäche  erkennen.  Wir  sehen  immer  wieder  Menschen, 
die  behaupten,  sich  sein*  genau  zu  kennen;  sie  hätten  sich  auf  das 
gewissenhafteste  durchforscht  und  nach  einigen  Wochen,  oft  schon 
nach  einigen  Tagen  (Beispiele  wird  auch  dieses  Buch  in  Hülle  und 
Fülle  bringen)  muß  der  Analysierte  gestehen,  daß  er  sich  nicht 
gekannt  hat,  daß  er  sich  nicht  kennen  wollte.  In  sexuellen 
Dingen  lügen  alle  Menschen  und  belügen  sich  in 
erster    Linie    selbst.     Sie  spielen  alle  Vogelstraußpolitik. 

Alle  Neurotiker  fälschen  ihre  Krankheits- 
geschichte oder  retuschieren  sie  zum  mindesten. 
Sie  vergessen  einfach  die  Tatsachen,  welche  ihnen  in  ihr  System  nicht 
passen.  Denken  wir  auch  an  den  Ausspruch  von  Havelock  Ellis,  daß 
die  Homosexuellen  sich  so  gerne  als  normal  hinstellen.  Ebenso  wird 
die  Kindheitsgeschichte  —  bewußt  oder  unbewußt  —  gefälscht  und 
es  wird  eine  Lebensgeschichte  konstruiert,  aus  der  alle  heterosexuellen 
Biegungen  verschwunden  sind. 

Die  Psychanalyse  hat  nachgewiesen,  daß  alle  Homosexuellen  — 
ohne  Ausnahme  —  in  der  Jugend  heterosexuelle  Neigungen  gehabt 
haben.  Von  dieser  Regel  gibt  es  keine  Ausnahme.  Es  gibt  keine  mono- 
sexuellen Menschen!  Die  heterosexuelle  Periode  geht  oft  weit  über 
die  Pubertät  hinaus.  Alle  Menschen  sind  bisexuell.  Es  gibt  aber 
Menschen,  die  aus  bestimmten  Motiven  und  unter  dem  Eindruck  be- 
stimmter Verhältnisse  entweder  die  homosexuelle  oder  die  hetero- 
sexuelle Komponente  unterdrücken  müssen  und  dann  scheinbar .  als 
Monosexuelle  gelten.  Auch  der  „Männerheld  Blühers"  und  der  „echte 
Homosexuelle  Hirschfelds"  sind  nur  scheinbar  monosexuell.  Ein  Blick 
in  die  von  allen  Autoren  veröffentlichten  Lebensbeichten  der  Homo- 
sexuellen bestätigt  schon  diese  Tatsachen.  Betont  doch  Hirschleid 
selbst,  es  sei  ein  Verdienst  der  Psychanalyse,  daß  sie  die  flüchtige 
heterosexuelle  Triebrichtung  des  Homosexuellen  entdeckt  habe.  Damit 
fällt  das  wichtigste  Moment  für  die  Diagnose  der  Homosexualität  in 
sich  zusammen. 


154 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Der  Trieb  des  Homosexuellen  ist  ursprüng- 
lich gar  nicht  ausschließlich  auf  das  gleiche  Ge- 
schlecht gerichtet.  Auch  der  Homosexuelle  ist 
ursprünglich  bisexuell.  Er  verdrängt  aber  seine  Hetero- 
sexualität,  wie  der  Heterosexuelle  seine  Homosexualität  verdrängen 
muß:  Blüher,  der  eine  Pathogenese  der  Homosexualität  für  den  Typus 
des  Männerhelden  nicht  annehmen  will,  meint,  man  müßte  dann  mit 
demselben  Rechte  sagen:  Es  gibt  auch  eine  Pathogenese  der  Hetero- 
sexualität. 

Das  ist  auch  die  Wahrheit.  Jede  Monosexualität  ist  nicht  das 
Normale,  nicht  das  Natürliche.  Die  Natur  hat  uns  bisexuell 
gemacht  und  verlangt  auch  die  bisexuelle  Be- 
tätigung. Der  rein  Heterosexuelle  ist  immer  im  gewissen  Sinne  ein 
Neurotiker,  das  heißt,  schon  die  Verdrängung  der  homosexuellen 
Komponente  verursacht  seine  Disposition  zur  Neurose,  ja  ist  schon 
ein  Stück  Neurose,  das  ja  keinem  Normalmenschen  fehlt.  Die  Psycho- 
logie der  Paranoia,  deren  Erforschung  wir  dem  Genie  Freuds  ver- 
danken, zeigt  uns  die  Extreme  dieser  Verdrängungsarbeit  nach  der 
einen  Seite,  wie  sie  der  Homosexuelle  nach  der  anderen  Seite  zeigt. 

Es  gibt  auch  keinen  Homosexuellen,  der  nicht  neurotisch  wäre, 
und  zwar  neurotisch  durch  Verdrängung  der  Heterosexualität.  Diese 
Verdrängung  ist  ein  rein  psychischer  Vorgang  und  hat  mit  Degeneration 
nichts  zu  tun.  Die  Homosexualität  ist  kein  Produkt  der  Degeneration 
im  gewöhnlichen  Sinne.  Sie  ist  eine  Neurose  und  zeigt  die  Ätiologie 
der  Neurose,  die  wir  noch  zu  besprechen  haben.  Ich  komme  wieder  auf 
Hirschfeld  zurück.  Er  sagt  über  den  Zusammenhang  von  Neurose  und 
Homosexualität : 

„1.  Ausgesprochene  körperliche  oder  geistige  Entartungszeichen 
sind  bei  homosexuellen  Männern  und  Frauen  verhältnismäßig  selten, 
jedenfalls  finden  sie  'sich  im  Verhältnis  zu  der  Gesamtzahl  der  Homo- 
sexuellen nicht  häufiger  als  unter  Heterosexuellen  beiderlei  Geschlechtes. 

2.  Dagegen  findet  sich  häufig  und,  wie  es  scheint,  nicht  nur  als 
eine  Folge  der  Homosexualität  eine  stärkere  Labilität  des 
Nervensystems  vor  (oft  mit  dem  periodischen  Charakter  endo- 
gener Stimmungsschwankungen). 

3.  In  den  Familien  der  Homosexuellen  findet  sich  oft  eine  größere 
Anzahl  nervöser,  sowie  vom  normalen  Sexualtypus  abweichender  In- 
dividuen." (Iiirschfeld  1.  c.  S.  338.) 

Auch  Hirschfeld  betont  also  die  Labilität  des  Nervensystems  bei 
den  Homosexuellen  und  weist  auf  die  Häufung  sexuell  abnormer  Typen 
in  den  Familien  der  Homosexuellen  hin.  Das  ist  eine  unbedingt  richtige 
Beobachtung.  Ihre  Erklärung  kann  sie  in  zwei  Momenten  finden:  1.  In 
dor  Heredität.    2.  Im  gemeinsamen  Milieu.  Wie  diese  zwei  Faktoren 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        155 

zusammenwirken,  das  kann  man  nur  in  jedem  einzelnen  Falle  unter- 
scheiden. 

Ich  kann  aus  meinen  Erfahrungen  bestätigen,  daß  sich  unter  den 
Eltern  der  Homosexuellen  immer  abnorme  Charaktere  finden.  Bei  den 
männlichen  Homosexuellen  findet  man  auffallend  häufig  melancholische, 
zu  Depression  geneigte  oder  schwer  hysterische  Mütter.  In  allen  Ab- 
stufungen, von  dem  launischen,  herrschsüchtigen  Weibe  bis 
zu  der  einsamen,  schweigsamen  Dulderin,  die  an  Melancholie  erkrankt 
und  zeitweise  im  Irrenhause  interniert  werden  muß.  Ebenso  häufig  ist 
bei  Urlinden  ein  pathologischer  Vater,  ein  Haustyrann,  Trinker,  Mor- 
phinist, Wüstling,  Frauenheld,  Epileptiker  und  Hysteriker.  Wir  werden 
später  zu  entscheiden  haben,  ob  die  Einflüsse  dieser  Eltern  auch  auf 
psychischem  Wege  sich  bemerkbar  machen  können  und  wie  die  Kinder 
sich  zu  diesen  Eltern  stellen.  Die  genaue  Durchsicht  der  fremden 
Krankengeschichten  bestätigt  diese  Tatsache. 

Doch  wie  stellen  sich  die  verschiedenen  Autoren  das  Ent- 
stehen der  Homosexualität  vor  ?  Wir  haben  schon  erwähnt,  daß 
Hirschfeld  und  alle  Forscher,  die  sich  von  ihm  haben  überzeugen  lassen, 
die  Theorie  der  angeborenen  Homosexualität  verteidigen.  Diese  Va- 
riation ist  dann  ein  Fatum.  Das  Gesetz  der  Planeten,  nach  dem  der 
Mensch  sein  Leben  angetreten  .  .  . 

Bloch  aber  findet  den  Zustand  trotz  aller  Erklärungen  von  Hirsch- 
feld noch  immer  rätselhaft  und  kommt  auf  die  chemische  Theorie  von 
Hirschfeld  (Andrin  und  Gynäcin)  zurück: 

„1.  Das  sogenannte  „undifferenzierte"  Stadium  des  Geschlechts- 
triebes (Max  Dessoir)  kann  oft  ausbleiben,  dann,  wenn  der  Geschlechts- 
trieb schon  v  0  r  der  Pubertät  bei  Heterosexuellen  oder  Homosexuellen 
eindeutig  auf  ein  bestimmtes  Geschlecht  sich  richtet.  Gerade  bei  der 
Homosexualität  zeigt  sich  oft  schon  vor  der  Pubertät  die  klare  und 
eindeutige,  bestimmte  Richtung  des  Triebes  auf  das  gleiche  Geschlecht. 

2.  Eine  kritische  Theorie  der  Homosexualität  muß  auch  die 
extremen  Fälle  erklären,  vor  allem  also  die  männliche 
Sexualität  bei  völliger  Virilität. 

3.  Die  Geschlechtsteile  und  Keimdrüsen  können 
nicht  das  Bestimmende  sein,  da  -bei  typisch  normalen  männ- 
lichen Genitalien  und  Testikeln  Homosexualität  auftritt;  auch  das 
Gehirn  an  sich  kann  bei  der  echten  Homosexualität  nicht  da's  Be- 
stimmende sein,  da  trotz  stärkster  absichtlicher  und 
unabsichtlicher  heterosexueller  Einflüsse  auf 
Denken  und  Phantasie  doch  die  Homosexualität 
nicht    auszurotten    ist    und    sich    weiter   entwickelt. 

4.  Da  diese  Homosexualität  als  Neigung  (nicht  als  Geschlechts- 
trieb) oft  schon  lange  vor  der  Pubertät  und  vor  der  eigentlichen  Tätig- 
keit der  Keimdrüsen  auftritt,  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  irgend 
welche   zwar  mit   der   „Sexualität",   aber  nicht   direkt  mit   den  Keim- 


156  Zweitor  Teil.  Die  Homosexualität. 

driisen  in  Zusammenhang  stehende  physiologische  Erscheinung  bei 
Homosexuellen  eine  Veränderung  erfährt,  die  eine  Änderung  der 
Triebrichtung  zur  Folge  hat. 

5.  Es  läge  am  nächsten,  hier  an  chemische  Einflüsse  zu 
denken,  an  Änderungen  im  Chemismus  der  Sexualspannung,  die  sicher 
eine  große  Unabhängigkeit  von  den  Keimdrüsen  besitzt,  da  sie 
bei  Kastraten  und  Eunuchen  erhalten  bleiben  kann.  Das  Wesen  dieses 
Sexualchemismus  ist  noch  völlig  dunkel."  (Bloch,  1.  c.  S.  589.) 

Ferner  später:   „Meines  Erachtens  kann  der  anatomische  Wider- 
spruch,   die   naturwissenschaftliche    Ungeheuerlichkeit   einer   weiblichen 
bzw.  unmännlich  gearteten  Psyche  in  einem  typisch  männlichen  Körper 
oder  einer  weiblich-unmännlichen  Sexualpsyche  bei  normal  gebauten  und 
normal  funktionierenden  männlichen  Genitalien  nur  auf  diese  Weise  ge- 
lost werden,  wenn  man  diesen  interkurrenten  dritten  Faktor   zu  Hilfe 
nimmt.    Diesen  kann  -man   aber  sehr  wohl  aus  irgend  welchen  bereits 
embryonalen    Störungen    des   Sexualchemismus   ableiten.    Das 
wurde  auch  erklären,  weshalb  die  Homosexualität  so  oft  in  völlig  ge- 
sunden Familien  auftritt  als  eine  vereinzelte  Erscheinung,  die  nichts  mit 
der  Vererbung  oder  gar.  Degeneration  zu  tun  hat.  Wenn  v.  Römer  im 
(aegenteil  die  Homosexualität   als  eine  „Regenerations"erscheinung  be- 
zeichnet, so  liegen  auch  hierfür  keine  genügend  sicheren  Anhaltspunkte 
vor     Hier  beginnt  das  Rätsel  der  Homosexualität.  Wenigstens  für 
mich  ist  es  ein  solches.    Meine  Theorie  soll  nur  die  Tatsache  und  d°n 
wahrscheinlichen    physiologischen    Zusammenhang    der    Homosexualität 
besser  und   vor  allem  naturwissenschaftlich   richtiger  erklären  als   die 
früheren  Theorien.     Über    die   letzte    Ursache    des   relativ 
Hufigen  Vorkommens  der  Homosexualität  als  einer 
originären     Erscheinung    vermag    auch     sie     nichts 
auszusage  n." 

„Ich  vermesse  mich  nicht,  in  die  letzten  Gründe  alles  Seins  und 
Geschehens  eindringen  zu  können.  Es  bleibt  hier  ein  Rätsel 
z u  1  ö s an.  Aber  vom  Standpunkte  der  Kultur  und  der  Fortpflanzung 
ist  die  Homosexualität  eine  sinn-  und  zwecklose  dysteleologische  Er" 
scheinung,  wie  manches  andere  „Naturprodukt",  z.  B.  der  menschliche 
tfünddarm.  Ich  habe  bereits  in  einem  früheren  Kapitel  ausgeführt,  daß 
che  Kultur  eine  immer  schärfere  sexuelle  Differenzierung  herbeigeführt 
hat,  daß  die  Antithese  „Mann"  und  „Weib"  eine  immer  deutlichere 
geworden  ist.  Die  Scheidung  der  Geschlechter  ist  mehr  eine  Kultur- 
als  eine  Naturtatsache.  Alle  sexuelle  Indifferenz,  alle  geschlechtlichen 
„Übergänge  sind  primitiven  Charakters,  mit  Recht  läßt  Eduard 
o.  Mayer  die  Homosexualität  in  der  Urzeit  des  Menschengeschlechtes 
viel  weiter  verbreitet  sein  als  heute,  ja  als  der  heterosexuellen  Liebe 
ebenbürtig  auftreten.  Die  Kultur  hat  mittelst  der  Vererbung,  An- 
passung und  Differenzierung  die  gleichgeschlechtlichen  Triebe  immer 
mehr  eingeschränkt."  (Bloch,  1.  c.  S.  590.) 

Zu  dieser  neuen  Theorie  der  Homosexualität  habe  ich  zu  be- 
merken: Es  ist  nicht  rieht  ig, '.daß  sich  bei  den  Homo- 
sexuellen vor  der  Pubertät  die  eindeutige  klare 
bestimmte    Richtung    auf    das    eigene    Geschlecht 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.         157 

und  nur  auf  das  eigene  Geschlecht  zeigt.  Richtig  ist, 
daß  die  Homosexuellen,  wie  alle  Menschen,  vor  der  Pubertät  eine  bi- 
sexuelle Periode  (das  undifferenzierte  Stadium  von  Max  Dessoir)  auf- 
zuweisen haben.  Sie  haben  aber  die  heterosexuellen  Erlebnisse  ver- 
gessen. Richtig  ist,  daß  eine  kritische  Theorie  der  Homosexualität 
auch  die  extremen  .Fälle  erklären  muß,  gerade  auch  die  männliche 
Homosexualität  bei  völliger  Virilität  und  die  weibliche  Homosexualität 
bei  vollkommener  Weiblichkeit.  Diese  wird  aber  durch  die  Theorie 
Hir schfelds  und  Blochs  nicht  erklärt.  Ebenso  richtig  ist  der  dritte 
Punkt.  Am  Gehirn  und  an  den  Keimdrüsen  kann  es  nicht  liegen.  Die 
chemischen  Einflüsse  sind  möglich,  aber  schwer  zu  beweisen.  Auf  die 
Forschungen  Steinachs  werde  ich  noch  zu  sprechen  kommen.  Sie  be- 
weisen, was  ich  nie  geleugnet  habe:  Die  Bedeutung  der  inneren  Se- 
kretion. Aber  gerade  Männer  mit  normaler  männlicher  "„Pubertäts- 
drüse" fühlen  weiblich  und  umgekehrt. 

Nun  liegt  das  Verwirrende  des  Problems  offenbar  darin,  daß  man 
versuchte,  alle  Fälle  von  Homosexualität  nach  einem  einzigen  Schema 
zu  erklären.  Es  gibt  aber  offenbar  verschiedene  Wege,  die  zur  Homo- 
sexualität führen  und  diese  müssen  wir  alle  zu  erforschen  trachten. 
Daß  die  Keimdrüsen  bei  der  Homosexualität  eine  Rolle  spielen,  scheint 
mir  sehr  wahrscheinlich.  Wir  können  aber  diese  Zusammenhänge  nur 
vermuten  und  nicht  beweisen.  Was  ich  jedoch  an  meinem  Material  be- 
weisen kann,  das  sind  die  seelischen  Zusammenhänge. 

Wir  dürfen  auch  nicht  vergessen,  daß  nicht  nur  die  Physis  die 
Seele  beeinflußt,  sondern  daß  auch  das  Gegenteil  vorkommt:  Die 
Psyche  bildet  den  Körper  nach  ihren  Einstellungen.  Wir  merken,  daß 
der  Künstler  eine  andere  Physiognomie  erhält  als  der  Handwerker,  der 
Arzt  eine  andere  als  der  Advokat.  Das  Seelische  modelliert  auch  die 
Physis.  Ein  Mann,  der  sich  als  Weib  fühlt  und  ein  Weib  sein  möchte, 
wird  unwillkürlich  den  Gang  der  Frauen  annehmen  und  alles  Weib- 
liche imitieren.  Aber  im  Laufe  der  Jahre  wird  er  auch  weiblich  aus- 
sehen. Vielleicht  —  und  das  ist  meine  Überzeugung  —  geht  diese 
Umformung  auf  dem  Wege  der  Keimdrüsen  vor  sich.  Das  können  wir 
uns  vorstellen,  es  geht  aber  wieder  in  das  Gebiet  der  Hypothese,  die 
ich  vermeiden  möchte. 

Was  alle  Autoren  vollkommen  vernachlässigen,  ist  die  gewaltige 
Kraft  psychischer  Faktoren.  Es  mag  dem  Anhänger  mechanistischer 
Theorien  unwahrscheinlich  klingen.  Aber  die  plastische,  den  Organismus 
umbildende  Kraft  der  Wünsche  wird  leider  von  allen  Ärzten  unter- 
schätzt. Der  Wunsch,  ein  Mann  zu  sein,  kann  Knaben  männlich  machen; 
der  Wunsch,  ein  Kind  zu  bleiben,  verhindert  die  weitere  Entwicklung 
zum  Erwachsenen;    der  Wunsch,   ein  Weib  zu  sein,  macht  weiblich. 


158        >  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Wer  die  Forschungen  Pawlows  über  den  „psychischen  Zündsaft"  kennt, 
muß  auch  annehmen,  daß  bestimmte  Wünsche  irgend  einen  Einfluß 
auf  die  Keimdrüsen  ausüben  können.  Sicher  sind  sie  imstande,  das 
Wesen,  das  Schaffen,  die  Bewegungen,  die  Züge  des  Individuums  zu 
beeinflussen. 

Wenn  ein  Knabe  sich  wie  ein  Mädchen  benimmt,  so  muß  es  nicht 
eine  weibliche  Anlage  sein.  Es  kann  schon  die  Identifizierung  mit  der 
Mutter  oder  mit  der  Schwester  bedeuten. 

Wie  deutlich  spricht  eine  Mitteilung,  die  ich  dem  Buche  Hirsch- 
felds  entnehme! 

Eine  homosexuelle  Dame  schreibt:  „Auf  dem  Lande  geboren,  wo 
mein  Vater  einen  großen  Landbesitz  hatte,  bin  ich  bis   zu  meinem 
14.  Jahre  dort  erzogen.   Ich  war  die  Jüngste  von  meinen  Geschwistern 
Mein  ältester  Bruder  hatte  etwas  Mädchenhaftes  und  war  mehr  der 
Liebling  meiner  Mutter  und  wenig  nach  dem  Sinn  des  Vaters,  dessen 
Liebling  wieder  meine  älteste  Schwester  war.    Ich  bin  das  ganze 
Ebenbild  meines  Vaters  in  allen  Charaktereigenschaften  so- 
wohl, als  in  meiner  sinnlichen  Veranlagung.    In  späteren  Jahren  hat 
mein  Vater  oft  gesagt:  „Bei  dir  und  Ludwig  (unserem  ältesten  Bruder) 
hat  die  Natur  sich  geirrt.    Du  hättest  ein  Junge  werden  müssen  und 
Ludwig  ein  Mädchen."  Dabei  bin  ich  gewiß,  daß  mein  Vater  von  Homo- 
sexualität keine  Ahnung  hatte  und  daß  auch  mein  Bruder  nicht  homo- 
sexuell war.    Bei  mir  zeigte  sich  meine  Veranlagung  schon  als  Kind, 
denn  mein  sehnsüchtiger  Wunsch  war  es,  ein  Junge  zu 
sein.   Ich  zog  mir  als  zwei-  oder  dreijähriges  Kind  die  Westen  meines 
Vaters  an,  setzte  mir  dessen  Mütze  auf,  nahm  einen  Spazierstock  und 
stolzierte  so  auf  dem  Hofe  herum."   (Hirschfeld,  1.  c.  S.  43.) 

Wir  sehen  ja,  daß  dieses  Mädchen  sich  einfach  mit  ihrem  Vater 
identifizierte!    Sie  wollte  eben  ein  Mann  wie  der  Vater  sein! 

Ebenso  kann  man  die  Beobachtungen  von  Ulrichs1)  auffassen: 
„Der  Urning  zeigt  als  Kind  ganz  unverkennbaren  Hang  zu  mädchen- 
haften Beschäftigungen,  zum  Umgang  mit  Mädchen,  zum  Spielen  mit 
Madchenspielzeug,  namentlich  mit  Puppen.  Wie  sehr  beklagt  ein  solches 
Kind,  daß  es-  nicht  Knabensitte  ist,  mit  Puppen  zu  spielen,  daß  der 
Weihnachtsmann  nicht  auch  ihm  Puppen  bringt  und  daß  man  ihm  mit 
den  Puppen  seiner  Schwester  zu  spielen  verbietet!  Solches  Kind  zeigt 
Wohlgefallen  am  Nähen,  Stricken,  Häkeln,  an  den  weich  und  sanft 
anzufühlenden  Kleidern  der  Mädchen,  die  es  am  liebsten  selbst  tragen 
möchte,  an  farbigen  seidenen  Bändern  und  Tüchern,  von  denen  es  sich 
gern  einzelne  Stücke  aufbewahrt.  Den  Umgang  mit  Knaben,  deren  Be- 
schäftigungen, deren  Spiele  scheut  es.  Das  Steckenpferd  ist  ihm  gleich- 
gültig.   Am  Soldatenspielen,  dem  liebsten  Zeitvertreib  der  Knaben,  hat 


')  Ulrichs,  Inclusa,  S.27ff. 


, 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.         159 

es  keinen  Gefallen.  Es  flieht  der  Knaben  Raufereien,  deren  Schneeball- 
werfen. Am  Ballspiel  findet  es  wohl  Gefallen,  aber  nur  mit  Mädchen. 
Auch  wirft  es  den  Ball  mit  der  zarten  und  schwächlichen  Armstellung 
der  Mädchen,  nicht  mit  dem  kräftigen  Armgriff  des  Knaben.  Jeder, 
welcher  einen  Urning  als  Knaben  beobachten  konnte  und  mit  einiger 
Aufmerksamkeit  wirklich  beobachtete,  wird  dies  bestätigen  oder  doch 
ganz  ähnliches.  Sollte  das  alles  Verstellung  sein?  Die  geschilderten 
Eigentümlichkeiten  habe  ich  an  mir  persönlich  schon  längst  nicht  nur 
gekannt,  sondern  sie  sind  mir  auch  stets  auffallend  gewesen,  ohne  daß 
ich  jedoch  gerade  etwas  Weibliches  in  ihnen  erkannt  hätte.  Im  Jahre  1854 
teilte  ich  dieselben  auch  einem  meiner  Verwandten  mit,  als  etwas  mir 
Auffallendes,  was  wohl  mit  meiner  geschlechtlichen  Natur  zusammen- 
hängen möge.  Weil  dieser  jedoch  mir  diesen  Gedanken  ausredete,  so 
ließ  ich  ihn  fallen.  Erst  1862  habe  ich  ihn  wieder  aufgegriffen:  weil 
mir  nämlich  Gelegenheit  ward,  auch  andere  Urninge  zu  beobachten  und 
ich  den  weiblichen  Habitus  merkwürdigerweise  bei  allen  sich  wiederholen 
sah,  wenn  auch  verlierend  in  den  einzelnen  Zügen.  Auch  bei  den  Weibern 
variiert  ja  der  weibliche  Habitus  in  den  einzelnen  Zügen.  Über  mich 
selbst,  als  Kind  von  10  bis  12  Jahren,  folgendes:  Wie  oft  seufzte  meine 
gute  Mutter:  „Karl,  du  bist  nicht  so,  wie  andere  Jungen!"  Wie  oft 
sagte  sie  warnend:  „Wenn  du  nicht  anders  wirst,  wirst  du  ein  Sonder- 
ling." (Hirschfeld,  1.  c.  S.  117.) 

Was  besagen  diese  feinen  Beobachtungen?  Wer  die  spielerischen 
Charaktere  der  Kinder  kennt,  ihre  früh  auf  ein  Ziel  gerichtete  Psyche, 
der  muß  es  sich  gestehen:  Solches  Verhalten  kann  schon  durch  einen 
Wunsch  beeinflußt  sein! 

Nein  —  alle  diese  Beobachtungen  beweisen  nicht  das  Angeboren- 
sein der  konträren  Sexualempfindung.  Wenn  Hirschfeld  ausführt  — 
„Treffend  wird  in  diesen  Berichten  die  mangelnde  Eitelkeit  urnischer 
Mädchen  hervorgehoben.  Nicht  ohne  Grund  sagt  ein  feiner  Kenner 
der  urnischen  Psyche:  „Auf  ein  junges  Mädchen,  welches  bei  einem 
Spiegel  achtlos,  ohne  hineinzusehen,  vorübergehen  kann,  wenn  es  sich 
ankleidet,  auf  einen  Knaben,  der  mit  großem  Vergnügen  immer  wieder 
zu  demselben  zurückkehrt,  muß  man  achthaben,  denn  beide  verraten 
oft  hierdurch  frühzeitig  ihre  urnische  Natur."  (Hirschfeld,  1.  c.  S.  119.) 
—  so  sehe  ich  darin  nichts  als  das  Bestreben,  sich  von  den  anderen 
Genossen  zu  differenzieren. 

Ich  komme  endlich  zu  meiner  Theorie  der  Homosexualität,  die 
ich  mir  in  Anlehnung  an  die  Ergebnisse  der  Psychanalyse  und  im 
Ausbau  der  Lehren  Freude  gebildet  habe. 

Alle  Menschen  sind  ursprünglich  bisexuell 
veranlagt.  Von  dieser  Regel  gibt  es  keine  Aus- 
nahme. Bei  dem  normalen  Menschen  zeigt  sich 
bis  zu  der  Pubertät  eine  deutliche  bisexuelle 
Periode.   Der  Heterosexuelle  verdrängt  dann  seine 


160 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


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Homosexualität.     Er    sublimiert    auch    einen    Teil 
der    homosexuellen    Kräfte    in    Freundschaft,    Na- 
tionalismus,  soziale  Bestrebungen,   Vereinswesen 
usw.    Mißlingt  ihm  diese  Sublimierung,   so   wird  er 
neurotisch.     Da   jeder   Mensch    seine  Homosexuali- 
tät   nicht    gänzlich    bewältigen    kann,    so    trägt    er 
dadurch    schon    die    Disposition    zur    Neurose    in 
sich.    Je  stärker  die  Verdrängung  ist,  desto  größer 
dann   die  neurotische   Reaktion,    die  bis  zur   Para- 
noia führen  kann.    (Freuds  Paranoiatheorie.)   Wird 
aber  die  H  e  t  er  o  s  exu  ali  t  ä  t  verdrängt,  so  entsteht 
die    Homosexualität.     Beim    Homosexuellen    wirkt 
wieder      die      verdrängte      und      nicht      bewältigte 
Heterosexualität    als    Disposition    zur     Neurose 
Je  sicherer  die  Heterosexualität  sublimiert  wird, 
desto  mehr  kann  der  Homosexuelle  das  Bild  eines 
normalen    gesunden    Menschen    bieten.     Er    gleicht 
dann  dem  normalen  Heterosexuellen.    Aber  gerade 
wie  der  Nermal  heterosexuelle  zeigt   der   „Manne: 
held"    eine    permanente    latente    Disposition    zu 
Neurose. 

Bei    dem    Normal  homosexuellen    scheint    aber 
dieser  Sublimierungsprozeß  schwerer   zu  sein  als 
bei     den     Normalheterosexuellen.       Deshalb     sind 
diese  Typen  sehr   selten  und  eine  genaue   Analyse 
weist     immer     typische     neurotische     Reaktionen 
auf.      Die     neurotischen     Reaktionen     der     Abwehr 
(Freud)     sind    Angst,    Scham,    Ekel    und    Haß.     Der 
Heterosexuelle  hat  vor  homosexuellen  Akten  Ekel. 
Damit  beweist  er  die  affektbetonte  negative  Ein- 
stellung.    Denn    Ekel    ist    ja    nur    eine    negativ    be- 
tonte    Begierde.      Der     Homosexuelle     hat     diesen 
Ekel     vor     dem     Weibe,     der     ihn     zum     Neurotiker 
stempelt.     (Oder    e.r    haßt    die    Frauen!)     Denn    dem 
Normalhomosexuellen   —    wenn    es     einen     solchen 
geben    würde  -müßte    das    Weib    indifferent    sein. 
Aus     diesen    Ausführungen    ergibt     sich,     daß     der 
gesunde    Mensch    sich    bisexuell    betätigen   müßte. 
Wir  kennen  nur  ein  Volk,  bei  dem  die  Bisexualität  staatlich  an- 
erkannt war:    die  Griechen.   Wir  müssen  aber  gestehen,   daß   dieses 
Volk  die  höchste    Stufe  künstlerischer  und  physischer  Leistung   er- 
klommen hat.  Wir  werden  zu  untersuchen  haben,  warum  die  Homo- 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        \Q\ 

Sexualität  so  verpönt  wurde  und  weshalb  das  Beispiel  der  Griechen 
trotz  Anerkennung  ihrer  ungeheuren  Leistungen  auf  kulturellem  und 
ethischem  Gebiete  keine  Nachahmung  gefunden  hat.  Davon  später. 
Wir  kommen  also  zu  dem  Schlüsse :  Es  gibt  keine  ange- 
borene Homosexualität  und  keine  angeborene 
Heterosexualität.  Es  gibt  nur  eine  Bisexualitä t.1) 
Monosexualität  ist  schon  die  Disposition  zur 
Neurose,  in  vielen  Fällen  schon  die  Neurose  selbst. 
Diese  Theorie  ist  nicht  neu.  Neu  ist  nur  ihre  Verbindung  mit 
der  Neurose.  Das  Verdienst,  sie  zuerst  ausgesprochen  zu  haben,  ge- 
bührt Kiernan  (Medical  Standard,  1888) .  Kiernan  geht  von  der  Tat- 
sache aus,  daß  alle  niederen  Tiere  bisexuell  sind,  und  faßt  die  Homo- 
sexualität als  Rückschlagserscheinung  in  die  einstigen 
hermaphroditischen  Formen  des  Tierreiches  auf.  Wir  müssen  uns  die 
Theorie  merken,  weil  ich  auf  sie  bei  Besprechung  der  Disposition  zur 
Neurose  noch  zurückkommen  werde.  Auch  Chevalier 2)  (Inversion 
sexuelle,  Paris  1893)  geht  von  der  ursprünglichen  Bisexualität  des 
Fötus  aus.  Es  wären  hier  noch  zwei  Forscher  zu  erwähnen:  Lombroso, 
dem  das  Verdienst  gebührt,  auf  die  Rückschlagserschei- 
nungen (Atavismus)  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  und  Binet,  der 
die  Homosexualität  sich  so  entstanden  denkt,  daß  der  ur- 
sprünglich undifferenzierte  'Geschlechtstrieb 
(also    der    bisexuelle    Trieb)    durch    ein    frühes    E  r- 


1)  Daß  Homosexualität  nichts  mit  der  organischen  Bisexualität  zu  tun  hat, 
betont  üirschfeld:  „Eine  Wahrnehmung  zu  konstatieren  scheint  mir  nicht  unwesent- 
lich: Die  stärksten  Annäherungen  an  den  entgegengesetzten  Geschlechtstypus, 
wie  beispielsweise  beim  Weibe  Klitorishypertrophie  und  Vollbart,  beim  Manne  Hypo- 
8padia  penisscrotalis  und  Gynäkomastie,  sind  häufiger  mit  Heterosexualität  als 
mit  Homosexualität  verbunden." 

2)  Ich  habe  das  Werk  von  Chevalier  nicht  auftreiben  können.  Ich  zitiere 
Krafft-Ebing:  „Auch  Chevalier  (op.  cit.  S.  408)  geht  von  der  ursprünglichen  Bisexualität 
im  Tierreich  und  von  der  im  menschlichen  Fötus  ursprünglich  vorhandenen  bisexuellen 
Veranlagung  aus.  Die  Differenzierung  der  Geschlechter  mit  markanten  körperlichen 
und  psychischen  Geschlcchtscharakteren  ist  ihm  ein  Resultat  unendlicher  Evolutions- 
vorgänge. Die  seelisch-körperliche  geschlechtliche  Differenzierung  geht  der  Höhe  evolutiver 
Vorgänge  parallel.  Auch  das  Einzelwesen  hat  diese  Evolutionsstufen  durchzumachen 
—  es  ist  ursprünglich  bisexuell,  aber  im  Kampf  der  männlichen  und  weiblichen  Streit- 
kräfte wird  die  eine  besiegt  und  es  entwickelt  sich,  dem  Typus  der  heutigen  Evolution 
entsprechend,  ein  monosexuales  Individuum.  Aber  Spuren  der  unterdrückten  Sexualität 
erhalten  sich.  Unter  gewissen  Umständen  können  diese  „caracteres  sexuels  latents" 
Darwins  Bedeutung  gewinnen,  d.  h.  Erscheinungen  konträrer  Sexualität  hervorrufen. 
Chevalier  faßt  diese  aber  mit  Recht  nicht  als  Rückschlag  (Atavismus)  im 
Sinne  Lombrosos  u.  a.,  sondern  mit  Lacassagne  als  Störung  in  der  Evolution  zur 
heutigen  Höhe  auf"  (I.e.). 

Stokol,  Störungen  des  Trieb-  nnd  Affektlebcns.    )  f.   2.  Aufl.  11 


162  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

lebnis  in  Assoziation  zu  einer  Person  des  gleichen 
Geschlechts  gebracht  werde.  Also  die  Theorie  des  in- 
fantilen Traumas,  das  bei  Freud  eine  so  große  Rolle  spielt.  Wir 
werden  einige  Fälle  kennen  lernen,  in  denen  die  latente  Wirkung  in- 
fantiler Erlebnisse  deutlich  sichtbar  wird. 

Hüten  müssen  wir  uns  aber,  diese  uns  berichteten  Traumen  immer 
als  wahr  anzunehmen.  Einige  sind  in  die  Lebensgeschichte  hinein- 
gezeichnet und  erst  nachträglich  zur  Bedeutung  gelangt.  Doch  nichts 
ist  in  der  Psychologie  gefährlicher  als  Einseitigkeit.  Gerade  in  der 
Ätiologie  der  Homosexualität  scheint  sich  mir  die  Bedeutung  infantiler 
traumatischer  Erlebnisse  hie  und  da  zu  bestätigen.  Krafft-Ebing  meint, 
daß  die  Theorie  von  Binet  einer  eingehenden  Kritik  nicht  standhält 
und  äußert  sich  sehr  geringschätzig  über  die  Bedeutung  psychologischer 
Zusammenhänge:  „Psychologische  Kräfte  sind  zur  Erklärung  einer 
solchen  schwer  degenerativen  Erscheinung  nicht  ausreichend."  Diese 
Unterschätzung  psychischer  Einflüsse  war  in  jener  Zeit  nicht  wunder- 
lich, da  man  alles  mit  Heredität  und  Belastung  erklären  wollte.  Ehe 
ich  versuche,  die  psychologische  Theorie  der  Homosexualität  aus- 
einanderzusetzen, muß  ich  noch  die  Zusammenhänge  zwischen  Homo- 
sexualität und  Neurose  besprechen.  Wir  haben  gesehen,  daß  alle 
Forscher  zugeben,  daß  diese  Beziehungen  in  der  Tat  bestehen.  Die 
Frage  ist  nur:  Wird  der  Homosexuelle  neurotisch,  weil  er  fürchtet, 
mit  dem  Strafgesetz  in  Konflikt  zu  kommen,  weil  er  seine  unglück- 
selige Veranlagung  als  naturwidrig  empfindet  (um  in  seiner  Sprache 
zu  sprechen),  also  infolge  seiner  Homosexualität,  oder  wird  er  homo- 
sexuell, weil  er  neurotisch  ist? 

Das  führt  uns  natürlich  zur  Begriffsbestimmung  der  Neurose.  Was 
ist  eine  Neurose  und  wen  nennen  wir  neurotisch?  Neurotisch  nenne  ich 
den  Menschen,  welchem  die  Bewältigung  der  von  ihm  als  unmoralisch 
gewerteten  asozialen  Triebe  nicht  gelungen  ist.  Unter  asozialen  Trieben 
verstehe  ich  alle  Triebe,  welche  von  der  Gesellschaft  als  kulturwidrig 
verpönt  werden.  Das  zeigt  uns  schon,  daß  die  Neurose  in  allen  Ländern 
verschieden  sein  muß.  Der  eine  verdrängt  nur  die  normale  Form  der 
Sexualität,  weil  ihre  Betätigung  schon  als  unmoralisch  gewertet  wird. 
(Beispiel:  das  Mädchen  aus  gutem  Hause  in  der  guten  Gesellschaft,  das 
keusch  bleiben  muß.)  Der  andere  kämpft  mit  Trieben,  welche  die 
Gesellschaft  als  krankhaft  bezeichnet.  (Beispiel:  die  Schauspielerin,  die 
viele  Verhältnisse  hat,  aber  die  homosexuellen  Triebe  verdrängen  muß.) 
Ebenso  können  kriminelle  Triebe  beim  Zustandekommen  einer  Neurose 
eine  Rolle  spielen.  Die  Neurose  ist  also  entstanden  durch  den  Kampf 
zwischen  Trieb  und  Hemmung.  Wir  sehen  daher  zwei  Wege  zur  Ent- 
stehung der  Neurose:    Ein  starker  Trieb,  der  natürlich  immer  wieder 


I 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  —  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        Xfig 

versuchen  wird,  die  Hemmungen  zu  überwinden,  und  starke  Hemmungen, 
welche  selbst  bei  starken  Trieben  die  Reduktion  der  Sexualforderung 
auf  das  geringste  Maß  erzwingen  werden. 

Die  Disposition  der  Neurose  hängt  also  auf  das  innigste  mit  dem 
Triebleben  zusammen.  Die  Entwicklung  der  Menschheit  verlangt  aber 
immer  wieder  das  Opfern  gewisser  Triebe  und  jeder  Fortschritt  der 
Ethik  und  Kultur  bedeutet  ein  Stück  Verlust  des  Trieblebens.  Die 
Gesetze  sind  der  Schutz  der  Gesellschaft  gegen  die  Triebe  ihrer 
Mitglieder.  Sie  duldet  von  diesen  Trieben  nur  ein  gewisses  Maß,  das 
immer  geringer  wird,  und  erklärt  alle  anderen  Triebe  als  asozial.  Die 
Entwicklung  der  Menschheit  würde  auf  dieser  Richtlinie  einen  Zustand 
erreichen,  auf  dem  das  Triebleben  schließlich  ganz  in  den  Dienst  der 
Gesellschaft  gestellt  wird:  die  Domestizierung  des  Trieblebens.  Es  ist 
dies  der  seit  Jahrtausenden  tobende  Kampf  zwischen  Gehirn  und 
Rückenmark.  Wir  würden  das  Resultat  dieses  Kampfes  erst  beurteilen 
können,  wenn  es  uns  möglich  wäre,  einen  Urmenschen  mit  einem  Kultur- 
menschen vergleichen  zu  können.  Welche  gewaltige  Fortschritte  haben 
wir  in  der  Beherrschung  des  Trieblebens  gemacht!  Die  Gesellschaft 
geht  aber  noch  einen  Schritt  weiter.  Sie  sorgt  dafür,  daß  sich  Menschen 
mit  einem  abnormen  Triebleben  nicht  weiter  fortpflanzen  können. 
Verbrecher  werden  unschädlich  gemacht,  der  asoziale  Mensch  findet 
keine  Lebensbedingung  und  muß  zugrunde  gehen. 

Aber  —  wie  ich  schon  in  meinem  Buche  „Die  Träume  der  Dichter" 
sagte  —  die  Schöpferkraft  der  Natur  weicht  nicht  den  sozialen  For- 
derungen der  Menschen.  Der  Kampf  zwischen  Natur  und  Kultur  tobt 
unaufhaltsam  weiter  und  das  Resultat  ist  eben  die  Neurose.  Allt 
Paraphilien  entstehen  als  ein  Kompromiß  zwischen  Trieb  und  Hemmung. 

Ich  muß  hier  auf  meine  Theorie  der  Neurose  zurückkommen,  wie 
ich  sie  zum  ersten  Male  in  meinem  Buche  „Die  Träume  der  Dichter"1) 
ausgeführt  habe.  Der  Neurotiker  ist  eine  Rückschlags- 
erscheinung. Er  repräsentiert  eigentlich  einen  überwundenen 
Typus  Mensch.  Er  muß  an  sich  den  Kampf  durchmachen,  den  die  ganze 
Menschheit  bereits  durchgemacht  hat.  Eine  Ontogenese  der  Kultur! 
Immer  wenn  die  Natur  etwas  Großes,  Gewaltiges,  Erhabenes  schaffen 
will,  greift  sie  weit  zurück  in  das  Reservoir  ihrer  Vergangenheit, 
Rückschlagserscheinungen  zeichnen  sich  durch  ein  starkes  Triebleben 
aus.  Das  haben  der  Neurotiker,  das  Genie  und  der  Verbrecher 
gemeinsam.  Dem  Menschen  mit  überstarken  Trieben  (dem  Über- 
menschen, der  eigentlich  ein  Untermensch  ist)  eröffnen  sich  drei  Wege: 


')  Verlag  J.  F.  Bergmann,  Wieebaden  1913. 

11* 


164  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Er  sublimiert  seinen  Zerstörungstrieb,  seine  kriminellen  Anlagen,  seine 
asoziale  Einstellung  vergangener  Epochen  und  wird  ein  Schaffender 
(Dichter,  Maler,  Bildhauer,  Musiker,  Prophet,  Erfinder  usw.);  oder  er 
lebt  seine  Triebe  ungehemmt  aus,  dann  wird  er  ein  Verbrecher;  oder  ein 
Teil  der  Sublimierung  mißlingt,  er  wird  ein  Neurotiker. 

So  berührt  sich  meine  Theorie  der  Homosexualität  mit  der  von 
Lombroso.  Der  Homosexuelle  ist  in  erster  Linie  eine  Rückschlags- 
erschemung.  Er  zeigt  ein  früh  entwickeltes  und  in  die  Kultur  nicht 
hineinpassendes  Triebleben;  er  steht  aber  auch  der  ursprünglich 
bisexuellen  Anlage  des  Menschen  biologisch  näher  als  der  Normal- 
mensch, der  seine  Zeit  repräsentiert.    Dieser  Konflikt  äußert  sich  in 

^S0?  *°  ^  d6r  NeUFOtiker  dann  seiner  Zeit  voraus- 
eilt und  Schopf  er  der  Zukunft  wird.   Ich  muß  meine  Leser  bitten,  das 

Nähere  in  meinem  erwähnten  Werke  nachzulesen.  Was  ich  für  unsere 

Untersuchungen  brauche,  habe  ich  in  Kürze  mitgeteilt. 

*lCn  rfDaSi  GTie'A df  KÜnStler'  dGr  Verbrecher  ™d  der  Neurotiker  zeigen 
also  die  gleiche  Anlage:  das  überreiche  Triebleben.  Der  Verbrecher  lebt 
seine  Triebe  aus,  der  Künstler  erledigt  sie  in  seinen  Werken  (daß 
Shakespeare  so  viele  Mörder  dichten  konnte,  rettete  ihn  davor    ein 

i fnlLrr  TlV/  •  fgt  Hebbel)  **  dem  Neur°tiker  werden  sie' zum 
unlöslichen  Konflikte.  Er  ist  Verbrecher  ohne  den  Mut  zum  Verbrecher 

Lr  ist  der  Don  Juan  der  Phantasie,  der  Marquis  de  Sade  der  Tagträume' 
der  Jack  the  Ripper,  ohne  es  zu  wissen. 

Von  dieser  Voraussetzung  ausgehend,  werden  wir  erwarten  daß 
sich  bei  Dichtern,  Künstlern  und  Neurotikern  das  Triebleben  und 
besonders  der  Sexualtrieb  sehr  früh  zeigen  werden.  In  der  Tat'  Von 
den  Künstlern  ist  diese  Erscheinung  bekannt1),  bei  den  Verbrechern 
wird  sie  als  typische  Erscheinung  beschrieben  und  beim  Neurotiker 
Haben  sie  die  Analytiker  immer  wieder  aufweisen  können. 

Nun  werden  wir  verstehen,  warum  alle  Forscher  angeben,  bei  den 
Homosexuellen  sei  der  Geschlechtstrieb  abnorm  früh  aufgetreten  Man 
verstehe  mich  wohl.  Wir  verdanken  der  Analyse  die  Tatsache,  daß  bei 
allen  Menschen  der  Sexualtrieb  schon  in  der  frühesten  Kindheit  auftritt, 
und  ich  habe  noch  in  meiner  vorfreudschen  Periode  in  der  Studie- 
„Koitus  im  Kindesalter"  auf  diese  Tatsachen  hingewiesen.  Doch  die 
meisten  Menschen  verdrängen  diese  infantilen  Erinnerungen  und  wissen 
nichte  mehr  von  den  Regungen  der  Kindheit.  Der  Homosexuelle  weiß  es 
immer  und  das  beweist  schon  die  Tatsache  seiner  Frühreife.  Er  wußte 
schon  als  Kind,  daß  es  sich  um  verbotene  sexuelle  Dinge  handelte.   Er 

*)  Vgl.  „Dichtung  und  Neurose".  J.  p.  Bergmann. 


J 


Allgemeines.  —  Theoretisches.  -  Meine  Theorie  der  Homosexualität.        165 

hat  einzelne  Erlebnisse  aus  seiner  Fülle  der  Erinnerungen  verdrängt. 
Die  Tatsache  seiner  Frühreife  konnte  nicht  vergessen  werden.  Aber  alle 
in  sein  System  nicht  passenden  Erinnerungen  scheinen  ausgelöscht  oder 
mit  blassen  Farben  eingezeichnet.  Und  das  ist  das  Entscheidende. 
Die  sexuelle  Frühreife  ist  eine  Tatsache,  welche 
in  allen  Krankengeschichten  und  Lebensbeichten 
derHomosexuellenbetontwird.  Und  diese  sexuelle  Früh- 
reife erklärt  uns  auch,  daß  die  Vorgänge,  welche  zur  Verdrängung 
der  Heterosexualität  führten,  oft  weit  zurückliegen  und  sich  der  Er- 
innerung hartnäckig  entziehen.  So  betont  Krafft-Ebing :  „Das  Ge- 
schlechtsleben derartig  organisierter  Individuen 
macht  in  der  Regel  sich  abnorm  früh  und  in  der 
Folge  abnorm  stark  geltend.  Nicht  selten  bietet  es  noch 
anderweitige  perverse  Erscheinungen,  außer  der  an  und  für  sich  durch 
die  eigenartige  Geschlechtsempfindung  bedingten  sexuellen  Richtung." 

Ferner  an  derselben  Stelle:  „Es  bestehen  Neurosen  (Hysterie, 
Neurasthenie,  epileptoide  Zustände  usw.) .  Fast  immer  ist  temporär  oder 
dauernd  Neurasthenie  nachweisbar   (S.  259) ." 

Wir  sehen  jetzt,  daß  diese  beiden  Zustände  zusammengehören. 
Das  Individuum  wird  neurotisch,  weil  es  die  abnorm  starken  Triebe 
nicht  bewältigen  kann.  Auch  die  Epilepsie  dient  der  Erledigung 
abnormer  Triebe  im  Schlafzustande  wie  die  große  Hysterie.1)  Deshalb 
muß  auch  die  Homosexualität  Beziehungen  zu  der  Epilepsie  haben  und 
wir  werden  auf  einen  solchen  Fall  noch  genauer  eingehen  können. 

Es  handelt  sich  bei  diesen  Trieben  nicht  allein  um  den  homo- 
sexuellen und  heterosexuellen  Trieb.  Es  handelt  sich  um  sadistische 
Regungen,  um  Mysophilie,  Koprophilie,  Kannibalismus,  Nekrophilie, 
besonders  um  Verknüpfungen  von  sexuellen  und  kriminellen  Trieben. 
Alle  diese  Triebe  müssen  der  Verdrängung  anheimfallen.  Sie  tauchen  in 
der  Neurose  in  grotesken  Verzerrungen,  Verkleinerungen,  Umkehrungen 
und  Übertreibungen  wieder  auf  und  müssen  auch  in  der  homosexuellen 
Neurose  zu  finden  sein.  Die  Beziehungen  von  Sadismus  und  Homo- 
sexualität sind  besonders  interessant  und  werden  in  den  folgenden 
Kapiteln  ausführlich  abgehandelt  werden. 

"Wir  können  uns  die  Entstehung  der  Homosexualität  folgender- 
maßen vorstellen:  Ein  Mensch  mit  abnorm  starkem 
Triebleben  wird  schon  in  früher  Jugend  dazu 
gebracht,  diese  Triebe  mit  Hemmungen  zu  um- 
geben.    Er    wird    aber    auch    durch    das    frühe     Er- 


*)  „Nervöse  Angstzustände."  Die  psychische  Behandlung  der  Epilepsie.  3.  Aufl. 


166        Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität.  Allgemeines.  —  Theoretisches  usw. 


machen  des  Geschlechtstriebes  und  durch  seine 
frühen  Äußerungen  in  Konflikte  gebracht.  Der 
Prozeß  derVerdrängung  und  Sublimierung  dieser 
Triebkräfte  setzt  viel  früher  ein  als  bei  anderen 
Menschen.  Es  kommt  aus  irgend  welchen  Ursache» 
zur  Verdrängung  der  heterosexuellen  Kompo- 
nente und  zum  Ausbau  der  homosexuellen.  Die 
heterosexuellen  Triebe  werden  durch  Ekel,  Haß 
und   Angst   vor   der   Betätigung   geschützt. 

Die  Homosexualität  entsteht  also  aus  einer  Bisexualität  infolge 
bestimmter  Einstellungen,  die  m  eist  in  die  früheste  Kindheit  zurück- 
gehen. Aber  nicht  immer.  Es  können  solche  Umbiegungen  auch  im 
späteren  Alter  vor  sich  gehen.  Warum  und  aus  welchen  Motiven? 
Darüber  wollen  wir  in  den  nächsten  Kapiteln  sprechen. 


Die  Homosexualität. 

IL 


Latente  Homosexualität.  - 
kritische  Alter. 


Masken  der  Homosexualität.  —  Das 
-  Don  Juan  und  Casanova. 

Das  Christentum  gab  dem  Eros  Gift 
zu  trinken:  —  er  starb  zwar  nicht 
daran,  aber  er  entartete  zum  Laster. 

Nietzsche. 

Freud,  der  mit  dem  ganzen  Gewichte  seiner  Autorität  für  die 
bisexuelle  Anlage  der  Homosexuellen  eingetreten  ist,  machte  darauf 
aufmerksam,  daß  wir  uns  die  Verknüpfung  des  Sexualtriebes  mit  dem 
Sexualobjekte  zu  innig  vorgestellt  haben.  Der  Geschlechtstrieb  sei 
ursprünglich  unabhängig  vom  Objekte  und  verdanke  auch  nicht  den 
Reizen  dieser  Objekte  seine  Entstehung.  Er  hat  das  erste  Stadium  des 
Menschen  als  ein  autoerotisches  bezeichnet  und  die  Säuglingsonanie 
beschrieben,  von  der  wir  in  unseren  Ausführungen  über  Onanie 
gesprochen  baben. 

Wir  müssen  uns  die  Entwicklung  der  Sexuaütät  so  vorstellen:  Das 
erste  Stadium  ist  ein  autoerotisches,  aber  es  fehlen  keineswegs  die 
allerotischen  Reize  (Saugen  an  der  Mutterbrust,  Gestreicheltwerden, 
Wiegen  usw.).  Das  Kind  ist  für  alle  Reize  viel  empfänglicher,  und  alle 
vegetativen  Vorgänge  sind  viel  lustbetonter  als  beim  Erwachsenen.  Das 
Sexualleben  ist  autoerotisch,  aber  auch  bisexuell  allerotisch.  Das  Kind 
macht  keinen  Unterschied  bei  seinen  geliebten  Personen.  Alt  und  Jung, 
Mann  oder  Weib  —  das  scheint  ihm  ziemlich  gleich  zu  sein.  Aber  der 
Autoerotismus  beherrscht  das  Sexualleben.  Allmählich  aber  tritt  das 
Autoerotische  hinter  dem  Allerotischen  zurück.  Das  Kind  sucht  die 
Objekte  seiner  Sexualität  zuerst  in  seinem  engen  Kreise.  Wie  die  erste 
autoerotische  Periode  überwunden  werden  muß,  muß  auch  die  normale 
Fixierung  an  die  Familie  überwunden  werden.  (Du  sollst  Vater  und 
Mutter  lassen  und  deinem  Manne  folgen!)  Aber  schon  in  den  ersten 
Lebensjahren  sind  alle  libidinösen  Regungen  deutlich  bisexuell.  Diese 
Bisexualität  hält  gewöhnlich  bis   zu  der  Pubertät  an.    Das   ist  das 


168 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


indifferenzierte  Stadium,  von  dem  auch  Dessoir  spricht.  Dem  gewaltigen 
Ansturm  der  Pubertät  jedoch  hält  die  Bisexualität  nicht  stand.  Aus  dem 
mädchenhaften  Knaben  wird  der  Mann,  aus  dem  knabenhaften  Mädchen 
die  Jungfrau.  Die  sekundären  Geschlechtsmerkmale  drücken  dem 
Menschen  den  Stempel  der  Monosexualität  auf.  Hier  setzt  meistens  der 
Kampf  gegen  die  homosexuellen  Regungen  ein  und  führt  bei  dem  einen 
früher,  -bei  dem  anderen  später  zur  vollständigen  Verdrängung  der- 
selben. (Natürlich  gibt  es  da  auch  Ausnahmen.  Bei  manchen  Menschen 
erhält  sich  die  Bisexualität  ohne  Störung  durch  das  ganze  Leben.) 
Ich  habe  noch  keinen  Menschen  analysiert,  bei 
dem  ich  nicht  die  deutlichen  Zeichen  der  Homo- 
sexualität  in   der   Jugend   konstatieren   konnte. 

Man  kann  überhaupt  beobachten,  daß  die  Neurotiker  sich  auch 

organisch  als  Bisexuelle  erweisen.    Unter  den  neurotischen  Männern 

trifft  man  häufig  Bartlose  oder  Menschen  mit  geringem  Bartwuchs,  von 

rundlichen    weiblichen    Körperformen,    mit    weiblicher    Stimme    oder 

weiblichen  weichen  Gesichtszügen  besonders  um  Nase  und  Mund;   man 

beobachtet  bei  ihnen  kleine  Hände,  kleine  Füße,  einen  auffallend  kleinen 

Penis,  geringe  Behaarung  am  Mons  veneris,  Kryptorchismus,  Hernien. 

Bei  den  neurotischen  Frauen  können  wir  Bartansatz  im  Gesichte,  eine 

flache  Brust,  starke  männliche  Formen,  die  mehr  eckig  sind  als  bei 

normalen  Frauen,  große  plumpe  Hände,  große  Füße,  Störungen  der 

Periode  bis  zur  Amenorrhoe,  infantilen  Uterus,  männlichen  Kehlkopf, 

tiefe  Stimme  konstatieren.  Ich  kann  nicht  behaupten,  daß  dies  immer  der 

Fall  ist.  Ich  habe  hie  und  da  Ausnahmen  gesehen;  ich  glaube  aber,  daß 

eine   genaue   Untersuchung    die   Allgemeinheit    dieser    Behauptung 

besser  stützen  würde. 

Die  -Disposition  zur  Neurose  ist  eben  das 
starke  Triebleben,  das  sich  bisexuell  äußert. 

Nun  gibt  es  ein  Gesetz,  das  ich  das  sexuelle  Grundgesetz  nennen 
möchte.  Jedes  Individuum  trachtet  danach,  in  einem 
Liebesakte  seine  sämtlichen  sexuellen  Trieb- 
richtungen zu  befriedigen.  Jeder  Mensch  sucht 
nach  dem  sexuellen  Ideal,  das  imstande  ist,  alle 
seine     sexuellen   Strömungen    aufzunehmen. 

Das  sexuelle  Ideal  der  Alten  war  offenbar  ein  bisexuelles  Wesen. 
Die  Gottheit  ist  das  durch  ein  Vergrößerungs- 
glas gesehene  erotische  Idealbild.  Die  ersten  Gott- 
heiten waren  immer  bisexuell.  Es  waren  Frauen  mit  einem  Penis  und 
Männer  mit  einem  Busen.  Durch  die  ganze  Menschheit  geht  die  Sehn- 
sucht nach  diesem  bisexuellen  Ideal.  Plato  hat  diese  Sehnsucht  im 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  ^ß9 

Gastmahl    durch    die    bekannten  Worte    des  Aristophanes    trefflich 
ausgedrückt. 

Wir  fühlen  es,  daß  wir  nur  mit  einem  Teile  unserer  sexuellen 
Kraft  arbeiten  und  daß  die  anderen  Teile  brach  liegen  müssen.  Oft 
halten  sich  diese  verschiedenen  sexuellen  Energien  so  die  Wage,  daß 
jede  für  sich  nicht  ausreicht,  die  Mühlen  der  Sexualität  zu  treiben.  Das 
werden  dann  die  Menschen,  welche  scheinbar  einen  geringen  Ge- 
schlechtstrieb zeigen,  wie  Freud  und  Havelock  Ellis  es  von  manchen 
Homosexuellen  behaupten.  Diese  Erscheinung  ist  trügerisch  und  hält 
den  Erfahrungen  der  Analyse  nicht  stand.  Diese  scheinbar  Asexuellen 
schwanken  nur  zwischen  den  verschiedenen  sexuellen  Zielen  hin  und  her 
und  kommen  nie  zu  einer  Aggression,  weil  sie  nicht  imstande  sind, 
größere  sexuelle  Energiemengen  zusammenzufassen.  Ihre  Libido  zer- 
splittert sich  in  autoerotischen  Akten,  in  denen  die  Vorlust  in  kleinsten 
Raten  ausgegeben  wird,  wie  ich  es  bei  den  verschiedenen  Formen  der 
lar vierten  Onanie  beschrieben  habe.     ■ 

Ich  wiederhole:  Seine  ganze  Libido  auf  ein  Objekt  konzentrieren 
zu  können,  ist  das  Ideal  eines  jeden  Menschen.  Das  erklärt  uns,  warum 
der  Homosexuelle  nicht  den  Vollmann  sucht,  wenigstens  in  den 
seltensten  Fällen.  Freud  machte  auf  diesen  Widerspruch  aufmerksam. 
Viele  Homosexuelle  und  gerade  die  Typen  mit  starker  Virilität,  suchen 
nicht  den  Vollmann  als  Ideal,  sondern  das  Weib  im  Manne.  Sie  bevor- 
zugen weibliche  Typen,  Männer  in  Frauenkleidern  (Transvestiten) , 
Männer  mit  weiblichem  Habitus,  aus  welchen  Umständen  die  männliche 
Prostitution  eine  weite  Nutzanwendung  zieht.  Immer  bestreben  sich 
die  männlichen  Prostituierten  durch  Schminke,  Korsett,  Frauenkleider, 
Bartlosigkeit,  durch  Bewegung  und  Sprache  ein  Weib  zu  imitieren. 

Was  der  bewußt  Homosexuelle  offen  sucht,  das  drängt  sich  dem 
latent  Homosexuellen,  als  welchen  wir  den  Neurotiker  und  in  geringerem 
Maße  jeden  Menschen,  der  sich  nur  heterosexuell  betätigt,  bezeichnen, 
in  Bestrebungen  auf,  die  ihm  dunkel  bleiben,  aber  stark  genug  sind,  sich 
durchzusetzen.  Wir  wollen  jetzt  noch  diese  versteckten  Formen  der 
Sexualität  besprechen,  ehe  wir  daran  gehen,  den  Versuch  zu  machen, 
die  Entstehung  der  manifesten  Homosexualität  und  der  ausschließlichen 
Homosexualität  zu  erklären.  Den  Übergang  zu  diesen  Formen  bilden 
eben  die  latent  Homosexuellen,  welche  alle  mit  dem  für  sie  unerledigten 
und  nicht  bewältigten  Problem  der  Bisexualität  kämpfen  und  das 
Kompromiß  suchen,  das  ihnen  eine  zeitweilige  Erledigung  bringt. 

Die  latente  Homosexualität  ist  eine  Tatsache,  welche  die  Analyse 
nicht  entdeckt,  deren  Kenntnis  sie  aber  gewaltig  erweitert  hat.  Je  tiefer 
wir  in  die  psychischen  Mechanismen  der  Neurosen  und  Psychosen 
eindringen,  desto  bedeutsamer  erscheint  uns  die  Wirksamkeit  homo- 


170 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


sexueller  Triebkräfte  Die  Unterschiede  zwischen  meiner  analytischen 
Erforschung  und  der  gebräuchlichen  Anamnese  treten  nirgends  so 
scharf  zutage,  als  bei  den  Angaben  der  Neurotiker  über  Homosexualität. 
Keine  zweite  sexueUe  Triebkomponente  unterliegt  in  diesem  Maße  der 
Verdrängung  und  ist  so  bewußteeinsfremd  geworden.  Ich  bin  mir  über 
die  Ursachen  dieser  Erscheinung  noch  nicht  klar.  Ich  kenne  Menschen 
die  sich  ein  großes  Maß  von  Paraphilie  freigegeben  und  trotzdem  die 
homosexueUe  Komponente  völlig  verdrängt  haben.  So  habe  ich  eine 
Dame  analysiert,  die  eine  ziemlich  ereignisreiche  Dirnenvergangenheit 
hinter  sich  hatte.  Sie  wurde  neurotisch,  weil  sie  die  Homosexualität 
nicht  bewältigen  und  unterdrücken  konnte.  Allerdings  verstand  sie  es 
wie  alle  Neurotiker,  ihre  Homosexualität  in  geschickter  Weise  zu 
maskieren  und  bewußtseinsfremd  zu  machen. 

Dem  Anfänger  wird  es  daher  von  großem  Nutzen  sein,  wenn  er 
alle  che  Masken  kennt,  die  dazu  dienen,  die  Homosexualität  zu  ver- 
decken. Bekanntlich  sind  alle  neurotischen  Symptome  Ergebnisse  eines 
Kompromisses  und  verbergen  einerseits  gerade  so  viel,  als  sie  andrer- 
seits enthüllen,  über  diese  Neigung  zu  Kompromissen,  die  der  Ausdruck 
der  .Spaltung  der  Persönlichkeit  ist,  wäre  eine  eigene  Untersuchung 
anzustellen.    Die  widerstrebendsten  Triebkräfte  werden  berücksichtigt 
und  zu  e  i  n  e  m  Symptom  vereinigt.    Diese  Neigung  zur  Kompromiß- 
bildung  beherrscht  das  Seelenleben  des  Neurotikers.    Sie  kommt  im 
Traume  ebenso  zum  Ausdruck  wie  in  der  politischen  Gesinnung    der 
Kunstanschauung  und  den  neurotischen  Symptomen.   Gelingt  es  nicht 
die  widerstrebenden  Kräfte  zu   einer   Äußerung  zu  bringen,  so  stellt 
sich  die  bekannte  Form  der  Entschlußlosigkeit,  des  Schwankens  und  des 
Zweifels  ein.  Der  Zweifel  ist  die  Folge  und  das  Symptom  mißlungener 
Kompromisse. 

Diese  oberflächliche  Kompromißbildung  verrät  sich  am  leichtesten 
in  der  Homosexualität.   Es  ist  das  Bestreben  der  Neurotiker,  möglichst 
viel  Triebrichtungen  auf  ein  Objekt  zu  vereinigen.    Dir  Ideal  wäre  ein 
Wesen,  das  Mann,  Weib  und  Kind  (und  vielleicht  auch  Tier  und  Engel') 
zugleich  ist.   (In  Parenthese:    Die  katholische  Kirche  ist  diesem  Ver- 
dichtungsbedürfnis der  Libido  entgegengekommen.    Die  heilige  Familie 
ermöglicht  alle  Fixierungen  der  Libido  durch  Sublimierung,  wobei  alle 
Komponenten  berücksichtigt  sind.    Es  fehlt  auch  nicht  das  Lamm 
Gottes!)    Wir  hören  von  Neurotikern  immer  eine  Schilderung  ihres 
Ideals,  das  dieser  polymorphen  Tendenz  Rechnung  trägt.    Die  Männer 
werden  für  Frauen  schwärmen,  die  einen  stark  männlichen  Einschlag 
aufweisen:  große  derbe  Gestalten,  flachbusig,  mit  energischen  knochigen 
Gesichtern,  mit  kurzgeschnittenen  Haaren,  mit  tiefer  Stimme,  einem 
Anflug  von  Bart  oder  Sehnurbart.   So  wird  das  geheime  bisexuelle  Ideal 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  171 

(das  Weib  mit  dem  Penis  oder  der  Mann  mit  der  Vagina!)  teilweise 
erreicht.  So  werden  die  verdrängten  Triebrichtungen  zum  Teile  für 
die  Libido  freigemacht,  mit  der  heterosexuellen  Komponente  vereinigt 
und  in  den  Dienst  der  Aggression  und  des  Lusterwerbes  gestellt.  — 
Wo  die  Natur  diesem  Bestreben  nicht  entgegenkommt,  da  werden 
äußere  Merkmale,  das  Kleid  und  der  Schmuck,  zu  Hilfe  genommen. 
Das  Symbol  muß  die  Realität  ersetzen.  Männer  verlieben  sich  in 
Damen,  wenn  sie  Hosen  tragen  (denselben  Tendenzen  dienen  Männer- 
hüte, Offiziersjacken,  Spazierstöcke  usw.).  Also  in  Schauspielerinnen, 
Fechterinnen,  Radfahrerinnen,  Bergsteigerinnen,  Reiterinnen  oder  in 
Dirnen,  die  sie  in  Unterhosen  bewundern  konnten.  Andere  verlangen 
von  ihren  Sexualobjekten,  daß  sie  Männersymbole  tragen,  um  ihre 
Libido  aufzustacheln.  Oder  das  Weib  gefällt  ihnen  am  besten  in  einer 
Militärbluse  oder  mit  einem  männlichen  Hut,  in  einer  männlichen  Rolle, 
welche  der  Phantasie  einen  Schein  von  Realität  verleiht  (R  e  a  1  i- 
sierungstendenzen!). 

Bei  Frauen  tritt  die  parallele  Erscheinung 
auf.  Sie  verlieben  sich  in  Mäjnner,  die  bartlos  sind, 
Gynäkomastie,  starken  Panniculus  adiposus,  ein 
großes  Becken,  grazilen  Kehlkopf  (weibliche 
Stimme)  aufweisen  —  oder  die  einen  langen  Rock 
oder  lange  Haare  tragen.  Ich  will  hier  nur  einige  Beispiele 
anführen.  Der  Priester,  der  Arzt  im  Arbeitskittel,  besonders  Operateure 
mit  aufgestülpten  Ärmeln,  Damenimitatoren,  Männer  ohne  Bart  mit 
weiblicher  Stimme,  die  sich  parfümieren  und  Armbänder  tragen, 
Künstler  mit  langen,  wallenden  Haaren  können  außerordentlich  stark 
erregend  wirken.1) 

Auch  das  psychische  Wesen  kommt  in  Betracht.  Frauen,  die 
rauchen,  reiten,  bergsteigen,  sehr  aggressiv  sind,  können  auf  Neurotiker 
einen  großen  Eindruck  machen.  Ebenso  Männer  mit  spezifisch  weib- 
lichem Wesen  auf  die  Frauen.  Viele  Neurotiker  wollen  „genommen" 
werden.  (Lust  ohne  Schuld!)  Energische  Frauen  wirken  auf  sie 
faszinierend,  ebenso  wie  der  ängstliche  sensible  Mann  die  Hysterische 
mächtig  anzieht. 

Weniger  bekannt  sind  die  anderen  Masken  der  Homosexualität, 
die  ich  jetzt  erwähnen  werde.  Hinter  der  Liebe  zu  alten  Frauen 
(Gerontophilie)  und  der  Liebe  zu  Kindern  verbirgt  sich  häufig  eine 
homosexuelle  Triebrichtung.  Alle  Menschen,  die  von  der  spezifisch 
weiblichen  oder  männlichen  Linie  abrücken,  können  in  diesem   Sinne 


l)  Vielleicht   erklärt   die  Tatsache,   daß   alle   Künstler   ausgesprochene   Bisexuelle 
sind,   am  besten  ihre  große  erotische  Anziehungskraft. 


1  '  *  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

erregend  wirken  Das  Alter  verwischt  die  sekundären  Geschlechts- 
merkmale. Im  Alter  wird  der  Mann  zum  alten  Weibe  und  alte  Frauen 
nelimen  exquisit  männliche  Züge  (Schnurrbärtchen  alter  Frauen')  und 
mannliche  Gewohnheiten  an.  (So  beginnen  alte  Sennerinnen  zu  rauchen 
usw.)  Auch  Kinder  wirken  mangels  der  sekundären  Geschlechtsmerkmale 
stark  bisexuell. 

«™ilW  m<fkWUrdi,ge  Form.  hinter  der  sich  die  männliche  Homo- 
sexual  tat  verbergen  kann,  ist  die  Neigung  zu  Dirnen.    Bei  der  Dirne 

aß  dafwlT  t6  V°rStellttng  (aUf  di6  '""*  Komponente 
daß  das  We,b  vorher  von  anderen  Männern  besessen  wurde.')  Diese; 

Vorgang   (der  Umweg  über  das  fremde  Geschlecht!)    spielt  noch  7n 
anderer  Hme.cht  bei  der  Homosexualität  eine  große  Bolle    Di"  Dirne 

VowteUung  einer  männlichen  Pereon  herbeigeführt  worden.    Nachher  war  ich  dir,hi 
große  Anstrengung  sehr  abgespannt  und  ich  schwur  mir,  mich      e  w-ied  r     u    £S£ 

ztz  ,\fühi;e  mich  damais  zu  einem  ve™dt-  ^  -i  eige  r 

der   Altere   und   bei   den   Weibern   Einflußreichere   mußte   für   ihn    immer   dTe    Mädel  I 

::tzr und  e\haben  *  °ft  nacheinander  den  *»  ***** ^ *  £-1 

achtun g  seines  heißen  Temperaments  reizt e  mich  bis  zum äußerstl 
und   war   dann    die   Ausführung    des   Verkehres    ein    leichtes."    Ein    Hotel^  £ TÜZ 

zszrtsjisr  berichtnte  ganz  ähnHch- daß  «•  ~  -EXs  ;z 

d 6 ^Ä  W^V^1™    "abkÜ6SeD"    mÜSSe"     D«    ^haffte    ihm 
Bettt ch  im  NK  T   mit  ^  CF  ß°   raSCh  Wie  möelich   z«   «einer   Frau    deren 

B  tt -weh    m  Nebenzimmer  befände,  eile.»  Ferner  die  Stelle:  „Ich  will  diese  Parad  kmX 
aus  dem  Leben  mit  den  Angaben  eines  Patienten  schließen    der  ^TZ^Z^r 

eo,-n9  p„„j„*  j  •  r.A  ,  „  .  ,  löl"",:,'  mcnt  waör.'  faeme  Livree  schien  neu  zu 
sen?    Fandoet  du        ht    daß  ]hm  etwag  eng  gaß?    ^  ^^ 

Nu  wenn  er  so  che  Gespräche  mit  seiner  Frau  führte,  deren 
Ab., cht  zu  verdecken  großes  Geschick  erforderte,  gelang  *« 
'hm,  zu  makulieren  und  -  Kinder  zu  zeugen  deren  er  drPi 
besaß."  (Hirschfeld,  I.e.  S.  86.)  *      *  "    drei 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  ^73 

sehen  und  Zusehenlassen  kann  neben  anderen  Wurzeln  (Voyeur)  dieses 
Motiv  aufweisen. 

Auch  in  der  spezifisch  bevorzugten  Art  des  Sexualverkehrs  setzt 
sich  in  vielen  Fällen  die  Homosexualität  durch.  Die  Männer  wählen  die 
untere  Position  oder  betreiben  den  Coitus  a  posteriori,  oder  gar  in 
anum.  Bei  Frauen  treten  ähnliche  Bestrebungen  zutage.  Sie  empfinden 
nur  dann  Libido,  wenn  sie  oben  sind.  Manche  Paraphilien  (Fellatio, 
Kunnilingus !)  enthüllen  außer  dem  sexuellen  Infantilismus  homo- 
sexuelle Regungen. 

Gewisse  äußerliche  Zeichen  verraten  die  starke  homosexuelle 
Komponente  oder  ihr  plötzliches  Aufflammen.  Männer  lassen  sich 
plötzlich  den  Bart  rasieren  oder  stutzen.  Sie  fangen  an  sich  für  Sport 
zu  interessieren,  der  Gelegenheit  gibt,  entkleidete  Männer  zu  sehen. 
Sie  besuchen  leidenschaftlich  Ringkämpfe,  Sonnenbäder,  Sportplätze, 
beginnen  für  Nacktkultur  zu  schwärmen  und  dergleichen  Erscheinungen 
mehr.  Frauen  finden  eines  Tages,  daß  ihnen  die  langen  Haare  lästig 
sind,  und  lassen  sich  die  Haare  schneiden.  Manchmal  ohne  Wissen  des 
Mannes,  der  „freudig"  überrascht  werden  soll.  Sie  wechseln  die  Mode, 
tragen  gerne  kurze  englische  Jacken  und  enganliegende  Röcke,  Girardi- 
hüte  und  beginnen  sich  für  Frauenemanzipation  zu  interessieren. 

Auf  die  Maske  des  gemeinsamen  Sterbens  sei  nur  kurz  hingewiesen. 
Die  Menschen,  die  nicht  den  Mut  haben,  gemeinsam  zu  leben,  sterben 
gemeinsam.  Ein  gemeinsamer  Selbstmord  aus  idealen  Motiven  bei  zwei 
Freunden  oder  Freundinnen  geht  häufig  auf  unbefriedigte  Homosexua- 
lität zurück.  Ein  Leben,  das  nicht  die  Erfüllung  der  adäquaten,  von 
unbewußten  Trieben  hartnäckig  verlangten,  Befriedigung  bringen  kann, 
verliert  seinen  Wert.1) 

Daß  Onanisten,  die  die  Onanie  nicht  aufgeben  können,  mit  den 
autoerotischen  Akten  auch  homosexuelle  Regungen  befriedigen,  haben 
wir  schon  in  den  Kapiteln  über  Onanie  ausführlich  besprochen.  Das 
Schuldgefühl  stammt  zum  Teil  (aber  nur  zum  Teil !)  aus  dieser  Quelle. 
Je  schwerer  die  Entwöhnung  von  der  Onanie  vor  sich  geht,  desto  stärker 
scheint  der  homosexuelle  Trieb  zu  sein.  Viele  dieser  Onanisten  sind 
asoziale  Menschen  und  scheuen  die  Gesellschaft.  Ich  kenne  aber  einige, 
die  sich  außerordentlich  stark  als  „Vereinsmeier"  betätigen  und  in 
verschiedenen  Vereinen  Ehrenstellen  bekleiden.  Daß  besonders  Frauen- 
rechtlerinnen einen  stark  homosexuellen  Einschlag  zeigen,  ist  bekannt 
und  wird  ja  von  Witzblättern  häufig  genug  in  diesem  Sinne  ausgenützt. 

x)  Frenssen  sagt:  „Wenn  einer  kein  Interesse  mehr  an  Sonne,  Mond  und  Sternen 
hat,  dem  sagen  sie  auch  nichts  mehr;  und  wenn  man  nicht  mehr  am  Hausstand  arbeitet, 
verfällt  er;  das  ist  mit  allem  ßo.  Die  Gleichgültigkeit  macht  alles  tot;  die  Liehe 
macht  alles  lebendig." 


174  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Weniger  bekannt  dürfte  sein,   daß  manche  schrankenlos  .  dem  Auto-  .' 
erotismus  und  der  Tribadie  huldigen,  wie  ich  es  bei  näherer  Bekannt- 
schaft konstatieren  konnte. 

Schließlich  wäre  noch  eine  wichtige  Form  der  Maskierung  zu  er- 
wähnen: die  künstlerische.  Dichter,  die  mit  Vorliebe  Frauencharakter« 
zeichnen,  sind  zum  Teil  homosexuell.  Sie  leben  sich  —  sie  fühlen  sich 
in  Frauen  ein,  weil  sie  selber  ein  Stück  Weib  in  sich  herumtragen. 
Chamisso  konnte  so  wunderbar  die  „Frauenliebe"  schildern,  weil  er 
selbst,  wie  schon  sein  Bild  beweist,  ein  Weib  war.  Bei  Malern  kann 
der  umgekehrte  Fall  eintreten.  Sie  zeichnen  mit  Vorliebe  männliche 
Akte  oder  schaffen  lieber  männliche  Statuen.  Sie  verraten  ihre  Homo- 
sexualität in  dem  ästhetischen  Werturteil.  Die  einen  finden,  ein 
Mannerkörper  sei  viel  ästhetischer,  die  anderen  finden  ihn  „ekelhaft"! 
In  der  affektativ  gefärbten  Ablehnung  verrät  sich  die  homosexuelle 
Komponente  ebenso  wie  in  der  affektativ  gefärbten  Bevorzugung. 

Die  Wahl  eines  Pseudonyms  kann  ebenfalls  ein  charakteristisches 
Symptom    sein.    Ebenso    wie   die   Transvestiten   deutlich   ihre   homo- 
sexuellen Züge  verraten,  sind  Männer,  die  in  anonymen  Zuschriften  oder 
auf  Werken  ein  weiblich  klingendes  Pseudonym  wählen  (z.  B.  La  Wara, 
Ilona,  Madlena  usw.),  häufig  homosexuell.   Bei  Frauen  kann  allerdings 
das  bekannte  Motiv  mitspielen,  daß  sie  der  Meinung  sind,  man  achte 
ihre  Bücher  mehr,  wenn  sie  einem  männlichen  Autor   zugeschrieben 
werden.    Sie  verraten  damit  jedenfalls  den  Wunsch,  daß  sie  für  viele 
Leserinnen  ein  Mann  sein  wollen.    Eine  mir  bekannte  Schriftstellerin, 
die  unter  männlichem  Pseudonym  segelte,  machte  mir   als  Einwand 
gegen  diese  Auffassung  den  Umstand  geltend,  sie  wäre  geradezu  männer- 
süchtig.   Sie  sei  eine  Messalina.    Hinter  dieser  Unersättlichkeit  ver- 
birgt sich,  wie  ich  schon  ausgeführt  habe,  die  Homosexualität  als  un- 
befriedigter Trieb.    Sie  suchte  mit  Vorliebe  bekannte  Frauenhelden, 
typische  Casanovas  auf.    Offenbar  spielt  auch  da  die  Vorstellung  der 
vielen  eroberten  Frauen  die  Hauptrolle.   Diese  Männer  tragen  den  Duft 
zahlreicher  Frauen.    Sie  sollen  angeblich  Künstler  der  Liebe  sein  und 
die  Frau  erwartet  von  ihnen  besondere  Sensationen  und  vielleicht  auch 
Baffinements;    aber  sie  versagen  meistens,  da  sie  rasch  müde  werden 
und  der  unbefriedigte  Homosexuelle  der  unbefriedigten  Homosexuellen 
nichts  bieten  kann.   (So  entstehen  die  unglücklichsten  Ehen!)   Wieder 
fällt  der  Umstand  auf,  daß  gerade  die  Homosexualität  bei  dieser  Dame, 
die  sich  ein  großes  Maß  von  Sexualfreiheit  gewährte,  Tabu  war. 

Ich  habe  nur  einen  kleinen  Teil  der  Masken  der  Homosexualität 
angeben  können.  Manche  sind  ja  so  durchsichtig,  daß  sie  selbst  dern 
analytisch  Ungeschulten  nicht  entgehen  können.  Man  heiratet  eine 
Schwester,  weil  man  in  den  Bruder  verliebt  ist,  oder  einen  Bruder 


J 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  i7~ 

eines  homosexuellen  Objektes,  wie  ich  es  in  der  Krankengeschichte 
Nr.  93  meiner  „Angstzustände"  an  einem  sehr  lehrreichen  Falle  aus- 
geführt habe. 

Ebenso  kann  die  Frau  eines  Freundes  sehr  gefährlich  werden, 
und  dieser  Weg  über  eine  Dritte  war  schon  oft  die  Ursache  fürchter- 
licher Ehedramen.  Ich  kenne  Männer,  die  sich  immer  in  die  Geliebte 
ihres  Freundes  verlieben,  natürlich,  ohne  es  zu  ahnen,  daß  sich  hinter 
dieser  Liebe  die  Liebe  zu  ihrem  Freunde  verbirgt. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  eine  markante  Maske  der  Homo- 
sexualität erwähnen.  Es  ist  dies  die  psychische  Impotenz,  die  sich 
besonders  vornehmen  Frauen  gegenüber  äußert.  Männer,  die  bei  der 
Dirne  potent  sind  und  bei  der  „Anständigen"  versagen,  sind  Homo- 
sexuelle, die  sich  an  der  Vorstellung,  die  Dirne  sei  vor  ihnen  von 
einem  anderen  Manne  besessen  worden,  entzünden.  Selbstverständlich 
hat  diese  Impotenz  noch  viele  Determinierungen.  Die  hier  erwähnte 
fehlt  niemals. 

Erst  das  Studium  dieser  larvierten  Formen  der  Homosexualität 
wird  uns  die  nicht  abzuschätzende  Bedeutung  der  Bisexualität  für  das 
Seelenleben  der  Kulturmenschen  begreiflich  machen. 

Auf  andere  Masken  der  Homosexualität,  wie  sie  sich  in  Phobien 
and  Zwangsvorstellungen  äußern,  will  ich  nur  flüchtig  hinweisen.  Es 
gibt  viele  Männer,  die  von  schweren  Angstzuständen  befallen  werden, 
wenn  ein  anderer  Man  hinter  ihnen  geht,  die  mit  einem  Manne  aus 
rationalisierenden  Motiven  nicht  allein  im  Zimmer  bleiben  wollen,  die 
immer  Szenen  träumen,  in  denen  ein  Mann  einen  Revolver  oder  ein 
Messer  auf  sie  richtet,  die  die  Sensation  haben,  ein  harter  Gegen- 
stand, ein  Stück  zylindrischen  Stuhles,  stecke  in  ihrem  Rektum.  Sie 
verraten  ihre  verdrängte  Homosexualität,  ebenso  wie  die  Paranoiker, 
die  sich  von  Männern  verfolgt  wähnen.  Bei  Frauen  treten  ähnlich« 
Phobien  auf,  besonders  Angstvorstellungen,  die  sich  auf  die  Dienst- 
boten richten.  Frauen,  die  immerwährend  die  Dienstboten  wechseln, 
Eich  bei  jeder  Gelegenheit  über  sie  ärgern,  zanken,  sich  zu  tätlichen 
Berührungen  (welche  eigentlich  Sexualakte  ersetzen)  hinreißen  lassen, 
sind  häufig  Homosexuelle.  Ebenso  kann  manche  Form  des  Feti- 
schismus   die  Homosexualität  verraten. 

Wir  können  uns  mit  Recht  darauf  gefaßt  machen,  daß  die  Er- 
forschung der  homosexuellen  Masken  die  Sexualwissenschaft  fördern 
wird.  Ebenso  sieher  dürfte  der  Widerstand  weiterer  Kreise  diesen 
neuen  Erkenntnissen  gegenüber  ein  ungeheurer  sein.  Vielleicht  Btammt 
ein  guter  Teil  aller  Widerstände  gegen  die  Analyse  aus  diesen  Quellen. 
Was  die  Menschen  am  wenigsten  einsehen  wollen, 
ist    ihre    ausgesprochen    bisexuelle    Anlage. 


176  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ich  werde  diesen  allgemeinen  Ausführungen  noch  zahlreiche  Be- 
obachtungen aus  meiner  Praxis  folgen  lassen,  welche  uns  alle  beweisen, 
welche  große  Bedeutung  die  homosexuelle  Komponente  im  Liebesleben 
scheinbar  normal  empfindender  Menschen  spielt.  Man  wird  jetzt  ver- 
stehen, warum  ich  nie  den  Ausdruck  „konträre  oder  verkehrte  Sexual- 
empfindung" gebrauche,  warum  ich  nie  von  Inversion  und  Perversion 
rede,  wenn  ich  die  Homosexualität  behandle.  Zweck  dieses  Buches  ist, 
auf  das  Vorhandensein  homosexueller  Triebkräfte  in  jedem  Menschen 
hinzuweisen  und  das  Normale  an  dieser  Erscheinung  klarzustellen. 
Denn  normal  ist  alles,  was  natürlich  ist.  Und  von 
Natur  aus  sind  wir  nie  monosexuell,  sondern  bi- 
sexuell. 

Es  tut  mir  sehr  leid,  daß  ich  einem  so  verdienstvollen  Forscher 
wie  Hirschfeld  widersprechen  muß.    Aber  ich  begreife  nicht,  wie  er 
neben  den  Hetero-  und  Homosexuellen  noch  eine  dritte  Gruppe,  die 
„Transvestiten"1),    aufstellen   konnte.     Die   schönsten   Beispiele   von 
maskierter  Homosexualität  und  angestrebter  Bisexualität  finden  wir 
unter  den  Transvestiten.    So  nennt  Hirschfeld  Männer,  welche  —  aus 
einem    inneren    unwiderstehlichen    Drange    —    Frauenkleider    tragen 
müssen,  und  Frauen,  die  aus  den  gleichen  Motiven  Männerkleider  tragen. 
Ich  habe  in  einer  eingehenden  Kritik2)  darauf  hingewiesen,  daß  es  nicht 
angehe,  die  Transvestiten  als  eigene  sexuelle  Spezies  zu  betrachten, 
daß  sie  vielmehr  nur  als  Bisexuelle  mit  stark  homosexuellem  Einschlag 
anzusprechen  sind.  Hirschfeld  legt  Wert  darauf,  daß  die  Transvestiten 
geschlechtlich  normal  fühlen,  aber  nur  den  Drang  haben,  die  Kleider 
des  anderen  Geschlechtes  anzulegen.    Leider  berücksichtigt  er  nur  die 
bewußte  sexuelle  Leitlinie.    Er  nimmt  die  ersten  Angaben 
der  Untersuchten  als  unumstößliche  Tatsachen  an  und  vernachlässigt 
die  wichtigsten  Mechanismen  der  Verdrängung  und  Verheimlichung, 
des  Spieles  vor  sich  selbst  und  mit  sich  selbst.   Erst  die  genaue  Ana- 
lyse kann  darüber  Aufschluß  geben,  wie  die  Angaben  der  Untersuchten 
zu  werten  sind.    Da  erleben  wir   freilich  die  merkwürdigsten  Über- 
raschungen.   Es  zeigt  sich  immer  wieder,  daß  es  keine  monosexuellen 
Menschen  gibt  und  daß  die  Transvestiten  ebenso  wie  die  Homosexuellen 
ihre  Verdrängungen  haben.   Der  Homosexuelle  verdrängt  seine  Hetero- 
sexualität,  der  Transvestite  seine  Homosexualität.    In  der  Phantasie 
ist  er  dann  ein  Weib  (für  die  Frauen  gilt  das  Umgekehrte !)  und  kann 
auf  diese  Weise  die  beiden  Komponenten  seiner  Libido  vereinigen. 


*)  Die  Transvestiten.    Eine   Untersuchung  über   den   erotischen   Verkleidung6trieb. 
Alfred  Pulvermacher,  Berlin  1910. 

2)  Zentralbl.  f.  Psychoanalyse,  Bd.  I,  S.  55. 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  177 

Es  heißt  den  Tatsachen  geradezu  Gewalt  antun, 
wenn  man  die  Transvestiten  von  den  Homo- 
sexuellen   trennen    will. 

Liest  man  die  von  Hirschfeld  publizierten  Fälle  genau  durch 
und  forscht  man  nach  latenter  Homosexualität,  so  wird  man  sie  in 
keiner  Krankengeschichte  vermissen.  Der  Eine  macht  in  coitu  den 
Succubus,  was  ebenfalls  ein  Symptom  latenter  Homosexualität  dar- 
stellt; geht  er  als  Dame  aus,  so  empfindet  er  Ekel  vor  den  Herren, 
die  ihm  nachsteigen.  Der  Zweite  konnte  überhaupt  erst  nur  mit  Hilfe 
von  Alkohol  einen  heterosexuellen  Verkehr  erzwingen,  kokettiert  und 
spaßt  gerne  mit  Männern,  wenn  er  in  Frauenkleidern  ausgeht.  Dem 
Dritten  ist  der  Gedanke  an  den  homosexuellen  Verkehr  „zuwider", 
er  hat  Verlangen  nach  Schwangerschaft,  spielt  in  coitu  den  Succubus, 
empfindet  seine  Frau  als  Mann.  Den  Vierten  muß  seine  Frau  pressen, 
an  sich  drücken,  in  die  Ohrläppchen  die  Nägel  eingraben,  damit  er 
die  Illusion  hat,  er  werde  von  einem  starken  Manne  besessen. 

Und  gar  erst  der  Fall  12!  Ein  Mann,  der  nach  vier  Jahren  des 
Zusammenlebens  mit  seiner  Frau  nur  ein  einziges  Mal  den  Kongressus 
ausgeübt  hat!  Dieser  Kranke  macht  sogar  eine  offene  Schwenkung 
zur  Homosexualität  durch,  die  nach  Hirschfeld  eine  scheinbare  ist  .  . 
Wie  unterscheidet  man  eine  scheinbare  von  einer  wirklichen  Schwen- 
kung? Offenbar  nur,  wenn  man  das  Phänomen  der  Bisexualität  über- 
sehen will  und  sich  auf  den  starren  Standpunkt  der  angeboren  unver- 
rückbaren Homosexualität  stellt. 

So  berichtet  dieser  Transvestite  über  seine  Homosexualität: 
„Über  Homosexualität  erhielt  ich  zuerst  Aufschluß  durch  das  Buch- 
Die  Enterbten  des  Liebesglückes.  Hier  fesselten  mich  manche  Stellen 
außerordentlich,  mehr  noch  als  in  masochistischen  Werken,  deren  ich 
gleichfalls  eine  ganze  Reihe  gelesen  habe.  Da  ich  auf  mein  Weibideal 
aus  obigen  Gründen  Verzicht  leisten  mußte,  kam  ich  in  Ge- 
danken dazu,  mir  als  Komplement  meiner  Sehn- 
sucht einen  Mann  zu  wünschen.  Denn  auch  die  stärkste 
Frau  wird  in  der  Liebe  dem  Manne  stets  unterlegen  sein  wollen. 
Ich  brauche  aber  einen  Partner,  der  mich  gewisser- 
maßen erobert  und  vergewaltigt.  So  sagte  ich 
mir,  diese  Rolle  könne  nur  einem  Manne  zufallen. 
Vieles,  was  ich  von  der  Homosexualität  in  den  Büchern  las,  bestärkte 
mich  in  diesen  Vorstellungen." 

Wenn  das  nicht  eine  fadenscheinige  Rationalisierung  seiner 
Homosexualität  ist,  —  was  sollen  wir  dann  als  Homosexualität  be- 
zeichnen? 

Stakel,  Störungen  des  Trieb-  nnd  Affektlebeus.  II.   3. Aufl.  12 


178  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

.  ( 

Bemerkungen  sind  eigentlich  überflüssig.  Die  Homosexualität 
bricht  in  der  Lebensgeschichte  an  allen  Ecken  und  Enden  durch. 
Hirschfeld  aber  findet,  daß  die  Schwenkung  zur  Homosexualität  nur 
eine  scheinbare  ist  und  daß  die  Grundfärbung  seiner  Libido  der  Trans- 
vestismus ist.  Die  Homosexualität  sei  ein  zufälliges  Akzidens.  Es 
gibt  aber  keine  solchen  Akzidentia  im  Sexual- 
leben! Auch  beweist  ein  Tagtraum,  der  ebenfalls  publiziert  wurde, 
daß  der  Wunsch  des  Herrn  M.  immer  war:  Ich  möchte  ein  Weib  sein.' 
Aber  es  gibt  Stellen  in  dieser  Lebensbeichte,  welche  uns  beweisen, 
wie  hoch  er  den  Mann  stellt  und  daß  dieser  Wunsch  auf  eine  bestimmte 
infantile  Einstellung  und  auf  ein  Gefühl  der  Minderwertigkeit  zurück- 
gehen muß.  Wie  sonderbar  mutet  der  Passus  an:  „Für  den  echten 
Mann,  der  zu  den  stolzesten  seines  Geschlechtes  gehört,  ist  die  Be- 
friedigung seines  Geschlechtstriebes  nur  ein  Gebot  der  Gesundheits- 
erhaltung, eine  Körperübung:  sein  großzügiger  schaffender  Geist 
wandelt  sonst  in  höheren  Bahnen  .  .  .  usw." 

Bei  der  Besprechung  des  Masochismus  werden  wir  solche  Fälle 
wie  den  eben  beschriebenen  erst  recht  verstehen  lernen.  Er  will  Weib 
und  will  gedemütigt  sein.  Er  kann  auch  mit  Frauen  verkehren,  wenn 
sie  etwas  aktiv  dabei  vorgehen.  Er  hält  immer  an  der  Fiktion  fest: 
Ich  bin  ein  Weib  und  bin  dazu  gezwungen,  ein  Weib  zu  sein. 
Folgerichtig  mußte  er  zu  homosexuellen  Betätigungen  kommen.  Der 
Mann  in  ihm  duldet  keine  Demütigung.  Das  Weib  läßt  sich  willig 
unterwerfen.  Die  Neurose  zeigt  sich  in  der  Unterdrückung  der  männ- 
lichen Komponente. 

Wer  die  nachfolgende  Krankengeschichte  aufmerksam  liest,  der 
wird  die  homosexuelle  Wurzel  des  Verkleidungstriebes  leicht  erkennen.1) 

Fall  Nr.  23.  Frau  H.  S.  konsultiert  mich  wegen  vollständiger  sexueller 
Frigidität  in  der  Ehe.  Sie  ist  jetzt  24  Jahre  alt  und  heiratete  mit  19  Jahren 
aus  Liebe.  Sie  war  immer  sehr  leidenschaftlich  und  verliebter  Natur,  so 
daß  sie  seit  dem  14.  Lebensjahre  kein  anderes  Sinnen  und  Trachten  hatte 
als  sexuelle  Phantasien.  Mit  15  Jahren  verliebte  sie  sich  in  einen  Vetter. 
Bei  seinen  Küssen  wurde  sie  sehr  warm  und  hätte  sich  ihm  am  liebsten 
ganz  hingegeben.  Der  Vater  aber  merkte  etwas  und  verbot  dem  Vetter 
das  Haus.  Sie  lebten  am  Lande  und  'sie  sah  keinen  Mann,  der  ihr  gefährlich 
werden  konnte.  Erst  mit  19  Jahren  lernte  sie  ihren  jetzigen  Mann  kennen, 
in  den  sie  sich  blitzschnell  verliebte.  Sie  überwand  den  Widerstand  der 
Eltern  und  heiratete  nach  einigen  Monaten.  Schon  während  der  Brautzeit 
sagte  sie  ihrem  Manne:  „Ich  glaube,  ich  werde  nie  mit  einem  Manne  genug 
haben!  Du  mußt  auf  mich  gut  aufpassen!  .  .  ."  Ihr  Mann  war  die  ersten 
Wochen  der  Ehe  impotent,  was  sie  mit  Verzweiflung  erfüllte.  Dann  wurde 
sie  nach  einer  ärztlichen  Behandlung  des  Mannes  von  ihm   defloriert  und 

*)  Vgl.  auch  die  „AnalyBe  einer  Tranevestitin"  in  Band  III,  Kapitel  XIV. 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  ^79 

nach  einigen  Monaten  gravid.  Nach  der  ersten  Gravidität  gab  es  eine  kurze 
Periode,  in  der  sie  einen  Orgasmus  erzielen  konnte.  Dann  aber  schwand 
das  Gefühl  für  ihren  Mann  vollkommen  und  sie  wurde  tief  unglücklich. 
Sie  änderte  sich  ganz  in  ihrem  Wesen.  Vorher  war  sie  lebenslustig,  eitel, 
immer  heiter.  Sie  wurde  jetzt  still,  lebte  zurückgezogen  und  mied  besonders 
alle  Männer,  weil  sie  sich  vor  ihnen  fürchtete. 

Die  tiefere  Erforschung  des  Falles  zeigt,  daß  sie  nach  dem  Tode  ihres 
Vaters,  an  dem  sie  mit  leidenschaftlicher  Liebe  hing,  sexuell  anästhetisch 
wurde.  Der  Vater  war  ein  sehr  ernster,  strenger  Mann,  der  seine  schöne 
Frau  vergötterte  und  ein  Muster  an  Pflichterfüllung  und  Treue  war.  Die 
Mutter  war  eine  Künstlerin,  welche  mit  dem  Tode  des  Vaters  ganz  halt- 
los wurde.  Sie  konnte  nicht  allein  bleiben  und  übersiedelte  vom  Lande 
zu  ihrer  Tochter  in  die  Großstadt.  Ich  vermutete,  daß  die  Anwesenheit 
der  Mutter  mit  der  plötzlich  eintretenden  Anästhesie  in  Zusammenhang 
stehen  müsse.    Ob  sie  zu  der  Mutter  eine  besondere  Neigung  habe? 

Sie  betont,  daß  sie  ein  unaussprechliches  Mitleid  mit  der  Mutter  hatte, 
weil  sie  jeden  Halt  verloren  hatte.  Sie  hätte  ihr  gerne  den  Vater  ersetzt, 
wenn  es  möglich  gewesen  wäre.    Und  nun  gesteht  sie: 

„Sie  werden  kaum  begreifen,  wenn  ich  Ihnen  erzähle,  daß  ich  mir 
damals  sehnsüchtig  gewünscht  habe,  ein  Mann  zu  sein.  Ich  dachte  immer 
an  die  Mutter.  Sehen  Sie  —  sie  ist  noch  so  frisch  und  schön,  so  lebensdurstig. 
Ich  weiß  auch,  daß  sie  sehr  leidenschaftlich  ist.  Wie  wird  sie  ohne  einen 
Mann  leben  können?  Nun  muß  ich  etwas  gestehen,  was  mir  auszusprechen 
außerordentlich  widerstrebt.  Sie  kennen  schon  viele  meiner  Phantasien.  Aber 
eine  habe  ich  Ihnen  bis  heute  hartnäckig  verschwiegen.  Ich  wollte  die 
Kleider  des  Vaters  anziehen,  von  denen  ich  einige  im  Besitze  hatte,  und 
des  Nachts  zur  Mutter  gehen.  Ich  habe  mir  einen  solchen  ....  Apparat 
verschafft.  Aber  es  fehlte  mir  der  Mut.  Ich  blieb  in  den  Kleidern  in  meinem 
Zimmer.    Ich  stellte  mich  vor   den  Spiegel  und  sah  stundenlange  hinein." 

„Paßten  Ihnen  die  Kleider?" 

„Wissen  Sie,  ich  hatte  längst  einige  alte  Anzüge  von  Papa.  Ich  habe 
sie  mir  unter  allerlei  Vorwänden  ausgebettelt.  Ich.  schrieb  ihm,  ich  wollte  einen 
armen  Mann  unterstützen.  Ich  ließ  sie  ungefähr  für  meine  Figur  verkleinern 
und  trug  sie  sehr  gerne,  wenn  mein  Mann  nicht  zu  Hause  war.  Ich  habe 
Bchon  als  kleines  Mädchen  die  Kleider  von  meinem  Bruder  getragen.  Das 
war  immer  ein  Festtag  für  mich." 

„Erinnern  Sie  sich,  was  Sie  sich  vorgestellt  haben,  wenn  Sie  die 
Kleider  des  Bruders  an  hatten?" 

„Ach  ja!    Ich  spielte  immer,  ich  wäre  der  Papa .    Ich  war  eine 

Zeitlang  recht  unglücklich,  daß  ich  ein  Mädchen  war.  Ich  beneidete  alle 
Knaben." 

„Auch  später,  als   Sie  schon  verheiratet  waren?" 

„Freilich!  Sie  wissen,  ich  habe  nie  den  Mut  zu  einer  Untreue  aufge- 
bracht. Aber  ich  dachte  mir,  wenn  ich  ein  Mann  wäre,  ich  könnte  nie  treu 
sein.  Ich  habe  immer  die  Männer  beneidet.  Ich  fühlte  mich  seelisch  eigentlich 
mehr  als  ein  Mann." 

„Wie  war  es  während  der  Zeit,  als  Sie  Ihren  Mann  liebten?" 

„Ich  stürzte  mich  in  diese  Liebe  und  vergaß  meine  Neigung  für  Männer- 
kleider. Ich  fühlte  mich  damals  ganz  als  Weib.  Besonders  als  ich  Mutter 
wurde.    Da   war  es  aus   mit  meinen  Träumen  von  Männlichkeit." 

12* 


180  Zweiter  Teil.  — ^Die  Homosexualität. 

„Das  war  auch  die  einzige  Zeit,  in  der  Sie  im  Verkehre  mit  Ihrem 
Manne  empfanden." 

„Ich  habe  nie  an  diesen  Zusammenhang  gedacht.  Aber  Sie  haben 
recht.    Damals  war  ich  kurze  Zeit  ganz  Weib,  bis  der  Vater  starb 

„Und  die  Mutter  ins  Haus  kam." 

„Ja  . .  .  so  ist  es  .  .  .  Sie  meinen,  daß  ich  da  wieder  ein  Mann  sein  wollte» 
Nun,  ich  kann  Ihnen  gestehen,  daß  ich  immer  den  Papa  um  die  Mama  beneidet 
habe.  Ich  dachte  mir,  wenn  ich  ein  Mann  wäre,  ich  müßte  auch  die  Mama 
lieben. 

MJ*  r^u  a  ?^Se  Crgibt  einige  sehr  Pressante  Momente.  Sie 
träumt  wiederholt  daß  sie  ein  Mann  ist  und  einen  Phallus  hat.  Sie  träumt 
auch  daß  sie  nach  der  Art  der  Männer  die  Blase  entleert.  Sie  gibt  zu,  daß  sie 

tu  Ko  tlSt°n  vu  Kmi  eidenuschaftlich  *W*  Sie  hatte  auch  wiederhol! 
tZ^hln     t     Eltem    belauscht,    einmal    direkt    durch    ein   Schlüsselloch 

KSt*'  H  T  vhr  ent'S6tzt  ^  dachte'  die  Mutter  Äse  große 
5SÄV^r  Mr  ein  großes  Vergnügen.  Diese  infantile 
aifS?W  männlichen  Lust  ist  ihr  bis  heute  geblieben.  Ihr  Lieblings- 
ÄW?  ich  nochmals  auf  die  Welt  komme,  werde  ich  ein  Mann.  Die 
homosexuelle  Einstellung  zur  Mutter  raubte  ihr  die  Libido  in  der  Ehe. 
FW  io7/mP  V  Trfnnuag  von  der  Mutter,  wa6  Sie  entrüstet  ablehnte. 
?.ft  Sn         T  Sxfh  T  lhrem  MaMe  Scheiden  lassen-   Si*  ^hrte  auch  einige 

ä«lÄ    ^  ^  S*  mit  der  Mutter  gemeinsam-   MeS 
StTtr  8r°S'  au  SIe  emeS  Tages  ZU  mir  in  Männerkleidern  kam. 

bie  bat  mich  um  eine  Bescheinigung,  daß  sie  abnorm  sei  und  deshalb  das 

Be'rlin  ÄnfSfÄT!  *T*   ?"  "£  ■*■*  daß  MÄ*  ' 

erhalL  hätten  arztllchen  Zeugnissen  diese  Erlaubnis  von  der  Polizei 

Vorhält  di6+  Frage  ^Ch  ?rem  SexuaIleben  gibt  sie  an,  daß  sie  jetzt  ein 

Jwt  Q  mit  Tm,  ^nn  hab6'  der  Sich  für  die  Liebeßszenen  Frauenkleider 
anziehe.  Sie  erziele  dabei  einen  sehr  großen  Orgasmus.  Auf  die  Frage  zu  den 
Beziehungen  zur  Mutter  gibt  sie  ausweichende  Antworten.  Aber  ich  solle  ia 
nicht  denken,  daß  sie  eine  „Urlinde"  sei.  Sie  habe  vor  solchen  Personen 
geradezu  einen  Ekel.   Ihre  Mama  sei  jetzt  nur  ihre  beste  Freundin. 

Es  ist  ganz  klar  zu  ersehen,  daß  sie  ihre  homosexuelle  Liebe  zur 
Mutter  verdrängt  hat  und  sich  mit  dem  Symbol  der  Männlichkeit  der 
Hose  begnügt.  Der  Mann,  den  sie  umarmt,  wird  durch  den  Unterrock 
zum  Weibe.  So  führen  beide  Partner  eine  Komödie  auf,  in  der  der 
heterosexuelle  Akt  ein  Ersatz  des  ersehnten  homosexuellen  wird 

Ich  kenne  eine  Reihe  von  Fällen,  in  denen  die  Verkleidung  eines 
Mannes  als  Frau  oder  umgekehrt  den  Ausbruch  einer  Liebesraserei 
hervorrief,  zumindestens  das  Verlangen  enorm  steigerte.  Immer  wird 
es  sich  um  eine  latente  Homosexualität  handeln,  von  der  Blühev  (1  c) 
eine  so  schlechte  Meinung  hat.  Während  er  sonst  meinen  Standpunkt  zu 
teilen  scheint  („man  kann  nämlich  heute  nicht  mehr  sagen,  die  Homo- 
sexualität oder  Heterosexualität  seien  angeboren,  sondern  vielmehr  nur: 
die  Bisexualität  ist  angeboren,  und  zwar  bei  jedem  Individuum 
mit  Prävalenz  einer  der  beiden  Richtungen"),  unterscheidet  er  eine 


_ 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  \Q\ 

„gesunde  Inversion"1)  (das  Heldentum)  und  den  Durchbrach  einer 
latenten  Homosexualität  (die  Dekadenz  des  römischen  Kaisertums); 
die  eine  kulturtragend  und  urwüchsig,  die  andere  aus  der  „Versenkung 
des  Unbewußten  durch  eine  Aufhebung  der  Hemmungen  empor- 
gestiegen" .  . .  Auch  das  heißt  den  Tatsachen  Gewalt  antun.  Blüher  will 
gerade  wie  Hirschfeld  die  latente  Homosexualität  als  ein  „Pseudo",  als 
etwas  unnatürliches  ansehen  und  demgemäß  beurteilen.  Ich  kann  nach 
den  Erfahrungen  meiner  Praxis  diese  theoretischen  Folgerungen  nicht 
unterstützen.  Ich  kenne  nur  eine  Homosexualität  und  diese  ist  immer 
angeboren.  Aber  sie  ist  immer  mit  der  Heterosexualität  vergesellschaftet 
und  trachtet  sich  unter  allen  Umständen  durchzusetzen.  Das 
Wissen  um  seine  eigene  Homosexualität  ist  kein 
Zeichen,  an  das  wir  uns  halten  können.  Schätzt  man 
die  Zahl  der  bewußt  Homosexuellen  auf  2%,  so  können  wir  ruhig 
behaupten,  daß  98%  der  Menschen  von  ihrer  Homosexualität  nichts 
wissen  oder  zumindestens  nichts  wissen  wollen. 

Wenn  wir  die  Masken  der  Homosexualität  genau  kennen,  so 
werden  uns  plötzliche  homosexuelle  und  heterosexuelle  Leidenschaften 
verständlich.  Ich  verweise  nur  auf  die  Bedeutung  der  „Hose"  im 
Liebesleben.  Wie  häufig  verlieben  sich  Männer  in  Frauen,  die  sie  in 
Hosen  sehen!  Ich  erinnere  mich,  daß  wir  im  Gymnasium  eine  ganze 
Menge  Kollegen  hatten,  die  in  eine  Sängerin  verliebt  waren,  seit  sie  sie 
in  einer  Hosenrolle  gesehen  hatten.  Grillparzer  verliebte  sich  angeblich 
einmal  in  seinem  Leben  sehr  stürmisch.  Es  war  die  Sängerin,  der  er  das 
begeisterte  Gedicht  in  einer  Art  Absence  geschickt  hatte.  Sie  war  als 
Cherubin  in  einer  Hosenrolle  aufgetreten.  Das  Weib  in  der  Hose  ist 
ein  typisches  Kompromiß.  Durch  solche  Kompromisse  kann  auch  der 
Homosexuelle  plötzlich  heterosexuell  werden.  Hirschfeld,  der  auf  diese 
Tatsache  aufmerksam  macht,  erzählt,  ein  in  der  Berliner  Urningwelt 
bekannter  Kavallerieleutnant  habe  eines  Tages  seine  Bekannten  mit 
einer  Verlobungsanzeige  überrascht  und  noch  mehr  durch  die  Mitteilung, 
er  sei  völlig  heterosexuell  geworden.  Er  liebte  vorher  nur  Jünglinge  in 
Mädchenkleidern  und  traf  offenbar  ein  Wesen,  das  dem  Jünglingstyp 


*)  Auch  das  neue  großangelegte  Werk  von  Blüher  „Die  Rolle  der  Erotik 
in  der  männlichen  Gesellschaft"  (Eugen  Diederichs,  Jena  1917  und  1919) 
bringt  sehr  6chöne  Worte  und  anregende  Gedanken,  aber  keine  Beweise  für  die  Hypo- 
these, daß  die  Homosexualität  angeboren  ist.  Der  Homosexuelle,  wie  ich  ihn  beschreibe, 
ist  für  Blüher  nur  der  „Typu6  neuroticu6  inversue",  von  dem  er  den  angeborenen  Homo- 
sexuellen, den  Männerhelden,  den  Ausbund  aller  Tugenden,  scharf  unterscheidet.  Ich 
bedauere  lebhaft,  daß  ich  trotz  großer  Erfahrung  diesem  Männerhelden  nie  begegnet 
bin.  Alle  Homosexuellen,  die  ich  seelisch  entkleiden  konnte,  waren  alles  andere  eher 
—  als  Helden. 


182  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

entsprach,  so  daß  er  beide  Komponenten  seiner  Libido  befriedigen 
konnte.  Das  Symbol  kann  eben  eine  ungeheure  Kraft  entfalten.  Die 
Hose  ist  das  Symbol  der  Männlichkeit.  Ich  erinnere  mich  an  den  Sturm 
der  Entrüstung,  der  im  Volke  aufflammte,  als  die  Frauenmode  die  Hose 
usurpieren  wollte.  Der  Rock,  die  langen  Haare  sind  wieder  Symbole  der 
Weiblichkeit.  Das  Symbol  bildet  oft  die  Brücke,  über  die  sich  die  sonst 
antagonistisch  widerstrebenden  Triebrichtungen  verbinden. 
Der  folgende  Fall  gehört  zu  dieser  Gattung. 

Fall  Nr.  24.  Herr  E.  W.  onanierte  schon  mit  fünf  Jahren  und  stellte' 
sich  dabei  immer  vor,  daß  er  ein  Mädchen  betaste.  Später  ma'sturbierte  er  mit 
Mitschülern  zusammen.  Sie  versuchten  auch  päderastische  Akte,  bei  denen  er 
weder  Ekel  noch  besondere  Libido  empfand.  Mit  vierzehn  Jahren  verführte 
ihn  ein  Dienstmadehen,  zu  der  er  ein  Jahr  hindurch  jede  Nacht  ins  Bett  stieg. 
Bis  dahin  ein  schlechter  Schüler,  wurde  er  der  Beste  in  der  Klase.  Bald 
wurde  er  ihrer  müde  und  suchte  sich  andere  Gelegenheiten,  die  sich  immer 
wieder  fanden.  Er  behauptet,  daß  er  bis  zu  seinem  zwanzigsten  Jahre 
sämtliche  Madchen  besessen  hatte,  die  bei  seinen  Eltern  dienten,  nach  seiner 
Schätzung  waren  es  ungefähr  zwanzig.  Auffallend  war  ihm,  daß  er  nicht  immer 
Orgasmus  erzielen  konnte.  Er  war  wohl  immer  sehr  potent,  oft  so  potent,  daß 
die  Madchen  sich  wunderten.  Aber  er  wurde  müde  und  kam  nicht  zur 
Ejakulation.  Das  passierte  ihm  oft  bei  dicken  Frauen,  die  ihn  sehr  reizten 
und  trotzdem  nicht  befriedigen  konnten. 

Er  begann,  sich  sehr  früh  mit  Malerei  zu  beschäftigen  und  sehnte  sich 
danach,  das  Cxefühl  der  Liebe  kennen  zu  lernen.   Denn  diese  kleinen  Abenteuer 
hatten  nichts  mit  seelischen  Empfindungen  zu  tun.   Er  wurde  immer  älter  und 
alle  Frauen  waren  für  ihn  bloße  Objekte  der  Lust.   Er  hatte  verschiedene  Ge- 
liebte und  konnte  keiner  lange  treu  bleiben  und  hatte  nicht  immer  Orgasmus. 
Erst  bis  er  auf  die  Idee  kam,  den  Situs  inversus  zu  versuchen,  war  er  immer 
imstande,  den  Orgasmus  zu  erzwingen.   Auch  bei  dem  Coitus  a  posteriori  ge- 
langte er  leichter  zum  Ziele  als  bei  der  normalen  Position.  Er  war  schon  dreißi" 
Jahre  alt,  als  er  in  einer  Gesellschaft  ein  Mädchen  sah,  das  in  einem  lebenden 
tfild  als  Knabe  auftrat.    Er  wurde  sofort  von  einer  glühenden  Leidenschaft 
tur  sie  erlaßt.    Er  unterhielt  sich  den  ganzen  Abend  mit  ihr,  war  begeistert, 
endlich  in  ihr  das  entsprechende  „seelische  Komplement"  gefunden  zu  haben 
Wach  einigen  Wochen  verlobte  er  sich  mit  ihr.   Immer  schwebte  ihm  ihr  Bild 
als  Knabe  vor.    Er  heiratete  bald,  koitierte  mit  sehr  starkem  Orgasmus  und 
war  in  seiner  Ehe  außerordentlich  glücklich.  Nach  einigen  Jahren  jedoch  bildete 
sich  eine  Störung  der  Potenz  heraus,  die  ihn  sehr  kränkte,  weil  er  seine  Frau 
sehr  liebte  und  sich  schämte,  ihr  den  wahren  Sachverhalt  mitzuteilen.    Er 
wurde  kalter  und  es  kam  vor,  daß  seine  Potenz  versagte.  Da  kam  er  einmal  in 
das  Schlafzimmer  seiner  Frau  (sie  hatten  getrennte  Schlafzimmer),  als  sie  sich 
auskleidete.  Sie  stand  m  Unterhosen,  in  den  modernen  Reformhosen,  in  denen 
sie  wie  ein  Bub  aussah.  Sofort  fühlte  er  wieder  ein  mächtiges  Verlangen  und 
eine  sehr  kräftige  Erektion.   Er  stürzte  sich  auf  seine  Frau,  bedeckte  sie,  die 
sehr  schamhaft  war  und  gegen  sein  Benehmen  protestierte,  mit  Küssen.  Es  war 
dies  am  hellen  Tage.   Niemals  vorher  hatte  seine  Frau  einen  Koitus  am  Tage 
zugegeben.  Diesmal  aber  nötigte  er  sie  dazu,  so  daß  sie  ganz  überrascht  war 
und  immer  wieder  ausrief:  Was  hast  du  nur  heute!   Er  gestand  ihr  den  Grund 


_ 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  183 

seiner  Erregung  nicht  ein;  er  schämte  sich  von  ihr  zu  verlangen,  daß  sie  sich 
das  nächste  Mal  wieder  in  Hosen  zeigen  sollte.  Er  wollte  die  Erklärung  dieses 
merkwürdigen  Zustandes  und  die  Befreiung  von  diesem  lästigen  Zwange.   Er 
konnte  später  wieder  die  Potenz  erzielen,  stellte  sich  aber  immer  vor,  seine 
Frau  trage  Männerkleider.  Dieser  Mann  war  aus  der  Fremde  und  war  nur  für 
einen  Tag  nach  Wien  gekommen.    Ich  konnte  nichts  von  den  psychischen 
Wurzeln  dieser  Neigung  erfahren.  Er  weiß  sich  an  keinen  infantilen  Eindruck 
zu  erinnern,  glaubt  aber,  daß  er  schon  beim  Anblicke  seiner  Schwester  in 
Unterhosen    sehr    erregt    gewesen    sei.     Er    interessiere    sich    sehr  für    die 
weiblichen  Unterhosen  und  könnte  leicht  Fetischist  werden  und  sich  solche 
Höschen  in  den  verschiedensten  Qualitäten  sammeln.    Ich  rate  ihm,  sich  seiner 
Frau  anzuvertrauen  und  sie  zu  ersuchen,  sich  ihm  in  dem  verlangten  Kostüme 
zu  zeigen.   Das  wäre  doch  eine  harmlose  Neigung,  die  er  mit  vielen  anderen 
Männern  teile.   Ich  sah  ihn  nach  einigen  Jahren  wieder.   Er  hatte  meinen  Rat 
befolgt,  und  seine  Frau,  die  ihn  sehr  liebte,  war  schließlich  darauf  einge- 
gangen, weil  er  auf  keine  andere  Weise  eine  Erektion  erzielen  konnte,  und  sie 
ohne  die  Erfüllung  seiner  ehelichen  Pflichten  nicht  leben  konnte.   Seit  sie  „die 
Laune"  ihres  Mannes  berücksichtigt,  kann  sie  ihn  —  so  oft  sie  will  —  zu  einem 
Koitus  anregen.   Sie  braucht  nur  die  Hosen  anzubehalten  ....  Den  größten 
Genuß  erzielt  er  nämlich,  wenn  seine  Frau  die  Hosen  anbehält  und  dabei  den 
Situs  inversus  zugibt.   Durch  solche  kleine  Kompromisse,  durch  ein  Eingehen 
auf  die  spezifische  Phantasie  kann  manche  unglückliche  Ehe  in  eine  glückliche 
verwandelt  werden. 


Das  ist  nicht  der  einzige  Fall,  den  ich  beobachtet  habe.  Ich  kenne 
Männer,  welche  im  Lupanar  von  den  Dirnen  verlangen,  daß  sie  sich  nur 
bis  zu  den  Unterhosen  ausziehen  und  dann  in  diesem  Kostüme  bleiben. 
Andere,  welche  sogar  von  den  Mädchen  verlangen,  daß  sie  Männer- 
kleider anziehen.  Den  Dirnen  sind  diese  latenten  Homosexuellen  gut 
bekannt.  Sie  bleiben  auch  meistens  passiv  und  verlangen  die  Aggression 
der  Frau.  Das  beweist,  daß  sie  die  Fiktion,  sie  wären  ein  Weib,  auf- 
recht erhalten  wollen  und  sie  durch  kleine  reale  Werte  zu  unterstützen 
trachten.  Mancher  Fall  von  Liebe  auf  den  ersten  Blick  hat  eine  ähnliche 
Motivierung. 

Fall  Nr.  25.  Herr  Z.  I.,  ein  Mann  von  48  Jahren,  war  schon  einige  Male 
leicht  verliebt  gewesen,  war  zweimal  unglücklieh  verheiratet.  Seit  der  zweiten 
Scheidung  —  vor  sechs  Jahren  —  zog  er  sich  von  den  Frauen  zurück,  weil 
er  von  ihnen  eine  schlechte  Meinung  hatte.  Er  pflegte  zu  sagen:  „Alle  Frauen 
sind  Ludern  und  keine  ist  wert,  daß  man  sich  ihretwegen  ein  graues  Haar 
wachsen  läßt".  Er  war  wegen  dieses  seines  Leibspruches  in  der  Tafelrunde 
erklärter  Frauenfeinde  als  der  „Ludernmann"  bekannt.  Seine  grobsexuellen 
Bedürfnisse  befriedigte  er  bei  Dirnen  oder  bei  den  leichten  Eroberungen  der 
Straße.  Sonst  aber  wich  er  den  Frauen  aus  und  suchte  nur  die  Gesellschaft  der 
Männer  auf.  Es  war  deutlich  zu  merken,  daß  er  sich  von  der  Hetero Sexualität 
abwandte  und  der  geistigen  Homosexualität  zuneigte.  Da  kam  es,  daß  er  einer 
Künstlerin  zu  einer  Büste  Modell  sitzen  mußte.   Die  Bildhauerin  war  noch  in 


184  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

den  gewöhnlichen  Kleidern  und  machte  keinen  besonderen  Eindruck  auf  ihn. 
Sie  bat  ihn  einen  Moment  zu  warten,  sie  müsse  noch  die  Arbeitstoilette  machen. 
Er  wartete  einige  Minuten  und  als  sie  wieder  erschien,  war  er  verblüfft.   Sie 
trug  einen  langen  weißen  Kittel,  der  das  Kleid  ganz  bedeckte,  ein  kleines 
kokettes  Barett,  um  die  Haare  vor  dem  Staube  zu  schützen,  und  einen  Zwicker, 
den  sie  nur  bei  der  Arbeit  anlegte.  Sie  sah  so  reizend  aus,  daß  er  sich  in  diesem' 
Moment  in  sie  blitzartig  verliebte.    Er  machte  aus  seiner  Neigung  kein  Hehl 
und  holte  im  Frauendienste  nach,  was  er  die  letzten  sechs  Jahre  versäumt . 
hatte.  Sie  ließ  sich  seine  Huldigungen  gerne  gefallen.  Um  seine  Ruhe  war  es 
geschehen.    Er  war  in  sie  verliebt,  wie  er  nie  zuvor  verliebt  gewesen.    Nach 
einigen  Wochen  machte  er  ihr  einen  Heiratsantrag,  den  sie  höflich  ablehnte. 
Sie  hatte  sich  vorgenommen,  nie  zu  heiraten.    Er  gab  aber  nicht  nach  und 
verfolgte  sie  mit  seinen  Aufmerksamkeiten  und  Zärtlichkeiten.    Er  ging  nicht 
mehr  m  den  Klub,  nicht  mehr  zu  seinen  Freunden.    Er  war  verliebt  wie  ein 
dummer  Junge  und  behauptete,  er  wisse  erst  jetzt,  was  Liebe  sei.   Da  wollte 
ihn  einer  semer  Freunde  von  seiner  Leidenschaft  kurieren  und  teilte  ihm  im 
Vertrauen  mit,  er  habe  gehört,  daß  die  Bildhauerin  homosexuell  sei  und  ein 
Verhältnis  mit  einer  Sängerin  habe,  die  immer  in  Hosenrollen  auftrete.    Die 
ganze  Stadt  wisse  davon.   Es  sei  ein  öffentliches  Geheimnis.   Diese  Mitteilung 
hatte  die  entgegengesetzte  Wirkung.  Seine  Leidenschaft  erreichte  einen  Grad, 
der  ihn  das  Leben  ohne  sie  als  wertlos  erachten  ließ.   Er  kämpfte  mit  Sclbst- 
mordideen  und  teilte  sie  auch  der  Auserwählten  mit.    Das  machte  auf  sie 
einen  großen  Eindruck  und  sie  teilte  ihm  offen  mit:    Sie  wolle  gern  seine 
Geliebte  werden,  aber  nie  seine  Frau.    Er  sträubte  sich  eine  Zeitlang  gegen 
dieses  Kompromiß  und  wollte  nur  einen  Bund  für  das  Leben.  Schließlich  kam 
es  zu  dem  Verhältnis.   Sie  war  keine  Virgo  mehr  und  erzählte  ihm,  sie  wäre 
schon  die  Geliebte  ihres  Lehrers  gewesen.    Deshalb  wollte  sie  auch  nicht 
heiraten.   Sie  habe  aber  beim  Lehrer  nie  auf  normale  Weise  einen  Orgasmus 
erzielen  können.  Sie  blieb  auch  in  seinen  Armen  anästhetisch.  Bloß  cum  digito 
war  Befriedigung  und  Orgasmus  zu  erzielen.  Z.  I.  blieb  ihr  jedoch  einige  Jahre 
treu  und  wollte  sie  trotz  ihres  Widerstandes  immer  wieder  zur  Ehe  bewegen. 
Er  sah  sie  immer  am  liebsten  in  dem  Gewände,  das  ihn  so  erregt  hatte.    Sie 
hatten  ihre  Zusammenkünfte  immer  in  ihrem  Atelier  und  er  kam  immer  erst 
wenn  sie  in  Arbeitstoilette  war.    Schließlich  erkaltete   seine  Liebe  und  er 
kehrte  reuig  zu  seinem  frauenfeindlichen  Stammtisch  zurück.  Ein  Versuch  mit 
einem  bei  ihm  angestellten  Mädchen  mißlang  und  führte  ihn.  in  meine  Be- 
handlung.   Er  glaubte  sich  impotent.    Es  war  aber  nur  der  in  diesem  Alter 
auftretende  homosexuelle  Nachschub,  der  so  viele  Erscheinungen  verursacht 
welche  die  Arzte  das  Klimakterium  des  Mannes  nennen.    Die  Analyse  ergab' 
daß   die  Künstlerin  die  Kusine  eines  seiner  Lieblingsschüler  war,  dem  sie 
außerordentlich  ähnlich  war.    Dieser  Schüler  trug  in  seinem  Laboratorium 
gleichfalls   einen  weißen   Kittel,  wie  ihn   die  Bildhauerin  an   hatte.    Diese 
Ähnlichkeit  war  es,  welche  seine  Libido  so  entflammt  hatte.  Der  Schüler  hatte 
sich  gerade  einige  Wochen  vorher  verlobt.   Er  war  aus  verschiedenen  Motiven 
gegen  diese  Verlobung.    (Ein  junger  Mann  solle  sich  wegen  einer  Frau  nicht 
eeme  wissenschaftliche  Karriere  verderben!)  In  diesen  Schüler  war  er  verliebt, 
ohne  es  zu  wissen.    Die  Ähnlichkeit  der  Kusine  hatte  die  Transkription  der 
Neigung  in  das  Heterosexuelle  gestattet  und  das  Kostüm  es  ermöglicht,  daß 
ein    Teil    der   homosexuellen   Triebkräfte    in    das    heterosexuelle   Strombett 
geleitet  wurde. 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  i  qfj 

An  diesen  Fall  möchte  ich  einige  Worte  über  das  Klimakterium 
des  Mannes  und  das  kritische  Alter  der  Frau  anschließen.  Der  psycho- 
logische Vorgang,  soweit  er  den  Abschied  von  der  Jugend  bedeutet,  ist 
ja  bekannt  und  auch  wiederholt  beschrieben  und  besprochen  worden.1) 
Der  ganze  Liebesinstinkt  des  Menschen  sträubt  sieh  gegen  das  Alt- 
werden und  fordert  die  Ausnützung  der  wenigen  noch  zur  Verfügung 
stehenden  Jahre.  Je  geringer  die  sexuelle  Ausbeute  vergangener  Jahre 
gewesen,  desto  größer  und  stürmischer  wird  das  Verlangen,  das  Ver- 
säumte nachzuholen,  „so  lange  es  noch  Zeit  ist".  Was  aber  die  wenigsten 
Forscher  berücksichtigt  haben,  das  ist  die  Bedeutung  der  Homo- 
sexualität für  diese  kritische  Zeit.  Es  kann  ja  auch  sein,  daß  die  In- 
volution der  Geschlechtsdrüsen  dazu  beiträgt,  das  Gegengeschlechtliche 
stärker  hervortreten  zu  lassen.  Wer  sich  die  Bisexualität  chemisch 
vorstellt  —  und  es  gibt  ja  manche  Stützen  für  diese  Theorie  — ,  kann 
dann  von  einem  Siege  des  Gegengeschlechtlichen  im  Menschen  über  das 
Gleichgeschlechtliche  reden.  Hirschfeld  würde  von  einem  Manne  sagen: 
Da  er  jetzt  weniger  Andrin  produziert,  habe  das  Gynäcin  die  Oberhand 
gewonnen.  Vielleicht  erklären  sich  viele  Fälle  von  sogenannter  tardiver 
Homosexualität  (Krafft-Ebing)  auf  diese  Weise.  Habe  ich  doch  einen 
Mann  gesprochen,  der  bis  zum  50.  Lebensjahre  sich  sexuell  gar  nicht 
betätigte  und  auch  keine  Ahnung  davon  hatte,  daß  er  homosexuell  war. 
Um  diese  Zeit  kam  er  in  die  Kreise  der  Homosexuellen  und  ist  jetzt  ein 
begeisterter  Anhänger  des  dritten  Geschlechtes.  Vielleicht  hängt  auch 
der  Durchbruch  der  Homosexualität,  der  zu  Paranoia  führt  —  wir  wollen 
in  den  nächsten  Kapiteln  davon  sprechen  — ,  mit  Veränderungen  der 
Sexualdrüsen  zusammen,  die  sich  dann  psychisch  äußern  müssen.  In  dem 
Falle  Nr.  25  war  es  die  Enttäuschung  in  der  Ehe  (beide  Frauen  hatten 
ihn  betrogen) ,  welche  das  Manifestwerden  der  homosexuellen  Regungen 
ermöglichte. 

Es  ist  möglich,  daß  die  schönen  Versuche  und  Operationen  von 
Steinach  diese  Frage  klären  werden.  Ich  zweifle  daran.  Was  beweisen 
die  Erfolge  von  Steinach  bei  Ratten  und  Kaninchen?  Daß  die  Puber- 
tätsdrüse —  wie  er  das  interstitielle  Gewebe  des  Hodens  nennt  — 
einen  großen  Einfluß  auf  die  sexuelle  Gestaltung  des  Körpers  hat.  Das 
wußten  wir  schon  aus  den  Versuchen  von  Halbem,  Foges,  Tandler  u.  a. 
Die  Untersuchungen  an  Skopzen  und  Kastraten  haben  uns  das  längst 
bewiesen.  Wir  müßten  durch  Sektionen  erst  beweisen  können,  daß  die 
tardive  Homosexualität  durch  Involution  der  Pubertätsdrüse  ein- 
getreten ist;    wir  müßten  nachweisen,   daß  sie  durch  Implantierung 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz  „Da6  kritische  Alter  des  Mannes"  in  „Nervöse  Leute". 
Verlag  Paul  Knepler,  Wien. 


186  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

einer  neuen  Pubertätsdrüse  behoben  würde.  Tierversuche  beweisen 
nichts  für  den  Menschen.  Wir  haben  es  überall  auch  mit  der  Wirkung 
seelischer  Kräfte  zu  tun,  die  sich  mit  körperlichen  Ursachen  kom- 
binieren. Aber  die  Möglichkeit,  daß  die  t  a  r  d  i  v  e  Homosexualität 
durch  Involution  der  Pubertätsdrüse  angeregt  und  gefördert  wird,  ist 
nicht  von  der  Hand  zu  weisen  und  würde  vielleicht  zu  einer  aktiven 
Paranoiatherapie  führen  können. 

Im  späten  Alter  auftretende  Leidenschaften  entstehen  oft  im 
kritischen  Alter  durch  Flucht  vor  der  Homosexualität,  ein  Mechanismus, 
den  wir  noch  eingehend  besprechen  müssen.  Ich  möchte  hier  nur  auf  die 
merkwürdige  homosexuelle  Färbung  im  kritischen  Alter  aufmerksam 
machen.  Karin  Michaelis,  die  sich  mit  dem  Romane  „Das  kritische  Alter 
der  Frau"  ein  großes  Verdienst  erworben  hat,  verabsäumt  nicht,  diese 
Seite  der  seelischen  Revolution  entsprechend  zu  schildern.  Das  würde  nur 
beweisen,  daß  dieser  Roman  den  Wert  einer  guten  Biographie  hat.  Denn 
diese  Beobachtung  deckt  sich  durchwegs  mit  meinen  Erfahrungen.  In 
dem  Romane  wird  die  Neigung  der  Heldin  zu  einem  Stubenmädchen  sehr 
eingehend  geschildert.  In  diesem  kritischen  Stadium  ist  der  Mann 
besonders  bereit,  sich  in  eine  homosexuelle  Maske  zu  verlieben  ....  Ich 
gestehe,  daß  ich  mir  diese  Vorgänge  auch  ohne  den  Einfluß  der 
Geschlechtsdrüsen  erklären  kann.  Denn  man  sieht  Fälle,  in  denen  von 
Klimakterium  noch  keine  Rede  sein  kann.  Da  ist  es  die  Liebes- 
enttäuschung, wie  in  dem  letzten  Falle,  welche  diese  neue  homosexuelle 
Welle  in  Bewegung  bringt.  Auch  die  lange  Zurückdrängung  der  homo- 
sexuellen Tendenzen  ist  zu  berücksichtigen. 

Typisch  ist  das  Verhalten  aller  dieser  Menschen,  die  ihre  Homo- 
sexualität nicht  sehen  wollen.  Sie  verlieben  sich  mit  einer  derartigen 
Intensität,  sie  stehen  unter  einem  derartigen  Willen  zur  Liebe,  daß  die 
Leidenschaft  dann  alle  vorherigen  Leidenschaften  übertrifft.  Hier 
eröffnen  sich  neue  Ausblicke  zur  Psychologie  des  Don  Juan,  des 
sogenannten  „Wüstlings",  und  der  Messalina  .  .  .  Auf  der  Flucht  vor 
der  Homosexualität  stürzt  sich  das  Individuum  in  eine  gesteigerte 
Heterosexualität  (mit  Kompromißbildungen  und  Benützung  von  homo- 
sexuellen Masken) ,  die  aber  selten  die  Ruhepunkte  der  Befriedigung 
gewährt.  Der  Wollüstling  ist  immer  der  Mensch, 
der  seine  Wollust  nicht  gefunden  hat.  Wer  sie 
gefunden  hat,  der  hat  auch  immer  wieder  die  Wellentäler  der  Libido, 
die  Ruhepausen  des  Sattseins.  Wer  sie  nur  scheinbar  gefunden  hat, 
wird  bald  wieder  von  dem  nicht  gesättigten  Triebe  gejagt  werden,  sie 
immer  wieder  zu  suchen.  So  wenig  wie  eine  Zwangshandlung  den 
Neurotiker  dauernd  beruhigen  kann,  weil  sie  nur  eine  Symbolhandlung 
und  ein  Ersatz  einer  anderen  Handlung  ist,  so  wenig  kann  die  in  die 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  i  Q7 

Hoterosexualität  getragene  unerledigte  Homosexualität  durch  einen 
heterosexuellen  Exzeß  zur  Ruhe  kommen.  Der  Sexualtrieb  ist  ja  — 
wie  Freud  mit  Recht  betont  —  komplexer  Natur  und  kommt  selten  in 
seiner  ganzen  Stärke  und  Totalität  zur  Anwendung.  Der  ganze  Trieb, 
ungeteilt,  ungehemmt,  ist  das  unerreichte  Ideal  aller  Menschen;  der 
Zustand  des  Verliebens  ist  die  Erwartung  einer  bisher  nicht  erreichten 
Befriedigung. 

Im  kritischen  Alter  des  Mannes  und  der  Frau  brechen  oft  schwere 
Zwangsneurosen  aus,  die  irrtümlicherweise  auf  Aufregungen,  Überan- 
strengungen und  andere  nebensächliche  Momente  zurückgeführt  werden. 
Jede  dieser  Zwangsneurosen  ist  ein  kompliziertes  Rätsel,  das  die  Auf- 
gabe hat,  die  treibenden  psychischen  Kräfte  vor  sich  und  der  Welt  zu 
verbergen.  Sehr  häufig  lassen  sich  hinter  den  verschiedenen  „ver- 
rückten" Symptomen  die  Schutzbauten  gegen  die  Homosexualität  nach- 
weisen. 

Der  nächste  Fall  bietet  uns  eine  interessante  Auslese  von  Sym- 
bolismen und  Symbolhandlungen,  die  leicht  verständlich  werden,  wenn 
man  den  Schlüssel  gefunden  hat. 

Fall  Nr.  26.  Herr  Beta  erkrankt  im  Alter  von  60  Jahren  an  einer  eigent- 
lich akut  ausbrechenden  Neurose.  Plötzlich  überfällt  ihn  die  Angst  vor  der 
Tuberkulose.  Er  ist  der  festen  Überzeugung,  daß  er  tuberkulös  ist,  und  der 
Ausspruch  berühmter  Ärzte  kann  ihn  nur  für  einige  Tage  beruhigen.  Er  liest 
alle  populären  Werke  über  Tuberkulose  und  auch  die  wissenschaftlichen 
Bücher  von  Cornet,  Koch  und  anderen  Forschern.  Er  hat  sich  ein  ganzes 
System  zurechtgelegt,  wie  man  die  Tuberkulose  heilen  kann.  Er  glaubt,  daß 
kalte  Luft  das  beste  ist,  und  macht  große  Spaziergänge  im  Freien,  will  nur  bei 
offenen  Fenstern  schlafen,  fährt  nach  Davos  und  lebt  am  liebsten  in  Orten, 
wo  man  Wintersport  treibt.  Er  ist  überzeugter  Anhänger  der  Tröpfchen- 
infektion und  meidet  infolgedessen  die  Nähe  von  .  .  .  Männern. 

„Warum  gerade  von  Männern?  Kann  man  durch  Frauen  nicht  ebenso 
infiziert  werden?" 

„Nein!  Frauen  expektorieren  nicht  so  kräftig.  Die  Männer  expektorieren 
in  weitem  Strahle,  Frauen  nur  in  einem  kleinen  Umkreis." 

„Woher  haben  Sie  diese  Kenntnisse?" 

„Sehen  Sie,  das  habe  ich  durch  Studium  und  Nachdenken  gewonnen. 
Ich  dachte  mir,  Husten  und  Urinieren  sind  zwei  sehr  ähnliche  Vorgänge.  In 
beiden  kommen  Ausscheidungen  des  Organismus  vom  Innern  in  die  Atmo- 
sphäre. Eine  Frau  uriniert  auch  nur  mit  kleinem,  nicht  weit  reichendem 
Strahle.  Männer  urinieren  sehr  kräftig  und  können  einige  Meter  weit  den 
Urin  entleeren." 

Schon  dieser  Vergleich  verriet  mir,  daß  es  sich  bei  dieser  Angst  vor 
Tuberkulose  um  einen  versteckten  sexuellen  Trieb  handeln  müsse.  Allein 
Beta  setzt  diesen  Vergleich  noch  fort. 

„Männer  sind  auch  imstande  zu  ejakulieren,  während  Frauen  nur  ein 
kleines  Stück  Schleim  ausstoßen  sollen,   das  in  der  Scheide  bleibt   .... 


188  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Wie  dem  auch  sei,  ich  fürchte  besonders  die  Infektion  durch  einen  tuber- 
kulösen Mann." 

Ich  erkundigte  mich,  wie  das  Leiden  entstanden  sei  und  wie  lange  es 
besteht,   und   hörte  folgende  sehr   bezeichnende  Begebenheit: 

„Ich  lebte  längere  Zeit  mit  einem  Neffen  zusammen,  der  bei  mir  wohnte 
und  ein  eigenes  Zimmer  hatte.  Einmal  kam  meine  verheiratete  Tochter  zu 
uns  auf  Besuch,  weil  ihr  Kind  Keuchhusten  hatte  und  ihr  Luftveränderung 
empfohlen  wurde." 

(Es  ist  charakteristisch,  daß  er  sich  vor  der  Ansteckung  mit  Keuch- 
husten nicht  fürchtete,  obwohl  ihm  ein  böser  Fall  bekannt  war,  daß  ein 
älterer  Herr  sich  infiziert  hatte  und  viele  Monate  krank  war.  Die  Angst 
vor  der  Tuberkulose  erweist  sich  dadurch  als  einzige  „überwertige"   Idee.) 

„Ich  mußte  —  fuhr  er  fort  —  mit  meinem  Neffen  in  einem  Zimmer 
schlafen.  Er  war  erst  vor  einigen  Monaten  aus  Meran  zurückgekommen 
und  galt  zwar  als  geheilt  .  .  .  Aber  Sie  wissen  ja,  wie  diese  Heilungen  bei 
näherer  Betrachtung  aussehen.  In  der  Nacht  war  ich  schon  aufgeregt  und 
hörte  den  Neffen  ein  paar  Mal  husten.  Ich  merkte,  daß  er  nicht  schlief,  und 
konnte  auch  keinen  Schlaf  finden,  weil  ich  daran  dachte,  daß  ich  mich  sicher 
infizieren  würde.  Am  nächsten  Morgen  schon  lief  ich  zu  meinem  Hausarzt, 
der  mich  auslachte,  aber  auf  mein  dringendes  Befragen  mir  sagte:  „Wenn 
Sie  solche  Angst  haben,  so  schlafen  Sie  halt  in  einem  anderen  Zimmer." 
Ich  ließ  mir  das  nicht  zweimal  sagen  und  übernachtete  nun  einige  Wochen 
in  einem  Hotel.  Doch  da  begann  mich  der  Gedanke  zu  plagen,  daß  hier 
vielleicht  wieder  ein  Tuberkulöser  übernachtet  haben  konnte,  und  ich  fand 
wieder  keinen  Schlaf.  Ich  schwitzte  bei  Nacht  und  glaubte  nun  den  Ärzten 
nicht  und  war  überzeugt,  daß  dies  das  erste  Stadium  der  Tuberkulose 
wäre  .  .  ." 

Wir  merken,  daß  der  alte  Herr  durch  die  Anwesenheit  des  Neffen 
homosexuell  erregt  wurde  und  daß  die  Homosexualität  sich  ihm  als  Bild 
der  Tuberkulose  bewußtseinsfähig  machte. 

„Ich  könnte  mir  die  Haare  ausreißen,  daß  ich  diesen  Unsinn  ge- 
macht habe." 

„Welchen  Unsinn?" 

„Nun,  mit  dem  Neffen  allein  in  einem  Zimmer  zu  schlafen.  Wenn  ich 
wenigstens  eine  spanische  Wand  vorgestellt  hätte.  Aber  man  denkt  leider 
in  seinem  Leichtsinn  nicht  an  die  Folgen  .  .  ." 

Überdies  zeigt  Beta  eine  Reihe  von  Zwangshandlungen,  welche  sich 
leicht  durchblicken  lassen,  wenn  man  einmal  weiß,  daß  bei  ihm  „Tuber- 
kulose" „Homosexualität"  bedeutet.  Er  geht  auf  der  Gasse  und  bemerkt  aus 
der  Ferne,  daß  ihm  ein  Mann  entgegenkommt.  Er  weicht  aus  und  geht  auf 
die  andere  Seite;  er  reicht  keinem  Mann,  auch  seinen  Freunden,  nicht  mehr 
die  Hand;  sie  könnte  ja  Tuberkelbazillen  tragen.  Alle  Stätten,  wo  Männer 
nackt  zu  sehen  sind,  Bäder,  Sportspiele,  sind  Verbreitungsherde  der 
Tuberkulose. 

Überdies  macht  sich  in  seinem  Wesen  ein  weiblicher  Zug  bemerkbar. 
Er  hat  sich  den  Bart  rasieren  lassen,  weil  Haare  Brutstätten  für  Tuberkel- 
bazillen  sind;    er  ist  jetzt   rührselig,  weinerlich,  unentschlossen,  weichlich 


Latente  Homosexualität.  —  Maske»  der  Homosexualität  usw.  1 ÖQ 

geworden.  Er  findet,  daß  die  Mode  der  kurzen  Röcke  nicht  kleidsam  ist 
und  trägt  einen  langen  Rock,  der  fast  wie  ein  Kaftan  aussieht.1)  Es  handelt 
Bich  um  einen  vollkommenen  Durchbruch  der  Weiblichkeit,  der  schon  einen 
Übergang  zu  den  Paranoiaformen  bildet,  auf  die  wir  später  zu  sprechen 
kommen  werden.  Auch  erwacht  in  ihm  Eifersucht  auf  seine  Frau  und  er 
findet  sich  zurückgesetzt,  nicht  genügend  beachtet.  Er  ist  aufgeregt,  schlaf- 
los, lebensüberdrüssig.    Die  Analyse  wird  nach  einigen  Stunden  abgebrochen. 

Solche  Kranke  zittern  vor  der  Wahrheit,  eilen  von  Arzt  zu  Arzt 
und  wollen  eigentlich  nur  eines :  ihr  Geheimnis  behalten  und  die  Homo- 
sexualität in  der  maskierten  Form  weiter  pflegen.  Einmal  entlarvt, 
wäre  es  ihnen  nicht  so  leicht  möglich.  Sie  werden  immer  unter  allerlei 
Vorwänden  nach  einigen  Stunden  der  Behandlung  verschwinden,  wobei 
in  Betracht  zu  ziehen  ist,  daß  sie  ja  den  Arzt  auch  als  Mann  betrachten, 
ihre  homosexuelle  Liebe  auf  ihn  übertragen  und  nun  die  Gefahr  des 
Zusammenseins  mit  dem  geliebten  Objekte  fliehen. 

An  diesem  Falle  glaube  ich  gezeigt  zu  haben,  welche  wunderliche 
Verkleidung  der  Durchbruch  der  Homosexualität  herbeiführt.  Ähn- 
liche Formen  sind  auch  die  Angst  vor  der  Syphilis,  die  Angst  vor  Blut- 
vergiftung, die  Angst  vor  Berührung.  Hinter  diesem  Schreckbilde 
Syphilis  steckt  ein  anderes  Verbot.  Ich  glaubte  früher,  daß  es  sich  bei 
der  Syphilidophobie  nur  um  den  Inzest  handelt.  Jetzt  weiß  ich,  daß 
es  sich  um  die  Angst  vor  „der  verbotenen  Liebe"  handelt. 
Die  Syphilis  wird  ein  Symbol  des  Inzestes  oder  der  Homosexualität. 
Infiziert  werden  heißt:  mit  homosexuellen  oder  inzestuösen  Tendenzen 
durchseucht  werden.  Die  Bilder  sind  der  Sprache  des  Alltags  ent- 
nommen. Man  spricht  immer,  daß  ganz  Berlin  mit  Homosexualität 
infiziert  sei;  die  Gegner  der  Homosexuellen  wettern  gegen  die  Seuche, 
welche  das  deutsche  Volk  verpeste;  man  bewahrt  einen  Jungen  vor 
der  Ansteckung  der  Homosexualität.  Ist  es  also  wunderlich,  wenn 
die  krankhaften  Ausdrucksformen  der  Neurose  dann  die  gleichen  Bilder 
annehmen?  Die  Entstehung  solcher  Angstzustände  in  höherem  Alter 
ist  immer  verdächtig  auf  einen  Durchbruch  der  Homosexualität,  gegen 
die  dann  neue  Sicherungen  errichtet  werden  müssen.  Wollte  ich  alle 
diese  Formen  hier  beschreiben,  ich  müßte  ein  neues  Werk  über  Angst- 
zustände vollenden.  Wir  wissen  es  ja,  daß  alle  Neurosen  eine  bisexuelle 
Analyse  verlangen.  Ich  möchte  aber  behaupten,  daß  der  Beitrag  der 
Homosexualität  zur  Neurose  ein  viel  größerer  ist  als  der  aller  anderen 
verpönten  Triebrichtungen. 

Ich  wende  mich  zu  der  Schilderung  eines  Charakters,  bei  dem 
man  am  allerwenigsten  die  Homosexualität  als  treibende  Kraft  ver- 
muten würde:    zum  Don  Juan.    Von  der  Messalina  werden  wir  später 


1)  Ähnliche   Züge  finden  sich  bei  Jean  Jacques   Rousseau. 


190  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

in  dem  Buche  über  die  sexuelle  Anästhesie  der  Frau  sprechen.  Aber 
der  Don  Juan  erfordert  eine  gesonderte  Abhandlung.  Man  denke,  ein 
Mann,  der  sein  Leben  in  den  Dienst  der  Frauen  stellt,  der  Tag  und 
Nacht  nur  an  neue  Eroberungen  denkt,  der  jede  Frau  schön  findet, 
wenn  die  Stunde  es  verlangt,  für  den  keine  zu  alt,  keine  zu  häßlich 
ist,  wenn  er  sie  für  sein  Register  braucht,  dieser  Mann  sollte  an 
latenter  Homosexualität  leiden?  Und  doch  ist  es  so,  und  je  mehr  ich 
Gelftgenheit  habe,  die  Psychologie  des  Frauenjägers  kennen  zu  lernen, 
desto  fester  wird  meine  Überzeugung,  daß  hinter  dem  rastlosen  Treiben 
die  Jagd  nach  dem  Manne  steckt.  So  viele  Erklärungen  man  auch 
über  den  Don  Juan,  diesem  Vorläufer  Faustens,  gefunden  hat,  keine 
löst  restlos  sein.  Wesen  auf.  Erst  die  Heranziehung  der  latenten 
Homosexualität  macht  uns  den  Typus  verständlich. 

Welche  Charaktereigenschaften  sind  für  den  Don  Juan  typisch? 
Erstens:  Seine  leichte  Entflammbarkeit.  Zweitens:  Die  Wahllosigkeit 
seines  Geschmackes.  Drittens:  Das  rasche  Erkalten.  Natürlich  gibt 
es  verschiedene  Übergangsformen  und  Zwischenstufen.  Ich  wähle  nur 
den  Grundtypus  heraus,  wie  er  mir  in  einigen  Beispielen  bekannt  ist. 
Die  Trias  „rasch  entflammt  —  nicht  wählerisch  —  rasch  erkaltet" 
gestattet  mannigfache  Variationen.  Besonders  die  Wahl  der  Liebes- 
objekte wird  bei  manchen  Frauenjägern  durch  eine  bestimmte  feti- 
schistische Vorliebe  (z.  B.  rotes  Haar,  Jungfrau,  bestimmte  Gestalt, 
bestimmter  Beruf)  eingeengt.  Es  gibt  unter  den  Don  Juans  Sammler 
bestimmter  Typen.  Ich  kannte  einen  Witwensammler.  Die  Größe  der 
Begierde  war  proportional  zur  Kürze  des  Witwenstandes.  Nur  Frauen 
in  Trauer  zogen  ihn  an.  Aber  in  dieser  Variation  war  er  dann  wahllos. 
Ob  sie  jung  oder  alt,  6chön  oder  häßlich  war,  das  war  ihm  gleich, 
wenn  sie  nur  eine  Witwe  war.  Sein  Stolz  waren  die  Witwen,  die  am 
Tage  des  Begräbnisses  seine  Geliebten  wurden. 

Oskar  A.  H.  Schmitz1)  hat  einen  feinen  Unterschied  zwischen  dem 
Typus  des  Don  Juans  und  dem  des  Casanova  gemacht:  „Don  Juan  ist  ein 
betrügerischer,  listiger  Verführer,  dem  die  damit  verbundene  Besitzergreifung, 
die  Gefahr,  die  Betätigung  seiner  Macht  und  Herrschaftsgelüste  Hauptsache 
ist,  der  aber  an  sich  unerotisch  ist,  während  Casanova  der  Erotiker  par 
excellence  ist,  auch  verschlagen  und  betrügerisch,  aber  nicht  um  seine  Macht 
—  sondern  um  sein  sinnliches  Liebesbedürfnis  angenehm  zu  befriedigen.  Don 
Juan  kennt  nur  die  Weiber,  für  Casanova  ist  jede  „das  Weib".  Don  Juan  ist 
dämonisch,  teuflisch,  er  geht  auf  das  Verderben  der  von  ihm  verführten 
Weiber  aus,  er  stößt  sie  absichtlich  ins  Unglück,  Casanova  ist  menschlich, 
sorgt  immer  für  das  Glück  seiner  Geliebten  und  widmet  ihnen  ein  zärtliches 
Andenken.  Don  Juan  verachtet  die  Weiber,  er  i6t  der  Typus  des  Misogynen, 
des  satanischen  Frauenhassers,  Casanova  ist  typischer  Feminist,  besitzt  ein 


J)  Don    Juan,    CaBanova    und    andere   erotische    Charaktere.    (Stuttgart    190G.) 


Latente  Homosexualität.  —  Maskcu  der  Homosexualität  usw. 


191 


tiefes  Verständnis  für  die  Frauenseele,  wird  durch  die  Liebe  nicht  enttäuscht 
und  braucht  die  ständige  Berührung  mit  dem  weiblichen  Wesen  für  Bein 
Lebensglück.  Don  Juan  verführt  durch  sein  dämonisches  Wesen,  durch  die 
Anziehungskraft  der  brutal-wilden  Gewalt,  Casanova  durch  die  von  ihm 
ausgehende  sinnliche  Atmosphäre." 

Bloch  führt  noch  einen  dritten  Typus  ein,  den  Pseudo-Don  Juan  oder 
besser  Pseudo-Casanova,  den  immer  enttäuschten  Sucher,  der  am  besten  durch 
Retif  de  la  Bretonne  repräsentiert  wird.  Er  sucht  die  wahre  Liebe  und 
findet  sie  nie. 

Wenn  ich  auch  zugeben  muß,  daß  der  Verführer  zwischen  diesen  Typen 
schwankt,  so  möchte  ich  in  allen  drei  Typen  nur  die  Vertreter  einer  latenten 
Homosexualität  sehen.  Keiner  findet  sein  Ideal.  Retif  de  la  Bretonne  ist 
der  ewig  enttäuschte,  weil  er  die  wahre  Liebe  nie  finden  wird;  in  seiner 
Liebe  steckt  noch  viel  Anbetung  der  Trau.  Es  ist  eine  Flucht  in  die  Frau 
vor  dem  Mann.  Casanova  beweist  sich  immer  aufs  neue,  was  er  für  ein 
Mann  und  Kerl  ist.  Das  Weib  ist  ihm  Mittel,  sein  Persönlichkeitsgefühl  zu 
erhöhen.  Er  darf  das  Objekt  nicht  entwerten,  sonst  verringert  er  die  Größe 
seiner  Siege.  Der  Don  Juan  liegt  schon  auf  der  Linie,  die  zum  berüchtigten 
Marquis  de  Sade  führt.  Er  haßt  das  Weib,  weil  es  nicht  imstande  ist,  ihm 
die  große  Liebe  einzuflößen.  Er  sucht  ewig  Erlösung  und  hat  keine  Be- 
rührungspunkte mit  dem  fliegenden  Holländer,  der  die  Liebe  bis  in  den  Tod 
sucht.  Aber  ich  kann  nicht  bestätigen,  daß  diese  Typen  so  scharf  geschieden 
sind,  wie  Schmitz  und  Bloch  es  glauben  machen.  Es  finden  sich  die  feinsten 
Übergänge  und  Variationen.  Sie  wechseln  mit  den  Zeiten  den  Charakter  und 
gehen  in  einen  anderen  Typus  über. 

Wir  bleiben  daher  beim  Don  Juan  als  Repräsentanten  der  Gattung 
des  Verführers.  Ist  doch  allen  diesen  Typen  gemeinsam,  daß  sie  nicht  Treue 
halten  und  ihre  Liebe  nicht  monopolisieren  können.  Und  das  ist  für  mich 
das  Entscheidende. 

Die  leichte  Reizbarkeit,  der  Haß  gegen  die  Frauen,  die  latente 
Grausamkeit,  die  ewige  Liebesbereitschaft  zeigen  uns,  daß  der  Don 
Juan  im  Grunde  genommen  immer  unbefriedigt  ist.  Der  wichtigste 
Moment  ist  für  ihn  die  Eroberung  der  Frau.  In  dieser  Eroberung  zeigt 
sich  etwas  vom  Haß  gegen  die  Frau,  der  bei  allen  Homosexuellen  — 
latenten  und  manifesten  —  eine  so  große  Bedeutung  hat.  Für  den 
richtigen  Don  Juan  ist  die  Eroberung  der  Frau  ein  Problem,  das  seine 
Spielerfreude  reizt.  Wird  es  auch  bei  der  einen  gehen  und  bei  der 
anderen  und  bei  der  dritten?  Jede  neue  Eroberung  überzeugt  ihn  von 
seiner  eigenen  Unwiderstehlichkeit,  von  dem  Zauber  seiner  Reize,  so 
daß  er  sich  sagen  kann:  Du  bist  doch  ein  ganzer  Mann!  Er  muß  sich 
immer  wieder  beweisen,  daß  er  ein  Mann  ist,  weil  er  seine  Weiblich- 
keit zu  stark  fühlt;  er  kann  die  Frauen  mit  Hilfe  dieser  Weiblichkeit 
am  leichtesten  erobern,  weil  er  aus  sich  heraus  weiß  und  fühlt,  was 
die  Frauen  verlangen.  Ist  er  doch  selbst  eine  Frau  in  Männerkleidern. 
Sein  Narzissmus  (die  krankhafte  Selbstliebe)  verlangt  immer  wieder 
neue  Beweise  seiner  Unwiderstehlichkeit.    Dieser  Mann  aber,  der  allö 


192  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Perversionen  an  Frauen  übt  und  der  auch  in  der  Abwechslung  der 
Liebesarten  sein  Suchen  nach  bestimmten  Reizen  verrät,  wird  sich  nie 
dazu  hinreißen  lassen,  einen  homosexuellen  Akt  zu  begehen,  obwohl 
er  sonst  nicht  wählerisch  ist  und  von  allem  Bösen  und  Verbotenen 
gekostet  hat.  Er  findet  die  Homosexuellen  ekelhaft  und  unausstehlich, 
er  müsse  ausspucken,  wenn  er  so  einen  Kerl  sehe,  er  möchte  alle  diese 
Männer  und  Frauen  einsperren  lassen,  diese  Männer  ausrotten  wie  eine 
Seuche.  Er  ist  zu  dem  Problem  der  Homosexualität  mit  einem  Affekt 
eingestellt,  der  uns  beweist,  daß  hinter  diesen  negativen  Formen  des 
Ekels  und  der  neurotischen  Abwehr  die  positiven  Triebriehtungen  des 
Verlangens  versteckt  werden.  Er  sucht  auch  Frauen,  die  sich  dem 
männlichen  Typus  nähern,  denen  die  sekundären  Geschlechtsmerkmale 
fehlen,  ganz  magere,  ephebenhafte  Frauen,  Matronen,  Mädchen,  die 
noch  Kinder  sind,  als  Übergangsformen  zum  männlichen  Typus. 
Manchmal  verraten  gewisse  Abneigungen,  wie  sie  Hirschfeld  als  Anti- 
fetisch  beschreibt,  den  homosexuellen  Charakter  und  die  Schutzmaß- 
regeln gegen  die  Homosexualität.  Der  eine  verträgt  keine  Frauen,  die 
große  Füße  haben,  der  andere  keine  Frau,  die  am  Körper  behaart  ist. 
Da  komme  ihm  das  Brechen  an.  Der  dritte  wird  durch  das  Schnurr- 
bärtchen  abgestoßen,  durch  eine  tiefe  Stimme.  Es  gibt  da  alle  Über- 
gangsformen. Der  eine  sucht  den  vollendeten  Typus  Weib,  der  andere 
den  Typus,  der  sich  mein-  dem  Manne  nähert,  ohne  den  anderen  zu 
verschmähen. 

Er  sucht  immer,  weil  er  ja  im  geheimen  nach  dem  Manne  sucht. 
Sein  Sexualziel  ist  der  Mann.  Von  jedem  Weibe  erhofft  er  die  große 
Lust,  die  ihn  einmal  befriedigt.  Von  jeder  muß  er  sich  enttäuscht  ab- 
wenden, da  er  ja  nicht  befriedigt  werden  kann.  In  der  Eroberung  und 
in  dem  Verlassen  der  Frau  zeigt  sich  wieder  seine  niedere  Wertung 
der  Frau.  Der  Frauenschätzer  ist  eigentlich  kein  Don  Juan,  da  er 
seine  Sexualität  meistens  auf  wenige  Frauen  verteilt  und  von  der  Über- 
wertung dieser  Frauen  seine  Schlüsse  auf  das  ganze  Geschlecht  zieht. 
Der  Don  Juan  benimmt  sich  so,  als  ob  er  die  Frauen  schätzen  würde. 
In  der  Geste  aber,  mit  der  er  sie  entläßt,  liegt  die  ganze  Verachtung 
der  Frau.  Er  schätzt  nur  die  Frauen,  die  ihm  widerstehen  und  die 
er  nicht  erobern  kann.  Solcher  Widerstand  kann  auch  dazu  führen, 
daß  der  Don  Juan  heiratet,  um  in  einer  unglücklichen  Ehe  das  alte 
Leben  fortzuführen.    Denn  er  hat  wieder  nicht  den  Mann  gefunden. 

Charakteristisch  ist  bei  näherer  Untersuchung,  daß  die  Wahl  des 
zu  erobernden  Objektes  so  oft  durch  homosexuelle  Zünder  erklärt 
werden  kann.  Der  Don  Juan,  der  nach  verheirateten  Frauen  jagt,  legt 
großen  Wert  darauf,  daß  ihm  die  Männer  dieser  Frauen  gefallen.  Das 
steigert  natürlich  sein  Selbstbewußtsein,  denn  es  ist  schwerer,  einem 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  ^93 

schönen  Manne  Hörner  aufzusetzen  als  einem  häßlichen.  Ein  solcher 
Don  Juan  sagte  mir  einmal:  „Ich  habe  alle  möglichen  Frauen  besessen, 
nur  nicht  die  Frau  eines  dummen  Kerls.  So  einen  dummen  Menschen 
zu  betrügen,  das  würde  ich  für  eine  Gemeinheit  halten."  Dieser  Typus 
legt  offenbar  Wert  darauf,  sich  mit  einem  klugen  Rivalen  zu  messen. 
(Wenn  du  so  klug  bist,  solltest  du  auf  deine  Frau  besser  aufpassen.) 
Der  Akzent  liegt  aber  auf  dem  Umstände,  daß  ihm  der  Mann  gefällt, 
daß  er  den  Mann  bewundert  und  ihn  als  klugen  Mann  anerkennt.  Er 
muß  erst  den  Mann  lieben,  ehe  er  seine  Frau  erobert,  und  er  kann  nur 
kluge  Männer  lieben.  Das  ist  seine  Liebesbedingung.  Maupassant 
schildert  in  einer  Novelle  einen  solchen  Typus.  Der  Held  kann  nur 
die  Frauen  von  Männern  besitzen,  die  ihm  sympathisch  und  seine 
Freunde  sind.  Einen  extremen  Typus  dieser  Art  werden  wir  in  dem 
Kapitel  „Eifersucht"  kennen  lernen. 

Fall  Nr.  27.  Herr  U.  0.  ist  jetzt  49  Jahre  alt  und  macht  eine  schwere 
seelische  Krise  durch.  Er  erzählt,  daß  er  glücklich  verheiratet  gewesen,  bis 
eine  Schauspielerin  seinen  Weg  gekreuzt  habe.  In  diese  habe  er  sich  so 
verliebt,  daß  er  nicht  loskommen  könne,  das  Haus  vernachlässige,  seinem 
Berufe  nicht  nachgehen  könne  und  im  Begriffe  stand,  einen  Selbstmord  zu 
begehen.  Er  habe  sonst  die  Frauen  nicht  so  lange  lieben  können  und  wäre 
bald  mit  einer  jeden  fertig  geworden.  Nach  einigen  Wochen  kam  eine 
andere  daran. 

„Sagten  Sie  nicht,   daß    Sie  glücklich   verheiratet  sind?" 

„Ja.  Das  hat  mich  nie  gestört.  Ich  kann  keiner  Frau  treu  sein.  Ich 
muß  immer  Abwechslung  haben.  Ich  bin  ein  polygamer  Mensch.  Diese  Frau 
ist  die  erste,  der  ich  treu  bin.  Nicht  meiner  Frau,  die  ich  schon  in  der 
ersten  Woche  der  Ehe  betrogen  habe,  nein,  der  Geliebten,  die  mich  ganz 
aus  dem  Gleichgewicht  gebracht  hat,  bin  ich  treu!  Denken  Sie:  Ich  dulde 
es,  daß  sie  mit  anderen  Männern  verkehrt,  von  denen  sie  sich  aushalten  läßt. 
Wer  mir  das  früher  gesagt  hätte!  —  Ich  nehme  mir  auch  jedesmal  vor, 
nicht  mehr  zu  ihr  zu  gehen  und  Schluß  zu  machen.  Ich  habe  es  meiner 
Frau,  die  ganz  gebrochen  ist,  auch  geschworen.  Ich  bin  immer  zu  schwach  .  .  . 
Retten  Sie  mich!  Befreien  Sie  mich  aus  diesen  unwürdigen  Banden!  Geben 
Sie  mich  meiner  Familie  wieder!" 

....  Die  Lebensgeschichte  dieses  Mannes  ist  die  oft  gehörte  anderer 
Neurotiker.  Er  begann  sehr  früh  sexuell  zu  verstehen  und  zu  onanieren. 
Schon  im  sechsten  Jahre  begannen  seine  ersten  onanistischen  Akte  in  der 
Schule;  er  glaubt  aber,  daß  es  auch  6chon  vorher  der  Fall  gewesen.  .Er 
hatte  allerlei  Spielkameraden,  mit  denen  er  die  „gewöhnlichen  kindlichen 
Scherze"  trieb.  Die  gewöhnlichen  kindlichen  Scherze  entpuppten  sich  als: 
Fellatio,  Päderastie,  manuelle  Onanie  und  Zoophilie.  Sie  richten  einen  Hund 
ab,  der  ihnen  dann  durch  Lecken  den  höchsten  Orgasmus  erzeugte.  Die 
letzte  homosexuelle  Liebe  hatte  er  mit  14  Jahren.  Es  war  ein  Kollege,  mit 
dem  er  gegenseitige  Onanie  trieb.  Eines  Tages  wurden  sie  über  den  Schaden 
der  Onanie  belehrt  und  gingen  zusammen  in  ein  Bordell.    Sie  übten  diese 

Stekel,    Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebons.  It.   2. Ann.  13 


194  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Praxis  sehr  lange  aus,  weil  es  ihnen  viel  mehr  Spaß  machte.    Oft  wechselten 
sie  dann  die  Frauen.  (Eine  nicht  so  seltene  Form,  wie  Latenthomosexuelle 
zu  großem  Orgasmus  kommen  und  auf  Umwegen  den  Freund  benützen.    Jn 
Lupanaren  sehr  häufig  geübt.)   Bald  jedoch  bildete  er  sich  zum   richtige]! 
Don  Juan  aus.    Schon  mit  16  Jahren  war  er  ein  vollendeter  Frauenjäger 
und  brachte  es  auch  dahin,  daß  die  Frau  seines  Gymnasialprofessors  seine 
Geliebte  wurde.    Er  begehrte  jede  Frau,  alt  oder  jung,  schön  oder  häßlich 
Er  behauptet,  seine  größten  Genüsse  alten  Frauen  zu  verdanken  und  pro- 
duziert mir  einen  Brief  von  Franklin  an  junge  Leute,  der  ihnen  rät,  sich 
an  die  alten  Frauen  zu  halten.    Diese  leichtbetonte  Gerontophilie  hinderte 
ihn  nicht,  mit  unreifen  Mädchen,  ja  fast  noch  Kindern  zu  beginnen.    Sein 
ganzes   Sinnen  und  Trachten  vom  Morgen   bis   zum  Abend  waren   Frauen. 
Wie  er  erwachte,  stellte  er  sich  die  Frage:  Was  wirst  du  heute  erleben* 
Ist  er  mit  einer  Frau  allein  im   Zimmer,   so   hat  er  nur  einen  Gedanken'- 
Wie  kann  ich  sie  gewinnen?    Er  betrachtet  jede  Frau  nur  als  Objekt  seiner 
Lust  und  wird  ihrer  sehr  rasch  müde.    Mit  Ausnahme  einer  älteren  Dame 
d.e  er  immer  zeitweise  besucht,  auch  jetzt  in  der  Zeit  seiner  großen  Liebe' 
.st  er  keiner  langer  als  einige  Wochen  treu  geblieben.    Oft  hatte  er  schon 
nach  einmaligem  Besitz  einen  Ekel  vor  dieser  Frau  und  dachte  sich:    Du 
bist  auch  nicht  besser  als  die  anderen.    Er  hat  seit  dem  16.  Jahre  durch  die 
ganze   Zeit  fast  jeden  Tag  verkehrt  und   öfters   mehrere  Male   am   Tage. 
Mit  32  Jahren  lernte  er  seine  Frau  kennen.   Ihr  Vater  war  sein  Bürovorstand, 
?  *nl  An\i  tn  6r  L.mmer  diG  gpößte  Verehrung  hatte! 

Tochrl;    L MTi :h-?n   g„bt  V   n'cht   Viele!")   Er   Gratete   seine 

.ftMHM.    L      q        Ua  G  andei'en  FraUGn  Stellte'  und  führte  eine  sehr 

gluckliche  Ehe    Seine  Angst  war  nur,  daß  seine  Frau  von  seinen  Eskapaden 

erfahren  konnte.   Denn  vor  ihm  war  keine  Schürze  sicher  und  er  hatte  schon 

?Mennrrt?  .  ren  der  Ehe  mit  der  Köchin  seines  Hauses  ein  Verhältnis. 
Schließlich  brachte  er  sich  dazu,  im  Hause  nichts  anzufangen  und  war  so 
vorsichtig,  daß  seine  Frau  ihm  nicht  auf  seine  Abwege  kam.  Er  hatte  dann 
eine  Reihe  von  Frauen  und  Mädchen,  die  ihm  immer  zur  Verfügung  'standen 
wann  er  gerade  nach  ihnen  Lust  hatte.  Da  lernte  er  einen  jungen  Mann 
Kennen,  der  ihm  sehr  sympathisch  war.  Nur  eines  stieß  ihn  an  ihm  ab- 
Daß  er  ein  Homosexueller  war  und  noch  darauf  stolz  war.    Das  konnte  er 

hfl  ^  ^gab  8ich  alle  Mühe'  seinen  Freund  zur  Frauenliebe  zu 
bekehren.  Das  mißlang  vollkommen,  aber  sein  neuer  Freund  führte  ihn  in 
homosexuelle  Kreise  ein,  die  ihn  „nur  als  Kulturmenschen"  interessierten. 
Er  besuchte  ein  Caf 6,  wo  die  Homosexuellen  zusammenkamen,  und  merkte, 
daß  sich  auch  viele  Intellektuelle  unter  ihnen  befanden.  Besonders  wunderte 
ihn,  daß  das  gemeinsame  Los  die  sozialen  Unterschiede  vollkommen  nivellierte. 
Em  Graf  verkehrte  mit  einem  Kellner  und  einem  Postbediensteten,  als  wären 
es  seine  intimen  Freunde.  Nach  einigen  Wochen  lernte  er  die  Schwester 
seines  neuen  Freundes  kennen  und  verliebte  sich  auf  den  ersten  Blick  in 
sie.    Das  war  seine  große  Liebe! 

Es  war  klar,  daß  der  Umgang  mit  den  Homosexuellen  seine  latente 
Homosexualität  von  Hemmungen  befreit  hatte  und  daß  die  homosexuelle 
Welle  ihn  zu  ergreifen  drohte.  Dagegen  gab  es  nur  eine  Rettung:  Die 
Flucht  in  die  Liebe.  Die  Liebe  zu  seinem  Freunde  wurde  die  Liebe  zu  seiner 
Schwester,  die  ihm  außerordentlich  ähnlich  sah.  Beim  Koitus  mit  der  neuen 
Geliebten  kam  er  bald  auf  die  Idee,  den  Succubus  abzugeben  und  auch  die 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  195 

anale  Form  der  Befriedigung  zu  wählen,  wobei  er  einen  ihm  vorher  un- 
geahnten Orgasmus  empfand. 

Durch  anonyme  Briefe  erfuhr  seine  Frau  bald  die  ganze  Wahrheit. 
Auch  war  er  ihr  gegenüber  bald  sehr  schwach  potent  und  konnte  nur  mit 
Mühe  den  ehelichen   Pflichten  genügen. 

In  diesem  Falle  wirkte  die  Analyse  wahre  Wunder.  Er  lernte  bald 
die  Quellen  seiner  Fixierung  begreifen  und  wunderte  sich  nur,  daß  er  so 
blind  gewesen  und  nicht  selbst  bemerkt  hatte,  daß  er  den  Bruder  in  der 
Schwester  liebte.  Er  machte  sich  von  der  Schauspielerin  auf  würdige  Weise 
los.  Er  stellte  ihr  den  Antrag,  sie  möge  alle  Verhältnisse  lösen,  dann  wolle 
er  sein  Wort  halten  und  sie  heiraten.  Er  liebte  sie  noch  immer,  aber  er 
war  sehend  geworden.  Sie  lachte  ihm  ins  Gesicht.  Ob  er  wohl  die  Kosten 
ihrer  Toiletten  und  ihre  sonstigen  Ansprüche  befriedigen  könne?  Damit 
war  das  Ende  dieser  Liebe  unvermeidlich.  Er  schämte  sich,  daß  er  eine 
solche  Frau  seiner  Gattin  hatte  vorziehen  können.  Auffallend  war  ein  Traum, 
der  die  völlige  Lösung  seiner  Fixierung  brachte. 

Ich  bin  mit  Otto  —  so  hieß  der  junge  Freund  —  in  einem  Zimmer. 
Er  kam  auf  mich  zu  und  sagte:  Merkst  du  denn  nicht,  daß  ich  dich 
liebe  und  nach  dir  verlange.  Ich  wehrte  mich  gegen  seine  Liebkosungen 
und  zog  einen  Revolver  aus  der  Tasche.  Ich  hielt  ihn  hoch  und  wollte 
auf  den  Freund  schießen.  Da  verwandelte  sich  der  Freund  in  meinen 
Sohn  und  die  blauen  treuherzigen  Augen  meines  Kindes  baten  flehend: 
Schone  mich!    Da  ließ  ich  die  Waffe  fallen  und  lief  aus  dem    Zimmer. 

Der  junge  Freund  hatte  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  seinem  eigenen 
Sohne,  dem  er  sich  vor  der  neuen  Liebe  gerne  gewidmet  hatte  .  .  . 

Wir  können  aus  diesem  Falle  lernen,  daß  es  auch  eine  große 
Liebe  gibt,  die  den  Verliebten  vor  sich  selbst  retten  soll.  Es  gibt 
Zeiten,  in  denen  man  lieben  muß  und  dann  das  Liebesobjekt,  auch  wenn 
es  nicht  den  strengen  Anforderungen  entspricht,  überwertet  wird,  um 
in  dem  Rausche  des  Verliebtseins  (wie  in  jedem  anderen  Rausche) 
zu  vergessen.  Jede  Liebe,  die  im  späteren  Alter  auftritt,  kann  einen 
Versuch  bedeuten,  sich  mit  allen  Kräften  in  die  HeteroSexualität  zu 
retten.  Das  Kennzeichen  einer  solchen  Liebe  ist  das  Übertriebene  und 
Zwangsmäßige.  Der  Verliebte  kann  nicht  eine  Stunde  ohne  seine  Liebe 
sein;  er  möchte  sie  immer  um  sich  haben;  sie  soll  ihn  überall  hin- 
begleiten; selbst  im  Schlafe  hält  er  die  Hände  der  Liebsten,  daß  sie 
ihn  vor  jeder  Versuchung  schützen  solle.  Und  ich  habe  Fälle  gesehen 
—  und  werde  bald  über  einen  solchen  berichten  — ,  in  denen  die  Liebe 
alle  Stürme  überdauerte  und  als  ein  gelungener  Heilungsprozeß  zu 
bezeichnen  ist. 

In  der  Analyse  kommt  es  oft  vor,  daß  diese  Patienten  auf  den 
Arzt  übertragen,  sich  in  ihn  verlieben  und  in  dieser  Liebesbereitschaft 
dann  irgend  ein  weibliches  Wesen  finden,  das  ihnen  zufällig  in  den 
Weg  läuft,  in  das  sie  sich  „rasend"  verlieben  und  das  nun  ihre  Rettung 
aus  der  sexuellen  Gefahr  bedeutet.   Die  Gefahr  ist  die  Homosexualität. 

13* 


196  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Don  Juan,  Casanova,  Retif  de  la  Bretonne,  sie  fliehen  alle  den 
Mann  und  suchen  Erlösung  beim  Weibe.  Retif  ist  Fußfetischist  Die 
Wahl  dieses  Fetisch,  der  ausgesprochen  bisexuell  ist,  beweist  schon 
eine  latente  Homosexualität.  Auf  der  Flucht  vor  homosexuellen 
Regungen  geraten  die  großen  Frauenhelden  oft  in  die  schwersten 
Neurosen  Der  nächste  Fall  wird  uns  die  Schilderung  eines  solchen 
neurotischen  Schürzenjägers  bringen. 

Fall   Nr.  28.  Herr  G.K.,   ein  hervorragender  Erfinder    32   Jahre  alt 

dbÄÄMdE  ^  ^^f  Y°n  "rdigen  MÄ£ 
nachsehen  TJotIvT^  ftl**kr«  muß"  Er  ™ß  *rkä  zwanzigmai 
S  dmch  die  wln  ,  ^schlössen  sind.    Dann  beginnt  eine  Wande- 

lS'vShLZ  Wohnimg  und  eine  hochnotpeinliche  Untersuchung,  ob  denn 

SSS?&^.^  WÜ'd  "  ^»^    Ermüdet  v"n  d      J5 

ve  .teckt  hegt.    Bei  diesem  Rundgange  werden  alle  Fenster  und  Türen  «* 

Ärseh  5Ä  t  f  w-  :,**,  i6t  GS  SCh°n  S*ät  nach  Mitterna  ht  Er 
andere  Tu  tLh  Be""  .^  P1«**  0*  der  Zweifel,  ob  er  diese  oder  die 
22?  h  grundllch  zugemacht  hätte,  .  ob  der  Gasometer  bestimmt 

!T^  dT\Z'  ^f  "  begimt  auf8  neUG  mit  Sich  zu  kämpT™  Der  VerSd 
whlVÄ  g6naU  nachSesehen>  ^  brauchst  nicht  mehr  aufzustehen 

aer   lag  beginnt  schon  zu  dammern.    Nun  bleibt  er  im  Bette    schläft  oft 

p sfSÄs  £iad 

kann  er  sich  das  erlauben.  Auch  die  Dienstboten  werden  so  hoch  entlohn  ' 
daß  sie  gerne  in  dem  „verrückten  Hause»  bleiben.  Nachmittags  arbe  et  er 
in   seinem   chemischen   Laboratorium.     Seine   Arbeiten   haben   ihn   berühmt 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  197 

gemacht.   Er  ist  ein  sehr  fähiger  Chemiker,  der  geniale  Ideen  hat  und  dessen 
Patente  seinen  Reichtum   geschaffen  haben. 

Überdies  wird  er  von  einer  Zwangsvorstellung  verfolgt,  die  sehr 
sonderbar  ist.  Er  will  immer  wissen,  wie  seine  Frau  gefällt  und  ob  man 
sie  für  eine  schöne  Frau  hält.  Seine  größte  Sorgo  ist  ihre  Toilette.  Er 
verbringt  viele  Nachmittage  mit  ihr  in  Salons  bei  Schneiderinnen  und  bei 
Modistinnen.  Er  macht  ihr  Vorwürfe,  sie  verstünde  sich  nicht  zu  kleiden, 
sie  lege  keine  Sorgfalt  auf  ihre  Schönheit.  Dabei  ist  es  ihm  gleichgültig, 
wie  sie  im  Hause  herumgeht.  Diese  Sorge  bezieht  sich  immer  auf  den  Ein- 
druck, den  die  Frau  auf  andere  Männer  macht.  Es  kränkt  ihn  auch,  wenn 
andere  Frauen  seine  Frau  nicht  schön  finden,  aber  lange  nicht  so,  wie  wenn 
er  das  von  Männern  voraussetzt.  Da  er  den  Abend  fürchtet,  geht  er  gerne 
in  Gesellschaften.  (Natürlich  verschiebt  sich  dann  sein  Zeremoniell  und  er 
schläft  noch  später  ein.)  Da  ist  es  seine  Hauptsorge,  wie  seine  Frau  gefällt. 
Sagt  ihm  ein  Mann:  „Ihre  Frau  sieht  heute  prachtvoll  aus!"  Oder  sagt 
ihm  ein  fremder  Herr:  „Wer  ist  denn  jene  schöne  Frau?"  —  wie  es  ihm 
schon  auf  Bällen  passiert  ist,  so  ist  er  überglücklich.  Oder  er  stellt  seine 
Frau  einem  Herrn  vor  und  der  sagt  ihm  später:  „Ich  wußte  gar  nicht, 
daß  Sie  eine  so  schöne  Frau  haben!"  —  dann  ist  er  selig  und  seine  Frau 
hat  einen  guten  Tag.  Er  kauft  ihr  am  nächsten  Tage  Schmuck,  ist  zärtlich, 
überhäuft  sie  mit  Schmeicheleien.  Merkt  er  aber,  daß  seine  Frau  nicht  be- 
achtet wird,  oder  gibt  es  eine  andere  schönere  Frau  im  Saale,  so  ist  er 
unglücklich.  Er  macht  dann  seiner  Frau  die  heftigsten  Vorwürfe,  sie  hätte 
sich  nicht  schön  genug  gekleidet,  er  zürnt,  er  tobt,  er  wettert,  er  grollt 
mehrere  Tage,  bis  eine  neue  Episode,  in  der  er  merkt,  daß  seine  Frau 
Männern  und  Frauen  gefällt,  ihn  wieder  beruhigt.  Er  kann  es  nicht  ver- 
tragen, wenn  er  hört,  daß  ein  anderer  eine  schöne  Frau  hat.  Er  ruht  dann 
nicht,  bis  er  die  Bekanntschaft  dieser  schönen  Frau  gemacht  hat,  und  ist 
selig,  wenn  ihm  ein  Herr  sagt:  Ihre  Frau  ist  ja  viel  schöner!  Hört  er 
aber,  daß  eine  fremde  Frau  gelobt  wird,  ohne  daß  seine  Frau  erwähnt  wird, 
so  ist  er  wieder  sehr  deprimiert  und  seine  Frau  hat  eine  schlechte  Zeit  zu 
erwarten.  Seine  Vettern  —  er  hat  keine  Brüder  —  haben  alle  sehr  schöne 
Frauen.  Es  bildet  seine  Hauptsorge  zu  untersuchen,  ob  seine  Frau  schöner 
ist.  Er  legt  diese  Frage  oft  seinen  Bekannten  vor  —  recht  unauffällig,  denn 
von  diesen  Dingen  dürfen  sie  keine  Ahnung  haben  —  und  ein  Ausspruch  eines 
ihm  sonst  gleichgültigen  Menschen  entscheidet  über  die  Stimmung  des  Tages. 
Er  ist  daher  glücklich,  wenn  er  sieht,  daß  man  seiner  Frau  den  Hof  macht. 
Er  ist  nur  betrübt,  wenn  junge  Leute  da  sind  und  sich  um  seine  Frau  nicht 
kümmern.  Er  ist  nicht  eifersüchtig,  da  er  seine  Frau  kennt,  sich  auf  sie 
verlassen  kann  und  weil  seine  Frau  eigentlich  nie  allein  ist.  Sie  ist  ent- 
weder mit  ihm  oder  in  Begleitung  ihrer  Mutter.  Deshalb  freut  es  ihn  un- 
bändig, wenn  er  sie  von  Herren  umschwärmt  sieht.  Er  führt  sie  auch  an 
alle  Orte,  wo  eine  Schönheitskonkurrenz  stattfindet,  und  läßt  es  sich  viel 
Geld  kosten,  damit  seine  Frau  den  Preis  davonträgt.  Siegt  eine  andere,  so 
ist  er  wieder  unglücklich  und  beneidet  den  Mann,  der  eine  60  schöne  Frau 
besitzt  oder  besitzen  wird. 

Dieser  Mann  ist  überdies  ein  Don  Juan  und  seiner  Frau  nie  treu  ge- 
wesen. Er  hat  eine  zweite  Wohnung,  in  der  er  verschiedene  Mädchen  und 
auch  die  Frauen  seiner  Freunde  empfängt,  die  ihm  sehr  gut  gefallen  und 
die  auf  seine  Vorschläge  eingehen.   Da  er  ein  sehr  stattlicher,  hoher,  schöner 


198  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Mann  ist,  so  hat  er  großes  Glück  bei  Damen.  Überdies  empfängt  er  noch 
verschiedene  Mädchen  in  seinem  Laboratorium,  das  auch  einen  Raum  besitzt, 
den  er  für  diese  Zwecke  verwendet.  Es  vergeht  kein  Tag,  an  dem  er  nicht 
neben  seiner  Frau  eine  andere  —  irgend  eine  andere  —  besitzt.  Er  sieht 
sehr  gut  aus,  hie  und  da  etwas  blaß,  fühlt  sich  körperlich  sehr  frisch  und 
leistungsfällig.  Er  arbeitet  eigentlich  nur  zwei  bis  drei  Stunden  im  Tage. 
In  dieser  Zeit  leistet  er  viel  mehr  als  andere  Menschen  in  einem  Tage." 

Bemerkenswert  ist  auch  die  Art  seiner  sexuellen  Befriedigung.  Während 
er  bei  seiner  Frau  immer  nur  den  normalen  Koitus  ausübt,  benützt  er  seine 
Mädchen  und  Frauen  dazu,  die  Art  der  Befriedigung  zu  vollziehen,  bei  der 
er  den  größten  Orgasmus  erzielt.  Er  gibt  ihnen  seinen  Phallus  in  die  Hand 
und  küßt  sie,  dum  puella  membrum  erectum  tenet  et  premit.  Mitunter  voll- 
zieht er  Koitus,  wenn  der  Partner  es  verlangt.  Dann  aber  erfolgt  interruptio 
und  wieder  die  Handmanipulation.  Da  er  sehr  potent  ist,  bringt  er  es  zu- 
stande, die  Frau  zu  befriedigen,  dann  noch  vor  seiner  Ejakulation  den  Penis 
der  Geliebten  zur  manuellen  Bearbeitung  zu  überlassen.  Andere  perverse 
Akte  sind  vorgekommen.  Er  hat  alles  versucht.  Die  erwähnte  Form  der 
Befriedigung  zieht  er  allen  anderen  vor.  Ein  gewisses  Schamgefühl  hinderte 
ihn,  sie  auch  von  seiner  Frau  zu  verlangen. 

ir  _*  ,? dne  A-namnese  ist  sehr  dürftig.  Er  erinnert  sich  nicht  an  besondere 
V ortalle  der  Kindheit  und  der  ersten  Jugend.  Er  begann  sehr  früh  zu 
onanieren  und  onanierte  bis  zu  seiner  Verheiratung  jeden  Abend  vor  dem 
Einschlafen.  Schon  vor  der  Ehe  hatte  er  ähnliche  Zustände  wie  jetzt,  aber 
er  war  mit  der  Untersuchung  in  einer  halben  Stunde  fertig.  Allerdings 
onanierte  er  täglich,  auch  wenn  er  mit  Frauen  verkehrt  hatte.  In  seine 
Wohnung  nahm  er  die  Frauen  nie.  Die  kamen  damals  immer  in  sein  Labo- 
ratorium. Er  hängt  sehr  an  seiner  Mutter,  die  noch  heute  eine  begehrens- 
werte Frau  ist,  und  verehrt  seinen  Vater,  der  ihn  sehr  strenge,  aber  sehr 
gerecht  aufgezogen  hatte  und  leichte  neurotische  Züge  aufwies.  An  homo- 
sexuelle Episoden  kann  er  sich  nicht  erinnern.  Er  onanierte  übermäßig  und 
begann  mit  18  Jahren  den  Verkehr  mit  Frauen  und  dann  wurde  er  ein 
Frauenjäger  mit  einem  ganz  bestimmten  Geschmack.  Seine  Frauen  mußten 
alle  sehr  weiß  sein,  einen  blendenden  Teint  zeigen,  schöne,  rundliche,  echt 
weibliche  Körperformen  haben,  aber  nicht  zu  dick  und  überdies  sehr  schön 
seih.  Doch  ersetzen  der  weiße  Teint  und  die  Glätte  der  Haut  auch  die  Schön- 
heit. Zu  diesem  weißen  Gesichte  fordert  er  dunkle,  feurige  Augen.  Dieser 
Typus  scheint  sich  an  das  Bild  der  Mutter  zu  halten,  die  eine  auffallend 
schöne  Frau  war  und  noch  heute  die  Spuren  ihrer  einstigen  Schönheit  mit 
Würde  trägt.  Dann  hat  er  einige  Eigen tümlichkeiten  (Antifaschismus). 
Wenn  er  merkt,  daß  eine  Frau  am  Körper  behaart  ist,  so  erlischt  seine  Libido 
sofort.  So  eine  Frau  ist  ihm  wie  eine  Frau  mit  einem  Schnur rbärtchen 
ekelhaft,  Ekelhaft  sind  ihm  alle  Frauen,  welche  eckige  Formen  und  keinen 
Busen  haben  und  an  einen  Mann  erinnern.  „Ein  Weib  muß  ein  Weib  sein?" 
ist  sein  Ausspruch.  Er  haßt  alle  Blaustrümpfe  und  emanzipierten  Frauen- 
zimmer und  hat  seiner  Frau  den  Umgang  mit  einer  Freundin  verboten, 
weil  sie  sich  allen  modernen  Frauenbewegungen  anschließt. 

In  der  Analyse  spricht  er  erst  immer  von  seiner  Frau.  Nach  seinen 
Berichten  hat  er  einen  Engel  an  Geduld  geheiratet.  Es  gehört  auch  eine 
große  Liebe  dazu,  die  Schrullen  und  Launen  dieses  Mannes  zu  ertragen. 
Aber  die  Frau  liebte  diesen   Mann   und  gewöhnte   sich   an  alles,   weil   sie 


Latente  Homosexualität.  —  Masken  der  Homosexualität  usw.  199 

merkte,  daß  er  sie  liebte  und  weil  sie  dachte:  Jeder  Mann  hat  seine  Eigen- 
tümlichkeiten. Sie  war  glücklich  und  die  Wohnung  widerhallte  von  ihrem 
Gesänge.  Quälte  er  sie  mit  seinen  ungerechten  Vorwürfen,  so  hielt  die  Ver- 
stimmung bei  ihr  nicht  lange  an.  Ja,  sie  schmeichelte  ihm  sogar  eine  Ver- 
zeihung und  ein  Lächeln  ab,  so  daß  ihre  Ehe  als  eine  Musterehe  galt.  Er 
betont,  daß  seine  Frau  ein  Ideal  sei.  Wenn  nun  in  der  Analyse  jemand 
mit  einem  Lobe  anfängt,  so  kann  man  sicher  sein,  daß  die  zweite  Kom- 
ponente, der  Haß,  nachfolgen  wird.  Erst  die  Vorzüge  —  dann  die  Nachteile. 
Nun  schien  diese  Frau  wirklich  keine  schwachen  Seiten  zu  haben.  Er  wußte 
nur  Gutes  von  ihr  zu  berichten  und  von  seiner  Sorge  um  ihre  Schönheit. 

Doch  bald  —  nach  einigen  Wochen  —  änderte  sich  der  Ton.  Er  wußte 
von  einem  schweren  Trauma  zu  erzählen,  das  für  ihn  von  größter  Bedeutung 
war  und  seine  Ehe  eigentlich  umgestaltete.  Er  hatte  sich  vorgenommen, 
seiner  Frau  treu  zu  bleiben  und  das  Leben  des  Don  Juan  aufzugeben.  Er 
hatte  vor  der  Hochzeit  mit  sechs  Mädchen  zugleich  ein  Verhältnis  und  mußte 
immer  fürchten,  daß  die  eine  es  von  der  anderen  erfahren  werde.  Er  wollte 
ruhig  leben  und  seiner  Frau  treu  sein.  Und  er  schwur  sich,  mit  der  Ehe  die 
Onanie  aufzugeben.  Das  konnte  er  ja  in  der  Ehe,  weil  er  vor  dem  Einschlafen 
statt  zu  onanieren  mit  seiner  Frau  verkehren  wollte.  Nun  hatte  er  vor  der 
Hochzeit  die  Angst,  seine  Frau  könnte  am  Busen  behaart  sein.  Das  würde 
er  nicht  vertragen.  Er  wollte  schon  verlangen,  daß  seine  Frau  sich  von  einem 
Arzt  untersuchen  lassen  solle,  aber  er  schämte  sich,  als  geistig  hochstehender 
Mann,  dies  von  seiner  Frau  zu  verlangen.  In  der  Brautnacht  entdeckte  er 
einige  Härchen  an  der  Brust  und  einen  leichten  weichen  Flaum  am  Bauche. 
Er  war  so  entsetzt,  daß  er  am  liebsten  seine  Frau  zurückgeschickt  hätte. 
Er  war  viele,  viele  Monate  unglücklich  und  weinte  jede  Nacht.  War  ihm 
doch  eine  Hoffnung  gestorben:  eine  solche  Frau  zu  finden,  die  ihm  alle 
anderen  Frauen  ersetzen  könnte. 

Diese  Vorstellung  von  den  Haaren  seiner  Frau  machte  ihn  zum  un- 
glücklichen Menschen  und  verhinderte  seine  moralische  Resurrektion.  Er 
wollte  ja  ein  anderer  Mensch  werden.  Aber  es  zog  ihn  zu  schönen,  weißen 
Frauen  und  marmorglatten  Leibern,  bei  denen  ihn  keine  Behaarung  an  einen 
Mann  erinnern  konnte. 

Das  ist  ja  das  wesentliche  Merkmal  und  die  Ursache  dieser  Erscheinung, 
die  ich  bisher  nicht  erklärt  habe.  Der  Mann  ist  ausgesprochen  bisexuell  mit 
starker  Neigung  zur  Homosexualität.  Diese  Homosexualität  wurde  —  wie 
er  betonte  —  bisher  nur  durch  die  Onanie  befriedigt.  Er  suchte  Vollweiber, 
um  den  Mann  zu  vergessen.  Er  suchte  eine  schöne  Frau,  weil  er  von  dieser 
Schönheit  erhoffte,  sie  werde  alle  Gedanken  an  Männer  verdrängen  und  sein 
Begehren  ganz  auf  sich  lenken.  Er  wollte  die  schönste  Frau  der  Welt 
haben:  Helena.  Gefiel  seine  Frau  den  Männern,  so  stachelte  dies  seine 
homosexuelle  Komponente  derart,  daß  er  sie  mit  größerem  Genuß  besitzen 
konnte.  Er  wollte  aber  nur  den  Gedanken  an  einen  Mann  verdrängen.  Be- 
sonders vor  dem  Einschlafen  trat  diese  Angst  vor  dem  Manne  (Dieb,  Ein- 
brecher), die  auch  eine  Angst  vor  der  Onanie  war,  deutlich  hervor.  In  seinem 
Kopfe,  in  seinem  Hirn  lebte  dieser  Mann  und  mahnte  ihn  und  verlangte 
Erlösung.  Diesen  Mann  wollte  er  nicht  Sehen  und  dieser  Mann  ließ  ihn 
nicht  einschlafen.  Er  aber  projizierte  diesen  Einbrecher  in  seine  Wohnung, 
untersuchte  Kasten,  als  wollte  er  sich  sagen:  Ich  habe  keine  Spur  einer 
homosexuellen  Neigung. 


200 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Dies  war  auch,  was  er  mir  sagte,  wenn  ich  auf  die  homosexuelle  Be- 
deutung seiner  Zwangshandlungen  zurückkam:  Ein  solcher  Don 
Juan  wie  ich!  Ich  widme  meine  ganze  Kraft  dem  Kult ufc 
der  Frau.   Der  Gedanke  an  einen  Mann  ist  mir  widerlich' 

Ich  erkläre  ihm,  daß  der  Ekel  nur  verdrängte  Begierde  wäre  Wen» 
ihm  der  Mann  gleichgültig  wäre,  dann  wäre  das   beweisender. 

„Also,   er   ist   mir  vollkommen    gleichgültig." 

So  sucht  er  zu  beweisen,  daß  er  nicht  homosexuell  empfindet.  Wir  ver- 
stehen aber,  daß  die  Haare,  die  er  an  seiner  Frau  entdeckte,  ihn  an  die 
fatale  Homosexualität  erinnerten.  Er  war  so  unglücklich,  daß  er  ernstlich 
den  Gedanken  einer  Scheidung  erwog.  Was  ihn  an  den  Mann  erinnerte,  war 
ihm  peinlich.  Er  stürzte  sich  in  den  Frauenkultus,  um  den  Mann  zu  ver- 
gessen. Er  gab  auch  seine  Vereine  und  Männergesellschaften  auf,  weil  er 
immer  mit  seiner  Frau  zusammen  sein  wollte. 

Ich  übergehe  die  anderweitige  Bedeutung  dieser  Neurose,  weil  deren 
Analyse  uns  von  unserem  Thema  abbringen  würde.  Ich  will  nur  ein  LS 
geben  wie  wenig  den  Angaben  der  Menschen  zu  trauen  ist,  die  uns  einen 
Lebensbericht  bringen  und  behaupten,  sie  erinnern  sich  an  alles.  In  ZZ 
Leben  wäre  nie  das  oder  jene*  vorgekommen.  In  sexuellen  Dingen  E 
alle  Menschen,  bewußt,  unbewußt  und  nebenbewußt. 

**,  P  +aCll  Q1T\  längeIen'  immer  weiter  vorschreitenden  Analyse  kommt 
der  Patient  selbst  zur  Überzeugung,  daß  er  sich  gegen  die  Homo"  xuS 
wehren  müsse.   Er  versteht  jetzt  seinen  plötzlichen  Entschluß  zur  Ehe  nac £ 

sfoh  X™?  immer  VOrgTen,0mraen  hattö'  ein  geselle  «  bleiben  Er  hatte 
SSt«  Z  S  V"  Labora"ten  vei'öchaut'  der  ein  hübscher  Junge  mit 
glatten  roten  Wangen  war.  Diesen  Menschen  beschenkte  er  reichlich  und 
dachte  schon  daran,  ihn  ausbilden  zu  lassen,  um  einen  Freund  m  ihmTi 
haben.    Damals  traten  die  ersten  Zwangshandlungen  auf.    Er  heiratete    war 

Z  BÄ ***  5atte  S"  dnige  Jahre  vollkommen  ^he.  Z hat e 
das  Bild  eines  anderen  Mannes,  der  früher  im  Auslande  lebte  und  ietzt 
wieder  m  seine  Heimat  zurückgekommen  war,  seine  Ruhe  verscheucht  Es 
war  dies  einer  seiner  Vettern. 

nichf  ««SJiw6!;*  II  &iC\  WOran  er  wahl-Hch  seit  Jahren 
fügen  -    L  l       hat+te  ~  dftnn    er    wollte    mich    nicht    be- 
lügen daß  er  mit  dem  Vetter  durch  ein  ganzes    Iihr 
in    Verhältnis    hatte.     Sie    schliefen    in    einer    Pension 
1 einem   Zimmer.    Der   Vetter   kam   immer   in   sein   Bett 

Der  Vett  rhiLUen  SlCh  immer  V°r  dera  EinVchlafe" 
verlangte  mZZ^f-T  ManiPulationen>  ^  er  von  seinen  Geliebten 
verlangte.    Manuelle  Befriedigung.    Bei  seiner  Frau  wollte  er  aber  alle  Er-' 

££££ Abt  tTSeXUa:ität  tllSf'  Sie  S°Ute  -der'iese  Fot  der 
üeiriedgung  üben  noch  m  ihrem  Äußeren  an  einen  Mann  erinnern  Sie 
sollte  ihn  vor  dem  homosexuellen  Teufel,  der  in  der  Onanie  SflSfSÄ 

«itJ  M  S3T-  E]LmnerUng.  kam  noch  eine  Pülle  homosexueller  Züge 
£g  J  k  Sie,?ier  mcht  anführen-  Schon  von  der  Kindheit  an  war 
dieser   Mann    bisexuell   eingestellt   mit   starker   Betonung   der   Ne  gung   zu 

NaTX  SüÄSV"* ate  Kh$  n?d  zeigte  viele  weibliche  »ÄSSi 

Nach  der  Pubertät  kam  es  zur  Verdrängung  der  Homosexualität,  die  nur 
m  der  Onanie  fortlebte  Denn  der  onanistische  Akt  geht  vor  dem  Einschlafe» 
vor  sich,  m  einer  Art  Halbtraum,  in  dem  der  Vetter  und  andere  Männer 


Latente  Homosexualität,  —  Masken  derjlomosexualität  usw.  201 

vorkommen.   Die  latente  Homosexualität  war  die  wichtigste  Ursache  seiner 
JNeurose. 

Der  Erfolg  der  Analyse  war  ein  glänzender.  Patient  gab  die  Zwangs- 
handlungen bald  auf  und  konnte  ruhig  schlafen.  Sein  Leben  regelte  sich- 
er war  bald  kern  Don  Juan  mehr.  Er  ließ  seine  Frau  jene  Manipulationen 
machen,  welche  für  Seinen  Orgasmus  und  für  seine  Ruhe  unentbehrlich  sind. 
Ich  sehe  ihn  zeitweise.  Er  behauptet,  noch  immer  treu  zu  sein.  Die  ver^ 
schiedenen  haßlichen  Szenen  haben  aufgehört,  seit  er  ihre  Quelle  kennt. 
Die  Homosexualität  wird  von  ihm  offen  bekämpft,  nicht  aus  moralischen 
Gründen,  sondern  aus  Angst  vor  dem  Gesetz  und  in  dem  Wunsche,  seiner 
.trau  ein  ganzer  Mann  zu  sein. 

Alle  diese  Beobachtungen  beweisen  uns,  daß  die  Homosexualität 
in  der  Dynamik  der  „polygamischen  Neurose"  eine  überragende  Be- 
deutung besitzt.    Die  Beobachtung,  daß  jede  Liebe  eine  Ichliebe  ist 
bestätigt  sich  aufs  neue.    Don  Juan  sucht  sich  im  Weibe  und  findet 
in  ihr  jenes  Stück  Weiblichkeit,  das  ihn  eben  zum  Don  Juan  macht.') 

f  i      P  t\l1&t  ^  SChr  gefreUt'  iD  dm  erwähnten  Buch*  von  Oskar  A.H.Schmitz 
folgende  Stelle  zu  finden: 

„Casanova   wird   der   Frau   alle   jene   Eigenschaften   gönnen,    die    man    aus    Un- 
verstand „männlich"  nennt,  so  wie  ihm  selbst  viele  weibliche  Züge  anhaften    Die  Ein- 
teilung der  Menschen  in  Männer  und  Frauen  ist  bequem.   Aber  wer  versucht,'  erotischen 
1  roblemen  auf  den  Grund  zu  kommen,  der  bedenke,  daß  es  ebenso  wenig  absolute  Männer 
und    Frauen    g,bt    als    absolut    Jähzornige,    Gutmütige,    Geizige,    Germanen,    Semiten 
Das  alles  smd,  gleich  den  Charakteren  des  Theophrast,  psychische  Elemente,  die  einen 
Namen  haben  müssen.    Aber  sie  kommen  nur  in  Verbindungen  vor,   die  wir  eingangs 
den  chem.schen  verglichen  und  entgegenstellten.    Ich  meine,   beobachtet  zu  haben    daß 
Manner   von    allzu   ausgesprochener    Virilität   nicht    besonders    anziehend   auf    Frauen 
wirken,  sondern  teils  erschreckend,  teils  erheiternd.   Umgekehrt  hat  Verstand  und  Tapfer- 
keit alle  großen  Verführerinnen  ausgezeichnet  -  manche  sind  wahre  Amazonen  gewesen 
■  und ^wir  sehen  mit  hoher  Genugtuung  den  „crampon"  mit  dem  Anlehnungsinstinkt 
des  fcpheus  in  unserer  Zeit  aussterben.    Auch  das  Verschwinden  Don  Juans  mag  zum 
Teil  durch   seine  allzu  aufdringliche  Männlichkeit  mitbedingt  sein.    Der  Erotiker   muß 
eine   Reihe   weiblicher   Eigenschaften   besitzen;     ja   kleine,    mehr   weibliche   Laster    wie 
Eitelkeit,  Empfindlichkeit,  Geschwätzigkeit  brauchen  keine  Hindernisse  für  seine  Erfol-e 
zu  sein.    Am  wenigsten  sind  sie  es  Frauen  gegenüber,  die  selbst  ziemlich  frei  von  de» 
Untugenden  ihres   Geschlechtes  sind." 

V™°  fcke  Beobachtung  macht  dem  Autor  alle  Ehre  und  zeigt  ein  Verständnis 
für  die  Fragen  der  Erotik,  das  seiner  Zeit  weit  voraus  ist. 


Die  Homosexualität. 

in. 

Satyriasis  und  Nymphomanie. 

Wenn  man  die  letzten  Funken  einer 
Leidenschaft  im  Herzen  trügt,  wird  man 
sieh  eher  einer  neuen  hingeben,  als  wenn 
man  gänzlich  geheilt  ist. 

La  Rochefoucauld . 

Wir  haben  aus  dem  letzten  Falle  gelernt,  wie  ein  verstecktes 
Sexualziel  den  Menschen  ruhelos  macht  und  ihn  trotz  häufiger  sexueller 
Betätigung  immer  in  sexueller  Appetenz,  immer  hungrig,  immer  be- 
gehrend läßt.  Wie  ein  Motor  treibt  der  hungrige  Trieb  den  Menschen 
zu  allerlei  Symbolhandlungen;  er  jagt  ihn  auf  jede  Lu6t,  die  nicht 
unter  der  Wirkung  der  Hemmung  steht,  und  raubt  ihm  Schlaf  und 
Ruhe.  Alle  diese  Symbolhandlungen,  das  Untersuchen  der  Türen,  das 
Nachsehen  unter  dem  Bette,  entstammen  der  Furcht  des  Kranken  vor 
der  Homosexualität.  Die  Türen  seiner  Seele  müssen  fest  geschlossen 
werden,  damit  der  gefürchteto  Feind  nicht  eindringen  kann.  Noch  eine 
Reihe  von  Handlungen  vollzog  der  Kranke,  die  sinnreich  die  Inversion 
symbolisieren.  Er  drehte  gewisse  Gegenstände,  die  mehr  nach  links 
standen,  mehr  nach  rechts.  Das  pflegte  ihn  zu  beruhigen.  Warum  tat 
er  das?  Weil  im  Bewußtsein  die  rechte  Seite  immer  das  Erlaubte,  die 
linke  das  Verbotene  symbolisiert.  Er  drehte  manche  Gegenstände  um 
und  stellte  sie  auf  den  Kopf,  um  zu  sehen,  ob  sie  sich  so  halten  und 
behaupten  können.  Fielen  sie  um,  so  war  er  sehr  beunruhigt,  standen 
sie  fest,  so  war  er  zufrieden.  Mitunter  passierte  es  ihm,  daß  eine 
Vase  auch  umgekehrt  stehen  konnte.  War  sie  nicht  zu  erschüttern,  so 
war  er  auch  zufrieden.  Seine  Phantasien  spielten  mit  der  Möglichkeit, 
die  Sexualität  umzukehren.  Ging  das  ohne  Gefahr  ab,  so  hieß  das 
soviel  als:  Selbst  wenn  du  homosexuell  wirst,  mußt  du  noch  nicht 
fallen  und  bleibst  sicher  und  unerschüttert.  Nach  einer  solchen  Symbol- 
handlung trat  unerwartet  eine  Erektion  auf  und  er  flüchtete  zu  seiner 
Frau,  der  er  nur  deshalb  zürnte,  weil  sie  ihn  nicht  genügend  fesseln 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  «OH 

konnte.  Solche  Menschen  haben  eine  tiefe  Sehnsucht  nach  einer  großen 
heterosexuellen  Leidenschaft,  welche  sie  das  Homosexuelle  vergessen 
macht.  Meist  kommt  ihnen  die  Psyche  zu  Hilfe  und  sie  finden  Frauen, 
welche  ihnen  so  viel  Seelisches  geben  können,  daß  sie  über  den  Mangel 
der  physischen  Anziehungskraft  hinwegkommen.  Sie  sublimieren  ihre 
Homosexualität,  veredeln  die  ganze  Sexualität,  durchsetzen  sie  mit 
geistiger  Erotik  und  helfen  sich  mit  der  seelischen  Ekstase  über  die 
mangelnde  körperliche  hinweg. 

Wo  diese  Transkription  in  künstlerische  Ekstasen  ausbleibt,  wo 
die  Flamme  nur  physisch  lodern  kann,  kommt  es  zu  einem  permanenten 
Liebeshunger,  den  wir  Satyriasis  nennen.  Dieser  Zustand  ist  wohl 
zu  trennen  von  dem  Priapismus,  der  nur  organische  Ursachen  hat  und 
in  einer  permanenten  Erektion  besteht.  Der  Priapismus  wird  häufig 
durch  Erkrankungen  der  Corpora  cavernosa  verursacht,  durch  Diabetes, 
durch  Rückenmarksläsionen,  und  ist  dem  Kranken  höchst  unangenehm. 
Es  fehlt  eigentlich  der  Trieb,  das  gereizte  Organ  fordert  sozusagen 
nichts,  es  fülüt  sich  nur  krank.  Der  seelische  Antrieb  fehlt  vollkommen. 
Die  Kranken  empfinden  die  Erektion  lästig,  sie  koitieren  nur,  um  die 
Erektion,  die  schmerzhaft  ist,  loszuwerden.  'Der  an  Satyriasis  Er- 
krankte dagegen  wird  immerfort  von  innen  heraus  zur  Befriedigung 
getrieben  und  es  passiert  ihm  oft,  daß  er  zu  einem  Sexualakt  nicht 
die  Erektion  aufbringen  kann.  Das  Drängen  ist  mehr  psychisch.  Die 
Satyriasis  ist  der  Versuch,  durch  organische  Ableitung  einen  psychischen 
Antrieb  zu  erschöpfen.  Eine  Überleitung  des  Priapismus  in  das 
Seelische,  ich  meine  die  Konstruktion  einer  Neigung  auf  Grund  des 
priapistischen  Reizzustandes,   ist  mir  nicht  bekannt. 

Die  Satyriasis  kann  verschiedene  Ursachen  haben.  Wir  haben  ja 
gesehen,  daß  Menschen  mit  sadistischen  Phantasien,  mit  nekrophilen 
Tendenzen,  mit  allerlei  infantilen  mysophilen  Vorstellungen  onanieren. 
In  allen  diesen  Fällen  kann,  wenn  die  Onanie  aufgegeben  wird,  ein 
Zustand  entstehen,  der  der  Satyriasis  sehr  ähnlich  ist.  Diese  Menschen 
versuchen  alle  eine  Ableitung  auf  das  Normale.  Immerhin  kann  ich 
nach  meinen  Erfahrungen  sagen,  daß  die  eben  erwähnten  Momente 
hinter  der  Bedeutung  der  latenten  Homosexualität  zurücktreten.  Der 
wichtigste  und  stärkste  Motor  ist  die  Homosexualität.  Aber  ich  kenne 
auch  einen  Homosexuellen,  bei  dem  die  latente  Hetero Sexualität  eine 
ähnliche  homosexuell  gerichtete  Satyriasis  hervorgerufen  hat. 

Wir  wollen  uns  jetzt  mit  einem  Falle  beschäftigen,  der  uns 
wichtige  Aufschlüsse  über  diese  Zusammenhänge  geben  wird. 

Fall  Nr.  29.  Herr  Alfred  V.,  Privatbeamter,  26  Jahre  alt,  klagt  über 
eine  ganze  Menge  von  nervösen  Beschwerden.    In  erster  Linie  steht  seine 


204 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Unfähigkeit  zur  Arbeit.  Er  ist  ohne  jede  Beschäftigung,  weil  er  es  in  keinem 
Büro  aushalten  kann.  Er  kann  seine  Gedanken  nicht  konzentrieren,  weil 
er  immer  an  Frauenzimmer  denken  muß.  Er  erwacht  früh  morgens  und  sein 
erster  Gedanke  ist:  Jetzt  könnte  ich  zu  einer  Dirne  gehen.  Er  überlegt 
und  findet,  daß  es  noch  viel  zu  früh  ist.  Dann  geht  er  in  das  Cafe  und 
versucht  die  Zeitung  zu  lesen.  Das  gelingt  ihm  nur  mit  großer  Mühe. 
Meistens  wird  er  mit  der  Zeitung  rasch  fertig  und  vertieft  sich  dann  in 
die  Annoncen,  welche  von  Anfragen,  ehrbaren  Annäherungsversuchen,  offenen 
und  versteckten  Anträgen  handeln.  So  vergehen  einige  Stunden,  während 
er  auch  zum  Fenster  hinaus  sieht  und  sich  die  Frauen,  die  vorübergehen,  an- 
sieht. Dann  macht  er  seinen  Spaziergang  und  versucht,  Mädchen  anzusprechen 
und  Bekanntschaften  zu  machen.  Wenn  er  merkt,  „daß  sie  aufs  Geld  fliegen", 
so  bricht  er  das  Gespräch  ab.  Denn  dann  sucht  er  lieber  eine  wirkliche 
Dirne,  ehe  er  eine  Halbdirne  bezahlt.  Manchmal  gelingt  es  ihm,  ein  Mädchen 
zu  finden,  das  auf  seine  Intentionen  eingeht.  Dann  geht  er  schon  am  Vor- 
mittag ins  Hotel.  Für  eine  "Weile  ist  er  dann  ruhig  und  er  hat  das  Gefühl, 
daß  er  jetzt  eine  oder  einige  Stunden  arbeiten  könnte.  Bald  aber  packt  ihn 
wieder  das  Verlangen,  das  immer  zuerst  ein  rein  seelischer  Antrieb  ist.  E  s 
ist  nicht  die  Erektion,  die  ihn  zu  einer  Dirne  treibt, 
sondern  das  Verlangen  und  die  Unruhe.  Erst  bei  der  Puella 
kommt  es  zu  einer  Erektion.  Seine  Potenz  ist  dann  sehr  verschieden.  Manch- 
mal ist  er  sehr  rasch  fertig,  ein  anderes  Mal  braucht  er  eine  halbe  Stunde, 
um  die  Ejakulation  und  den  Orgasmus  zu  erzwingen.  Das  dritte  Mal  kann 
er  mehrere  Male  hintereinander  verkehren,  während  er  bisweilen  schon  nach 
dem  ersten  Male  für  einige  Stunden  beruhigt  ist. 

Der  Zustand  wird  von  ihm  als  qualvoll  und  unangenehm  empfunden. 
Er  möchte  'sich  auch,  wie  andere  Menschen,  um  Kunst  und  Wissenschaft 
bekümmern,  möchte  auch  einmal  ein  vernünftiges  Gespräch  führen  können. 
Er  kann  aber  nur  über  „Schweinereien"  sprechen.  Je  toller  und  zynischer, 
desto  besser.  Er  hat  das  Bedürfnis,  besonders  mit  Dirnen,  die  ordinärsten 
Ausdrücke  zu  gebrauchen,  was  ihm  ein  großes  Lustgefühl  bereitet.  Er  leidet 
auch  an  Zornanfällen,  in  denen  er  fast  die  Besinnung  verliert.  Wenn  ihm 
etwas  nicht  nach  Wunsch  geht,  wird  er  leicht  wütend.  Er  kann  in  solchen 
Zuständen  Gegenstände  zerbrechen  (z.  B.  einem  Sessel  die  Füße  ausbrechen), 
Sachen  zum  Fenster  hinausschleudern,  gleichgültig,  ob  Leute  getroffen 
werden  können  oder  nicht,  er  kann  der  Wirtin  die  größten  Grobheiten  sagen. 
Er  hatte  schon  unzählige  Konflikte  und  Streitigkeiten,  weil  er  sich  nicht 
das  geringste  gefallen  läßt.  Er  war  einige  Monate  auf  einem  guten  Posten 
und  mußte  weggehen,  weil  er  dem  Chef  Grobheiten  sagte.  Er  war  immer 
wütend,  wenn  er  zuviel  Arbeit  bekam.  Arbeit  ist  sein  rotes  Tuch.  Er  fand 
auf  seinem  Schreibtische  20  Briefe,  die  er  erledigen  sollte.  Statt  zu  arbeiten, 
begann  er  zu  fluchen.  Was  sich  die  Leute  dächten?  Wie  könnte  das  ein 
Mensch  leisten?  Das  wäre  eine  Frechheit!  usw.  ...  So  vergingen  einige 
Stunden,  ehe  er  überhaupt  zu  arbeiten  anfing.  Dann  ging  es  sehr  flink  und 
er  war  immer  rascher  fertig  als  alle  anderen  im  Büro.  Er  wunderte  sich, 
daß  er  nicht  längst  hinausgeworfen  wurde.  Sein  Chef  hatte  eine  Engels- 
geduld. Schließlich  riß  auch  diesem  guten  Menschen  die  Geduld  und  er 
kündigte  ihm.  Seit  damals  konnte  er  auf  keinem  Posten  bleiben.  Er  hielt 
nur  einige  Tage  aus,  obwohl  die  Vorgesetzten  zufrieden  waren.  Denn  bald 
suchte  er  Händel  und  war  rasch  wieder  draußen. 


Satyiiasis  und  Nymphomanie.  <r>,y 

Er  schildert  mir  eingehend  sein  Sexualleben.  Wichtig  ist  aber 
seine  Behauptung,  daß  er  nie  etwas  mit  Homosexuellen 
zu  tun  hatte;  daß  er  wohl  wisse,  daß  es  Homosexuelle 
gebe.  iJas  waren  Schweine,  vor  denen  er  einen  unaus- 
sprechlichen   Ekel    habe  . 

Nun  lassen  wir  Alfred  das  Wort.  In  der  Darstellung  seines  Lebens 
terisTercn     VerSChiedene  Bemerkungen,  welche  den  ganzen  Menschen  charak- 

n^n    Ä  ha'°!  die  Erinnerunng  an  mei™  erste  Kindheit  ganz  verloren.    Ich 
weiß  nicht  mehr,  was  vorgefallen  ist,  und  entsinne  mich  erst  der   Zeit,  da 

norvnf011  ?  ft  f?°£  ^ -  ^t™*  *»'  daß  meine  Elte™  *»ide  sehr 
S*2t,  1Ä  ?  m  daS,  TZlge  Klf  meiner  Eltern-  Eine»  B^der  verlor 
n   Ä  I n,hvUn+ter  m,r  ^bekannten  Umständen.   In  meiner  Familie,  besonders 

J       n        '   Slnd  mehrere   Fäl]e  VOn  Wah"sinn  vorgekommen. 

Meine  Gcschlechtslust  meldete  sich  schon  in  sehr  frühem  Alter     Ich 

Sto  g£Ä*  SCh°f  T"  Sifben  J,fhren  V°r  meinem  Vatef  sdmmlos 
mit  dem  Ghede  spielte,  weil  ich  nicht  wußte,  daß  es  etwas  Böses  war    Der 

Vater  schrie  mich  an  und  verbot  mir  das.  Das  hatte  aber  trotz  seiner 
Z SnTIn  T^i  F^lge'  da?  ich  heimlich  fortsetzte>  was  ^h  vorher  oZ 
ArSÄin  H«  ^'lUmidie  ?dt  begfmien  melne  Aufmerksamkeit  und 
elnf  svltpLLi     n  abzunebmen-    Aus  den  Spielen  wurde  aber  bald 

tZen^tZ%  ?Tme'  dle  1Ch  °£ne  Maß  betrieb-  Mit  zehn  Jahi^n 
Hatten  wn  in  der  Schule  einen  ganzen  Onaniebund  und  trieben  allerlei  Din-e 

zusammen.    Es  blieb  nicht  allein  bei  der  manuellen  Befriedigung    -  -  - 
Zu  dieser  Zeit  hatte  ich  furchtbare  nächtliche  Träume.    Ich  sah  wilde 

iZl  Tde  vo Vhf en  1überfallen  und  Sebissen>  ^h  wurde  von  fremden 
Männern  erschossen,  Einbrecher  stürzten  sich  auf  mich,  Räuber  wollten  mich 
entfuhren,  mein  Vater  stieß  oft  in  Träumen  mit  einem  großen  langen  Stocke 
t  S^  x  e'Se  nachtllcllen  Träume  erregten  mich  außerordentlich,  ich  las 
jede  Wacht  wie  im  Fieber  und  war  ganz  in  Schweiß  gebadet. 

Am  Morgen  war  ich  wie  gerädert.  Ich  starrte  in  der  Schule  vor  mich  hin 
und  hielt  mimer  die  Hand  am  Penis,  ja,  ich  onanierte  oft  während  der  Stunde 
Die  Arbeitslust  und  die  Fähigkeit,  aufzupassen  und  mitzuarbeiten,  wurden 
immer  geringer.    Ich  machte  allerlei  Versuche,  mich  zur  Arbeit  zu  zwinge' 
oder  ach  suchte  alle  möglichen  Schwindeleien,  um  der  Arbeit  zu  entgehen' 
Eine    eigentümliche    Erscheinung    war    schon    damal   ' 

gut  austiel.    Ich  lernte  nicht  ungern,  aber  nur    das    was 

L"h  mich  ak  !nCatU  fr  T  **«'«•*««•»■  WM *«    So  intereJe^ 
ich  mich  als  Knabe  für  Mineralogie,  Astronomie  und  Botanik  und  erwarb 
sehr  große  Kenntnisse  m  diesen  Fächern.    Nie  hätte  ich   den  hunder™, 
Teil  dieser  Wissenschaften  lernen  können,  wenn  ich  sie  als   Schulaufgab 
bekommen  hatte  ...  Alles,  was  mir  Pflicht  war,  schien  mir  unerträglich 
Die  Arbeit  war  eine  schwere  und  immer  unangenehme  Pflicht.    So   machte 
ich  in  der  Schule  schlechte  Fortschritte.   Nur  mit  Hilfe  von  Hauslehrern  und 
durcb  Pr°tekt!°n  eri'eicllte  ich  schließlich  das  „Einjährige".  (Das  Recht,  als 
Einjahrigfreiwilhger    zu    dienen.)    Und    das    erst    im    l6tzten    Moment    mit 
20  Jahren,  wie  ich  Gefahr  lief,  drei  Jahre  dienen  zu  müssen.    In  einigen 
Wochen  lernte  ich  den  ganzen  Stoff,  weil  ich  wußte,  daß  es  mir  sonst  schlecht 
ergehen  würde.    Ich  kannte  sonst  keinen  Mittelweg,  nur  die  Extreme     Ich 


206  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

konnte  fünf  Stunden  ohne  Unterbrechung  über  meinen  astronomischen  Büchern 
6itzen,  mich  mit  meinen  Pflanzen  und  Steinen  beschäftigen,  und  wenn  ich 
eine  halbe  Stunde  für  die  Schule  arbeitete,  wurde  ich  wütend  und  zerriß 
das  Heft. 

Ich  habe  kein  gutes  Gedächtnis  für  das  Vergangene.  Einzelne  Dinge 
behalte  ich  aber  sehr  gut.  So  habe  ich  an  eine  Reise  in  Thüringen,  die  ich 
im  zehnten  Jahre  mit  meinem  Oheim  machte,  gar  keine  Erinnerung.  Ich 
lebte  diese  Reise  wie  im  Traum.  Ich  machte  diese  Reise  ein  zweites  Mal 
und  da  erinnerte  ich  mich  nur  an  einer  Stelle,  daß  ich 
schon  einmal  da  war.  Das  war  ein  Stein,  über  den  ich 
das    erstemal    stolperte    und    dann    hinfiel. 

Ich  wurde  als  Knabe  für  meine  Faulheit  oft  gestraft  und  sogar  ver- 
prügelt, wenn  ich  trotzig  war.  Ich  kam  mir  ungerecht  behandelt  vor  und 
betrachtete  meine  Faulheit  als  eine  Eigenschaft,  für  die  ich  nichts  konnte. 
Ich  war  immer  unruhig,  immer  launisch,  oft  übertrieben  lustig  und  dann 
wieder  sehr  deprimiert. 

Die  Onanie  betrieb  ich  ohne  Maß.  Ich  onanierte  täglich  —  selten,  daß 
ein  Tag  ausfiel,  manchmal  sogar  mehrere  Maleim  Tag  —  bis  zum  21.  Lebens- 
jahre, wo  ich  das  erstemal  eine  Dirne  aufsuchte.  Da  beschloß  ich,  die  Onanie 
aufzugehen,  und  schlug  plötzlich  um.  Ich  verkehrte  am  Anfang  nur  normal 
und  hatte  großen  Genuß.  Nur  daß  ich  sehr  oft  verkehren  mußte,  weil  es 
mir  sonst  sehr  schlecht  mit  den  Nerven  ging.  Beim  Militär  fühlte  ich  mich 
ausgezeichnet.  Ich  konnte  alle  körperlichen  Strapazen  vertragen  und  war 
sehr  stolz  in  meiner  Uniform.  Da  ich  sehr  hoch  und  sehr  stark  bin,  so  fiel 
ich  allgemein  in  meiner  Gardeuniform  auf  und  alle  Mädels  blickten  mir 
nach,  was  mich  nicht  wenig  stolz  machte.  Doch  onanierte  ich  damals  noch 
und  hielt  mich  vom  Verkehr  zurück.  Beim  Militär  war  ich  oft  nervös,  wenn 
ich  einen  Befehl  ausführen  mußte  oder  lange  auf  einem  Posten  stand.  Ich 
drückte  mich,  wo  ich  konnte,  und  schließlich  benützte  ich  den  Schlag  eines 
Pferdes,  um  frei  zu  werden  und  noch  eine  Zeitlang  eine  Unfallsrente  zu 
erhalten. 

Wenn  ich  imstande  bin,  einen  anderen  zu  übervorteilen,  und  besonders 
eine  Autorität,   so  macht  mir   das  ein  unbändiges  Vergnügen. 

Ich  kam  nach  dem  Militär  in  eine  Stellung.  Da  ich  täglich  mit  Frauen 
verkehrte,  so  war  ich  immerhin  leidlich  arbeitsfähig.  Ich  vertrug  nur  nicht, 
wenn  ich  zwei  Arbeiten  auf  einmal  bekam.  Ich  mußte  immer  eine  Arbeit 
nach  der  anderen  machen.  Aber  ich  hielt  mich  immerhin  leidlich,  wechselte 
meine  Stellen,  weil  ich  mit  meinen  Vorgesetzten  immer  Krach  hatte  und 
auch  der  schweren  Arbeit  immer  auswich.  Dann  kam  ich  nach  Wien  in  eine 
Stellung,  wo  ich  mich  etwas  länger  hielt.  Das  Geschäft  interessierte  mich, 
weil  es  sieh  um  einen  Artikel  handelte,  mit  dem  ich  mich  gern  beschäftigte. 
Hier  begann  ich  unruhig  zu  werden  und  diese  Unruhe  wuchs,  als  wir  nach 
Berlin  übersiedelten.  Ich  fand  keine  Befriedigung  mehr  im 
normalen  Verkehre.  Ich  lernte  eine  Französin  kennen, 
die  meine  Geliebte  wurde  und  mit  der  ich  alle  nur  möglichen  Perversitäten 
trieb.  Ich  wurde  immer  mehr  arbeitsunfähig,  stierte  oft  stundenlang  auf  die 
Arbeit.  Ich  weiß  nicht,  ob  das  von  der  Berliner  Luft  kommt,  die  ich  nicht 
vertrage,  oder  von  einem  Sturze,  den  ich  auf  der  Eisenbahn  mitmachte. 
Ich  gab  die  Stelle  auf,  d.  h.  mein  Chef  riet  mir  selber,  die  Stelle  aufzugeben, 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  207 

obwohl  ich  einen  großen  Vertrauensposten  hatte,  auf  den  ich  sehr  stolz  war, 
da  mein  Vater  für  mich  eine  große  Kaution  erlegte.  Aber  ich  wurde  immer 
erregter,  es  trieb  mich  immer  mehr  und  mehr  zu  den  Weibern.  Ich  hatte 
nichts  anderes  mehr  im  Kopfe  und  zermarterte  mein  Hirn,  um  neue,  noch 
nicht  dagewesene  Perversitäten  zu  ersinnen  und  zu  probieren.  Ich  ließ  mir 
auch  podicem  lambere,  was  mir  zeitweilig  großen  Genuß  bereitete,  aber  mich 
nur  für  einige  Stunden  beruhigte.  Dann  jagte  ich  wieder  auf  die  Friedrichs- 
Straße  und  suchte  andere  Mädchen,  die  mir  neben  meiner  Geliebten  reichlich 
zur  Verfügung  standen.  Ich  brauchte  für  diese  Abenteuer  sehr  viel  Geld, 
das  ich-  mir  damals  zum  Teil  noch  verdienen  konnte.  Es  war  mir  immer 
ein  angenehmer  Gedanke,  zu  wissen,  daß  der  Vater  meine  Ver- 
gnügungen   bezahlen    mußte. 

Meine  Aufregung  erreichte  aber  den  Höhepunkt,  als  mein  Vater  mich 
in  Berlin  besuchte  und  in  Charlottenburg  wohnte.    Ich  hatte  eine  förmliche 
Angst,  ihn  zu  sehen,  und  so  kam  es,  daß  er  meist  allein  war  und  mich 
nicht  zu  Gesichte  bekam.    Er  bewog  mich  nun,  einen  Professor  aufzusuchen, 
der  mich  in  ein  Sanatorium  steckte.    Ich  wurde  dort  viel  ruhiger,  aber  das 
war  nur  äußerlich.    Innerlich   tobte  der   Kampf.    Der  Arzt  verlangte,   ich 
solle  jetzt  für  eine  Weile  die  Frauen  aufgeben,  ich  sei  überreizt  und  ruiniere 
mich  dadurch.    So  lebte  ich  einige  Wochen  abstinent,  aber  in  jeder  Nacht 
verwirrten  sich  meine  Gedanken  und  ich  fürchtete  direkt,  den  Verstand  zu 
verlieren.   Da  griff  ich  zu  meinem  alten  Mittel,  zur  Onanie.   Und  das,  obwohl 
der  Arzt  und  der  Professor  sagten,  mein  Leiden  sei  die  Folge  der  unmäßigen 
Onanie.    Ich  war  nun  in  schweren  Konflikten,  merkte  aber  deutlich  die  Ruhe, 
die  nach  dem  Onanieren  auftrat.    Allerdings  wurde  ich  in  den  drei  Monaten 
Sanatoriumsbehandlung  nicht   arbeitsfähig.    Ich   werde  sofort  schwermütig 
und  das  Leben  verliert  seinen  Reiz,  ,wenn  ich  arbeiten  muß.    Schon  in  den 
ersten  Minuten  drängt  sich  mir  der  Gedanke  an  ein  Weib  auf  und  ich  muß 
schließlich  unterbrechen  und  auf  die  Gasse  eilen.    Aus  dem  Sanatorium  kam 
ich  direkt  nach  Wien  zurück,  wo  der  alte  Jammer  anfing.    Ich  suchte  Ärzte 
auf  und  erhielt  Brom  die  schwere  Menge.   Alle  Medizinen  und  auch  die  vielen 
Kaltwasserkuren  halfen  mir  gar  nichts.   Nur  wenn  ich  in  einer  Nacht  dreimal 
mit  Genuß  verkehren  kann,  habe  ich  am  nächsten  Tage  etwas  Ruhe.    Ich 
bin  dann  für  eine  kleine  Weile  entschlußfällig  und  kann  ein  bißchen  arbeiten. 
Schon  am  nächsten  Tage,  meist  6chon  am  Morgen,  tritt  wieder  der  Drang 
nach  Frauen  ein  und  der  enorme  Reizzustand,  der  mich  ganz  rasend  macht. 
Ich  werde  wütend  und  schwermütig.    Nach   einem  Koitus,   der  mich   nicht 
befriedigt,   geht   es   mir    am   schlechtesten.    Da    bin   ich   sehr   gereizt  und 
möchte  gleich  wieder  ein  Weib  besitzen,  das  mich  besser  befriedigt.    Manch- 
mal sehne  ich  mich  nach  der  echten  Liebe  und  der  Gesellschaft  eines  lieben 
Wesens.    Ich  fühle  dann  das  Grauen  der  Einsamkeit,   die  mich  erdrosselt. 
Ich  schreie  förmlich  nach  Luft  und  laufe  wieder  auf  die  Straße,  wo  mir  die 
Genüsse  winken.     Es    ist   mir    so,    als    ob    ein    anderer    in    mir 
sitzen   und   mich   so   von   Genuß   zu   Genuß   jagen   würde. 
Ich  fühle  alles  Edle  in  mir;   allein  der  andere  zwingt  mich,  ein  böser  Mensch 
zu  sein. 

Ich  komme  mir  vor,  wie  ein  Mensch,  der  einen  unstillbaren  Hunger 
hat.  Oft  habe  ich  an  den  armen  Prometheus  gedacht,  der  ewig  dürsten  und 
hungern  muß.  So  tobt  in  mir  ein  unstillbarer  Hunger  nach  Liebe  und 
Liebesgenuß    und   ich   habe   keinen    anderen   Gedanken,    als   diesen   Hungor 


208 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


irgendwie  zu  stillen.  Ich  komme  mir  vor  wie  eine  Maschine,  die  nur  dazu 
da  ist,  um  dem  Penis  Lust  zuzuführen. 

Ich  habe  mir  oft  vorgenommen,  mich  zu  ändern.  Aber  ich  kann  über- 
haupt keinen  Entschluß  ausführen,  nichts  unternehmen.  Ich  kann  nur  Frauen 
aufsuchen!  Ich  kann  nur  noch  koitieren,  alle  anderen  Fähigkeiten  sind  in 
mir  erloschen.  Alles  in  mir  ist  schwankend  und  unsicher.  Heute  fühle  ich 
eine  gewisse  Frömmigkeit,  morgen  mache  ich  mich  über  Pfaffen  und  Kirche 
lustig.  Heute  entschließe  ich  mich,  etwas  Neues  zu  lernen  oder  eine  Stelle 
anzunehmen,  morgen  habe  ich  schon  einen  anderen  Entschluß.  Ich  will 
mir  einen  neuen  Hut  kaufen.  Ich  nehme  mir  vor,  ich  werde  heute  in  ein 
bestimmtes  Geschäft  gehen.  Ich  gehe  hin  und  bleibe  vor  der  Auslage  stehen 
und  kann  mich  nicht  entschließen.  Nein,  sage  ich,  ich  werde  mir  jetzt  doch 
keinen  neuen  Hut  kaufen.  Und  dazwischen  immer  die  Gedanken  an  die 
Weiber,  die  mich  nicht  eine  Sekunde  in  Ruhe  lassen!  Ich  renne  die  Gassen 
hinauf  und  hinunter  und  sehe  mir  hunderte  Dirnen  an,  ehe  ich  mich  ent- 
schließe, mit  einer  zu  gehen. 

Ich  mache  keine  Unterschiede  zwischen  Alten  und  Jungen,  zwischen 
Häßlichen  und  Schönen.  Ich  überlege  lange  und  dann  falle  ich  auf  die  erste 
beste  hinein.  Wenn  ich  nur  nachher  beruhigt  wäre!  Das  dauert  manchmal 
eine  Stunde,  manchmal  im  besten  Fall  einen  Tag,  dann  muß  ich  schon  wieder 
laufen  und  suchen.   Ich  brauche  manchmal  drei  Frauenzimmer  an  einem  Tage. 

Meine  schlechteste  Zeit  war  die,  da  ich  einen  Tripper  hatte  (der  noch 
nicht  ganz  geheilt  ist).  Ich  sollte  da  einige  Zeit  nicht  verkehren.  Ich  konnte 
aber  dem  Doktor  nicht  gehorchen,  weil  ich  fühlte,  daß  ich  sonst  zugrunde 
gehen  würde.  Ich  verkehrte  ruhig  weiter  und  freute  mich  innerlich,  daß  so 
viele  andere  auch  werden  leiden  müssen,  wie  ich  gelitten  habe.  Dann  empfinde 
ich  wieder  Reue  über  meine  Schlechtigkeit,  komme  mir  ganz  verworfen  vor, 
wie  ein  Verbrecher  und  nehme  mir  vor,  mich  zu  bessern.  Ich  bin  dann  tief 
traurig  und  habe  einige  Stunden  Ruhe  von  den  erotischen  Gedanken.  Dann 
fangen  sie  aber  wieder. an  und  geben  mir  keine  Ruhe  bei  Tag  und  bei  Nacht." 

Wir  haben  das  erschütternde  Geständnis  dieses  armen  Kranken  gehört. 
Seine  Jagd  nach  der  Wollust  hat  die  Tragik,  die  der  Dichter  so  treffend 
charakterisiert:  „Und  im  Genuß  verschmacht'  ich  nach  Begierde."  Seine 
tiefen  Verstimmungen  zeigen  uns,  daß  die  Krankheit  einer  Krise  zustrebt. 
Denn  die  Verstimmungen  werden  häufiger  und  die  Möglichkeiten  der  Be- 
friedigung immer  seltener.  Deshalb  suchte  er  auch  den  Arzt  auf.  Er  fühlt, 
daß  es  so  nicht  weiter  gehen  kann.  Er  kann  und  will  nicht  länger  so  leben. 
Er  möchte  arbeiten  können  wie  andere  Menschen  und  auch  andere  Gedankea 
fassen  können,  als  die  sexuellen. 

In  dem  Berichte  des  Patienten  fallen  uns  zwei  Vorfälle  auf.  Erstens 
der  von  ihm  betonte  Umstand,  daß  er  die  erste  Reise  in  Thüringen  voll- 
kommen vergessen  hat  —  bis  auf  die  kleine  Begebenheit  vom  Sturze  —  und 
der  Umstand,  daß  sich  in  Berlin  seine  Neurose  so  verschlimmert  hatte,  da 
er  schon  auf  dem  Wege  war,  gesund  zu  werden.  Wir  sehen,  er  gab  die 
Onanie  aus  eigenem  Antrieb  auf,  versuchte  sie  durch  den  Verkehr  mit  Frauen 
zu  ersetzen,  wurde  etwas  arbeitsfähig,  hatte  eine  Vertrauensstelle,  wurde 
ihr  trotz  aller  Störungen  nach  dem  Ausspruche  seiner  Vorgesetzten  ge- 
recht      .    .   und   dann   tritt   allmählich   eine   arge   Verschlimmerung   seines 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  OQ9 

Leidens  ein.    In  Berlin  muß  irgend  ein  Ereignis  oder  ein  starker  Eindruck 
diese  Wandlung  zum  Bösen  hervorgerufen  haben. 

Hervorzuheben  ist,  daß  der  Patient  bestreitet,  jemals  homosexuelle 
Akte  getrieben  zu  haben.  Er  habe  vor  „solchen  Menschen"  einen  furchtbaren 
Ekel.  Die  Szenen  aus  der  Kindheit,  die  zählten  doch  nichts!  Das  machten 
ja  a  1 1  e  Jungens  und  da  müßten  aus  allen  Jungens  Homosexuelle  geworden 
sein.  Sie  sind  alle  verheiratet  und  leben  meist  sehr  glücklich  in  ihrer  Ehe. 
„Ich  habe  nur  —  sagt  er  —  einen  entsetzlichen  Hunger  nach  Weibern. 
Die  Männer  existieren  für  mich  nicht." 

In  der  ersten  Nacht  träumt  er: 

Ich  sehe  ein  wildbewegtes  Meer  vor  mir.  Die  Wogen  sind  in 
ständiger  Erregung.  Ich  denke  mir:  Es  wäre  schade,  wenn  diese  Be- 
wegung aufhören  würde.  Ein  Schiff  fährt  ab,  und  auf  diesem  Schiffe 
hegt  alles,  was  ich  liebe.  Ich  glaube,  meine  Mutter  ist  auch  auf  dem 
Schiffe.  Eine  Musikkapelle  spielt  auf  dem  Bord:  Ach  wie  ist's  möglich 
dann,  daß  ich  dich  lassen  kann.  Ich  erwache  sehr  traurig  und  miß- 
gestimmt. 

Solch  ein  erster  Traum  ist  oin  Widerstandstraum  und  bedeutet  daß 
der  Kranke  nicht  gesund  werden  will.  Seine  Seele  ist  ein  Meer,  das  in 
standiger  Erregung  ist.  „Ich  denke,  es  ist  schade,  daß  das  aufhören  soll" 
bedeutet:  ich  will  gar  nicht  ruhig  werden.  Das  Schiff  symbolisiert  die 
Krankheit,  die  Neurose.  Dieses  Leiden  umfaßt  alles,  was  er  liebte,  auch 
seine  Mutter.  Und  das  alles  soll  er  verlieren?  Es  ist  unmöglich.  Er  kann 
auf  seine  infantile  Sexualität  nicht  verzichten.  Er  will. ein  Kind  bleiben 
und  will  krank  sein. 

So  vollzieht  sich  die  Analyse  unter  sehr  großen  Widerständen,  aber  sie 
kommt  sehr  rasch  vorwärts.  Ich  will  die  Resultate  zusammenfassen  und 
mich   auf  die  wichtigsten  Punkte  beschränken. 

Über  sein  Sexualleben  wird  immer  mehr  Licht  gebreitet.  Es  kommt 
zutage,  daß  er  in  seinem  Berichte  eine  wichtige  Form  der  Lustgewinnung 
verschwiegen  hatte,  weil  er  sich  schämte.  Er  fröhnt  einer  sehr  kuriosen 
Form  infantiler  Sexualität.  Sie  muß  ziemlich  verbreitet  sein,  ich  habe  sie 
aber  in  dieser  Form  nur  zweimal  getroffen. 

Alle  zwei  Wochen  muß  er  folgendes  machen:  Er  legt  sich  in 
den  Unterkleidern  ins  Bett  und  läßt  seinen  Stuhl. 
Dann  bleibt  er  im  Stuhle  noch  einige  Stunden  liegen. 
Nach  dieser  Prozedur  gibt  er  sich  große  Mühe,  alle  Spuren  zu  verwischen. 
Er  wascht  die  Hosen  und  das  Hemd,  eventuell  verbrennt  er  sie.  Auch  im 
Bade,  in  dem  er  immer  sexuell  sehr  erregt  ist,  kommt  es  zu  ähnlichen 
Szenen.  Im  Bade  zieht  er  die  Prozedur  vor,  weil  er  sich  dort  reinigen  kann. 
Er  nimmt  dann  ein  Paket  mit  reiner  Wäsche  mit.  Im  öffentlichen  Badhaus 
steht  in  jeder  Kabine  eine  Ottomane.  Auf  diese  legt  er  sich  zuerst  und 
läßt  den  Stuhl.  So  bleibt  er  unter. großer  Lust  liegen,  onaniert  dabei  oder 
es  kommt  spontan  zur  Ejakulation.  Dann  badet  er,  um  rein  zu  werden, 
.  packt  die  schmutzige  Wäsche  zusammen  und  wirft  sie  dann  in  einen  Fluß 
oder  anderswohin,  wo  sie  schnell  verschwinden  kann. 

In  dieser  Szene  spielt  er  das  Kind,  das  in  den  Windeln  liegt.   Er  preßt 
auch  die  Decke  so  fest  zusammen,  daß  er  sich  nicht  rühren  kann,  als  wäre 

Stekel,  Störungen  des  Trieb-  und  Äffektloben6.  IT.  2.  Aufl.  ,, 


210  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

er   angebunden.     Er   wiederholt   infantile   Szenen    des    Reinigens    durch   die 
Mutter,  wobei  er  in  seiner  Phantasie  zugleich   Mutter  und  Kind  spielt. 

Gegen  diese  sonderbare  Paraphilie  kämpft  er  mit  aller  Macht  und 
muß  ihr  doch  immer  wieder  erliegen.  Die  längste  Pause  war  bisher  vier 
Wochen.  Nach  dieser  „Schmutzorgie"  —  wie  er  das  bezeichnet  —  ist  er 
sehr  deprimiert  und  schämt  sich  vor  sich  selbst.  Er  hatte  noch  keinem 
Menschen  darüber  Erwähnung  getan  und  selbst  im  Sanatorium  wußte  es 
der  Arzt  nicht.  Im  Sanatorium  kam  es  auch  einige  Male  vor,  aber  nur  in 
seinem  Zimmer,  weil  die  Bäder  nicht  separiert  waren.  Bei  Besprechung  des 
sexuellen   Infantilismus  werden  wir  einige  ähnliche  Fälle  kennen  lernen. 

Sein  Verhältnis  zur  Mutter  ist  sehr  wechselnd,  aber  nie  so  affekt- 
betont, wie  das  zum  Vater.  Mit  der  Mutter  kann  er  ruhige  und  mitunter 
liebenswürdige  Briefe  wechseln,  mit  dem  Vater  nie.  Zur  Mutter  empfindet 
er  eine  gewisse  Zuneigung.  "Wie  er  schon  als  Kind  vor  dem  Vater  offen 
onanierte,  so  macht  er  auch  jetzt  vor  mir  aus  seinem  Sexualleben  kein 
Geheimnis.  Er  spricht  über  alles  hemmungslos.  Er  habe  seine  Mutter  in 
der  Kindheit  sehr  begehrt  und  sich  oft  gewünscht,  er  könnte  sie  besitzen. 
Jetzt  sei  seine  Mutter  eine  alte  Frau,  die  teilweise  gelähmt  sei.  Trotzdem 
habe  er  bei  seinem  letzten  Aufenthalte  bemerkt,  daß  sie  noch  schön  sei  und 
er  war  wiederholt  in  Versuchung,  sich  auf  sie  zu  stürzen.  In  solchen  Zeiten 
pflegte  er  sie  'sehr  schroff  und  höhnisch  zu  behandeln  und  sich  über  sie  und 
ihr  Alter  lustig  zu  machen.  Er  fing  schon  wiederholt  mit  alten  Frauen  an. 
Im  letzten  Quartier  war  eine  ältere  Frau,  die  schon  viele  Runzeln  hatte, 
mit  der  er  sieh  einließ  und  ein  Verhältnis  hatte,  das  nur  sehr  kurze  Zeit 
dauerte,  weil  er  plötzlich  Streit  suchte  und  auszog.  Das  ist  überhaupt  die 
Art,  wie  er  mit  allen  Menschen  auseinanderkommt.  Er  gerät  wegen  Kleinig- 
keiten in  Streit,  ist  dann  sehr  aufgeregt  und  macht  einen  fürchterlichen 
Spektakel.    Dann  ist  er  mit  den  Menschen  fertig. 

Wir  werden  dann  sehen,  daß  das  die  Art  ist,  wie  er  sich 
gegen  Versuchungen  schützt.  Er  streitet  nur  mit 
Menschen,  denen  er  gut  ist  und  die  eine  Beziehung  zu 
seinen  sexuellen  Phantasien  haben.  So  kommt  er  auch  von 
seiner  Mutter  los  und  verläßt  sie  meist  nach  einem  großen  Streit.  Deshalb 
lassen  ihn  seine  Eltern,  obgleich  sie  mit  großer  Liebe  an  ihm  hängen, 
immer  in  der  Fremde  weilen.  Seine  Briefe  sind  ja  auch  aufregend,  aber 
noch  viel  besser  zu  vertragen  als  die  Szenen  im  Hause. 

Viel  schlimmer  steht  es  mit  dem  Verhältnis  zu  'seinem  Vater.  Er 
spricht  leicht  sehr  böse  über  seinen  Vater:  Ausdrücke,  wie  „der  alte  Schuft", 
„der  alte  Gauner",  „Er  soll  mich  gern  haben",  sind  an  der  Tagesordnung. 
Er  weiß  keinen  Grund  anzugeben,  weshalb  er  seinem  Vater  so  zürnt.  Das 
heißt,  er  hat  tausend  Gründe,  aber  sie  sind  alle  nicht  stichhältig.  Der 
Vater  habe  ihn  falsch  erzogen;  der  Vater  sei  an  seiner  Krankheit  schuld; 
der  Vater  sei  enorm  reich  und  sage  immer,  er  habe  gar  nichts;  der  Vater 
lebe  nur  für  die  Mutter  und  habe  für  ihn  gar  nichts  übrig.  Er  will  sich 
selbständig  machen  und  vom  Vater  für  diesen  Zweck  Geld  verlangen.  Schon 
bei  dem  Gedanken,  der  Vater  könnte  ihm  das  Geld  abschlagen,  gerät  er  in 
Raserei.  „Ich  fahre  hin  und  erschlage  ihn  und  schieße  mich  dann  nieder." 
Solche   Mordphantasien   gegen   den  Vater   kehren  gar   nicht   selten   wieder. 

Wie  nahe  steht  der  Neurotiker  dem  Verbrecher!    Er  hat  allerlei  Be-  ■ 
schuldigungen  gegen  den  Vater  auf  Lager,  die  weit  über  das  Normale  hinaus- 


/ 


'"  Satyriasis  und  Nymphomanie.  91 1 

gehen.  Eines  Tages  kommt  er  und  sagt,  er  wisse  nun  nach  einer  schlaflosen 
Nacht  die*  Ursache  seiner  Krankheit:  Der  Vater  habe  seinen  Bruder  er- 
mordet. Der  Bruder  wäre  hoffnungslos  krank  und  dem  Vater  schon  lange 
lästig  gewesen.  Er  wisse  es  ganz  bestimmt  und  wolle  nach  Hause  fahren 
und  es  dem  Vater  sagen  und  das  ganze  Erbteil  vom  Vater  verlangen.  Schon 
als  Knabe  war  es  ihm  klar,  daß  der  Vater  seinen  Bruder  umgebracht  hatte. 
Der  Vater  sprach  immer  so  verlegen  von  diesem  Kinde  und  wich  immer  aus, 
wenn  er  auf  den  Bruder  zu  sprechen  kam. 

Er  beurteilt  den  Vater  nach  seinem  Innern.  In  ihm  lebt  die  Seele 
eines  Mörders,  wie  ja  alle  seine  Triebe  eine  pathologische  Stärke  zeigen. 
Diese  Verdächtigung  des  Vaters  ist  psychologisch  dadurch  begründet,  daß 
er  in  seiner  Jugend  dem  Bruder  den  Tod  wünschte,  weil  er  keinen  Konkurrenten 
im  Elteinhause  haben  wollte  und  er  immer  daran  dachte,  daß  das  reiche 
Erbe  des  Vaters  werde  geteilt  werden  müssen.  Er  war  aber  kein  Mensch, 
der  teilen  konnte.  Alles  wollte  er  für  sich  allein  haben.  Er  wollte  seinen 
Bruder  ermorden  und  hatte  ganz  abenteuerliche  Pläne  in  seiner  Phantasie 
ausgearbeitet.  Jetzt  schob  er  diese  Phantasie  auf  den  Vater,  während  er 
für  sich  ein  edles  Trauer-  und  Reuemotiv  konstruierte,  wenn  das  Thema 
Bruder  angeschlagen  wird.  Er  ist  unglücklich,  daß  er  keinen  Bruder  hat, 
der  Vater  hätte  ihn  seines  Liebsten  beraubt.  Wenn  der  Bruder  leben  würde, 
wäre  er  nicht  krank,  nur  das  Mitwifesen  um  das  Verbrechen  des  Vaters  habe 
ihn  so  krank  gemacht.  Der  Vater  gelte  als  hochanständiger  Mensch  und  habe 
in  seiner  Heimat  alle  kommunalen  Würden,  er  sei  Bürgermeister  und  selbst 
vom  Kaiser  ausgezeichnet  worden,  er  könnte  ihn  aber  doch  ins  Kriminal 
bringen,  wenn  er  wollte.  Er  ist  von  Neid  erfüllt,  daß  der  Vater  es  so  weit 
gebracht  hat;  die  eigene  Unfähigkeit  wird  am  liebsten  mit  der  Krankheit 
entschuldigt. 

Es  dauert  lange,  bis  hinter  dieser  dicken  Schichte  von  Haß  und  Neid 
die  ursprüngliche  Liebe  zum  Vater  zum  Vorschein  kommt.    Der  Analytiker 
merkt,   daß  sein  Leiden  mit  einer  bestimmten  Einstellung  zum  Vater  zu- 
sammenhängt.   Doch  diese  Auflösungen  gehen  allmählich  und  langsam  vor 
sich  und  Aufklärungen,  für  die  der  Kranke  noch  nicht  reif  ist,  können  mehr 
schaden  als  nützen.    Die  Kunst  der  Analyse  ist  es,  die  Erkenntnisse  mit- 
zuteilen, die  entsprechend  vorbereitet  sind.    So  ist  unser  Kranker  noch  nicht 
reif  für  die  Erkenntnis,   daß  er  seinen  Vater  liebt.    Immerhin   beginnt  er 
langsam  von  den  Vorzügen  seines  Vaters  zu  erzählen,  von  seinem  großen 
Ansehen,  das  er  genieße,  von  seinem  Wissen,  von  seiner  großen  Bibliothek. 
Immer  schöner  tritt  das  Bild  des  Vaters  hervor.    Er  erzählt  Szenen 
aus  der  Jugend,  da  der  Vater  mit  ihm  botanisierte  und  ihn  in  diese  Wissen- 
schaft einweihte,  er  korrigiert  seine  Mordphantasien  und  gibt  zu,  daß  alles 
nur  in  seiner  überhitzten  Phantasie  -  besteht.    In  diesem   Stadium,   in  dem 
er  in  mir  deutlich  den  Vater  sieht,  beginnt   er  auch  gegen  mich  aggressiv 
zu  werden  und  gebraucht  ein  Wort,  das  eine  Beleidigung  enthält.    Ich  habe 
ihm  schon  klar  gemacht,  daß  er  in  mir  den  Vater  sieht.    Nun  will  er  mich 
behandeln  wie  den  Vater.    Ich  breche  sofort  die  Behandlung  ab.    Nach  drei 
Tagen  kommt  er  reuig  und  ganz  gebrochen  zurück  und  bittet  um  Verzeihung. 
Es  werde  nicht  mehr  vorkommen,  ich  solle  ihn  doch  nicht  im  Stiche  lassen, 
er  könne  nicht  so  krank  bleiben  und  fühle,  daß  ich  ihn  retten  werde.    Dies 
war  der  einzige  Konflikt,  den  ich  mit  ihm  hatte,  und  seit  damals  benahm 
er  sich  tadellos  und  hängt  noch  heute  in  großer  Anerkennung  und  Dankbar- 

14* 


212  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität 

keit  an  mir.  Jetzt  war  er  reif,  zu  lernen,  wie  stark  seine  verdrängte  Homo- 
sexualität seine  Beziehungen  zu  den  Vorgesetzten,  zum  Vater  und  zu  mir 
beeinflußt.  Das  sieht  er  nun  alles  ein.  Er  gesteht,  daß  er  sich  in.  den  letzten 
Chef  verliebt  habe  und  deshalb  aus  dem  Geschäfte  mußte.  Er  teilt  mir 
einen  Traum  mit,  den  er  verschwiegen  hatte,  in  dem  er  mit  mir  homo- 
sexuelle Beziehungen  hatte,  und  er  gesteht,  daß  er  sich  für  seinen  Vater 
in  der  Kindheit   sehr  begeisterte  und  ihn  leidenschaftlich  liebte. 

Aber  noch  mehr  erfahren  wir.  Wir  lernen,  wie  die  Verschlimmerung 
in  Berlin  zustande  gekommen.  In  seinem'  Quartier  befand  sich  ein  reizender 
Junge  von  14  Jahren,  den  er  zur  Nachhilfe  unterrichtete.  Mit  diesem 
Jungen  begann  er  zu  spielen.  Er  masturbierte  ihn  und 
ließ  sich  von  ihm  mast'urbieren.  Das  Verhältnis  dauerte  un- 
gefähr drei  Monate.  Es  waren  die  ersten  drei  Monate  seines  Berliner  Auf- 
enthaltes. Dann  hatte  er  Reue,  suchte  mit  der  Hausfrau  einen  Streit  und 
zog  aus.  Von  diesem  Moment  aber  trat  der  Drang  nach  den  Frauen  auf. 
Es  war  seine  letzte  homosexuelle  Periode.  Vor  diesem  Knaben  hatte  er 
schon  andere  Knaben  verführt  und  sie  immer  willig  zu  diesen  Akten  ge- 
funden. Ein  öffentlicher  Prozeß,  in  dem  der  Täter  wegen  des  gleichen 
Deliktes  bestraft  wurde,  weckte  in  ihm  den  Entschluß,  die  homosexuellen 
Beziehungen  aufzugeben.  Es  sei  auch  seit  der  Berliner  Episode  nichts  mehr 
vorgekommen. 

Die  Satyriasis  entstand  durch  die  Verdrängung 
der  homosexuellen  Triebrichtung.  Hinter  dem  leiden- 
schaftlichen Trieb  zum  Weibe  steckt  der  unbefriedigte 
Trieb    zum    Manne. 

Nun  wird  dem  Patienten  klar,  daß  er  mit  den  Knaben  die  Szene  spielte, 
die  er  von  seinem  Vater  erwartete.  Sein  Haß  gegen  den  Vater  ist  verschmähte 
Liebe.  Wir  werden  in  dem  Kapitel,  das  vom  Sadismus  handelt,  diese  Ein- 
stellung der  Söhne  zum  Vater  noch  einmal  besprechen.  Unser  Patient  er- 
wartete, der  Vater  werde  das  mit  ihm  machen,  was  er  mit  den  Jungen  machte. 
Wir  sehen  auch,  was  auf  die  ersten  Angaben  der  Patienten  zu  geben  ist. 
Allmählich  kommen  immer  mehr  solcher  Kinderszenen  zum  Vorschein,  und 
bald  wissen  wir,  daß  es  früher  seine  größte  Sorge  war,  sich  einen  schönen 
Jungen  zu  verschaffen  und  daß  ihn  Jungens  mehr  reizen  als  Mädchen.  Er 
will  bei  den  Mädchen  seinen  Drang  zu  den  Jungens  vergessen  und  hofft, 
durch  eine  vermehrte  heterosexuelle  Betätigung  die  homosexuelle  überflüssig 
zu  machen,  Sein  Drang  nach  Weibern,  sein  ewiges  Denken  an  die  Weiber 
dient  nur  dazu,  den  Gedanken  an  den  Mann  nicht  aufkommen  zu  lassen. 
Zwangsgedanken  dienen  oft  dazu,  andere  Gedanken  nicht  aufkommen  zu 
lassen.  Es  ist  das  Gesetz  der  Ablenkung,  das  im  psychischen  Leben  des 
Neurotikers  eine  bedeutsame  Rolle  spielt. 

Nun  überträgt  er  in  der  Behandlung  —  wie  vorauszusehen  —  alle 
Leidenschaften  auf  mich.  Er  hat  Träume,  die  er  sehr  ungern  erzählt,  in 
denen  er  mich  nackt  sieht  und  meinen  Penis  in  die  Hand  nimmt  oder  gar 
Fellatio  macht.  Er  erinnert  sich  jetzt,  wie  leidenschaftlich  er  den  Vater 
beobachtete,  wie  gern  er  mit  ihm  badete  und  wie  er  sich  gern  versteckte, 
um  den  Phallus  des  Vaters  zu  sehen.  Die  Auflösung  dieser  Übertragung 
und  die  Rückführung  auf  seinen  Vater  will  ihm  anfangs  nicht  gefallen,  wird 
aber  -immer  deutlicher.  Er  ist  oft  bis  zu  einer  Woche  abstinent  und  hört 
nun  auf,  zu  Dirnen  zu  laufen,  ohne  daß/  ich  es  ihm  verboten  hätte.    Die 


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Satvriasis  und  Nymphomanie.  91g 

erwachende  zurückgestaute  Homosexualität  hat  diesen  Umweg  nicht  mehr 
nötig.  Sie  zeigt  sich  offen  und  wird  offen  überwunden.  Er  erkrankt  wieder 
an  Angstzuständen.  Seine  Wirtin  erzählt,  daß  er  bei  Nacht  'stöhnt  und 
ächzt  und  auch  schreit.  Er  träumt  von  wilden  Männern  und  Einbrechern. 
Er  wird  sentimental  und  sanft  und  verändert  sich  sehr  zu  seinem  Vorteile. 
Er  sucht  nirgends  Händel  und  beginnt  wieder  ins  Theater  zu  gehen  und 
Bücher  zu  lesen,  was  er  schon  Jahre  nicht  mehr  machte.  Seine  Briefe  an 
den  Vater  werden  ruhiger  und  vernünftiger.  Er  wird  sparsam  und  braucht 
weniger  Geld,  als  der  Vater  ihm  schickt. 

Da  passiert  ihm  etwas,  was  sein  Leben  auf  eine  neue  Bahn  bringen 
sollte.  Es  ist  das  typische  Erlebnis  dieser  Menschen,  die  in  Behandlung 
stehen.  Sie  losen  sich  aus  den  infantilen  Banden  und  verlieben  sich  während 
der  Analyse.1) 

Auch  unser  Patient  war  in  höchster  Liebesbereitschaft.  Seine  Homo- 
sexualität, die  ganz  verdrängt  war  —  er  dachte  nie  mehr  an  Jungens  — ,  war 
wieder  manifest  geworden.  Er  spielte  nun  seinen  höchsten  Trumpf  aus.  Er 
verliebte  sich  in  ein  Mädchen,  das  ihm  alle  anderen  Frauen  und  auch  den 
Mann  ersetzen  sollte.  Er  brannte  für  den  Mann  und  verbrannte  bei  dem 
Mädchen.  Das.  geschah  auf  so  merkwürdige  und  zugleich  so  typische  Art 
und  Weise,  daß  ich  darauf  ausführlich  zurückkommen  muß. 

Er  hatte  noch  immer  die  Gewohnheit,  Mädchen  auf  der  Gasse  anzu- 
sprechen, auch  wenn  er  keine  anderen  Absichten  hatte,  als. sich  zu  unterhalten. 
So  traf  er  eines  Abends  ein  niedliches  kleines  Mädchen,   das  eher  wie  ein 
Junge  aussah,  sprach  sie  keck  an  und  verliebte  sich  sofort  in  sie.    Nach  drei 
Tagen  nannte  er  sich  schon  ihren  Bräutigam  und  nach  sechs  Tagen  fand 
schon  die  Verlobung  statt.    Er  hatte  kein  anderes  Thema  als  seine  Liebe. 
Als  wollte  er  sich  an  mir  und  dem   Vater   rächen,  sprach   er  von  nichts 
anderem  als  von  seiner  Liebe  und  von  seinem  Glücke.    Die  Satyriasis  war 
von  einem  seelischen  Rausch  abgelöst,  der  noch  viel  stärker  war.    Er  wählte 
ein  Mädchen  aus  einfachem  Hause,  um  seinen  Eltern  recht  weh  zu  tun.    Er 
nahm  sich  das  Mädchen,  obwohl  sie  nicht  virgo  intacta  war  (weil  ihm  das 
gleichgültig  war).    Er  teilte  das  den  Eltern  mit  und  das  war  die  schwerste 
Rache,   die   er   ihnen   antun   konnte.    Sie  gaben  sehr  viel   auf  ihre   soziale 
Stellung;    nun  sollte  ihr  Sohn  die  Tochter  eines  Kondukteurs  heiraten,  ein 
Mädchen,  das  gar  keine  Bildung  genossen  hatte  und   in  einem  Laden  als 
Verkäuferin  angestellt  war.    Und  er  drohte  seinen  Eltern,  er  werde  sich  das 
Leben  nehmen,  wenn  er  das  Mädchen  nicht  bekommen  würde.    Er  würde  sie 
auch  gegen  den  Willen  der  Eltern  heiraten.    Seine  Liebe  sei  so  grenzenlos, 
eine  solche  Liebe  habe  es  überhaupt  noch  nie  gegeben!    Schon  der  Gedanke,' 
daß  der  Vater  die  Verlobung  stören  könnte,   bringt  ihn  so   in  Wut,   daß 
er  an  Mord  und  alle  möglichen  Gewalttaten  denken  muß. 

Ich  riet  dem  Vater,  den  Sohn  dadurch  zu  entwaffnen,  daß  er  ihm  gar 
keinen  Widerstand  entgegensetzte.  Er  solle  nur  eine  Bedingung  stellen: 
Der  Sohn  solle  sich  und  seine  Frau  selbst  erhalten.  Nur  ein  Mann,  der  eine 
Frau  erhalten  könne,  habe  das  Recht,  zu  heiraten.  Den  gleichen  Standpunkt 
verteidigte  ich  und  machte  dem  Verliebten  begreiflich,  daß  er  durch  die 
Arbeit  von  seinem  Vater  unabhängig  werden  würde.  Er  begriff  bald,  daß  er 
gerade  von  seinem  eigenen  Gelde  und  seiner  Arbeit  nicht  leben  wollte.    Es 

J)  Vgl.  Angstzustände,   S.  417. 


\ 


214  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

war  seine  größte  Lust,  zu  denken,  daß  der  Vater  jeden  Koitus  bezahlen 
müsse  und  daß  er  mit  dem  Gelde  des  Vaters  koitiere. 

Nun  gestand  er  mir,  daß  er  schon  einmal  heiraten  wollte.  Es  war  in 
Berlin,  kurz  nach  dem  Aufgeben  der  homosexuellen  Verhältnisse  mit  den 
Jungen.  Da  lernte  er  eine  Dirne  kennen,  die  mit  ihm  ein  Verhältnis  einging. 
Diese  wollte  er  heiraten  und  schon  damals  führte  er  dem  Vater  die  gleiche 
ich  kenne.  Dies  Vorgehen  ist  typisch,  und  jeder  erfahrene  Nervenarzt  wird 
in  solchen  Fällen  wiederholt  ausgeführt.  Es  ist  nicht  der  einzige  Fall,  den 
ich  kenne.  Dies  Vorgehen  ist  typisch,  und  jeder  erfahrene  Nervenarzt  wird 
jedes  Jahr  einige  Male  in  ähnlichen  Fällen  zu  Rate  gezogen  werden.  Dieses 
Mädchen  war  die  Französin,  welche  ihm  den  hohen  Unterricht  in  allen 
Paraphilien  gab.  Der  Vater  war  natürlich  verzweifelt  und  drohte  mit  Fluch 
und  Enterben.  Das  war  es  ja,  was  unser  Patient  wollte.  Er  fürchtete  nur 
den  zärtlichen  Vater  und  brauchte  ihn  immer  zornig,  um  eine  sichere  Scheide- 
wand zwischen  sich  und  dem  Vater  aufzurichten.  Unser  Patient  fühlte  sich 
auch  von  seinem  Vater  verschmäht.  In  der  wichtigen  Berliner  Zeit  klammerte 
er  sich  an  die  Französin,  ruhte  nicht  eher,  bis  der  Vater  sie  kennen  lernte, 
wollte  immer  mit  ihr  zusammen  sein  und  fürchtete  das  Alleinsein  mit 
dem  Vater. 

Von  hier  aus  ergaben  sich  Assoziationen  zu  der  Reise  mit  dem  Vater, 
die  er  nach  Thüringen  gemacht  hatte.  Es  war  nicht  der  Oheim,  sondern 
sein  Vater,  und  er  hat  Erinnerungen,  daß  er  mit  seinem  Vater  wiederholt 
ein  Bett  teilte  und  daß  er  glücklich  war,  weil  der  Vater  diese  Reise  mit 
ihm  und  nicht  mit  der  Mutter  machte.  Wir  erinnern,  daß  er  von  dieser 
Reise  nur  den  Vorfall  von  dem  Sturze  behalten  hat.  Es  handelt  sich  um 
eine  Deckerinnerung.  Hinter  diesem  Sturze  verbergen  sich  ganz  andere  Be- 
gebenheiten. Es  handelt  sich  um  einen  Sündenfall.  Ich  verweise  darauf,  daß 
er  auch  die  Rezidive  des  Leidens  und  die  Verschlimmerung  auf  einen  Sturz 
zurückführt.  Dieser  Sturz  geschah  in  einer  Rodelbahn.  Er  soll  eine  Zeitlang 
bewußtlos  gelegen  sein,  aber  schon  nach  einer  halben  Stunde  wieder  „quietsch- 
fidel" gerodelt  haben.  So  arg  kann  also  der  Sturz  nicht  gewesen  sein. 
Jedenfalls  liegt  das  Rätsel  des  Falles  in  den  Phantasien,  mit  denen  er  die 
Reise  in  Thüringen  umsponnen  hatte.  Durch  das  öftere  Zusammenschlafen 
kam  die  Fiktion  seinem  Bewußtsein  näher,  er  ersetze  dem  Vater  die  Mutter. 
In  diesem  Traumzustande  absolvierte  er  die  Reise  als  eine  Frau,  als  die 
Mutter,  und  dichtet  den  Sündenfall  hinzu,  der  sich  nie  ereignet  hat  und 
dessen  symbolische  Vertretung  die  Szene  mit  dem  wirklichen  Fall  übernimmt. 

Nun  befindet  er  sich  in  einer  neuen  homosexuellen  Gefahr.  Er  ist 
täglich  mit  mir  beisammen  und  produziert  allerlei  Kunststücke,  um  sich 
von  mir  untersuchen  zu  lassen  und  mir  seinen  Penis  zu  zeigen.  Er  glaube, 
er  habe  wieder  eine  Gonorrhöe,  er  müsse  an  Phthiriasis  leiden,  ich  solle 
ihn  doch  untersuchen,  es  sei  doch  blöd,  daß  er  zu  einem  anderen  Arzt  gehen 
solle.  Ich  löse  alle  diese  Symptomhandlungen  auf  und  er  bestätigt  mir, 
daß  auch  direkte  Phantasien,  in  denen  ich  eine  Rolle  spiele,  aufgetreten 
sind.  Er  rächt  sich  aber  dadurch,  daß  er  mir  jetzt  stundenlang  nur  von 
seiner  Braut  und  ihren  Zärtlichkeiten  erzählt.  Er  hat  kein  anderes  Thema! 
Er  müßte  sie  fortwährend  um  sich  haben,  dann  wäre  er  ruhig.  Nicht  eine 
Sekunde  sollte  sie  ihn  allein  lassen.  Tag  und  Nacht  müßte  er  ihre  Hand 
halten,  .  .  .  dann  wäre  er  gegen  die  Homosexualität  sicher.  Schließlich 
muß  ich  ihn  aufmerksam  machen,  daß  ich  die  Behandlung  unterbreche,  wenn 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  215 

er  kein  anderes  Thema  habe.  Und  siehe  da!  Nun  geht  es  wieder  um  ein 
Stück  weiter.  Er  weiß  jetzt,  daß  er  sich  durch  die  Verlobung  vor  der 
Homosexualität  und  seinen  Schmutzonanieakten  retten  will.  Er  sieht  aber 
auch,  daß  er  in  seiner  Braut  einen  Ersatz  seiner  Mutter  gefunden  hat.  Er 
umgibt  sie  mit  allen  Zärtlichkeiten,  wie  ein  Mensch,  der  wirklich  liebt,  und 
allmählich  verwandelt  sich  der  Rausch  in  eine  wahre  und  tiefe  Zuneigung. 
Noch  gibt  es  furchtbare  Stürme  zwischen  ihm  und  der  Braut.  Noch  wütet 
er  gegen  seinen  Vater  und  gegen  alle  Autorität.  Er  ist  ein  Anarchist,  der 
gegen  jede  Autorität  kämpft  und  sich  zur  ganzen  Welt  mit  Trotz  ein- 
gestellt hat.  Aber  der  Vater,  von  mir  gelenkt,  bleibt  milde  und  entwaffnet 
seinen  Trotz.  Die  ganze  Verlobung  erfüllt  nicht  mehr  den  Zweck,  die  Eltern 
zu  kränken.  Die  Eltern  gehen  auf  alles  ein,  verlangen  nur  Arbeitsfähigkeit. 
Diese  fange  ich  an  zu  bezweifehi  und  bringe  ihn  so  in  Trotzeinstellung  zu 
mir.  Er  will  mir  zeigen,  daß  er  arbeiten  kann.  Ich  bemitleide  bei  jeder 
Gelegenheit  seine  Braut,  ein  stilles,  braves  Mädchen.  Er  werde  sie  ja  sicher 
verlassen.  Er  habe  kein  Talent  zur  Treue.  Justament  nicht!  —  fühlt  er. 
Er  will  mir  nun  zeigen,  daß  er  treu  sein  kann. 

Nach  einigen  Wochen  schon  findet  er  eine  Stelle  und  bewährt  sich 
durch  Fleiß  und  Geschicklichkeit,  so  daß  sein  Gehalt  rasch  gebessert  wird. 
Nun  heiratet  er  bald  und  wird  in  jedem  Sinne  des  Wortes  ein  anderer  Mensch. 

Allerdings  gab  es  viel  Arbeit.  Seine  hypertrophischen  Größenwahn- 
ideen, seine  Vorstellung,  ihm  wäre  alles  erlaubt,  was  den  anderen  verboten' 
ist,  seinen  Trotz  gegen  die  Gesellschaft  und  gegen  jede  Autorität  galt  es 
durch  soziale  Strömungen  zu  ersetzen.  Es  gelang  allmählich.  Er  wurde 
bescheiden  und  liebenswürdig  .  .  . 

Die  Möglichkeit  seiner  Genesung  hing  davon  ab,  daß  er  sich  dauernd 
von  seinen  Eltern  trennte.  Denn  ein  kurzer  Aufenthalt  zu  Hause  belehrte 
ihn,  daß  die  Affekte  ihn  zu  Hause  überwältigten,  und  er  reiste  schleunigst 
ab,  um  mit  den  Eltern  in  Frieden  auszukommen. 

Die  erste  Zeit  richtete  sich  der  ganze  Trieb  auf  die  Braut  und  er 
wartete  gar  nicht  bis  zur  Hochzeit.  Er  steigerte  seine  Leistungen  ins  Un- 
glaubliche. Das  dauerte  aber  nicht  lange  und  allmählich  beruhigten  sich 
die  Wogen.  Er  wurde  in  jeder  Hinsicht  ruhiger  und  verkehrte  in  gemessenen 
Zwischenräumen  mit  seiner  Frau.  Eine  Gravidität  und  die  Geburt  eines 
Kindes  nötigten  ihn  zu  langen  Pausen,  die  er  sehr  leicht  vertragen  konnte, 
ohne  seiner  Frau  untreu  zu  werden.  Ich  weiß  nicht,  wie  lange  diese  Besse- 
rung anhalten  wird.  Jetzt  ist  er  schon  drei  Jahre  in  Amt  und  Würden  und 
ein  braver,  bescheidener  Mensch,  der  mit  Grauen  an  die  Vergangenheit 
zurückdenkt.  Seine  Eltern  haben  eich  in  die  Ehe  gefügt  und  die  Geburt 
zweier  Enkel  hat  sie  vollends  mit  den  Tatsachen  ausgesöhnt. 

Auf  das  Wesen  der  Satyriasis  fällt  von  diesem  Fall  ein  helles  Licht. 
Wir  erfahren  aber  auch,  warum  ihm  die  Luft  in  Berlin  nicht  behagt  hat. 
Er  war  im  Begriffe,  dort  homosexuell  zu  werden.  In  Berlin  gab  es  in  seinem 
Büro  auch  einen  Homosexuellen,  der  ihn  in  die  Berliner  Kreise  einführen 
wollte.  Er  faßte  plötzlich  eine  heftige  Zuneigung  zu  seinem  Chef,  der  ihm 
täglich  mehr  imponierte  und  ihm  täglich  besser  gefiel.  Er  wurde  eifersüchtig 
auf  die  anderen  Kollegen  und  wußte  schließlich  kein  anderes  Mittel,  als  die 
Rettung  in  den  Streit  und  in  die  Grobheit.  Er  suchte  Händel  mit  dem  Chef, 
um  sich  von  ihm  zu  trennen  und  sich  vor  Zärtlichkeiten  zu  sichern. 


216  Zweiter  Teil.  Die   Homosexualität. 

Interessant  ist,  daß  er  in  den  Szenen  mit  dem  Knaben  sich  mit  seinem 
Vater  identifizierte.  Er  spielte  die  Verführungsszene,  die 
er  vergebens  von  seinem  Vater  erwartet  hatte.  Die 
Identifizierung  mit  dem  Vater  ging  so  weit,  daß  er  sich  alt,  müde  und  ab- 
gelebt fühlte  und  der  Ansicht  war,  er  müsse  bald  sterben.  In  seinen  kopro- 
philen  Szenen  aber  war  er  Säugling.  Nun  ist  es  bedeutsam,  auch  zu  kon- 
statieren, welche  Rolle  er  spielte,  als  er  sich  in  seine  Frau  verliebte.  Dar- 
über möchte  ich  noch  einige  Worte  sagen. 

In  der  ersten  Zeit  der  jungen  Liebe  identifizierte  sich  der  Patient  mit 
seiner  Mutter,  während  das  Mädchen  für  ihn  immer  ein  Junge,  meistens  er 
selbst,  war.  Er  spielte  eine  Liebesszene  von  Mutter  und  Sohn  und  wunderte 
sich,  daß  er  solcher  mütterlichen  Gefühle  fähig  war.  Er  betonte  seine  starke 
Weiblichkeit.  Er  hätte  ein  weibliches  Becken,  wäre  bartlos,  hätte  Gynäko- 
mastie.  Organisch  zeigt  -sich  jenes  Entgegenkommen  zum  bisexuellen  Typus, 
der  mir  bei  genauer  Untersuchung  noch  in  keiner  Neurose  gefehlt  hat.  Er 
wurde  auch  aufmerksam,  galant,  entgegenkommend,  zierlich,  manieriert. 
Manchmal  aber  wurde  die  Braut  zur  Mutter  und  er  spielte  das  Kind.  Er 
legte  sich  auf  ihren  Schoß  und  sagte:  „Jetzt  möchte  ich  in  dich  ganz  hinein- 
kriechen und  wie  ein  Kind  im  Mutterschoße  liegen.  Da  würde  ich  mich 
sicher  fühlen."  Beim  Koitus  war  er  sehr  gern  Succubus  und  einmal  hatte 
er  einen  kleinen  Anfall.  In  diesem  Anfall  wurde  ihm  die  Phantasie  bewußt, 
er  verkehre  mit  seiner  Mutter.  Das  war  keine  von  mir  beeinflußte  Phantasie. 
Ich  ließ  mir  alles  vom  Kranken  berichten,  ohne  ihn  in  eine  gewisse  Richtung 
zu  drängen. 

Mit  der  fortschreitenden  Besserung  hörte  diese  Identifizierung  mit  der 
Mutter  auf.  Er  versöhnte  'sich  mit  den  Eltern,  wechselte  mit  dem  Vater 
freundschaftliche  Briefe,  fühlte  sich  als  erwerbender  Mann.  Er  wurde  zum 
erstenmal  im  Leben  er  selbst. 

Er  kam  zum  Bewußtsein  seiner  eigenen  Persön- 
lichkeit. Er  liebte  jetzt  die  Frau  als  ihr~Mann  und 
fühlte  sich   eigener   Vater,   der  eine  eigene  Mutter  hat. 

Das  mag  vielen  wie  eine  Selbstverständlichkeit  und  banal  klingen. 
Und  doch  liegt  aller  Fortschritt,  den  ich  erzielen  konnte,  in  der  Zer- 
störung der  Identifizierungen  mit  seinen  Eltern,  in  der  Zerstörung 
seiner  Projektion  auf  das  Elternhaus.  Vorher  war  immer  die  deter- 
minierende Kraft:  Was  werden  meine  Eltern  dazu'  sagen?  Der  Ge- 
danke, daß  der  Vater  sich  kränken  würde,  erfüllte  ihn  mit  Liust.  Er 
wollte  den  Mann,  den  er  als  die  Ursache  seiner  Leiden  betrachtete, 
für  seine  Lieblosigkeit  strafen,  ihn  immer  in  Erregung  halten.  Er 
vertrug  alles  eher,  als  den  Vater  gleichgültig  zu  wissen.  Er  löste. sich 
nun  vom  Infantilismus  los.  Er  war  kein  Kind  mehr,  er  war  ein  Mann. 
Durch  alle  Verwandlungen  und  Masken  kam  er  zu  sich  zurück. 

Seine  Homosexualität  bestand  nach  wie  vor.  Aber  sie  lag  vor 
ihm  klar  da,  er  erkannte  sie  in  dem  Verhältnis  zu  seinen  neuen  Vor- 
gesetzten, zu  seinen  Freunden  und  zu  seinen  Ärzten.  Er  konnte  sie 
überwinden  und  unschädlich  machen.    Vielleicht  konnte  er  auch  einen 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  017 

Teil  auf  seinen  Sohn  übertragen.  Eines  ist  sicher:  Er  ist  mit  ihr 
fertig  geworden  und  so  weit  fertig,  daß  sie  ihn  nicht  stört.  Er  ist 
lebensfähig  und  arbeitsfähig.  Solche  Resultate  wären  ohne  die  Kunst 
der  Analyse  und  ohne  die  erzieherische  Kunst  des  Arztes  nicht  mög- 
lich gewesen.  Das  Los  dieses  Mannes  ohne  Behandlung  wäre  wahr- 
scheinlich Selbstmord  gewesen. 

Es  wäre  noch  hervorzuheben,  daß  sich  aus  der  Verzweiflungs- 
liebe  eine  echte  Neigung  entwickelte.  Er  sah  seine  Frau,  sprach  sie  an 
und  liebte  sie  schon.  Und  die  Ehe  wird  immer  besser.  Kleine  Stürme 
kommen  vor  -  wo  fehlen  sie?  -  aber  sie  gehen  vorüber  und  in  seinem 
Heim  genießt  er  ein  stilles,  bescheidenes  Glück.  Der  Traum  von  seiner 
großen  historischen  Mission  ist  ausgeträumt.  Er  wollte  ein  Napoleon 
werden  oder  Herostratos,  ein  Satan  und  Don  Juan,  ein  Bombenwerfer 
und  sitzt  nun  als  guter  und  bescheidener  Buchhalter  in  einem  Büro 
und  rechnet  Ziffernkolonnen  zusammen,  bringt  seiner  Frau  und  den 
Kindern  kleine  Überraschungen  und  freut  sich,  wenn  er  vom  Hause 
eine  Unterstützung  erhält,  die  er  nicht  benötigt  und  für  sein  Töchter- 
chen zurücklegt. 

Der  Fall  zeigt  uns  aber  auch  die  Beziehungen  der  Homosexualität 
zur  Familie  und  zum  Inzestproblem.    Doch  davon  später  . 

Bei   Krafft-Ebing   finde  ich   einen   Fall,   der  meine  Beobachtungen   in 
jeder  Hinsicht  bestätigt.     , 

,    .-  .  Fal1  Nr'  30-  »Herr  X-'  35  Jahre,  ledig,  Beamter,  war  immer  gesund, 
kräftig,   von   lebhaftem    sinnlichen    Temperament,    hatte   abnorm   früh   und 
mächtig  sich   regenden  Sexualtrieb,  masturbierte  schon   als  kleiner  Knabe, 
koitierte  zum  erstenmal  schon  mit   14  Jahren,   angeblich  mit  Genuß   und 
voller  Potenz.    15  Jahre  alt,  versuchte  ihn  ein  Mann  zu  verführen,  marm- 
stuprierte  ihn.    X.  empfand   Abscheu,   befreite  sich   aus   dieser   „ekelhaften" 
Situation.     Er   exzedierte    herangewachsen    in   unbändiger 
Libido    mit    Koitus,    wurde  1880  neurasthenisch,  litt  an  Erektions- 
schwäche und  Ejaculatio  praecox,    wurde    damit    immer    weniger 
potent    und    empfand    auch    keinen     Genuß    mehr    beim 
sexuellen    Akt.    Zu  jener   Zeit  der  sexuellen  Dekadenz  hatte  er  noch 
eine    Zeitlang   eine   ihm   früher  fremde  und   ihm   noch   jetzt   unbegreifliche 
Neigung  zum  sexuellen  Verkehr  cum  puellis  non  pubibus  XII  ad  XIII  annorum. 
Seine  Libido  steigerte  sich  mit  abnehmender  Potenz.    Allmählich  bekam  er 
Neigung  zu  Knaben  von  13-14  Jahren.    Es  trieb  ihn,  an  solche  sich  an- 
zudrängen.   Quodsi  ei   occasio   data  est,   ut  tangere  posset  pueros,   qui  ei 
placuere,   penis   vehementer   se   erexit    tum   maxime   quum    crura   puerorum 
tangere  potuisset.    Abhinc  feminas  non  cupivit.    Nonnunquam  feminas   ad 
coitum    coegit    sed   erectio ,  debilis,    eiaculatio    praematura    erat    sine   ulla 
voluptate.    Es  interessierten  ihn  nur  noch  junge  Burschen.    Er  träumte  von 
ihnen,  bekam  dabei  Pollution.   Von  1882  ab  hatte  er  ab  und  zu  Gelegenheit, 
concumbere  cum  juvenibus.    Er  war  dann  sexuell  mächtig  erregt,  half  sich 
mit  Masturbation.    Nur   ausnahmsweise   wagte  er  es,   socios   concumbentes 


218  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

längere  et  masturbationen  inutuam  adsequi.  Päderastie  verabscheute  er. 
Meist  war  er  genötigt,  seinem  sexuellen  Bedürfnisse  durch  solitäre  Mastur- 
oation  zu  genügen.  Er  stellte  sich  dabei  das  Erinnerungsbild  sympathischer 
Knaben  vor.  Nach  sexuellem  Verkehr  mit  solchen  fühlte  er  sich  jeweils 
gekräftigt,  erfrischt,  aber  moralisch  gedrückt  in  dem  Bewußtsein,  eine  per- 
verse, unsittliche,  strafbare  Handlung  begangen  zu  haben.  Er  empfand  es 
höchst  peinlich,  daß  sein  abscheulicher  Trieb  mächtiger  sei  als  sein  Wille. 
X.  vermutet,  daß  seine  Liebe  zum  eigenen  Geschlecht  durch  maßlose  Exzesse 
im  natürlichen  Geschlechtsgenusse  entstanden  sei,  beklagt  tief  seine 
Lage,  fragt  anläßlich  einer  Konsultation  im  Dezember  1888,  ob  es  kein 
Mittel  gebe,  um  ihn  zu  normaler  Sexualität  zurückzubringen,  da  er  ja  eigent- 
lich keinen  Horror  feminae  habe  und  gerne  heiraten  würde.  —  Außer  Er- 
scheinungen sexueller  und  spinaler  Neurasthenie  mäßigen  Grades  bietet  der 
intelligente,  von  Degenerationszeichen  freie  Patient  keine  Krankheits- 
symptome." 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  Schulfall  zu  tun,  wie  man  ihn  deut- 
licher und  plastischer  kaum  finden  kann.  Im  Beginne  des  sexuellen 
Lebens  steht  ein  Trauma,  das  für  ihn  von  allergrößter  Bedeutung 
scheint.  Denn  er  spielt  immer  wieder  diese  Szene  mit  verkehrten 
Rollen.  Er  wurde  von  einem  Manne  manustupriert,  als  er  noch  ein 
Knabe  war.  Nun  sucht  er,  der  Mann,  diesen  Knaben.  Zuerst  versuchte 
er  durch  Exzesse  im  Koitieren  diesen  homosexuellen  Trieb  zurück- 
zudrängen. Es  gelang  ihm  nicht.  Er  wurde  bei  Frauen  impotent  oder 
schwach  potent.  Er  führt  diese  Erscheinung  irrtümlicherweise  auf  die 
Exzesse  zurück,  während  nur  die  mangelnde  heterosexuelle  Libido  die 
Ursache  war.  Denn  er  klagt  über  vehemente  Erektionen  bei  Berührung 
von  Knaben.  Auch  das  Schwinden  des  Orgasmus  bei  heterosexuellen 
Akten  ist  sehr  charakteristisch  für  diese  Fälle.  Wir  werden  dies 
Symptom  bei  der  Besprechung  der  Impotenz  des  Mannes  noch  ein- 
gehend würdigen. 

Ähnliche  Fälle  haben  die  alten  Beobachter  auf  die  Vermutung 
gebracht,  durch  Ausschweifungen  stumpfe  sieh  der  heterosexuelle  Trieb 
ab,  so  daß  die  Männer,  um  sich  zu  reizen,  homosexuelle  Akte  begehen. 
Die  Anschauung  lebt  noch  in  den  Köpfen  vieler  Ärzte.  Sie  halten  die 
Homosexualität  für  die  Folgen  der  Ausschweifung,  der  Homosexuelle 
ist  ihnen  ein  ekelhafter  Wüstling.  Ich  brauche  nicht  erst  zu  betonen, 
wie  verkehrt  und  lächerlich  dieser  Standpunkt  ist.  Man  trifft  unter 
den  Homosexuellen  die  keuschesten  Menschen,  auffallend  viel  Idealisten 
und  Künstler.  Man  braucht  nur  einen  Blick  auf  die  Liste  homo- 
sexueller Künstler  zu  werfen.  Es  finden  sich  darunter  die  größten 
führenden  Geister  der  Menschheit. 

Die  Nymphomanie  zeigt  die  gleiche  homosexuelle  Ursache  wie 
die  Satyriasis.  Wir  werden  bei  Besprechung  der  sexuellen  Anästhesie 
der  Frau  einige  Typen  von  Frauen  kennen  lernen,  welche  deutlich  den 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  91  g 

nymphomanischen  Charakter  zeigen,  zumindesten  Messalinen  sind.1) 
Sie  sind  meistens  anästhetisch,  was  schon  an  und  für  sich  sehr  inter- 
essant ist  und  sich  auch  bei  den  gewöhnlichen  Prostituierten  findet. 
Sie  haben  den  gleichen  unstillbaren  Hunger  nach  dem  Manne,  wie  sie 
der  Don  Juan  nach  dem  Weibe  hat.  Das  Charakteristische  ist,  daß 
sie  eben  keine  Befriedigung  finden.  Alle  diese  ewig  suchenden  Menschen, 
Ahasver,  der  fliegende  Holländer,  Faust  und  Don  Juan,  die  verdammt 
sind,  zu  wandern  und  zu  suchen  und  nie  zur  Ruhe  kommen,  schildern 
eigentlich  eine  Libido,  die  ihr  Sexualziel  nicht  finden  kann.2)  So  gibt 
es  unter  den  Frauen  auch  ewige  Sucherinnen,  die  immer  nach  dem 
Manne  verlangen,  der  /sie  ganz  befriedigt  und  dauernd  fesselt.  Die 
Verhältnisse  beim  Weibe  sind  noch  viel  komplizierter  als  die  beim 
Manne.  Ich  will  jetzt  nur  einen  Fall  flüchtig  skizzieren,  so  weit  wir 
es  für  das  Verständnis  unseres  Themas  brauchen.  Wir  werden  bei  der 
Besprechung  der  Dyspareunie  (III.  Band)  auf  dieses  Thema  noch 
zurückkommen. 

Fall  Nr.  31.  Eine  junge,  auffallend  schöne  Frau  —  nennen  wir  sie 
Adele  —  kommt  zu  mir  mit  einer  selten  gehörten  Klage.  Sie  habe  einen 
braven  Mann  aus  Liebe  geheiratet  und  liebe  ihn  noch  immer.  Sie  habe 
aber  gar  kein  Talent  zur  Treue.  Sie  besitze  gar  keine  Widerstandskraft. 
Sie  sei  das  leichte  Opfer  jedes  Mannes,  der  sich  ihr  nähere.  Sie  sei  die 
berüchtigte  Frau,  die  kein  „Nein"  sagen  könne.  Ihr  Mann  habe  keine  Ahnung 
von  ihrem  Treiben  und  vergöttere  sie.  Sie  habe  manchmal  schwere  Gewissens- 
bisse, so  auch  heute,  und  möchte  ein  Mittel  haben,  das  sie  beruhigt,  so 
daß  sie  nicht  von  früh  bis  abends  an  erotische  Dinge  denken  müsse.  Was 
ich  ihr  aber  nicht  glauben  werde,  sei  der  Umstand,  daß  sie  in  den  Um- 
armungen der  Männer  kalt  bleibe  und  immer  durch  Onanie  nachhelfen  müsse. 
Nur  beim  Kunnilingus  komme  sie  zu  einem  großen  Orgasmus.  Sie  glaube, 
wenn  ihr  Mann  sie  auf  diese  Weise  befriedigen  würde,  so  könnte  sie  ihm  treu 
sein.  Sie  traue  sich  nicht,  es  von  ihm  zu  verlangen,  da  er  sie  dann  ver- 
achten würde. 

Aus  ihrer  Lebensgeschichte  entnehme  ich  folgende  Tatsachen.  Adele 
hatte  schon  als  Kind  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  der  Liebe  gesammelt. 
Sie  war  ungefähr  acht  Jahre  alt,  als  ihr  Bruder  anfing,  mit  ihr  den  Koitus 
auszuführen.  Sie  war  damals  sehr  sinnlich  und  behauptet,  es  hätte  ihr  einen 
großen  Genuß  bereitet.  Der  Bruder  war  zwei  Jahre  älter.  Alle  Kinder  des 
Hauses,  wo  sie  wohnten,  waren  schon  so  früh  verdorben.    Oft  kam  es  zu 

*)  Vgl.  Band  III,  Analyse  einer  Messalina. 
•  2)  Faust  findet  es  vorübergehend  im  Gretchen.  Aber  es  ist  nur  eine  Episode 
und  er  sucht  rastlos  weiter,  bis  er  das  schönste  Weib  „Helena"  findet.  Der  fliegende 
Holländer  wird  von  einem  Weibe  erlöst,  das  ihn  bis  zum  Tode  treu  liebt.  Das  ist  eine 
Projektion  der  eigenen  Treulosigkeit  auf  das  Weib.  Er  möchte  ein  Weib  so  lieben, 
daß  sie  ihn  erlösen  könnte.  Im  Ahasver  ist  das  Problem  durch  das  Religiöse  verdeckt, 
das  sich  auch  im  Don  Juan  als  die  Vergeltung  des  höchsten  Vaters  durchsetzt.  Alle 
vier  müssen   treulos  6ein  und  können  nicht  bei   einem  Weibe  bleiben. 


220  /weiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

förmlichen  Orgien.  Sie  wurde  von  dem  Bruder  dann  seinen  Freunden  ab- 
getreten, wenn  die  Freunde  ihm  "die  Schwestern  abtreten  konnten.  Sie  er- 
innere sich,  einmal  von  vier  Buben  hintereinander  benützt  worden  zu  sein.1) 
Diese  Szenen  dauerten  mehr  als  ein  Jahr.  Dann  entdeckte  die  Mutter  eines 
anderen  Mädchens  den  Unfug  und  es  wäre  fast  ein  öffentlicher  Prozeß  daraus 
geworden.  Es  gab  Szenen  und  Untersuchungen,  aber  sie  logen  sich  alle 
heraus.  Seit  dieser  Zeit  onanierte  sie  und  konnte  das  „Laster"  bis  heute 
nicht  aufgeben.  Sie  hatte  aber  schon  als  Backlisch  kein  anderes  Ziel,  als 
den  Männern  zu  gefallen.  Sie  war  sehr  kokett  und  leichtfertig,  besserte 
sich  für  eine  Zeitlang  und  war  sehr  fromm  und  zurückhaltend,  wollte  sogar 
in  ein  Kloster  gehen  und  das  Gelübde  der  Keuschheit  ablegen. 

Diese  fromme  Periode  hielt  nicht  lange  an.  Sie  wurde  wieder  kokett  und 
verschaffte  sich  alle  möglichen  erotischen  Bücher,  welche  sie  sehr  aufregten, 
so  daß  sio  oft  mehrere  Male  in  einer  Nacht  onanieren  mußte.  Mit  siebzehn 
Jahren  wurde  sie  das  Opfer  eines  Schülers  ihres  Vaters,  der  Klavierprofessor 
an  der  musikalischen  Hochschule  war.  Sie  war  mit  dem  jungen  Manne  einige 
Minuten  allein.  Er  küßte  sie,  was  sie  sich  ohne  Widerstreben  gefallen  ließ. 
Dann  setzte  er  sie  auf  sich  —  es  gab  in  diesem  Lehizimmer  keinen  Diwan  — 
und  sie  verlor  ihre  Unschuld.  Sie  wußte  nicht,  wie  das  gekommen  war.  Das 
Ganze  spielte  sich  in  einigen  Minuten  ab.  Sie  floh  nun  diesen  Schüler,  der  ihr 
überall  nachstellte,  und  lebte  nun  einige  Wochen  in  einer  fürchterlichen  Angst, 
daß  sie  in  die  Hoffnung  kommen  werde.  Es  ging  aber  glücklich  vorüber.  Sie 
merkte  bald,  daß  alle  Männer  in  sie  versessen  waren.  Junge  Burschen  und  alte 
Männer  liefen  ihr  nach.  Die  Mutter,  der  sie  weinend  das  Erlebnis  mit  dem 
Schüler  erzählt  hatte  und  die  es  dem  Vater  verschwieg  (weil  er  sonst  den 
Burschen  umbringen  würde!),  bewachte  sie  nun  sorgsam,  ließ  sie  nie  mehr  allein 
und  sagte  immer:  „Kind,  du  mußt  bald  heiraten.  Du  hast  zu  heißes  Blut." 
Mit  neunzehn  Jahren  fand  sie  ihren  Mann,  in  den  sie  sich  mit  einer  Glut 
verliebte,  daß  sie  der  Spott  der  ganzen  Stadt  wurde.  Sie  hatte  keinen 
anderen  Gedanken  als  ihren  Bräutigam.  Schon  in  den  ersten  Wochen  der 
Brautzeit  fiel  sie  ihrem  Manne  in  die  Arme  und  leistete  ihm  keinen  Wider- 
stand, als  er  sie  ganz  besitzen  wollte.  Er  war  so  aufgeregt,  daß  er  nicht 
merkte,  daß  sie  keine  Virgo  war.  Sie  hatte  nur  einen  „kleinen  Genuß'' 
dabei,  jedenfalls  regte  sie  alles  furchtbar  auf. 

Sogar  in  der  Brautzeit  war  sie  ihrem  Bräutigam  nicht  treu.  Es  fing  mit 
einem  seiner  Freunde  an,  den  sie  sogar  in  seiner  Wohnung  besuchte.  Sie  war 
unglücklich  und  wollte  sich  töten.  Aber  es  kam  immer  wieder  über  sie  und 
der  Leichtsinn  siegte  über  alle  Vorsätze. 

Nach  der  Hochzeit  —  es  waren  drei  Tage  vergangen  —  fiel  ihr  ein, 
daß  man  davon  sprach,  Dr.  X.,  ein  schöner,  junger,  lediger  Mann,  wäre  ein 
großer  Don  Juan.  Sie  beschloß,  ihn  sofort  aufzusuchen  und  ihn  zu  verführen. 
Sie  klagte  ihm,  sie  hätte  einen  roten  Fleck  in  der  Scheide  entdeckt,  der  sie 
beunruhige.  Ob  das  nicht  eine  Krankheit  wäre?  Kurz,  sie  kam  zu  ihrem  Ziele, 
wurde  eine  Zeitlang  seine  Geliebte  und  lernte  hier  das  erste  Mal  den  Kunni- 


x)  Derartige  Vorkommnisse  bestätigen  meine  Ausführungen  auf  S.  5.  Ich  höre 
sie  so  oft,  daß  sie  mir  schon  als  etwas  Gewöhnliches  vorkommen.  Andere  werden 
über  diese  Sittenverderbnis  die  Hände  zusammenschlagen.  So  sieht  es  aber  hinter  den 
Kulissen  mancher  Kinderstube  aus  und  wer  sich  die  Kinder  als  asexuelle  weiße  Lämmer 
vorstellt,  wird  nie  die   Menschen  gründlich  kennen   lernen. 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  991 

Iingus  kennen.  Sie  meint,  es  wäre  die  hohe  Schule  der  Liebesknnst  gewesen. 
Ein  anderer  Mann  verlangte  von  ihr  die  anale  Form  der  Kopulation.  Das 
alles  machte  ihr  Spaß,  obwohl  sie  nie  den  Orgasmus  hatte  wie  beim  Ona- 
nieren. 

Bald  erwachten  in  ihr  quälende  Reuegefühle.  Sie  hatte  den  besten  aller 
Männer.  Sie  machte  sich  die  heftigsten  Vorwürfe  und  nahm  sich  täglich  vor: 
„Das  war  das  letzte  Mal.  Es  wird  nicht  mehr  vorkommen."  Aber  schon  am 
nächsten  Tage  trieb  es  sie,  auf  die  Gasse  zu  gehen  oder  einen  der  Herren 
anzutelephonieren,  deren  sie  eine  ganze  Reihe  zur  Verfügung  hatte.  Interessant 
ist,  daß  sich  in  ihrer  Liste  Ärzte,  Advokaten,  Offiziere,  Beamte,  Adelige  und 
Bürgerliche  befanden.  Sie  ließ  sich  nie  bezahlen  und  kein  Geschenk  geben. 
Dann  würde  sie  sich  wie  eine  Dirne  vorkommen.  Sie  ließ  sich  auch  schon  mit 
Kutschern  und  Chauffeuren  ein,  hatte  aber  nachher  einen  solchen  Ekel,  daß 
sie  es  nicht  mehr. tat,  obwohl  die  Versuchung  immer  wieder  da  war. 

Eine  Gonorrhöe,  die  sie  akquirierte,  zwang  sie,  vor  dem  Manne  ein 
Frauenleiden  zu  spielen  und  eine  lange  Zeit  zu  abstinieren.  Allerdings  be- 
herrschte sie  wegen  des  Mannes,  der  sie  krank  gemacht  hatte,  ein  solcher 
Zorn,  daß  sie  sich  vornahm,  sich  an  den  Männern  zu  rächen  und  alle  Männer 
ihrer  Bekanntschaft  krank  zu  machen.  Es  kam  nicht  zur  Ausführung  dieses 
Planes,  da  ihr  der  Frauenarzt  jeden  Verkehr  verboten  hatte.  Aber  zweimal 
konnte  sie  nicht  Widerstand  leisten  und  infizierte  zwei  andere  Männer 

Sie  bat  mich,  sie  zu  hypnotisieren.  Es  sei  kein  anderer  Gedanke  in 
ihrem  Kopfe  als  Männer  und  wieder  Männer.  Sie  denke  nur  an  die  sexuellen 
Szenen  und  habe  sich  schon  vorgestellt,  sie  würde  einmal  wie  Agrippina  in 
ein  Lupanar  gehen,  um  sich  von  so  vielen  Männern  besitzen  zu  lassen,  bis  sie 
endlich  vollkommen  befriedigt  sei.  Vielleicht  werde  sie  dann  einmal  Ruhe 
haben.  Wenn  sie  heute  einen  fremden  Mann  kennen  lerne,  so  träume  sie  schon 
in  der  Nacht,  daß  sie  mit  ihm  einen  Verkehr  habe. 

Ich  frage  sie,  ob  sie  sich  diese  Träume  gemerkt  habe  und  ob  diese  Träume 
eine  besondere  Form  der  Sexualität  betonten  oder  ob  es  sich  immer  um  das 
Normale  handeln  würde. 

Sie  antwortete  zögernd:  „Immer  das  Normale.  Nur  bin  ich  meistens 
oben  .  .  .  Wie  kommt  das?  Ich  habe  schon  oft  darüber  nachgedacht." 
„Haben  Sie  heute  auch  einen  solchen  Traum  gehabt?" 
„Lassen  Sie  mich  nachdenken.  Freilich.  Ein  dummer  Traum  .  .  ." 
„Bitte,  erzählen  Sie  ihn." 

„Ich     bin    mit    meinem    Schwager    in    einem    Bette. 
Ein  Mensch,   der  mir  nicht  einmal  im  Traume  einfällt!" 
„Er  ist  Ihnen  doch  im  Traume  eingefallen!" 

„Ich  weiß  aber  nicht,  wie  ich  dazu  komme.  Ich  habe  nie  von  ihm  ge- 
träumt." 

„Auch  nichts  mit  ihm  erlebt?" 

„Nein  ...  mit  ihm  nie. '  Obwohl  er  mir  nachstellt  und  ich  weiß,  daß 
ich  ihm  sehr  gefalle.  Ich  liebe  meine  Schwester  zu  sehr,  als  daß  ich  ihr  das 
antun  würde,  obwohl  meine  Schwester  auch  nicht  treu  ist  und  es  auch  nicht 
sehr  genau  nimmt.  Das  liegt  in  der  Familie.  Doch  ich  will  mit  dem  Schwager 
nichts  zu  tun  haben.  Der  Traum  war  ein  Unsinn,  ich  habe  das  meiste  ver- 
gessen.   Er  war  viel  länger!" 


\ 


222  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ich  merke,  daß  sie  sich  um  den  Traum  drücken  will,  und  ersuche  um 
genaue  Mitteilung  des  ganzen  Traumes.  „Nun  also"  —  meint  sie  —  „der  Traum 
war  folgender": 

Ich  liege  mit  meinem  Schwager  im  Bette.  Es  ist,  als  ob  ich  der 
Mann  wäre  und  er  eine  Frau.  Er  hat  keinen  Schnurrbart  und  liegt  unter 
mir.  Plötzlich  verwandelt  er  sich  in  meine  Schwester  und  ich  küsse  sie 
leidenschaftlich.  Siehst  du!  sagt  sie:  das  hättest  du  längst  tun  sollen, 
dann  wärest  du  gesund." 

Wir  erkundigen  uns  nach  ihrem  Verhältnis  zur  Schwester  und  hören, 
daß  sie  schon  einige  Monate  nicht  mit  ihr  verkehrt  und  daß  sie  seit  dieser 
Zeit  sehr  nervös  ist  und  noch  männersüchtiger  als  vorher.  „Wenn  ich  mich 
mit  meiner  Schwester  unterhalte,  so  kann  ich  alle  Männer  vergessen.  Sie  ist 
eine  geistreiche  Person  und  so  bezaubernd.  Wenn  Sie  sie  kennen  lernen,  Sie 
werden  sich  sofort  in  sie  verlieben." 

Hört  man  solche  Aussprüche,  und  man  hört  sie  nicht  selten,  so  kann 
man  die  Diagnose  stellen:  Dieser  Mensch  liebt  selbst  den  gerade  gerühmten 
Menschen  und  deshalb  findet  er  es  selbstverständlich,  daß  man  sich  in  ihn 
verliebt.1) 

Weitere  Auskünfte  ergeben,  daß  sie  nur  einen  Gedanken  hat:  ihre 
Schwester.  Sie  findet  die  Schwester  am  schönsten  gekleidet,  sie  findet  die 
Schwester  immer  geistreich,  immer  entzückend. 

Warum  sie  mit  ihr  den  Verkehr  abgebrochen  habe? 

Weil  die  Schwester  egoistisch  sei  und  sich  um  sie  nicht  kümmere.  Sie 
wäre  einige  Wochen  krank  gelegen  und  die  Schwester  habe  sie  wie  einen 
Hund  liegen  lassen  und  sich  um  sie  nicht  gekümmert;  sie  brauche  die  Schwester 
zu  Einkäufen,  sie  könne  nun  einmal  nie  allein  kaufen  und  sei  die  Würzen  für 
alle  Kaufleute,  die  Schwester  sei  aber  für  sie  nicht  zu  haben.  Dafür  laufe  sie 
mit  einer  Freundin  herum,  die  eine  ekelhafte  und  liederliche  Person  sei.  Sie 
würde  sich  schämen,  mit  einer  so  verrufenen  Frau  sich  öffentlich  zu  zeigen; 
wenn  sie  ihr  Mann  wäre,  würde  sie  ihr  das  verbieten  .  .  .  Übrigens  wäre  es 
gar  keine  Sünde,  wenn  sie  sich   mit   dem  Schwager  einlassen  würde;    die 


*)  Ich  behandelte  einmal  einen  Mann,  der  sich  von  seiner  Frau  geschieden  hatte, 
eine  andere  Dame  aus  Liebe  heiraten  wollte  und  mit  seiner  Frau  prozessieren  mußte. 
Im  Laufe  der  Verhandlungen,  die  notwendig  waren,  wiederholte  der  Patient  immer: 
„Mit  meiner  ersten  Frau  mache  ich  Sie  nicht  bekannt.  Sie  würden  sich  sofort  in  sie 
verlieben.  Der  kann  kein  Mann  widerstehen."  Ich  wußte  bald,  daß  seine  neurotischen 
Störungen  auf  diese  unterdrückte  Liebe  zur  ersten  Frau  zurückgingen.  Er  hörte  immer 
Töne,  die  er  nicht  fassen  konnte.  Melodien,  die  auf  keinen  Inhalt  zurückgingen.  Aber 
einmal  konnte  ich  eine  solche  Melodie  fassen.  Es  war  ein  Lied,  dessen  Text  er  nicht 
kannte.  Allmählich  kam  ihm  die  Erinnerung  und  der  Text  hatte  eine  deutliche  Be- 
ziehung-zu  seiner  ersten  Frau.  Diese  unfaßbaren  Melodien  gestatten  ihm,  an  sie  zu 
denken  und  sein  Bewußtsein  darüber  hinwegzutäuschen,  daß  er  sie  noch  immer  nicht 
vergessen  habe.  Einige  charakteristische  Strophen  aus  dem  Liede  von  Eichendorff:  „Ich 
kam  vom  Walde  hernieder  —  Da  stand  noch  das  alte  Haus  —  Mein  Liebchen  schaute 
wieder  —  Wie  einst  zum  Fenster  hinaus.  —  —  Sie  hat  einen  andern  genommen  — 
Ich  war  draußen  in  Schlacht  und  Sieg  —  Nun  ist  alles  anders  gekommen  —  Ich 
wollt,  es  war  wieder  Krieg  —  — ".  Diese  Verse  enthalten  die  Darstellung  seines 
schweren  Konfliktes. 


Satyriasis  und  Nymphomanie.  990 

Schwester  sei  ihm  auch  nicht  treu  und  habe  ein  Verhältnis  mit  einem  Ober- 
leutnant und  der  dumme  Mensch  merke  das  nicht  und  es  sei  sein  bester 
Freund  .  .  . 

So  plätschert  es  unaufhörlich  wie  ein  Springbrunnen.  Sie  erwacht  und 
denkt  den  ganzen  Tag  an  die  Schwester  und  träumt  jede  Nacht  von  der 
Schwester.  Ich  habe  durch  Wochen  ihre  Träume  beobachtet.  Es  gibt  keinen 
Traum,  in  dem  die  Schwester  nicht  vorkommt,  und  keinen,  in  dem  sich  nicht 
Anspielungen  auf  die  erotischen  Beziehungen  zu  ihr  finden. 

Schließlich  enthüllt  sich  in  der  Analyse  ihre  Kindheit  und  sie  erinnert 
sich,  daß  sie  mit  der  Schwester  lange  Zeit  in  einem  Bette  schlief  und  sie  sich 
gegenseitig  den  Kunnilingus  machten.  Es  sei  schon  so  lange  her,  daß  sie  es 
vergessen  habe.  Der  Vorfall  erklärt  auch  ihr  Wesen.  Sie  ist  ewig  auf  der 
Suchenach  einem  Weibe.  Eigentlich  nach  einem  Weibe,  nach  ihrer 
Schwester.  Diese  will  sie  vergessen,  diese  Szene  will  sie  durch  neue  Eindrücke 
aus  ihrem  Gedächtnisse  löschen. 

Wir  sehen,  wie  die  latente  Homosexualität  sie  allen  Männern  in 
die  Arme  trieb.  Wir  sehen  aber  auch  die  Beziehungen  der  Homosexualität 
zur  Familie,  Beziehungen,  die  wir  eingehender  studieren  und  auf  ihre 
Bedeutung  prüfen  müssen. 


Die  Homosexualität. 

IV. 
Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina. 

„leb  wüßte  kaum  noch  etwas  anderes 
geltend  zu  machen ,  das  dermaßen  zerstöre- 
risch der  Gesundheit  und  Rassen  kräftig- 
keit, namentlich  der  Europäer  zugesetzt  hat 
als  das  asketische  Ideal;  man  darf  es  ohne 
Übertreibung  das  eigentliche  Verhäng- 
nis in  der  Gesuudheitsgeschiclite  des  euro- 
päischen Menschen  nennen. ~  XT-  ,  , 
1  Niofzsche. 

Wir  haben  bisher  vom  Don  Juan  und  von  der  Messalina  gesprochen, 
die  sich  aktiv  betätigen,  und  es  gelang  uns,  als  treibendes  Moment  die 
latente  Homosexualität  nachzuweisen.  Zu  diesen  extremen  Typen  gibt 
es  unzählige  fließende  "Übergänge.  Die  Natur  verblüfft  uns  nirgends 
so  durch  den  Reichtum  der  Variationen  und  Kombinationen  wie  in 
den  Ausdrucksformen  menschlicher  Sexualität. 

Sehr  interessante  Typen  bilden  der  steckengebliebene  Don  Juan 
und  die  steckengebliebene  Messalina.  Sie  benehmen  sich  ganz  wie  der 
wahre  ausgebildete  Typus.  Sie  zeigen  den  gleichen  unbändigen  und 
ruhelosen  Trieb.  Aber  die  heterosexuelle  Handlung  bleibt  in  ihrer 
Entwicklung  irgendwo  stecken.  Ich  rede  nicht  von  dem  Don  Juan  der 
Phantasie,  nicht  von  der  Messalina,  welcher  der  Mut  fehlt,  ihre  Triebe 
auszuleben.  Deren  gibt  es  unzählige  und  ein  Stück  von  diesem  Typus 
lebt  ja  in  jedem  Menschen  und  wird  von  uns  als  polygame  Veranlagung 
betrachtet. 

Der  Typus,  den  ich  jetzt  beschreiben  will,  liegt  auf  dem  Wege 
zum  Asketen.  Es  ist  ja  klar,  daß  die  Askese  nie  zustande  kommen 
kann,  wenn  nicht  ein  starker  homosexueller  Trieb  das  heterosexuelle 
Ideal  entwertet  hat.  Denn  jede  Handlung  ist  ein  Produkt  aus  Trieb 
und  Hemmung.  Ein  üb  er  starker  Trieb  wird  auch  die  stärksten 
Hemmungen  überwinden.  Wenn  aber  der  eine  Teil  der  sexuellen  Energie 
durch  homosexuelle  Einstellungen  gebunden  ist,  so  wird  die  Aggression 


/ 


Der  rudimentäre  Dem  Juan  —  die  moderne  Messalina.  995 

immer  nur  mit  einem  geringen  Teil  der  Kraft  ausgeführt  werden 
können.  Sie  bleibt  ganz  aus,  und  dann  haben  wir  den  Asketen  vor 
uns,  oder  sie  bleibt  in  der  Mitte  stecken,  sie  führt  nicht  zum  erwünschten 
Ziel,  und  dann  haben  wir  eben  den  „steckengebliebenen  Don  Juan". 

Es  gibt  eine  Unzahl  Männer,  die  sich  den  ganzen  Tag  immer  nur 
mit  den  Möglichkeiten  von  Eroberungen  beschäftigen,  ,sie  einleiten,  sie 
sehr  geschickt  fortsetzen  und  sie  dann  plötzlich  abbrechen,  .  .  .  weil 
sie  Pech  haben.  Sie  beneiden  die  Menschen,  welche  so  glücklich  sind, 
erobern  zu  können,  und  jammern  über  ihr  Mißgeschick,  das  sie  um  die 
schönsten  Früchte  bringt,  die  ihnen  eben  in  den  Schoß  zu  fallen  schienen 
und  nun  für  sie  ewig  verloren  sind.  Besser  als  alle  allgemeinen  Be- 
trachtungen wird  uns  ein  einziger  Fall  belehren  können: 

Fall  Nr.  32.  Herr  Xaver  Z.  möchte  gern  ein  Lebemann  sein,  wie  die 
meisten  seiner  Kollegen.  Er  behauptet,  seine  Schüchternheit  bringe  ihn  um 
alle  seine  Erfolge.  Er  ist  schon  29  Jahre  alt  und  hat  es  noch  nicht  zu  einem 
richtigen  Verhältnis  gebracht.  Wacht  er  am  Morgen  auf,  so  denkt  er  gleich: 
Wird  es  dir  heute  gelingen,  ein  Mädchen  anzusprechen  und  zu  erobern?  Den 
ganzen  Tag  über  beschäftigt  er  sich  mit  diesem  Gedanken,  so  daß  er  immer 
zerstreut  ist  und  keine  Arbeit  flott  machen  kann.  Auch  mit  seinen  Leistungen 
im  Geschäft  ist  er  unzufrieden.  Andere  arbeiten  so  leicht  und  bringen  alles 
so  rasch  zustande,  er  ist  langsam  und  nicht  genug  energisch.  Er  glaubt,  es 
fehle  ihm  an  Initiative.  Er  ist  immer  müde  und  deprimiert,  hat  auch  schon 
einige  Male  Sanatorien  aufgesucht  und  vergeblich  eine  Besserung  erstrebt. 
Er  kann  kaum  den  Abend  erwarten,  damit  er  auf  der  Straße  sein  Glück  ver- 
suchen kann.  Er  spricht  verschiedene  Mädchen  an  und  es  wird  nie  etwas  daraus. 
Er  hat  es  auch  mit  einer  Annonce  versucht  und  steht  mit  mehreren  Mädchen  in 
Korrespondenz.  Es  bleibt  immer  bei  den  platonischen  Verhältnissen.  Er  bringt 
entweder  nicht  den  Mut  auf,  das  Mädchen  aufzufordern,  sich  mit  ihm  intimer 
einzulassen,  oder  sein  Ansinnen  wird  mit  Empörung  abgewiesen.  Er  fühlt,  daß 
er  anders  als  die  anderen  Menschen  ist,  und  das  drückt  ihn  nieder.  Er  ist  immer 
einsam  und  die  Sonntage  sind  ihm  eine  Qual.  Er  sucht  sich  Bekannte  aus,  die 
arm  sind,  denen  er  ein  Nachtmahl  zahlen  kann,  damit  er  nicht  „so  allein"  ist. 

Er  ist  auch  Reisender.  Er  fühlt,  daß  er  seine  Sache  schlecht  macht.  Er 
hat  keine  suggestive  Gewalt  auf  seine  Kunden,  er  kann  ihnen  nicht  zureden 
wie  andere  Reisende.  Er  ist  gleichgültig  und  läßt  sofort  ab,  wie  er  merkt, 
daß  der  Kunde  nicht  willig  ist,  zu  kaufen.  Er  ist  bei  seinem  älteren  Bruder 
angestellt.  Das  sei  noch  sein  Glück.  Ein  anderer  Chef  hätte  ihn  schon  längst 
entlassen.  Sein  Bruder  aber  mache  ihm  zwar  keine  Vorwürfe,  er  aber  lese  sie 
aus  seinen  Augen. 

Über  sein  Sexualleben  weiß  er  zu  berichten,  daß  er  sehr  früh  begonnen 
habe,  sich  für  das  Sexuelle  zu  interessieren.  Er  erinnert  sich  nicht  an  den  An- 
fang. So  viel  sei  ihm  bewußt,  daß  er  schon  mit  10  Jahren  onaniert  habe  und 
dies  „Laster"  bis  zum  20.  Jahre  fortgesetzt  habe.  Dann  sei  er  aufgeklärt 
worden  und  habe  sich  langsam  die  Onanie  abgewöhnt.  Immerhin  sei  es  noch 
bis  in  die  letzte  Zeit  vorgekommen,  daß  er  hie  und  da  in  Zwischenräumen  von 
zwei  Monaten  onaniert  habe,  wenn  er  sehr  verzweifelt  gewesen  sei. 

Stekol,  Störungen  dos  Trieb-  und  Affoktlobons.  II.  2.  Aufl.  15 


226  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

•  Im  20.  Lebensjahre  begann  er  zu  Dirnen  zu  geben.  Seit  damals  verkehrt 
er  mit  sehr  guter  Potenz  mit  Dirnen  ungefähr  alle  zwei  Wochen  einmal  oder 
hie  und  da  mit  Mädchen,  die  er  auf  den  Straßen  findet  und  die  sich  auch  be- 
zahlen lassen.  Bei  den  Dirnen  hatte  er  eigentlich  kein  Vergnügen.  Er  tat  es 
mehr  aus  Verpflichtung,  weil  seine  Kollegen  alle  mit  Frauen  verkehrten  und 
er  es  auch  tun  wollte.  Er  mache  das  mehr  aus  Gesundheitsrücksichten  als  aus 
einem  inneren  Drange  heraus.  Allerdings  müsse  er  sich  denken,  daß  das  in 
einem  richtigen  Verhältnis,  in  dem  das  Mädchen  sich  aus  Liebe  hingebe,  ganz 
anders  sein  dürfte.  Deshalb  sei  er  ja  so  unglücklich,  daß  er  noch  keine  Geliebte 
gefunden  habe.  Denn  die  Mädchen,  die  er  auf  der  Straße  auflesen  mußte  und 
die  mit  ihm  ins  Hotel  gingen,  wären  alle  eigentlich  auch  nur  feile  Dirnen,  weil 
sie  schließlich  doch  Geld  oder  ein  Geschenk  verlangten. 

Er  sei  ein  ausgesprochener  Pechvogel.  Andere  junge  Leute  hätten  immer 
Glück,  ihm  gehe  aber  alles  schief  aus.  Es  müsse  in  seinem  Wesen  etwas  liegen, 
das  die  Menschen  abstoße,  wenn  sie  ihn  näher  kennen  lernten. 

Würde  man  diese  Klagen  alle  als  Tatsachen  hinnehmen,  so  könnte  man 
an  sein  besonderes  Pech  glauben.  Es  zeigt  sich  aber,  daß  er  sich  sein  Pech 
konstruiert,  daß  er  sich  seine  Niederlagen  arrangiert.  Er  ist  ein  Don  Juan, 
dessen  einleitende  Gefechte  tadellos  von  statten  gehen.  In  der  Ausführung 
tritt  dann  das  sogenannte  Pech  ein  und  aus  der  Eroberung  wird  eine  Blamage.1) 
Es  stellt  sich  nämlich  heraus,  daß  er  eine  Unmenge  von  Eroberungen  vollzogen 
und  sich  immer  aus  rasch  herbeigezogenen  Motiven  im  letzten  Moment  zurück- 
gezogen hat.  Alle  diese  Erlebnisse  gleichen  einander,  nur  daß  der  Grund  des 
Abbruches  immer  ein  anderer  ist.  Ich  glaube  am  besten  zu  tun,  wenn  ich  von 
seinen  Abenteuern  das  letzte  berichte,  weil  es  besonders  charakteristisch  ist. 

Es  war  an  einem  Sonntag.  Xaver  fühlte  sich  wieder  ganz  allein  und  ver- 
lassen und  hielt  Ausschau  nach  einem  Mädchen.  Sein  älterer  Freund,  den  er 
im  Cafe  hätte  treffen  sollen,  hatte  ihn  im  Stiche  gelassen.  Heute  mußte  es 
gelingen.  Er  ist  des  Alleinseins  und  der  Einsamkeit  müde.  Heute  wird  er  ein 
Mädchen  ansprechen.  Er  macht  mehrere  Versuche,  aber  es  handelt  sich  immer 
um  Mädchen,  welche  Geld  verlangen  und  ihm  nicht  gut  gefallen.  Endlich  sieht 
er  eine  feine,  schlanke,  biegsame  Gestalt,  die  rasch  an  ihm  vorübergeht.  Er 
eilt  ihr  nach,  —  es  ist  ein  elegantes,  sehr  schönes  Mädchen.  Er  spricht  sie 
an  und  betont  gleich,  sie  möge  das  nicht  schlecht  auffassen,  er  habe  „nur  ehr- 
bare Absichten".  Er  fühle  sich  so  verlassen  und  möchte  den  Abend  in  ange- 
nehmer Gesellschaft  verbringen.  Das  Mädchen  ist  nicht  ungehalten,  läßt  sich 
begleiten  und  gesteht  schließlich,  daß  sie  auch  allein  sei  und  sich  fürchterlich 
„mopse".  Er  ärgert  sich,  daß  er  ihr  „nur  eine  ehrbare"  Bekanntschaft  ver- 
sprochen, und  überlegt  immer  wieder  während  des  Spazierganges,  ob  er  ihr 
nicht  einen  anderen  Antrag' machen  soll.  Es  beginnt  zu  regnen;  sie  gehen  in 
ein  Cafe,  wo  man  auch  Musik  hören  kann ;  dann  gehen  sie  in  ein  Gasthaus  zum 
Nachtmahl.  Er  zeigt  sich  sehr  galant,  trägt  alle  Kosten  und  begleitet  sie  nach 
Hause.  Das  Mädchen  erzählt,  sie  hätte  ein  Telephon,  da  sie  ein  kleines  Ge- 
schäft habe,  er  könne  sie  anrufen.  S,ie  beschließen,  den  nächsten  Sonntag  zu- 
sammen zu  verbringen.  Die  ganze  Woche  macht  er  einen  Kriegsplan  und 
nimmt  sich  vor,  er  werde  die  Schüchternheit  ablegen  und  ihr  einen  Antrag' 
machen.    Er  ruft  sie  an  und  sie  besprechen  zusammen,  in  die  Oper  zu  gehen 


')  Vgl.  das  Kapitel  „Der  Pechvogel"  in  „Das  liebe  Ich".  2.  Auflage.    Verlag  von 
Otto  Salle,  Berlin  1920. 


;Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Mcssalina.  907 

und  dann  gemeinsam  zu  nachtmahlen.  Sonntags  kauft  er  vormittags  die  Karten 
und  ^11  sie  ihr  schicken.    Plötzlich  kommt  ihm  die  Idee,  er  solle  lieber  das 
Verhältnis  lassen.  Er  schickt  die  Karte  an  einen  Freund  und  telefoniert  dem 
Madchen,  es  waren  Verwandte  gekommen,  er  könne  nicht  ins  Theater  gehen 
Er  sei  darüber  unglücklich  usw. 

Der  Freund  war  aber  verhindert,  er  blieb  allein,  die  Karte  verfiel.  Er 

«Ä,S?  T  ^  Td  kam  gaM  traUrig  nach  Hause'  Wie  «a  ^n  aber 

ri  wm  t  h  S  aUJ<merkSa1m  mad]e'  daß  er  einfach  vor  dem  Mädchen  geflohen 
sei,  will  er  das  nicht  einsehen  und  meint,  Schuld  wäre  seine  Schwester. 

Q^wjd  .    lhr  aiSS  mä!llt  Und  Sie  gefragt>  was  ich  machen  soU.    Die 

bchwester  sagte  mir:  Sie  wird  dich  zum  Narren  halten,  es  wird  dich  Geld 
kosten  und  du  wirst  nichts  davon  haben."  ' 

„Erzählen  Sie  denn  der  Schwester  alles?" 

.,,  »FreilicQ-  Wir  reden  ganz  ungeniert  über  alle  sexuellen  Themen.  Die 
Schwester  hat  es  so  eingeführt  und  ich  finde  es  natürlich.  Warum  soll  ich  mich 
nicht  mit  meiner  Schwester  beraten?" 

wollt.1?  a^^  •"?  auf' da\f  7°?  der  Schwester  den  abweisenden  Rat  hören 
wollte  daß  er  sich  vor  dem  Verhältnis  und  seinen  etwaigen  Folgen  gefürchtet 

un^daß  d,TSH  mm'  "f  lhm  der/reUnd  ******  alsgdl"fn 

SÜmfw  Z  T  6r  ^rte  an  den  Freund  den  Sinn  hatte=  Mir  ist  ein 
*reund  wichtiger  als  eine  Freundin. 

Es  gelingt  mir  immer  wieder  zu  beweisen,  daß  er  sich  sein  Pech  in  sehr 
geschickter  und  manchmal  auch  ungeschickter  Weise  arrangierte,  um  die  Ver- 
pflichtung zum  Lebemann  zu  erfüllen,  ohne  aber  seine  innere  Einstellung  zu 
gefährden.  Daß  ihm  aber  die  Einleitung  der  Eroberung  genügt  und  daß  er 
dann  freiwillig  auf  das  Ende  verzichtet  hätte. 

Das  bestreitet  er  energisch,  will  auch  nichts  von  homosexuellen  Einstel- 
lungen wissen.  Er  behauptet,  er  wäre  sofort  gesund,  wenn  er  nur  ein  richtiges 
Verhältnis  hätte.  Die  Jagd  nach  dem  Verhältnis  wird  fortgesetzt  Es  war 
eigentlich  unglaublich,  wie  viele  Eroberungen  er  in  der  Woche  machen 
konnte.  Er  war  ein  schöner  interessanter  Mensch  und  die  Herzen  flogen  ihm 
zu.  Er  wußte  es  aber  immer  so  einzurichten,  daß  er  brechen  konnte  Er  fand 
im  letzten  Moment  immer  Bedenken  oder  Fehler;  die  ihn  hinderten  intim 
zu  werden. 

Sehr  schön  trat  das  am  Silvester  zutage.  Eine  Dame  aus  der  Ferne  mit 
der  er  korrespondierte  —  sie  hatten  auch  die  Photographien  gewechselt  —  ■ 
sagt  sieh  für  den  Silvesterabend  an.  Er  sollte  sie  am  Abend  auf  der  Bahn 
erwarten  und  dann  wollten  sie  das  neue  Jahr  gemeinsam  feiern.  Er  ging  zum 
Zug  und  verpaßte  ihn,  weil  er  auf  einem  anderen  Steige  wartete.  Am  nächsten 
läge  gelang  es  ihm,  sie  aufzufinden.  Sie  war  natürlich  schon  erzürnt  Diesmal 
woUte  er  es  besser  machen  und  forderte  das  Mädchen  sofort  auf  mit  ihm  in 
ein  Hotel  zu  gehen.  Natürlich  war  sie  beleidigt  und  ließ  ihn  sofort  abblitzen.' 
Er  hatte  diese  Zurückweisung  durch  den  brüsken  Antrag  direkt  provoziert. 
Er  manovenerte  so  geschickt,  daß  aus  jedem  Sieg  eine  Niederlage  wurde. 

Er  versäumte  .die  Rendezvous  oder  wurde  im  letzten  Moment,  wenn  es 
schon  sehr  kritisch  war,  geizig,  sogar  schmutzig,  machte  irgend  eine  unge- 
schickte Bemerkung.  So  sagte  er  einem  Mädchen,  das  schon  bereit  war,  mit 
ihm  ins  Hotel  zu  gehen:  „Ach,  alle  Damen  sind  gleich,  sie  fliegen  alle  auf 
die  Männer  und  sind  glücklich,  wenn  sie  einen  erwischen."  Sie  sah  ihn  groß  an. 

15* 


228  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

„So  denken  Sie  von  den  Mädchen,  die  mit  Ihnen  gehen?   Dann  will  ich  mit 
Ihnen  nichts  zu  tun  haben"  .  .  .     Dreht©  sich  um  und  ließ  ihn  stehen. 

Das  hinderte  ihn  nicht,  wieder  den  Mädchen  nachzujagen,  sogar  Frauen 
anzusprechen  und  immer  wieder  über  sein  Pech  zu  jammern.  Dabei  war  sein 
sexuelles  Bedürfnis  kein  großes.  Er  wurde  nicht  von  der  körperlichen  Begierde 
gejagt.  Es  war  eine  geistige  Peitsche,  die  ihn  immer  wieder  zu  den  Frauen 
trieb.  Zugleich  suchte  er  Freunde  und  fand  auch  sie  nicht,  wie  er  sie  haben 
wollte.  Nur  der  letzte  Freund  war  nach  seinem  Geschmack,  „weil  er  ihn  ver- 
stand". Mit  ihm  ging  er  gemeinsam  in  ein  Lupanar.  Es  war  das  erstemal, 
daß  er  einen  stärker  betonten  Orgasmus  gefühlt  hatte.  Wir  kennen  ja  diese 
Gewohnheit  vieler  Männer  als  eine  bequeme  Maske  der  Homosexualität.  Über 
die  Motive  seines  Handelns  gibt  uns  ein  Traum  Aufschluß,  der  mir  für  das 
Verständnis  der  Homosexualität  von  größter  Bedeutung  erscheint. 

Wir  haben  schon  längst  konstatiert,  daß  es  sich  um  eine  latente  Homo- 
sexualität handelt,  die  nach  dem  Prinzip  der  Ablenkung  verdrängt  werden  soll. 
Xaver  spricht  so  viel  von  den  Frauen,  denkt  den  ganzen  Tag  an  die  Frauen, 
um  nicht  an  die  Männer  denken  zu  müssen.  Er  versucht  es,  sich  auf  die  Frauen 
abzulenken,  bringt  es  aber  nie  zu  einem  intimen  Verhältnis,  weil  die  Trieb- 
kraft nicht  groß  genug  ist.  Das  bessere  Weib  ist  für  ihn  ein  „Noli  me  tan- 
gere",  es  besteht  eine  Hemmung,  die  ihn  von  jedem  nicht  bezahlten  Weibe 
trennt.  Die  Dirne  wird  aber  nicht  als  Weib  gewertet  und  hat  auch  einen 
größeren  Reiz,  weil  sie  mit  anderen  Männern  verkehrt.  Sie  gestattet  die  Be- 
nützung eines  Teiles  der  homosexuellen  Triebkraft. 

Nun  wollen  wir  uns  mit  seinem  Traume  befassen.  Näcke  *j  hat  mit  Recht 
aufmerksam  gemacht,  daß  der  Traum  das  feinste  Reagens  auf  die  Homosexua- 
lität ist.  Leider  war  er  noch  nicht  in  die  Mysterien  der  Traumdeutung  ein- 
gedrungen und  hält  sich  an  den  manifesten  Trauminhalt.  Wie  viel  reicher  wird 
die  Bedeutung  des  Traumes,  wenn  man  ihn  lesen  kann  und  seine  geheime 
Symbolik  entziffert! 

Ich  werde  von  Männern  verfolgt  und  fürchte,  daß  sie  mir  etwas 
antun  werden.  Ein  Mann  mit  einem  großen  Säbel  läuft  besonders  schnell 
und  berührt  mich  schon  mit  der  Spitze  des  Säbels,  der  krumm  war  wie 
die  Säbel  der  Türken.  Ich  flüchte  mich  auf  den  Friedhof  zum  Grabe 
meiner  Mutter.  Dort  finde  ich  meine  Kusine,  die  auch  vor  den  Räubern 
Angst  hat.  Wir  wollen  uns  erst  verbergen,  dann  blicken  wir  vorsichtig 
herum  und  sehen,  daß  die  Luft  rein  ist.  Wir  fahren  dann  in  einem 
Wagen  zusammen  vom  Friedhof  auf  einer  endlosen  dunklen  Landstraße. 
Ich  schmiege  mich  an  sie,  als  ob  sie  mich  gegen  Räuber  schützen  könnte, 
und  schäme  mich,  so  wenig  männlich  zu  sein  .  .  . 

Nun  darf    man  aus    der    deutlichen    homosexuellen  Bedeutung    eines 
/  Traumes  noch  nicht  den  Schluß  ziehen,  daß  der.Träumer  homosexuell  ist.  Denn 

jeder  Traum  ist,  wie  ich  in  der  „Sprache  des  Traumes"  bewiesen  habe,  bi- 
sexuell und  in  jedem  Traume  lassen  sich  diese  homosexuellen  Tendenzen  nach- 
weisen. Der  Traum  beweist  uns  immer  wieder  die  Bi- 
sexualität  der  Menschen  und  auch  die  Träume  der 
Homosexuellen  sind    alle    bisexuell.    Wir  erkennen   nur  die 


*)  „Der    Traum    als    feinstes    Reagens    für    die    Art   des   sexuellen    Empfindens." 
Monatsschrift  für   Kriminalpsychologie,   1905   und   viele   andere  Arbeiten. 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  929 

Stärke  der  verdrängten  Homosexualität  und  enträtseln  aus  dem  Traume 
leichter  die  Motive,  die  den  Menschen  in  eine  monosexuelle  Richtung  gedrängt 
haben  .  .  -1) 

Dieser  Traum  beginnt  mit  einer  typischen  homosexuellen  Verfolgungs- 
szene. Es  sind  seine  homosexuellen  Ideen,  die  ihn  verfolgen.  Der  große  krumme 
Säbel  ist  ein  bekanntes  phallisches  Symbol.  Daß  ihn  der  Säbel  von  hinten  be- 
rührt, ist  jetzt  nicht  schwer  zu  verstehen.  Auch  warum  der  Säbel  krumm  ist, 
wenn  man  erfährt,  daß  sein  Bruder  eine  Hypospadie  hat  und  in  der  Tat  einen 
krummen  Phallus  hat,  über  den  er  schon  mit  einem  Arzte  gesprochen  hat. 
Der  Mann  hat  einen  großen  schwarzen  Bart  genau  wie  sein  Bruder  und  die 
gleiche  Gestalt.  Wir  sehen  also,  daß  der  Bruder,  der  sich  aus  dem  Schwärm 
der  verfolgenden  Männer  loslöst,  gewissermaßen  den  Vertreter  der  homosexu- 
ellen Verfolgungen  darstellt. 

Er  flüchtet  auf  den  Friedhof  zu  dem  Grabe  seiner  Mutter.  Die  Mutter 
soll  ihn  vor  der  Homosexualität  retten.  Sie,  die  Vertreterin  der  Weiblichkeit, 
ist  es,  zu  der  er  sich  rettet,  wenn  ihn  die  Männer  verfolgen.  Die  Kusine,  ist 
die  Frau  eines  anderen  Bruders.  Sie  ist  das  typische  Inzestkompromiß.  Viele 
Neurotiker,  die  an  ihre  Familie  fixiert  sind,  heiraten  schließlich  eine  Kusine. 
Die  Kusine,  die  er  am  Grab  der  Mutter  findet,  wird  seine  Rettung  und  mit 
ihr  fährt  er  dann  die  dunkle  Landstraße  des  Lebens,  ein  halber  Mann  .  .  . 

Er  erzählt,  daß  er  diese  Kusine  hätte  heiraten  'sollen,  daß  sie  aber 
sein  Bruder  heiratete,  weil  er  zu  lange  überlegte  und  immer  zauderte.  Er 
dachte  sich  aber,  er  könnte  auch  der  Geliebte  dieser  Kusine  werden.2)  Ihn 


.  ')  Würden  die.  Homosexuellen,  wie  Näcke  es  annimmt,  nur  homosexuell  träumen, 
so  wäre  diese  Tatsache  ein  wichtiges  Argument  gegen  meine  Annahme,  daß  alle  Menschen, 
auch  die  Homosexuellen,  bisexuell  sind.  Nun  trifft  man  bei  echten  Homosexuellen  sehr 
häufig  heterosexuelle  Träume,  wenn  man  danach  forscht.  Hirschfeld  fand  bei  einer 
Rundfrage  bei  100  Homosexuellen,  daß  13%  auch  heterosexuelle  Situationen  träumten. 
Eine  analytische  Erforschung  des  Traumlebens  würde  aus  diesen  13%  bald  100  machen! 
Bei  vielen  sind  die  heterosexuellen  Träume  mit  Angst  verbunden.  Sie  träumen,  daß  sie 
verheiratet  und  impotent  sind,  oder  daß  6ie  in  Gefahr  kommen,  heterosexuell  zu  ver- 
kehren. Es  bestätigt  sich  immer  wieder,  daß  der  Traum  uns  gestattet,  alle  bei  Tage 
vom  Bewußtsein  verpönten   Regungen   auszuleben. 

")  Es  kommt  nach  meinen  Erfahrungen  gar  nicht  selten  vor,  daß  zwei  Brüder 
eine  Geliebte  haben.  Ich  kenne  sogar  drei  Brüder,  die  abwechselnd  ein  Stubenmädchen 
benützen  und  sich  schon  mehrere  Jahre  dabei  sehr  wohl  fühlen.  Diese  Maske  der 
Homosexualität  führt  zu  gewaltigen  Ehedramen.  (Brüder,  die  sich  in  die  Schwägerin 
verlieben,  sie  entführen  usw.)  Ein  Kuriosum  aber  stellt  ein  Fall  meiner  Beobachtung 
dar.  Ein  Bruder  gestattete  seinem  jüngeren  Bruder,  seine  Prau  zu  benützen.  Er 
nötigte  ihn  schließlich,  zu  ihm  zu  ziehen.  Zu  beider  Leidwesen  6tarb  die  Frau,  die 
sich  in  diesem  Dualitätsverhältnisse  sehr  wohl  fühlte  und  in  jeder  Hinsicht  auf  ihre 
Kosten  kam.  Eine  Influenza  machte  ihrem  Leben  ein  rasches  Ende.  Der  '  Schmerz 
der  Brüder  schien  unermeßlich.  Aber  sie  konnten  ohne  Weib  nicht  leben.  Sie  suchten 
so  lange,  bis  sie  wieder  ein  Wesen  fanden,  das  bereit  war,  auf  die  Zwei-Brüder-Ehe  ein- 
zugehen. Diesmal  heiratete  der  jüngere  Bruder  und  der  ältere  erhielt  das  Recht  der 
Mitbenützung.  —  In  derselben  Familie  gibt  es  noch  ein  Kuriosum.  Der  Vater  der 
zweiten  Frau  hatte  eine  Licblingstochter,  um  die  sich  ein  braver  Mann  vergebens 
bewarb.  Der  Vater  wollte  die  Einwilligung  nicht  geben.  Schließlich  ließ  er  sich  herbei 
—  unter  der  Bedingung,  daß  er  die  ganze  Zeit  im  Bette  nebenan  schlafen  dürfe.    Auf 


-30  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

re:zen  fast  nur  die  Frauen  seiner  Brüder  und  seine  Schwestern.  Endlos 
sind  die  Phantasien,  welche  sich  mit  komplizierten  Inzestverhältnissen  be- 
fassen. Auch  beide  Schwestern  spielen  eine  große  Rolle.  Nicht  grundlos  fing 
er  mit  der  Schwester  die  Besprechung  der  sexuellen  Themen  an.  Mit 
lauernder  Berechnung  teilte  er  ihr  alle  seine  Abenteuer  mit.  Auch  das  er- 
wähnte, bei  welchem  die  Schwester  ihm,  wie  vorher  in  vielen  Fällen,  ab- 
geraten hatte.  Er  hatte  die  heimliche  Erwartung,  sie  werde  ihm  sagen: 
„Wozu  in  die  Ferne  schweifen?  Warum  suchst  du  das  bei  anderen  Frauen 
was  du  bei  mir  finden  kannst?"  ... 

Jetzt  verstehen  wir  die  Hemmung,  die  zwischen  ihm  und  dem  „besseren" 
Weibe  hegt.  Sie  alle  tragen  etwas  von  der  Schwester  und  der  Mutter  an 
sich.    Sie  alle  sind  mit  dem  Inzestverbote  belegt.    Er  sucht  ein  Verhältnis 

und  kann  es  nicht  finden.    Er  sucht  die  Schwester  und er  sucht 

den  Mann. 

Die  Frauen  seiner  beiden  Brüder  sind  der  Gegenstand  seines  Neides 
und  seines  Begehrens.  Wenn  er  Anliegen  und  Beschwerden  hat,  geht  er  nie 
zu  den  Brüdern,  sondern  immer  zu  den  Schwägerinnen.  Den  Brüdern  gegen- 
über hat  er  ein  schlechtes  Gewissen.  Er  ist  immer  schüchtern  und  verlegen 
m  ihrer  Gegenwart.  In  seinen  älteren  Bruder  ist  er  verliebt,  ohne  es  sich 
eingestehen  zu  wollen.  Er  bewundert  ihn,  seine  Tatkraft  und  seine  Energie 
bein  Bruder  pflegt  hie  und  da  zu  singen.  In  seinen  Ohren  klingt  die  Stimme 
so  suß,  daß  er  ihn  für  den  besten  Sänger  der  Welt  erklärt.  Er  fühlt  sich 
von  dem  Bruder  zurückgesetzt  und  vernachlässigt.  Der  Bruder  merkt  nicht 
wie  schwer  krank  er  ist  und  wie  er  leidet.  Er  ist  einst  ein  heiterer  Bursche 
gewesen  und  ist  jetzt  (seit  dem  Aufgeben  der  Onanie!) .  traurig  geworden. 
Aber  der  Bruder  merkt  nichts  davon  und  fragt  ihn  nie,  wie  es  ihm  gehe 
und  ob  er  sich  auch  wohl  befinde.  Wenn  er  nur  die  Kraft  hätte,  das  Geschäft 
des  Bruders  zu  verlassen!  Er  drückt  seinen  Wert  herunter,  um  sich  noch 
fester  an  den  Bruder  zu  binden.  Er  könnte  es  nicht  überleben,  dem  Bruder 
ferne  zu  sein.  Er  macht  auf  der  Reise  keine  Geschäfte,  weil  er  überhaupt 
nicht  reisen  will  und  weil  er  seinem  Bruder  die  großen  Geschäfte  nicht  gönnt. 
Noch  gespannter  ist  das  Verhältnis  zum  zweiten  Bruder,  der  in  der  Jugend 
sein  Spielgenosse  war.  Er  besucht  ihn  nie  und  spricht  mit  ihm  verlegen 
einige  Worte,  wenn  er  nicht  ausweichen  kann.  Er  zeigt  jene  Verlegenheit 
seinem  Bruder  gegenüber,  welche  die  Menschen  haben,  die  eine  bestimmte 
erotische  Einstellung  verbergen  wollen.1) 

diese  Bedingung  ging  der  Bewerber  ein,  wobei  ihn  allerdings  auch  andere  Motive  lockten. 
Das  Mädchen  war  sehr  reich  und  er  hoffte,  den  Alten  zu  beerben.  Ich  konnte  leider 
nicht  erfahren,  wie  sich  der  „Herr  Papa"  in  der  Brautnacht  benommen  hatte.  Die 
ganze  Familie  wußte  aber,  daß  er  im  zweiten  Bette  dabei  war.  Die  zwei  Betten  standen 
nebeneinander.  Er  scheint  also  als  Kiebitz  mitgenossen  zu  haben.  Und  solche  grauen- 
hafte  Verhältnisse   entweihen   die   Menschen   mit   dem    heiligen    Namen:    Liebe! 

x)  Ein  sehr  charakteristischer  Traum  des  Patienten  sei  hier  mitgeteilt:  „Ich  , 
bin  im  Geschäfte  d-es  Bruders.  Er  legt  mir  Unterröcke  vor,  die' 
ich  notieren  soll.  Ich  will  das  nicht  machen,  gehe  aus  dem 
Geschäfte  und  sage:  Der  Bruder  kann  mich  gern  haben!"  Der 
Bruder  verlangte,  er  solle  heiraten.  Das  ist  der  Traumanlaß,  der  sich  in  dem  Bilde 
von  den  notierten  Unterröcken  äußert.  Er  aber  sucht  nur  die  Liebe  des  Bruders.  Die 
Schmähung  „Er   kann  mich   gern  haben!"   enthält   ja   bekanntlich   die   Aufforderung   zu 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  93^ 

Er  ist  jetzt  gerade  auf  dem  Wege,  sich  in  einen  Homosexuellen  zu 
verwandeln.  Irgendeine  Gelegenheit,  und  die  Homosexualität  wird  manifest. 
Der  letzte  Freund  ist  ihm  wichtiger  als  alle  Mädchen. 

Das  trat  ja  deutlich  zutage,  als  er  dem  Freunde  die  Karte,  welche  er 
für  die  neue  Freundin  gekauft  hatte,  schickte.  Damals  brach  ein  Teil  der 
inneren  Kräfte  durch.  Sonst  versteht  er  es  meisterhaft,  seine  homosexuellen 
Regungen  zu  verbergen.  Seine  Freunde  und  Bürokollegen  halten  ihn  für 
einen  vom  Glück  begünstigten  Don  Juan  und  ahnen  nicht,  daß  er  niemals 
die  letzten  Konsequenzen  zieht.  Für  alle  Welt  ist  er  ein  Lebemann.  Man 
sieht  ihn  immer  mit  Mädchen,  immer  in  Gesellschaft  -  schöner  Frauen;  er 
läuft  ihnen  auf  der  Straße  nach,  er  zeigt  sich  mit  ihnen  in  öffentlichen 
Lokalen;  er  spricht  im  Geschäfte  von  nichts  anderem  als  von  Eroberungen 
und  Abenteuern.  Allerdings  nie  zu  seinen  Brüdern.  Vor  dem  jüngeren  Bruder, 
der  sein  Spielgenosse  war,  spricht  er  nie  über  Sexuelle  Themen.  Die  Analyse 
dauerte  nicht  lange.  Aber  schon  nach  einigen  Wochen  kamen  Erlebnisse  mit 
diesem  Bruder  ans  Tageslicht,  welche  uns  diese  Scheu  erklären. 

Wenn  wir  die  merkwürdige  Tatsache  berücksichtigen,  daß  Xaver  den 
lebhaften  Wunsch  hat,  ein  Don  Juan  zu  werden,  so  werden  wir  die  Größe 
seiner  moralischen  Hemmungen  ermessen  können.  Er  ist  lange  Zeit  sehr 
fromm  gewesen  und  hat  sich  allmählich  in  einen  Freigeist  verwandelt.  Die 
Analyse  zeigt,  daß  seine  Frömmigkeit  in  unverminderter  Stärke  fortbesteht. 
Der  Don  Juan  ist  für  ihn  das  unerreichbare  Ideal  des  hemmungslosen 
Menschen,  den  kein  Bedenken  in  seinen  Unternehmungen  stört.  Er  aber  hört 
in  den  letzten  entscheidenden  Momenten  eine  innere  Stimme,  die  ihm  zuruft: 
„Tu  es  nicht!    Es  ist  eine  Sünde!" 

Es  ist  die  Stimme  seiner  Mutter,  die  es  nie  an  moralischen  Reden  hat 
fehlen  lassen,  die  ihn  vor  den  Gefahren  der  Großstadt  warnte,  die  er  so 
innig  liebte  und  verehrte.  Wie  oft  führen  seine  Träume  auf  den  Friedhof, 
wo  seine  Mutter  liegt!  Als  wollten  sie  ihm  das  teuere  Bild  vor  Augen  führen 
und  ihn  ermahnen,  das  Böse  zu  fliehen  und  die  rechten  Wege  Gottes  zu 
wandeln! 

Wir  sehen  an  diesem  Beispiele  die  Bedeutung  der  Familie  für  die 
Entstehung  der  Homosexualität,  wie  sie  Hirschfeld  als  echte  Homo- 
sexualität bezeichnet.  Wir  haben  eine  Fixierung  an  die  Schwestern 
konstatieren  können,  wir  lernen  auch  eine  Fixierung  an  die  Mutter 
kennen  und  die  heiße  Liebe  zu  den  Brüdern,  welche  sich  besonders  in 
dem  Verhältnis  zu  dem  älteren  Bruder  äußert,  dessen  Frau  er  im 
Traume  auf  einem  Wagen  entführt.  Diese  Kusine  ist  eine  Maske  seines 
Bruders.  Sie  hat  durch  den  Besitz  seines  Bruders  für  ihn  einen  großen 
Reiz  erhalten.  Vorher  war  sie  ihm  eigentlich  ganz  gleichgültig.  Die 
homosexuellen  Erlebnisse  mit  dem  jüngeren  Bruder  gehen  auf  das 
16.  Lebensjahr  zurück! 


einem  Liebesakte  (Anilingus).  Diese  anale  Reizung  ist  eine  seiner  stärksten  Paraphilien. 
Er  leidet  immerwährend  an  einem  „Zucken  im  After".  Das  Zucken  wird  so  stark,  daß 
er  nicht  schlafen  kann.  Er  konsultierte  auch  wegen  dieses  Leidens  einen  Arzt,  der 
keine  Oxyuren  konstatieren  konnte  und  meinte,  es  werde  nur  ein  „nervöses  Zucken"  sein. 


232  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Sein  Drang  nach  Verhältnissen  war  der  Drang  zur  Weiblichkeit 
auf  der  Flucht  vor  den  ihn  verfolgenden  Männern. 

Eine  ganz  andere  Konstellation  zeigt  der  nächste  Patient.  War 
Xaver  stark  genug,  sich  durch  eigenartiges  Mißgeschick  von  den  ge- 
fährlichen Frauen  zu  befreien,  so  konnte  wieder  der  nun  folgende 
Patient  sich  diese  Sicherheit  durch  ein  Leiden  verschaffen,  das  zwar 
sehr  quälend  war,  aber  sich  als  Schutzvorrichtung  vortrefflich  bewährte. 

Fall  Nr.  33.  Herr  Christoph  —  so  wollen  wir  den  Patienten  nennen  — 
leidet  an  einem  chronischen  Magenleiden,  das  nach  Ansicht  mehrerer  Ärzte 
ein  nervöses  Übel  sein  'soll.  Er  hat  Anfälle  von  heftigen  Magenschmerzen 
und  Appetitlosigkeit,  so  daß  er  furchtbar  abgemagert  ist  und  wie  ein 
Schwertuberkulöser  aussieht.*  (Lunge  und  alle  anderen  Organe-  sind  voll- 
kommen gesund!)  Er  kann  jetzt  kein  Fleisch  vertragen,  das  macht  ihm  die 
größten  Schmerzen,  und  er  muß  schon  brechen,  wenn  er  den  ersten  Bissen 
in  den  Mund  'steckt,  Er  bestreitet,  daß  er  jemals  onaniert  hätte,  und  be- 
hauptet, sein  Sexualleben  sei  ganz  normal.  Er  habe  früher  regelmäßig  Dirnen 
aufgesucht,  habe  aber  fast  gar  keinen  Genuß  gefunden,  wahrscheinlich  weil 
er  einen  Ekel  vor  Dirnen  habe  und  sich  mit  einem  anständigen  Mädchen  aus 
ethischen  Motiven  nicht  einlassen  wollte;  Er  möchte  hypnotisiert  werden, 
um  den  Ekel  vor  dem  Essen  zu  verlieren.  Ich  lehne  die  Hypnose  ab  und 
empfehle  ihm  eine  genaue  Analyse.  Nur  diese  könne  ihm  den  Weg  zur 
Heilung  zeigen.  Er  meint,  er  hätte  mir  nichts  verschwiegen.  Er  habe  mir 
alles  gesagt  und  beharrt  auf  der  Hypnose,  die  ich  entschieden  ablehne. 

Er  verspricht,  sich  die  Sache  zu  überlegen.  Meine  Fragen  wären  ihm  so 
überraschend  gekommen.  Er  war  darauf  nicht  vorbereitet.  Er  gehört  zu  den 
Menschen,  die  alles  genau  überlegen  müssen  und  nie  im  Affekt  handeln.  Es 
gehört  zu  seinen  Schutzmaßregeln  gegen  die  Tücken  des  Lebens:  „Lasse  dich 
nicht  überfallen!    Überlege  alles!'" 

Er  kommt  nun  einige  Male  und  spricht  stets  von  seinen  Schmerzen. 
Eines  Tages  meint  er,  es  hätte  keinen  Sinn,  er  wolle  ausbleiben.  Doch  schon 
am  nächsten  Tage  kommt  er  und  bringt  mir  ein  großes  Schriftstück:  „Sie 
haben  mich  öfters  nach  meinen  Träumen  gefragt.  Ich  habe  die  Träume  dieser 
Nacht  aufgeschrieben.  Ich  träume  immer  viel  und  lebhaft  und  ungefähr  so 
wie  heute  Nacht.  Ich  habe  aber  auch  meine  aufrichtige  Lebensbeichte  mit- 
gebracht und  will  Ihnen  Gelegenheit  geben,  mich  ganz  genau  kennen  zu 
lernen.  Sie  erfahren  aus  der  Lebensbeichte  die  Tatsachen,  die  mich  krank 
gemacht  haben.  Ich  sehe  —  ich  komme  mit  dem  Verschweigen  nicht  weiten. 
Nun  soll  die  Wahrheit  zutage  treten!"  • 

Und  nun  lassen  wir  die  Lebensgeschichte  und.  dann  den  Traum  in  der 
Fassung  folgen,  wie  ich  sie  erhalten  habe: 

• 

„Meine  Krankengeschichte,  zugleich  meine  Biographie. 

Ich  war  bis  zu  meinem  4.  Lebensjahre  im  Elternhause  und  kam  dann 
auf  ein  Jahr  zu  den  Eltern  meiner  Mutter  in  Pflege.  Der  Beruf  meines 
Vaters  brachte  es  mit  sich,  daß  er  monatelang,  mitunter  ein  ganzes  Jahr 
seiner  Familie  fernbleiben  mußte.  Ich  wurde  von  den  Großeltern  liebevoll 
behandelt,  und  da  sie  fromm  waren,  war  auch  meine  Erziehung  danach  ge- 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  233 

artet.  Sie  wohnten  in  einem  schön  gelegenen  Dorfe,  einem  alten,  beliebten 
Wallfahrtsorte.  Der  um  den  Ort  führende  Fluß  war  der  Tummelplatz  für 
uns  Kinder.  Wegen  der  damit  verbundenen  Ertrinkungsgefahr  bildete  ich  die 
ständige  Sorge  meiner  Großeltern,  so  daß  sie  mich  nach  Möglichkeit  in  ihrer 
Nähe  hielten.  Ich  ging  täglich  mit  ihnen  in  die  Kirche,  machte  mit  ihnen 
Besuche,  in  der  Regel  bei  alten  Leuten,  wo  man  fast  ausschließlich  fromme 
Gespräche  führte  und  mir  bei  jeder  Gelegenheit  einschärfte,  ja  recht  fleißig 
zu  beten  und  brav  zu  sein,  unter  Androhung  aller  erdenklichen  Schreckmittel. 

Einmal  verkleidete  sich  ein  altes  häßliches  Weib  als  Hexe  und  wollte 
mich  betsäumigen,  ungebärdigen  Jungen  mitnehmen.  Das  jagte  mir  derart 
große  Angst  ein,  daß  ich  sehr  lange  unter  diesem  Eindruck  stand. 

Es  wurden  mir  eine  Unmenge  schauriger  Begebnisse  und  Wunder- 
wirkungen, die  sich  an  die  dortige  Mutter  Gottes  knüpften,  erzählt  und 
die   Stellen  gezeigt,  wo   sich  das   zugetragen. 

Ich  kam  dann  wieder  zu  der  Mutter  zurück.  Bald  darauf  kam  ich  in 
die  Schule.  Von  der  Schwester  lernte  ich  schon  frühzeitig  in  der  Fibel  lesen 
und  konnte  bald  in  meinem  Lieblingsbuche,  einer  alten,  großen  Bibel,  selbst 
lesen,  während  ich  früher  aufs  Fragen  angewiesen  war. 

Ich  habe  gar  oft  anderen  Spielen  entsagt  und  mich  lieber  mit  dieser 
Bibel  in  eine  stille  Ecke  zurückgezogen.  Es  ist  auf  dem  Lande  üblich,  alle 
Va  Jahre  in  der  Kirche  eine  öffentliche  Religionsprüfung  abzuhalten.  Zu 
dieser  hatte  sich  meine  um  21/2  Jahre  ältere  Schwester  längere  Zeit  vor- 
bereitet, da  sie  nicht  ganz  leicht  lernte.  Ich  folgte  dem  Studium  mit  großem 
Interesse  und  hatte  alles   auch  mit   auswendig   gelernt. 

In  der  Kirche  wurde  dann  geprüft  und  auf  eine  Frage  wußte  niemand 
Bescheid.  Ich  Knirps  hatte  es  mir  gemerkt,  weil  es  die  Schwester  gelernt 
hatte,  gab  Zeichen,  der  Vikar  fragte  mich,  und  zu  aller  Staunen  wußte  ich 
die  Antwort.  Es  war  das  Gebet  „Vater  unser".  Die  Leute  haben  mich  nach- 
her sehr  belobt  und  beschenkt  und  sagten:  „Knabe,  aus  dir  wird  ein  geist- 
licher Herr  werden."  Dieser  Vorsatz  faßte  tiefe  Wurzel  bei  mir. 

In  einem  Alter  von  ca.  71/2  Jahren  hat  mich  ein  12jähriges  Mädchen 
zu  einem  unzüchtigen  Spiel  verleitet,  wir  spielten  gegenseitig  mit  den  Ge- 
schlechtsorganen, ich  mußte  mit  ihr  herumbalgen  usw.  Dies  wiederholte  sich 
sehr  häufig.  Ich  fand  daran  großen  Gefallen  und  stand  stets  unter  dem 
Eindrucke  dieses  Erlebnisses.  Ich  hatte  dann  großen  Drang,  es  auch  mit 
anderen  Mädchen  zu  praktizieren.  Als  nach  einem  Jahr  die 
Schwester  meiner  Mutter  bei  uns  zu  Besuche  weilte 
und  mich  sehr  liebkoste,  hatte  ich  ganz  andere  Gefühle 
dabei  und  konnte  mich  nur  schwer  zurückhalten,  sie 
aufzufordern,  daß  sie  ähnliches  Spiel  mit  mir  treibe 
wie    das   erste    Mädchen. 

Beim  Beginn  des  3.  Schuljahres  bekamen  wir  einen  neuen  Lehrer. 
Dieser  wurde  bald  auf  mich  aufmerksam,  da  ich  gut  lernte,  und  ich  wurde 
sein  Lieblingsschüler.  Dieser  Lehrer  hatte  die  unsaubere 
Gewohnheit,  mich  zu  seinem  Tische  zurufen,  wo  er, 
mit  mir  sprechend,  mich  beim  Glied  hielt  und  solange 
damit  spielte,  bis  e's  steif  ward.  Ich  grübelte  viel  darüber  nach, 
was  es  für  eine  Bedeutung  haben  sollte;  jemanden  etwas  zu  sagen,  wagte 
ich  jedoch  nicht. 


234 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Am  Ende  des  Schuljahres  übersiedelten  wir  nach  Wien,  um  hier  ständig 
Wohnsitz  zu  nehmen.  Ich  hatte  unsägliches  Heimweh;  die  Zurücksetzung, 
die  mir  überall  widerfuhr,  hat  mir  den  Wiener  Aufenthalt  gänzlich  verleidet 
und  ich  trug  mich  heimlich  mit  dem  Vorsatz,  lieber  Hungers  zu  Sterben, 
als  hier  zu  bleiben.  Es  wurde  mir  gedroht,  wenn  ich  sitzen  bleibe,  daß  ich 
nicht  mehr  nach  Hause  fahren  dürfe  und  daß  ich  in  eine  Besserungsanstalt 
käme;  mit  letzterer  hatten  sie  mich  besonders  erschreckt,  als  sie  mir,  aller- 
dings falsche,  Schriftstücke  vorwiesen,  wonach  meine  Aufnahme  dorthin  schon 
beschlossen  wäre.  Dies  und  die  beständige  Angst  in  der  Schule,  wo  wir  einen 
rabiaten  Lehrer  hatten,  der  die  Kinder  sehr  mißhandelte  (dazu  konnte  ich 
kein  Wort  deutsch!),  alle  diese  Vorgänge  haben  mein  Gemüt  stark  zerrüttet; 
es  übertrug  sich  denn  auch  auf  den  körperlichen  Zustand,  ich  magerte  sehr 
ab  und  lebte  in  einer  Art  Taumel  dahin.  Im  Stillen  schuf  ich  mir  oft  Er- 
leichterung durch  Tränen. 

Auch  diese  Zeit  wurde  überwunden.  Nach  zwei  Jahren  wurde  ich  auch 
hier  einer  der  ersten  Schüler.  Ich  hatte  einen  Schulkameraden,  dessen 
16jähriger  Bruder  krankheitshalber  ein  Jahr  zu  Hause  lag  und  mit  dem  wir 
spielten.  Von  Jen  beiden  wurde  ich  ziemlich  gründlich  in  die  „Schweinerei'1 
eingeweiht.  Diese  Brüder  schliefen  zusammen  in  einem  Bette,  das  hinter 
jenen  der  Eltern  stand,  und  hatten  oft  Gelegenheit,  die  Eltern  beim  Bei- 
schlaf zu  beobachten.  •  Sie  schilderten  mir  das  immer  und  zeigten  mir  auch 
das  befleckte  Hemd  ihrer  Mutter.  Dies  übte  große  Wirkung  auf  mich  und 
ich  begann  dann  auch  meine  Eltern  zu  beobachten.  Ich  hatte  bis  zu  meinem 
12.  Lebensjahr  mit  der  Schwester  in  einem  Bette  zusammen  geschlafen.  Dann 
schlief  ich  in  dem  Bette  neben  meiner  Mutter,  da  der  Vater  größtenteils 
abwesend  war. 

Meine  Phantasie  nahm  derart  ungesunde  Dimensionen  an,  daß  ich  den 
bei  uns  wohnenden  Onkel,  einen  Bruder  der  Mutter,  in  Verdacht  hatte,  er 
unterhielte  ein  strafbares  Verhältnis  mit  meiner  Mutter.  Ich  beruhigte  mich 
langsam,  da  ich  trotz  meiner  scharfen  Beobachtung  nichts  wahrnehmen 
konnte. 

Mit  ca.  13  Jahren  lernte  ich  von  anderen  Schulgefährten  onanieren. 
Ich  habe  es  nicht  sehr  häufig  betrieben  aus  Furcht  vor  der  Sünde  und  stand 
im  ständigen  Konflikt.  Ich  hatte  dann  einmal  ein  Buch  zur  Hand  bekommen, 
wo  über  die  Onanie  mit  ihren  schrecklichen  Folgeerscheinungen  geschrieben 
wurde.  Dies  war  geeignet,  mich  jetzt  ganz  davon  abzuwenden,  und  als 
sicheren  Schutz  schwur  ich  dann  mit  ca.  14V2  Jahren 
an  dem  Grabe  meines  Großvaters,  daß  ich  bis  zu  meinem 
20.  Lebensjahre  keinen  wie  immer  gearteten  geschlecht- 
lichen Verkehr  führen  werde.  Ich  hatte  bei  meinem  starken  Be- 
dürfnis nach  Befriedigung  darunter  sehr  zu  leiden.  Den  Schwur  habe  ich 
so  ziemlich  gehalten. 

Mit  14  Jahren  kam  ich  an  eine  höhere  Lehranstalt.  Ich  hatte  unter 
meinen  Mitschülern  die  geringste  Vorbildung  und  es  wurde  mir  von  einem 
Professor  bedeutet,  daß  ich  mich  nicht  lange  des  Daseins  an  der  Anstalt 
werde  freuen  können.  Das  war  eine  schwere  Sorge  für  mich.  Es  war  mir 
sehr  bange  zumute  bei  dem  Gedanken,  daß  mir  die  Möglichkeit  eines  frei- 
willig gewählten  Berufes  auf  diese  Art  gefährdet  würde. 

Als  bei  der  ersten  Zensur  bloß  ich  und  ein  zweiter  Mitschüler  durch- 
gekommen waren,    so    betrachtete    ich    es    als    eine    Fügung 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  2"5 

G  o  1 1  e  s,  um  so  mehr,  als  meine  mich  sehr  liebende  Großmutter  stets  eifrie 
für  mich  betete. 

Man  ließ  mich  unter  der  Bedingung  studieren,  daß  ich  von  der  Ent- 
richtung des  nicht  unbeträchtlichen  Schulgeldes  befreit  werde.  Die  gänzliche 
Befreiung  bedingt  Vorzugsschüler  zu  sein.  Ich  führte  mich  verhältnismäßig 
bald  in  die  Lehrfächer  ein,  die  ungenügende  Vorbildung  wettmachend. 

Mein  häuslicher  Fleiß  ließ,  viel  zu  wünschen  übrig.  Ich  hatte  stets 
großes  Vertrauen  auf  den  Beistand  Gottes,  und  seine  Hilfe  -  nicht  zuletzt 
meine  reichen  eigenen  Fähigkeiten  -  hatten  mich  das  vorgesteckte  Ziel, 
Vorzugsschuler  zu  werden  -  nach  zwei  Jahren  erreichen  lassen 

Während  dieser  Zeit  trat  jenes  Mädchen,  das  mich  als  Kind  zur  Un- 
zucht verleitet  hatte,  wieder  in  meine  Nähe.  Durch  ihr  verleitendes  Gebaren 
-hat  sie  mich  vollständig  aus  der  Ruhe  gebracht. 

««vI<5h  h!U?  ?{t  17V2  Jahren  »unschuldige"  Liebschaften  mit  anderen 
Madchen  unterhalten,  aber  die  sich  gar  oft  bietenden  Ge- 
legenheiten zum  Koi  tus  ni  cht  .benütz  t.  Beweggrund:  Angst 
vor  dem  „unmoralischen  Handeln". 

Ich  schlief  mit  meiner  Schwester  und  einer  Kusine  in  einem  Zimmer 
Ich  konzentrierte  meine  Aufmerksamkeit  auf  die  Kusine.  Die  sich  bietenden 
verlockenden  Gelegenheiten  hielten  mich  beständig  in  Erregung,  um  so  mehr, 
als  ich  wahrnehmen  konnte,  daß  die  Kusine  selbst  ihre  Zuneigung  und  Wünsche 
nur  mühsam  unterdrückte.  Allein  ich  widerstand  allen  Versuchungen  und 
blieb  keusch. 

Gegen  Ende  des  letzten  Studienjahres  lernte  ich  ein  Mädchen  näher 
Rennen,  das  schon  lange  vorher  meine  Aufmerksamkeit  geweckt  hatte  Wir 
faßten  große  Zuneigung,  konnten  aber  leider  nur  selten  zusammentreffen, 
und  das  nur  unter  schwierigen  Umständen.  Wir  waren  gezwungen  uns 
schließlich  zu  trennen;  da  ich  das  Mädchen  aufrichtig  liebte,  litt  ich  dar- 
unter sehr.  Bei  dem  verstohlenen  Zusammentreffen  hatte  sich  meiner  immer 
vorher  eine  unerklärliche  Aufregung  bemächtigt,  die  sich  auf  den  Magen 
übertrug;    aß  ich  dabei,  so  reizte  es  mich  zum  Erbrechen. 

Nach  Beendigung  der  Studien  kam  ich  zu  einer  hiesigen  Firma  in 
Stellung.  Ich  knüpfte  die  Bekanntschaft  mit  einem  anderen  Mädchen  an 
und  wir  hatten  sonderbarerweise  auch  große  Schwierig- 
keiten zu  überwinden,  um  zusammentreffen  zu  können.  Als  wir 
nach  zirka  einem  Jahre  ungehindert  verkehren  konnten,  erfaßte  mich 
nach  kurzer  Zeit  eine  große  Gleichgültigkeit  gegen 
diesesVerhältnis  und  ich  hatte  nur  den  einen  Wunsch,  von  solchen 
tollen  Liebschaften  nichts  wissen  zu  müssen. 

Hatte  mich  früher  vor  dem  Koitus  mit  einem  anständigen  Mädchen  der 
Gedanke,  es  sei  unwürdiges,  unehrenhaftes  Handeln,  zurückgehalten,  so  trat 
jetzt  eine  sonderbare  Erscheinung  auf,  ein  vom  Magen  herrührendes  Un- 
behagen, sogar  Brechreiz,  aber  immer  vor  dem  Zusammentreffen.  War  ich 
einmal  in  der  Gesellschaft  des  Mädchens,  so  verschwand  die  Geschichte. 

Also  immer  vor  dem  Stelldichein  und  bei  den  Gedanken  an  dieses. 

Ich  ließ  von  jedem  Verhältnis  ab,  aber  mein  Zustand  verschlechterte 
sich  immer  mehr  und  mehr.  Ich  mußte  täglich  mehrmals  erbrechen,  nicht 
einmal  eine  Semmel  konnte  ich  verzehren,  selbst  reine  Suppe  konnte  ich  nur 
mit  großer  Schwierigkeit  essen.    Bei  jedem  Bissen  reizte  es  mich  zum  Er- 


I..      .', 


23g  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

brechen  und  trinken  konnte  ich  auch  nichts.  Außerdem  litt  ich  an  Schlaf- 
losigkeit und  heftigen  neurasthenischen  Schmerzen. 

Schließlich  mußte  ich  ein  volles  Jahr  ausspannen  und  nahm  während 
dieser  Zeit  vier  Monate  Landaufenthalt,  ohne  daß  sich  mein  Zustand  merk- 
lich gebessert  hätte. 

Es  kostete  mich  viel  Anstrengung,  meinen  starken  sexuellen  Drang 
zu  unterdrücken.  Der  Verkehr  mit  einem  Freudenmädchen  mutete  mich 
schändlich  an,  jener  mit  Anständigen  war  teils  durch  meine  moralischen 
Ansichten,  teils   durch   ungünstige  örtliche  Verhältnisse  unmöglich. 

Seit  dem  Auftreten  der  Krankheit  war  das  Hindernis  von  selbst  ge- 
geben. Erst  auf  Anraten  eines  Arztes  entschloß  ich  mich,  mit  Freudenmädchen 
zu  verkehren." 

Dieser  merkwürdige  Fall  ist  wie  ein  Schulbeispiel  geeignet,  alle 
Momente,  die  im  Leben  eines  Menschen  eine  sexuelle  Einstellung  entschieden, 
zu  illustrieren.  Es  ist  ein  einfacher  Mann,  der  die  deutsche  Sprache  noch 
immer  nicht  vollkommen  beherrscht,  und  er  hat  nicht  allzuviel  verdrängt. 
Seine  Jugend  und  sein  sexuelles  Streben  liegen  scheinbar  ganz  offen  vor  ihm. 
Er  hat  viele  Traumen  erlebt,  aber  er  kennt  sie  alle.  Wir  sehen  die  wichtige 
religiöse  Grundlage.  Er  ist  jetzt  gar  nicht  mehr  fromm  und  will  nicht  mehr 
in  die  Kirche  gehen.  Trotzdem  dürfte  es  nicht  schwer  sein,  hinter  seiner 
Angst  vor  dem  unmoralischen  Handeln  die  Angst  vor  der  Strafe  des  Himmels 
zu  erkennen,  die  Folgen  der  moralischen  Erziehung.  Dieser  Mann  ist  durch 
Angst  erzogen  worden.  Es  war  die  so  verwerfliche  Erziehung  zur  Furcht- 
samkeit, welche  die  Angstneurose  züchtet.  Hexen  erschienen,  um  ihn  zu 
warnen,  in  der  Schule  wurde  er  durch  Drohungen  zu  den  höchsten  Leistungen 
angespornt.  Dabei  dieser  starke  Sexualtrieb  und  doch  die  Möglichkeit,  zu 
widerstehen.  Woher  nahm  er  die  Kraft,  sich  der  Kusine  nicht  zu  nähern, 
obwohl  er  so  heiß  nach  ihr  begehrte  und  sie  ihn  sogar  dazu  aufforderte? 
War  es  die  Nähe  der  Schwester,  die  im  gleichen  Zimmer  schlief?  Mit  der 
Schwester  waren  auch  Szenen  vorgefallen,  welche  die  sonst  sehr  aufrichtige 
Lebensbeichte  verschwiegen  hatte.  Er  flieht  den  Inzest,  aber  er  muß  außer 
den  religiösen  und  moralischen  Hemmungen  noch  eine  andere  Hemmung 
haben,  die  ihn  vor  dem  Weibe  beschützt.  Seine  Anfälle  vor  einem  Rendezvous 
sind  Ekel.  Ekel  und  Angst  sollen  ihn  vor  der  Sünde  beschützen.  Wir  kennen 
diesen  Ekel  vor  dem  Weibe,  der  besonders  von  den  meisten  echten  Homo- 
sexuellen betont  wird.  Wir  wissen,  daß  dieser  Ekel  einer  verdrängten  Be- 
gierde gleichkommt,  daß  diese  Begierde  aus  irgend  einem  Grunde  als  mit 
dem  Bewußtsein  unverträglich  abgewiesen  und  nur  in  der  negativen  Form 
als  Ekel  zugelassen  wird.  Sie  dient  dann  der  Abwehr  und  dem  Schutze 
gerade  vor  jenen  Kräften,  die  so  heiß  begehrt  werden. 

Der  Ekel  vor  dem  Weibe  soll  das  Inzestmotiv  verdecken.  Weil  er  in 
jedem  Weibe  die  Großmutter,  Mutter  und  Schwester  sieht,  wa's  ihm  offen 
bewußt  war,  kann  er  sich  diesem  Weibe  nicht  nähern.  Quo  me  vertam?  Er 
hat  noch  den  Weg  zur  Homosexualität  offen,  da  ihm  der  Weg  zum  Weibe 
versperrt  ist.  Die  Episode  mit  dem  Lehrer,  die  „Schweinereien"  mit  den 
Mitschülern  waren  Vorbereitungen  .  .  .  Hier  setzt  die  Verdrängung  ein.  Er 
weiß  nichts  von  seiner  Homosexualität.  Aber  der  Traum  ist  verräterisch  und 
erzählt  uns  mehr,  als  dem  Kranken  bewußt  ist.  Deshalb  wollen  wir  die 
Analyse  mit  einer  Analyse  dieses  Traumes  anfangen. 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  237 

Der    Traum    dieser    Nacht. 

„Ich  stand  vor  dem  Eingang  eines  Hauses  in  meinem  Geburtsorte 
und  betrachtete  die  nahe  Gebirgslandschaft. 

Während  ich  so  in  Betrachtung  versunken  war,  kam  gerade  mein 
Vetter,  der  aushilfsweise  an  dem  Tage  die  Feldarbeiten  selbst  besorgte, 
nach  Hause  gefahren  und  hielt,  bevor  er  zum  großen  Tore  fuhr,  bei  mir 
an.  Er  machte  zu  mir  einige  scherzhafte  Bemerkungen;  unter  anderem: 
es  wäre  für  dich  wohl  gesünder,  wenn  du  auch  ein  wenig  ackern  würdest, 
anstatt  zu  faulenzen. 

Ich  wies  auf  die  zwei  einer  Egge  vorgespannten  Pferde,  die  ja 
ganz  prächtig  waren,  und  erwiderte  im  Scherze:  0  ja,  sehr  gerne  sogar, 
aber  nicht  mit  einem  so  elenden  Gespann.  Die  zwei  gehören  schon 
längst  in  die  Wurst',  besonders  der  linke  da  gebärdet  'sich  gar  so  stolz 
und  ist  doch  nur  ein  alter  Krampen  (Mähre). 

Kaum  daß  ich  zu  Ende  gesprochen,  bäumte  sich  wütend  dieses 
Pferd,  riß  die  Zugstränge  entzwei,  um  sich  dann  auf  mich  zu  stürzen. 

Ich  ergriff  die  Flucht,  lief  in  den  ersten  Stock  hinauf,  sprang  in 
die  Küche  und  schlug  die  Türe  zu.  Ich  lief  in  ein  zweites  Zimmer  und 
verbarrikadierte  die  Türe  mit  allerlei  Möbelstücken.  Allein  das  Pferd 
war  schon  auch  an  dieser  Türe,  stampfte  drauf  los,  bis  es  ihm  gelang, 
auch  in  dieses   Zimmer  einzudringen. 

Mittlerweile  war  ich  in  ein  anderes  Zimmer  geeilt,  verdammte 
wieder  auf  dieselbe  Art  die  Türe,  erkannte  jedoch,  daß  auch  dieser 
Widerstand  nicht  wirksam  sein  wird.  Ich  sah  mich  nun  rasch  im  Zimmer 
nach  einem  anderen  Hilfsmittel  um  und  gewahrte  zu  meiner  Über- 
raschung meine  Schwester  hinter  mir. 

Das  Pferd  hatte  die  Türe  schon  so  weit  demoliert,  daß  es  den 
Kopf  hindurchdrängen  konnte,  und  schnaubte  wütend  aus  den  geweiteten 
Nüstern. 

Die  Schwester  schob  mir  einen  kleinen  runden  Ofen  zu,  indem  sie 
mir  zurief,  mich  mit  den  Ofenringen  zur  Wehre  zu  setzen,  mit  diesen 
werde  ich  schon  den  Gegner  bewältigen  können. 

■  Das  Pferd  wollte  schon  hereinstürzen,  da  schleuderte  ich  ihm  die 
Ringe  wuchtig  entgegen  und  schließlich  den  ganzen  Ofen.  Im  letzten 
kritischen  Augenblicke  gewahrte  ich  eine  andere  Türe,  huschte  hinaus, 
rannte  zur  Treppe  und  —  erwachte. 

Ich  ging  den  ganzen  Traum  noch  einmal  in  Gedanken  durch,  ver- 
gewisserte mich  auf  diese  Art,  ihn  meinem  Arzte  lückenlos  wiedergeben 
zu  können.  Bald  verfiel  ich  in  einen  leichten  Schlummer  und  träumte, 
ich  wäre  bei  dem  'mich  behandelnden  Arzte. 

Dieser  bewohnte  ein  geräumiges  Haus  mit  großen  Treppenanlagen. 
Auf  einer  Galerie  traf  ich  mit  ihm  zusammen;  er  hatte  in  einem 
Schranke  zu  schaffen.  Ich  nahm  abseits  von  ihm  Platz  und  erzählte 
ihm  den  vorgehend  geschilderten   Traum. 

Er  entfernte  sich  auf  eine  Weile,  um  dringendes  noch  zu  besorgen, 
da  er  in  einer  halben  Stunde  abzureisen  hatte.  Er  rief  mich  dann  zu 
sich  herunter,  schnürte  sich  gerade  die  Schuhe  und  forderte  mich  auf, 
in  meiner  Erzählung  fortzufahren. 


238  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Nachdem  ich  geendet  hatte,  entfernte  ich  mich  und  ging  auf  eine 
seitlich  gelegene  Tür  zu  und  begegnete  dort  meiner  Mutter.  Ich  wechselte 
einige  Worte  mit  ihr,  öffnete  die  Türe,  die  in  eine  mit  Glas  gedeckte 
Halle  führte,  und  sah  eine  Lokomotive  oberhalb  eines  offenen  Feuers 
gelagert. 

Der  Zugsführer  (Maschinist)  rüttelte  an  verschiedenen  Maschinen- 
teilen vergebens,  es  wollte  ihm  nicht  gelingen,  die  -  Maschine  in  Gang 
zu  setzen.  Währenddessen  kam  der  Arzt  hinzu,  schaute  auf  die  Uhr  und 
bemerkte  unruhig,  daß  es  schon  hoch  an  der  Zeit  sei.  Plötzlich  kam 
ein  Dienstmädchen  die  Treppe  heruntergelaufen  und  brachte  drei  zu- 
geschnürte,  mit  Papierabfällen  gefüllte   Pakete. 

Um  die  arbeitsfähige  Dampfspannung  zu  erreichen,  war  es  not- 
wendig, rasch  nachzuheizen.  Der  Arzt  wollte  es  selbst  versuchen  und 
»schleuderte  ein  Paket  ins  Feuer.  Es  verbrannte  rasch,  war  jedoch 
wirkungslos. 

Da  deutete  die  Mutter  an  eine  andere  Stelle,  dort  müsse  es  un- 
bedingt gehen,  nahm  ein  zweites  Paket,  warf  es  an  die  Stelle,  erzielte 
jedoch  dasselbe  Resultat  wie  der  Arzt. 

Mit  den  Worten:  „Das  muß  anders  gemacht  werden,  seht  so!" 
faßte  ich  das  dritte  Paket,  schwang  mich  auf  einen  vorspringenden,  von 
Flammen  bestrichenen  Maschinenteil  und  legte  das  Paket  an  die  höchste 
Stelle  der  Feuerung.  Die  Flammen  loderten  hoch,  auf,  das  Sicherheits- 
ventil begann  zu  zischen,  es  ertönte  ein  Pfeifen  und  die  Maschine  setzte 
sich  langsam  in  Bewegung. 

Der  Arzt  sprang  auf,  reichte  mir  noch  flugs  die  Hand,  ich  hatte 
gerade  noch  Zeit  zu  fragen,  wohin  er  fährt.  Nach  Brunn,  bekam  ich 
zur  Antwort.    Kurze  Verwunderung  —  ich  war  wieder  erwacht. 

Nachdem  ich  wieder  eingeschlummert  war,  hatte  ich  einen,  dem 
ersten  Fall  ähnlichen  Traum.  Ich  befand  mich  in  einer  vornehm  ein- 
gerichteten Wohnung. 

Es  wurde  die  Türe  geöffnet  und  eine  junge,  hübsche  Dame  trat 
ein.  Sie  blickte  mich  längere  Zeit  an  und  lächelte  dann  boshaft.  Ich 
verlor  meine  ruhige  Fassung  nicht  und  sagte  etwas  zu  ihr. .  Sie  wurde 
immer  erregter,  erhob  ihren  Arm,  in  dem  sie  eine  Waffe  hielt,  und 
machte  Miene,  sich  auf  mich  zu  stürzen. 

Ich  sah  sie  gefaßt  an,  als  dürfte  sie  mir  nichts  anhaben  können. 
Darauf  stürzte  sie  sich  auf  mich.  Ich  sprang  in  ein  Nebenzimmer,  sie 
lief  mir  nach  und  so  ging  die  tolle  Jagd  durch  mehrere  Räume. 

Gerade  wollte  ich  wieder  eine  Tür  aufklinken,  da,  in  demselben 
Augenblicke,  erschien  sie  hinter  mir,  in  der  Hand  ein  perolinspritzen- 
artiges  Instrument  haltend.  Sie  spritzte  daraus  eine  weiße,  seifen- 
wasserähnliche  Flüssigkeit.  Sie  spritzte  einigemal,  ohne  mich  zu  treffen, 
nur  auf  die  Kleider  waren  einige  Tropfen  gefallen.  Ich  dachte,  es  sei 
eine  ätzende  Flüssigkeit,  und  wollte  weiter  flüchten. 

Als  sie  wieder  zu  einer  neuen  Attacke  ausholen  wollte,  schlug 
ich  rasch  die  Türe  zu,  es  klemmte  sich  dabei  die  Spritze  zwischen  Tür 
und  Türrahmen. 

Ich  entwand  ihr  die  Spritze,  schleuderte  sie  zur  Seite,  faßte  die 
Frau  am  Halse  und  wollte  sie  zu  Boden  werfen.  Sie  aber  umschlang 
meinen  Hals,  küßte  mich  heiß  und  fiel  auf  ein  Sofa,  mich  mitziehend. 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina. 


239 


Ich  hielt  sie  mit  der  linken  Hand  umschlungen,  während  ich  sie  mit 
der  rechten  zwischen  den  Beinen  anfaßte.  Ich  empfand  ein  wohliges 
Gefühl;  während  wir  uns  unverwandt  in  die  Augen  blickten,  glitten 
Wir  nieder. 

Sie  sagte,  sie  wollte  mir  ja  nichts  Böses  tun,  lächelte  herzlich, 
zog  mich  an  sich,  ihr  Gesicht  begann  sich  plötzlich  zu  verändern,  es 
lächelte  mich  jetzt  meine  Schwester  an. 

Von  Liebe  übermannt,  wollte  ich  sie  stürmisch  an  mich  drücken 
—  da  ging  plötzlich  die  Türe  auf  und  hereingestürmt  kam  eine  ältere 
Frau.    Ich  erschrack,  erwachte  —  Pollution." 

Das  erste  Traumstück  beginnt  in  seinem  Geburtsort  und  seinem 
Geburtshause.  Wir  kennen  aus  unseren  früheren  Analysen  die  Deutung,  und 
ein  Freudschüler  strenger  Observanz  wird  nicht  verlegen  sein,  diesen  Geburts- 
ort als  Symbol  der  Mutter  anzusprechen.  Wir  erfahren,  daß  der  Bruder 
des  Vaters  ihm  sehr  ähnlich  ist,  und  sehließen,  daß  er  im  Traume  für  den 
Vater  steht.  Der  Redekampf  zwischen  dem  Onkel  und  ihm  ist  die  Wieder- 
holung alter  Vorwürfe.  Er  war  ja  längere  Zeit  ganz  arbeitsunfähig  und 
ist  heute  auch  noch  nicht  imstande,  seinem  Vater  im  Geschäfte  zu  helfen. 
Er  begründet  das  mit  seiner  Krankheit.  Die  inzestuöse  Einstellung  zur 
Mutter  ist  ziemlich  durchsichtig.  Die  Hemmungen,  welche  bestehen,  so  daß 
er  dem  Vater  nicht  im  Geschäfte  helfen  kann,  rühren  zum  Teil  von  einer 
Haßeinstellung  als  Rivale  her.  Am  Vortage  des  Traumes  hatte  er  mit 
dem  Vater  einen  kleinen  Disput,  weil  der  Vater  in  einer  Rechnung  einen 
Fehler  gemacht  hatte,  den  er  nicht  einsehen  wollte.  Im  Traume  rächt  er 
sich  für  den  Vorwurf  des  „Nichtackernwollens x)  (ackern  für  koitieren)  durch 
eine  Anspielung  auf  das  Alter  des  Vaters.  Er  sei  nicht  mehr  recht  für  die 
Ehe  tauglich.  Das  Elternpaar  sei  schon  alt,  es  lebe  viel  zu  lange  („Die 
zwei  gehören  schon  in  die  Wurst'!"),  und  der  Linke  (der  Vater)  wäre" ein 
alter  Krampen.  (Er  ist  eine  Mähre  —  ist  auch  eine  Anspielung  auf  die 
Heimat  .  .  .  Mähren.)  Dann  kommt  allerdings  die  Rache  des  geschmähten 
Vaters  als  Verfolgung  durch  das  Pferd. 

Der  Träumer  erzählt,  daß  er  sich  seiner  Inzestgedanken 
auf  Mutter  und  Schwester  voll  bewußt  gewesen  ist  und 
nur  geglaubt  habe,  es  wäre  das  alles  schon  vorbei.  Er 
träume  aber  noch  jetzt  hie  und  da  von  einem  Verkehre  mit  der  Mutter 
und  besonders  häufig  mit  der  Schwester.  Er  habe  aber  geglaubt,  daß  diese 
Träume  nichts  zu  bedeuten  hätten  und  nur  der  Nachklang  einer  überwundenen 
Periode  wären.  Er  erinnere  sich  aber  nicht,  jemals  den  Vater  in  seine 
sexuellen  Phantasien  einbezogen  zu  haben. 

Wir  erkennen  aber  die  bipolare  Einstellung  gegen  den  Vater.  Sein 
Leiden  muß  auch  mit  einer  nicht  überwältigten  Homosexualität  zusammen- 
hängen. Nun  deutet  seine  Krankengeschichte  eine  Begebenheit  der  Kindheit 
an,  die  ihn  tief  beeindruckt  hat.  Gerade  in  diesem  „Geburtsorte"  gab  es  in 
der  Schule  einen  Lehrer,  der  die  guten  Schüler  auf  sehr  merkwürdige,  einzig 
dastehende  Art  belohnte.   Wenn  einer  sehr  gut  entsprach  und  der  Lehrer 

')  Er  ist  ja  in  der  Tat  faul,  und  der  Acker  seines  Geistes  trägt  auch  keine 
Früchte. 


240  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

sehr  zufrieden  war,  so  sprach  er:  Gut  mein  Sohn!  Du  sollst  belohnt  werden! 
—  und  gab  ihm  den  erigierten  Penis  in  die  Hand,  den  der  Knabe  bis  zur 
Ejakulation  behalten  durfte.  Das  geschah  öffentlich  vor  der  ganzen  Klasse! 
Dieser  Lehrer  konnte  den  Unfug  bis  vor  fünf  Jahren  ungeniert  weiter  treiben, 
dann  erst  mußte  er  infolge  einer  Anzeige  den  Ort  verlassen,  ohne  mit  dem 
Gericht  in  Berührung  zu  kommen.  Christoph,  der  ein  besonderer  Liebhng  des 
Lehrers  war,  wurde  die  Ehre  oft  zuteil  und  er  war  der  am  häufigsten  Aus- 
erkorene. Er  soll  auch  der  schönste  unter  allen  Knaben  gewesen  sein.  Von 
diesem  Erlebnisse  an  ziehen  sich  homosexuelle  Szenen  bis  zum  17.  Lebensjahre, 
in  dem  sie  plötzlich  abbrechen.  Jetzt  weiß  er  nicht,  daß  diese  Szenen  Zeichen 
von  Homosexualität  waren,  und  behauptet  nur,  daß  er  „vor  allen  diesen 
homosexuellen  Sachen"  einen  fürchterlichen  Ekel  hat.  Der  Knabe  hat  un- 
bewußt Tendenzen,  die  verlangen,  daß  der  Vater  das  gleiche  machen  soll 
wie  der  Herr  Lehrer.  So  ein  Beispiel  fordert  ja  zu  dieser  Art  Belohnung 
heraus. 

Er  wird  von  homosexuellen  Gedanken  verfolgt. 
(Das  linke  Pferd!)  Wir  kommen  jetzt  zur  funktionellen  Bedeutung  des 
Traumes.  Er  stellt  eine  Verfolgung  dar.  Die  Beziehung  zum  Arzt  ist  klar. 
Er  wird  jetzt  vom  Arzt  durch  alle  seine  Erinnerungen  (die  Flucht  von 
Zimmern!)  verfolgt.  Diese  Flucht  von  Zimmern  wird  von  Freud  gewöhnlich 
als  eine  Flucht  von  Frauenzimmern  (Lupanar)  aufgefaßt.  Ich  habe  schon 
wiederholt  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  es  sich  um  die  Kammern  der 
Seele  handelt,  daß  die  Verfolgung  durch  alle  Gemächer  des  Kopfes  geht 
(Hirn  gleich  dem  obersten  Stocke  ...  dem  Oberstübchen  .  .  .  Vergleiche  die 
Redensart:  Der  Mann  ist  im  Oberstübchen  nicht  ganz  richtig).  Wir  sehen, 
wie  ihn  ein  bestimmter  Gedanke  über  alle  seine  Barrieren  und  Hindernisse 
verfolgt,  wie  er  sich  dieses  versuchenden  Gedankens  nicht  erwehren  kann. 
Die  Hilfe  kommt  ihm  von  der  Schwester.  Sie  schiebt  ihm  einen  kleinen  Ofen 
zu,  der  ihn  vor  dem  Pferde  rettet.  Der  Ofen  und  die  Ringe  symbolisieren 
die  Weiblichkeit  der  Schwester  .  .  .  Der  Traum  sagt:  Vor  der  homosexuellen 
Einstellung  zum  Vater  kann  dich  nur  die  Schwester,  kann  dich  nur  eine 
Frau  retten.  Der  Traum  zeigt  auch  die  prospektive  Tendenz :  Er  wirft 
die  Schwester  dem  Vater  hin  und  rettet  sich  durch  eine  andere  Tür.  Er 
wird  seine  Komplexe  überwinden.  Die  Beziehung  zum  Arzt  ist  auch  klar: 
Er  wird  meiner  weiteren  Verfolgung  dadurch  entgehen,  daß  er  mir  die  Inzest- 
wünsche auf  die  Schwester,  nach  denen  ich  ihn  nicht  gefragt  habe,  eingestehen 
wird.  Der  Traum  drückt  den  Vorsatz  aus,  mir  seine  Phantasien  und  Er- 
lebnisse mit  der  Schwe'ster  mitzuteilen.  Aber  dadurch  hofft  er  einer  weiteren 
Untersuchung  seiner  Begehrungsvorstellungen  zu  entgehen  und  mir  die  Ein- 
stellung zu  Vater  und  Mutter  verschweigen  zu  dürfen. 

Nun  schläft  der  Träumer  wieder  ein,  wiederholt  den  Traum,  um  ihn 
erzählen  zu  können.  Wir  können  annehmen,  daß  der  Traum  schon  bei  der 
ersten  Wiederholung  redigiert  und  verändert  wird.  Wir  bekommen  dann  nur 
einen  Auszug,  der  das  Wesentliche  verschweigt  ...  Er  erzählt  mir  im 
nächsten  Traume  den  Traum.  Solche  Träume  erhält  man  sehr  selten.  Wenn 
eine  Dame  träumt,  sie  hätte  ihren  Traum  dem  Arzt  erzählt,  so  hat  sie  das 
Peinliche  schon  im  Traume  erledigt  und  die  Erinnerung  für  den  Traum  ver- 
schwindet, ebenso  wie  in  den  Fällen,  da  die  Kranken  erzählen:  „Heute  habe 
ich  etwas  Wichtiges  geträumt.  Ich  sagte  mir  noch  im  Traume  oder  Halb- 
schlaf, das  mußt  du  dem  Doktor  St.  erzählen.    Ich  weiß  es  nicht  mehr.    Aber 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  941 

es  war  sehr  wichtig."  Damit  wird  der  Arzt  zum  Besten  gehalten,  der  Wider- 
stand wird  im  Traum  überwunden,  der  Wunsch,  es  zu  erzählen,  wird  im 
Traum  erfüllt,  der  Wunsch,  es  zu  verschweigen,  ist  der  stärkere;  so  setzen 
sich  beim  Träumer  beide-  Strömungen  durch. 

Der  nächste  Traum:  Wieder  eine  Darstellung  der  Analyse.  Ich  stehe 
in  dem  oberen  Stockwerke  vor  einem  Schranke,  der  sein  Gehirn  oder  seine 
verschlossene  Seele  symbolisiert.  Aber  die  Analyse  wird  nicht  lange  dauern. 
Die  wilde  Jagd  nach  seinen  Geheimnissen  und  Schätzen  wird  bald  aufhören. 
Der  Arzt  muß  verreisen  (sterben!).  Hier  tritt  der  Arzt  das  Erbe  des  Vaters 
an.  Der  Traum  zeigt  die  deutliche  Übertragung  vom  Vater  auf  den  Arzt. 
Im  ersten  Traum  erscheint  die  Verfolgung  durch  den  Vater,  im  zweiten  und 
dritten  ist  der  Vater  schon  ganz  ausgeschaltet.  Sein  Name  ist  im  Traum 
überhaupt  nicht  genannt,  er  ist  ja  das  Geheimnis,  von  dem  nicht  gesprochen 
werden  darf  .  .  .  Der  Arzt  schnürt  die  Schuhe;  das  ist  ebenfalls  ein  be- 
kanntes Todessymbol  und  der  deutliche  Wunsch,  die  Behandlung  los  zu  werden. 

Nun  soll  eine  Maschine  in  Gang  gesetzt  werden.  Er  ist  Maschinen- 
ingenieur und  hat  täglich  mit  Maschinen  zu  tun.  Die  Maschine  ist  ein 
Symbol  seiner  Seele,  die  so  schlecht  funktioniert,  ein  Symbol  für  ihn  selbst, 
für  alles  Kräftige  und  Treibende  in  ihm.  Was  dem  Arzt  und  der  Mutter 
nicht  gelingt,  das  gelingt  ihm  aus  eigenen  Kräften. .  Zuerst  versuche  ich,  die 
Maschine  in  Gang  zu  bringen.  Ich  nehme  den  mysteriösen  Papierbällen 
und  lege  ihn  vorne;  die  Mutter  besorgt  die  Feuerung  in  der  Mitte. 
Er  aber  schwingt  sich  in  die  Höhe  und  besorgt  die  Feuerung  0  b  e  n.1)  Er 
ist  der  Höchste,  er  triumphiert  über  mich  und  meine  Unfähigkeit,  ihn  zu 
heilen.  Ich  fahre  dann  nach  Brunn.  Dazu-,  fällt  ihm  ein  Schüler  ein, 
der  immer  nach  Brunn  nach  Hause  fuhr.  Er  erinnert  sich  einer  Situation, 
in  der  er  Lehrer  war.  Ich  bin  also  ein  Schüler,  ich  soll  bei  ihm  lernen, 
wie  man  eine  Maschine  in  Gang  bringt.  Wenn  ich  auch  etwas  von  kranken 
Seelen  verstehe,  von  seinem  Fache  (er  ist  Maschineningenieur!)  habe  ich  keine 
Ahnung,  da  ist  er  der  Meister  und  ich  der  Ignorant.  Dieser  Trostgedanke 
dient  dazu,  um  sein  Selbstbewußtsein  zu  stärken  und  kein  Gefühl  der  Minder- 
wertigkeit mir  gegenüber  aufkommen  zu  lassen.  Dabei  finden  sich  eine  Menge 
Schmähungen  auf  den  impotenten  Vater  und  den  ebenso  unfähigen  Arzt. 
Er  ist  täglich  eine  halbe  Stunde. bei  mir.  Er  merkte  schon,  daß  ich  auf  die 
Uhr  blicke,  ob  seine  Zeit  vorüber  ist.  Im  Traume  kommt  die  halbe  Stunde 
vor  und  das  Blicken  auf  die  Uhr.  Er  zeigte  einen  Tag  vorher  seinem  Vater, 
wie  eine  Auf gab^  technischer  Natur  gelöst  werden  müsse.  In  diesem  Traume 
zeigt  er  auch  mir,  daß  die  Sache  anders  gemacht  werden  müsse. 

Wir  sehen,  wie  die  Beziehungen  zum  Arzt,  als  dem  Repräsentanten 
des  Vaters,  den  ganzen  Traum  durchsetzen.  Damit  wäre  aber  die  Bedeutung 
des  Traumes  nicht  erschöpft.  Denn  er  ist  ein  Pollutionstraum.  Es  ist  inter- 
essant zu  beobachten,  wie  der  onanistische  Akt,  der  dann  als  Pollution  (Lust 
ohne  Schuld!)  aufgefaßt  wird,  in  den  drei  Traumstücken  vorbereitet  wird. 
Im  ersten  Traumstück  flieht  er  vor  der  Homosexualität,  wobei  deutlich  die: 
Beziehungen  der  Homosexualität  zum  Mutterkomplex  zutage  treten.  Im 
zweiten  Traumstück  heißt  es,  die  Maschine  der  Sexualität  in  Gang  bringen. 
Es  gelingt  dies  weder  dem  Vater  (dem  Maschinenführcr,  der  an  der  Maschine 
herummanipuliert),  noch  der  Mutter,  noch  dem  Arzt.    Er  allein  ist  das 

*)  Nachträgliche  Ergänzung. 

Stelsol,  Stümngeu  de«  Triob-  und  Affekilobon».  II.  2. Aufl.  ig 


242  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

imstande.  Hier  verrät  sich  der  geheime  Stolz  des  Onanisten,  die  Genug- 
tuung des  Autoerotikers.  (Der  von  Flammen  bestrichene  Vorsprung  ein 
phallisches    Symbol.1)    Die    Onanie   erweist   'sich    als    Sicherung   gegen    alle 

sexuellen  Gefahren.   Das  Sicherheitsventil  zischt  und  entlädt  sich  — 

ein  Vorbild  der  bald  nachfolgenden  Pollution. 

Doch  die  Angst  vor  der  Onanie,  die  großen  Affekte,  die  Angst  vor 
Homosexualität  und  dem  Inzest  wecken  ihn  aus  dem  Schlafe.    Das  Bewußt- 
sein (der  Maschinführer)  versucht  immer  wieder  sich  der  Gedanken  zu  be- 
mächtigen und  die  Gespenster  der  Nacht  zu  bannen.   Die  Gedanken  an  einen 
Mann  und  an  die  Schwester  werden  unterbrochen  und  er  schläft  wieder  ein 
Dreimal  muß  er  verschiedene  Situationen  träumen,  bis   die  Angst  sich   in 
Verlangen  gewandelt  hat.    Erst  floh  er  vor  dem  Pferd  und  der  Schwester 
dann  verließ  er  den  Arzt  und  die  Mutter  und  endlich  kommt  die  Erlösung! 
Er  konnte  der  Homosexualität  standhalten,  er  konnte  die  heterosexuellen 
Inzestwunsche  abwehren.    Jetzt   aber   spielt   der   Trieb   seinen 
höchsten    und    stärksten    Trumpf    aus,    um    die    letzten 
Hemmungen  zu  überwinden:    die  B  i  s  exualitä  t.    Das  Mäd- 
chen mit   dem  Phallus,   seine   Schwester  erscheint   ...  und  verfolgt   ihn 
Es  verfolgen  ihn  offenbar  die  Gedanken:    gib  nach  und  onaniere.    Er  wehrt 
sich,  er  flieht  vor  diesen  Gedanken.    Er  ist  es  ja,  den  er  im  Traum  sieht. 
Er  sieht  das  Weibliche  in  sich,  das  Weib  mit  dem  Phallus,  und  dieser  Ge- 
danke laßt  ihm  keine  Ruhe  durch  die  Flucht  der  nächtlichen  Stunden.    Er 
stürzt  sich  auf  die  weibliche  Person  und  will  sie  würgen:    So    kämpft 
er  mit  seinem  Triebe,  so  wehrt  er  sich  gegen  den  Auto- 
er otismus.    Der   Trieb   aber  merkt   die   Schwäche   seines   Widerstandes 
und  gibt  ihm  zu  bedenken,  daß  er  nur  sein  Gutes  wolle.    Er  greift  mit  der 
Rechten  an  seine  Genitalien  und  mit  der  Linken  markiert  er  eine  Um- 
armung.   Da  kommt   der   Orgasmus    (die   Schwester   lächelt   ihn   an!)   und 
wahrt  nicht  lange.  Denn  eine  alte  Frau  erscheint.  Die  Tür  geht  auf,  d.  h.  die 
Tore  des  Bewußtseins   öffnen  sich2)   und   die  Reue  bemächtigt   sieh  seiner 
Seele.    Er  wacht  auf  und  ärgert  sich  über  die  Pollution.    Die  alte  Frau 
kann  auch  das  Symbol  der  Mutter  sein.3)  Dafür  habe  ich  ja  keine  Anhalts- 
punkte, weil  der  Patient  sie  ganz   anders  beschreibt. 

Wie  verhält  sich  dieser  Traum  in  hezug  auf  seinen  Inhalt?  Ist  er 
eine  Wunscherfüllung,  ist  er  eine  Warnung,  ist  er  eine  Prophezeiung?  Sicher 
werden  in  diesem  Traume  sehr  viele  Wünsche  erfüllt.  Er  ist  standhaft  gegen 
so  viele  Versuchungen,  er  umarmt  seine  Schwester,  er  triumphiert  über  den 
Vater  und  den  Arzt.  Doch  das  Wichtigste  ist,  daß  dieser  Traum  die  Pol- 
lution als  Sicherung  gegen  alle  Gefahren  der  Sexualität  einleitet  und  gegen 
alle  inneren  Hindernisse  durchführt. 

Eine  andere  Bedeutung  des  Traumes  muß  noch  hervorgehoben  'werden 
Seme  Neurose  muß  doch  in  dem  Traum  in  irgend  einer  Person  oder  einem 
Gegenstande  symbolisiert  sein.  Der  Patient  sagte  auf  die  Frage,  was  ihm 
zu  der  Maschine  einfalle:  meine  Krankheit.  Die  mit  Glas  gedeckte  Halle: 
das  Durchsichtige  seiner  Krankheit;  die  Maschine:  seine  Neurose.  Nun 
vergleicht  der  Kranke  immer  seinen  Körper  mit  einer  Dampfmaschine  und 

*)  Nachträgliche  Ergänzung. 

2)  Die  Schwellensymbolik  Silberere. 

3)  Eine  weitere  Bedeutung  des  alten  Weibes  wird  später  erörtert. 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  243 

besonders  seinen  Magen.  Er  hat  ja  allerlei  Hungerprozeduren  hinter  sich. 
Er  konnte  nicht  essen  und  magerte  fürchterlich  ab,  sieht  wie  ein  Skelett 
aus,  weil  er  seinen  Sexualtrieb  aushungern  und  sich  für  seine  sündigen 
Regungen  bestrafen  wollte.  Dieser  Mann  hat  'sich  mit  seiner 
Neurose  ein  wunderbares  Sicherheitsventil  einge- 
richtet. Will  er  zu  einem  Mädchen  gehen,  so  erkrankt  er  an  so  heftigen 
Magenschmerzen,  daß  ein  Rendezvous  unmöglich  ist.  Diese  Magenschmerzen 
produziert  er  aber  dadurch,  daß  er  schon  vorher  vor  Aufregung  und  Brech- 
reiz nicht  essen  kann.  Wir  merken,  wie  schlau  diese  Inszenierung  seiner 
Magenstörung  ist.  Erst  werden  der  Ekel  und  der  Brechreiz  produziert,  um 
die  Nahrungsaufnahme  zu  verhindern.  Dann  aber  bohrt  der  Hunger,  und 
dieser  Hunger  wird  als  Magenkrampf  aufgefaßt  und  wird  so  stark,  daß  der 
Hunger  die  Liebe  ertötet.  Die  Begierde  nach  Nahrung  ist 
dann  stärker  als  die  Begierde  nach  dem  Weibe.  Nach 
solchen  Attacken  überfällt  ihn  ein  Heißhunger. 

Es  fällt  ihm  ein,  daß  er  schon  nach  dem  ersten  Traume  mit  fürchter- 
lichem Hunger  erwachte.  Dieser  Hunger  steigerte  sich  im  zweiten  Erwachen, 
um  nach   der  Pollution  vollkommen   zu  verschwinden. 

Was  ich  in  den  „Nervösen  Angstzuständen"  behauptet  habe,  nämlich 
daß  der  Hunger  die  sexuelle  Libido  vertreten  kann,  wird  hier  klar  aus- 
geführt und  illustriert.  Jetzt  verstehen  wir  auch  die  Heizung  der  Maschine 
mit  Papier.  Der  Kalorienwert  des  Papieres  ist  ebenso  gering  wie  der 
Kalorienwert  der  Nahrung,  welche  er  in  sexuellen  Gefahren  zu  sich  nimmt. 
Er  hat  also  in  seinem  Magen  ein  ganz  wunderbares  Sicherheitsventil  ge- 
funden. Er  hungert  sich  aus  und  die  Befriedigung  des  Essens  ersetzt  ihm 
die  sexuelle  Befriedigung.  Er  erzählt  eine  Unmenge  von  .Erlebnissen,  die 
alle  beweisen,  wie  geschickt  er  seine  Neurose  verwendet.  Ihn  reizt 
jedes  Mädchen  und  er  bringt  es  so  weit,  daß  sie  ihm 
ein  Rendezvous  gibt,  in  seine  Wohnung  kommt  oder 
ins  Hotel  mit  ihm  geht,  aber  nie  ist  es  zu  einem  Verkehr 
gekommen. 

Für  die  Analyse  ergeben  sich  schlechte  Aussichten.  Er  will  auf  sein 
Sicherheitsventil,  die  Neurose,  nicht  verzichten,  er  will  die  Art  seiner 
Heizung  fortsetzen  und  wünscht  den  Arzt  über  alle  Berge.  Ja,  er  will  sich 
lieber  zur  Onanie  bekehren,  will  die  Reue  und  die  eigenen  Vorwürfe  erdulden, 
doch  auf  seine  Sicherung  nicht  verzichten. 

Wir  sehen  einen  nach  innen  gerichteten  Willen  zur  Macht  und  eine 
entschieden  weibliche  Einstellung;  der  Orgasmus  tritt  auf,  wie  er  sich  als 
Weib  fühlt.  Und  die  höchste  Lust  ist  immer  an  die 
stärksten  Strömungen  des  Innern  gebunden.  Er  flieht 
die  Weiber  nicht,  weil  er  eine  Niederlage  fürchtet,  denn  er  hat  seine  Potenz 
bei  Dirnen  so  kräftig  erwiesen  und  ist  ihrer  so  sicher,  daß  er  sie  überall 
verwenden  kann,  wo  keine  moralischen  Hemmungen  vorliegen.  Bei  an- 
ständigen Mädchen  erscheint  die  Assoziation  zur  Schwester,  bei  Frauen  die  zur 
Mutter.  Die  Homosexualität  ist  durch  die  Beziehungen 
zum  Vater  verbarrikadiert.  Und  hinter  allen  Hemmungen  steckt 
eine  übergroße  Religiosität,  die  bei  ihm  jahrelang  manifest  dauerte  und 
nun  scheinbar  überwunden  ist.  Er  wollte  Geistlicher  werden  und  gab  diesen 
Plan  erst  mit  14  Jahren  auf.    Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß   alle  seine 

16* 


244  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Störungen  in  einer  Ehe  verschwinden  werden,  wenn  es  gelingt,  ihn  von  seinem 
Elternhause  zu  lösen. 

Ich  glaube,  auch  dem  der  Traumdeutung  Unkundigen  wird  die  Perolin- 
spritze,  aus  der  eine  weiße,  seifenartige  Flüssigkeit  herausspritzt,  als  phäni- 
sches Symbol  erkennbar  sein.  Es  wird  aber  verständlich,  daß  er  sich  im 
16.  Jahre  in  einen  Kollegen  verliebte,  weil  er  seiner  Schwester  ähnlich  sah. 
Die  nie  verdrängten  Inzestgedanken  an  die  Schwester  nötigten  zur  Abwehr. 
Die  anständigen  Mädchen  wurden  alle  Schwestern  und  wurden  wie  Schwestern 
behandelt.  Die  Dirnen  differenzierte  er  von  seiner  Schwester  und  durfte  bei 
ihnen  potent  sein.  Aber  auch  der  Weg  zur  HomosexuaUtät  war  ihm  durch 
die  Schwester  versperrt.  Er  sah  in  allen  Jungen  die  Schwester  mit  dem  Phallus. 

Bedeutsam  aber  ist,  daß  die  weitere  Analyse  eine  sexuelle  Fixierung 
an  den  Vater  zeigte,  wie  ich  sie  in  dieser  Stärke  kaum  beobachtet  habe. 
Hinter  der  scheinbaren  Verachtung  des  Vaters,  hinter  seiner  Manier,  über 
ihn  zu  lächeln,  steckte  eine  Liebe,  die  unersättlich  und  nie  zu  befriedigen 
war.  Das  böse  Beispiel  des  Lehrers  verlangte  die  Lieba  in  Formen,  welche 
nur  im  Bereiche  der  Phantasie  möglich  waren.  (Spätere  Träume  brachten 
mich  in  ähnliche  Situationen!)  So  schwebte  er  zwischen  Homosexualität  und 
dem  Don  Juanismus. 

Wie  kommt  es  aber,  daß  diese  Menschen  stecken  bleiben  und  sich  nicht 
zum  richtigen  Don  Juan  entwickeln?  Das  hängt  mit  einer  außerordentlich 
starken  inneren  Frömmigkeit  zusammen.  Diese  rudimentären  Typen  sind 
zuviel  mit  Moral  belastet.  Sie  spielen  wohl  gerne  den  Unmoralischen,  sorgen 
aber  dafür,  daß  die  Moral  schließlich  als  Siegerin  hervorgeht. 

Ich  möchte  noch  einige  Worte  über  die  religiöse  Bedeutung  des  Traumes 
sagen.  Es  ist  merkwürdig,  wie  von  allen  Traumdeutern  die  naheliegende 
religiöse  Bedeutung  der  Träume  übersehen  wird,  obgleich  sie  doch  die  Be- 
deutung der  Religion  für  das  Seelenleben  kennen  und  bedenken  sollten,'  daß 
eine  solche  gewaltige  Kraft  sich  auch  im  Traum  ausdrücken  muß.  Der 
Träumer  ist  lange  Jahre  sehr  fromm  gewesen.  Hexen  und  Teufel  spielten 
in  seiner  Phantasie  die  Rolle  der  Verführer.  Auch  in  dem  Traum  ist  hier 
die  Beziehung  zum  Teufel  ausgesprochen,  der  den  schwachen  Menschen  ver- 
führt: zum  Trinken,  zum  Huren,  kurz  zur  Sünde.  Die  homosexuelle  Regung 
wird  häufig  als  Teufelswerk  betrachtet. 

Unser  Patient,  der  so  lange  fromm  war,  ist  jetzt  ein  Atheist  und 
Freigeist.  Er  mußte  seiner  Mutter  schwören,  jeden  Sonntag  in  die  Kirche 
zu  gehen,  was  er  mit  20  Jahren  aufgab.  Die  Mutter  protestierte  erst  da- 
gegen und  war  sehr  unglücklich  und  fügte  sich  erst,  als  ihr  Sohn  sie  von 
seinem  vollkommenen  Unglauben  überzeugte.  Sie  sagte  ihm  aber  wiederholt: 
Ich  glaube  bestimmt,  daß  Gott  dich  erleuchten  wird  und  du  eines  Tages 
wieder  fromm  sein  wirst.  Darüber  lacht  er  nur  und  ist  überzeugt,  daß  diese 
Zeit  nie  kommen  wird.  Noch  frömmer  war  seine  Großmutter,  bei  der  er 
jeden  Sommer  zu  Gast  war.  Ein  Traum,  der  zwei  Wochen  nach  dem  eben 
analysierten  geträumt  wurde,  lautet: 

„Ich  bin  bei  meiner  Großmutter.  Sie  geht  früh  morgens  in  die 
Kirche  und  fordert  mich  auf,  mitzugehen.  Ich  weigere  mich.  Am 
nächsten  Morgen  wiederholt  sie  die  Aufforderung.  Ich  bekomme  heftige 
Magenschmerzen  und  sage:  Ich  werde  ein  Sonnenbad  nehmen.  Das  ist 
dasselbe  ..." 


D  er  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  245 

Wir  sehen,  wie  die  Imperative  der  Kindheit  in  der  Mahnung  der  Groß- 
mutter im  Traume  lebendig  werden.  Wir  konstatieren  einen  Zusammenhang 
zwischen  der  Weigerung,  in  die  Kirche  zu  gehen,  und  den  Magenschmerzen 
und  lernen,  daß  die  Sonnenbäder  des  Patienten  eine  Ersatzreligion  sind,  wie 
ich  das  wiederholt  betont  habe.  Wir  forschen  nach  und  hören,  daß  der 
Kranke  jeden  Abend  mit  der  Versuchung  kämpft,  ein  „Vater  unser"  zu 
sagen;  daß  er  das  abwehrt  und  sich  gesteht:  „Das  ist  doch  ein  Unsinn! 
Du  glaubst  ja  diese  Sachen  nicht  mehr."  Trotzdem  passiert  es  ihm  im  Halb- 
schlafe, daß  er  einige  Sätze  aus  dem  „Vater  unser"  betet,  weil  er  sich  wieder 
als  Kind  fühlt.  Er  trägt  zwei  kleine  Marienmünzen  immer  bei  sich,  die  er 
in  e,inem  Wallfahrtsort  erhalten  hatte.  „Es  ist  so  mehr  ein  Aberglauben. 
Ich  trage  sie  immer  in  meiner  Börse,  weil  ich  glaube,  daß  sie  mir  Glück 
bringen."  Er  hat  'sein  Gebetbuch  der  jüngeren  Schwester  geschenkt,  wo  er 
es  dann  immer  wieder  sehen  und  in  die  Hand  nehmen  kann.  Er  besucht 
Kirchen,  weil  er  sich  für  Kirchenmusik  interessiert.  —  —  — 

Wie  zeigt  sich  das  im  Traume?  Der  Teufel  erscheint  ihm  in  der 
Gestalt  des  Pferdes1)  und  will  ihn  durch  seine  Teufelskünste  verführen. 
Deshalb  kommt  das  Pferd  durch  alle  Türen  und  über  alle  Hindernisse.  Er 
glaubte  eine  Zeitlang  fest  an  den  Teufel.  Er  ging  in  eine  Kirche,  wo  der 
Pfarrer  sehr  viel  vom  Teufel  sprach,  auch  behauptete,  es  gäbe  lebende  Zeugen, 
die  einen  Teufel  gesehen  hätten.  Sein  Großvater  war  ganz  empört,  daß  der 
Pfarrer  den  Gläubigen  so  dumme  Geschichten  erzähle  und  weigerte  sich, 
ferner  in  die  Kirche  zu  gehen.  Er  wurde  aber  immer  mit  der  Angst  vor 
dem  Teufel  erzogen.  War  er  schlimm,  so  hieß  es,  der  Teufel  werde  ihn  holen. 
Wollte  er  nicht  beten,  so  ließ  man  im  Nebenzimmer  klappern  und  der 
Teufel  wurde  angesagt.  Demselben  Erziehungszwecke  diente  die  Hexe.  Eine 
alte,  häßliche  Frau  kam  einmal  als  Hexe  in  sein  Zimmer  und  schreckte  ihn 
und  die  anderen  Kinder  so  furchtbar,  daß  sie  noch  viele  Jahre  an  diese  ent- 
setzliche, schreckliche  Erscheinung  denken  mußten.  Im  Traume  wird  er  vom 
Teufel  verfolgt,  vor  dem  er  sich  rettet.  Im  zweiten  Traumstück  ist  er  selbst 
der  Teufel  und  kann  zaubern.  Dies  war  die  stärkste  Sehnsucht  seiner  Jugend 
und  er  hätte  sich  gern  dem  Teufel  verschrieben,  um  zaubern  zu  können. 
Nur  durch  Teufelskünste  bringt  er  die  höllische  Maschine  in  Bewegung.  I  n 
seiner  Kindheit  war  es  auch  sein  heißer  Wunsch,  sich 
eine  Lokomotive  durch  Zauber  zu  erbauen  und  mit 
ihr    zu    fahren,    wohin    er    wollte. 

Die  Magd,  die  ihm  drei  Papierknäuel  bringt  (Anspielung  auf  die 
heilige  Dreieinigkeit?),  (seine  Liebesbriefe?),  ist  wie  in  vielen  Träumen  ein 
Symbol  der  Himmelsmagd,  wofür  ich  viele  Beweise  erbringen  könnte.  Er 
war  ein  schwärmerischer  Marienverehrer.  Er  muß  erst  diesen  Kult  aufgeben, 
um  zaubern  zu  können.  Doch  der  Traum  ist  ein  Kompromiß  aus  beiden 
Regungen  und  drückt  auch  eine  polare  Strömung  aus:  Er  heizt  mit  himm- 
lischem Feuer,  mit  dem  Glauben,  der  ihn  schützt  und  sein  Leben  auf  die 
richtige  Bahn  bringt.  Er  wünscht  mich  zum  Teufel,  um  seine  geheime  Re- 
ligion weiter  führen  zu  können.  Doch  der  alte  Kinderwunsch,  Zauberer  zu 
sein,  geht  am  deutlichsten  hervor.  (Der  Traum  stellt  eben  nicht  einen 
Wunsch  dar,  sondern  ein  Konglomerat  von  Wünschen,  die  im  wirren  Durch- 
einander durch  die  Seele  ziehen.)  Im  Traum,   der  sich   anschließt,  ist  der 


x)  Der  Pferdefuß  ist  ja  das  charakteristische  Zeichen  des  Teufels! 


246 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Zauber  ebenso  durchsichtig.  Die  religiöse  Bedeutung  des  Anspritzens  (mit 
Weihwasser  .  .  .  Perolin  reinigt  und  desinfiziert  die  Luft!)  ist  leicht  zu 
erkennen,  ebenso  wie  die  Vermengung  von  religiösen  und  sexuellen  Motiven, 
die  in  der  Neurose  und  Psychose  eine  so  überragende  Rolle  spielen.1)  Er 
erliegt  der  Versuchung,  er  wird  von  einer  Teufeline  verführt.  Das  alte  Weib 
am  Schluß  ist  die  Hexe  seiner  Kindheit,  die  erscheint,  um  den  Sünder  zu 
bestrafen.  (Er  gibt  auch  eine  starke  Gerontophilie  zu  und  hat  sich  einmal 
in  eine  60jährige  Dame  verliebt.) 

Die  Bibel,  die  Evangelien,  seine  Gebetbücher,  seine  Beichtzettel,  sie 
befinden  sich  alle  in  den  Papierknäueln,  die  er  verbrennen  muß,  um  sich  von 
allen  religiösen  Hemmungen   zu   befreien. 

Der  Traum  zeigt  also  eine  prospektive  Tendenz,  die  Hemmungen  der 
Religion,  die  Angst  vor  Hölle  und  Teufel,  die  Angst  vor  Hexen  zu  über- 
winden und  sich  den  Trieben  hinzugeben.  Er  wird  sein  Leben  in  die  Hand 
nehmen,  wird  seine  Maschine  selbst  heizen,  wird  sich  Frauen  hingeben,  die 
alle  das  Bild  seiner  Schwester  tragen  werden.  Deutlich  drückt  auch  der 
Traum  aus,  daß  die  Homosexualität  auf  diese  Weise  fixiert  wird,  daß  alle 
Frauen  Affektwerte  der  Mutter  und  Schwester  erhalten.  Er  befindet  sich 
auf  einer  sexuellen  Leitlinie,  die  vom  Weibe  weg  zum  Manne  führt.  Diese 
will  er  verlassen  und,  alle  Hemmungen  überwindend,  ein  normaler  Mensch 
werden.  Er  benötigt  nicht  mehr  die  Sicherungen  seiner  Neurose,  er  ist  sein 
eigener  Herr,  empört  sich  gegen  die  religiösen  Imperative,  wird  selbst  zum 
Zauberer  und  Gott.    Er  macht  hemmungslos,  wozu  es  ihn  treibt. 

Wir  erhalten  durch  diesen  Patienten  einen  tiefen  Einblick  in  den 
Mechanismus,  der  zur  ausschließlichen  Homosexualität  treibt.  Dieser 
Patient  hätte  ein  Homosexueller  werden  können  und  hätte  uns  dann 
die  bekannte  homosexuelle  Lebensgeschichte  erzählt.  Er  war  lange 
Zeit  sanft  wie  ein  Mädchen,  spielte  bei  der  Großmutter  mit  Puppen, 
kochte  sehr  gerne  und  zog  die  Gesellschaft  von  kleinen  Mädchen  vor. 
Diese  Erlebnisse  haben  viele  Heterosexuelle,  aber  sie  vergessen  sie. 
Später,  wenn  sie  sich  für  die  alleinige  unumschränkte  Homosexualität- 
entschieden  haben,  werden  diese  Erinnerungen  als  Beweis  der  ange- 
borenen Homosexualität  hervorgesucht  und  durch  Wiederholung  ver- 
größert und  fixiert. 

Doch  gab  es  in  seinem  Leben  eine  Episode,  die  ihn  in  die  Bahn 
der  Homosexualität  hätte  drängen  können:  Die  Szene  mit  dem  Lehrer, 
die  noch  dazu  öffentlich  war.  Doch  was  dem  einen  ein  Anstoß  sein 
kann,  sich  ganz  diesen  Reizen  zu  ergeben,  wirkt  auf  den  andern  wie 
eine  Warnung  und  hält  ihn  von  dieser  sexuellen  Leitlinie  ab.  Jede 
Wirkung  kann  sich  positiv  und  negativ  äußern.  Traumen  der  Kindheit, 
die  durch  ältere  Personen  ausgeübt  wurden,  können  eine  Gerontophilie 
erzeugen,  aber  auch  eine  Neigung  zu  Kindern,  je  nachdem  das  ln- 

*)  Vgl.  Hans  Freimark:  „Das  sexuelle  Moment  in  der  religiösen  Ekstase"  (Zeit- 
schrift f.  Religionsphilosophie,  Bd.  II,  H.  1?);  ferner:  „Das  Hexenproblem"  (Die  neue 
Generation,  8.  Bd.)  und  „Sexuelle  Besessenheit",  9.  Bd. 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  247 

dividuum  den  Alten  oder  den  Jungen  spielen  will.  Die  Verführung 
durch  die  Mutter  kann  aber  den  Menschen  ganz  der  Homosexualität 
zutreiben,  wie  ich  es  in  einem  Falle  erfahren  habe.  Homosexuelle 
haben  sehr  oft  pathologische  Mütter,  die  an  Melancholie  leiden  und 
deren  Handlungsweise  unberechenbar  ist.  Meine  Erfahrungen  haben 
mir  leider  bewiesen,  daß  die  Traumen  nicht  nur  von  Dienstboten, 
sondern  auch  von  den  Eltern  ausgehen  können,  und  daß  derlei  Vor- 
kommnisse nicht  zu  den  Ausnahmen  gehören. 

Hier  wirkt  das  Erlebnis  mit  dem  Lehrer,  dessen  abstoßende  Öffent- 
lichkeit, als  ein  Hindernis  für  die  Entwicklung  der  Homosexualität. 
Der  Gedanke:  „Du  kannst  so  werden  wie  dieser  Lehrer!" 
hinderte  die  Entstehung  einer  sogenannten  echten  Homosexualität,  für 
die  alle  Vorbedingungen  gegeben  waren.  Es  fehlt  selbst  nicht  der 
charakteristische  Ekel  vor  dem  Weibe!  Es  fehlt  nicht  die  inzestuöse 
Verankerung  an  die  weiblichen  Mitglieder  der  Familie. 

Und  obwolü  dem  Patienten  so  vieles  aus  dem  Sexualleben  bewußt 
war,  was  anderen  nur  im  Dämmerlichte  abgetönter  Tagesphantasien 
oder  in  wirren  Traumgestalten  erscheint,  war  ihm  eines  vollkommen 
unklar :  sein  Verhältnis  und  seine  Einstellung  zum  Vater.  Er  ist  gegen 
den  Vater  immer  in  gereizter  Stimmung  und  vermeidet  es,  mit  ihm  allein 
zu  sein,  da  es  leicht  zu  Streit  und  Auseinandersetzung  kommt.  Diese 
Empfindlichkeit  dem  Vater  gegenüber  beweist,  daß  sich  Affekte  ver- 
bergen, deren  er  nicht  Herr  werden  kann.  Was  er  vom  Vater  erwartet 
und  verlangt,  das  habe  ich  schon  angedeutet.  Er  wünscht,  von  ihm 
wie  von  dem  Lehrer  behandelt  zu  werden.  Er  hatte  in  der  Behandlung 
auch  einen  Traum,  in  dem  mir  diese  Funktion  zugewiesen  wurde.  Er 
ist  homosexuell  an  seinen  Vater  fixiert,  heterosexuell  an  die  weiblichen 
Mitglieder  seiner  Familie. 

Interessant  ist  es,  zu  beobachten,  wie  der  homosexuelle  Trieb 
trotz  aller  Erlebnisse  der  Kindheit  verdrängt  und  mit  Ekel  belegt 
wurde.  Wir  können  uns  jetzt  das  Entstehen  der  Magenschmerzen  so  er- 
klären. Er  denkt  immer  nur  an  Frauen  und  ist  ein  schöner  Fall  eines 
steckengebliebenen  rudimentären  Don  Juans.  Er  knüpft  unzählige 
Verhältnisse  an  und  kämpft  immer  mit  Schwierigkeiten.  Das  heißt,  er 
sucht  sich  schon  Objekte,  wo  diese  Schwierigkeiten  vorhanden  sind, 
weil  sie  dann  nicht  gefährlich  sind.  Werden  die  Schwierigkeiten  (Sym- 
bole des  Unerreichbaren,  also  der  Inzestobjekte!)  überwunden,  so 
schwindet  die  Liebe  oder  es  funktioniert  seine  Schutzvorrichtung:  der 
Magenschmorz.  Er  kommt  sogar  bis  ins  Hotel  mit  dem  Mädchen,  kann 
aber  dann  vor  Schmerzen  nicht  verkehren.  Der  starke  Brechreiz  ist 
Ekel.  Er  entsteht  nicht  allein  durch  die  Abwehr  der  Heterosexualität. 
sondern  durch  das  Vordrängen  der  homosexuellen  Triebkraft.    In  der 


248 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


entscheidenden  Nacht  vor  dem  Rendezvous  gärt  es  in  ihm  und  eine 
Stimme  sagt  ihm  innerlieh:  „Eigentlich  begehrst  du  ja  gar  nicht  dieses 
Mädchen,  du  sehrist  dich  nach  einem  Manne,  wie  nach  dem  Lehrer 
oder  nach  dem  Freunde."  —  Gegen  diese  homosexuellen  Gedanken 
wird  die  Schutzvorrichtung  des  Ekels  konstruiert  und  diese  funktioniert 
dann  auch  gegen  das  Weib.  Denn  das  Weib  als  solches  ekelt  ihn  nicht, 
er  konnte  mit  Prostituierten  ohne  Ekel  verkehren.  Er  empfindet  aber 
Ekel  vor  allen  homosexuellen  Akten.  So  steht  er  zwischen  Homo- 
sexualität und  Heterosexualität.    Beide  Wege  sind  ihm  durch  seine 

religiösen  Hemmungen  verschlossen  und  das  Resultat  ist  dann 

die  Askese. 

Der  Asket  verbirgt  sich  hier  hinter  dem  rudimentären  Don  Juan, 
den  nur  eine  Krankheit  verhindert,  seine  Triebe  auszuleben.  Gehen  wir 
einen  Schritt  weiter,  und  die  Anknüpfungen  mit  den  Frauen  unter- 
bleiben, wir  haben  den  Don  Juan  der  Gedanken  und  den  Asketen  der 
Realität.  Eine  weitere  Stufe  bildet  dann  die  Verdrängung  aller 
sexuellen  Triebrichtungen.  Der  Asket  wäre  also  zu  defi- 
nieren als  das  Individuum,  das  im  narzisstischen 
Stadium  stecken  geblieben  ist,  weil  ihm  beide 
Wege  des  All-Er  o  t  i  s  mus  (Homo-  und"  Het  er  o  s  exua- 
lität)  verschlossen  sind.  Jedes  monosexuelle  Ob- 
jekt allein  bringt  die  Triebkraft  für  einen  se- 
xuellenAktnichtauf/dadie  religio  sen  Hemmungen 
unüberwindlich  sind.  Sein  ewig  unerreichtes 
Ideal  ist  ein  bisexuelles  Wesen,  ist  eine  Leiden- 
schaft von  solcher  Stärke,  daß  sie  alle  Hinder- 
nisse überwinden  kann.  Die  Askese  ist  keine  frei- 
willige, sondern  eine  durch  die  sexuelle  Konstel^ 
lation   erzwungene. 

Unser  Patient  hat  sein  sexuelles  Ideal  im  Traume  gefunden.  Es 
ist  die  Schwester,  die  einen  Phallus  hat.  Da  erliegt  er,  der  starke 
Kämpfer,  gegen  seine  Triebe  fcnd  onaniert.  Dem  Bewußtsein  wird  dieser 
onanistische  Akt  d-ann  als  Pollution  seiner  Bedeutung  beraubt  und 
als  ein  Zufall  dargestellt,  für  den  man  nichts  kann. 

Freud  betont  mit  Recht,  daß  den  Psychologen  besonders  jene 
Fälle  interessieren,  die  eine  späte  Entwicklung  der  Homosexualität 
zeigen,  den  Zustand,  den  Krafft-Ebing  als  tardive  Homosexualität  be- 
schrieben hat.  Nach  einer  heterosexuellen  oder  bisexuellen  Periode 
tritt  dann  die  Entwicklung  zur  Homosexualität  ein.  Wir  werden  später 
einige  Fälle  von  tardiver  Homosexualität  besprechen  und  versuchen, 
die  Motive  dieser  Änderung  aufzuweisen.  Der  nächste  Fall  bildet 
einen  Übergang  und  zeigt  uns  einen  Menschen,  der  sich  noch  im  Kampfe 


Der  rudimentäre  Dou  Juan  —  die  moderne  Messalina. 


249 


mit  beiden  Tendenzen  befindet.-  Es  handelt  sich  um  eine  rudimentäre 
Messalina,  ein  interessantes  weibliches  Gegenstück  zu  dem  eben  be- 
schriebenen Patienten. 

Fall  Nr.  34.  Frl.  Wanda  K.  beklagt  sich  über  einen  unseligen  Zwie- 
spalt ihres  Wesens,  der  ihr  den  vollen  Genuß  des  Lebens  unmöglich  macht. 
Sie  leidet  an*  heftigem  unstillbaren  Erbrechen,  das  sich  aber  nur  einstellt, 
wenn  sie  ein  Rendezvous  haben  soll.  Sie  hat  die  freiesten  Ansichten,  „die 
ein  modernes  Mädchen  haben  kann  und  soll".  Sie  lernt  Männer  kennen,  die 
Sie  interessieren  und  auch  sexuell  aufregen.  Sie  weiß,  sie  wird  nie  heiraten, 
bie  ist  29  Jahre  alt  und  noch,  immer  sehr  schön  und  begehrenswert.  Wie 
lange  wird  das  noch  dauern?  Sie  will  ihr  Leben  genießen,  sie  will  nicht 
sterben,  ehe  sie  die  Liebe,  die  alles  gibt  und  nimmt,  kennen  gelernt  hat. 
Aber  sie  hat  einen  nervösen  Magen,  der  sie  immer  im  letzten  Moment  hindert 
Sie  erzählt  ein  Beispiel:  „Letzten  Sonntag  sollte  ich  mit  einem  Herrn  den 
ich  auf  der  Straße  kennen  gelernt  habe,  einen  Ausflug  machen.  Ich  bin  gar 
nicht  prüde  und  lasse  mich  gerne  ansprechen.  Ich  denke  schon  auf  der 
Gasse:  Wer  wird  mich  heute  ansprechen?,  kokettiere  wohl  ein  bißchen  und 
kranke  mich  wenn  ich  nicht  beachtet  werde.  Vor  einigen  Wochen  spricht 
mich  ein  sehr  eleganter  älterer  Herr  an.    Er  ist  sehr  intelligent,  was  für 

mi$],!°  5aUptsaehe  ist-    Ich  kann  nur  mit  Intellektuellen  verkehren.    Un- 
gebildete Menschen  sind  mir  ein  Greuel.  Wir  unterhalten  uns  ausgezeichnet 
und  er  wartet  jetzt  jeden  Tag  auf  mich;    wenn  das  Geschäft,  wo  ich  an- 
gestellt bin,  sperrt,  sehe  ich  ihn  schon  an  der  Straßenecke.    Dann  gehen 
wir  spazieren  und  reden  über   allerlei.    Er  hat  es  noch  nie  gewagt,  über 
erotische   Dinge  zu  sprechen.    Ich   habe  also   gar  keinen   Anlaßt,   mich   zu 
furchten.    Trotzdem  erwarte  und  ersehne  ich   den  Moment,  wo  er  anfängt 
und  ich  ihm  zeigen  kann,  daß  ich  ein  modernes  Mädchen  bin,  die  vor  nichts 
zurückschreckt,  wenn  ihr  ein  Mann  gefällt  und  sympathisch  ist.    Mehr  ver- 
lange ich  ja  nicht.    Man  kann  doch  nicht  gleich  verliebt  sein.    Nun,  wir  be- 
sprechen für  den  Sonntag  einen  Ausflug  in  die  Umgebung  Wiens.  ■  Ich  bin 
schon   Samstag  sehr  aufgeregt,   male  mir  aus,  wie  er   allmählich  auf   das 
sexuelle  Thema  kommen  wird,  wie  er  mich  im  Walde  küssen  wird,  stelle 
mir  vor,  was  ich  antworten  werde,  wie  ich  mich  ein  wenig,  ein  klein  wenig, 
sträuben  werde  und  wie   ich   schließlich  nachgebe.    Ich   bitte  Sie!    Es   ist 
doch  Zeit,  daß  ich  aufhöre,  eine  alte  Jungfer  zu  sein!    Ist  das  nicht  eine 
Schande  mit  meinen  29  Jahren?    In  meinem  Büro  haben  schon  die  jungen 
Mädchen  alle  einen  Geliebten  und  manche  sogar  mehrere  auf  einmal.    So 
geht  es  fortwährend  durch  meinen  Kopf.    Ich  bin  sehr  gut  aufgelegt  und 
pfeife  sogar  ein  Liedchen.    Aber  am  Abend  kann  ich  bereits  nichts  mehr 
essen.    Mein  Magen  ist  wie  abgesperrt,    Es  geht  nichts  hinein.    Ich  hoffe 
auf  den  Morgen.    Stehe  früh  auf,  richte  mir  das  Touristenkostüm  her  und 
will  mich  ans  Frühstück  setzen.    Ich  kämpfe  mit  Brechreiz,   zwinge  mich 
doch  zu  einem  Frühstück,  das  ich  jedoch  sofort  erbrechen  muß.    Und  dann 
setzt  ein  Brechreiz  ein,  der  nicht  aufhören  will,  so  daß  ich  zu  Hause  bleiben 
muß  und  der  Herr  vergeblich  beim  Rendezvousplatz  auf  mich  wartet.   Natür- 
lich läßt  er  mich  laufen,  wenn  das  zweimal  passiert  und  .  .  .  es  passiert 
mir  leider  immer." 

Sie  weiß  eine  unerschöpfliche  Fülle  ähnlicher  Erlebnisse  zu  berichten, 
die  immer  mit  dem  Erbrechen  ihren  Abschluß  fanden.    Sie  hat  eine  ganze 


250  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Auswahl  von  Verehrern,  junge,  alte,  reiche,,  arme,  gebildete  und  minder- 
gebildete, welche  alle  glauben,  sie  könnten  sie  erobern,  da  sie  sehr  offen  und 
kokett  ist  und  auch  ungeniert  über  alle  sexuellen  Themen  spricht.  Sie  ist 
Mitglied  von  Frauenvereinigungen,  wie  Mutterschutz,  welche  das  unehelich 
geborene  Kind  beschützen,  kämpft  für  die  sexuelle  Freiheit  des  Mädchens, 
ist  eine  Shannistin.  Jeder  Mann  aber,  der  die  Probe  auf  die  Praxis  macht, 
lernt  erstaunt,  welcher  Unterschied  zwischen  ihren  theoretischen  Anschau- 
ungen und  ihrem  Benehmen  besteht.  Sie  weicht  allen  Gelegenheiten  aus, 
die  ihr  gefährlich  werden  können.  Ein  Bürokollege  ersucht  sie,  ihn  in  seiner 
Wohnung  zu  besuchen.  Er  sammelt  Bilder,  sie  interessiert  sich  für  Bilder 
und  er  möchte  ihr  gerne  seine  Gemälde  zeigen.  Sie  erfindet  alle  möglichen 
Vorwände,  um  diesen  Besuch  aufzuschieben,  und  erscheint  schließlich  in  seiner 
Wohnung  mit  einer  Freundin  ...  Sie  hatte  schon  so  viele  Vergewaltigungs- 
szenen vorphantasiert,  daß  sie  schließlich  alle  Unbefangenheit  verloren  hatte. 

Interessant  ist  es,  daß  dieser  Seelenzustand  sich  erst  nach  einer  Ver- 
lobung ausgebildet  hat.  Sie  war  bis  zu  ihrem  23.  Jahre  ein  ganz  normales 
Mädchen,  nicht  anders  als  alle  andern.  Da  lernte  sie  einen  Mann  kennen, 
der  sich  in  guten  Verhältnissen  befand  und  ihr  auch  sehr  sympathisch  war. 
Er  verlobte  sich  mit  ihr  und  sie  war  überglücklich  und  so  verliebt,  wie  ein 
junges  Mädchen  sein  kann,  das  der  Meinung  ist,  sein  Ideal  gefunden  zu  haben. 

Der  Bräutigam  hatte  nur  einen  Fehler:  Er  war  furchtbar  eifersüchtig. 
Er  quälte  sie  mit  Fragen  über  ihre  Vergangenheit  und  sie  mußte  alles 
beichten,  was  einem  Mädchen  passieren  kann.  Nun,  sie  erzählte  ihm,  daß  sie 
in  den  Katecheten,  den  Klavierprofessor  und  in  eine  Lehrerin  verliebt  ge- 
wesen, daß  aber  sonst  nichts  von  Bedeutung  in  ihrem  Leben  vorgefallen 
wäre.  Er  aber  hörte  nicht  auf  zu  quälen  und  zu  fragen,  sie  solle  lieber 
alles  vor  der  Hochzeit  sagen,  er  werde  ihr  alles  verzeihen,  er  wolle  nur 
nicht  der  Betrogene  sein,  er  verlange  vollkommene  Klarheit  und  Wahrheit 
zwischen  ihnen. 

Eines  Nachts  wachte  sie  aus  einem  Traume  auf,  in  dem  sie  mit  ihrem 
Bruder  verkehrt  hatte.  Da  fiel  ihr  ein  Erlebnis  ein,  an  das  sie  ganz  ver- 
gessen hatte.  Sie  war  bei  dem  verheirateten  Bruder  auf  dem  Lande  zu  Besuch. 
Seine  Frau  war  zu  Verwandten  gefahren  und  er  forderte  sie  auf,  im  Bette 
seiner  Frau  zu  schlafen.  Sie  tat  es  und  hatte  dabei  keinen  erotischen  Ge- 
danken, denn  es  handelte  sich  um  den  Bruder,  vor  dem  sie  sich  nie  geniert 
hatte,  wie  vor  den  anderen  Brüdern,  deren  sie  noch  vier  hatte.  In  der 
Nacht  fühlte  sie,  wie  die  Hand  des  Bruders  sie  betastete.  Er  kam  zu  ihr 
ins  Bett  und  küßte  sie,  sie  war  ganz  schlaftrunken  und  glaubte  zu  träumen. 
Sie  küßte  ihn  wieder  und  sie  umarmten  sich  heiß.  Sie  weiß  auch,  daß  sie 
sein  Glied  in  die  Hand  nahm.  Sie  glaubt,  daß  der  Bruder  sich  ungeheuer 
beherrschen  mußte  und  wieder  in  sein  Bett  ging.  Es  ist  ihr  alles  dunkel 
erinnerlich  aus  jener  Nacht.  Nur  so  viel  weiß  sie,  daß  es  zu  keinem  Koitus 
gekommen  ist. 

Diese  Erinnerung  erschreckte  sie  und  sie  wußte  nun,  daß  sie  ihren 
Bräutigam  belogen  hatte.  Es  handelte  'sich  nur  um  eine  Nacht,  denn  am 
nächsten  Tage  reiste  sie  ab  und  ihr  Bruder  riet  ihr  selbst  dazu.  Sie  be- 
suchte eine  Freundin  in  der  Nähe  und  kam  erst,  bis  die  Schwägerin  wieder 
da  war.  Aber  sie  fühlte,  sie  mußte  ihrem  Bräutigam,  der  ihr  alles  anver- 
traut hatte,  auch  die  volle  Wahrheit  sagen.  Sie  erzählte  ihm  diese  Szene, 
die  sich  fast  im  Traum  abgespielt  hatte.    Er  begann  zu  forschen  und  zu 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die  moderne  Messalina.  251 

fragen,  daß  ihr  angst  und  bange  wurde  und  sie  schon  selbst  zu  zweifeln 
begann.  Sie  konnte  aber  nur  wiederholen,  was  sie  wußte:  Daß  es  zwischen 
ihr  und  dem  Bruder  wohl  zu  Küssen  und  Streicheln,  aber  nicht  zu  einem 
Koitus  gekommen  war. 

Ihr  Bräutigam  blieb  nun  einige  Tage  aus.  Dann  erhielt  sie  ein 
Schreiben,  daß  er  nach  ihren  Mitteilungen  nicht  in  der  Lage  sei,  sie  zum 
Altar  zu  führen  und  sich  als  freier  Mann  betrachte.  Er  sandte  ihr  den 
Verlobungsring  zurück  und  ersuchte  um  Retournierung  aller  seiner  Geschenke 
und  Briefe. 

Sie  war  wie  vor  den  Kopf  geschlagen.  Das  also  war  der  Dank  für  ihre 
Aufrichtigkeit!  So  hatte  der  Mann,  den  sie  über  alles  geliebt  hatte,  sein 
Versprechen  gehalten!  Mußte  sie  nicht  zur  Ansicht  kommen,  daß  er  nur 
einen  Vorwand  vor  sich  selbst  und  vor  ihr  gesucht  hatte,  um  wieder  frei 
zu  werden?! 

Da  kam  eine  Periode,  in  der  sie  alle  Männer  haßte. 
Sie  machte  keine  Ausnahme  und  begann  auch  den  Bruder 
zu  hassen,  der  an  dem  Unglück  schuld  war.. 

Dann  kam  der  zweite  Vorsatz:  Es  ist  nicht  wert, 
daß  man  anständig  ist.  Du-  wirst  leichtsinnig  werden 
wie  alle  deine  Freundinnen! 

Kurze  Zeit  nachher  hörte  der  Haß  gegen  die 
Männer  scheinbar  auf  und  es  trat  das  unaufhörliche 
buchen  auf,  das  sie  den  ganzen  Tag  beschäftigte.  Zu- 
gleich   damit    das    Erbrechen! 

Es  war,  als  wenn  ein  ungeheures  Liebesbedürfnis  mit  einem  ebenso 
starken  Ekel  kämpfen  müßte.  Ihr  Trost  in  diesen  schweren  Tagen  waren 
eine  Freundin  und  die  Schwester,  an  die  sie  sich  sehr  innig  anschloß. 

Ihre  Träume  aber  zeigen,  daß  hinter  der  Jagd  nach  den  Männern  etwas 
ganz  anderes  steckte:  Der  homosexuelle  Trieb,  der  jetzt  machtvoll-  vor- 
drängte und  mit  Gewalt  durch  Liebschaften  mit  Männern  zurückgedrängt 
werden  mußte.  Sie  zeigte  eine  Reihe  von  untrüglichen  Zeichen.  Sie  begann 
sich  einfach  und  mehr  männlich  zu  kleiden ;  sie  ließ  sich  die  Haare  schneiden 
und  begann  Zigaretten  zu  rauchen;  ihr  Wesen,  ihr  Gang  wurden  energisch 
und  männlicher;  sie  verlor  ihre  Milde  und  Sanftmut  und  wurde  hart  und 
stark.  In  ihrem  ganzen  Wesen  drückte  sich  ein  Wunsch  aus:  Ich  möchte 
ein  Mann  sein,  der  hat  e's  viel  besser.  Und  merkwürdig!  Jetzt  fing  sie  an 
zu  gefallen  und  die  Männer  stellten  ihr  zu  Dutzenden  nach.  Aber  sie  spielte 
mit  sich  und  mit  den  Bewerbern,  von  denen  einzelne  es  vielleicht  ernst 
gemeint  hätten,  wenn  sie  sie  näher  hätte  herankommen  lassen. 

Aber  ihr  Verlangen  ging  nicht  mehr  nach  den  Männern.  Sie  war  auf 
dem  Wege,  homosexuell  zu  werden,  und  machte  die  letzten  Kämpfe  mit. 
Der  Ekel  galt  nur  der  Abwehr  und  Sicherung  der  homosexuellen  Regungen. 
Ihre  Träume  waren  erfüllt  von  homosexuellen  Szenen.  Sie  war  selbst  er- 
staunt, als  sie  begann,  ihre  Träume  zu  beobachten.  Gleich  der  erste  Traum, 
den  sie  mir  mitteilte,  handelte  von  der  Schwester  und  der  Freundin: 

Ich  bin  mit  der  Freundin  am  Gänsehäufel  *)  und  wir  sind  beide 
ganz  nackt.  Ich  sage:  Bist  du  aber  schön  gewachsen.  Du  bist  viel 
schöner  als  ein  Mann.   Sie  umarmte  mich  und  küßte  mich  auf  den  Busen, 

*)  Ein  Strandbad  an  der  Donau  in  Wien. 


252  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

auf  die  Stelle,  wo  ich  so  empfindlich  bin.    Ich  erwache  mit  Angst,  Herz- 
klopfen und  Brechreiz. 

Weitere  Träume  variieren  diese  Themen  in  endloser  Reihenfolge. 
Männer  'spielen  selten  eine  Rolle.  Hie  und  da  wird  sie  von  ihnen  verfolgt 
und  flüchtet  sich  zu  der  Schwester  oder  Freundin.  So  stellt  sieh  ihr  Konflikt 
auch  in  den  Träumen  als  eine  Flucht  vor  dem  Mann  in  die  Homosexua- 
lität dar.1) 

Auch  dieses  Mädchen  spielte  den  Freigeist  und  war  innerlich 
fromm.  Sie  besuchte  Sonntags  die  Kirche,  um  Kirchenmusik  zu  hören, 
sie  glaubte  nichts,  aber  sie  betete  hie  und  da  aus  alter  Gewohnheit,  sie 
las  gerne  in  der  Bibel,  sie  wehrte  sich  gegen  leise  Stimmen,  welche  sie 
drängten,  wieder  zu  beichten.  Eines  Tages  sagte  sie:  „Wissen  Sie, 
ich  dachte  mir  gestern,  wenn  ich  wieder  fromm  sein  und  beichten  könnte, 
dann  wäre  alles  wieder  gut  .  ." 

Wir  sehen  hier  ein  Mädchen,  das  auf  dem  besten  Wege  war,  eine 
normale,  heterosexuell  empfindende  Frau  zu  sein.  Sie  erlebt  ein 
schweres  Trauma  und  beginnt,  alle  Männer  zu  hassen  und  zu  verachten. 
Sie  kehrt  sich  von  den  Männern  ab.  Erleichtert  wird  diese  Abkehr  da- 
durch, daß  die  Männer  alle  Ersatz  für  die  Liebe  des  Bruders  werden, 
welche  verdrängt  und  vergessen  durch  ihre  traurigen  Erlebnisse  wieder 
neu  aufflammen  mußte.  Deshalb  konnte  sie  sich  noch  am  besten  mit 
älteren  Männern  unterhalten  und  auch  mit  ihnen  Ausflüge  usw.  machen, 
ohne  allzusehr  vom  Brechreiz  belästigt  zu  werden.  Die  Gefahr  war 
geringer  und  es  stand  hinter  ihnen  nicht  das  Bild  des  Bruders  .  .  . 
Sie  wendet  sich  von  den  Männern  ab  und  beginnt  die  Sexualität  in 
ein  anderes  Strombett  zu  leiten.  Es  handelt  sich  also  um  eine  Re- 
gression im  Sinne  Freude  auf  die  scheinbar  überwundene  Kindheits- 
periode. Sie  wird  auch  im  Hause  fügsamer  und  folgt  den  Anordnungen 
ihrer  Mutter,  denen  sie  die  letzten  Jahre  meist  keine  Beachtung  ge- 
schenkt hatte.  Sie  fixiert  sich  wieder  an  ihre  Familie,  sie  wird  wieder 
fromm  wie  als  Kind.  Die  Periode  des  Brechens  ist  der  letzte  Kampf 
gegen  die  Überwältigung  durch  die  Homosexualität. 


1)  Ich  sehe  sie  nach  4  Jahren  wieder.  Sie  kommt  triumphierend  in  meine 
Ordination.  „Ihre  Prophezeiung,  ich  werde  nie  heiraten  und  als  alte  Jungfer  sterben, 
hat  sich  nicht  erfüllt!"  Sie  erzählt,  daß  sie  mit  einem  verheirateten  Manne  Bekanntschaft 
angeknüpft  hat  Er  führte  sie  in  ein  Restaurant  und  sie  mußte  Champagner  trinken. 
Auf  dem  Heimweg  deflorierte  er  sie  im  halbtrunkenen  Zustande  auf  einer  Bank  im 
Rathauspark  .  .  .  Wozu  hätte  sie  bisher  Zurückhaltung  geübt?  Es  wäre  alles  für  die 
Katz!  ...  Sie  gibt  an,  keinen  Orgasmus  gehabt  zu  haben.  Sie  wisse  auch  nicht,  ob 
sie  den  Mann  wieder  sehen  werde.  —  Nach  einigen  Monaten  schreibt  sie  mir:  „Ich 
habe  Wien  für  immer  verlassen.  Ich  glaube,  Sie  haben  doch  recht.  Ich  werde  niemals 
mehr  etwas  erleben.    Es  steht  wirklich  nicht  dafür!" 


Der  rudimentäre  Don  Juan  —  die*  moderne  Messalina.  253 

Überblicken  wir  die  drei  eben  analysierten  Fälle,  so  imponiert 
uns  in  erster  Linie  der  gewaltige  Einfluß  einer  inneren,  nicht  offen 
eingestandenen  Religiosität.  Beide  Männer  waren  auf  der  sexuellen 
Leitlinie,  die  von  der  Homosexualität  zur  Polygamie  abzweigt.  Sie 
waren  aber  nicht  imstande,  die  religiösen  Hemmungen  zu  überwinden. 
Zu  schwach,  sich  offen  zur  Askese  zu  bekennen,  suchten  sie  die  kom- 
plizierten neurotischen  Umwege,  um  sich  gegen  alle  Gefahren  zu 
sichern.  Der  eine  spielte  mit  großem  Geschick  den  Pechvogel,  der  gern 
ein  Libertin  sein  möchte  und  vom  Schicksal  daran  gehindert  wurde, 
der  andere  ließ  sich  durch  einen  Magensehmerz  zur  Tugend  zwingen. 
Sein  Gegenstück  ist  das  „moderne  Mädchen",  das  für  freie  Liebe  und 
Mutterrecht  schwärmt  und  ihre  Tugend  mit  Hilfe  eines  neurotischen 
-Brechreizes  vor  allen  Überraschungen  schützt.  Wieder  können  wir  den 
Neurotiker  als  Schauspieler  bewundern,  der  es  so  meisterhaft  versteht, 
vor  der  Welt  und"  sich  selbst  eine  Rolle  zu  spielen  und  dabei  sein 
wahres  Wesen  zu  verbergen.  Alle  Menschen,  denen  die  innere 
Freiheit  fehlt,  benehmen  sich  so,  als  ob  sie  frei  wären.  Sie  fügen 
sich  scheinbar  einem  fortschrittlichen  sozialen  Imperativ  der  Gegen- 
wart, während  sie  heimlich  die  Religion  ihrer  Väter  ausüben. 

Man  versteht  aber,  daß  auch  die  homosexuelle  Betätigung  als  die 
größere  Sünde  und  Naturwidrigkeit  unmöglich  wurde.  Die  Religion 
bleibt  als  Schutz  und  Ausweg  zugleich.  Wir  begreifen  auch,  daß  diesen 
Menschen  bei  einer  anderen  Erziehung  zwei  Wege  offen  waren,  welche 
sie  infolge  ihrer  Hemmungen  nicht  betreten  konnten. 

Das  Mädchen  kann  noch  homosexuell  werden  und  manche  Er- 
lebnisse der  letzten  Zeit  sprechen  dafür,  daß  die  Hemmung  dem  homo- 
sexuellen Ansturm  nicht  werde  standhalten  können.  In  diesem  Falle 
lag  aber  das  traumatische  Erlebnis,  das  sie  allen  Männern  feind  machte, 
nicht  in  der  frühen  Jugend.  Es  ist  ein  großer  Irrtum,  wenn  man  glaubt, 
daß  Traumen  in  einem  gewissen  Alter  ihre  pathogene  Kraft  verlieren.1) 

Es  gibt  Perioden  in  unserem  Leben,  in  denen  wir  unverletzlich 
sind.  Dann  aber  kommen  Zeiten,  die  uns  allen  stärkeren  Einflüssen 
zugänglich  und  überempfindlich  zeigen.  Jedes  Jahrzehnt  hat  seine 
Krisen  und  schmerzhaften  Perioden,  in  denen  wir  eine  besondere  Dis- 
position zeigen. 


')  Vgl.  das  Kapitel   „Das  sexuelle  Trauma  der  Erwachsenen",  Bd.  III 


Die  Homosexualität. 

v. 

Homosexualität  und  Alkohol. 

Die  Kranken  sind  die  größte  Gefahr 
für  die  Gesunden;  nicht  von  den  Stärksten 
kommt  das  Unheil  für  die  Starken,  son- 
dern von  den  Schwächsten.   Nietzsche. 

Die  Erfahrungen  der  Analyse  haben  uns  ge- 
zeigt, wie  lückenhaft  und  unvollständig  die  Ana- 
mnesen  sind,    welche   uns    die    Patienten    erzählen. 

Erst  im  Laufe  von  Wochen  melden  sich  die  „verdrängten"  Er- 
innerungen und  alle  die  Einstellungen,  welche  die  Patienten  nicht 
sehen  wollten.  Dann  merken  die  Analysierten  mit  Erstaunen,  daß  sie 
sich  gar  nicht  gekannt  haben.  Die  Lösung  des  Problems  wäre  also 
so  anzustreben,  daß  man  eine  große  Anzahl  von  Homosexuellen  ana- 
lysieren sollte.  Nun  ergeben  sich  merkwürdige  Tatsachen,  welche  alle 
Analytiker  bestätigen  werden,  und  welche  von  den  Anhängern  der  an- 
geborenen Homosexualität  als  Zeichen  eines  natürlichen  Zustandes 
gedeutet  werden:  Die  überwiegende  Mehrzahl  der 
Homosexuellen  ist  anscheine  n.d  mit  ihrem  Zu- 
stande sehr  zufrieden  und  will  gar  nicht  davon 
befreit  werden.  Sie  kommen  zum  Analytiker,  wenn  sie  mit  dem 
Strafgesetze  in  Konflikt  geraten  sind  oder  wenn  sie  fürchten,  in 
Konflikt  zu  geraten.  Sie  wollen  nicht  heterosexuell  empfinden,  sie  sind 
stolz  auf  ihren  Zustand  und  betonen  es  immer  wieder,  daß  nur  die 
soziale  Ächtung  sie  unglücklich  mache.  Sie  gehören  zu  den  merk- 
würdigen Menschen,  die  ihr  Unglück  nicht  sehen  wollen.  Deshalb  immer 
dio  Auskunft:  Seit  ich  homosexuell  verkehre,  bin  ich  glücklich.  Ich 
begehre  nichts  Anderes!  Nur  eine  bescheidene  Minderzahl  wünscht 
sich  „Weib  und  Kind"  und  normalen  Zustand,  fürchtet  ihn  aber  eben- 
so wie  der  „Männerheld",  der  auf  seine  Homosexualität  stolz  ist. 

Wir  dürfen  nicht  vergessen,  daß  die  ausschließliche  Homo- 
sexualität das  Endprodukt  eines  langen,  schwierigen,  seelischen  Prozesses 
darstellt,   eine  Art  Selbstheilung  aus  einem  schier  unlöslichen  Kon- 


Homosexualität  und  Alkohol.  25ö 

liikte.  Der  gefährliche  heterosexuelle  Weg  ist  scheinbar  ganz  verödet, 
weil  er  durch  Hemmungen  ungangbar  gemacht  wurde.  Diese  Hemmungen 
aufheben,  heißt  den  Konflikt  wieder  akut  machen,  heißt,  einen  ab- 
geschlossenen Kampf  wieder  aufs  neue  eröffnen.  Dem  Homosexuellen 
bedeutet  sein  Zustand  Ruhe  und  Frieden.  Es  ist  freilich  ein  fauler 
Frieden  und  die  heterosexuellen  Kräfte  sind  noch  immer  stark  genug, 
um  neurotische  Symptome  zu  bilden.  Aber  es  ist  doch  ein  Ausweg, 
den  zu  verlassen  die  Angst  verbietet.  Ebenso,  wie  die  an  Platzangst 
erkrankte  Frau,  die  schließlich  ihr  Haus  nicht  verläßt,  um  diesen 
Preis  angstfrei  geworden  ist  und  erst  wieder  an  Angst  erkrankt,  wenn 
sie  ihre  Barrieren,  die  den  Bezirk  des  Friedens,  ihre  Zone  des 
Schweigens  der  inneren  Stimmen,  überschreiten  will,  ebenso  werden 
beim  Homosexuellen  alle  Kräfte  der  Abwehr  wieder  lebendig,  wenn  er 
sich  heterosexuell  betätigen  will.  Vor  dem  Weibe  hat  er  Ekel  oder 
Abscheu,  es  ist  ihm  nur  scheinbar  gleichgültig,  aber  nie  wird  er  ein- 
gestehen wollen,  daß  er  —  Angst  vor  dem  Weibe  hat.  Er 
trägt  lieber  die  Maske  des  Indifferenten,  er  nähert  sich  dem  Weibe 
nur  als  Intellektueller,  schätzt  sie  als  Freundin,  aber  er  flieht  sie  als 
Geliebte. 

Darin  gleicht  der  Homosexuelle  dem  Fetischisten :  Er  hat  sein 
Kompromiß  gefunden,  er  hat  sich  in  die  Beschränkung  eingelebt  und 
möchte  seine  Entsagung  gerne  als  etwas  Organisches,  Fertiges,  "Über- 
nommenes ausgeben.  Deshalb  werden  wir  in  den  meisten  Fällen  die 
bekannte  Geschichte  hören,  daß  der  Homosexuelle  schon  als  Kind 
homosexuell  empfunden  hat,  daß  er  anders  war  als  die  anderen,  daß 
er  eine  Ausnahmsstellung  eingenommen  hat. 

Der  Stolz  auf  seine  Krankheit,  die  immer 
wiederholte  und  betonte  Ausnahme,  die  Opposi- 
tionsstellung gegen  das  formale  erschweren  eine 
nachträgliche   Korrektur    des    Zustande s.1) 

1)  Ausgezeichnete  Menschenkenntnis  verraten  die  Worte  von  Hans  Freimark 
über  „Züchtbarkeit  der  Homosexualität":  „Nur  ein  wenig  Psychologie  gehört  dazu  um 
zu  begreifen,  daß  manchen  Naturen  das  Besondere,  das  in  den  Augen  der  Allgemein- 
heit den  Homosexuellen  anhaftet,  interessant  und  auszeichnend  erscheint.  Widerstände 
gegen  homosexuelle  Akte  sind  zunächst  ja  nicht  zu  überwinden.  Das  aber  was  man 
als  homosexuelles  Wesen  bezeichnet,  wirkt  apart,  wenn  auch  vielfach  apart  im  üblen 
Sinne.  Aber  das  genügt,  junge  Leute,  die  sich  durch  nichts  anderes  auszuzeichnen 
wissen,  zu  veranlassen,  dieses  „aparte  Gebaren"  nachzuahmen  und  sich  schließlich  in 
ihm  zu  verstricken  .  .  .  Einmal  solche  Pose  angenommen,  wird  sie 
schließlich  zur  Wahrheit,  wozu  der  Verkehr  in  den  betreffenden  Kreisen 
nicht  wenig  beiträgt.  Eine  solche  Beeinflussung  ist  natürlich  nur  bei  jugendlichen 
Personen  möglich.  Die  aber  kommen  einzig  in  Frage.  Man  hat  eingewendet,  daß  bei 
der  Konstanz  des  Triebe6  eine  solche  Metamorphose  nicht  wahrscheinlich  sei.    Da  aber 


256  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Wie  sollte  man  auch  einen  Homosexuellen  heilen  können?  Macht 
man  ihn  heterosexuell,  so  verdrängt  er  seine  Homosexualität  und  wird 
aus  diesem  Grunde  neurotisch,  wollte  man  ihn  aber  bisexuell  machen, 
so  hätte  man  sich  den  Bann  der  ganzen  Gesellschaft  zugezogen.  Der 
einzige  Weg  zur  Heilung  wäre  dann,  daß  man  die  Hemmungen,  die 
zwischen  ihm  und  dem  Weibe  liegen,  beseitigt,  ihn  de  facto  wieder 
bisexuell  und  praktisch  heterosexuell  macht.  Das  ist  freilich 
möglich  und  kann  durch  die  Analyse  erzielt  werden,  wenn  die  Patienten 
die  Geduld  und  den  Willen  haben,  auszuhalten.  Wo  dieser  Wille 
fehlt,  kann  kein  Therapeut  etwas  erzielen.  Und  er  fehlt  leider  in  den 
meisten  Fällen. 

Die  Analyse  hat  uns  gelehrt,  wie  trügerisch  die  ersten  Berichte 
der  Kranken  sind,  wie  parteiisch  sie  sich  die  Vergangenheit  merken. 
Wir  machen  alle  eine  einseitige  Auswalü  der  Erinnerungen  und  fixieren 
bloß  solche,  welche  uns  in  unsere  jeweilige  Einstellung  hineinpassen. 
Es  war  für  mich  eine  große  Überraschung,  als  ich  den  ersten  Homo- 
sexuellen analysieren  durfte,  leider  mit  sehr  geringen  Erfahrungen  und 
einer  noch  unentwickelten  Kenntnis  der  Technik  und  des  Widerstandes. 
(Damals  glaubte  ich  noch  an  den  Willen  des  Kranken  zur  Gesundheit; 
heute  habe  ich  mich  überzeugt,  daß  der  Wille  zur  Krankheit  die 
stärkste  Macht  ist,  gegen  die  wir  kämpfen  müssen.)  Ich  hörte  nun  von 
diesem  Homosexuellen  die  mir  bekannte  Lebensgeschichte,  das  Bestehen 
und  das  alleinige  Bestehen  homosexueller  Empfindungen  seit  der  Kind- 
heit. Mein  Erstaunen  war  sehr  groß,  als  nach  drei  Wochen  eine  ganze 
Menge  heterosexueller  Erlebnisse  aus  der  Kindheit  berichtet  wurden. 
Ich  lernte  mit  einem  Male,  daß  die  Homosexualität  etwas  Entstan- 
denes und  nicht  etwas  Angeborenes  ist.  Etwas  Erworbenes, 
nicht  etwas  Übernommenes.  Ich  war  so  befangen  von  Hirschfelds 
Zwischenstufentheorie,  daß  ich  diesem  Funde  nicht  traute 
und  weitere  Bestätigungen  abwartete.  Da  berichtete  auf  dem  ersten 
psychanalytischen  Kongresse  Sadger  über  ähnliche  Erfahrungen  auf 
Grund  der  Psychanalyse.  Freilich,  die  Psychogenese  der  Homosexua- 
lität stellte  sich  Sadger  sehr  einfach  vor,  und  ich  gestehe,  daß  auch 
ich  eine  Zeitlang  in  der  Abkehr  von  der  Mutterimago,  die  jedes  Weib 
bieten  sollte,   die  alleinige  Ursache  der   Homosexualität  erblickte.1) 


von  allen  Forschern  das  Bestehen  einer  gewissen  indifferenten  Periode  zugegeben  wird, 
man  auch  weiter  zugesteht,  daß  in  dieser  Periode  das  Individuum  sich  einer  seiner 
späteren  Art  entgegengesetzten  Erotik  hingeben  kann,  60  kann  man  die  Möglich- 
keit nicht  ausschließen,  daß  schwache  Charaktere  vom  ursprünglichen  Ziel  ihrer 
Entwicklung  abgelenkt  werden  können." 

*)  „Aus  der  Abwehr  der  Inzestphantasie  erfolgt  die  Flucht  in  die  Homosexua- 
lität." Nervöse  Angstzustände.  1.  Aufl.,  1908,  S.  311. 


Homosexualität  und  Alkohol.  e>;s7 

Allein  meine  seit  vielen  Jahren  emsig  fortgesetzten  Forschungen  haben " 
mir  gezeigt,  daß  dieses  Problem  sehr  kompliziert  ist  und  daß  es  offen- 
bar mehrere  Entstehungsarten  gibt,  daß  mehrere  Momente  zusammen- 
wirken müssen  und  können,  um  die  Verödung  des  heterosexuellen  und 
die  Verbreiterung  des  homosexuellen  Strombettes  zu  bewirken. 

Zuerst  fiel  mir  auf,  daß  auch  beim  Homosexuellen  in  vielen  Fällen 
die  Hemmungen  wegfallen  und  er  wieder  heterosexuell  wird.  Jeder 
Kenner  der  Homosexualität  wird  mir  bestätigen,  daß  es  hie  und  da 
vorkommt,  daß  ein  echter  Homosexueller  sich  ändert  und  unvermutet 
sich  in  ein  weibliches  Wesen  verliebt  oder  heiratet  und  sich  nach  dieser 
Veränderung  ganz  wohl  befindet.  So  erzählt  z.  B.  Tarnowsky1)  in 
seinem  Werke  „Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinnes'1: 
„Ich  kannte  einen  Päderasten,  der  fast  ausschließlich  mit  Jünglingen 
Beziehungen  unterhielt;  in  verhältnismäßig  hohen  Jahren  verliebte  er 
sich  leidenschaftlich  in  ein  junges  Mädchen,  mit  dem  er  sich 
verheiratete  und  Kinder  erzeugte.  Er  war  nur  deshalb  imstande,  mit 
seiner  Frau  den  Geschlechtsakt  auszuüben,  weil  ihr  Gesicht  einem 
jungen  Manne  ähnelte,'  den  er  einst  liebte."  Diese  Rationalisierung, 
diese  plötzliche  Änderung  kann  man  hie  und  da  hören.  Es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  daß  der  junge  Mann,  den  der  Patient  Tamowskys  einst 
liebte,  seiner  Schwester  oder  irgend  einer  anderen  weiblichen  Person 
ähnelte  und  daß  der  Mann  auf  diesem  Umwege  wieder  zu  seinem  ersten 
heterosexuellen  Ideal  zurückgekommen  ist.  Erst  vor  einigen  Tagen 
stellte  sich  mir  ein  „überzeugter"  Homosexueller  vor,  der  sich  plötzlich 
in  eine  Kabarettsängerin  verliebt  hatte  und  sie  heiraten  wollte.  Sie 
war  ein  „Spiegelbild"  einer  längst  verstorbenen  Schwester!  Vorher 
wollte  er  von  einem  Verkehr  mit  Frauen  nichts  wissen!  Solche  Fälle 
—  wohlgemerkt  ohne  jede  Behandlung  —  werden  in  homosexuellen 
Zirkeln  lebhaft  besprochen  und  als  große  Neuigkeit  verbreitet.  Es 
wird  über  den  „Abtrünnigen"  wie  über  den  Verräter  an  einer  heiligen 
Sache  losgezogen,  er  wird  aus  dem  Zirkel  verbannt,  ausgestoßen. 
Anathema  sit !  Die  Fälle  sind  nicht  selten.  Sie  werden  aber  den  Ärzten 
gegenüber  gerne  verschwiegen  und  die  homosexuellen  Ärzte  konsta- 
tieren sofort,  daß  es  sich  nur  um  eine  „P  s  e  u  d  o  homosexualität"  ge- 
handelt habe.  Ein  „echte  r"  Homosexueller  wäre  so  etwas  nicht 
imstande.  Leider  tragen  die  homosexuellen  Ärzte  am  meisten  zur  Ver- 
wirrung der  Frage  bei.  Sie  sind  Partei  und  Richter  zugleich,  wollen 
objektiv  sein,  haben  sich  strenge  geprüft  usw.  0  —  diese  Kenner 
der  eigenen  Seelen!  Was  habe  ich  nicht  alles  erlebt  mit  diesen  Kennern, 
die  sich  einbilden,  ihr  eigenes  Innere  erforscht  zu  haben !  Wer  einmal 


x)  Berlin  1886,  Verlag  August  Hirschwald. 
Stekel,  Störungen  des  Trieb-  und  Affoktlobens.  II.  2.  Aufl.  17 


258  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Gelegenheit  gehabt  hat,  einen  Psychanalytiker  zu  analysieren,  der 
wird  immer  wieder  erstaunt  sein  über  diese  Blindheit  den  eigenen 
Einstellungen  gegenüber.  Die  Psychanalyse,  an  anderen  geübt,  hindert 
nicht,  daß  man  sich  gründlich  verkennt.  Ich  habe  Dutzende  von 
Analytikern  analysiert  und  fand  das  bezeichnende  Wort  vom  „ana- 
lytischen Skotom".  Jeder  ist  für  die  Komplexe  bei  sich  und  bei  anderen 
blind,  die  er  noch  nicht  bewältigt  hat.  Der  homosexuelle  Arzt  ist  für 
seinen  Zustand  auch  blind  und  darf  nie  und  nimmer  Zeuge  sein,  ob 
die  Homosexualität  erworben  oder  angeboren  ist. 

Es  gibt  Zustände,  in  denen  der  Vorhang,  der  die  inneren  Ein- 
stellungen, die  Verdrängungen  und  Verschiebungen,  die  Metamorphosen 
und  Verkehrungen  verhüllt,  von  stärkeren  Gewalten  bei  Seite  geschoben 
wird  und  wir  auch  die  Kräfte  sehen,  die  hinter  den  Kulissen  des  Be- 
wußtseins walten.  Solche  Zustände  sind  Zeiträume,  in  denen  die 
Hemmungen  aufgehoben  werden.  Der  Wahnsinn  läßt  uns 
mitunter  Wahrheiten  sehen,  welche  die  Vernunft 
scheu  verbirgt.  Auch  der  Alkohol  kann  die  Schleier 
zerreißen,  welche  den  inneren  Menschen  verbergen.  > 
Es  ist  schon  vielen  Ärzten  aufgefallen,  daß  Menschen,  die  ganz  hetero- 
sexuell eingestellt  sind,  nie  an  Homosexualität  dachten,  im  Rausche 
homosexuelle  Delikte  begingen,  die  ihnen  im  wachen  Zustande  ganz 
unbegreiflich  waren.  Ich  hatte  einen  Lehrer  zu  begutachten,  der  sich 
in  einem  Rauschzustande  —  das  erste  Mal  in  seinem  Leben  —  an 
einem  Knaben  vergriffen  und  ihn  zur  Unzucht  verleitet  hatte.  Er  war 
so  unglücklich,  als  er  erwachte,  hatte  eine  so  tiefe  Reue,  daß  er  sich 
das  Leben  nehmen  wollte  und  mit  Mühe  abgehalten  werden  konnte,  sich 
selbst  dem  Gerichte  zu  stellen.  Er  fiel  aber  einer  Denunziation  zum 
Opfer.  Es  gelang  mir  zu  erwirken,  daß  die  Untersuchung  mangels 
sicherer  Beweise  niedergeschlagen  wurde.  Ausschlag  gaben  sein  tadel- 
loses Vorleben  und  die  Bestätigung,  daß  er  ein  großer  Damenfreund 
war  und  sich  nie  für  Männer  und  Knaben  interessiert  hatte.  Ich  habe 
ja  schon  darauf  hingewiesen,  daß  sich  unter  den  Alkoholabstinenten 
und  Temperenzlern  eine  ganze  Menge  finden,  welche  den  Alkohol 
fürchten,  da  er  die  Hemmungen  aufhebt  und  verdrängte  Gelüste 
aggressionsfähig  macht. 

J.  E.  Colla  hat  in  der  „Vierteljahrschrift  für  gerichtliche  Medizin 
und  öffentliches  Sanitätswesen"  (Dritte  Folge,  Bd.  31,  1906)  „Drei 
Fälle  homosexueller  Handlungen  in  Rauschzuständen"  publiziert. 

Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  um  einen  29jährigen  Alkoholiker, 
der  schon  Unsummen  für  Dirnen  und  Bachanalien  ausgegeben  hatte; 
nach  einer  längeren  Abstinenzperiode  in  einem  Sanatorium  betrinkt  er 
sich,  wird  von  einem  Homosexuellen  verführt  und  versucht  bald  darauf 


Homosexualität  und  Alkohol.  2i)'J 

in  angetrunkenem  Zustande,  einen  Knecht  zu  attackieren.  Immer  wieder 
Rezidiven,  wenn  er  berauscht  ist.  Im  nüchternen  Zustande  hetero- 
sexuelle Ausschweifungen.  Ein  deutlicher  Beweis  für  die  Richtigkeit 
meiner  Ausführungen  über  die  Zusammenhänge  von  latenter  Homo- 
sexualität und  Satyriasis.  Im  zweiten  Fall  wird  eine  beherrschte  Homo- 
sexualität im  Rausche  übermächtig.  Auch  der  dritte  Fall  das  gleiche 
Bild:  Ein  37]ähriger  protestantischer  Geistlicher,  Alkoholiker,  verliert 
im  Rausche  die  Selbstbeherrschung  und  erregt  in  einem  Pissoir  durch 
unzüchtige    Handlungen    öffentliches    Ärgernis. 

Numa  Praetorius,  der  ausgezeichnete  Kenner  der  Homosexualität, 
berichtet:  „In  vielen  Fällen  kommen  unter  dem  Einfluß  des  Alkohols 
homosexuelle  Handlungen  vor.  So  z.  B.  kenne  ich  einen  homosexuellen 
früheren  Polizeikommissär,  der  im  Rauschzustand  auf  heterosexuelle 
Kameraden,  die  ihn  reizen,  homosexuelle  Angriffe  macht,  obgleich  er 
die  homosexuelle  Welt  und  viele  Homosexuelle  kennt  und  auch  im 
nüchternen  Zustande  mit  Leuten,  vor  denen  er  sicher  ist,  verkehrt.  Er 
hat  infolge  dieser  Berührungen  heterosexuelle  Kameraden  im  Rausch 
nicht  nur  seine  Stellung  als  Polizeikommissär,  sondern  auch  später 
infolge  ähnlicher  Vorkommnisse  eine  gute  Stelle  in  einer  Fabrik  ver- 
loren. Ein  anderer  dreißigjähriger  homosexueller  Kaufmann  erleidet  im 
Rauschzustande  eine  ganz  erhebliche  Steigerung  seines  Triebes,  auch  er 
hat  sich  schon  an  irrige  Adressen  in  diesem  Zustande  gewendet.  Nicht 
mit  Unrecht  hat  man  behauptet,  daß  im  Rausch  das  wahre  Wesen 
eines  Menschen  sich  offenbart,  jedenfalls  entpuppt  sich  in  der  Trunken- 
heit die  wahre  Geschlechtsnatur,  nachdem  die  gewohnten  Hemmungen 
wegfallen.  Gerade  hier  gilt :  in  vino  veritas."  (Jahrbuch  f ,  sex.  Zwischen- 
stufen, Bd.  8.) 

Diese  Fälle  zeigen  mit  Ausnahme  des  ersten  nur  eine  Verstärkung 
des  sonst  beherrschten  homosexuellen  Triebes.  Aber  es  kommt  sehr 
häufig  vor,  daß  Heterosexuelle  im  Rausche  ihre  erste  homosexuelle 
Aggression  ausführen. 

So  bemerkt  Praetorius  an  anderer  Stelle: 

„Wie  aus  verschiedenen  veröffentlichten  Biographien  und  auch  aus 
mehreren  mir  mündlich  mitgeteilten  Fällen  hervorgeht,  zeigen  sich 
manche  junge  Leute,  die  sonst  anscheinend  ganz  normal  fühlen  und 
jedenfalls  verkehren,  im  Rausche  mit  Vergnügen  und  anscheinend  mit 
mehr  als  pseudo-homosexuellem  Fühlen  zu  gleichgeschlechtlichem  Ver- 
kehr geneigt.  Ihre  eigentliche  heterosexuelle  Natur  wird  aber  durch 
diesen  gelegentlichen  gleichgeschlechtlichen  Verkehr,  ja  durch  dieses 
gelegentliche  Fühlen  nicht  geändert." 

Hugo  Deutsch1)  hat  einen  sehr  instruktiven  Fall  publiziert,  der 
keineswegs  ein  Unikum  darstellt,  wie  der  Autor  meint,  auf  den  wir 
aber  an  dieser  Stelle  hinweisen  wollen. 

Fall  Nr.  35.  „Ein  39  Jahre  alter,  intelligenter  Arbeiter  wendet  sich 
an  die  Fürsorgestelle  für  Trinker  um  Rat  und  Auskunft.    Er  habe  als  Kind 


a)  Alkohol  und  Homosexualität.  Wiener  klin.  Wochenschr.,  1913,  Nr.  3. 

17* 


260  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

schwere  Rachitis  durchgemacht,  begann  erst  im  Alter  von  vier  Jahren  zu 
gehen;  habe  in  späteren  Knaben-  und  Jünglings  jähren  stark  onaniert,  später 
gelegentlich  mit  Mädchen  verkehrt;  seit  zwei  Jahren  Bei  er  verheiratet, 
habe  zwei  Kinder.  Bis  auf  kleine  Unfälle  habe  er  keine  Erkrankungen  durch- 
gemacht. Im  Alkoholgenusse  sei  er  sehr  mäßig,  pflege  hie  und  da  anläßlich 
einer  Vereinssitzung  oder  Versammlung  einen  halben  bis  einen  Liter  Bier 
zu  trinken.  Er  werde  dadurch  immer  stark  sexuell  erregt,  und  zwar 
fühle  er  dabei  immer  das  Gelüste,  sich  an  jugendliche 
männliche  Personen  anzudrücken1)  und  deren  Genitale 
zu  betasten.  Er  habe  diesem  Verlangen  immer  widerstehen  können,  bis 
er  auf  dem  Heimweg  von  einer  Vereinssitzung,  bei  der  er  wieder  zwei  Glas 
Bier  getrunken,  einem  jungen  Burschen  begegnete,  den  er  einlud,  mit  ihm 
in  ein  Gasthaus  zu  gehen,  wo  er  ihm  ein  Glas  Bier  zahlte  und  unter  dem 
Tische  dessen  Genitale  betastete.  Ein  Gast  bemerkte  dies,  machte  einen 
Wachmann  aufmerksam,  der  ihn  verhaftete.  Er  war  darüber  in  großer  Ver- 
zweiflung, bloß  der  Gedanke  an  die  Frau  und  die  Kinder  habe  ihn  ab- 
gehalten, einen  Selbstmord  zu  begehen.  Er  lebe  seither  vollkommen  abstinent, 
da  er  die  Gefahr  auch  mäßigen  Alkoholgenusses  für  sich  erkannte.  Im 
nüchternen  Zustande  ist  seine  Libido  nur  auf  das  Weib  gerichtet,  er  habe 
sogar  „Abscheu"  und  „Widerwillen"  gegen  homosexuelle 
Geschlechtsbetätigung.  Wann  zum  ersten  Male  nach  Biergenuß 
diese  „Gelüste"  aufgetreten  sind,  kann  er  sich  nicht  erinnern.  Die  Familien- 
anamnese ist  in  dieser  Hinsicht  belanglos,  sein  Aussehen  nicht  weibisch." 
Deutsch  glaubt,  daß  es  sich  um  einen  Fall  von  Bisexualität  handelt, 
die  zum  Vorschein  kommt,  wenn  durch  den  Genuß  mäßiger  Alkoholdosen 
die  vorhandenen  Hemmungen   aufgehoben  werden. 

Auch  Hirschfeld  hat  einige  einschlägige  Beobachtungen  gemacht 
(1.  c.  S.  209) .  Er  erwähnt  den  Fall  eines  Regierungsassessors,  der  nach 
einer  „schweren  Sitzung"  an  Kaisers  Geburtstag  einen  Bäckerjungen 
attackierte;  ferner  den  Fall  eines  anscheinend  ganz  heterosexuellen 
Oberlehrers,  der  sich  nach  einer  großen  Kneiperei  an  einem  Kellner 
'  vergriffen  hatte.  Er  teilt  auch  ein  Gutachten  mit,  das  er  über  einen 
Offizier  ausstellte,  der  nach  einem  Kneipgelage  von  seinem  Burschen 
verlangte,  er  solle  ihm  ein  Klistier  verabreichen,  und  der  ihn  zu  einem 
homosexuellen  Verkehr  aufforderte.  In  seinem  Gutachten  findet  Hirsch- 
feld diese  Aufforderung,  wenn  sie  wirklich  stattgefunden  habe,  als  im 
Widerspruche  stehend  zu  der  ganzen  Persönlichkeit  und  plädiert  für 
Freispruch,  da  sich  der  Beschuldigte  zur  Zeit  der  geschilderten  Vor- 
gänge im  Zustande  einer  krankhaften  Veränderung  seines  Geistes  be- 
funden habe.  Wir  werden  aber  in  diesen  Tatsachen  Beweise  der  Bi- 
sexualität aller  Menschen  sehen,  auch  für  den  Durchbruch  einer 
latenten  Homosexualität  nach  Wegfall  der  Hemmungen  plädieren. 

*)  Auch  Krafft-Ebing  erwähnt  einen  jungen  Mann,  der  seine  erste  homosexuelle 
Aggression  im  Rausche  ausführte.  Ein  Mann,  der  bisher  immer  im  Lupanar  reüssiert 
hatte,  greift  im  angeheiterten  Zustande  6einem  Freunde  an  die  Genitalien,  sie  mastur- 
bieren  einander  .  .  .  und  er  ist  seither  ein  Homosexueller. 


Homosexualität  und  Alkohol.  261 

Eine  erschöpfende,  meisterhafte  Darstellung  dieser  Frage  hat 
uns  Otto  Juliusburger  in  seinem  Aufsatze  „Zur  Psychologie  des  Al- 
koholi^mus"1)  gegeben.  Dieser  Autor  berichtet,  daß  er  in  Fällen 
von  Dipsomanie  deutlich  den  Durchbruch  un- 
bewußter Homosexualität  beobachten  konnte,  und 
führt  in  geistreicher  Weise  die  Beziehungen  des  Alkohols  zur  Homo- 
sexualität aus. 

Juliusburger  beschreibt  den  Fall  eines  Dipsomanen,  bei  dem  die 
homosexuelle  Liebe  zum  Onkel  in  den  Perioden  des  Trinkens  in 
äußerst  durchsichtiger  Weise  auftrat.  In  diesen  Perioden  hatte  der 
Kranke  das  Bedürfnis,  Herren,  und  zwar  nur  Herren  freizuhalten  und 
ihnen  alles  zu  bestellen,  was  sie  wünschten,  —  „offenbar  ein  Symbol, 
um  seine  Liebe  zu  bezeugen".  „Eine  Quelle  der  Angst  und  Unruhe", 
sagt  Juliusburger,  „welche  den  sogenannten  dipsomanischen  Anfall 
einleiten  oder  ganz  an  seine  Stelle  treten,  erblicke  ich  in  dem  Kampfe 
und  den  intrapsychischen  Spannungen  der  psychosexuellen  Komponenten 
des  Individuums."  Über  die  Ansichten  Juliusburgere,  bezüglich  des  Zu- 
sammenhanges von  Eifersuchtswahn  der  Alkoholiker  und  Sadismus 
werde  ich  noch  einmal  in  dem  Kapitel  „Homosexualität  und  Eifersucht" 
zurückkommen. 

Viel  interessanter  für  unsere  Untersuchungen  ist  der  Umstand, 
daß  die  Homosexuellen  im  Rausche  leicht  zu  heterosexuellen  Akten  zu 
bringen  sind.  Natürlich  nicht  alle,  aber  die  Tatsache  als  solche  ist 
nicht  zu  leugnen.  Es  lassen  sich  ja  auch  nicht  alle  Heterosexuellen 
im  Rausche  zu  homosexuellen  Handlungen  hinreißen.  Oft  sind  die 
Hemmungen  viel  stärker  als  die  Macht  des  Alkohols. 

Ich  habe  zirka  hundert  Homosexuelle  über  die  Gelegenheiten 
ausgefragt,  wann  sie  mit  einem  Weibe  verkehrt  haben.  Viele  zögerten 
erst  mit  der  Antwort,  doch  konnte  ich  immerhin  einen  sehr  großen 
Prozentsatz  konstatieren.  Einige  gaben  mir  die  Antwort:  „Das  ist 
mir  nur  möglieh,  wenn  ich  mir  einen  Rausch  antrinke."  Oder:  „Ich 
bin  einmal  im  Rausche  von  einem  Mädchen  verführt  worden."  Man 
darf  überhaupt  nicht  glauben,  daß  die  Homosexuellen  den  Frauen  gegen- 
über impotent  sind.  Es  gibt  mehr  Bisexuelle  unter  ihnen,  als  sie  ein- 
gestehen wollen,  weil  sie  ja  gerne  vor  dem  Forum  und  zu  ihrer  Ent- 
schuldigung anführen,  es  wäre  der  Verkehr  mit  einer  Frau  absolut  un- 
möglich. Ich  habe  einen  kleinen  Fragebogen  in  Wiener  homosexuellen 
Kreisen  zirkulieren  lassen  und  auch  diese  Frage  gestellt.  Viele  be- 
kennen Abscheu  vor  dem  Weibe,  viele  nur  ein  platonisches  Verhältnis, 
aber   es   kommen   auch   Antworten  vor,   wie:   „Ich  habe  in   meinem 


*)  Zentralblatt  für  Pßychoanalyse  und  Psychotherapie,  III.  Bd.,  S.  1. 


262  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

34.  Lebensjahre  mit  einer  Frau  verkehrt,  hatte  dabei  Lustempfindung, 
bin  aber  nach  vier  Monaten  wieder  ausschließlich  homosexuell."  Oder: 
„Ich  verkehre  hie  und  da  mit  Frauen."  Ferner:  „Ich  kann  nach  langer 
persönlicher  Zuneigung  auch  mit  einem  Weibe  verkehren."  Ein  anderer: 
„Ich  habe  einmal  mit  einem  Weibe  verkehrt  und  ganz  angenehme  Emp- 
findungen erlebt,  habe  aber  seither  keine  Reprise  folgen  lassen."  -- 
„Seinerzeit  verkehrt,  jetzt  nicht  mehr."  —  Kein  Versuch.  Vermutlich 
beim  Weibe  impotent."  —  „Verkehr  früher  angenehm.  Allmählich 
schwand  der  Reiz,  daher  Verkehr  jetzt  absolut  unmöglich."  —  „Bi- 
sexuell" —  betont  ein  Anderer  lakonisch.  Mindestens  ein  Viertel 
meiner  bewußt  Homosexuellen  sind  eigentlich  Bisexuelle  mit  nach- 
träglicher Korrektur  der  Bisexualität  aus  Ursachen,  die  wir  bald  be- 
sprechen werden.1) 

Doch  betrachten  wir  den  nächsten  Fall.  Er  zeigt  uns  ganz  deut- 
lich, wie  unter  dem  Einfluß  des  Alkohols  heterosexuelle  Tendenzen 
bei  einem  Homosexuellen  auftreten  und  wie  andrerseits  unter  dem 
Drucke  der  Gefahr  die  heterosexuelle  Betätigung  durch  Übung  immer 
mehr  Libido  in  das  heterosexuelle  Strombett  leitet: 

Fall  Nr.  36.  Herr  D.  S.,  ein  35jähriger  Beamter,  ist  schon  seit  15  Jahren 
ausschließlich  homosexuell.  Der  Vater  starb,  als  er  7  Jahre  alt  war.  Er 
erinnert  sich  nur  dunkel  an  ihn.  Die  Mutter  war  immer  sehr  streng  und 
sehr  energisch,  außerordentlich  nervös,  mußte  öftere  in  Sanatorien  gehen. 
Er  gibt  an,  seit  der  Kindheit  nur  homosexuell  empfunden  zu  haben.  Er 
interessierte  sich  nur  für  Knaben,  wurde  von  seiner  Mutter  immer  weiblich 
erzogen.  Er  begann  sehr  früh  zu  onanieren  und  trieb  schon  mit  12  Jahren 
mit  Kameraden  mutuelle  Päderastie.  Mit  17  Jahren  versuchte  er  es  mit 
D-.rnen.  Er  war  nicht  gleich  potent,  sie  mußten  ihn  erst  lange  reizen,  dann 
hatte  er  einen  Genuß,  der  nicht  stark  war,  wohl  weil  er  sich  immer  wieder 
an  die  Geschlechtskrankheiten  erinnern  mußte,  die  er  in  einem  Panoptikum 
in  Wachs  gesehen  hatte.  Auch  dachte  er  immer  an  die  Mutter 
und  was  sie  sagen  würde,  wenn  sie  das  wüßte.  Zu  dieser 
Zeit  bis  zu  dem  21.  Jahre  verkehrte  er  in  monatlichen  Perioden  mit  Dirnen. 
Dann  verliebte  er  sich  in  seinen  Chef,  der  ein  außerordentlich  schöner  Mann 
war.  (Er  liefert  eine  schwärmerische  Schilderung  seines  ersten  Ideals.   Dieser 

*)  Interessant  ist  auch  der  Fall  eines  Gymnasialprofessors,  der  im  Depressions- 
zustande homosexuell  und  im  Exaltationszustande  eines  Morphiumrausches  heterosexuell 
fühlte  (Hirschfeld).  Es 'gibt  Menschen,  welche  zwei  Leben  führen,  die  mit  einander 
alternieren:  ein  homosexuelles  und  ein  heterosexuelles.  Es  ist,  als  ob  sie  ewig  auf  der 
Suche  nach  dem  bisexuellen  Ideal  wären.  Auch  Krafft-Ebing  (Jahrbuch  für  sexuelle 
Zwischenstufen,  Bd.  III)  beschreibt  eine  Hysterische,  welche  sich  jedesmal,  wenn  ihre 
Neurose  in  einem  Sanatorium  gebessert  wurde,  zu  Männern  hingezogen  fühlte,  während 
sie  im  Stadium  der  Krankheit  homosexuell  fühlte.  Was  heißt  das  anderes,  als  daß  im 
Stadium  der  Neurose  die  heterosexuellen  Triebkräfte  verdrängt  wurden?  Denn  trotz 
reichlicher  gleichgeschlechtlicher  Befriedigung  erlitt  sie  die  schwersten  Anfälle  von 
Hysterie,   während  nach  Besserungen  die  Liebe  zu    Männern  erwachte. 


Homosexualität  und  Alkohol.  263 

Schilderung  ist  nicht  zu  trauen.   Denn  die  Photographie  seines  letzten  Ideals, 
von  ihm  als  Adonis  gepriesen,  zeigt  das  trottelhafte,  stumpfe,  eher  häßliche 
Gesicht  eines  Kanoniers.)  Dieser  Chef  war  ein  Homosexueller,  der  ihn  leicht 
verführte  und  auch  in  die  homosexuellen  Kreise  einführte.    Nun  wurde  er 
sich  erst  seines  Zustandes  bewußt  und  verkehrte  nur  mit  reifen,  wohlaus- 
gebildeten Männern.    Er  habe  einen  feinen  Geschmack  und  nicht  jeder  Mann 
könnte  ihm  gefallen.   (Dabei  zeigt  er  mir  stolz  die  oben  erwähnte  Photo- 
graphie des  Soldaten.)  Leider  sei  ihm  das  Unglück  passiert,  daß  er  in  einem 
Park  überrascht  wurde,  als  er  das  Glied  eines  Kutschers  in  die  Hand  nahm. 
Er  sei  jetzt  in.  strafgerichtlicher  Untersuchung.    Er  wäre  glücklich,  wenn 
er  wieder  zur  alten  Befriedigung  zurückkehren  könnte.    Auf  die  Frage,  ob 
er  in  der  ganzen   Zeit  von  22—35  Jahren  nicht  mit  Frauen  verkehrt  habe, 
wird  er  verlegen  und  gesteht,  daß  es  einige  Male  vorgekommen  sei,  daß 
er  aber   immer  berauscht  gewesen  wäre.     Im   nüchternen   Zu- 
stande sei  es  ihm  nie  passiert.    Und  nach  jedem  Verkehr  mit  einem  Frauen- 
zimmer habe  er  einen  solchen   Katzenjammer,   daß  ihm   seine  eigene 
Mutter,    der    er    immer    all"es    anvertraut-  habe,    geraten 
habe,     mit     Männern     zu     verkehren,     da     sie     die     Beob- 
achtung  gemacht    hatte,    daß    er    sich    nachher    ganz    er- 
frischt   fühle,    während    er    nach    seinen    Besuchen    im 
Bordell    einige    Tage    melancholisch    war.     Ich  brauche  er- 
fahrenen   Analytikern    nicht    zu    betonen,    daß    die    Mutter    ihre    Eifersucht 
anderen   Frauen   gegenüber  auf  diese  Weise  mißbraucht  hat,  um  den   Sohn 
auf  homosexuelle  Bahnen  zu  leiten.   Sie  war  auf  Männer  niemals  eifersüchtig: 
Das  war  ja  etwas  anderes.  (Dies  Vorkommnis  ist  nicht  so  selten.   Mir  sagte 
die   Mutter  eines   Homosexuellen:     Ich    bin   nie   eifersüchtig,   wenn    0.  einen 
neuen  Freund  hat,  obwohl  er  sie  alle  schwärmerisch  liebt.    Den  Gedanken, 
daß  er  sich  einer  Frau  hingibt,  könnte  ich  nicht  ertragen.)  D.  S.  aber  ge- 
horchte den  Ratschlägen  seiner  Mutter.    Er  sagt:  „Ich  habe  dann  aufgehört 
zu  trinken  und  wurde  ein  fanatischer  Homosexueller." 

Da  der  Kranke,  ein  hoher  Staatsbeamter,  leicht  seine  Stelle  verlieren 
konnte,  empfahl  ich  ihm,  nur  mit  Frauen  zu  verkehren  und  konnte  ihn  mit 
Hinsicht  auf  die  Tendenz,  sich  behandeln  zu  lassen,  aus  den  Fangarmen  der 
Justiz  befreien.  Er  versuchte  es  mit  Frauen,  immer  nach  einer  kleinen  Dosis 
Alkohol,  und  es  ging  immer  besser,  so  daß  er  schließlich  heiratete  und 
zwar  eine  Frau,  die  um  20  Jahre  älter  war  als  er.  Diese  Frau  war  ein 
Ersatz  seiner  Mutter!  Nähere  Erklärungen  über  die  Psychologie  ähnlicher 
Fälle  folgen  später.  Ich  wollte  nur  auf  die  Wirkung  des  Alkohols  aufmerk- 
sam machen.  Der  Alkohol  ermöglichte  ihm  das  Ausleben  in  heterosexuellen 
Bahnen. 

In  dem  letzten  Falle  wurde  der  heterosexuelle  Akt  erst  durch 
Aufhebung  von  Hemmungen  möglich.  Solche  Kräfte  wirken  auch  bei 
der  bekannten  Morgenerektion  der  psychisch  Impotenten  mit.  Homo- 
sexuelle haben  des  Morgens  auch  heterosexuelle  Träume,  an  die  sie 
sich  meist  nicht  erinnern  können  oder  —  wollen.  Ich  möchte  hier  nur 
erwähnen,  daß  die  Traumarbeit  in  jeder  Nacht  eine  Aufhebung  der 
Hemmungen  besorgt  und  daß  diese  Hemmungen  erst  am  Morgen  ganz 
überwunden  sind.    Die  Träume  der  ersten  Schlafstunden  sind  immer 


264 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


reicher  an  Hemmungen,  die  als  „Warnungen"  auftreten,  die  gegen  den 
Morgen  zu,  werden  immer  hemmungsärmer.  (Der  Traum  des  Onanisten 
den  ich  hier  ausführlich  mitgeteilt  habe,  ist  ein  schönes  Beispiel  von 
Überwindung  der  Hemmungen  imcLaufe  der  Nacht.    Vgl.  Fall  Nr  33 
S.  237.)  Deshalb  hört  man  oft  von  „echten  Homosexuellen",  sie  hätten 
erst  gegen  Morgen  die  Möglichkeit,  mit  einem  Weibe  zu  verkehren 
■Da  sind  eben  alle  Hemmungen,  welche  zwischen  ihnen  und  dem 
Weibe  liegen,  mehr  oder  weniger  aufgehoben.    Hirschfeld  faßt  aber 
diese  unleugbare  Tatsache  ganz  anders  auf: 

Mnr„  "^ucl;  die  Gliedschwellungen,  mit  welchen  viele  Männer  in  den 
Morgenstunden  erwachen,  haben  nichts  mit  dem  Geschlechts  t  r  i  e  b  zu 
tun   sondern  Sind  durch  die  Druckreize  der  gefüllten  Harnblase  bedingt. 

auf  dT?^  v  f  u  e„.mi(?  einmal  ein  verheirateter  Homosexueller 
auf,  der  sechs  Kinder  hatte,  das  siebente  stand  zu  erwarten.  Ich  fragte 
ihn  wie  dies  möglich  gewesen  wäre.  „Das  ist  doch  so  einfach,"  bemerkte 
FriiÄw6  ^T^^ein,  „ich  benütze  stets  meine 
Fruherektionen.     Diese  Kinder  verdanken  also  nicht  dem  Geschlechts- 

]^L7d7n><der  TT*?  Harnblase  des  Vaters  ihr  Leben"  AÄ 

sa/en  dnßt"  *  höchstwahrscheinlich   nur   „Diuretika";     das  will 

bezu"'  £f  t  5f  rmee'  r1CÜeS  f ,nige  NahrunSs-  ™d  Arzneimittel  in 
bezug  auf  die  Forderung  der  geschlechtlichen   Potenz  genießen    ihrem 

•  trSSEäfw  ZUZUSChreiben  ^  *™  M-kte  nCÄ 
„Ähnlich  wirken  auch  die  alkoholischen  Getränke,  welche,  in  nicht 
zu  großen  Mengen  genossen,  den  Geschlechtstrieb  aufstacheln.  Die 
JLxme  in  Baccho  und  Venere  werden  ja  seit  altersher  als  zusammen- 
gehörig betrachtet.  Es  kommt  hier  allerdings  hinzu,  daß  der  Alkohol 
die  Kratt  der  Gegenvorstellungen  herabsetzt,  während  er  die  Sinnes- 
scharfe zu  vermindern  scheint.  So  erklärt  es  sich,  daß  Heterosexuelle 
gelegentlich   angeben,  sie  hätten  unter  Alkoholeinfluß  mit  dem  Manne 

IS*       <?(J1S0SeXLlie1,1?'  Sie  könnten  angetrunken  mit  dem  Weibe 
verkehren."  (Hirschfeld  1.  c.  S.  189.) 

Mir  ist  aber  diese  Tatsache,  daß  die  Homosexuellen  im  trunkenen 
Zustande  sich  auch  heterosexuell  betätigen  können,  ein  Beweis  ihrer 
^Sexualität,  ein  Beweis,  daß  sie  die  heterosexuelle  Komponente  ihres 
Geschlechtstriebes  verdrängt  haben. 

Über  die  unsinnige  Hypothese  der  Morgenerektionen  auf  Grund 
der  gefüllten  Blase  werde  ich  im  Buche  über  Impotenz  etwas  ausführ- 
licher sprechen.  Ich  glaube  nicht  an  die  Blasensteife.1)  Tatsache 
ist  aber,  daß  der  Traum  so  lange  arbeitet,  bis  die 
vorhandenen  psychischen  Hemmungen  aufgehoben 
sind.     Der    Patient   Hirschfelds   kann    nur   des    Morgens    koitieren, 

9  Vergleiche  meine  Arbeit  „Die  psychische  Impotenz  des  Mannes".    Zeitschrift 
für  Sexualwissenschaft,  1916,  und  die  Ausführungen  in  Band  IV. 


Homosexualität  und  Alkohol.  265 

weil  er  bei  Tag  und  des  Abends  unter  der  Herrschaft  von  Hemmungen 
steht,  die  ihn  dem  Weibe  gegenüber  impotent  machen. 

Daß  diese  Impotenz   nicht  immer   Schwäche  darstellt,   beweist 
der  nächste  Fall. 

Fall  Nr.  37.  Herr  G.  H.,  ein  homosexueller  Arzt,  teilt  mir  mit,  daß  er 
aus  Angst  vor  kriminellen  Delikten,  Alkoholabstinenz  einhalte.  Er  sei  schon 
seit  der  Kindheit  homosexuell,  habe  nie  zu  einem  Weibe  eine  Hinneigung 
empfunden.  Onanie  seit  dem  9.  Lebensjahre.  Sie  entstand,  als  ihn  einmal 
•ein  Onkel  auf  die  Schultern  hob.  Er  hatte  dabei  ein  starkes  Lustgefühl  und 
begann  bald  an  seinen  Genitalien  zu  reiben,  während  er  sich  vorstellte,  daß 
er  vom  Onkel  oder  einem  anderen  Manne  getragen  werde.  Nie  habe  er  den 
Wunsch  gehabt,  sich  von  einem  Weibe  tragen  zu  lassen.  Das  würde  ihm 
erniedrigend  und  gemein  vorkommen.  Seine  Versuche  im  Bordell,  die  er  in 
der  Zeit  von  19  bis  24  vorgenommen,  scheiterten  alle  an  seinem  Ekel  vor 
den  käuflichen  Weibern.  Vielleicht  hätte  er  mit  einem  besseren  Mädchen 
einen  Koitus  zusammenbringen  können,  eine  gewisse  Scheu  habe  ihn  ver- 
hindert, sich  den  Mädchen  zu  nähern.  Gebildete  emanzipierte  Mädchen  seien 
ihm  em  Greuel!  Er  hatte  mit  einem  Kollegen  längere  Zeit  ein  Verhältnis. 
Koitus  inter  femora.  Im  28.  Jahre  nach  einem  Zechgelage  sei  er  einem 
Madchen  begegnet,  mit  dem  er  ins  Hotel  gegangen  sei.  Dort  sofort  heftige 
Erektion  und  Koitus.  Mit  Eintreten  des  Orgasmus  hatte  er 
das  Verlangen,  das  Mädchen  zu  erdrosseln.  Ein  furchtbarer 
Haß  gegen  das  unschuldige  Wesen  stieg  in  ihm  auf.  Er  eilte  so  rasch  als 
möglich  davon.  Er  glaubt,  er  wollte  sich  rächen,  daß  sie  ihn  durch  den 
Koitus  erniedrigt  habe. 

Wir  merken  eine  sadistische  Einstellung  zur  Frau,  die  sich  hinter 
der  Scheu  vor  Frauen  verbirgt.  Er  fürchtet  sich  selbst,  fürchtet  seine 
kriminellen  Instinkte.  Bei  diesem  Falle  spielen  Probleme  aus  dem 
Kampf  der  Geschlechter  (aus  dem  instinktiven  Geschlechtshaß  des 
Mannes  gegen  das  Weib)  eine  Rolle.  Wir  wollen  die  Bedeutung  dieser 
Einstellung  später  ausführlich  besprechen.  Wir  sehen  in  diesem  Fall 
den  Durchbruch  einer  heterosexuellen-sadistischen  Triebkraft  unter  dem 
Einflüsse  von  Alkohol  hervortreten.  Es  ist,  als  hätte  der  Alkohol  die 
Sicherungen  gelöst,  welche  das  Bewußtsein  gegen  die  sadistischen 
Triebe  errichtet  hatte. 

Wie  interessant  ist  erst  der  Fall,  den  uns  Moll  in  seinem  Werke 
„Die  konträre  Sexualempfindung"  (3.  Auflage)  mitteilt!  Ich  lasse  ihn 
hier  im  Auszuge  folgen,  weil  er  für  unser  Thema  bedeutsame  Momente 
enthält. 

Fall  Nr.  38.  Fräulein  X.  ist  26  Jahre  alt.  Ihren  Vater  schildert  die 
Patientin  als  einen  gesunden,  aber  sehr  jähzornigen  Mann.  Bereits 
im  Alter  von  5  Jahren  hat  die  X.  mit  einem  kleinen  Knaben 
sexuelle  Handlungen  vorgenommen.  Sie  gibt  geradezu  an,  sie  hätte  ein  Ver- 
hältnis mit  dem  damals  4  Jahre  alten  Jungen  gehabt.  Die  Händlungen  be- 
standen in  mutuellem  Kunnilingus.    Im  Alter  von  6  Jahren  wurde  die 


266 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


X.  in  die  Schule  geschickt  und  kam  hier  bald  mit  kleinen  Mädchen  in  sehr 
intimen  Verkehr.  Mit  mehreren  derselben  hat  sie  in  gleicher  Weise  wie  mit 
dem  Knaben  durch  gegenseitigen  Kunnilingus  sexuell  verkehrt.  Von 
dem  Augenblick  an,  wo  sie  mit  den  Mädchen  zusammen  war,  war  die  hetero- 
sexuelle Neigung  bei  der  X.  geschwunden ;  sie  hat  mit  einem  Knaben  niemals 
mehr  in  der  geschilderten  Weise  verkehrt.  Wir  werden  sehen,  daß  sie  sich 
später  gelegentlich  von  erwachsenen  Männern  gebrauchen  ließ;  aber  es  wird 
sich  dabei  ergeben,  daß  nur  ein  heterosexueller  Akt  stattfand,  ohne  daß 
geschlechtliche  Zuneigung  bestand.  Im  12.  Lebensjahre  trat  bei  der  X.  die 
Periode  ein.  In  der  damabgen  Zeit  verkehrte  sie  viel  mit  den  Kindern  einer, 
befreundeten  Familie,  die  eine  Erzieherin  hatten,  mit  der  sie,  die  X.,  sehr 
bald  ein  intimes  Verhältnis  anknüpfte.  Die  X.  wurde  von  der  Erzieherin 
veranlaßt,  mit  ihr  sexuelle  Handlungen,  besonders  den  Kunnilingus, 
vorzunehmen,  so  daß  bald  die  eine,  bald  die  andere  den  aktiven  Teil  bildete. 
Bei  diesem  Verkehr  wurde  die  X.,  'soweit  sie  sich  erinnert,  zum  erstenmal 
geschlechtlich  befriedigt.  Das  Verhältnis  zwischen  beiden  dauerte  längere 
Zeit.  —  Nun  unterscheidet  sich  Fräulein  X.  von  gewöhnlichen  Tribaden  da- 
durch, daß  sie  auch  andere  Arten  der  Befriedigung  liebt.  Sie  kam  sehr  bald 
dazu,  nicht  nur  an  den  Genitalien,  sondern  auch  an  dem  Anus  feminarum 
ämatarum  lambere.  Widerlich  wäre  ihr  der  Gedanke,  bei  einem  Mann 
einen  solchen  Akt  auszuführen.  Ebenso  wie  wir  ferner  wissen,  daß  es  ein- 
zelne perverse  Männer  gibt,  die  sich  urinam  feminae  dileetae  in 
os  proprium  immittere  lassen,  ebenso  finden  wir,  daß  Fräulein  X. 
bei  sich  von  einem  anderen  Mädchen  dasselbe  gern  tun  läßt.  Schon  vor  einer 
Reihe  von  Jahren  ist  die  X.  dazu  gekommen,  faeces  amicao  in  os 
proprium  iniieere  zu  lassen;  hierbei  wird  sie  sexuell  bis  zu  Wol- 
lustgefühl und  Erguß  befriedigt.  Die  Ausführung  solcher  Handlungen  hat 
sie  zuerst  während  des  mehrjährigen  Verhältnisses  ausgeübt,  das  sie  mit 
dem  oben  erwähnten  Mädchen  Y.  hatte.  Einen  großen  Reiz  übt  es  auch  auf 
die  X.  aus,  wenn  sie  sanguinem  .menstruationis  amicae 
lambit  et  devorat;  doch  fügt  sie  hinzu,  daß  sie  diese  ekelhaften 
Handlungen  nur  dann  ausüben  könnte,  wenn  das  gegenseitige  Vertrauen 
vollständig  ist  und  das  Verhältnis  schon  längere  Zeit  gewährt  hat.  Die 
Patientin  erzählt  ferner,  daß  sie  auch,  wenn  sie  mit  der  Rute  geschlagen 
wird,  sexuell  erregt  wird.  Auf  die  Frage,  wie  sie  darauf  gekommen  ist, 
erwiderte  sie,  sie  kannte  einen  Herrn,  der  'sich  von  seinem 
früheren  Verhältnis  mit  der  Rute  schlagen  ließ.  Die 
Schläge,  die  ihr  zugefügt  werden,  müssen  aber  unbedingt  von  einem  Weibe 
herrühren,  wenn  sie  sieh  sexuell  erregen  soll.  Sie  hat  sieh  sehr  oft  von 
ihrer  Freundin,  mit  der  sie  auch  die  oben  erwähnten  ekelhaften  Handlungen 
ausführte,  flagellieren  lassen.  Es  sei  noch  kurz  erwähnt,  daß  bei  dem  gegen- 
seitigen Küssen  Fräulein  X.  es  sehr  liebt,  sich  von  ihrer  Freundin  beißen  zu 
lassen,  und  zwar  am  liebsten  ins  Ohrläppchen.  Es  kann  hierbei  soweit  kommen, 
daß   Schmerzempfindung   eintritt  und   das   Ohrläppchen  stark   anschwillt. 

Es  ist  notwendig,  genauer  das  Verhältnis  von  Fräulein  X.  zum  männ- 
lichen Geschlecht  zu  erörtern.  Sie  erinnert  sich  nicht,  daß 
sie  jemals  eine  wahre  Neigung  zu  einem  Manne  gehabt 
liat.  Wohl  aber  wurde  sie  auf  einer  Gesellschaft  nach 
einem  längeren  Weingelage  von  einem  Manne  verleitet, 
bei  ihm  zu  schlafen.    Sie  hatte  sich  schon  immer  gewundert,  daß  sie 


Homosexualität  uiid  Alkohol.  og- 

kcine  Neigung  zum  männlichen  Geschlecht  empfand,  und  der  Wunsch,  hier- 
über Klarheit  zu  erhalten  und  gleichzeitig  ihr  vom  Trinken  herbeigeführter 
Rauschzustand  führte  sie  dazu,  jene  Nacht  mit  dem  Manne  zu  verbringen. 
InJessen  hatte  sie  bei  dem  Koitus  keinerlei  Vergnügen.  Einige  Zeit  darauf 
näherte  sich  ihr  ein  anderer  Herr,  der  sich  in  sie  verliebte,  ohne  daß  sie 
auch  nur  im  geringsten  die  Neigung  erwiderte.  Trotzdem  wollte  sie 
noch  einmal  versuchen,  ob  sie  nicht  Neigung  für  einen 
Mann  erwerben  könnte.  Sie  ließ  sich  daher  von  jenem  Mann  ver- 
leiten, mit  ihm  einige  Male  geschlechtlich  zu  verkehren;  indessen  weiß  sie 
noch  genau,  daß  der  Koitus  auch  nicht  die  Spur  einer  Aufregung  bei  ihr 
herbeiführte.  Die  X.  veranlaßte  nun  diesen  Mann,  den  Kunnilingus  mit 
ihr  auszuführen.  Hierbei  wurde  sie  sexuell  erregt  und  befriedigt;  doch  ohne 
nähere  Frage  gibt  sie  an,  es  sei  unbedingt  bei  ihr  notwendig  gewesen,  sich 
in  der  Phantasie  vorzustellen,  daß  der  den  Kunnilingus  machende 
Mann  ein  Weib  sei ;  denn  sonst  hätte  sie  auch  bei  dem  Kunnilingus 
eine  Befriedigung  nicht  gehabt.  Die  oben  geschilderten  ekelhaften 
Handlungen  mit  einem  Manne  vorzunehmen,  wären  der  X. 
im    höchsten   Grade   widerwärtig.  (Moll,  1.  c.  S.  565.) 

Dieser  Fall  erscheint  mir  höchst  bemerkenswert.  Er  unterstützt 
meine  Ausführungen  über  die  Wirkung  des  Alkohols  bei  den  Homo- 
sexuellen. Fräulein  X.  verschleiert  die  Tatsache  und  meint,  es  wäre 
der  Wunsch  gewesen,  sich  Klarheit  zu  verschaffen,  ob  sie  keine  Neigung 
zum  männlichen  Geschlechte  habe.  Das  Fehlen  des  Orgasmus  im  Ver- 
kehr mit  dein  ersten  Manne  beweist  uns  höchstens,  daß  die  Hemmungen 
auch  durch  den  Alkohol  nicht  aufgehoben  wurden.  Schließlich  läßt  sie 
sich  noch  ein  zweites  Mal  verleiten  und  empfindet  auch  beim  Kunni- 
lingus des  Mannes.  Interessant  ist  ferner  der  Umstand,  daß  ihr  erstes 
Erlebnis  mit  einem  Knaben  spielte.  Es  entspricht  das  vollkommen 
meinen  Erfahrungen.  Auch  son,st  spielt  der  Mann  bei  ihr  eine  größere 
Rolle,  als  sie  sich  eingestehen  will.  Auf  die  Flagellation  kommt  sie, 
weil  sie  einen  Herrn  kannte,  der  sich  von  seinem  früheren  Verhältnis 
schlagen  ließ.  Die  Beziehung  dieser  Paraphilie  zum  strengen,  jäh- 
zornigen Vater  ist  ziemlich  durchsichtig.  Ihre  mysophilen  Akte  an 
Frauenzimmern  zeigen,  daß  sie  sich  dem  Manne  nicht 
unterwerfen  will,  daß  sie  aber  die  Unterwerfung 
unter  eine  Frau  als  eine  Huldigung  an  ihr  eigenes 
Geschlecht  auffaßt.  Näheres  über  diese  merkwürdige  Ein- 
stellung wird  in  meinem  Werke  über  Masochismus  abgehandelt  werden. 
Die  anderen  Handlungen  zeigen  einen  sexuellen  Infantilismus,  wie  er 
in  so  „polymorph-perverser"  Form  wohl  selten  beobachtet  werden  kann. 

Auch  Fleischmann1)  führt  einige  Fälle  an,  in  denen  die  homo- 
sexuelle Verführung  im  Rausche  stattfand.   Er  schildert  aber  auch  den 


J)  Beiträge  zur  Lehre  von  der  konträren   Sexualempfindung.     Zeit6chr.  f.  Psych 
u.Neurol.,  Bd.  VII,  1911. 


268 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Fall  eines  Homosexuellen,  der  im  Rausche  mit  Frauen  verkehren  kann. 
„Mit  28  Jahren,"  erzählt  der  Autor,  „betrat  ich  zum  ersten  Male  ein 
Bordell  und  konnte,  durch  feurige  Weine  angeregt,  ein  Mädchen  ein- 
mal koitieren;  im  nüchternen  Zustande  hätten  mich  keine  20  Pferde 
in  das  Lusthaus  gebracht!"  meint  der  Urning.  Aber  immer  wieder 
gelingt  ihm  nach  Alkoholgenuß  ein  Koitus. 

Wir  sehen,  daß  der  Zwang,  sich  zu  berauschen,  offenbar  die  Folge 
eines  unbefriedigten  Triebes  ist.  Immer  wieder  bestätigen  die  Er- 
fahrungen der  Analyse,  daß  fast  jede  Sucht,  sich  zu  betäuben  und  zu. 
berauschen,  eine  unbefriedigte  Sexualität  verrät.  Unter  den  Alkoho- 
listen, Morphinisten,  Kokainisten  finden  sich  immer  die  stark  Para- 
philen  und  Bisexuellen,  welche  eine  Komponente  ihres  Geschlechts- 
triebes unterdrückt  haben.  Ebenso  wird  jeder  unbefangene  Beobachter 
die  gleichen  Erfahrungen  bei  den  Homosexuellen  machen,  die  ja  meiner 
Ansicht  nach  auch  Bisexuelle  mit  unterdrückter  heterosexueller  Kom- 
ponente sind.  Ich  kann  Näcke1)  nicht  zustimmen,  wenn  er  behauptet, 
daß  der  Urning  an  sich  nur  wenig  trinkt  und  selten  Säufer  werde. 
Auch  nicht,  daß  in  homosexuellen  Kreisen  eine  durchschnittliche 
Mäßigkeit  herrscht.  Gewiß,  ich  kenne  auch  viele  mäßige  Homosexuelle, 
aber  das  Material,  das  ich  beobachtet  habe  und  das  mir  aus  den  Be- 
richten objektiver  Ärzte  vorliegt,  spricht  eine  andere  Sprache. 

Wie  vieles  von  dem,  was  sich  im  Rausche  vollzieht,  kommt  nie 
zur  allgemeinen  Kenntnis!  Vielleicht  haben  die  infantilen  Erlebnisse 
mit  trunkenen  Eltern  eine  größere  Bedeutung  in  der  Psychogenese  der 
Homosexualität,  als  wir  zur  Zeit  ahnen  können! 

Hie  und  da  kommt  es  vor,  daß  sich  alkoholisierte  oder  patho- 
logische Eltern  an  ihren  Kindern  vergreifen.  Daß  noch  merkwürdige 
Sitten  in  der  Erziehung  der  Kinder  existieren,  habe  ich  in  der  Kinder- 
stube beobachten  können.  Mir  berichtete  ein  Patient,  daß  seine  Mutter 
bis  zu  seinem  sechsten  Lebensjahre  die  Gewohnheit  hatte,  mit  seinem 
Penis  zu  .spielen.  Auch  seine  Frau  pflege  auf  diese  bequeme  Weise  das 
unruhige  Kind  zur  Ruhe  zu  bringen.  Es  sei  ein  unfehlbares  harmloses 
Mittel. 

Fall  Nr.  39.  Herr  T.  Z.,  ein  homosexueller  Chemiker,  der  sich  für 
Psychanalyse  theoretisch  interessiert,  schreibt  mir:  „Vielleicht  ist  der  Bei- 
trag, den  ich  Ihnen  liefern  kann,  für  Sie  von  irgend  einem  Nutzen.  Ich  habe 
oft  darüber  nachgedacht,  ob  Traumen  auf  die  Entwicklung  meiner  Sexualität 
einen  Einfluß  gehabt  haben  könnten.  Mir  fiel  aber  kein  Erlebnis  ein,  das 
ich  zu  meinem  Zustande  in  Verbindung  bringen  konnte.  Ich  habe  mich  schon 
sehr  früh  für  das  männliche  Glied  interessiert  und  dies  Interesse  ist  mir 
bis  heute  geblieben.    Schon  der  Anblick  eines  erigierten  Penis  genügt  mir, 


*)  Alkohol   und  Homosexualität.   Allg.  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  gerichtl.  Med,  Bd.  68. 


Homosexualität  und  Alkohol.  269 

um  die  höchste  Lust  hervorzurufen.  Auf  der  Straße  blicke  ich  immer  auf 
die  bewußte  Stelle  und  schätze  die  Größe  des  Gliedes,  beschäftige  mich 
damit  in  der  Phantasie.  Ich  habe  immer  vor  dem  Spiegel  onaniert  und 
dabei  meinen  Penis  beobachtet.  Es  hat  aber  sehr  lange  gedauert,  ehe  ich 
meine  Scheu  überwinden  konnte  und  Gesinnungsgenossen  suchte.  Vor  einigen 
Tagen  hatte  ich  einen  Traum,  in  dem  mir  mein  vor  zehn  Jahren  verstorbener 
Vater  erschien.  Er  war  der  beste  Mann  der  Welt,  leider  ein  Quartalsäufer. 
In  solchen  Zuständen  behandelte  er  die  Mutter  sehr  roh.  Nun  träumte  ich 
eine  Szene,  die  mich  so  erschreckte,  daß  ich  erwachte.  Ich  sah,  wie  mir  mein 
Vater  Membrum  erectum  in  die  Hand  gab!  Und  wie  ein  Blitz  fiel  es  mir 
ein,  daß  er  es  in  betrunkenem  Zustande  wiederholt  getan  hat.  Ich  hänge 
aber  mit  allen  Fasern  an  meiner  Mutter,  die  für  mich  das  Ideal  eines  Weibes 
ist,  das  ich  im  Leben  nie  mehr  finden  kann.  Sonst  gilt  meine  Liebe  nur 
dem  Manne,  und  zwar  dem  Manne  aus  dem  Volke.  Lösen  Sie  mein  Rätsel! 
Ich  fühle  mich  zu  ordinären  Kutschern,  zu  Menschen,  wie  man  sie  in  den 
Schnapsbuden  (!)  findet,  hingezogen.  Nur  ein  einziges  Mal  konnte  ich 
mit  einer  Dirne  verkehren.  Damals  war  ich  so  berauscht,  daß  ich  etwas  tat, 
was  ich  bei  Verstände  nie  hätte  ausführen  können  .  .  ." 

Ich  betone  noch  einmal:  Der  Durchbruch  heterosexueller  Regungen 
nach  Alkoholgenuß  beweist  uns  eben  das  Vorhandensein  dieser  Ten- 
denzen und  zeigt  uns,  daß  diese  heterosexuellen  Tendenzen  unter  ge- 
wöhnlichen Verhältnissen  einer  Sperrung  unterliegen.  Sie  sind  in  einem 
seelischen  Safe  aufbewahrt,  der  jedoch  unter  gewissen  Umständen  zu 
öffnen  ist.    Der  Alkohol  ist  mitunter  ein  alles  öffnender  Schlüssel. 

Interessant  ist  auch  die  Sublimierung,  welche  die  heterosexuelle 
Liebe  bei  den  Homosexuellen  erfährt.  Sie  bemühen  sich,  das  andere 
Geschlecht  zu  asexualisieren,  sind  aber  doch  zum  großen  Teil  auf 
heterosexuelle  Freundschaft  angewiesen.  Ich  kenne  eine  ganze  Reihe 
solcher  Homosexueller,  welche  mütterliche  und  schwesterliche,  ja  auch 
großmütterliche  Freundinnen  haben,  welche  ihnen  geradezu  unentbehr- 
lich sind.  Wir  Analytiker  kennen  die  Quelle  dieser  asexuellen  Emp- 
findungen. Sie  entstammen  einem  Verbot  und  sind  auch  die  Folge 
einer  Hemmung,  welche  allein  die  Sexualität  betrifft  und  die  sub- 
lim i  e  r  t  e  Erotik  passieren  läßt.  Man  findet  auch  unter  den  Homo- 
sexuellen viele  Weiberhasser. 

Sie  hassen  oft  alle  Frauen  mit  einer  einzigen  Ausnahme:  ihre 
Mutter..  Mitunter  ist  eine  Schwester,  eine  Tante,  eine  mütterliche 
Freundin  von  diesem  Hasse  ausgenommen.  Sie  betonen  dann  immer 
wieder:  Es  ist  eine  Ausnahme.  Allein  das  Gesetz  der  Bipolarität 
sagt  uns,  daß  neben  diesem  gewaltigen  Hasse  eine  ebenso  gewaltige 
Liebe  vorhanden  sein  muß.  Mitunter  verbirgt  sich  der  Haß  und  die 
Homosexuellen  posieren  Gleichgültigkeit.  Die  nähere  Analyse  zeigt  die 
falsche  Einstellung,  die  gespielte  Indifferenz  als  eine  Angst,  die  echte 
zu  verraten.   Hinter  der  Gleichgültigkeit  verbirgt  sich  eine  Angst  vor 


270 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


dem  Weibe,  hinter  der  Angst  kann  sich  wieder  die  sadistische  Ein- 
stellung zum  Weibe  verbergen.  So  schachtelt  der  Homosexuelle  seine 
Gefühle  in  einander,  verkehrt  sie,  verdreht  sie,  überträgt  sie  und 
dämpft  und  unterstreicht  sie,  bis  die  eigentliche  Einstellung  unkennt- 
lich wird.  *  Oberflächliche  Beobachter  notieren:  Herr  X.  haßt  die 
Frauen!  .  .  . 

Was  hinter  diesem  Weiberhaß  steckt,  hat  mit  aller  Schärfe  Bloch 
(1.  c.)  ausgesprochen.  Er  zitiert  den  berühmten  Frauenhasser  Euripides 
und  macht  dazu  eine  treffende  Erklärung.  Wir  lassen  dem  Autor 
das  Wort: 

„Im  „Jon",  „Hippolytos",  „Hekabe",  „Kyklops"  des  Euripides 
finden  sich  die  schärfsten  Ausfälle  gegen  das  weibliche  Geschlecht.  Am 
berühmtesten  ist  die  Stelle  aus  dem  „Hippolytos"  (Vers  602—637, 
650-655): 

„Was  hast  du  doch  der  Menschen  gleißend  Ungemach,  —  Die 
Frau'n,  o  Zeus,  an  dieses  Sonnenlicht  gebracht?  —  Trägst  du  Ver- 
langen, ein  Geschlecht  von  Sterblichen  —  Zu  schaffen,  sollten  diese 
nicht  vom  Weibe  sein;  —  Nein,  Männer  mußten,  wenn  sie  dir  des 
Eisens  Wucht,  —  Gold  oder  Erz  in  deinem  Tempel  dargebracht,  —  Nach- 
wuchs von  Kindern  aus  des  Gottes  Hand  dafür  —  Als  Gegengabe  nehmen, 
nach  dem  echten  Wert  —  Des  Dargebotenen  Jeder,  und  im  freien  Haus  — 
Als  Freie  wohnen  ohne  das   Geschlecht  der  Frau'n." 

„Da  haben  wir  schon  die  ganze  Quintessenz  der  modernen  Miso- 
gynie.  Aber  Euripides  verrät  uns  auch  ihren  letzten  Beweggrund. 
„Das  Unbezwinglichste  von  allen  ist  ein  Weib,"  sagt  er  in 
einem  Fragment.  Hinc  illae  lacrimae!  Nur  die  Männer  i  die  dem  Weibe 
nicht  gewachsen  sind,  die  es  nicht  als  freie  Persönlichkeit  auf  sich 
wirken  ließen,  die  so  wenig  ihrer  selbst  sicher  sind,  daß 
sie  vom  weiblichen  Wesen  eine  Einbuße,  Beeinträchtigung  oder  gar 
Vernichtung  der  eigenen  Individualität  befürchten,  nur  diese  sind  die 
echten  Weiberhasser."  (Bloch,  1.  c.  S.  533.) 

Wie  nahe  kommt  Bloch  hier  der  Lösung  des  Problems  und  wie 
deutlich- hat  er  schon  vor  Alfred  Adler1),  der  die  Homosexualität  auf 
die  Angst  vor  dem  geschlechtlichen  Partner  zurückführt,  diesen  Stand- 
punkt eingenommen!  Leider  zieht  er  nicht  die  weiteren  Schlüsse  aus 
dieser  richtigen  Beobachtung.2) 


l)  Das  Problem  der  Homosexualität.  München   1917. 

■)  Auch  Jakob  Kläsi  hat  in  einer  Arbeit  aus  der  Bleuler-Klinik  (Beitrag  zur 
Differentialdiagnose  zwischen  angeborener  und  hysteriform  erworbener  Homosexualität. 
Zeitschr.  f.  d.  ges.  Neur.  u.  Psych.,  1919,  Bd.  LH,  H.  1/3)  in  einer  Reihe  von  Fällen  als 
Ursache  der  Homosexualität  den  Impotenzkomplex,  also  Angst  vor  dem  Weibe,  entdeckt. 
Leider  unterscheidet  er  noch  angeborene  und  hysteriforme  Fälle.  Das  Verfahren,  das 
er  zur  Erforschung  anwendet,  stellt  eine  Kombination  von  vertiefter  Anamnese  mit 
Assoziationsexperimenten  dar  und  kann  die  durchdringende  Kraft  einer  wirklichen 
Analyse  nicht  ersetzen. 


Homosexualität  und  Alkohol.  271 

Haß,  Angst,  Ekel  und  Scham  sind  die  Hemmun- 
gen, welche  den  Homosexuellen  von  dem  geschlecht- 
lichen   Partner    abhalten. 

Betrachten  wir  zuerst  den  Ekel.  Wie  kommt  er  zustande?  Ich 
habe  in  den  „Angstzuständen"  darüber  ausführlich  berichtet.  Allein 
es  gibt  auch  einen  Ekel,  der  als  solcher  positiv  wirkt.  Ekel  muß  nicht 
immer  verdrängte  Begierde  sein!  Wenn  ich  heute  ein  Frauenzimmer 
sehe,  das  über  und  über  mit  Furunkeln  bedeckt  ist,  so  werde  ich  mich 
ekeln,  wenn  ich  erfahre,  daß  das  eine  alte  Tante  ist,  der  ich  einen  Be- 
grüßungskuß geben  soll.  In  diesem  Falle  kann  nur  der  Wahn  eines 
Überanalytikers  die  unterdrückte  Komponente  der  Libido  entdecken. 

Wir  wissen  aber,  daß  hie  und  da  die  Homosexualität  durch  Ein- 
drücke entstehen  kann,  welche  die  Abwehrreaktion  (Haß,  Angst,  Ekel 
und  Scham)  mobilisieren.  Diese  negativen  Kräfte  schützen  dann  das 
Individuum  gegen  ihre  eigenen  positiven  Tendenzen.  Der  Ekel  verbirgt 
die  Begierde,  der  Haß  die  Liebe,  die  Angst  das  Verlangen;  und  die 
Scham  —  die  Schamlosigkeit. 

Aber  der  Alkohol  kann  alle  Abwehrreaktionen  aus  negativen 
Werten  zu  positiven  machen.  Aus  dem  Ekel  wird  Begierde,  aus  dem 
Haß  Liebe,  aus  der  Angst  das  Verlangen  und  aus  der  Scham  die 
Schamlosigkeit.  Tritt  zu  dieser  Umwertung  in  das  Positive  noch  der 
furchtbare,  verdrängte  Sadismus  hinzu,  der  sich  nicht  zur  dauernden 
Liebe  gublimieren  konnte,  so  verwandelt  sich  der  gesittete  Kulturmensch 
in  den  Verbrecher,  der  uns  ja  nur  eine  Stufe  der  Entwicklung  der 
Menschheit  repräsentiert. 


Die  Homosexualität. 

vi. 

Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  — 

Einfluß  der  Traumen. 

Wären  nicht  die  Details  unseres  geschlechtlichen  Lebens  so  un- 
endlich mannigfaltig  und  läge  es  nicht  bei  den  meisten  Menschen  fast 
in  allen  wichtigen  Erscheinungen  und  Fragen  unterhalb  des  Bewußtseins, 
und  wäre  es  nicht  eine  Wesenheit  der  Liebe,  immer  wieder  die  Schleier 
des  Mysteriums  über  unsere  sexuellen  Empfindungen  zu  werfen,  so  daß 
allen  stark  empfindenden  unverdorbenen  Menschen,  namentlich  in  der 
wichtigen  Periode  der  Geschlechtsreife,  Zynismen  und  Ollenheiten  über 
das  geschlechtliche  Leben  sogar  als  unwahr  erschienen  (Frauen  und 
keusche  Jünglinge  sind  schon  beleidigt,  wenn  man  über  die  Liebe 
auch  nur  wissenschaftlich ,  anders  als  schwärmerisch,  allgemein  oder 
poetisch  metaphorisch  redet)  und  hätten  wir  nicht  endlich  mit  der 
großen  Heuchelei  und  Verlogenheit  der  Gesellschaft  in  erotischen  Dingen 
zu  rechnen ,  so  daß  sogar  die  Anormalen  und  Perversen  von  ihr  an- 
gesteckt werden,  die  es  gar  nicht  mehr  nötig  haben,  zu  lügen  und 
unwissend  zu  bleiben;  kurz,  könnten  wir  unsere  Erotik  in  seelischer 
und  körperlicher  Hinsicht  bis  zu  den  letzten  Zusammenhängen  ana- 
lysieren, dann  würden  wir  vielleicht  mit  Schauder  erfahren, 
einen  wie  kleinen  Bruchteil    unseres  Lebens    wir    unserem 

eigentlichen  Geschlecht  angehören. 

Leo  Berg. 

Die  spät  entstandene  Homosexualität  ist  vielleicht  am 
besten  geeignet,  unsere  Betrachtungen  über  die  Psychogenese  der 
Homosexualität  einzuleiten  und  uns  zu  den  schwierigen  komplizierten 
Fällen  zu  führen. 

Es  gibt  in  der  Tat  eine  Reihe  von  Fällen,  in  denen  die  Homo- 
sexualität durch  Ekel  vor  dem  anderen  Geschlechte  zu  entstehen 
scheint.  In  diesem  Sinne  fassen  viele  Autoren  die  Entstehung  der 
Homosexualität  bei  den  Prostituierten  auf.  So  bemerkt  Bloch  über 
die,ses  Thema: 

„Die  von  Natur  heterosexuellen  Prostituierten  werden  nun  aus  zwei 
Gründen,  homosexuell.  Erstens  durch  den  Verkehr  und  den  Einfluß  ihrer 
echt  lesbischen  Gefährtinnen,  den  das  innige  Solidaritätsgefühl  aller 
Prostituierten  noch  besonders  verstärkt.  Zweitens  durch  den  mit  der  Zeit 
sich  immer  tiefer  einwurzelnden,  aus  den  Lebenserfahrungen 
geschöpften    Widerwillen    gegen  den  Verkehr  mit  Männern, 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  27 '6 

den  sie  nur  in  seiner  brutalen  Geschlechtsroheit  kennen  lernen.  Der 
ständige  Zwang,  die  tierische  Sinnlichkeit  blasierter  Lebemänner  durch 
die  ekelhaftesten  Prozeduren  befriedigen  zu  müssen,  flößt  ihnen  schließ- 
lich einen  unüberwindlichen  Widerwillen  gegen  das  männliche  Geschlecht 
ein,  so  daß  sie  alle  zärtlicheren  Gefühle,  die  sie  hegen,  dem  eigenen 
Geschlechte  zuwenden.  Die  homosexuelle  Verbindung  erscheint  ihnen, 
wie  Eulenburg  mit  Recht  bemerkt  (Sexuale  Neuropathie,  S.  143—144), 
als  etwas  „Höheres,  Reineres  und  Unschuldigeres",  in  einem  idealeren 
Licht  als  der  Geschlechtsverkehr  mit  Männern."   (Bloch,  1.  c.  S.  603.) 

Auch  Krafft-Ebing  (Neue  Studien  1.  c.)  ist  der  gleichen  Ansicht 
und  meint,  daß  sich  „viele  Prostituierte  von  großer  Sinnlichkeit,  an- 
gewidert von  dem  Umgang  mit  perversen  oder  impotenten  Männern, 
von  denen  sie  zu  abscheulichen  geschlechtlichen  Handlungen  mißbraucht 
werden,  zu  sympathischen  Personen  des  eigenen  Geschlechtes  flüchten''. 

Ich  habe  schon  bei  der  Besprechung  der  Messalina  darauf  hin- 
gewiesen, daß  es  die  latente  Homosexualität  ist,  welche  die  Frauen 
zu  Dirnen  macht.  Sie  flüchten  vor  der  Frau  in  die  Orgie  mit  Männern, 
in  eine  Reihe  von  Männern.  Sie  hoffen,  durch  die  Quantität  zu  er- 
setzen, was  die  Qualität  nicht  leisten  kann.  Wir  haben  viel  mehr  Grund, 
anzunehmen,  daß  jene  Frauen  Dirnen  werden,  die  stärker  nach  der 
homosexuellen  Seite  tendieren.  Das  mag  auch  nur  für  die  Mehrzahl, 
nicht  für  alle  Fälle  gelten.  Denn  es  gibt  Dirnen,  welche  sich  mit  allen 
Fasern  ihrer  Seele  an  den  Geliebten  (den  Zuhälter)  schließen  und  nur 
bei  ihm  Orgasmus  empfinden,  während  sie  in  den  Armen  aller  anderen 
Männer  kalt  bleiben.  Hie  und  da  mag  auch  der  Mechanismus  ins  Ge- 
wicht fallen,  den  Bloch  und  Krafft-Ebing  annehmen.  Bei  schon  vor- 
handener ausgesprochener  Neigung  zur  Homosexualität  wird  der  durch 
verschiedene  Umstände  hervorgerufene  Ekel  leichter  als  Hemmung  für 
die  Hetero Sexualität  wirken  können,  i 

Das  sehen  wir  aus  den  Krankengeschichten  der  Homosexuellen. 
Häufig  stoßen  wir  auf  die  Angabe,  daß  die  Männer  oder  auch  Frauen 
nach  einer  Infektion,  besonders  nach  einer  Gonorrhöe,  homosexuell 
werden.  Die  Angst  vor  der  Infektion  spielt  auch  in  der  Psychogenese 
der  Homosexualität  eine  große  Rolle.1) 

Krafft-Ebing  erwähnt  (Über  tardive  Homosexualität  usw.)  den 
Fall  eines  27jährigen  Mannes,  der  mit  19  Jahren  nach  7jähriger  ex- 


*)  Es  ist  nicht  richtig,  daß  die  Homosexuellen  keiner  Infektionsmöglichkeit  aus- 
gesetzt sind.  Ich  untersuchte  einen  homosexuellen  Apotheker,  der  6ich  in  Venedig  eine 
schwere  Gonorrhöe  des  Anus  geholt  hatte.  Er  gestand  mir,  daß  er  auch  andere  Männer 
infiziert  hatte,  weil  er  sich  geärgert  hatte,  daß  er  so  hereingefallen  war.  Im  großen 
und  ganzen  sind  aber  Infektionen  viel  seltener  als  beim  heterosexuellen  Verkehr,  was 
auch  mit  der  Art  der  Befriedigung,  bei  der  ja  die  anale  Copulatio  eigentlich  selten 
vorkommt,   zusammenhängt. 

Stokol,  Störungen  des  Trieb-  und  Affolttlebens.  II.    2.  Aufl.  18 


274 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


zesßiver  Onanie  zu  Weibern  ging  und  mit  Genuß  koitierte.  Nach 
einer  Gonorrhöe  stellte  sich  ein  solcher  Ekel 
vor  dem  Weib  ein,  daß  er  im  Lupanar  impotent  war. 
Alte  homosexuell-masochißtische  Phantasien  erwachten  wieder,  und  er 
erlag  bald  der  Verführung.1)  Ich  verweise  besonders  auf  den  Umstand, 
daß  dieser  Mann  im  Verkehr  mit  Frauen  Orgasmus  erzielen  konnte. 
Trotzdem  war  dann  das  Erlebnis  von  solcher  Bedeutung,  daß  es  die 
Abwehrreaktionen  der  heterosexuellen  Triebe  durch  einen  intensiven  Ekel 
verstärken  konnte.  (In  anderen  Fällen  tritt  dann  ein  Ekel  vor  den 
Dirnen  auf,  und  der  Mann  sehnt  sich  nach  einem  gesunden  Weibe.) 
Die  Infektion  wird  oft  die  Wurzel  eines  fanatischen  Frauenhasses, 
ohne  daß  es  zur  Entwicklung  einer  manifesten  Homosexualität  kommt.2) 
Der  nächste  Fall   eigener  Beobachtung  gehört  in   diese   Gruppe: 

Fall  Nr.  40.  Herr  I.  P.,  ein  39jähriger  Ingenieur,  stellt  sich  mir  als 
ein  typischer  Angstneurotiker  vor.  Er  kann  sein  Zimmer  nicht  verlassen, 
muß  sich  überallhin  von  einem  Wärter  begleiten  lassen.  Lebt  seit  10  Jahren 
abstinent,  nachdem  er  das  Unglück  hatte,  eine  sehr  schwere  Lues  bei  einer 
sogenannten  „anständigen  Frau"  zu  akquirieren.  Seit  diesem  Erlebnis  be- 
herrscht ihn  ein  fanatischer  Frauenhaß.  Er  liest  mit  Vorliebe  Strindberg, 
schwärmt  für  Weininger  und  hat  die  Broschüre  von  Möbius:  „Der  physio- 
logische Schwachsinn  des  Weibes"  in  eine  fremde  Sprache  übersetzt.  Vor 
der  homosexuellen  Betätigung  hat  er  keinen  Ekel,  aber  er  behauptet,  sie 
hätte  für  ihn  keinen  Reiz.,  Die  Analyse  zeigt,  daß  die  Angstzustände  als 
Sicherung  gegen  einen  homosexuellen  Akt  auftreten.  Nach  der  Lues  war 
er  im  Begriffe,  homosexuell  zu  werden.  Gegen  diese  Triebrichtung  schützt 
er  sich  nun  durch  allerlei  Abwehrmaßregeln.  Der  Weg  zum  Weibe  ist  durch 
Ekel  und  Haß  vollkommen  versperrt.  Die  Heilung  der  Angstzustände  war 
nicht  allzu  schwer.  Nach  einigen  Jahren  traf  ich  ihn  als  verheirateten  Mann. 
Er  hatte  eine  Frau  geheiratet,  die  um  10  Jahre  älter  war  als  er  und  sich 
durch  einen  absoluten  Mangel  jeder  Weiblichkeit  auszeichnete.  Er  ist  in 
der  Ehe  vollkommen  potent,  behauptet  Orgasmus  zu  haben  und  glaubt,  er 
hätte  noch  einen  größeren  Orgasmus,  wenn  er  nicht  ein  Kondom  benützen 

)  Ich  möchte  auch  betonen,  daß  die  erBte  homosexuelle  Betätigung  oft  nach  den 
Zwanzigern  eintritt,  wenn  wir  von  den  Akten  der  mutuellen  Befriedigung  zwischen 
Knaben  und  Mädchen  absehen,  die  bei  keinem  Menschen  —  mit  geringen  Ausnahmen  — 
in  der  Kindheit  fehlen.  Zwischen  kleinen  Kindern  (4—8  Jahren)  ist  homosexuelle  Be- 
tätigung sehr  häufig,  dann  scheint  bei  manchen  eine  kurze  Latenzzeit  zu  kommen.  In 
der  Zeit  von  10—15  Jahren  machen  fast  alle  Knaben  und  alle  Mädchen  ihre  homo- 
sexuelle Liebe  (entweder  nur  platonisch  oder  grob  sexuell)  durch.  Nach  der  Pubertät 
gibt  es  Schwankungen;  Individuen,  die  später  homosexuell  werden,  betätigen  sich  noch 
heterosexuell,  machen  allerlei  Versuche  und  ziehen  Bich  dann  wegen  Impotenz  oder 
einem  unangenehmen  heterosexuellen  Erlebnis  (Infektion,  Paternitätsklage  usw.)  auf  die 
Homosexualität  zurück. 

2)  Bloch  hat  bekanntlich  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  der  Antifeminismus 
und  der  Pessimismus  von  Schopenhauer  auf  eine  in  der  Jugend  überstandene  Syphilis 
zurückzuführen  sind. 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  275 

würde.  Er  will  als  Luetiker  keine  kranken  Kinder  in  die  Welt  setzen. 
Er  zieht  den  Coitus  a  posteriori  und  den  Situs  inversus  vor  und  begründet 
das  in  theoretischer  Weise  wegen  des  Baues  der  weiblichen  Genitalien  .  .  . 

Über  den  Zusammenhang  zwischen  sexueller  Infektion  und  Homo- 
sexualität gibt  uns  auch  eine  Beobachtung  von  Fleischmann*)  deut- 
liche Aufklärungen.    Es  handelt  sich  um  eine  Urlinde. 

Fall  Nr.  41.  Uneheliches  Kind.  Vater  starker  Trinker.  Wurde  schlecht 
erzogen,  vernachlässigt  und  geschlagen.  War  schon  in  der  Jugend  arbeits- 
scheu und  diebisch.  Gefängnis.  Arbeitshaus.  „Mit  16  Jahren  mußte  ich 
mein  Brot  selbst  verdienen.  Meine  erste  Stellung  war  im  Restaurant  als 
Biermädchen.  Dort  lernte  ich  Herrn  X.  kennen,  der  mir  meine  Unschuld  raubte 
und  mich  geschlechtskrank  machte.  Im  Krankenhaus  sah  und  hörte 
ich  alles  mögliche.  Von  der  Stunde  an  arbeitete  ich  nichts  mehr.  Die  Jahre 
vergingen  abwechselnd,  gekämpft  mit  Not  und  Elend;  Gefängnis.  Arbeits- 
haus, Dunkelarrest.  Im  Arbeitshaus  legten  sich  fast  alle  Mädchen  nachts 
zusammen  und  von  der  Zeit  an  konnte  mich  kein  Mann  mehr  interessieren. 
Ich  verkehre  nur  mit  Mädchen,  die  hübsch  sind.  Seit  einem  Jahr  bin  ich 
Prostituierte  —  meistens  betrunken,  um  zu  vergessen,  was  aus  mir  ge- 
worden und  welcher  krankhaften  Zuneigung  ich  verfallen  bin." 

Das  erste  sexuelle  Erlebnis  des  armen  Mädchens  eine  Infektion! 
Dann  erfolgte  die  homosexuelle  Verführung  und  das  heterosexuelle 
Strombett  verödet.  (Die  schon  einmal  betonte  Homosexualität  der 
Prostituierten.)  Auch  der  Alkoholismus,  offenbar  um  ihre  Sehnsucht 
nach  wahrer  Liebe  zu  betäuben.  Daß  der  Haß  gegen  den  Vater  eine 
Rolle  spielen  muß,  daß  dieser  gegen  den  Trinker  und  den  Mann,  der 
sie  als  Bastard  in  die  Welt  setzte,  leicht  auf  a  1 1  e  Männer  überspringt, 
ist  ja  einleuchtend. 

Auch  die  beiden  Fälle  aus  der  Beobachtung  von  Ziemke'-) 
sprechen  eine  deutliche  Sprache. 

Fall  Nr.  42.  Künstler.  Wurde  im  Alter  von  16  bis  17  Jahren  von 
einem  Verwandten  zur  Onanie  verführt,  die  er  ein  Jahr  lang  regelmäßig 
wöchentlich  einmal  ausübte.  Mit  18  Jahren  zum  erstenmal  Verkehr  mit  dein 
nnderen  Geschlecht,  wobei  er  sich  eine  Gonorrhöe  holte,  später  noch 
einmal  Koitus  mit  einer  Prostituierten:  niemals  Interesse  für  das  weibliche 
Geschlecht,  dagegen  hatte  er  schon  alß  9jähriger  Junge  Gefallen  am  Anblick 
der  Genitalien  von  Männern,  bekam  dabei  Erektion.  Die  ersten  sexuellen 
Träume  waren,  wie  er  sicher  angibt,  homosexuellen  Inhaltes  und  blieben 
auch  später  so.  Hat  später  wiederholt  sexuellen  Verkehr  mit  anderen  Männern 
gehabt,  fühlte  sich  immer  frisch  und  lebendig  danach,  dagegen  hatte  er 
einen  Ekel  vor  dem  normalen  Geschlechtsakt.  Sein  Sexualobjekt  waren 
Männer  mittleren  Alters.    Kennt   die  Literatur  über  Homosexualität. 


1)  Beiträge    zur    Lehre    der    konträren    Geschlechtsempfindung.     Zeitschr.  f.  d.  ges. 
Neurol.  u.  Path.,  1911. 

'•)  Zur  Entstehung   sexueller   Perversitäten    und   ihrer  Beurteilung   vor   Gericht. 
ArchiT  f.  Psychiatrie,  Bd.  51,  1913. 

18* 


276  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Fall  Nr.  43.  Früherer  Offizier,  38  Jahre  alt,  die  Mutter  soll  nervös  ge- 
wesen sein.  Als  Kind  auffallend  schüchtern,  zurückhaltend  gegen  Alters- 
personen und  Fremde.  Auf  dem  Gymnasium  zweimal  sitzen  geblieben,  ging 
mit  dem  Primanerzeugnis  ab,  besuchte  die  Fähnrichspresse  und  bestand  das 
Offiziersexamen.  Wurde  wegen  Mißbrauchs  der  Dienstgewalt  nach  einigen 
Jahren  aus  dem  Heere  entlassen,  ging  nach  Südwest-Afrika,  wurde  Farmer 
und  Frachtenfahrer  und  beteiligte  sich  als  Freiwilliger  an  verschiedenen 
kleinen  Aufständen. 

Die  ersten  sexuellen   Erregungen   traten  im   12.  Jahre  ein,  bis  dahin 
will  er  überhaupt  von  geschlechtlichen  Dingen  noch  nichts  gewußt  haben. 
Damals  hatte  er  ein  Erlebnis,  das  seine  Aufmerksamkeit  zum  ersten  Male  auf 
das  Geschlechtsleben  lenkte;   er  spielte  mit  seiner  jüngeren  Schwester  und 
einem  10jährigen  Vetter  Menagerie  und  saß  dabei  auf  dem  Rücken  des  Vetters. 
Als  er  anfing,  in  unbändiger  Weise  auf  dessen  Rücken  Reitbewegungen  zu 
machen,  merkte  er,. daß  ihm  das  Glied  steif  und  er  vorn  naß  wurde,  wobei 
er  angenehmes  Gefühl  hatte.  Von  der  Bedeutung  des  Vorganges  hatte  er  keine 
Ahnung,  schämte  sich  aber,  anderen  etwas  davon  zu  erzählen.  Sehr  bald  ver- 
suchte er,  ähnliche  Situationen  absichtlich  herbeizuführen;  wenn  ihm  dies  ge- 
lang,  suchte  er  auch  die  Ejakulation  zu  erreichen.   Er  versicherte,  daß  er 
damals  weder  zu  seinem  Vetter,  an  dem  allein  er  seinen  Trieb  befriedigte, 
noch  zu  anderen  Männern  oder  Knaben  eine  besondere  Zuneigung  empfunden 
habe,  es  sei  ihm  lediglich  darauf  angekommen,  die  Ejakulation  hervorzurufen. 
Erst  später,  während  seiner  Gymnasialzeit,  wo  er  Gelegenheit  fand,  sich  in 
gleicher  Weise  zu  befriedigen,  habe  er  an  einem  Altersgenossen,  einem  kräftigen 
und  hübschen  Jungen,  Gefallen  gefunden  und  von  nun  an  mehr  und  mehr  den 
geschlechtlichen  Vorgang  mit  der  Person  des  passiven  Teils  in  Beziehung  ge- 
bracht. Schon  als  er  den  Knaben  kennen  lernte,  habe  sich  ihm  die  Vorstellung 
aufgedrängt,  daß  er  an  ihm  gern  seinen  Geschlechtstrieb  in  der  ihm  eigen- 
tümlichen Weise  befriedigen  möchte.  Unter  irgend  einem  Vorwand  habe  er  sich 
beim  Spielen  auf  den  Rücken  des  Freundes  gesetzt  und  Reitbewegungen  ge- 
macht, bis  Ejakulation  erfolgte.  In  der  Folge  fand  er  sehr  häufig  Gelegenheit, 
mit  Altersgenossen  in  der  von  ihm  gewünschten  Weise  zu  verkehren.    Nach 
Alkoholgenuß  war  es  ihm  besonders  schwer,  seinen  Trieb  zu  zügeln; 
so  kam  es,  daß  er  sich  häufiger  mit  Soldaten  einließ  und  eines  Tages  angezeigt 
wurde,  was  zu  seiner  Dienstentlassung  führte.    Um  sich  von  seiner  unnatür- 
lichen Neigung  zu  heilen,  knüpfte  er  ein  Verhältnis  mit  einem  Mädchen  an, 
verkehrte  auch  einige  Male  ohne  Genuß  in  normaler  Weise  mit  ihr,  indem 
er  sich  die  ihm  gewohnte  Situation  bei  Männern  vorstellte,  und  holte  sich  dabei 
eine  Gonorrhöe.    Er  ging  dann  nach  Südwestafrika,  konnte  aber  auch 
dort  nicht  Herr  seines  Triebes  werden,  verging  eich  wiederholt  an  jungen 
Hottentotten  und  wurde  schließlich  zu  Gefängnis  verurteilt  und  aus  dem  Lande 
gewiesen. 

In  diesem  Falle  scheint  die  Gonorrhöe  der  heterosexuellen 
Periode  ein  Ende  gemacht  zu  haben. 

Aus  meinen  Sprechstunden  erinnere  ich  mich  noch  einiger  Fälle, 
in  denen  die  Homosexualität  nach  einer  Gonorrhöe  aufgetreten  war.  Ich 
besitze  darüber  keine  ausführlichen  Aufzeichnungen.  Es  gab  nämlich 
eine  lange  Zeit,  in  der  ich  an  die  angeborene  Homosexualität  im  Sinne 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  277 

Hirschfelds  glaubte  und  alle  derartigen  Patienten  zurückwies  und  mich 
mit  ihnen  nicht  analytisch  beschäftigte.  Damals  stand  ich  in  homo- 
sexuellen Kreisen  als  ihr  Vertrauensmann  in  großem  Ansehen.  Seit  ich 
gelerot  habe,  daß  die  Homosexuellen  bisexuelle  Neurotiker  mit  ver- 
drängter Heterosexualität  sind,  ist  der  Zulauf  solcher  Menschen  viel 
spärlicher  und  sie  kommen  meistens  nur,  wenn  sie  mit  dem  Gesetz  in 
Konflikt  kommen.  Die  Solidarität  der  Homosexuellen  und  ihr  Wille  zur 
Homosexualität  gehen  Hand  in  Hand.  Ihre  geheime  Organisation  ist 
vorzüglich,  und  selbst  wo  feste  Organisationen  fehlen,  kennen  sie  sich 
und  empfehlen  einander  Freunde  und  Genossen.  ( 

Fall  Nr.  44.  Dr.  S.  K.,  ein  32jähriger  Arzt,  ledig,  erzählt  mir,  daß  er 
eine  ausgesprochene  heterosexuelle  Vergangenheit  hatte.  Allerdings  sei  das 
Verlangen  damals  rein  physisch  gewesen,  und  die  seelische  Beteiligung  hätte 
damals  vollkommen  gefehlt.  Er  infizierte  sich  als  Schiffsarzt  in  einer  Hafen- 
stadt mit  schwerer  Gonorrhöe,  die  ihn  durch  sechs  lange  Monate  quälte.  Er 
hatte  alle  möglichen  Komplikationen:  Epididymitis,  eine  Posterior,  Prosta- 
titis und  zuletzt  einen  gonorrhoischen  Gelenksrheumatismus.  Seit  dieser  In- 
fektion hatte  er  einen  unüberwindlichen  Ekel  vor  jedem  Weibe.  Es  war  in 
Alexandrien,  da  kam  er  zufällig  in  die  Kabine  und  beobachtete,  wie  ein  Schiffs- 
leutnant einen  eingeborenen  Knaben  pädizierte.  Er  wußte  es,  daß  die  Knaben 
immer  in  den  Hafenorten  an  Bord  kamen  und  sich  den  homosexuellen  Männern 
offerierten.  Er  bekam  beim  Anblick  der  Szene  einen'  furchtbaren  Brechreiz 
und  wollte  den  Verkehr  mit  dem  Kollegen  abbrechen.  Allein  dieser  offenharte 
eich  ihm  und  erzählte  ihm,  er  wäre  durch  Verführung  homosexuell  geworden 
und  seit  jener  Zeit  bei  Frauen  absolut  impotent.  Er  bat  ihn,  das  Geheimnis 
zu  wahren  und  ihn  nicht  zu  verraten.  Es  war  der  einzige  Intellektuelle,  mit 
dem  er  an  Bord  gern  verkehrte.  Nach  einigen  Wochen  hatten  sie  ein  Verhält- 
nis miteinander.  „Ich  lernte  erst  jetzt  kennen,  was  Liebe  ist,  und  war  nie  so 
glücklich  wie  damals.  Ich  konnte  nun  meine  heterosexuelle  Vergangenheit 
nicht  begreifen.  Doch  las  ich  in  den  Tagebüchern  von  Platen,  daß  er  als 
Jüngling  auch  ein  Mädchen  namens  Euphrasia  liebte  und  erst  später  erkannte, 
wohin  sein  Geschlechtstrieb  tendierte.  Bei  mir  war  es  ähnlich.  Ich  war  6chon 
homosexuell  geboren  und  erst  meine  Erlebnisse  haben  mir  die  Augen  geöffnet." 

Hier  leiten  die  Gonorrhöe  und  die  leichte  Gelegenheit  der  Tropen- 
reise die  Entstehung  der  Homosexualität  ein.  Aber  täuscht  sich  der 
Kollege  nicht  über  die  Stärke  seiner  homosexuellen  Einstellung?  Inter- 
essant ist,  wie  sofort  die  homosexuelle  Neigung  durch  psychische 
Faktoren  verschönert  und  idealisiert  wird.  Zeigen  doch  die  Homo- 
sexuellen mitunter  einen  stärkeren  Liebeswahnsinn  als  die  Hetero- 
sexuellen. Solche  Grade  von  Liebesraserei  wie  unter  Homosexuellen 
kann  man  unter  den  Heterosexuellen  kaum  beobachten.  Es  i,st  eine 
Flucht  in  die  Homosexualität,  ein  Versenken  in  die  eine  Richtung, 
welche  als  Versuch  der  Psyche  aufzufassen  ist,  alle  anderen  Ein- 
stellungen in  den  Wogen  der  großen  Leidenschaft  untergehen  zu  lassen. 
Sehr  häufig  werden  wir  bei  Homosexuellen  der  Behauptung  begegnen, 


278 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


ihre  heterosexuelle  Neigung  sei  nur  physisch  gewesen.1)  Seelisch 
könnten  sie  nur  homosexuell  lieben.  In  der  Tat  sieht  man,  daß  viele 
Männer  ihr  Bedürfnis  nach  seelischer  Liebe  vollkommen  zu  Freund- 
schaft sublimieren,  während  die  Frau  ihnen  das  Instrument  der  Sünde 
(instrumentum   diaboli)    bleibt. 

So  erzählt  ein  homosexueller  Patient  von  Bloch,  der  schon  des- 
halb interessant  ist,  weil  er  sich  an  seine  heterosexuelle  Periode 
erinnert: 

„In  welchem  Alter  die  geschlechtlichen  Neigungen  auftraten,  ver- 
mag ich  nicht  anzugeben.  Der  Geschlechtstrieb  ist  auf  den  Mann  gerichtet. 
Er  war  vor  und  während  der  Pubertätszeit  vollkommen  unbestimmt, 
ich  glaube  sogar,  ich  hegte  in  dieser  Zeit  den  "Wunsch,  einmal  den  Akt 
mit  einem  Mädchen  ausüben  zu  dürfen.  Liebe  war  das  aber  nicht,  sondern 
ein  rein  physisches  Verlangen,  die  seelische  Seite  des  Triebes  fehlte  in 
der  Zeit  noch  vollkommen.  Der  Trieb  erstreckt  sich  nur  auf  den  Jüngling. 
Ich  habe  bisher  weder  weiblichen  noch  männlichen  Geschlechtsverkehr 
gehabt,  glaube  aber,  daß  ich  zum  normalen  Akt  fähig  wäre;  aber  ein 
Genuß  wäre  es  mir  nicht,  sondern  nichts  weiter  als  Onanie.  Es  besteht 
vollkommene  Gleichgültigkeit  gegenüber  dem  weiblichen  Geschlecht,  aber 
kein  Haß  oder  Ekel..  Die  Liebesträume  bezogen- sich  stets  auf  Personen 
desselben  Geschlechtes.  (Bloch  I.e.  S.  566.) 

Auch  bei   Frauen  tritt  oft  die  Homosexualität  nach   einer   In- 
fektion auf: 

Fall  Nr.  45.  Fräulein  Erna,  42  Jahre  alt,  Schriftstellerin,  zeigt  auffallend 
männliche  Züge,  benimmt  sich  burschikos  wie  ein  Mann,  raucht,  trinkt,  ist 
Vorkämpferin  für  Frauenbewegung,  Stimmrechtlerin.  Behauptet,  angeboren 
homosexuell  zu  sein,  spielte  schon  als  Kind  nur  männliche  Spiele,  war  wilder 
als  alle  Brüder.  Galt  immer  als  verdorbener  Bub.  Hatte  keine  Ahnung  von 
ihrer  Homosexualität.  War  schon  sehr  früh  Onanistin  und  hatte  schon  mit 
15  Jahren  ein  Verhältnis  mit  einem  Offizier,  der  sie  deflorierte.  Behauptet 
aber,  es  wäre  alles  rein,  sinnlich  gewesen.  Hat  auch  bei  Männern  Orgasmus 
gehabt.  Wurde  mit  19 Jahren  von  einem  Offizier  infiziert.  Seit  da- 
malsein heftiger  Ekel  gegen  jeden  Mann.  Mit  22  Jahren 
faßte  sie  eine  schwärmerische  Liebe  zu  einer  Freundin.  Sie  hatten  ein  Verhält- 
nis, bei  dem  sie  den  Mann  spielte.  Sie  schnallte  sich  einen  künstlichen  Phallus 
um,  trug  im  Hause  Männerkleider.  Es  war  eine  regelrechte  Ehe.  „Seit  jener 
Zeit  weiß  ich  erst,  was  Liebe  heißt.  Die  Männer  habe  ich  nur  begehrt.  Es 
war  eine  rein  physische  Angelegenheit.  Nun  liebe  ich  schon  seit  zwanzig 
Jahren  nur  Frauen."  Hatte  sehr  viele  Verhältnisse  nach  der  ersten  „homo- 
sexuellen Ehe",  die  nur  drei  Jahre  dauerte,  da  ihre  Freundin  ihr  untreu 
wurde  und  bald  darauf  heiratete. 


')'  Wie  wir  später  sehen  werden,  kommt  diese  Einstellung  daher,  daß  sie  ihre 
ganze  heterosexuelle  seelische  Erotik  an  die  Familie  fixiert  haben.  Heterosexuelle  Männer 
beschränken  sich  in  dieser  Lage  oft  nur  auf  die  physische  Befriedigung  bei  Dirnen, 
während  sie  bei  anderen  Frauen  impotent  sind. 


Tardive  Homosexualität.    -  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  279 

Wie  beweisend  sind  erst  die  Fälle,  in  denen  die  homosexuelle 
Einstellung  nach  einem  schweren  Trauma  entsteht!  Nicht  immer  ist 
es  die  Gonorrhöe.  Oft  sind  es  ganz  andere  Erlebnisse,  wie  ich  aus 
einigen  Beobachtungen  beweisen  kann.  Doch  lassen  wir  zuerst  einen 
Fall  Krafft-Ebings  für  diese  Tatsachen  sprechen: 

Fall  Nr.  46.    Fräulein  X.,   22  Jahre  alt,  gilt  als  Beaute,  wird  um- 
schwärmt von  der  Herrenwelt,  ist  eine  entschieden  sinnliche  Natur,  wäre  wie 
geschaffen  zu  einer  Aspasia,  lehnte  aber  alle  ihr  gemachten  Anträge  ab.  .Nur 
für  einen  ihrer  Verehrer,  einen  jungen  Gelehrten,  zeigte  sie  Entgegenkommen, 
wurde    intim  mit  ihm,    gestattete    ihm  Küsse,    aber    nicht    wie    ein 
1  i  e  b  e  n  d  e  s  W  e  i  b,  und  als  Herr  T.  einmal  dem  Ziele  seiner  Wünsche  sich 
nahe  glaubte,  bat  sie  unter  Tränen,  ihr  so  etwas  nicht  anzutun,  da  sie  dazu 
nicht  etwa  aus  moralischen  Gründen,  sondern  austiefereneeelischen 
absolut  unfähig  sei.   Auf  das  erfolglose  Rendezvous  folgten  briefliche  Konfi- 
denzen,  aus  welchen  sich  der  sichere  Schluß  auf  konträre  Sexualempfindung 
ergab. '  Fräulein  X.  stammt  von  einem  dem  Potus  ergebenen  Vater  und  von 
hysteropathischer  Mutter.  Sie  ist  von  neuropathischer  Konstitution,  hat  vollen 
Busen,  ist  die  äußere  Erscheinung  eines  selten  schönen  Weibes,  wirkt  aber 
auffällig  durch  burschikoses  Wesen,  hat  entschieden  männliche  Neigungen, 
turnt,  reitet,    raucht,  hat  strammes  Auftreten    und  entschieden  männlichen 
Gang.    Neuerlich  ist  sie  auffällig  geworden  durch  schwärmerische  Freund- 
schaftsverhältnisse für  junge  Damen.    Sie  hat  eine  solche  bei  sich,  teilt  mit 
ihr  das  Lager.   Bis  zur  Pubertät  will  Fräulein  X.  sexuell  ganz  indifferent  ge- 
wesen sein.    Mit  17  Jahren  machte  sie  in  einem  Badeort  die  Bekanntschaft 
eines  jungen  Ausländers,   der  durch  seine  „königliche"  Gestalt  einen 
faszinierenden  Eindruck  auf  sie  machte.    S  ie  war  glücklich,  mit  ihm 
einen  Abend  hindurch  tanzen  zu   dürfen.    Am  folgenden   Abend  in 
der    Dämmerung    wurde    sie    Zeugin    einer    emporenden 
Szene    -    sie    sah    nämlich    jenen     entzückenden     Mann 
von     ihrem     Fenster     aus     im     Gebüsch     futuare     more 
bestiarum    mulierem    quandam    inter    mens  t  r  u  at  1  o  nem. 
Adspectu    sanguinis    currentis    et    libidinis    quasi 
bestialis    viri    fühlte    sich    Fräulein    X   ganz    entsetzt, 
wie     vernichtet,     hatte     Mühe,     ihr     seelisches     Gleich- 
gewicht wieder   zu  erringen,  war   eine   Zeitlang   schlaf- 
und   appetitlos    und   sah  in   dem   Manne   von   nun    an   den 
Inbegriff    der    Gemeinheit. 

Zwei  Jahre  später  näherte  sich  ihr  in  einem  öffentlichen  Garten  eine 
junge  Dame,  lächelte  sie  an  und  warf  einen  ganz  eigentümlichen  Blick 
auf  sie  der  ihr  tief  in  die  Seele  drang.  Am  folgenden  Tage  trieb  es  die  Ä. 
förmlich  diesen  Park  wieder  aufzusuchen.  Die  Dame  war  schon  da,  •schien 
auf  sie  zu  warten.  Man  begrüßte  sich  wie  alte  liebe  Bekannte,  plauderte, 
scherzte,  gab  eich  täglich  neue  Rendezvous,  die  sich,  als  die  Jahreszeit  un- 
günstig wurde,  im  Boudoir  der  jungen  Dame  fortsetzten.  „Eines  iages, 
berichtet  Fräulein  X.  in  ihren  Konfidenzen,  „führte  sie  mich  zu  ihrem  Diwan, 
und  während  sie  'sich  setzte,  ließ  sie  mich  zu  ihren  Füßen  gleiten,  bie 
heftete  ihre  scheuen  Augen  auf  mich,  strich  mir  die  Haare  aus  der  btirn 
und  sagte:  „Ach,  wenn  ich  dich  nur  einmal  so  ordentlich  heb  haben  durfte. 


280  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Darf  ich?"  Ich  bejahte,  und  während  wir  nun  so  nebeneinander  saßen  und 
uns  in  die  Augen  schauten,  glitten  wir  hinüber  in  jene  Strömung,  wo  es 
kein  Zurück  mehr  gibt.  —  Sie  war  bestrickend  schön.  Für  mich  war  dies 
alles  neu  und  berauschend,  man  gab  sich  hin,  voll  und  ganz  ungehemmt  im 
glühendsten  Rausch  weiblichen  Sinnentaumels.  Ich  glaube  nicht,  daß  je  ein 
Mann  das  zauberhaft  Berauschende,   Zarte  und  Pikante  trifft  —  der  Mann 

ist  doch  zu  wenig  feinfühlend,  zu  wenig  sensitiv. Unser  wildes  Spiel 

hatte  so  lange  gedauert,  bis  ich  ermattet  zurücksank,  kraftlos,  entnervt. 
Ich  lag,  durch  diese  Erschlaffung  eingeschlafen,  auf  ihrem  Bette,  als  mich 
plötzlich  ein  unsagbares,  nie  gekanntes  Gefühl  jäh  emporfahren  ließ  —  ein 
Schauer  durchrieselte  meinen  ganzen  Körper,  ich  sah  J.  auf  mir  —  cunni- 
bJiguin  perhciens  -  es  war  für  sie  der  höchste  Genuß,  tandem  mihi  non 
hcebat  altrum  quam  osculos  dare  ad  mammas  —  wobei  sie  jedesmal  in  kon- 
vulsivische Zuckungen  geriet." 

Fräulein  X.  bekannte  noch,  daß  sie  in  diesem  homosexuellen  Verkehr 
sich  immer  als  Mann  dem  Weibs  gegenüber  fühlte  und  daß  sie,  faute 
de  mieux,  einmal  einen  ihrer  Anbeter  zum  Kunnilingus  zuließ.  (Kraft t- 
Ebing,  1.  c.  Beobachtung  165.) 

Man  versetze  sich  in  die  Lage  einer  exaltierten  Natur,  wie  dieses 
Mädchen  es  war.  Sie  macht  den  ersten  holden  Wahn  der  Liebe  durch, 
sie  ist  im  Begriffe,  ein  Weib  zu  werden,  sie  findet  „ihn"  königlich, 
ihn  „den  Herrlichsten  von  allen",  und  plötzlich  muß  sie  erleben,  daß 
sich  dieser  Gott  als  ein  Tier  erweist.  Eifersucht  und  Empörung 
mußten  sich  bei  ihr  zu  einem  so  gewaltigen  Affekt  vereinen,  daß  sie 
von  einem  namenlosen  Haß  gegen  alle  Männer  befallen  wurde. 

Wie  viele  Frauen  mögen  auf  diese  Weise  zu  Urlinden  geworden 
sein!  Man  ziehe  auch  in  Betracht,  daß  die  homosexuelle  Liebe  bei 
vielen  Frauen  sich  nur  in  Küssen  und  Umarmungen  äußert  und  ihnen 
ästhetisch  schöner  erscheint  als  der  Erguß  der  heterosexuellen.  Die 
Angst  vor  dem  Phallus  ist  ein  Phänomen,  das  sehr  leicht  durch  irgend 
einen  zufälligen  infantilen  Eindruck  entstehen  kann.  Die  X.  wird  aller- 
dings auch  in  der  homosexuellen  Liebe  nicht  bloß  Ästhetin,  aber  man 
horche  auf  ihre  Worte:  „Der  Mann  ist  zu  wenig  feinfühlend!" 

Dieser  hochinteressante  Fall  zeigt  uns  die  Entstehung  "der  Homo- 
sexualität durch  ein  Trauma,  das  allerdings  auf  das  sensitive,  schwär- 
merische Wesen  ganz  außerordentlich  erschütternd  wirken  mußte  und 
die  vorhandene  Anlage  zur  Homosexualität  verstärkte.  Aber  noch 
immer  ist  sie  eigentlich  bisexuell,  und  es  erscheint  mir  nicht  ausge- 
schlossen, daß  sie  den  Horror  vor  dem  Manne  überwindet.  Zu  be- 
denken ist,  daß  der  Vater  ein  Potator  war  und  daß  sie  möglicherweise 
auch  im  Hause  Szenen  erlebt  hat,  welche  der  geschilderten  ähnlich 
waren.  Wie  schade,  daß  dieser  Fall  nicht  analysiert  wurde!    Trau- 

matischeSzenenim  vorgeschrittenen  Alterwirken 
besonders  stark,   wenn   sie   sich   aus  ähnlichen  Er- 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  281 

lebnissen  der  Kindheit  ihre  infantile  Resonanz 
holen.  Und  ausgeschlossen  ist  es  nicht,  daß  diese  Patientin  die 
ganze  Szene  nicht  erlebt,  sondern  nur  halluziniert  hat, 
daß  sie  eine  einmal  in  der  Kindheit  erlebte  Szene  nun  in  der  Phantasie 
noch  einmal  erlebte. 

Eine  bemerkenswerte  Parallele  zu  diesem  Falle  bietet  die  nächste 

eigene  Beobachtung. 

Fall  Nr.  47.  Frl.  £.'  S.  kommt  mit  32  Jahren  wegen  verschiedener 
Zwangsvorstellungen  in  meine  Behandlung.  Sie  gesteht,  daß  sie  eine  Urlinde 
sei  und  sich  nie  zu  Männern  hingezogen  gefühlt  habe.  Ihr  Vater,  schon 
drei  Jahre  tot,  war  ein  schwerer  Potator,  die  Mutter  lieb,  bescheiden,  in 
keiner  Hinsicht  neurotisch.  Unsere  Patientin  hatte  schon  einige  Male  Ge- 
legenheit gehabt,  sich  zu  verheiraten,  aber  sie  zieht  sich  immer  vor  den 
Männern  scheu  zurück,  wenn  sie  ihr  näher  treten  wollen.  Eine  gewisse 
Neigung  hat  sie  für  ältere  verheiratete  Männer  und  sie  versteht  es,  wie  man 
seine  Freundin  mit  ihrem  Manne  betrügen  könne.  „Ich  habe  Pech  gehabt'' 
—  sagt  sie  —  „wenn  mir  schon  ein  Mann  gefallen  hat,  so  war  er  an  eine 
Freundin  vergeben."  Wirklich  verhebt  war  sie  nur  in  Mädchen  und  in  Frauen. 
Ihre  erste  Schwärmerei  war  eine  Lehrerin,  welche  sie  auch  in  der  Wohnung 
besuchte.  Diese  Lehrerin  wollte,  daß  das  reiche  Mädchen  ihren  Bruder  heiraten 
sollte,  und  brachte  die  beiden  immer  zusammen.  Der  Bruder  gefiel  ihr,  weil 
er  der  Geliebten  ähnlich  sah.  War  die  Schwester  nicht  im  Zimmer,  so  lang- 
weilte sie  sich  mit  dem  Verehrer  und  wurde  einsilbig,  so  daß  die  Unter- 
haltung stockte.  Der  Lehrerin  sandte  sie  Blumen  und  machte  ihr  gern 
kostbare  Geschenke.  Es  war  ihre  Sehnsucht,  mit  der  Lehrerin  einmal  in 
einem  Bette  zu  schlafen  und  sie  träumte  oft  davon.  Sie  machte  ihr  sogar 
den  Vorschlag,  mit  ihr  zusammen  eine  Reise  zu  machen.  Die  Lehrerin  konnte 
nicht  fahren  und  zog  sich  sogar  zurück,  weil  ihr  die  Huldigungen  ihrer 
Schülerin  doch  zu  stürmisch  schienen.  Sie  litt  auch  unter  der  Eifersucht 
ihrer  Verehrerin,  die  ganz  krank  wurde,  wenn  auch  andere  Mädchen  zu  ihr 
kamen.  Allerdings  gab  es  in  der  Klasse  einen  ganzen  Bund,  der  die  Lehrerin 
verehrte. 

Später  liebte  sie  eine  Freundin,  und  sie  küßten  sich  unzählige  Male, 
wobei  sie  ein  herrliches,  heißes  Gefühl  durchströmte.  Der  Kuß  eines  Vetters 
hingegen  ließ  sie  ganz  kalt.  Sie  habe  nun  mal  für  Männer  nichts  übrig. 
Sie  wußte  lange  nicht,  daß  sie  homosexuell  sei,  aber  daß  sie  anders  sei  als 
die  anderen  Mädchen,  das  war  ihr  schon  in  der  Kindheit  klar.  Sie  war 
immer  wild  wie  ein  Bub  und  die  Mutter  sagte  ihr  oft:  In  dir  stecken  zehn 
schlechte  Knaben.  Sie  kletterte  auf  alle  Bäume,  war  wild  und  ausgelassen 
und  spielte  am  liebsten  mit  den  Knaben,  wollte  nicht  mit  Puppen  spielen, 
bat  um  ein  Reitpferd  und  ein  Schießgewehr,  so  daß  der  Vater  ganz  ver- 
zweifelt war  und  manchmal  ausrief:    Die  ist  wirklich  ein  verdorbener  Bub! 

In  der  Analyse  treten  aber  zahlreiche  homosexuelle  und  heterosexuelle 
Erlebnisse  aus  der  Kindheit  hervor.  Sie  hatte  noch  mit  12  Jahren  ein  Er- 
lebnis mit  einem  Vetter,  der  des  Nachts  zu  ihr  ins  Bett  kam  und  mit  ihr 
spielte.  Sie  könne  sich  nicht  erinnern,  ob  es  zu  einem  Koitus  gekommen 
wäre.  Auch  mit  Gespielinnen  hatte  sie  verschiedene  Abenteuer.  Sie  gesteht 
auch,  daß  sie  schon  seit  dem  12.  Jahre,  von  einem  Fräulein  verführt,  onanierte 


282  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

und  daß  sie  sich  früher  immer  vorgestellt  habe,  daß  ein  Mann  mit  ihr  den 
Koitus  ausführe.  Ja,  noch  mit  16  Jahren  war  sie  in  einen  Freund  ihres 
Vaters  bis  über  die  Ohren  verliebt.  Er  war  viel  jünger  als  der  Vater  und 
war  aus  der  gleichen  Burschenschaft. 

Während  sie  erst  über  den  Vater  nur  sehr  anerkennende  Äußerungen 
macht  (das  Trinken  wäre  nicht  so  arg  gewesen)  und  die  Erinnerungen  von 
seiner  Liebenswürdigkeit,  Milde  und  seinem  Ansehen  sprechen,  beginnt  sich 
allmählich  ein  immer  stärker  anschwellender  Haß  zu  melden.  Der  Vater 
habe  sie  eigentlich  in  schlechten  Verhältnissen  zurückgelassen.  Jeder  habe 
sie  für  Millionäre  gehalten,  weil  der  Vater  ein  so  großes  Haus  geführt  habe. 
Nach  seinem  Tode  zeigte  es  sich,  daß  er  das  Kapital  angegriffen  hatte, 
und  daß  nur  ihre  Mitgift  intakt  war,  die  groß  genug  war,  daß  sie  und 
die  Mutter  bescheiden  leben  konnten.  Die  Mutter  sei  immer  eine  Märtyrerin 
gewesen.  Der  Vater  hielt  es  die  letzten  zehn  Jahre  mit  der  Köchin  im  Hause. 
Es  war  dies  eine  dicke,  unförmige,  ordinäre  Person.  Die  Mutter  und  sie 
waren  eigentlich  geduldet.  Einmal  hatte  die  Mutter  versucht,  die  Köchin 
hinauszuwerfen,  da  wurde  der  Vater  roh  und  fast  gewalttätig  und  wies  der 
Mutter  die  Türe:  Sie  könne  mit  ihrer  Tochter  gehen,  wohin  sie  wolle.  Die 
Köchin  war  dann  so  frech  und  unausstehlich,  daß  die  arme  Mama  tagelang 
vor  sich  hinweinte  und  sich  schließlich  in  das  Los  ergab.  Erst  als  der 
Vater  schwer  krank  Wurde,  konnte  man  die  Köchin  aus  dem  Hause  weisen. 
Die  kecke  Person  machte  noch  einen  Prozeß,  weil  der  Vater  ihr  angeblich 
eine  Rente  und  lebenslängliche  Versorgung  versprochen  habe.  Sie  verlor  den 
Prozeß,  weil  der  Vater,  auf  dem  Krankenbette  einvernommen,  diese  An- 
gaben als  völlig  erlogen  bezeichnete.  Noch  mehr  erzählt  die  Patientin,  er- 
innert sich  aber  nicht,  daß  sie  je  etwas  von  Intimitäten  zwischen  dem  Vater 
und  der  Köchin  gesehen  habe. 

Ihre  Träume  jedoch  weisen  darauf  hin.    So  träumte  sie  unter  anderem : 

Ich  gehe  vorsichtig  in  die  Küche  und  finde  die  Köchin  dorten 
nicht.  Dann  steige  ich  leise  über  die  Hintertreppe  in  die  Mansarde 
und  sehe  durch  das  Schlüsselloch,  wie  die  Köchin  mit  dem  Kutscher 
in  einem  Bette  zusammen  liegen. 

Sie  erinnert  sich,  daß  der  Kutscher  noch  da  war,  als  die  Köchin  jünger 
war,  und  daß  der  Vater  ihn  entließ.  Er  lauerte  einmal  Papa  auf,  als  er  aus 
dem  Wirtshause  kam,  und  wollte  den  Papa  überfallen.  Papa  war  aber  stärker 
als  der  Knecht  und  warf  ihn  so  zu  Boden,  daß  er  ein  Bein  brach.  Doch 
glaubt  sie,  daß  man  in  der  Gegend  nicht  den  Grund  des  Streites  erfuhr, 
sondern  annahm,  daß  der  Knecht  sich  nur  für  seine  Entlassung  rächen  wollte. 

Schließlich  gesteht  sie  mir,  daß  sie  mir  ein  Erlebnis  zu  berichten 
habe,  an  das  sie  lange  nicht  gedacht  habe.  Sie  wollte  es  mir  eigentlich 
schon  längst  erzählen,  wurde  aber  durch  eine  unerklärliche  Scheu  davon  ab- 
gehalten. Sie  war  sechzehn  Jahre  alt,  als  sie  hörte,  wie  der  Vater  aus  seinem 
Studierzimmer  die  Mansarde  hinaufstieg.  Das  Stubenmädchen  hatte  an 
diesem  Tage  Ausgang  und  die  Mutter  lag  unwohl  zu  Bette.  Sie  legte  die 
Schuhe  ab  und  kroch  leise  die  Stiege  hinauf.  Die  Türe  in  das  Dienstboten- 
zimmer stand  offen.  Der  Vater  war  leicht  berauscht  und  auch  die  Köchin, 
die  heimlich  immer  etwas  Schnaps  trank,  schien  nicht  nüchtern  zu  sein.  Im 
Zimmer  brannte  eine  Kerze  und  die  Stiege  war  dunkel.    Sie  konnte  alles 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  283 

genau  sehen.  Sie  sah  nun,  daß  pater  membrum  suum  in  os  ancillae  immisit. 
Der  Anblick  seines  roten,  leidenschaftlich  verzerrten  Gesichtes  war  ihr  so 
widerwärtig  und  so  aufregend,  daß  sie  es  im  Leben  nicht  vergessen  kann. 
Wenn  sie  heute  daran  denkt,  so  müsse  sie  brechen.  (Sie  kämpft  während  der 
Erzählung  mit  heftigem  Brechreiz.)  Nach  diesem  Erlebnis  erkrankte  sie  an 
einem  nervösen  Magenleiden,  das  sich  hauptsächlich  in  nervösem  Erbrechen 
äußerte.  Noch  im  letzten  Jahre  kam  es  zu  Perioden,  in  denen  sie  kaum  einen 
Bissen  Fleisch  herunterwürgen  konnte  und  Attacken  von  unstillbarem  Er- 
brechen hatte. 

Nach  diesem  Erlebnis  trat  die  Liebe  zur  Lehrerin  auf.  Diese  Erinnerung 
determinierte  ihre  sexuelle  Leitlinie  und  trieb  sie  zur  Homosexualität,  weil 
sie  alle  Männer  nach  dem  Typus  Vater  beurteilte.  Ihre  Neigung  zu  ver- 
heirateten und  älteren  Männern  (immer  platonisch!)  geht  auch  auf  die  Vater- 
imago  zurück.    Sie  suchte  einen  besseren  und  edleren  Vater. 

Wenn  sich  ihr  ein  Mann  näherte,  so  kam  ihr  die  Szene  in  Erinnerung, 
die  alles  Elend  ihres  Hauses,  ihre  ganze  Schmach  und  die  Erniedrigung  ihrer 
Mutter,  die  Leidenschaft  ihres  Vaters  in  einem  Bilde  vereinigte.  Sie  hatte 
diesen  Vater,  der  glänzende  Eigenschaften  hatte  und  in  der  Gesellschaft  sehr 
beliebt  war,  verehrt  und  geliebt  wie  ihre  edle  Mutter.  Dann  mußte  sie 
diesen  Zusammenbruch  des  Hauses  erleben.  Mußte  das  nicht  wie  eine 
Warnung  vor  den  Männern  wirken,  wie  eine  Drohung?  Mußte  es  ihr  nicht 
Angst  vor  dem  Mann  und  seiner  Leidenschaft  einjagen?  Sie  zog  sich  dann 
zurück,  weil  ihr  dies  Bild  vor  Augen  stand  und  ihr  sagte:  Lasse  dich  nicht 
von  einem  Manne  betören,  denn  es  könnte  dir  so  ergehen  wie  deiner  Mutter! 

Was  wäre  aus  diesem  braven  Mädchen  geworden,  wenn  der  Vater  andere 
Bahnen  gewandelt  wäre,  wenn  die  Ehe  ihrer  Eltern  glücklich  gewesen  wäre, 
wenn  sie  diese  furchtbare  Szene,  die  doppelt  poinlich  wirkte,  weil  sie  von 
den  Brutalitäten  der  Sexualität  keine  Ahnung  hatte,  nicht  erlebt  hätte?  Ich 
wage  es  ruhig  zu  behaupten,  daß  sie  eine  biedere  deutsche  Hausfrau  geworden 
wäre,  und  sich  ihre  Homosexualität  in  sanften  Bahnen  ausgelebt  hätte.  So 
ging  sie  Verhältnisse  mit  Mädchen  ein  und  zog  sich  immer  mehr  von  den 
Männern  zurück.  Sie  erlaubte  sich  auch,  Männer  zu  lieben.  Aber  sie  mußten 
stets  verheiratet  und  unerreichbar  sein.  Dann  bestand  keine  Gefahr  für  sie.. 
Als  ihr  ein  Mann  einer  Freundin,  den  sie  auch  seelisch  verehrte,  erklärte, 
er  könnte  sich  ihretwegen  von  seiner  Frau  scheiden  lassen,  floh  sie  ihn  und 
suchte  sich  rasch  ein  anderes  unerreichbares  Ideal.  Alle  diese  Idealo  waren 
praktisch  a'sexualisiert  und  ihre  ganze  Sexualität  lebte  sieh  bei  Frauen  aus. 
Die  Liebe  zwischen  Frauen  erschien  ihr  rein  und  er- 
haben, während  die  Liebe  der  Männer  ihr  brutal  vor- 
kam. Selbst  der  Koitus  kam  ihr  wie  eine  abscheuliche 
Brutalität    vor. 

Dieses  Trauma  trat  nach  der  Pubertät  auf  und  hatte  eine  solche 
nachhaltige  Wirkung.  Es  wirft  sich  die  Frage  auf,  ob  die  Traumen  der 
Kindheit  auch  die  individuelle  Form  des  Geschlechtslebens  beeinflussen 
können.  Diese  Frage  ist  längst  zugunsten  der  Ansichten  von  Binet 
entschieden  worden,  und  die  Psychanalyse  hat  manches  neue  Material 
zur  Wirkung  der  Traumen  geliefert.  Die  engere .  Freudschule  hat  dann 
die  Wirkung   der   Traumen  zuerst  überschätzt  und  auch  mancherlei 


284  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Vorgänge  als  Traumen  bezeichnet,  welche  diesen  Namen  gar  nicht  ver- 
dienen. Ich  möchte  aber  nochmalß  davor  warnen,  die  Bedeutung  der 
Traumen  zu  unterschätzen.  Gewisse  geringe  fetischistische  Neigungen 
finden  auf  diese  Weise  eine  leichte  und  oft  bestätigte  Erklärung,  wenn- 
gleich gerade  die  schweren  Fälle  von  Fetischismus,  wie  wir  sehen 
werden,  sich  durch  die  Traumen  allein  nicht  erklären  lassen.  Hier  ver- 
sagte die  Assoziationshypothese  von  Bittet  vollkommen.  Es  ist  eben 
auch  zu  bedenken,  daß  der  Neurotiker  viele  Traumen  phantasiert,  die 
gar  nicht  existiert  haben,  und  aus  vielen  harmlosen  Erlebnissen  Traumen 
macht,  wenn  sie  ihm  in  sein  System  hineinpassen.  Er  fälscht  die  Er- 
innerung, wie  es  alle  Homosexuellen  machen,  wenn  sie  sich  eine  rein 
homosexuelle  Lebensgeschichte  konstruieren. 

Ob  aber  nicht  mancher  erste  Eindruck  für  die  Zukunft  determi- 
nierend wirkt?  Sagt  doch  Jean  Paul  treffend:  „Alles  Erste  lebt  ewig 
im  Kinde!"  Ich  möchte  zwei  Beobachtungen  von  Bloch  anschließen, 
die  uns  die  Bedeutung  des  ersten  sexuellen  Eindruckes  trefflich  illu- 
strieren. 

Fall  Nr.  48.  „Ich  war  etwa  5  Jahre  alt,  als  ich  auf  einem  Spaziergange 
mit  dem  Kindermädchen  in  der  Anlage  sah,  wie  ein  Mann  onanierte;  ohne 
zu  wissen,  was  dies  war,  beschäftigte  dieses  Bild  meine  Phantasie  noch  viele 
Jahre.  In  meinen  Träumen  bis  zu  14  Jahren  spielte  das  Zusammenleben  mit 
einem  Altersgenossen  eine  Hauptrolle.  Mit  13  Jahren  verliebte  ich  mich  in 
einen  Schulkameraden,  der  mir  jedoch  wenig  gewogen  war;  was,  mich  an 
ihm  besonders  interessierte,  war  der  Umstand,  daß  er  geschlechtliche  Auf- 
klärung in  die  Klasse  brachte.  Durch  Wegzug  in  eine  andere  Stadt  verlor 
ich  ihn  aus  dem  Gesicht.  Obwohl  ich  von  dem  eigentlichen  Geschlechtsleben 
damals  noch  nichts  wußte,  suchte  ich  doch  Objekte,  welche  meine  Sinnlich- 
keit erregten. 

Ein  unbekannter  Mann  von  zirka  35  Jahren  verführte  mich  und  trieb, 
sobald  er  mich  traf,  mit  mir  Päderastie.  Ich  fühlte  wohl  das  Verwerfliche 
in  diesem  Umgange,  war  aber  zu  schwach,  als  daß  ich  mich  hätte  diesem 
Einfluß  entziehen  können.  Nach  etwa  drei  Monaten  war  er  verschwunden. 
Jetzt  wußte  ich  auch,  was  Onanie  ist,  zumal  in  der  Schule  sehr  viele  Aus- 
schweifungen vorkamen. 

Mit  18  Jahren  verließ  ich  die  Schule,  und  wie  "sich  nun  bei  den  anderen 
Kameraden  der  Trieb  zum  Weibe  zeigte,  so  fühlte  ich  immer  mehr,  wie 
mich  alles  zum  Manne  hinzog,  öfter  versuchte  ich,  dem  Drängen  meiner 
Freunde  nachgebend,  mit -Damen  der  Halbwelt  in  Berührung  zu  kommen, 
doch  hat  mich  dieses  jedesmal  mit  dem  größten  Abscheu  und  Widerwillen 
erfüllt.  Es  ist  für  mich  ein  furchtbares  Gefühl,  wenn  ich  merke,  daß  sich 
eine  Dame  für  mich  interessiert.  Um  so  mehr  interessierte  mich  daher  das 
männliche  Geschlecht.  Wenn  ich  einen  Mann  liebe,  so  denke  ich  dabei  nicht 
(nur)  an  die  geschlechtliche  Vereinigung,  sondern  ich  suche  in  ihm  das  zu 
lesen,  wa's  ich  selbst  zu  geben  bereit  bin:  alleiniges  Interesse,  Treue,  selbst- 
lose Hingabe;  wenn  ich  einen  Mann  liebe,  kenne  ich  sonst  nichts  mehr." 
(Bloch,  1.  c.  S.  565.) 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  285 

Hat  es  nicht  den  Anschein,  als  ob  dieses  Bild,  das  der  Knabe 
auf  einem  Spaziergange  sah,  der  „onanierende  Mann",  ihn  dann  in  die 
homosexuelle  Bahn  gedrängt  hätte?  Im  vorigen  Falle  wirkte  das 
Trauma  wie  eine  Warnung.  In  diesem  aber  wirkt  es  wie  ein  ewiger 
Antrieb,  weil  ja  ein  Kind  noch  nicht  die  moralischen  Abwehraffekte 
aufbringt,  und  die  erste  Erregung  (der  Anblick  des  erigierten  Gliedes) 
eine  außerordentlich  starke  gewesen  sein  muß.  Das  Bild  beschäftigte 
seine  Phantasie  noch  viele  Jahre,  es  fixierte  sich,  es  bohrte  sich  in 
das  Gedächtnis  dieses  Menschen  ein.  Im  Fall  Nr.  47  der  K.  S.  assoziierte 
sich  das  Trauma  mit  Ekel;  es  wurde  zur  Abwehr  der  Hetero Sexualität 
verwendet.1)  In  diesem  Fall  assoziierte  sich  die  Erinnerung  des  Vor- 
falles mit  Begierde.  Es  wurde  in  positiver  Form  als  Antrieb  zur 
Homosexualität  verwendet.  Wir  sehen,  wie  sich  das  Problem  kompliziert. 
Ich  gestehe  auch,  daß  ich  lange  Zeit  keine  Klarheit  gewinnen  konnte, 
so  lange  ich  einseitig  urteilte  und  eine  Entstehungsmöglichkeit  ins 
Auge  faßte.  Nun  weiß  ich,  daß  die  Wege  zur  Homosexualität  sehr 
verschieden  sind,  daß  sie  eine  eingehendere  Besprechung  erfordern. 
Wir  wollen  untersuchen,  ob  psychische  Kräfte  zur  Entstehung  jeder 
Homosexualität  beitragen,  ob  es  also  nur  eine  seelisch  bedingte  oder 
auch  eine  organische  Homosexualität  gibt.  Man  könnte  ja  alle  diese 
Fälle  als  Pseudohomosexualität  bezeichnen. 

Ich  finde  als  Beitrag  zu  dieser  Frage  bei  Bloch  noch  einen  Fall, 
der  uns  wieder  ein  Trauma  und  auch  die  determinierende  Kraft  dieses 
Traumas  vor    Augen  führt.    Es   handelt   sich  um   einen   männlichen  • 
Homosexuellen. 

Fall  Nr.  49.  „Seit  meiner  frühen  Kindheit  lag  etwas  Mädchenhaftes 
in  meinem  ganzen  Wesen,  sowohl  äußerlich,  wie  (besonders)  innerlich.  Ge- 
schlechtliche Regungen  stellten  sich  bei  mir  ungewöhnlich  früh  ein.  IJ  n- 
gefäft  sechs  Jahre  war  ich  alt,  als  einmal  ein  Haus- 
lehrer sich  auf  den  Rand  des  Bettes  niedersetzte,  in 
dem  ich  im  Fieber  lag,  mich  liebkoste  und  mit  seiner 
Hand  membrum  meum  tetigit:  die  dabei  entstandene 
Wollust  war  so  intensiv,  daß  sie  bis  jetzt  aus  meiner 
Erinnerung  ni  cht -verschwunden  ist.  In  der  Schule,  wo  ich 
mich  stets  durch  meine  Aufführung  und  Erfolge  auszeichnete,  habe  ich  mir 


*3  Das  erklärt -uns  folgenden  Passus  bei  Hirschfeld  (l.c.S.315):  „So  schrieb  mir 
-  unus  e  multis  -  ein  urnischer  Schriftsteller:  „Die  gleichgeschlechtliche  Neigung 
trat  ein,  trotzdem  der  erste  sexuelle  Anstoß  weiblicher  Art  war  —  eine  Kindsmagd 
verführte  mich  — ,  trotzdem  mir  das  weibliche  Geschlecht  durch  Erziehung  von 
Jugend  an  sozusagen  auf  dem  Präsentierteller  gereicht  wurde  und  meine  Lektüre  nur 
die  Weiberliebe  verherrlichte."  Ich  setze  hinzu:  Sie  trat  ein,  weil  sich  für  ihn  der 
erste  sexuelle  Anstoß  mit  Ekel  assoziierte  und  weil  ihn  die  Weiberherrschaft  zum 
Weiberhaß  führte. 


286 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


zuweilen  eine  gegenseitige  „Betastung"  mit  verschiedenen  Schülern  gefallen 
lassen.  Von  welcher  Seite  ich  die  ungewöhnliche  Intensität  des  geschlecht- 
lichen Triebes  geerbt  haben  mag,  weiß  ich  nicht,  ich  erinnere  mich  aber, 
daß  ich  gegen  mein  12.  Jahr  schon  sehr  viel  darunter  zu  leiden  hatte  und  daß 
ich  es  wie  eine  Erlösung  empfand,  als  mir  ein  Kamerad  einen  einmaligen 
Unterricht  in  der  Onanie  gab.  Dieser  „paradiesische"  Zustand  dauerte  in- 
dessen nicht  sehr  lange,  und  seitdem  ich  das  Unnatürliche  und  Gefährliche 
meines  Verfahrens  eingesehen  habe,  führe  ich  einen  furchtbaren  und  erfolg- 
losen Kampf  gegen  mich  selbst. 

Ich  erinnere  mich,  daß  meine  Augen  von  jeher  sich  unwillkürlich  voll 
Sehnsucht  auf  etwas  ältere,  vigoröse  Männer  richteten, 
ohne  daß  ich  dieser  Tatsache  genügende  Beachtung  schenkte.  Ich  glaubte, 
daß  ich  nur  deswegen  der  Onanie  (deren  Wirkung  ich  in  meiner  Phantasie 
gewiß  zum  Teil  übertreibe)  anheimfalle,  weil  ich  nicht  die  Möglichkeit  habe, 
mit  Frauen  geschlechtlich  zu  verkehren  (sonst  pflegte  ich  zuweilen  einen 
freundschaftlichen  Umgang  mit  jungen  Mädchen,  die  sich  zu  mir  äußerst  hin- 
gezogen fühlten;  ich  habe  aber  immer  dafür  gesorgt,  daß 
solche  Liebeserregungen  im  Keime  erstickt  wurden, 
weil  ich  fühlte,  daß  es  mir  unmöglich  ist,  ihnen  entgegen  zu 
kommen).  Ich  entschloß  mich  endlich,  bei  den  Prostituierten,  die  meinem 
ästhetischen  und  sittlichen  Gefühl  zuwider  waren,  Rettung  zu  suchen,  fand  sie 
aber  freilich  nicht:  entweder  konnte  ich  den  normalen  geschlechtlichen  Akt 
überhaupt  nicht  vollziehen  oder  es  geschah  ohne  besondere  Lust,  wobei  bald 
darauf  die  Angst  vor  der  Ansteckung  eintrat.  Zwar  hatte  ich  oft 
Gelegenheit,  ein  „Liebesverhältnis"  mit  einem  Weibe  anzuknüpfen,  ich  tat  es 
aber  nicht  und  warf  mir  innerlich  meine  lächerliche  Schüchternheit  und  mein 
zu  empfindliches  Gewissen  vor.  Wenn  beides  auch  wahr  ist,  so  habe  ich  doch 
•bei  dieser  Tatsache  den  Hauptgrund  außer  acht  gelassen,  den  nämlich,  daß 
ich  hauptsächlich  homosexuell  veranlagt  bin  und  daß  ich  mich  vom  anderen 
Geschlecht  physisch  fast  gar  nicht  angezogen  fühlte. 

Fast  glaubte  ich  mich  für  das  geschlechtliche  Leben  überhaupt  nicht 
mehr  tauglich,  als  ich  eines  Tages  bemerkte,  daß  der  Anblick  eines  Membrum 
virile  mein  ganzes  Blut  in  Aufwallung  brachte.  Ich  erinnerte  mich  nun,  daß 
dies  auch  früher  zuweilen  der  Fall  war,  wenn  auch  in  weniger  auffallender 
Weise.  Ich  mußte  also  im  Stillen  anerkennen,  daß  ich  doch  nicht  „wie  alle" 
bin.  Diese  Tatsache,  die  ich  früher  ahnte  und  von  der  ich  mich  immer  fester 
überzeugte,  versetzte  mich  in  Verzweiflung.  Da  geschah  es.  daß  ein  einfaches 
Mädchen  sich  in  mich  stark  verliebte,  und  ich  ging  darauf  ein,  mit  ihm  ein 
Verhältnis  anzuknüpfen.  Während  dieser  Periode,  die  mehrere  Monate 
dauerte,  habe  ich  mir  meine  fortdauernde  Zuneigung  zu  Männern  vorgeworfen, 
sie  ganz  zu  unterdrücken  war  jedoch  unmöglich.  Das  Verhältnis  mit  dem 
Mädchen  dauerte  noch  fort,  als  ich  einmal  in  einer  Bedürfnisanstalt  einen 
älteren  Herrn  bemerkte,  der  mir  sehr  auffiel:  er  'sah  mich  prüfend 
an,  er  neigte  sich  behutsam,  um  membrum  meum  videre,  er  näherte  sich  mir 
allmählich,  bewegte  seine  leicht  zitternde  Hand  und  .  .  .  membrum  meum 
tetigit.  Ich  war  so  betroffen  und  erschrocken,  daß  ich  bald  darauf  davonlief 
und  mich  dann  einige  Zeit  hütete,  an  derselben  Stelle  vorüberzugehen.  Um 
so  stärker  war  nachher  der  Drang,  diesen  seltsamen  Mann  wieder  zu  finden; 
dies  war  auch  gar  nicht  schwer.   In  dem  sinn-  und  erfolglosen  Kampfe  gegen 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  287 

einen  Trieb,  der  mir  mindestens  zu  einem  großen  Teil  angeboren  ist,  habe  ich 
meine  besten  Kräfte  verloren,  trotzdem  ich  schon  seit  lange  eingesehen  habe, 
daß  dieser  Trieb  an  und  für  sich  weder  krankhaft,  noch  sündhaft  ist." 
(Bloch,  1.  c.  S.  545.) 

Spricht  dieser  Fall  nicht  für  die  Stärke  des  ersten  Eindruckes 
und  für  die  Wichtigkeit  der  bisexuellen  Grundlage  der  Homosexualität? 
Der  Mann  wird  von  einem  älteren  Manne  verführt  und  er  legt  es  offen- 
bar immer  wieder  darauf  an,  von  einem  älteren  Manne  verführt  zu 
werden,  der  immer  die  Szene  aufführt,  die  ihm  unvergeßlich  ist.  Obwohl 
er  sich  heterosexuell  betätigen  kann,  bleibt  dieser  Trieb  wie  eine 
Zwangsvorstellung  bestehen  und  jagt  ihn  immer  wieder  älteren  Män- 
nern in  die  Arme  und  immer  wieder  zu  der  Form  der  Befriedigung, 
welche  die  erste  in  seinem  Leben  war.  Heterosexuelle  Regungen  werden 
unterdrückt.  Er  gesteht  es  ja  selbst,  daß  er  dafür  sorgte,  daß 
solche  Liebeserregungen  im  Keime  erstickt 
wurden.  Das  heißt,  er  bekämpfte  systematisch  alle  heterosexuellen 
Regungen  und  begünstigte  die  homosexuellen.  Dann  kommt  er  zu  der 
Erkenntnis,  daß  er  nicht  so  ist  wie  alle  ...  Er  ist  eben  bisexuell  und 
hat  die  Gabe,  sich  bisexuell  zu  betätigen.  Eine  genaue  Analyse  hätte 
noch  manche  interessante  Details  erklären  können.  Wir  wollten  nur 
zeigen,  wie  dieser  Mann  immer  wieder  seinen  Lehrer  (Vater?)  sucht, 
und  wie  viel  neurotisches  Gehaben  hinter  diesem  Triebe  steckt. 

Sehr  merkwürdig  ist  auch  die  nächste  Beobachtung  von  Krafft- 
Ebing. 

Fall  Nr.  50.  Ein  34jähriger  Kaufmann,  von  neuropathischer  Mutter 
stammend,  wird  mit  9  Jahren  von  einem  Schulkameraden  zur  Onanie  verführt. 
Auch  ein  homosexuelles  Verhältnis  mit  seinem  Bruder.  Fellatio.  Urolagnie. 
Mit  14  Jahren  die  erste  Liebe  zu  einem  Mitschüler. 

Im  17.  Jahre  tritt  eine  große  Wandlung  in  seinem 
Ideal  ein.  Er  liebt  nicht  mehr  junge,  schöne  Burschen, 
sondern   nur    dekrepide   Greise. 

T.  führt  das  darauf  zurück,  daß  er  einmal  nachts 
im  Nebenzimmer  den  damals  schon  betagten  Vater 
wollüstig  stöhnen  hörte,  sich  dabei  sinnlich  enorm 
erregte,   weil  er   sich   den  Vater  koitierend  dachte. 

Seither  spielen  homosexuelle  Akte  aueübende  Greise  in  seinen  Traum- 
pollutionen und  beim  Masturbieren  eine  hervorragende  Rolle.  Aber  auch  unter- 
tags erregte  ihn  der  Anblick  eines  Greises,  ganz  besonders  wenn  dieser  recht 
dekrepid  und  salopp  war,  so  mächtig,  daß  e6  zuweilen  zur  Ejakulation  kam. 
Versuche  im  Lupanar  mit  Weibern  mißlangen  vollkommen,  auch  Männer  und 
Jünglinge  reizten  ihn  nicht. 

Vom  22.  Jahre  ab  innige,  nur  platonische  Liebe  zu  einem  Greise,  den 
er  täglich  auf  seinen  Spaziergängen  begleitete.  Während  dieser  Spaziergänge 
kam  es  bei  T.  zur  Ejakulation.  Um  sich  von  dieser  Sklaverei  zu  befreien, 
nahm   er   sich   nach   einigen    mißglückten   Versuchen    im   Lupanar   einen 


288  Zweitor  Teil.  Die  Homosexualität. 

dekrepiden  Greis  mit,  der  vor  ihm  koitieren  mußte. 
Dieser  Anblick  reizte  ihn  so,  daß  er  potent  wurde. 
Später  wurde  der  Alte  entbehrlich,  und  er  konnte 
allein  koitieren.  Die  Freude  dauerte  nicht  lange,  er 
wurde    bald    impotent. 

Dieser  Fall  ist  in  jeder  Hinsicht  interessant  und  für  unsere  Unter- 
suchungen von  größter  Wichtigkeit.  Er  beweist  uns  die  große  deterj 
minierende  Kraft  eines  kindlichen  Erlebnisses  und  ein  Festhalten  an 
einer  Szene,  die  immer  wieder  gespielt  wird.  Die  ganze  Libido  dieses 
Menschen  ist  bei  dieser  Szene  verankert.  Er  spielt  sie  auch  im  Lupanar, 
wenn  er  sich  einen  dekrepiden  Greis  mietet,  der  vor  ihm  koitiert.  Dieser 
Greis  wird  dann  in  seiner  Phantasie  zum  Vater,  die  Dirne  wird  die 
Mutter,  und  er  ist  das  zuschauende  Kind.  Dieses  Zuschauen  bringt  ihn 
so  in  Erregung,  daß  er  mit  dieser  Hilfe  bei  der  Dirne  potent  ist.  Aber 
nur  so  lange,  als  die  reizende  Kraft  dieser  Szene  aushält.  Dann  sinkt  er 
in  seine  frühere  Impotenz  zurück  und  sucht  immer  wieder  .  .  .  seinen 
Vater.  Es  ist  ja  ganz  klar  —  und  nur  Blinde  können  es  nicht  sehen, 
daß  T.  den  Vater  sucht.  Sein  Wunsch  war  es  offenbar,  daß  der  Vater 
auch  mit  ihm  etwas  Sexuelles  beginnen  sollte.  Es  ist  möglich,  daß  er 
sich  mit  der  Mutter  identifiziert.  Doch  dafür  haben  wir  keinen  Anhalts- 
punkt. Es  ist  dies  deshalb  wichtig,  weil  Sadger  und  der  engere  Kreis 
um  Freud  die  Rolle  der  Mutter  bei  der  Entstehung  der  „echten  Homo- 
sexualität" betonen,  und  die  Bedeutung  des  Vaters  arg  vernachlässigt 
wird.  Dieser  Fall  zeigt  uns  einen  „Japhet,  der  seinen  Vater  sucht". 
Die  Spaziergänge  mit  dem  ehrwürdigen  Greise  sind  Neuauflagen  der 
Spaziergänge  mit  dem  Vater. 

Die  heterosexuellen  Erlebnisse  der  Jugend  kennt  dieser  Kranke 
nicht,  da  sie  ja  wahrscheinlich  verdrängt  wurden.  In  anderen  Fällen 
von  Krafft-Ebing  wird  aber  die  heterosexuelle  Periode  deutlich  hervor- 
gehoben. Ich  verweise  auf  die  Beobachtung  144.  Ich  bringe  nur  den 
Anfang  dieser  Krankengeschichte: 

Fall  Nr.  51.  „Ich  bin  gegenwärtig  31  Jahre  alt,  schlank,  jedoch  ziemlich 
kräftig  entwickelt,  der  mannmännlichen  Liebe  ergeben,  daher  unverheiratet. 
Meine  Verwandten  waren  alle  gesund,  geistig  normal,  mütterlicherseits 
kamen  zwei  Selbstmorde  vor.  Der  sexuelle  Trieb  erwachte  in  mir  im  7.  Lebens- 
jahre, besonders  beim  Anblick  eines  nackten  Bauches.  Ich  befriedigte  den 
Trieb,  indem  ich  mein  Sputum  auf  meinen  Bauch  herabüießen  ließ.  In  meinem 
8.  Lebensjahre  hatten  wir  eine  kleine  Magd  von  13  Jahren.  Es  bereitete  mir 
großen  Genuß,  meine  Genitalien  mit  den  ihren  in  Berührung  zu  bringen,  doch 
konnte  meinerseits  noch  kein  Koitus  zustande  kommen.  Im  9.  Lebensjahr  kam 
ich  zu  fremden  Leuten  und  bezog  das  Gymnasium.  Ein  Mitschüler  zeigte  mir 
seine  Genitalien,  wobei  ich  nur  Ekel  empfand.  Doch  befand  sich  in  der 
Familie,  wohin  mich  meine  Eltern  gegeben  hatten,  ein  bildhübsches  Mädchen, 
das  mich  —  ich  war  etwas  über  9  Jahre  alt  —  zum  Beischlaf  verführte.   Der- 


T^rdive  Honiosexualitilt.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  289 

selbe  bereitete  mir  große  Wollust.  Mein  Penis  wurde,  obzwar  noch  klein, 
steif,  und  ich  vollzog  den  Beischlaf  fast  täglich.  Dies  dauerte  einige  Monate 
hindurch.  Nun  brachten  mich  meine  Eltern  an  ein  anderes  Gymnasium;  ich 
entbehrte  das  Mädchen  sehr  und  begann  in  meinein  10.  Lebensjahre  zu 
onanieren.  Indessen  erfüllte  mich  die  Onanie  stets  mit  Abscheu,  ich  betrieb 
sie  nur  mäßig,  empfand  jedesmal  tiefe  Reue,  obwohl  ich  keine  nachteiligen 
Folgen  verspürte." 

Dieser  Mann  empfindet  sogar  Ekel  vor  den  Genitalien  seines 
Freundes  und  Libido  beim  weibliehen  Geschleckte.  Er  ist  auf  dem 
besten  Wege,  ein  Heterosexueller  zu  werden.  Im  14.  Lebensjahr  macht 
er  die  Liehe  zu  einem  Mitschüler  mit,  die  keinem  Menschen  um  diese 
Zeit  fehlt,  dem  „Normalen"  ebensowenig  wie  dem  Homosexuellen.  Nach 
der  Matura  verkehrt  er  mit  Dirnen  mit  großem  Genüsse,  aber  schon  mit 
Benützung  homosexueller  Triebkräfte.  Soldaten  müssen  vor  ihm 
koitieren  und  der  Gedanke,  eine  Vagina  zu  besitzen,  die  ein  anderer 
Penis  vorher  berührt  hat,  erregt  ihn.  „Indessen  Frauen  kann  ich 
niemals  ohne  Ekel  küssen;  auch  meine  Angehörigen  küsse 
ich  bloß  auf  die  Wange"  ..  .  Hinc  illae  lacrimae!  Er  sichert 
sich  gegen  die  sexuellen  Erregungen,  die  von  seiner  Familie  kommen. 
Seine  Homosexualität  hängt  irgendwie  mit  seiner  Familie  zusammen. 
Die  sonderbare  Aktion  eines  Knaben,  sich  auf  den  Bauch  zu  spucken 
und  sich  vorzustellen,  der  Speichel  wäre  Sperma,  müßte  sien  analytisch 
durch  ein  traumatisches  Erlebnis  der  ersten  Lebensjahre  erklären 
lassen.  Aber  deutlich  ist  die  heterosexuelle  Einstellung,  die  allmählich 
unter  gewissen  Einflüssen  und  Hemmungen  in  die  bisexuelle  und  homo- 
sexuelle übergeht. 

Ob  die  tardive  Homosexualität  jedesmal  durch  bestimmte  trauma- 
tische Erlebnisse  zum  Vorschein  kommt,  das  konnte  ich  nicht  eruieren, 
weil  ich  nicht  in  der  Lage  war,  einen  solchen  Fall  eingehend  zu  ana- 
lysieren. Die  nächste  Beobachtung  scheint  mir  dafür  zu  sprechen,  daß 
Erlebnisse  von  großem  Affektwert  die  latente  Homosexualität  manifest 
machen  können: 

Fall  Nr.  52.  Ein  46jähriger  Offizier  konsultiert  mich  wegen  vollkommener 
Impotenz  bei  Frauen.  Die  Impotenz  dauere  schon  seit  4  Jahren.  Er  habe  jetzt 
eine  ihm  sehr  sympathische  Dame  keimen  gelernt,  die  sich  in  glänzenden 
materiellen  Verhältnissen  befinde.  Er  könnte  jetzt  ein  Glück  machen,  wenn 
er  ein  ganzer  Mann  wäre.  Auf  die  Frage  nach  den  Morgenerektionen  errötet, 
er.  Es  liege  nicht  an  den  Erektionen,  die  ihm  bei  anderen  Gelegenheiten  immer 
zur  Verfügung  stünden.  Er  sei  nur  bei  Frauen  impotent.  Schließlich  gibt  er 
zu,  daß  er  seit  dem  38.  Jahre  homosexuellen  Verkehr  pflege.  Seit  dieser  Zeit 
habe  das  Interesse  für  Frauen  nachgelassen  und  er  sei  impotent  geworden. 
Seine  Anamnese  ergibt  ein'gc  wichtige  Anhaltspunkte.  Er  erinnert  sich  nicht 
an  homosexuelle  Akte  und  Regungen  in  der  Kindheit  und  vor  der  Pubertät. 
Er  war  früh  reif  und  onanierte  schon  in  der  Volksschule  und  interessierte 

Stekal,  Stomniten  des  Trieb-  und  Affokt  loben«,  n.  2.  Au«.  ]Q 


290  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

sich  nur  für  Mädchen.  Mit  17  Jahren  erster  Koitus  in  einem  Lupanar.  Seit 
damals  großes  Bedürfnis  nach  Frauen,  aber  keine  Spur  eines  homosexuellen 
Verlangens.  Er  hätte  dann  eine  große,  Aufregung  durchgemacht  und  wäre 
lange  deprimiert  gewesen.  Das  wäre  knapp  vor  dem  ersten  homosexuellen  Akt 
gewesen. 

„Können  Sie  mir  mitteilen,  welcher  Art  diese  Aufregung  gewesen  ist? 

„Es  ist  mir  peinlich,  davon  zu  sprechen." 

„Sie  verlangen  doch  Hilfe  in  einer  schwierigen  Situation.  Wie  soll  ich 
diese  Situation  beurteilen  können,  wenn  Sie  mir  nicht  dazu  das  notwendige 
Material  liefern?"  , 

„Sie  haben  ja  recht.  Aber  es  •  gibt  Dinge,  über  die  man  kaum  reden 
kann.  Es  betrifft  nämlich  meine  Mutter.  Doch  ich  kann  mir  ja  nicht  anders 
helfen.  Ich  will  ihnen  alles  erzählen.  Ich  habe  meine  Mutter  immer  verehrt 
und  hochgehalten.  Ich  war  38  Jahre  alt,  als  ich  telegraphisch  an  ihr  Kranken- 
lager gerufen  wurde.  Sie  starb  bald  nach  meiner  Ankunft.  Ich  hatte  als 
einziger  Sohn  die  Pflicht,  ihren  Nachlaß  zu  ordnen.  Ich  blätterte  in  alten 
Briefen  und  fand  in  einer  Lade  einen  Stoß  von  Liebesbriefen.  Ich  wollte  sie 
erst  nicht  lesen.  Dann  übermannte  mich  die  Neugierde.  Ich  dachte:  Jeder- 
mann liebt  einmal  in  der  Ehe  einen  anderen,  weshalb  soll  es  meiner  Mutter 
nicht  gestattet  sein,  da  mein  Vater  schon  starb,  als  sie  noch  sehr  jung  war! 
Hätte  ich  das  nicht  getan!  Ich  fand  nicht  einen,  ich  fand  Hunderte  von  Briefen 
und  .  .  .  von  vielen  verschiedenen  Männern.  Die  Briefe  waren  so  häßlich,  so 
erniedrigend,  60  zynisch,  so  empörend,  daß  ich  mir  entehrt  und  vernichtet 
vorkam.  Ich  hatte  damals  das  Heiligste  verloren.  Vorher  wünschte  ich  mir 
immer,  eine  Frau  zu  finden  wie  die  Mutter  und  bei  jedem  Ideale  schwebte  mir 
die  Mutter  vor.  Nun  fand  ich,  daß  sie  käuflich  und  für  alle  .gemeinen 
Handlungen  zu  haben  war.  Der  Ton,  den  sich  ihre  Liebhaber  anmaßten,  war 
so  empörend,  daß  ich  mir  das  Schlimmste  denken  konnte.  Seit  damals  habe  ich 
einen  Zorn  gegen  alle  Frauen  gehabt.  Bald  darauf  erlag  ich  dem  Werben 
eines  homosexuellen  Freundes.  Glauben  Sie,  daß  meine  Impotenz  mit  diesem 
Erlebnis  in  Zusammenhang  steht?  Ich  habe  schon  oft  daran  gedacht.  Mir 
fällt  immer  die  Lade  ein,  die  ich  bei  der  Mutter  gefunden  habe,  wenn  ich  zu 
einer  Frau  gehe.  Kann  man  nach  so  einem  Erlebnis  heiraten?" 

Also  eine  tardive  Homosexualität,  welche  durch  ein  Erlebnis  von 
größter  Tragik  eingeleitet  wurde.  Natürlich  war  der  Mann  immer  latent 
homosexuell.  Aber  erst  das  Erlebnis-  machte  es  ihm  möglich,  eiu 
manifest  Homosexueller  zu  werden.  Ich  kann  leider  nicht  mitteilen,  ob 
er  die  Frau  geheiratet  und  wieder  heterosexuell  potent  geworden  ist, 
weil  ich  ihn  nie  wiedergesehen  habe. 

Den  Lesern  wird  es  aufgefallen  sein,  daß  ich  in  diesem  Kapitel 
so  viele  Beobachtungen'  anderer  Ärzte  zitiere.  Ich  verbinde  damit  einen 
doppelten  Zweck.  Erstens  will  ich  an  fremdem  Materiale  zeigen,  daß  es 
eine  Psychogenese  der  Homosexualität  gibt;  zweitens  wehre  ich  mich 
gegen  die  leider  sehr  verbreitete  und  in  einigen  Kritiken  geäußerte 
Auffassung,  daß  meine  Krankengeschichten  dem  ,.genius  loci"  ent- 
sprächen. Als  ob  der  Wiener  sich  in  sexueller  Hinsicht  von  dem  Nord- 


Tardive  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen. 


291 


deutschen  oder  Engländer  unterscheiden  würde!  Mein  Material  stammt 
aus  der  ganzen  Welt.  Ich  habe  bisher  zwischen  zwei 
Nationen  in  sexueller-  Hinsicht  noch  keinen 
anderen  Unterschied  gefunden,  als  daß  sich  die 
eine    besser    verstellen    kann    als    die    andere. 

Ich  lasse  jetzt  zum  Schlüsse  dieser  Reihe,  welche  uns  von  der 
Wirkung  der  psychischen  Traumen  auf  die  Sexualität  berichtet,  noch 
eine  Beobachtung  von  Pfarrer  Pfister1)   folgen. 

Fall  Nr.  53.  „Eine  28jährige,  moralisch  hochstehende  Institute- 
vorsteherin leidet  an  heftigem  Lebensüberdruß,  da  sie  ihre  homosexuelle 
Not  nicht  länger  glaubt  tragen  zu  können.  Traf  sie  unterwegs  ein  junges 
Mädchen,  so  wurde  sie  von  heißer  Begierde,  es  zu  küssen,  erfaßt.  Wochenlang 
sah  sie  die  Unbekannte,  die  vielleicht  durchaus  nicht  besonders  anmutig  war, 
beständig  vor  sich  und  konnte  nicht  mehr  schlafen  aus  Schmerz  darüber,  daß 
sie  ihre  Kußwut  nicht,  wie  an  einigen  früheren  Freundinnen,  stillen  kann. 
Besonderen  Schmerz  verursacht  ihr  die  Befürchtung,  ein  ihr  anvertrautes 
14jähriges  Mädchen  durch  ihre  sinnliche  Zärtlichkeit  zu  homosexueller  Gegen- 
liebe verführt  zu  haben,  obwohl  es  nie  zu  unanständigen  Handlungen  kam. 
Die  Kleine  zittert  vor  Erregung,  wenn  sie  umarmt  wird,  und  weint  vor  Liebes- 
gram, wenn  sie  die  Geliebte  nicht  oft  genug  sieht. 

Unsero  Homosexuelle  hatte  einen  körperlich  schönen,  aber  unbe- 
deutenden, ängstlichen  Vater,  der  die  Zügel  des  Geschäftes  und  der  Erziehung 
ganz  seiner  energischen  und  intelligenten  Frau  überließ.  Das  Töchterchen 
bewunderte  die  Mutter  und  beurteilte  schon  früh  den  Vater  geringschätzig.  Als 
kleines  Mädchen  war  sie  normal.  Sie  spielte  gleich  gern  mit  Knaben  und 
Mädchen.  Mit  beiden  begegneten  ihr  ungebührliche  Dinge:  Mädchen  ließen 
sich  bei  dem  gefährlichen  Doktorspiel  unerlaubte  Berührungen  zuschulden 
kommen,  doch  auch  ein  kleiner  kränklicher  Knabe,  dem  das  Kind  mit 
7—9  Jahren  Gesellschaft  leisten  mußte,  gestattete  sich  ähnliche  Delikte.  Mit 
etwa  acht  Jahren  verliebte  sie  sich  in  einen  erwachsenen  Vetter,  der  sie  oft  in 
die  Luft  warf,  wobei  sie  einen  „eigentümlichen  Eindruck"  empfand.  Als 
Zehn-  oder  Elfjährige  wurde  sie  von  einer  40jährigen 
Haushälterin  wiederholt  mißbraucht.  Entschiedene  Homo- 
sexualität brach  hervor,  als  das  Mädchen  13  Jahre  alt  war.  Damals  verkehrte 
sie  viel  mit  einer  Lehrerin,  die  in  manchem  der  Mutter  glich,  sie  aber  an 
Bildung  übertraf.  Die  leidenschaftliche  Person,  die  ausgesprochen  homosexuell 
gerichtet  war,  überhäufte  zwei  Jahre  lang  das  Mädchen  mit  stürmischer 
Zärtlichkeit.  Damals  entwickelte  sich  in  der  Kleinen  eine  wahre  Kußwut, 
während  die  von  der  sexuellen  Haushälterin  geweckten  Begierden  zurück- 
traten. Einige  kleine  Liebschaften  mit  Knaben  führten  auch  zu  Küssen,  doch 
fehlte  dabei  die  Leidenschaft.  Jene  Verhältnisse  wurden  mehr  der  Mode  und 
Eitelkeit  zuliebe  angenommen. 

In  der  Pension  wurde  die  einseitige  erotische  Richtung  in  glühenden 
Freundschaften  weiter  ausgebildet.  Mit  19  Jahren  unternahm  sie  zwei  hetero- 
sexuelle erotische  Versuche,  die  aber  mißlangen.  Der  erste  betrifft  einen  blut- 
jungen Künstler  von  weiblichem  Aussehen.    Die  Liebe  war  sehr  innig,  da» 


*)  1.  c.  S.  169. 


19* 


292  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

junge  Mädchen  schwelgte  in  idealen  Gesprächen  und  tauschte  gern  Küsse  mit 
dem  Jüngling  aus.  Nach  seiner  Abreise  kam  es  zu  einer  heimweherfüllten 
Korrespondenz,  .Versprechungen  wurden  nicht  gegeben. 

Fünf  bis  sechs  Wochen  nach  der  Trennung  vom  geliebten  Freund  ver- 
lobte sie  sich  aus  Verzweiflung  mit  einem  wackeren  Naturburschen,  da  sie  sich 
zu  Hause  mit  einer  Verwandten  schlecht  vertrug  und  den  Plan  einer  höheren 
Ausbildung  begraben  mußte.  Sie  glaubte  auch  Liebe  für  den  Bräutigam  auf- 
zutreiben, allein  gleich  nach  der  öffentlichen  Ankündigung  ihrer-  Verlobung 
kam  die  Angst,  etwas  Unmögliches  unternommen  zu  haben,  über  sie.  Der 
schwerfällige,  scheue  Mensch  gleicht  offenbar  dem  Vater.  Sieben  Monate  lang 
heuchelte  sie  Liebe,  brach  jeden  Morgen  Galle  und  sehnte  sich  nach  dem  Tode. 
Zuletzt  löste  sie  ihr  Verhältnis  auf  und  konzentrierte  ihre  Gefühle  ganz  auf 
Angehörige  ihres  Geschlechtes.  Sie  behielt  dabei  weibliches  Feingefühl  und 
macht  den  Eindruck  eines  echt  mädchenhaften  Wesens. 

Solange  sie  homosexuell  befriedigt  war,  kümmerte  sio  sich  um  Beruf, 
Natur,  Kunst  und  Religion  wenig;  sobald  ihre  Neigung  Hemmungen  erlitt, 
traten  die  idealen  Interessen  stark  hervor.  Sie  selbst  verglich  diese  Schwan- 
kungen mit  denen  einer  Wage. 

Wenn  sie  heiß  liebte,  war  sie  von  sexuellen  Erregungen  frei.  V  o  m  u  n- 
geliebten  Verlobten  dagegen  wurde  sie  einige  Male 
sexuell   irritiert,    als  er  in  durchaus  dezenter  Weise  mit  ihr  koste." 

Pfis^er  teilte  nun  mit,  daß  die  Dame  die  Analyse  vorschnell  abbrach,  da 
der  Heilerfolg  zu  rasch  eintrat.  Doch  er  bringt  sehr  viel  interessantes 
Material,  unter  anderem  ihren  ersten  Traum,  der  ja  immer  das  Geheimnis  der 
ganzen  Neurose  enthält. 

Dieser  erste  Traum  lautet: 

Eine  Katze  biß  mich  vom  am  linken  Zeigefinger  und  ließ  mich 
lange  nicht  los.  Dann  schwoll  der  Finger  an  und  sprang  bis  zum  Knochen 
auf.  Die  Sehne  war  zerrissen,  viel  Wasser  floß  heraus.  Dann  liieß  es, 
ich  bekomme  einen  steifen  Finger.  Ich  dachte:  „Wie  schade,  jetzt  kann 
ich  nicht  mehr  Klavier  spielen!"    Ich  erwachte  und  fand  meinen  Finger 

SO    fpst.  pincpar-hlnfon     rlafl   i/»Vi    iVin    ninVi  +   l-muin»»«™    1.^«v,+«  " 


so  fest  eingeschlafen,  daß  ich  ihn  nicht  bewegen  konnte.' 


„Dem  Schlaf  ging  ein  verzweifeltes  Gebet  voraus,  das  vorübergehende 
Ruhe  brachte.  Vor  der  Analyse  war  das  Mädchen  äußerst  unruhig  und  sehnte 
sich  nach  der  Geliebten,  sagte  sich  aber,  daß  sie  dann  nur  neues  Unglück 
über  jene  brächte." 

Die  Analyse  dieses  Traumes,  die  Pfister  leider  nicht  vollkommen  ge- 
lungen ist,  zeigt  uns,  daß  ihr  gesamtes  Gefühlsleben  unter  der  Gewalt  des 
infantilen  Erlebnisses  mit  der  Haushälterin  steht.   Die  ersten  Einfälle  dieser 
Träumerin,  die  sie  zu  dem  Traume  in  freien  Assoziationen  vorbringt,  beziehen" 
sich  auf  die  Haushälterin,  die  sich  hinter  der  Figur  der  Katze  verbirgt. 

ich  habe  einjnal  in  einem  größeren  Atffsatz  „Die  Darstellung  der  Neu- 
rose im  Traume"1)  besprochen.  In  diesem  Traume  wird  das  Leiden  durch 
einen  steifen  Finger  symbolisiert.  „Klavier  spielen"  ist 
wieder  ein  Symbol  für  den  Geschlechtsverkehr  und  Onanie.  Wahrscheinlich 


1)  Zentralblatt  für  Psychoanalyse,   III.  Bd.,  S.  26. 


Tardivc  Homosexualität.  —  Bedeutung  der  sexuellen  Infektionen.  293 

hat  das  Symbol  hier  die  affektative  Färbung  von  der  Onanie  bekommen.  Aber 
die  heterosexuelle  Bedeutung  ist  gleichfalls  durchsichtig  (Klavier  spielen  = 
koitieren).    Übersetzen  wir  den  Traum,  so  heißt  er: 

Die  Haushälterin,  diese  falsche  Katze,  welche  vor  den  Eltern  die  an- 
hängliche Person  spielte,  machte  mich  krank  durch  ihre  lang  fortgesetzten 
Zärtlichkeiten.  '(»Eine  Katze  biß  mich  vorn  am  linken  Zeigefinger  und  ließ 
mich  lange  nicht  mehr  los.")  Das  Übel  wurde  dann  immer  ärger,  in  mir  riß 
etwas  Wertvolles  (die  Fähigkeit,  einen  Mann  zu  lieben!)  und  die  Form  der 
homosexuellen  Liebe  setzte  sich  für  immer  fest  (Versteifung!).  Nun  bin  icli 
für  die  Liebe  zu  einem  Manne  untauglich,  ich  kann  keine  Mutter  werden  und 
keine  Familie  gründen,  was  mich  schon  viele  Tränen  gekostet  hat.  (Das  viele 
Wasser!) 

Nun  könnte  man  vielleicht  an  dieser  Deutung  zweifeln  und  sie  als  will- 
kürlich und  gesucht  bezeichnen.  Die  Patientin  erinnert  sich  aber  an  weitere 
Details  des  Traumes,  die  sie  alle  mitteilt.  Derartige  Nachträge  sind  außer- 
ordentlich wichtig,  weil  sie  das  am  meisten  zensurierte,  verdrängte  Material 
enthalten.  Sie  erinnert  sich,  daß  das  Kätzchen  sie  zuerst  in  den  Fuß  beißen 
wollte  (was  ja  wegen  der  Nähe  des  Genitales  von  Bedeutung  ist).  Ferner 
erzählt  sie  die  Fortsetzung  des  Traumes: 

Das  Wasser  lief  die  Treppe  hinunter.  Ich  lief  mit  meiner  Wunde 
zu  einer  befreundeten  Ärztin.  Diese  kam  mir  plötzlich  in  der  Nähe  eines 
Karussels  entgegen.  Da  sagte  die  Schwester  der  Verunglückten:  „Die 
kann  dir  gleich  den  Finger  in  Ordnung  bringen."  Allein  die  Ärztin  ent- 
gegnete: „Es  tut  mir  leid,  ich  operiere  nicht."  Sie  schickte  die  Kranke 
zu  einem  Arzte. 

Die  Auflösung  ist  nicht  schwer.  Der  Jammer  ist  groß.  Die  Tränen 
überschwemmen  ihr  die  ganze  Seele.  (Das  Haus  als  Symbol  der  Seele!)  Sie 
suchte  eret  eine  Ärztin  ihrer  Leiden.  Ein  Weib  soll  sie  heilen.  Das  Leben  ist 
ein  Ringelspiel  (Karussel),  alles  dreht  sich,  sie  kann  ja  noch  glücklich  werden. 
Aber  die  Ärztin  gibt  ihr  die  richtige  Antwort.  Du  brauchst  einen  Arzt!  Nur 
ein  Mann  kann  dich  heilen!  Ich  operiere  nicht.  Ich  kann  das  Weib 
in  dir  nicht  erwecken  (dich  nicht  deflorieren?). 

Ein  weiterer  Nachtrag  besagt,  daß  der  Finger  ein  Magazin  wie  ein 
Repetiergewehr  bekam.  Die  Deutung  von  Pfister,  daß  es  sich  um  ein 
phallisches  Symbol  handelt  und  daß  die  Kranke  die  Phantasie  hat,  sie  wäre 
ein  Mann  mit  einem  Phallus,  mag  ja  richtig  sein.  Eine  jede  Homosexuelle  wird 
den  Wunsch  haben,  ihre  psychische  Homosexualität  in  eine  physische  zu  ver- 
wandeln. Viel  wichtiger  scheint  mir  aber  eine  andere  Bedeutung  des 
Repetierens  zu  sein.  Dies  Trauma  hatte  die  Folge,  daß  sich  viele  andere 
homosexuelle  Traumen  anschlössen.  Das  Erlebnis  verlangte 
nach   Wiederholung. 

Ich  übergehe  die  weiteren  Bedeutungen  (Überdeterminationen)  des 
Traumes,  die  Pfister  mit  großem  Scharfsinn  hervorgehoben  hat.  Mir  handelte 
es  sich  dämm,  die  determinierende  Kraft  eines  Erlebnisses  nachzuweisen. 
Freilich  stecken  hinter  dem  Erlebnis  noch  andere  Kräfte  und  es  wäre  noch 
nachzuweisen,  warum  dies  Erlebnis  so  auf  sie  wirken  mußte,  die  bestimmte 
Konstellation  der  Familie  wäre  in  Rechnung  zu  stellen  usw.  Allein  der  Traum 
weist  mit  so  sicherer  Hand  auf  die  Ursache   der  seelischen  Verletzung  hin. 


294 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität.  —  Tardive  Homosexualität  usw. 


daß  wir  uns  aus  dem  einen  Profil  ihres  Leidens  das  ganze  Bild  konstruieren 
können. 

Noch  in  anderer  Hinsicht  ist  der  Fall  beweisend.  Die  Kranke  brach  die 
Analyse  bei  Pfister  rasch  ab,  weil  sie  sich  geheilt  fühlte.  Wir  kennen  diese 
Scheinheilungen,  welche  dazu  dienen,  die  Gefahr  der  Psychanalyse  abzu- 
wenden. Diese  Kranke  will  nicht  erkennen,  daß  sie  auch  heterosexuell  fühlt, 
ja  daß  ihr  ganzes  Sehnen  nach  der  Erfüllung  der  Mutterschaft  geht.  Der 
Traum  sagt  ja:  Ich  will  ein  Weib  sein  wie  alle  anderen  Weiber,  ich  will 
Kinder  gebären.  Rettet  mich  vor  der  Gefahr  der  Homosexualität.  —  Aber  ihr 
Bewußtsein  will  diese  Einstellungen  nicht  sehen.  Sie  stürzt  sich  mit  Leiden- 
schaft in  die  heterosexuelle  Richtung.  Pfister  glaubt,  daß  sie  sich  mit  dem 
Vater  identifiziert.  Dann  hieße  die  Szene,  in  der  sie  ein  Mädchen  küßt:  Ich 
lasse  mich  vom  Vater  (der  ein  schöner  stattlicher  Mann  war)  küssen.  Aber 
auch  die  Mutter  pflegte  sie  gerne  leidenschaftlich  zu  küssen.  So  scheinen  die 
verschiedensten  Kräfte  tätig  zu  sein,  um  bei  ihr  die  Fixierung  (Versteifung) 
der  Einstellung  herbeizuführen. 

In  der  Tat!  Die  Homosexualität  gleicht  einer  Ankylose.  Die  freie 
Beweglichkeit  der  Sexualität  erscheint  vollkommen  verhindert,  eine 
einzige  Stellung  ist  fixiert  und  jede  Bewegung  ist  nur  im  Rahmen  dieser 
Fixierung  möglich. 

Hat  die  Analyse  die  Macht,  solche  psychische  Ankylosen  aufzu- 
heben und  die  gebundenen  Kräfte  frei  zu  machen?  Kann  sie  in  diesem 
Falle  die  Angst  vor  dem  Manne  beheben,  das  Bangen  vor  den  Aufgaben 
der  Weiblichkeit,  denen  sich  die  Kranke  nicht  gewachsen  fühlt?  Wie 
weit  reichen  die  Möglichkeiten  der  seelischen  Orthopädie  bei  den  Homo- 
sexuellen? Ich  muß  meine  Leser  bitten,  mir  geduldig  durch  die  kom- 
plizierten Untersuchungen  zu  folgen,  ehe  wir  zur  Beantwortung  dieser 
Fragen  schreiten. 


Die  Homosexualität. 

VII. 

Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum   anderen  Geschlechte.  — 
Angst,  Ekel,  Haß  und  Wut.  —  Homosexualität  und  Epilepsie.  — 

Die  Forschungen  Sadgers. 

Jedermann  trügt  ein  Bild  des  Weibes 
von  der  Mutter  her  in  sich :  davon  wird  er 
bestimmt,  die  Weiber  überhaupt  zu  ver- 
ehren oder  sie  geringzuschätzen  oder  gegen 
sie  im  allgemeinen  gleichgültig  zu  sein. 

Nietzsche. 

Ich  habe  bei  den  bisherigen  Untersuchungen  über  Homosexualität 
immer  wieder  nachweisen  können,  daß  die  heterosexuelle  Richtung  beim 
Homosexuellen  nur  gehemmt  ist,  daß  es  aber  unrichtig  ist,  zu  behaupten, 
sie  wäre  gar  nicht  vorhanden.  Ich  habe  nachgewiesen,  daß  es  dem 
modernen  Kulturmenschen  unmöglich  ist,  seine  Bisexualität  zu  ertragen 
und  daß  er  entweder  seine  Hetero-  oder  seine  Homosexualität  unter- 
drücken muß.  Wir  mußten  uns  auch  überzeugen,  daß  die  organische 
Bisexualität  mit  der  psychischen  Bisexualität  nichts  zu  tun  hat. 
Hirschfeld  betont  es  ausdrücklich,  daß  er  die  Homosexualität  bei  sehr 
virilen  Männern  und  sehr  weiblichen  Frauen  konstatieren  komite.  Das 
ergibt,  wie  Bloch  richtig  bemerkt,  ein  Rätsel,  das  er  das  Rätsel  der 
Homosexualität  nennt.  Die  organische  Theorie  der  Homosexualität  hat 
Schiffbruch  gelitten.  Man  sollte  nun  glauben,  daß  sich  die  Forscher 
zu  der  psychologischen  gewendet  hätten.  Nein!  Die  psychischen 
Kräfte  werden  unterschätzt,  und  die  heterosexuelle  Periode  der  Homo- 
sexuellen wird  nicht  in  Rechnung  gezogen.  Wenn  Hirschfeld  schon 
betont,  es  wäre  ein  Verdienst  der  Psychanalyse,  daß  sie  bei  jedem 
Homosexuellen  die  heterosexuelle  Richtung  nachgewiesen  habe,  warum 
zieht  er  aus  dieser  von  ihm  anerkannten  Tatsache  keine  Konsequenzen? 
Er  kommt  zu  folgenden  Schlüssen: 

I.  Die  echte  Homosexualität  ist  's  t  e  t  s  ein  angeborener  Zustand. 

IL  Dieser  angeborene  Zustand  besteht  in  einer  spezifischen  homo- 
sexuellen Konstitution  des  Gehirns. 


*°6  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

III.  Diese  spezifische  Gehinikonstitution  ist  durch  ein  besonderes 
Mischungsverhältnis  der  männlichen  und  weiblichen  Erb- 
substanz gekennzeichnet. 

IV.  Dieses  mannwei bliche  Mischungsverhältnis  ist  häufig  vergesell- 
schaftet mit  stärkerer  Labilität   des   Nervensystems. 

V.  Zwischen  der  spezifischen  und  nervösen  Konstitution  des 
Zentralorgans    besteht    ein    kausaler    Zusammenhang. 

VI.  Alle  äußeren  Ursachen  sind  nur  wirksam  beim  Vorhanden- 
sein der  inneren  homosexuellen  Konstitution. 

VII.  Die  äußeren  Ursachen  -  Anlässe  -  sind  so  allgemeine  Er- 

SSffftlf^  ?  "%   d°r  Fä,lG  die  angeb01'ene  ^'"osexuele  Kon- 
stitution früher  oder  später  erwacht  und  klar  in  das  Bewußtsein  tritt. 

noch    T /l,     ",H°T?Ua!ität   ist  weder  *"«**■»  noch  Entartung, 
noch    Laster    oder    Verbrechen,    sondern    stellt     ein     Stück     der 

waturordnung  dar,  eine  sexuelle  Variante,  wie  zahlreiche 
r^Sg394.TU     "  "^   lm   Tie'"   "mI   **!»™**>   (mrscMM, 

Unser  Material  hat  uns  diese  Erkenntnisse  nicht  bestätigen 
können.  Wie  darf  Hirschfeld  von  einem  angeborenen  Zustand  der 
Homosexualität  sprechen,  wenn  er  an  einer  anderen  Stelle  des  Werkes 
das Regelmäßige  Vorhandensein  des  heterosexuellen  Triebes  zugestehen 
muß?  Wie  behaupten,  daß  der  urnische  Mensch  als 
Ganzes  aus  der  Tiefe  der  Individualität  empor- 
steigt, wenn  jede  genaue  Untersuchung  das  Gegenteil  beweist? 

Man  merke  doch  den  Gegensatz  in  den  Ausführungen: 

q  „Man  wendet  auch  hier  ein,  daß  alle  diese  Abweichungen  vom 
bexualtypus  in  der  Kinder-  und  Reifezeit  noch  keinen  sicheren  Schluß 
u,  it°/1noisexuali(ät  zulassen,  daß  diese  Lebensperiode  ohnehin  in  ge- 
schlechtlicher Hinsicht  indifferonziert  ist,  daß  sicherlich  oft  Knaben 
und  Madchen,  Jünglinge  und  Jungfrauen  vorkommen,  die  trotz  starker 
Anorogynie  und  sexueller  Inkongruenzen  später  völlig  heterosexuell 
werden.  Namentlich  dürften  die  der  Homosexualität  verwandten  Uber- 
gangsformen  in  der  Kindheit  oft  ähnliche  Vorstadien  wie  die 
Homosexualität  aufweisen;    s  o  z  e  i  gen  a  u  c  h  d  e  r  Transvestit 

Willem  r!ra?,SV?titin  °ft  9Ch0n  in  früher  Jugend 
ihiem     Geschlecht    nicht    entsprechende     Züge     und 

schon  als  Shf  ?£  T**  Passiviste">  Succubisten,  Maxisten 
Skta  in  f  Ä  80hl*  ,nännlich'  ™  Wiche  Aktivisten,  Inkubisten, 
«t  n t.  h  t  M^dchenzeit  nicht  sehr  weiblich  gewesen  sein,  wiewohl 
Bie  nachher  das  andere  Geschlecht  lieben,  also  heterosexuell  geartet  sind. 
In  solchen  Fällen  pflegt  dann  aber  das  Verhalten  zu  den  beiden  G<>- 
schlcchtern  anders  zu  sein  als  beim  urnischen  Kinde 

Eins  kann  jedenfalls  als  sicher  gelten.  Ist  ein  Kind  urnisch,  so 
entwickelt  sich  aus  ihm  ein  homosexueller  Mensch,  und  zwar  mit  der- 
selben unabänderlichen  Notwendigkeit,  mit  der  sich  aus  dem  „Normal- 
kinde"    ein    heterosexueller    Mensch    entwickelt.      So     steigt     die 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  297 

u  mische.  Persönlichkeit  als  ein  Ganges  elementar 
aus  der  Tiefe  der  Individualität  empor."  (Hirschfeld, 
1.  c.  S.  121.) 

Natürlich,  Hirschfeld  hat  ein  sicheres  Mittel,  jene  Fälle,  deren 
Anamnese  die  Heterosexualität  konstatiert,  auszuschalten.  Er  be- 
zeichnet sie  als  „Pseudohomosexualität"  und  streicht  sie  aus  der  Liste 
der  echten  urnischen  Persönlichkeiten.  Bloch  aber  nennt  diese  hetero- 
sexuelle Richtung  der  typischen  Homosexuellen  eine  Art  von  „Pseudo- 
heterosexualität".1)  Auf  diese  Weise  ist  eine  Beweisführung  nicht  mög- 
lich. Bloch  verlangt  ja  von  einer  richtigen  Theorie  der  Homosexualität, 
daß  sie  uns  alle  Fälle  erklären  könne.  Dies  kann  aber  die  Hirschfeld  - 
Theorie  vom  dritten  Geschlechte  nicht.  Sie  läßt  sich  weder  organisch 
noch  psychologisch  begründen  und  beweisen. 

Auch  die  Forschungen  und  Ergebnisse  von  Steinach,  die  von  den 
Hirschfeld ianern  als  unumstößlicher  Beweis  einer  organischen  Anlage 
ausgenützt  werden,  beweisen  nur  die  von  mir  immer  behauptete  bi- 
sexuelle organische  Anlage  des  Menschen.  Steinach  hat  bis  heute  noch 
keine  monosexuellen  Lebewesen  gefunden. 

Wie  kommt  es  aber,  daß  der  Homosexuelle  sich  so  völlig  vom 
geschlechtlichen  Partner  abgewendet  hat?  A.Adler  hat  für  alle  diese 
Fälle  die  Hypothese  der  „Angst  vor  dem  geschlechtlichen  Partner". 
Diese  Beobachtung  stimmt  für  eine  Anzahl  von  Homosexuellen  sicher, 
aber  nicht  für  alle.  So  einfach  arbeitet  die  Natur  nicht,  und  e  i  n 
Schlüssel  allein  löst  das  Rätsel  der  Homosexualität  nicht  auf. 

Wir  können  nach  den  bisherigen  Resultaten  unserer  Unter- 
suchungen sagen:  Dem  Homosexuellen  ist  der  Weg  zum  anderen  Ge- 
schlechte versperrt,  und  zwar  durch  psychische  Kräfte..  Angst,  Ekel 
und  Haß  hemmen  die  Kraft  der  heterosexuellen  Triebe.  Damit  sind 
noch  nicht  alle  Hemmungen  erschöpft,  und  wir  werden  noch  weitere 
kennen  lernen.  Wir  müssen  uns  aber '  mit  der  Psychogenese  dieper 
Hemmungen  eingehend  und  ausführlich  beschäftigen. 

Kann  die  Angst  vor  dem  geschlechtlichen  Partner  das  Individuum 
in  die  Homosexualität  jagen?  Diese  Frage  müssen  wir  bejahen  und 
wir  können  diese  Angst  aus  einer  Reihe  von  Fällen  belegen. 


')  „Übrigens  kommt  bei  Homosexuellen,  wo  die  gleichgeschlechtliche  Empfindun;; 
<M\-i.  nach  der  Pubertät  in  bestimmter  Weise  sich  geltend  macht,  auch  eine  ganz  analoge 
Neigung  zum  anderen  Geschlecht  vor  und  während  der  Pubertät  vor.  So  erzählte  mir 
ein  23jähriger  _  typischer  Homosexueller,  der  «jetzt  horror  femiuae  hat,  daß  er  mit 
16  oder  17  Jahren  für  Mädchen  stark  geschwärmt  habe  und  ihnen  nachgelaufen  sei, 
übrigens  ohne  geschlechtliche  Begierden.  Diese  vorübergehende  unklare  Schwärmerei 
Homosexueller  für  das  andere  Geschlecht  ißt  eine  Art  von  „Pseudo-Heterosexualität1-. 
(Bloch,  1.  c.  S.  597.) 


298 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Betrachten  wir  zuerst  den  Fall  von  Krafft-Ebing  (Beob- 
achtung 159) ,  weil  er  einfach  und  durchsichtig  ist. 

Fall  Nr.  54.  Frau  X.,  26  Jahre,  7  Jahre  verheiratet,  gesteht,  daß  sie 
von  jeher  mehr  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechtes  neige,  ihren  Mann 
zwar  achte  und  gern  habe,  jedoch  vom  ehelichen  Verkehr  mit  ihm  angewidert 
sei.  Sie  habe  es  dahin  gebracht,  daß  er  seit  der  Geburt  des  jüngsten  Kindes 
ihr  ehelich  nicht  mehr  beiwohne.  Schon  im  Pensionat  habe  sie  sich  in  einer 
Weise  für  andere  junge  Damen  interessiert,  die  sie  nur.  als  Liebe  bezeichnen 
könne.  Episodisch  habe  sie  sich  aber  auch  zu  einzelnen 
Herren  hingezogen  gefühlt,  und  in  letzter  Zeit  sei 
ihrer  Tugend  ein  Kurmacher  geradezu  gefährlich  ge- 
worden. Sie  lebte  oft  in  Angst,  daß  sie  sich  mit  ihm 
vergessen  könnte,  und  vermeide  deshalb,  mit  ihm  allein 
zu  sein.  Das  seien  aber  nur  flüchtige  Episoden  gegenüber  ihrer  leiden- 
schaftlichen Neigung  •  zu  Personen  des  eigenen  Geschlechtes.  Küsse,  Um- 
armungen solcher,  intimer  Verkehr  mit  ihnen  sei  ihre  wahre  Sehnsucht.  Die 
Nichtbefriedigung  dieser  Dränge  martere  sie  und  habe  großen  Anteil  an  ihrer 
Nervosität.  In  einer  bestimmten  sexuellen  Rolle  fühlt  sich  Patientin  nicht 
gegenüber  Personen  des  eigenen  Geschlechtes,  auch  wüßte  sie  mit  solchen 
nichts  anzufangen,  als  sie  zu  küssen,  zu  umarmen,  mit  ihnen  zu  koseu. 
Patientin  hält  sich  selbst  für  eine  sinnliche  Natur.  Es  ist  wahrscheinlich, 
daß  sie  masturbiert.  Ihre  sexuelle  Perversion  erscheint  ihr  „unnatürlich 
krankhaft".  Nichts  im  Benehmen  und  Äußeren  dieser  Dame  deutet  auf  eine 
solche  Anomalie.  Über  ihre  Kindheit  weiß  Patientin  nichts  von  Belang  zu 
berichten.  Sie  lernte  leicht,  war  dichterisch  und  ästhetisch  begabt,  galt  als 
ein  bißchen  überspannt,  das  Romanlesen  und  Sentimentale  liebend,  von  neuro- 
pathischer  Konstitution,  äußerst  empfindlich  gegen  Temperatui'schwankungen. 
Bemerkenswert  ist  noch,  daß  Patientin  eines  Tages,  10  Jahre  alt,  da  sie 
meinte,  die  Mutter  liebe  sie  nicht,  Zündhölzer  im  Kaffee  einweichte  und 
diesen  trank,  um  recht  krank  zu  werdenund  damit  die 
Liebe    der    Mutter    auf    sich    zu    lenken. 

Hier  sehen  wir  die  Neigung  zu  einem  heterosexuellen  Verkehr, 
der  aber  aus  Angst  nicht  gepflegt  wird.  Diese  Frau  mit  starker  homo- 
sexueller Veranlagung,  wie  schon  die  Liebe  zu  ihrer  Mutter  zeigt, 
heiratete  einen  Mann,  bei  dem  sie  frigide  ißt,  fürchtet  aber,  mit  einem 
Manne,  der  ihr  gefällt,  allein  zu  sein,  weil  er  ihr  zu  gefährlich  ist. 
Man  sieht,  wie  die  ausgesprochene  Bisexualität  sie  dahin  führt,  sich 
in  einen  Mann  zu  verlieben,  in  der  Phantasie  seine  Geliebte  zu  werden, 
daß  sie  aber  fürchtet,  die  Phantasie  in  Realität  umzuwandeln,  daß  sie 
sich  scheut,  den  heterosexuellen  Weg  aus  „Angst  vor  der  Sünde"  zu 
beschreiten.  Sie  nennt  dann  diese  heterosexuellen  Neigungen  flüchtige 
Episoden  und  gibt  sich  ihren  homosexuellen  Phantasien  hin.  Sie  be- 
findet sich  auf  der  Flucht  vor  dem  Manne.  Sie  fürchtet  den  Mann,  den 
sie  liebt,  weil  eine  starke  Liebe  eine  Unterwerfung  unter  den  Mann 
bedeuten  würde.  Sie  flieht  den  Mann,  nicht  weil  er  ihr  nichts  geben 
kann,  sondern  weil  sie  ihn  fürchtet.   Aber  wir  müßten  wissen,  wie 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Gcscblechto.  299 

diese  Flucht  vor  dem  Manne,  die  sich  auch  in  der  Dyspareunie  äußert, 
zustande  gekommen  ist.  Wie  wenig  sagen  uns  solche  Kranken- 
geschichten, wenn  die  psychologische  Analyse  fehlt!  Ich  habe  bei  der 
Besprechung  der  Dyspareunie1)  ähnliche  Fälle  besclnieben  und  dabei 
zeigen  können,  wie  sich  diese  Flucht  vor  dem  Mann  entwickelt. 

Wir  haben  von  Freud  gehört,  daß  diese  Angst  eine  verdrängte 
Libido  sei  wie  der  Ekel.  Meine  Forschungen  haben  uns  gezeigt,  daß 
jede  Angst  in  erster  Linie  die  Angst  vor  sich  .selbst  ist. 

Warum  aber  sollte  der  Homosexuelle  sich  vor  sich  fürchten,  wenn 
er  mit  einem  Weibe  zusammenkommt?  Er  fürchtet  das  Übermaß 
seiner  Sexualität,  wenn  sie  sich  mit  kriminellen  Impulsen  verbündet. 

Man  kann  es  gar  nicht  ermessen,  wie  häufig  hinter  mancher  Im- 
potenz und  hinter  der  Homosexualität  die  Angst  vor  der  eigenen 
kriminellen  Aggression  steckt.  Krafft-Ebing  beschreibt  einen  typischen 
Bisexuellen,  der  ein  einziges  Mal  bei  einem  Weibe  Orgasmus  empfand. 
Das  war  aber,  als  er  sich  ein  Stuprum  zuschulden  kommen  ließ.  (Be- 
obachtung 142,  S.  273.)  „Merkwürdigerweise  hatte  er  dieses  einzige 
Mal  beim  (erzwungenen)  Akt  ein  Wollustgefühl.  Gleich  nach  der  Tat 
empfand  er  Ekel.  Als  er  eine  Stunde  nach  dem  Stuprum  mit  demselben 
Weib  und  mit  dessen  Zustimmung  koitierte,  hatte  er  kein  Wollust- 
gefühl mehr."  Das  beweist  uns,  daß  sich  dieser  Orgasmus  an  die  Be- 
dingung einer  Vergewaltigung  knüpfte.  Die  Angst  ist  die  Angst  vor 
der  Gewalttat,  der  Ekel  der  Ekel  vor  .sich  selbst,  beide  bestimmt,  den 
Menschen  vor  Handlungen  zu  bewahren,  gegen  die  sich  sein  Ethos 
sträubt. 

Ich  kenne  eine  ganze  Menge  von  Homosexuellen,  die  es  mir  ge- 
standen haben,  daß  sie  ein  Weib  nur  koitieren  könnten,  wenn  sie  in 
großer  Wut  wären.  Dann  aber  hätten  sie  Angst  vor  sich  selbst,  so 
gefährlich  wären  sie.  Einer  berichtete  mir,  er  habe  das  Weib  fast  er- 
drosselt. Andere  Homosexuelle  fühlen  nach  einem  Koitus  eine  unaus- 
sprechliche Wut.  In  diesen  Fällen  ist  die  heterosexuelle  Betätigung 
an  die  Bedingung  eines  kriminellen  Aktes  assoziiert.  Es  bestehen  un- 
bewußte Phantasien,  die  Frauen  zu  stechen,  sie  zu  erdrosseln,  zu  er- 
schlagen. Diese  Menschen  sind  starke  Frauenhasser  und  der  Haß  ist 
immer  tödlich. 

Ich  möchte  nur  eine  einzige  einschlägige  Beobachtung  mitteilen. 

Fall  Nr.  55.  Herr  H.  K.  ist  ein  bekannter  Homosexueller,  der  besonders 
die  einfachen  Männer  bevorzugt.  Je  kräftiger  der  Mann  ist,  desto  größer 
ist  sein  Orgasmus.  Er  wählt  mit  Vorliebe  Packknechte,  Lastträger,  Möbel- 
packer und  andere  muskelstarke  Menschen.    Den  größten  Orgasmus  hatte  er 


*)  Im  III.  Bande  der  Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebens. 


300  7  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

bei  einem  Mitglied  eines  Athletenklubs,  der  aber  einen  auffallend  kleinen 
Penis  hatte.  Vor  Frauen  hat  er  eine  so  heillose  Angst,  daß  er  mit  keiner 
Frau  allein  im  Zimmer  bleibt.  Er  erinnert  sich  nicht,  jemals  für  eine  Frau 
Sinnlichkeit  empfunden  zu  haben.  Er  versuchte  einige  Male  zu  Dirnen  zu 
gehen,  lief  aber  sofort  aus  dem  Zimmer,  als  er  mit  ihnen  allein  war.  Kalter 
Schweiß  trat  ihm  auf  die  Stirn  und  er  eilte  davon,  als  wenn  er  von  tausend 
Dämonen  gehetzt  würde.  Die  kurze  Analyse  von  einigen  Tagen  ergibt,  daß 
es  sich  um  einen  typischen  Kriminellen  handelt,  der  lange  Zeit  mit  der 
Phantasio  onanierte,  daß  er  eine  Frau  erwürgt.  („Man  sollte  alle  Frauen 
umbringen"  .  .  .  ist  eine  beliebte  Redewendung  dieses  Mannes.)  Aber  auch 
Männer  hat  er  in  seinen  Phantasien  vergewaltigt  und  die  Idee,  einem  Manne 
den  Anus  aufzuschneiden,  sei  ihm  schon  einige  Male  gekommen. 

Die  Angst  vor  den  Frauen  ist  die  Angst,  er  könnte  sich  vergessen 
und  eine  der  Frauen  erdrosseln.  Aber  er  hat  auch  Angst  vor  den  Männern, 
das  heißt,  er  fürchtet,  er  könnte  auch  einem  Mann  etwas  antun.  Deshalb 
sichert  er  sich  durch  die  "Wahl  von  starken  Männern.  Sie  müssen  stärker 
sein  als  er.  Dann  ist  er  sicher,  daß  er  sie  nicht  vergewaltigen  kann.  In 
der  letzten  Zeit  suchte  er  nach  einem  Mannweibe,  das  stärker  sein  sollte  als 
er.  Offenbar  will  er  auch  da  geschützt  sein  .  .  .  gegen  eich  selbst.  Die 
Homosexualität  erwies  sich  als  Flucht  vor  seinen  kriminellen  heterosexuellen 
Trieben. 

Andere  Homosexuelle  schützen  sich  vor  dem  Weibe  mit  Ekel.  Wie 
nahe  hier  Haß,  Angst  und  Ekel  als  Schutzmaßregeln  zusammenwirken, 
mögen  die  nachfolgenden  Beobachtungen  von  Hirschfeld  erweisen: 

„Ein  Homosexueller  teilte  mir  mit,-  daß  er  zwar  mit  einem  Weibe 
ganz  gut  verkehren  könne,  nach  dem  Akt  aber  eine  solche  Wut  gegen 
die  Frau  habe,  daß  er  einmal  hinterher  vor  einer  ausgespien  hätte;  um 
das  nicht  wieder  zu  tun,  laufe  er  jetzt  immer  unmittelbar  nach  der 
Ejakulation  so  rasch  wie  möglich  aus  dem  Zimmer." 

„Bis  zu  welcher  Höhe  sich  solche  Aversion  steigern  kann,  zeigt 
der  Fall  des  homosexuellen  Herzogs  von  Praslin-Choiseul,  der 
1864  in  Paris  seine  junge  Gattin,  die  Tochter  des  Generals  Sebastian  i, 
post  coitum  erdrosselte.  Es  mag  hier  hinzugefügt  werden,  daß 
die  Mehrzahl  der  sadistischen  Frauen,  die  masochistischen  Männern  auf 
deren  Wunsch  die  schwersten  körperlichen  und  geistigen  Mißhandlungen 
verabreichen,  in  Wirklichkeit  homosexuelle  Frauen  sind,  die  eine  sexuelle 
Abneigung  gegen  Männer  haben.  Professor  Albert  Eulenburg  sagte  mir, 
daß  die  angeblichen  Sadistinnen,  die  er  kennen  gelernt  hat,  sich  sämt- 
lich als  homosexuell  herausgestellt  hätten.  Auch  ich  kenne  unter  zwölf 
Sadistinnen  nur  drei,  die  Homosexualität  in  Abrede  stellen."  (Hirsch- 
leid,  1.  c.  S.  96.) 

Erst  hören  wir  von  einem  Homosexuellen,  der  aus  Angst  vor  sich 
selbst  rechtzeitig  davonläuft.  Das  Anspeien  mag  der  symbolische  Er- 
satz einer  anderen  Handlung  sein.  Bedürfte  es  noch  eines  Beweises  für 
die  Richtigkeit  meiner  Ausführungen,  der  Fall  des  Herzogs  von  Praslin- 
Choiseul  wäre  der  klarste,  den  ich  mir  wünschen  könnte.  Natürlich 
verwechselt  hier  Hirschfeld  wie  so  häufig  Ursache  und  Wirkung.   Der 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  audereu  Gescblechtc.  30]. 

Herzog  erdrosselte  die  Frau  nicht,  weil  er  homo- 
sexuell war,  sondern  er  flüchtete  in  die  Homo- 
sexualität, weil  er  ein  Lust  m  Order  war  und  sich 
gegen    seine    wilden    Triebe    schützen    wollte. 

Besonders  interessant  vom  kriminell-psychologischen  Standpunkte 
sind  die  Epileptiker,  die  in  den  Anfällen  ihre  gewöhnliche  sexuelle 
Richtung  ändern.  Der  Epileptiker  ist  ein  Krimineller,  der  im  epi- 
leptischen Anfall  ein  Verbrechen  begeht.  Meist  in  der  Phantasie,  hie 
und  da  kommt  es  aber  auch  zu  Taten,  wie  man  sie  oft  gräßlicher  nicht 
ausdenken  kann.  Im  epileptischen  Anfalle  lebt-  der  Epileptiker  seine 
Kriminalität  aus.  Der  Anfall  ist  ein  Äquivalent  des  Verbrechens.  Ich 
muß  alle  Leser,  die  sich  für  diese  bedeutsame  Frage  interessieren,  auf 
meine  Originalarbeit  verweisen.1)  Ich  habe  mich  sehr  gewundert,  daß 
sie  von  den  Neurologen  und  Kriminalisten  so  wenig  gewürdigt  wurde. 
Es  ist  dies  schon  das  Los  der  Psychanalytiker.  Die  hohe  Wissenschaft 
hat  uns  ja  mit  dem  großen  Bann  belegt  und  so  werden  unsere  Arbeiten' 
nicht  einmal  referiert  und  finden  keinen  Eingang  in  die  Literatur,  auch 

■ 

wenn  sie  von  grundlegender  Bedeutung  sind,  wie  mein  Aufsatz  über 
Epilepsie. 

Die  Epilepsie,  mit  Ausnahme  der  Jackson-Epilepsie,  ist  eine  be- 
sondere Form  der  Hysterie.  Auch  im  hysterischen  Anfalle  setzen  sich 
unbewußte  Kräfte  durch,  und  das  Individuum  erledigt  verschiedene 
Triebregungen  mit  Ausschaltung  des  Bewußtseins.  Der  epileptische 
Anfall  ist  mehr  krimineller,  der  hysterische  rein  sexueller  Natur. 
Natürlich  kann  der  epileptische  Anfall  auch  ein  sexuelles  Verbrechen 
(Lustmord)  ersetzen,  und  dies  ist  sehr  häufig  auch  der  Inhalt  der  An- 
fälle. Man  wird  es  dann  verstehen,  daß  Homosexuelle,  die  vor  dem 
Lustmorde  fliehen,  an  Anfällen  erkranken,  in  denen  sie  sich  ausleben. 
Wir  werden  ein  solches  Beispiel  bei  der  Besprechung  des  Sadismus'-) 
ausführlich  analysieren.  Ich  möchte  hier  nur  auf  die 
interessante  Tatsache  aufmerksam  machen,  daß 
Heterosexuelle  im  epileptischen  Anfalle  homo- 
sexuelle   Akte    begehen    und    umgekehrt. 

Fall  Nr.  56.  Herr  W.  A.,  ein  39jähriger,  kräftiger  junger  Mann  aus 
der  Umgebung  Wiens,  kommt  in  meine  Behandlung  und  wird  mir  jedesmal 
von  einem  Begleiter  vorgeführt.  Er  leidet  seit  dem  16.  Lebensjahre  an 
Anfällen,  fiel  schon  mehrere  Male  auf  der  Straße  um.  Deshalb  will  er 
nicht   allein   gehen   und   spaziert   immer   in   Gesellschaft   seines   Begleiters, 


*)  Nervöse  Angstzustände.  3.  Auflage,  S.  523. 

2)  Band  VII  der  Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebens. 


302  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

eines  einfachen  Menschen,  an  den  er  sich  sehr  attachiert  hat.  Er  ist  jetzt 
vollkommen  arbeitsunfähig,  da  es  sich  herausgestellt  hat,  daß  die  Anfälle 
viel  häufiger  kommen,  wenn  er  arbeitet.  Mit  Hilfe  seiner  Anfälle  hat  er 
durchgesetzt,  daß  er  von  seinem  wohlhabenden  Vater  auf  dem  Lande  gehalten 
wird  und  nichts  anderes  zu  tun  hat,  als  spazieren  zu  gehen.  Er  ist  sanft 
und  gefügig,  so  lange  man  ihm  zu  willen  ist.  Er  gerät  aber  in  große  Wut, 
wenn  man  ihm  widerspricht.  Diese  Wut  zeigt  er  nicht,  sondern  beherrscht 
sich  und  hat  bald  darauf  einen  Anfall,  vor  dem  er  alles  rot  sieht. '  Er  macht 
sich  heftige  Vorwürfe,  daß  er  nichts  geworden  ist  und  seine  Eltern  so  kränken 
muß.  Seine  ethische  Anschauung  ist  eine  sehr  hohe,  was  differential- 
diagnostisch gegenüber  der  echten  Epilepsie  von  großer  Bedeutung  ist.  Er 
jammert  über  sein  verlorenes  Leben  und  möchte  gerne  geheilt  sein.  Wenn 
es  nur  einen  Weg  gäbe,  um  ihn  von  dem  Leiden  zu  befreien!  Von  seinem 
Sexualleben  erzählt  er,  daß  er  ausgesprochen  homosexuell  'sei,  und  ihn  be- 
sonders Knaben  und  sehr  junge  schöne  Männer  reizen.  Der  Begleiter  ist . 
offenbar  eine  Sicherung  gegen  seine  homosexuellen  Regungen.  Wenn  er  Knaben 
sieht,  die  ihm  gefallen,  klammert  er  sich  an  seinen  Wärter  und  simuliert, 
daß  er  Angst  habe,  es  werde  zu  einem  Anfalle  kommen.  Jetzt  auf  dem  Lande 
0  habe  er  die  Anfälle  nur  des  Nachts  in  seinem  Bette.  Er  erinnert  sich  nicht 
an  eine  Aura,  außer  daß  er  alles  rot  sieht,  und  kann  sich  auch  an  keinen 
Traum  erinnern,  der  den  Anfall  einleitet  und  begleitet.  Er  onaniert  zeit- 
weilig; immer  mit  der  Phantasie,  daß  er  mit  kleinen  schönen  Jungen 
spielt.  Ich  mache  den  Eltern  den  Vorschlag,  ihn  analytisch  behandeln  zu 
lassen.  Bei  der  Aussichtslosigkeit  der  bisherigen  Therapie  hätte  er  wenigstens 
eine  Chance,  gesund  zu  werden.  Der  Vater  war  damit  auch  einverstanden. 
Doch  da  der  Kranke  ziemlich  weit  von  Wien  wohnte,  riet  ich  dem  Vater,  den 
Sohn  für  die  Dauer  der  Behandlung  nach  Wien  zu  nehmen.  Der  Vater  war 
auch  damit  einverstanden.  Am  nächsten  Tage  aber  kam  die  Mutter  und  bat 
mich,  zu  bewirken,  daß  der  Sohn  nicht  in  Wien  bleibe.  Er  komme  dann  in 
die  Wohnung  und  sie  habe  vor  ihm  fürchterliche  Angst.  Ihr  Mann  wisse 
das  nicht,  sie  habe  es  ihm  verschwiegen.  In  den  Anfällen  komme  es  vor, 
daß  der  Sohn  sich  auf  sie  stürze  und  sie  vergewaltigen  wolle.  Sie  habe  es 
einmal  nur  mit  dem  Aufgebot  der  letzten  Kräfte  verhindern  können.  Dabei 
rolle  er  die  Augen  und  drohe  ihr,  daß  sie  sterben  müsse,  sie  sei  an  allem 
schuld.  Ich  ließ  den  Kranken  daraufhin  nur  zweimal  in  der  Woche  zu  mir 
kommen.  Allein  schon  beim  dritten  Mal  blieb  er  aus,  weil  ich  als  erste  Be- 
dingung für  die  Behandlung  verlangte,  daß  er  sich  beschäftigen  möge.  Schon 
am  nächsten  Tage  reagierte  er  mit  einigen  Anfällen.  Der  Vater  fand,  daß 
seinen  Sohn  „die  Behandlung  zu  sehr  aufrege",  und  ich  willigte  gern  in  den 
Abbruch  der  Analyse,  weil  der  Vater  sich  ganz  auf  die  Seite  des  Sohnes 
stellte  und  gegen  jede  Beschäftigung  lebhaft  protestierte. 

Der  Fall  zeigt  den  Durchbruch  der  Heterosexualität  im  Anfall« 
und  affektive  Beziehungen  zur  Mutter,  wie  sie  so  viele  Homosexuelle 
aufweisen,  wovon  wir  später  noch  sprechen  wollen. 

Umgekehrt  kommt  es  auch  vor,  daß  Heterosexuelle  im  Anfall» 
homosexuelle  Akte  begehen.  Immer  wird  eich  im  Anfalle  die  verdrängte 
Komponente  der  Sexualität  durchsetzen. 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  3Q3 

Tarnowsky  spricht  auch  von  „epileptischer  P  ä  d  e  r- 
a  s  t  i  e".1)  Meistens  seien  „die  epileptischen  Päderasten"  aktiv.  Er 
führt  als  Beispiel  einen  kriminellen  Fall  seiner  Beobachtung  an.  Ein 
junger,  reicher,  anscheinend  völlig  heterosexueller  Mann  ging  nach 
einer  üppigen  Mahlzeit,  bei  der  er  viel  Wein  getrunken  hatte,  in  die 
Wohnung  seiner  Geliebten.  Als  er  die  Herrin  nicht  zu  Hause  traf, 
ging  er  in  ein  Zimmer,  in  dem  ein  14jähriger  Bursche  schlief,  not- 
züchtigte diesen  und,  als  auf  sein  Geschrei  die  Zofe  herbeieilte,  diese. 
Darauf  schlief  er  12  Stunden.  Nach  dem  Erwachen  war  die  Episode 
mit  dem  Jungen  seinem  Gedächtnis  völlig  entschwunden.  Es  wurde 
festgestellt,  daß  er  besonders  nach  Alkoholgcnuß  epileptische  Anfälle 
hatte.  Nachdem  auch  Tarnowsky  solche  Anfälle  wiederholt  an  ihm 
beobachtet  hatte,  wurde  das  Verfahren  eingestellt.  Hirschfeld  bemerkt 
dazu:  „Im  allgemeinen  beeinflußt  die  epileptische  Neurose  —  die  ich 
im  übrigen  bei  Homosexuellen  nur  selten  beobachtet  habe  —  die 
Homosexualität  nur  in  der  Weise,  daß  sie  die  Hemmungen  in  Fortfall 
bringt  und  die  Impulsivität  des  Trieblebens  steigert.  Einen  besonders 
schweren,  hierhergehörigen  Fall  habe  ich  zurzeit  in  Begutachtung, 
einen  an  Epilepsie  leidenden  Diener,  der  in  einem  Zorn-  und  Wutanfall 
einen  Jungen  zu  Tode  würgte  und  dann  zerstückelte.  Hier,  wie  in 
anderen  Fällen,  handelt  es  sich  aber  von  vornherein  um  eine  Vergesell- 
schaftung von  Homosexualität  und  Epilepsie.  Zuzugeben  ist  allerdings, 
'  daß  sich  in  den  epileptischen  Verwirrtheitszuständen  ein  so  völliger 
Umschwung  aller  psychischen  Faktoren  vollzieht,  daß  auch  Äußerungen, 
die  dem  Bewußtsein  jedenfalls  völlig  fremd  sind  und  auch  dem  Unter- 
bewußtsein, soweit  sich  dieses  ermitteln  läßt,  fernliegen,  vorkommen 
können.  So  beobachtete  auch  Burchard  bei  einem  völlig  normalsexuellen 
Epileptiker  in  Verwirrtheitszuständen  homosexuelle  Attacken  auf  Mit- 
patienten."   (Hirschfeld,  1.  c.  S.  214.) 

Vom  epileptischen  Anfall  gilt  dasselbe,  was  ich  vom  Alkohol  ge- 
sagt habe.  Er  hebt  die  Hemmungen  auf  und  die  bisexuelle  und  kriminelle 
Natur  des  Menschen  kommt  unverfälscht  zum  Ausdruck.  Es  ist  auch 
bemerkenswert,  daß  der  Patient  von  Tarnowsky  vor  dem  Anfall  Al- 
kohol genossen  hatte. 

Daß  die  Anfälle  auch  simuliert  sein  können,  beweist  folgende 
Beobachtung. 

Fall  Nr.  57.  Herr  Z.T.,  ein  an  Angstzuständen  leidender  Bisexueller, 
erzählt,  daß  er  einmal  sehr  darunter  gelitten  hatte,  daß  die  Mutter  den 
Bruder  in  einer  Krankheit  sehr  verhätschelte.    Er  war  —  damals  22  Jahre 


')  B.  Tarnowsky,    Die    krankhaften    Erscheinungen    des    Geschlechtssinne6.     Eine 
forensisch-psychiatrische  Studie.  Berlin  1886,  S.  51  ff. 


304  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

alt  —  noch  immer  maßlos  eifersüchtig.  Einmal  war  er  mit  der  Mutter  allein 
im  Zimmer.  Er  wußte  nicht,  was  er  tat,  er  stürzte  sich  auf  die  Mutter  und 
wollte  sich  an  ihr  vergreifen.  Die  Mutter  schrie,  und  es  kamen  die  Schwester 
und  die  Dienstboten  herbei.  Er  aber  simulierte  einen  epileptischen  Anfall, 
stürzte  zu  Boden  und  blieb  so  eine  Stunde  scheinbar  bewußtlos  liegen  Es 
wurden  Ärzte  geholt,  welche  den  Zustand  als  eine  Epilepsie  auffaßten.  Er 
machte,  als  wenn  er  nichts  hören  würde,  und  stellte  sich  noch  zwei  Tage 
vollkommen  verwirrt.  Er  schämte  sich  unendlich  wegen  seiner  Tat.  Es 
wurde  ihm  kein  Vorwurf  gemacht,  und  er  kam  noch  für  zwei  Monate  in  ein 
schönes  Sanatorium. 

Wie  nahe  liegen  Spiel  und  Krankheit  bei  jedem  Neurotiker!  Dieser 
Mann  litt  auch  unter  der  Angst  und  dem  Ekel  vor  dem  Weibe,  welche  aber 
einer  analytischen  Behandlung  vollkommen  wichen,  ebenso  wie  seine  schweren 
Angstzustände.    Es  war  einer  meiner  schönsten  therapeutischen  Erfolge. 

Wir  kommen  nun  zur  Besprechung  des  Ekels,  den  die  Homo- 
sexuellen vor  dem  anderen  Geschlechte  empfinden.  Ich  habe  schon 
wiederholt  betont,  daß  dieser  Ekel  eine  verdrängte  Begierde  darstellt, 
daß  er  eine  Abwehr  unerträglicher  Vorstellungen  besorgen  muß.  Den 
gleichen  Ekel  zeigen  die  Heterosexuellen,  welche  ihre  Homosexualität 
unterdrückt  haben,  vor  dem  eigenen  Geschlechte.  Diese  Erfahrung 
macht  schon  der  Anfänger  in  der  Analyse,  und  es  gehört  heute  schon 
zum  psychologischen  Abc,  dies  konstatieren  zu  können.  Nichtsdesto- 
weniger werden  uns  immer  wieder  als  Beweise  der  Homosexualität  Ekel 
und  Abscheu  vor  dem  Weibe  vorgeführt.  Ekel  ist  kein  Beweis  eines 
Fehlens  der  Libido!  Die  Homosexuellen  müßten  eine  vollkommene  In- 
differenz gegen  das  andere  Geschlecht  zeigen.  Sie  spielen  diese  In- 
differenz manchmal,  aber  ihre  Stellung  zum  Weibe  ist  immer  affektativ 
und  negativistisch.  Hirschfeld  widerspricht  sich  wiederholt  in  dieser 
Frage. 

Einmal  betont  er,  daß  der  echte  Homosexuelle  sich  zum  Weibe 
indifferent  verhält,  daß  er  keinen  Ekel  zeigt: 

„Ich  befinde  mich  auch  hier  in  Übereinstimmung  mit  Numa  Pra«- 
torius,  der  in  einer  Kritik1)  einmal  bemerkt,  daß  bei  den  meisten 
Menschen  „zwar  nur  ein  Trieb  zu  einem  bestimmten  Geschlechte, 
aber  daneben  nicht  horror,  sondern  Indifferenz  zu  dem 
andern  besteht".  |  Er  meint,  daß  auch  der  Ekel  der  Heterosexuellen  vor 
gleichgeschlechtlichen  Handlungen  mehr  intellektuell,  mehr  durch  die' 
allgemeine  Anschauung  und  Beurteilung  begründet,  als  instinktiv,  ge- 
fühlsmäßig vorhanden  sei.  Läge  ein  wirklicher  horror  vor,  so  würden 
schwerlich  so  oft  und  leicht  Heterosexuelle  den  Homosexuellen  zu  Ge- 
fallen sein,  und  Homosexuelle,  wenn  auch  nur  durch  mechanische  Reizung, 
„onanieartige  Akte"  mit  dem  anderen  Geschlecht  vornehmen  können.'1 
(Hirschfeld,  1.  c.  S.  218.) 


J)  Jahrb.  f.  sex.  Zw.,  Bd.  IX,  1908,  S.  504. 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte. 


305 


An  anderen  Stellen  des  Buches  hören  wir  aber  das  Gegenteil: 

„Ein  26jähriger  Arbeiter  berichtet:  „Als  ich,  17  Jahre  alt,  einmal 
von  einem  älteren  Freunde  verleitet  wurde,  mit  einem  Weibe  geschlecht- 
lichen Umgang  zu  pflegen  —  ich  wußte  damals  noch  nichts  von  meiner 
urnischen  Natur  — ,  empfand  ich  eine  derartige  Übelkeit,  daß 
ich  Erbrechen  bekam.  Seitdem  hatte  ich  eine  heilige  Scheu,  vor 
der  Berührung  mit  dem  Weibe,  bis  ich  vor  wenigen  Wochen,  zur  Ver- 
zweiflung getrieben,  mit  meiner  Natur  zu  brechen  suchte.  Es  war  ver- 
gebens, weder  eine  richtige  Erektion  noch  Ejakulation  trat  ein,  dagegen 
habe  ich  mir  infolge  der  vergeblichen  Anstrengung  eine  Gliedentzündung 
zugezogen." 

„Ein  Kaufmann  aus  Bayern:  „Die  Folgen  des  wiederholten  Ver- 
kehrs mit  dem  Weib  waren  schwere  Nervenstörungen,  starkes  Un- 
wohlsein mit  Erbrechen  und  tagelange  Migräne.  Der  Geruch, 
welchen  das  Weib  ausströmt,  verursacht  mir  das  größte  Unbe- 
hagen, ich  bin  jetzt  unfähig,  ein  Weib  zu  befriedigen,  wogegen  die 
Umarmung  eines  Soldaten  mir  ein  unaussprechliches  Wonnegefühl  ver- 
schafft und  mich  kräftigt  und  stärkt."   (Hirschfeld,  1.  c.   S.  9G.) 

„Übrigens  hört  man  oft  von  Homosexuellen,  daß  es  ihnen  eher 
möglich  sei,  ein  Weib  zu  koitieren,  als  es  zu  küssen,  auch  daß  ihnen 
die  manuelle  Berührung  der  Genitalien  eine  größere  Überwindung  koste 
als  der  eigentliche  Akt."  (Hirschfeld,  1.  c.  S.  95.) 

Eine  noch   deutlichere   Sprache   tönt   aus    den  nächsten   Zeilen 
heraus : 

„Bei  hochgestellten  Damen,  Chefinnen  usw.  ist  es  sehr  auffallend, 
wie  viel  unfreundlicher  sie  die  männlichen  Angestellten,  Diener  usw. 
behandeln  als  das  weibliche  Personal.  Es  gibt  homosexuelle-  Männer, 
die  jede  weibliche  Bedienung  perhorreszieren,  „prinzipiell"  deshalb  nicht 
in  Restaurants,  in  denen  Kellnerinnen  servieren,  gehen.  Umgekehrt  gibt 
es  homosexuelle  Frauen,  die  aus  ähnlichen  Empfindungen  heraus  Ge- 
schäfte mit  männlichem  Personal  möglichst  meiden.  Ohne  zu  wissen 
weshalb,  empfinden  es  homosexuelle  Mädchen  schon  früh  als  überflüssig 
und  lästig,  sich  von  Herren  „nach  Hause  begleiten"  zu  lassen.  Vielen 
Urningen  und  Urlinden  verursacht  es  schon  ein  physisches  Un- 
behagen, sich  von  einer  Person  des  anderen  Geschlechtes  auch  nur 
den  Paletot  anhelfen  zu  lassen.  Es  sind  mir  einige  homosexuelle  Ärzte 
von  übergroßer  Sensitivität  bekannt,  bei  denen  die  Abneigung 
gegen  die  weiblichen  Sexualcharaktere  eine  so 
hochgradige  ist,  daß  körperliche  Untersuchungen 
von  Frauen,  speziell  von  deren  Geschlechtsteilen 
und  Brüsten,  für  sie  mit  lebhaften  Unlustempfin- 
dungen verbunden  sind,  die  sich  bis  zu  der  Unmög- 
lichkeit, die  Untersuchung  vorzunehmen,  steigern 
könne  n."  . 

„In  Charlottenburg  kannte  ich  einen  Homosexuellen,  der  sich 
rühmte,  daß  niemals  ein  weibliches  Wesen  seine  Wohnung,  die  er  seit 
mehr  als  20  Jahren  innehatte,  betreten  habe.  Zimmerreinigung,  Küche, 
alles  Wirtschaftliche  besorgte  er  sich  selbst.    Dieser  Fall  ist  nicht  Ver- 


Stekel.  Störungen  des  Trieb-  uud  AffektlebeDB.   II.  2.  Aufl. 


20 


306  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

einzelt.  Andrerseits  muß  schon  hier  betont  werden,  daß  nicht  etwa  jeder 
Weiberfeind  und  jede  Männerfeindin  homosexuell  sind.  Das  trifft  ebenso- 
wenig zu  wie  etwa  die  Voraussetzung,  daß  alle  homosexuellen  Männer 
ausgesprochene  Misogynen  oder  alle  homosexuellen  Frauen  Androphoben 
sind."  (Hirschfeld,  L  c.  S.  98.) 

Alle  diese  Mitteilungen  beweisen  mir,  daß  es  bei  den  Homo- 
sexuellen keine  indifferente  Einstellung  zum  anderen  Ge- 
schlechte gibt.  Wo  sie  angegeben  wird,  ist  sie  in  Zweifel  zu  ziehen  und 
hält  den  Erfahrungen  der  Analyse  nicht  stand.  Haß,  Wut,  Ekel, 
physisches  Unbehagen  sind  Sicherungen  gegen  das  andere  Geschlecht. 
Das  gilt  für  die  männlichen  und  weiblichen  Homosexuellen. 

Ich  werde  jetzt  meine  weiteren  Untersuchungen  für  eine  kurze 
Zeit  fast  nur  auf  den  männlichen  Homosexuellen  beschränken.  Ich  will 
es  versuchen,  klarzustellen,  wie  ich  zu  meiner  heutigen  Anschauung 
gekommen  bin.  Gerade  der  Ekel  der  Homosexuellen 
vor  dem  Weibe,  ihre  affektative  Ablehnung  des 
anderen  Geschlechtes  hat  mich  zu  neuen  An- 
schauungen geführt.  Ich  hatte  Gelegenheit,  einen  Homo- 
sexuellen zu  analysieren.  Schon  in  den  ersten  Stunden  kam  jene  hetero- 
sexuelle Periode  zum  Vorschein,  welche  keinem  Homosexuellen  fehlt. 
Vorher  hatte  ich  die  Analysen  der  Homosexuellen  abgelehnt,  da  ich  ja 
auf  dem  Boden  von  Hirschfeld  stand  und  den  Uranismus  für  eine  an- 
geborene Erscheinung  hielt.  Dieser  Kranke  hatte  allerlei  Angst- 
zustäride  und  wollte  nicht  von  der  Homosexualität,  sondern  von  der 
Angst  befreit  werden.  Vor  allem  litt  er  an  Angst  vor  dem  Weibe  und 
konnte  mit  keiner  Frau  allein  bleiben.  Unter  seinen  Bekannten  befand 
sich  auch  ein  älteres,  sehr  sympathisches  Fräulein.  Sie  konnten  stunden- 
lange Spaziergänge  machen,  aber  er  verlor  die  Angst  nicht  und  blieb 
mit  ihr  nie  in  einem  Zimmer  allein.  Sie  plauderten  entweder  in  einem 
Garten  oder  einem  Cafe.  Ich  durchblickte  natürlich  diese  Angst  und 
begann  den  Homosexuellen,  der  seit  Jahren  ein  Verhältnis  mit  einem 
älteren  Herrn  hatte,  auf  seine  Heterosexualität  zu  untersuchen.  Ich 
war  erstaunt,  als  aus  der  Kindheit  eine  Fülle  von  heterosexuellen  Er- 
lebnissen zutage  trat.  In  den  ersten  Tagen  hörte  ich  noch  die  be- 
kannte Anamnese  der  Uranier :  die  Mädchenspiele,  das  weibliche  Wesen, 
er  wäre  immer  ein  Mädchen  gewesen  usw.  .  .  Aber  bald  änderte  sich 
das  Bild,  es  trat  die  heterosexuelle  Einstellung  immer  deutlicher  hervor. 
Auffallend  war  seine  Liebe  zur  Mutter.  Einseitig,  wie  ich  damals  war, 
schloß  ich  etwas  voreilig  auf  die 'Wurzeln  der  Homosexualität  und 
schrieb  in  der  ersten  Auflage  der  Angstzustände  (1908),  nachdem  ich 
noch  einige  .ähnliche  Erfahrungen  gemacht  hatte:  „Wie  meine  neuesten 
Forschungen  'beweisen,  handelt  es   sich  in   diesen  Fällen  häufig   um 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  3Q7 

Neurosen.     Manche    Homosexualität   bessert    sich    oder    verschwindet 
nach  einer  psychanalytischen  Behandlung.    Die  Homosexualität  ist  nur 
die  gelungene  Abwehr  des  infantilen  Inzestgedankens.    Homosexuelle 
Männer  haben  bei  fremden  Frauen  nie  eine  erotische  Empfindung;    sie 
geben  an,  sie  könnten  bei  diesen  Frauen  nur  wie  für  eine  Schwester 
oder  eine  Mutter  fühlen.  Das  verrät  uns  die  Wurzel  der  Homosexualität. 
Der  Begriff  „Weib"  ist  mit  den  Begriffen  „Mutter"  und  „Schwester" 
unlöslich  assoziiert.    Aus  der  Abwehr  der  Inzestphantasie  erfolgt  die 
Flucht  in  die  Homosexualität.    Diese  Transponierung  wird  natürlich 
durch   ein    entsprechendes    somatisches   Entgegenkommen    ermöglicht. 
Auch  der  Homosexuelle  leidet  an  den  Reminiszenzen  der  Kindheit.   Die 
Homosexualität  wäre  also  nur  eine  besondere  Form  neurotischer  Ab- 
wehr."  Etwas  voreilig  hatte  ich  im  jugendlichen  Ungestüm   damals 
meine    Forschungsergebnisse    formuliert     und    besonders     die     thera- 
peutischen Aussichten  zu  optimistisch  aufgefaßt.   Ich  habe  mich  später 
vom  Gegenteil  überzeugt.    Viele  Patienten,   die .  sich  als   geheilt  be- 
trachteten,  waren  nur   gebessert   und  blieben  bei   ihrem   Uranismus. 
Auch  darüber  werden  wir  ausführlich  sprechen  müssen.    Ich  muß  nun 
das  Thema  „Mutter  und  Homosexueller"  eingehender  behandeln.    Ich 
habe  dies  Verhältnis  nach  dem  ersten  FreWschen  Schema  aufgefaßt. 
Ich  sah  damals  noch  nicht,  daß  noch  andere  Kräfte  mitspielen  können, 
wie  ich  sie  bereits  bisher  geschildert  habe.   So  handelte  der  erste  Traum 
meines  ersten  Homosexuellen  von  einem  Morde,  der  an  einer  Frau  be- 
gangen wurde;    ich  verstand  diesen  Traum  nicht.    Ich  wußte  nicht, 
daß  die  Angst  vor  dem  Weibe  die  Angst  vor  den  kriminellen  Impulsen 
war,  daß  dieser  Kranke  ein  Sadist  war,  der  sich  in  die  Homosexualität 
rettete,  um  kein  Verbrechen  zu  begehen.    Diese  Regungen  bestanden 
neben  seinen  Inzestphantasien,  die  besonders  stark  und  auch  vor  der 
Analyse  vollkommen  bewußt  waren.  Sie  wurden  nur  als  dem  Bewußtsein 
unerträglich  beiseite  geschoben.  Bald  hatte  Sadger  seine  erste  Analyse 
eines  Homosexuellen  publiziert  und  in  dieser  Arbeit  die  These  auf- 
gestellt,  die  Homosexualität  entstünde  wie  jede   Zwangsneurose   im 
vierten  Lebensjahre,  die  Analyse  müsse  trachten,  bis   in  das  vierte 
Lebensjahr  zu  kommen.1)    Sadger  betonte:  „Das  stand  mir  von  vor- 


*)  Fragment  der  Psychoanalyse  eines  Homosexuellen.  (Jahrb.  f.  sex.  Zwischen- 
stufen. IX.  Bd.,  1908.  Leipzig,  Verlag  Max  Spohr.)  Ein  Musterbeispiel,  wie  eine  Psych- 
analyse nicht  sein  soll,  eine  hochnotpeinliche  Untersuchung,  so  daß  der  Analysierte 
gequält  ausruft:  „Aber  erlauben  Sie  mir,  was  soll  ich  Ihnen  sagen?  Überhaupt  die 
letzte  Stunde  der  Analyse,  ich  weiß  nichts.  Sie  martern  mich  einfach, 
weiter  gar  nichts."  Die  wichtigsten  Einstellungen  werden  übersehen,  der  Patient 
gefoltert,  er  müsse  gestehen,  daß  er  Sadger  liebe,  so  daß  er  nach  14  Stunden  die 
Flucht  ergreift. 

20* 


308  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

hinein  fest,  erworben  konnten  homosexuelle  Neigungen  nur  sein,  wenn 
dies  in  den  ersten  vier  Lebensjahren  des  Uraniers  geschehen,  genau  so 
wie  bei  der  Hysterie  und  Zwangsneurose,  und  dies  mußte  eine  Psych- 
analyse aufdecken  können.  Was  auch  diese  'nicht  zu  lösen  vermochte, 
war  dann  angeboren,  entsprach  der  sexuellen  Konstitution." 

Diese  Arbeit,  die  voller  Einseitigkeiten  und  Widersprüche  ist, 
zeigt  noch  deutlich  das  Bestreben,  die  Homosexualität  auf  die  Liebe 
zum  Vater  zurückzuführen.  Die  Mutter  spielt  eine  bescheidene  Rolle: 
flüchtig  wird  erwähnt,  der  Analysierte  hätte  keinen  Menschen  mit 
solcher  Glut  geliebt  wie  die  Mutter;  eine  Tante  besaß  vor  dem  Tode 
der  Mutter  die  ganze  Liebe  des  Knaben. 

Aber  welche  Schlußfolgerungen  zieht  Sadger  aus  diesem  Falle? 
Gar  keine!  Er  freut  sich,  daß  er  ein  bedeutsames  Material ■  zutage  ge- 
fördert hat,  und  weiß  doch  mit  diesem  Material  nichts  anzufangen. 
Zwischen  all  den  Fragen  und  Antworten  findet  sich  eine  sehr  wichtige 
Stelle,  welche  uns  einen  bedeutsamen  Schluß  gestattet.  Der  Kranke 
erzählt  von  der  Liebe  zu  seiner  Mutter:  „Und  die  Liebe  ent- 
sprang auch  meist  dem  Mitgefühl,  weil  der  Vater 
später  viel  trank  und  sich  mit  anderen  Frauen 
abgab  und  die  Mutter  oft  weinte,  und  das  tat  mir 
sehr    leid." 

Das  ist  eine  Beobachtung,  die  ich  oft  machen  konnte.  Kinder 
von  Potatoren  und  Frauenjägern  werden  leicht 
homosexuell,  wenn  sie  sich  vom  Vater  differen- 
zieren wollen.  Sie  hassen  dann  das  Weib  und  hassen  alles,  was 
der  Vater  liebte.  Sie  werden  Abstinenzler  und  trachten  sich  in  jeder 
Hinsicht  vom  Vater  zu  unterscheiden. 

Der  Patient  Sadgere  weist  auch  direkt  auf  diese  Differenzierung 
hin.    Er  sagt:  „Der  Vater  hatte  bestimmt  keine  homosexuellen  Nei- 
gungen, weil  er  ein  großer  Frauenliebhaber  war.    Schon  seit  der  Zeit, 
da  er  anfing,  mir  von  der  Schule  zu  erzählen  —  er  liebte  besonders  die 
Franzosen  — ,  sagte  er  mir  auch,  ich  solle  nur  eine  Französin  heiraten, 
und  zeigte  mir  Bilder  aus  Frankreich  und  Photographien  von  Fran- 
zösinnen. Mir  wurde  das  so  eingeimpft,  daß  ich  eine  Französin  heiraten 
sollte."  Und  welches  Resultat  erzielte  der  Vater  mit  dieser  Einimpfung? 
War  es  Eifersucht  oder  war  es  Mitleid  und  Liebe  zur  Mutter?    Der 
Vater  erzielte  das  Gegenteil  von  dem,  was  er  anstrebte.    Statt  Gehor- 
sam nur  Trotz.  Der  Analysierte  erzählt:  „Später,  als  mir  homosexuelle 
Neigungen    zum    Bewußtsein   kamen,    wurde    mir    alles     Fran- 
zösische   förmlich    verhaßt,    besonders    die    Fran- 
zösinnen,   ich    empfand    keine   Liebe   mehr   für    die 
französische   Sprache   oder   für   sonst   etwas..." 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  309 

Der  Kranke  hat  eine  ausgesprochene  Angst  vor  der  Ehe,  von  der 
er  zu  Hause  ein  so  trauriges  Beispiel  sehen  konnte.  Er  träumt,  daß 
er  verheiratet  wird,  daß  er  von  einem  Geistlichen  getraut  werden  soll, 
und  fühlt  sich  so  unglücklich,  daß  er  sich  nach  dem  Erwachen  vor  Glück 
nicht  fassen  kann.  Er  hat  Angst  vor  jeder  großen  Liebe.  „Ich  habe 
Angst  vor  einer  wirklichen  großen  Liebe,  weil  die  mich  immer  un- 
glücklich machte."  Auch  sonst  zeigt  die  Analyse  Beziehungen  zum 
Vater,  die  von  größter  Wichtigkeit  sind. 

Diese  Einstellungen  entstehen  in  der  Tat  schon  in  der  frühesten 
Kindheit.  Wir  kennen  eben  das  Kind  noch  immer  nicht  und  wissen 
nicht,  daß  sich  die  „Leitlinien"  des  Lebens  in  der  Kindheit  in  aller 
Deutlichkeit  zeigen!  Bei  diesem  Knaben  mußte  sich  der  Gedanke  aus- 
bilden :  Werde  nicht  wie  der  Vater,  und  so  mußte  er  die  Frauen  fliehen, 
weil  der  Vater  ein  Frauenliebhaber  war.  Ob  bei  dieser  Differenzie- 
rung auch  die  direkte  Liebe  zum  Vater  in  Frage  kommt,  möchte  ich 
bei  diesem  Falle  nicht  entscheiden.  Sie  scheint  mitzuspielen,  und  viel 
verschmähte  Liebe  mag  auch  dazu  beitragen,  daß  sich  da6  Kind  ganz 
der  Mutter  zuwendet.  Aber  genügt  nicht  der  Anblick 
eines  liederlichen  Trunkenboldes,  dem  das  Bild 
einer  stillen,  duldenden  Mutter  gegenüber  steht, 
um  die  Differenzierung  einzuleiten  und  als  de- 
terminierende Kraft  fortbestehen  zu  lassen'? 
Hinter  der  Homosexualität  des  ersten  analysierten  Homosexuellen  von 
Sadger  steckt  die  Angst,  er  könnte  wie  der  Vater  werden.  In  der  Ana- 
lyse auftauchende  blutige  Szenen  beweisen,  daß  er  auch  andere  Gründe 
hat,  sich  vor  dem  Weibe  zu  fürchten.  Er  ist  so  geartet,  daß  er  kein 
Blut  sehen  kann.  Auch  dieser  Zustand  ist  schon  die  Konvertie- 
rung eines  Blutdurstes  und  deutet  auf  einen  verdrängten  Sadismus. 

In  Rußland  sah  er  einmal  einen  Mann,  der  seiner  Frau  den  Kopf 
mit  einem  Stein  entzweischlug  .  .  .  Dieser  Vorfall  prägte  sich  ihm  so 
ein,  daß  er  ihn  nicht  vergessen  kann,  ebenso  spricht  er  auffallend  von 
Schlachten  und  anderen  Blutszenen.1) 

Kein  Zweifel,  der  Mann  ist  ein  Sadist  und  ist  es  den  Frauen 
gegenüber.  Er  hat  allen  Grund,  sich  vor  den  Frauen  zu  fürchten.  Seine 
Angst  ist  die  Angst  vor  sich  selbst.  Er  muß  zum  Manne  flüchten,  dem 
gegenüber  er  nicht  den  instinktiven  Geschlechtshaß  empfindet,  der  ihm 
alle  heterosexuellen  Regungen  versperrt.  Wenn  er  mit  einer  Frau  ver- 
kehrt, fühlt  er  nachher  einen  so  abscheulichen  Ekel  und  Widerwillen, 
alles  kommt  ihm  unnatürlich  vor.    Er  gibt  alle  diese  Versuche  auf. 


*)  Vgl.  die  wichtige  Stelle  S.  418. 


310  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Er  sucht  offenbar  ewig  einen  gütigen  hochstehenden  Vater,  denn 
er  verliebt  sich  in  einen  älteren  Philosophen,  wie  er  sich  rationalisiert, 
aus  Verehrung  für  die  Philosophie,  von  der  er  Rettung  vor  seinen 
Leidenschaften  erwartet.  Die  Differenzierung  ist  ein  Befreiungsversuch, 
eine  Tendenz,  den  Vater  zu  überwinden!  Die  Liebe  zum  Philosophen 
ein  Vaterersatz! 

Wir  sehen,  wie  wichtig  die  Jugendgeschichte  eines  jeden  Lebens 
für  das  Verständnis  der  Homosexualität  ist.  Aus  der  kindlichen  Kon- 
stellation läßt  sich  das  Horoskop  der  Zukunft  stellen.  Vielleicht 
steckt  in  dieser  unumstößlichen  Wahrheit  die  Wurzel  der  Stern- 
deutungskunst, „das  Gesetz  des  Planeten,  nach  dem  man  das  Leben 
angetreten  hat".  Der  Vater  .die  Sonne,  die  Mutter  der  milde  Mond 
und  die  Kinder  die  Sterne.  Je  nach  der  Stellung  dieser  Gestirne  ge- 
staltet sich  unser  Schicksal.  Blinder  Zufall  und  angeborene  Kräfte 
wirken  zusammen  und  schaffen  den  Menschen  zu  dem,  was  er  ist. 

Doch  verfolgen  wir  weiter  die  Ergebnisse  der  Forschungen  Sadgere, 
dem  das  Verdienst  nicht  genommen  werden  soll,  fleißig  an  der  Lösung 
des  Rätsels  der  Homosexualität  gearbeitet  zu  haben. 

Die  nächste  Publikation1)  erfolgte  gleichfalls  1908.  Sie  zeigt  uns 
deutlich  jene  infantile  heterosexuelle  Einstellung,  welche 
alle  Homosexuellen  so  gern  vergessen,  und  die  der  echten  Homosexua- 
lität vorangeht. 

„Der  damals  21jährige  Student  wurde  mir  gesandt,  weil  ihn  seine 
homosexuellen  Neigungen  quälten,  die  besonders  auf  junge  Leute  von 
14—20  Jahren  gerichtet  waren,  nebstdem  noch  allerlei  masochistische 
Gelüste.  Beim  Weibe  (einer  Prostituierten,  der  er  bis  dahin  dreimal 
beigewohnt,  die  zwei  ersten  Male  spontan,  um  zu  sehen,  ob  er  überhaupt 
potent  sei,  das  drittomal  auf  ärztliches,  sowie  auf  Vaters  Drängen) 
fühlte  er  sich  vollkommen  impotent.  Auf  Befragen,  ob  er  schon 
irgend  einmal  eine  Neigung  zum  anderen  Geschlechte  verspürte,  erinnert 
er  sich  bloß,  im  2.  oder  3.  Lebensjahre  einem  gleichaltrigen  Mädchen  in 
besondere  galanter  Weise  das  Gartentor  geöffnet  zu  haben.  Von 
familiärer  Belastung  weiß  er  anzugeben,  daß  ein  Bruder  der  Mutter 
geisteskrank  'sei.  Die  Mutter  selber  habe  immer  etwas  Burschikoses  und 
Männliches  an  sich  gehabt,  der  Vater  wieder  zeigte  stets  sehr  geringe 
Sinnlichkeit,  daneben  auch  deutlich  invertierte  Züge,  die  frühverstorbene 
Schwester  hatte  einen  knabenhaften  Gesichts- 
a  u  s  d  r  u  c  k.  Sie  bevorzugte  Bubenspiele  und  wünschte  sich  zu  Weih- 
nachten mit  4—5  Jahren  ein  Schaukelpferd  für  Knaben.  Je  eine  Kusine 
väterlicher-  wie  mütterlicherseits  waren  unverkennbar  amphigen  in- 
vertiert. Der  Kranke  selber  hatte  ein  unverhältnismäßig  breites  Becken 
und  äußerst  spärliche  Bartentwicklung.  Als  Kind  soll  er  nur  mit  Puppen, 


/ 
*)  J.  Sadger:    Ist  die  konträre  Sexualempfindung  heilbar?    In  der   Zeitßchr.  f. 

Scxualwiss.,  1908,  S.  712  ff. 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  311 

nie  mit  Soldaten  gespielt  haben,  er  beteiligte  sich  nie  an  Knabenspielen 
und  lernte  auch  sticken. 

Demnach  ein  reiner  Fall  von  Inversion  mit  masochistischen -.Zügen. 
Was  ergab  nun  die  Analyse  des  obendrein  sehr  intelligenten  Kranken? 
Zunächst  etwas  Merkwürdiges:  Seine  früheste  Neigung  ge- 
hörte den  Frauen,  und  zwar  nicht  einer,  sondern 
gleich  einer  Anzahl.  Die  Erstgeliebte  war  die 
Mutter,  von  der  er  sich  freilich  spä  ter  abkehrte. 
Mit  zwei  Jahren  fühlte  er  sich  mächtig  zu  einer  alten  Kinderfrau  hin- 
gezogen, der  er  direkt  einen  Heiratsantrag  machte  und  welche  er  spater 
in  wiederholten  Träumen  der  Pubertät  zu  Koitusphantasien  benutzte. 
Etwas  später  folgte  seine  besondere  Galanterie  gegen  das  gleichaltrige 
Mädchen,  die  so  auffallend  war,  daß  ihn  seine  Mutter  darüber  aufzog, 
und  er  sich  darob  sehr  genierte  und  ärgerte. 

Auch  eine  Dienstmagd  machte  in  den  allerersten  Jahren  einen 
tieferen  Eindruck  auf  sein  Herz  und  kehrt  in  verschiedenen  Männertypen 
wieder.  Von  homosexuellen  Neigungen  der  ersten  Jahre  führe  ich  als 
stärkste  und  allerwichtigste  die  Liebe  zu  zwei  Vettern  an,  mit  denen 
er  vom  ersten  Jahre  ab  spielte,  dann  im  zweiten  Jahre  die  zu  einem 
9jährigen  Baron,  im  vierten  zu  einem  Knaben,  der  ihn  masturbieren 
lehrte,  im  sechsten  und  siebenten  zu  einem  Hauslehrer.  Im  vierten  Jahre 
schlief  er  aus  Anlaß  der  Entbindung  seiner  Mutter  eine  Zeitlang  mit 
dem  Vater  in  einem  Bette,  woran  sich  eine  Reihe  homosexueller  Wünsche 
und.  Phantasien  auf  diesen  knüpfte.  Als  dann  sein  Schwesterchen  zur 
Welt  kam,  verliebte  er  sich  alsbald  auch  in  dieses. 
Noch  auffälliger  sind  im  siebenten  und  achten  Jahre  des  Patienten  ein 
paar  normalgeschlechtliche  Verliebtheiten  in  drei  bis  vier  gleichaltrige 
Schulmädel.  Wie  sich  dann  herausstellte,  gab  jede  von  diesen  etwas  für 
einen  späteren  Typus  her,  und  zwar  für  Jünglinge  sowohl  als  Mädchen, 
die  später  sein  Wohlgefallen  erregten. 

All   diese   Dinge,    die   dem   Kranken   vollständig 
unbewußt     gewesen     und     erst     durch     monatelange 
Analyse   sehr  mühsam   ausgegraben  werden  mußten, 
geben    ein    völlig    neues    Bild.     Sie  lehren  uns  vorerst,  wie 
wenig  auch  der  Intelligenteste  sich  kennt,  wie  vorsichtig  also  selbst  die 
ehrlichsten  Angaben  aufzunehmen  sind.    Zweitens,  daß  auch   scheinbar 
reine  Fälle  von   Inversion   der  normalgeschlechtlichen   Züge  nicht   ent- 
behren   ja   daß  die  letzteren  in  großer    Zahl  vorhanden   sein  können, 
ohne  doch  dem  Kranken  bewußt  zu  sein.    Zum  dritten  endlich,  daß  die 
Inversion  in  frühester  Kindheit  bis  zum  vierten  Lebensjahre 
inklusive  festgelegt  wird,  wenn  sie  auch  meist  erst  in  der  Pubertät  zum 
Bewußtsein  gelangt." 
Schon  hier  muß  ich  den  ersten  Widerspruch  erheben.   Es  ist  nicht 
wahr,  daß  die  Inversion  schon  bis  zum  vierten  Lebensjahre  festgelegt 
wird.'  Ich  habe  ja  eine  ganze  Reihe  von  Fällen  analysiert,  bei  denen 
diese  Inversion  nach  der  Pubertät  und  viel  später  aufgetreten  ist.   Die 
Anfänge* homosexueller  Einstellung  gehen  bei  -allen  Menschen  bis 
auf  die  Kindheit  zurück.    Bei  einem  kann  diese  Abkehr  vom  anderen 


312  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Geschlecht   früher,    bei   dem   anderen   später   auftreten.    Wahr   ist 
aber,  daß  sich  in  jeder  Analyse  die  heterosexuelle 
Einstellung  zeigt,  welche  von  dem  Homosexuellen 
vergessen     oder     sagen     wir     richtiger     verdrängt 
wurde,  weil  sie  ihm  in  sein  System  nicht  zu  passen 
scheint.   Analytisch  scheint  mir  dieser  Fall  Sadgers  eine  Fixierung 
an  die  Schwester  zu  bedeuten.   Die  Knaben,  die  er  immer  wieder  Sucht, 
ersetzen  ihm  die  Schwester.  Wir  werden  einige  solcher  Fälle  kennen 
lernen.   Nur  wer  die  Kunst  der  Neurotiker  kennt,  ihre  Ideale  zu  meta- 
morphosieren,    wer   diese   Verwandlungsfähigkeit   aus   ihren   Träumen 
kennen  gelernt  hat,  der  wird  das  verstehen,  daß  man  in  einem  Knaben 
ein  Mädchen  lieben  kann.    Von  Platen  wird  erzählt,  daß  er  eine  un- 
glaubliche Phantasie  besessen.   Ein  Kollege  wurde  ihm  lange  Zeit  eine 
Eule,  der  er  scheu  aus  dem  Wege  ging.    In  Neapel  ließ  er  sich  eine 
Katze  auf  den  Schoß  setzen  und  gab  sie  mehrere  Tage  lang  für  eine 
verwunschene  Prinzessin  aus.  Der  echte  Fetischismus  zeigt  uns,  welche 
unglaubliche  Metamorphosen  sich  das  sexuelle  Ideal  gefallen  lassen 
muß^  Einen  Knaben  lieben,  der  ein  Symbol  der  eigenen  Person  oder 
der  Schwester  wird,  ist  bei  den  Homosexuellen  eine  alltägliche  Sache. 
Sie  besitzen  wie  alle  Neurotiker  nicht  die  Gabe,  die  Welt  der  Phan- 
tasie von  der  der  Realität  zu  trennen.    Ich  habe  die  Neurose  auch 
als  die  Tyrannei   der   Symbolismen    definiert.   Dies  stimmt 
besonders  für  den  Neurotiker,  der  homosexuell  wird.  Alle  Werte  werden 
umgewertet  und  das   Objekt  wird  zum   Subjekt  und  umgekehrt     In 
diesem  Verwandeln  aller  Tatsachen  bleibt  ein  Festes  und  Sicheres: 
Das  infantile  Ideal,  an  dem  mit  der  Hartnäckigkeit  festgehalten  wird, 
welche  aus  der  ewigen,  ungestillten  Seimsucht  stammt. 

Sj^ger  tejtt  in  der  nächsten  Arbeit  die  Resultate  einer  sechsmonat- 
igen Analyse  eines  Invertierten  mit.  (Zur  Ätiologie  der  konträren  Sexual- 
empfindung. Med.  Klinik,  1909,  Nr.  2.)  Er  führt  die  spezielle  Vorliebe  seines 
Aranken  iur  passive  Päderastie  auf  häufige  Klistiere  in  der  Kindheit  zurück 
(in  der   rat  scheinen  mir  die  vielen  überflüssigen  Klistiere   in  der  ersten 
Kindheit  eine  Fmerung  des  Anus  als  erogene  Zone  bewirken  zu  können.) 
Auch  an  •  diesem  Falle  weist  er  die  verdrängte  Heterosexualität  nach.  „Es 
verhalt  sich  mit  dem  Schwanken  der  Libido  zwischen  Mann  und  Weib  wie 
etwa  mit  der  Gesichtsinnervation,  die  ja  bekanntlich  auf  dem  Gleichgewichte 
fußt  der  von  beiden  Fazialis  innervierten  Muskeln.    Die  Lähmung  eines  ein- 
zelnen *aziahs  aber  führt  nicht  nur  zur  Schwäche  der  betreffenden  Gesichts- 
halite,  sondern  obendrein  auch  zum  Krämpfe  der  anderen.    Dieser  Krampf 
ist  dasjenige,  was  wir  dem  Zwang  der  Sexualobjektwahl  gleichsetzen  können." 
iJer  beschriebene  Patient  liebte  eigentlich  nur  seinen.  Vater,  der,  selber  etwas 
homosexuell,  sein  Herz  in  der  Kindheit  durch  übergroße  Zärtlichkeit  gewann, 
im  Gegensatz   zur  überstrengen  Mutter.    Im  vierten  Jahre  schlief  er 
während  einer  Gravidität  der  Mutter  im  Bette  des  Vaters,  welchem  Ereignis 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  31 3 

Sadger  große  Bedeutung  beimißt.  Die  homosexuellen  Jünglingsobjekte  trugen 
Züge  der  geliebten  Schwester.  Von  der  Mutter  hätte  er  sich  mit  15  Jahren 
abgewendet,  als  er  sie  mit  einem  bedeutenden  Ascites,  der  wiederholt 
punktiert  werden  mußte,  wiederfand.  Dieser  Anblick  hätte  ihn  mit  Ekel 
vor  allen  Frauen  erfüllt.  Als  Überdetermination  dieser  Abkehr  führt  er 
folgende  Erinnerungsspur  an:  Die  Mutter  bekam  nach  dem  erwähnten  Puer- 
perium einen  Fluor  albus,  der  das  für  Gerüche  schon  damals  empfindliche 
Kind  (4  Jahre!)  zurückstieß,  wenn  er  der  Mutter  mit  Liebkosungen  nahte. 
Auch  sei  es  dem  Kranken  unvergessen,  daß  die  Mutter  die  Aggressionen  des 
Knaben  zwischen  3  und  6  Jahren  strenge  zurückgewiesen  habe.  („Er  ver- 
suchte damals  ihr  immer  an  die  Brust  zu  greifen,  wollte  in  ihr  Bett  und 
in  das  Badezimmer,  sobald  sie  badete.") 

So  unwahrscheinlich  Ärzten,  welche  die  infantile  Sexualität  nicht 
kennen,  solche  Aggressionen  erscheinen  mögen,  'sie  finden  doch  statt  und 
manche  Mutter  hat  sie  mir  bestätigt.  Dagegen  ist  es  sehr  unwahrscheinlich, 
daß  sich  ein  Kind  von  vier  Jahren  an  dem  Geruch  der  Mutter  stoßen  sollte! 
Zu  dieser  Zeit  bildet  der  Geruch  eher  ein  Stimulans  und  erscheint  fast  nie- 
mals mit  Ekel  belegt. 

Ich  wende  mich  nun  zu  den  letzten  und  weitgehendsten  Folge- 
rungen von  Sadger,  die  er  in  seiner  Arbeit:  „Ein  Fall  von  multipler 
Perversion  mit  hysterischen  Absenzen"1)  publiziert. 

In  dieser  Arbeit   findet   sich  ein  Kapitel   „Neue  Beiträge   zur 
Theorie   der   Homosexualität".     Sadger  läßt   sein    erwähntes   viertes 
Lebensjahr  ganz  fallen  und  erklärt:  „Die  dauernde  Neigung  zum 
eigenen  Geschlechte  tritt  in  der  Eegel  und  jedenfalls  am  stärksten  in 
der  Pubertät  zutage,  frühestens  in  der  Vorpubertät,  für  unsere  Breiten 
also  mit  10  oder  11  Jahren.   Ein  mitunter  vermeldeter  früherer  Beginn 
steht  jedenfalls  vereinzelt  da  und  hat  seine  ganz  besonderen  Gründe." 
Ausgelöst  werde  die  ständige  Homosexualität  durch  ein  bedeutsames 
Ereignis,  das  die  Mutter  von  ihrer  Stelle  als  Helferin  und  Lehrerin 
verdrängt.    Solche  Zufälle  seien  Tod,  Vermögenskrach  mit  folgender 
schwerer  Neurose,  die  zum  Aufenthalt  in  einem  Sanatorium  zwinge, 
eine  unzweckmäßige  Verfolgung  des   Sohnes  wegen  Onanie  und  der- 
gleichen Dinge.    Dann  wende  sich  die  Liebe  von  der  Mutter  ab  und 
wende  sich  zum  Vater,  oder  zu  älteren  oder  gleichaltrigen  Kameraden, 
die  die  Mutter  ersetzen  und  den  Knaben  in  die  Liebe  einführen  sollen . . . 
Der  Weg  zur  Homosexualität  führe  über  die  Liebe  zum  eigenen 
Ich,   über  den  Narzissmus.   „Die  Verliebtheit  in  die   eigene  Person, 
hinter  welche  sich  die  Verliebtheit  in  die  eigenen  Genitalien  verbirgt 
(sie!),  ist  ein  nie  fehlendes  Entwicklungsstadium."  Jeder  Mann  habe 
zwei  ursprüngliche  Sexualobjekte,  an  denen  er  sein  Leben  lang  hafte: 
Die  Mutter  und  die  eigene  Person.    Nur  kurze  Zeit  ersetze  der  Vater 

*)  Jahrb.  f.  psychoanalytische    und    psychologische    Forschungen,    II.  Bd.,    1910. 
Franz  Deuticke,  Wien  und  Leipzig. 


_J 


sjl4  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

die  eigene  Person,  weil  dieser  als  primärer  Rivale  bei  der  Mutter  bald 
in  die  feindliche  Stellung  einrücke.  Die  Frauen  hasse  der  Urning  aus 
einem  durchsichtigen  Grund:  „Wenn  schon  die  beste  der  Frauen  so 
wenig  taugt,  meine  eigene  Mutter,  wie  sollte  eine  andere  bestehen 
können?" 

Nun  folgt  ein  überzeugender  Beweis,  daß  der  Urning  sich  mit 
seiner  Mutter  identifiziere.  Der  Urning  trachte  immer,  seinen  Geliebten 
zu  belehren,  und  das  habe  die  Mutter  getan.  (Ob  nicht  viel  mehr  der 
Vater?)  So  habe  sein  Patient  einem  Kellner  Geologie  und  Kunst- 
geschichte vorgetragen,  Gegenstände,  die  diesen  nicht  interessierten 
Das  habe  aber  die  Mutter  auch  getan  .  .  . 

Die  meisten  Urninge  wären  einzige  Kinder.  (Diese  Angabe  ist 
unrichtig.  Hirschfeld  fand  unter  500  Homosexuellen  nur  67  einzige 
Kinder  und  darunter  nur  54  einzige  Söhne.  Meine  Ziffern  sind  noch 
geringer.  Dieser  Prozentsatz  stimmt  mit  den  Zahlen,  welche  meine 
Neurotiker  überhaupt  betreffen.) 

Sadger  faßt  seine  Resultate  in  fünf  Leitsätzen  zusammen: 

„1.  Der  Urning  leidet  an  der  Abkehr  von  der  Muttsr  (bzw.  ersten 
Pflegerin),  in  deren  Liebe  er  sich  schwer  getäuscht  fühlt.  Er  verdrängt 
die  Mutter,  indem  er  sich  mit  ihr  identifiziert.  2.  Der  Weg  zur  Homo- 
sexualität führt  über  den  Narzissmus,  d.  h.  die  Liebe  zu  sich  selbst, 
•  wie  man  tatsächlich  war,  oder,  idealisiert,  gern  gewesen  wäre.  3.  Im 
Sexualideal  des  Invertierten  finden  sich  nicht  nur  Züge  früherer  weib- 
licher und  männlicher  Sexualobjekte,  sondern  noch  vielmehr  des  eigenen 
geliebten  Ichs.  4.  Aufwachsen  in  ausschließlicher  weiblicher  Umgebung 
—  der  Vater  kommt  hier  nicht  in  Betracht  —  befördert  die  Homo- 
sexualität beim  Manne  wie  beim  Weibe  aus  Gründen,  die  noch  nicht 
genügend  bekannt  sind.  Zudem  sind  Urninge  meist  einzige 
Kinder.  5.  Unterstützt  wird  endlich  die  Inversion  durch  den  „nach- 
träglichen Gehorsam''  gegen  die  Worte  der  Mutter.  Ich  fand  nicht  selten, 
daß  die  Mutter  frühzeitig  ihren  Kindern  einen  selbst  ganz  harmlosen, 
doch  freundschaftlichen  Verkehr  mit  dem  anderen  Geschlechte  als  etwas 
Unrechtes  und  Anstößiges  hinstellte,  was  in  leider  nur  zu  buchstäb- 
lichem späteren  Gehorsam  die  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  verstärkt." 

Von  diesen  Leitsätzen  ist  der  erste  falsch.  Der  Homosexuelle 
leidet  nicht  an  der  Abkehr  von  der  Mutter,  sondern  vielmehr  an  der 
Fixierung.  Doch  davon  später.  Ferner  zeigen  meine  Erfahrungen,  daß 
Homosexualität  auch  nach  Aufwachsen  in  rein  männlicher  Gesellschaft 
entstehen  kann. 

Man  verdrängt  keinen  Menschen,  wenn  man  sich  mit  ihm  identi- 
fiziert. Identifizierung  ist  direkte  Liebe,  Diffe- 
renzierung ist  Verdrängung.  Nun  identifizieren  sich 
viele  Homosexuelle  mit  ihrer  Mutter,  daran  ist  gar  kein  Zweifel.   Aber 


Das  Verhältnis  der  Homosexuellen  zum  anderen  Geschlechte.  315 

diese  Identifizierung  setzt  schon  die  Verdrängung  des  Vaterideals 
voraus.  Das  Rätsel  der  Homosexualität  ist  nie- 
mals einseitig  zu  erklären  und  einige  Fälle,  in 
denen  die  Mutter  gar  keine  Rolle  spielt,  stehen 
mir    auch    zur    Verfügung. 

Die  einzige  psychologische  Hypothese,  die  besteht  —  ich  meine 
die  von  Sadger  —  fällt  durch  ihre  , Einseitigkeit  in  sich  zusammen. 
Sie  gilt  für  einzelne  Fälle.  Sie  vernachlässigt  aber  die  wichtige  Be- 
deutung des  Sadismus  vollkommen,  übersieht,  daß  die  Liebe  zum  Vater 
viel  wichtiger  und  verdrängter  als  die  zur  Mutter  ist,  übersieht  die 
Identifizierung  mit  dem  Vater  und  die  Differenzierung  von  dem  Vater 
vollkommen  und  gibt  keine  Erklärung  für  die  Spätformen  der  Homo- 
sexualität, die  uns  am  meisten  interessieren.  (Tardive  Homosexualität.) 
Denn  was  das  Erwachen  der  Homosexualität  anbelangt,  so  schwanken 
nach  allen  Beobachtern  die  Zahlen  zwischen  dem  fünften  und  dem 
zwanzigsten  Lebensjahre  und  noch  darüber  hinaus.  Ich  "nenne  hier  die 
Zahlen  von  20  Fällen,  die  ich  als  die  ersten  meinen  Protokollen  ent- 
nehme. Die  Homosexualität  wurde  bewußt  mit  12,  10,  12,  15,  16,  22, 
13,  11,  14,  8,  14,  12,  17,  17,  17,  13,  21,  15,  17,  24  (Durchschnitt  =  15) . 

Es  sind  durchwegs  hohe  Ziffern,  es  findet  sich  bloß  ein  Mann, 
dessen  bewußte  homosexuelle  Einstellung  im  achten  Lebensjahre 
begonnen  hatte.  Nun  ist  das  sicher  nicht  richtig.  Denn  wir  wissen, 
daß  die  homosexuelle  Regung  schon  in  dem-  ersten  Lebensjahre  auf- 
tritt und  sicherlich,  die  Kinder  in  den  ersten  Lebensjahren  schon  deut- 
lich bisexuell  empfinden.  Die  Zahlen  sind  deshalb  von  Bedeutung,  weil 
sie  uns  zeigen,  daß  der  „echten  Homosexualität"  eine  lange  Latenz- 
zeit vorausgeht. 


• 


Die  Homosexualität. 


VIII. 
Die  Familie  des  Homosexuellen.    — 


Sein  Verhalten   zur  Mutter. 


Die  Knabenliebe  ist  so  alt  wie  die 
Menschheit  und  man  könnte  daher  sagen, 
sie  liege  in  der  Natur,  ob  sie  gleich  gegen 
die  Natur  sei.  (J^. 

Alle  Forscher,  die  sieh  mit  dem  Problem  der  Homosexualität  be- 
fassen, betonen,  daß  die  Homosexualität  familiär  auftritt,  und  finden 
darin  eine  Stütze  für  die  Annahme,  sie  wäre  angeboren.  Homosexuelle 
haben  häufig  einen  homosexuellen  Bruder,  eine  homosexuelle  Schwester, 
die  Mutter  ist  eine  Urlinde  oder  der  Vater  ein  Urning,  der  trotz  seiner 
Anlage  geheiratet  hat.  Bedenkt  man,  daß  ich  die  Neurose  und  die 
Homosexualität  (als  eine  bestimmte  Form  der  Neurose)  als  eine  Rück- 
schlagserscheinung  auffasse,  erwägt  man,  daß  alle  Neurotiker  sich 
durch  eine  starke  Betonung  aller  Sexualtriebe  auszeichnen,  so  versteht 
man  diese  Tatsachen.  Nicht  die  Homosexualität  wird  vererbt,  sondern 
die  prägnante  bisexuelle  Anlage,  welche  ja  die  Disposition  zur  Er- 
krankung abgibt.  Ferner  ist  zu  bedenken,  daß  die  Einflüsse  des 
Familienmilieus  auf  alle  Kinder  gleich  wirken  müssen.  Das  eine  ist 
glücklicher  und  entgeht  der  dauernden  Schädigung,  das  andere  wird 
schwerer  betroffen. 

Bevor  wir  den  Einfluß  der  Familie  auf  die  Entstehung  der  Homo- 
sexualität genauer  studieren,  müssen  wir  noch  zwei  wichtige  Momente 
hervorheben.  Das  eine  ist  die  Spaltung  der  Liebe  in  eine  geistige  und 
körperliche,  das  andere  die  doppelte  Einstellung  des  Homosexuellen  als 
Weib  oder  .als  Mann.  Von  dieser  Spaltung  der  Liebe  in  die  beiden 
Komponenten  wird  noch  an  anderer  Stelle  viel  zu  reden  sein.  Hier 
möchte  ich  nur  betonen,  daß  die  Menschen  es  sehr  gerne  so  arrangieren, 
daß  sie  einen  der  beiden  Haupttriebe  geistig,  den  anderen  körperlich 
besetzen.  Nennen  wir  die  geistige  Liebe  „Erotik",  die  körperliche 
„Sexualität".  Der  Durchschnitt  der  Heterosexuellen  verwendet  seine 
Erotik  für  die  Männerfreundschaft,  seine   Sexualität  für  die  hetero- 


• 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  317 

sexuelle  Liebe,  wobei  sich  der  Fortschritt  der  Kultur  darin  äußert,  daß 
auch  in  der  heterosexuellen  Liebe  immer  mehr  sublimiert  wird,  d.  h.  ein 
immer  wachsender  Anteil  an  Erotik  auftritt.    Der  Homosexuelle  kann 
z.  B'.  seine  Erotik  den  Frauen  zuwenden,  seine  Sexualität  den  Männern.1) 
Er  kann  auch  unter  Umständen  seine  ganze  Erotik  homosexuell  be- 
setzen und  die  ganze  Sexualität  verdrängen.    Oder  er  bemüht  sich,  bei 
seinem  sexuellen  Ideal  auch  geistige  Vorzüge  zu  finden,  er  trachtet 
auch,  einen  Teil  der  Erotik  in  homosexuelle  Bahnen  zu  lenken.    So 
entstehen  die  wunderlichsten  Variationen.    Nehmen  wir  zum  Beispiel 
den  Homosexuellen,  der  nur  Kutscher,  Hausknechte,  Soldaten,  Dienst- 
männer,  Bauern   sucht.     Sein  sexuelles   Ideal   sind  nur   Männer   aus 
niederen  Ständen.   Dieser  Mann  hat  die  ganze  Erotik  auf  edle  Frauen 
übertragen.    Er  pflegt  Freundschaften  mit  älteren  Damen,  manchmal 
auch  mit  feinen  Männern,  aber  er  kann  sich  nur  bei  einfachen  Leuten 
sexuell  betätigen.    In  diesem  Vorgehen  liegt  schon  ein  "Werturteil  der 
Sexualität.  Sie  stellt  sich  ihm  endopsychisch  als  ein  Herabsinken  auf  eine 
niedere  Stufe  dar,  als  eine  Rückkehr  zu  den  ersten  Quellen  der  Natur. 
Dieses  Verhältnis  wird  dadurch  kompliziert,  daß  es  von  Wichtigkeit 
ist,  ob  er  sich  beim  homosexuellen  Akte  als  Mann  oder  als  Weib  fühlt. 
Ist  er  aktiver  Homosexueller,  so  behält  er  seine  Individualität,  er  spielt 
das  Ich  oder  identifiziert  sich  mit  einem  männlichen  Ideale,  dem  Vater, 
dem  Bruder,  dem  Lehrer  usw.   Oder  er  spielt  eine  passive  Rolle,  dann 
identifiziert  er  sich  mit  einem  Weibe,  der  Mutter  oder  ihrem  polaren 
Gegenstücke,  der  Dirne.   Hie  und  da  kommt  es  vor,  daß  beide  Rollen 
gespielt  werden,  daß  sich  die  Beziehungen  zwischen  Erotik  und  Sexua- 
lität  verschieben  und   verkehren.     Das   macht    das   Verwirrende   des 
Problems  aus.    Der  Urning  beginnt  alle  Erotik  auf  Männer  zu  über- 
tragen und  empfindet  beim  Weibe  nur  Sexualität,  die  aber  in  Ekel 
konvertiert  ist.   Oder  eine  Urlinde  liebt  seelisch  nur  Frauen  und  findet 
alle  Männer  ekelhaft,  unausstehlich,  widerwärtig.  Die  Einstellung  hängt 
von  der  spezifischen  Szene  ab,  die  aufgeführt  werden  soll. 

Für  die  Beurteilung  und  das  psychologische  Verständnis  eines 
jeden  Falles  ist  es  von  größter  Bedeutung,  die  Frage  zu  beantworten: 
Was  spielt  der  Homosexuelle  in  seiner  Szene?  Was  stellt  ihm  der 
homosexuelle  Akt  in  der  Phantasie  dar?  Dabei  ist  von  der  Realität 
in  den  meisten  Fällen  abzusehen. 

So  manche  dunkle  unverständliche  Paraphilie  verliert  ihre  Ab- 
sonderlichkeit, wenn  man  die  Szene  erfährt,   die  immer  wieder  vor- 

*)  Wir  haben  gesehen,  daß  auch  die  Besetzung  der  Homosexualität  durch  geistige 
und  körperliche  Liebe  vor  sich  gehen  kann.  Homosexuelle  betonen  zu  auffallend  und 
emphatisch  die  Unmöglichkeit  einer  erotischen  Einstellung  zum  anderen  Geschlechte. 
Sie  verraten  damit  ihre  Angst  vor  dieser  Einstellung. 


31g  J  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

gespielt  wird.    Denn  für  den  Neurotiker  gilt  das  Gesetz  Nietzsches 
von    der   Wiederkehr    des    Gleichen. 

Die  Szenen,  die  er  spielt,  sind  entweder  Erlebtes  oder  nur  Ge- 
wünschtes, Ersehntes  und  Nie-Erlebtes.  Der  menschlichen  Natur  ent- 
spricht es,  daß  das  Nie-Erlebte  eine  größere  motorische  Kraft  entfalten 
kann  wie  das  Erlebte.  Das  Erlebte  wirkt  als  retrospektive  Tendenz, 
das  Erwünschte  als  prospektive.  (So  konnte  ich  sagen:  Die  schwersten 
Traumen  sind,  die  sich  nie  ereignet  haben.)  Der  unerfüllte 
Wunsch  ist  die  treibende  Kraft  der  meisten  Neurosen.  Das  „Ewig- 
Ersehnte"  —  „Ewig-Verlorene"  —  „Nie-Erreichte"  bildet  den  Welt- 
schmerz aller  Lebensmüden,  die  vergebens  das  Unmögliche  möglich 
machen  wollten.  An  der  Realität  zerschellen  alle  Wahngebilde  des 
Neurotikers.  Deshalb  flieht  er  alle  realen  Werte  und  baut  sich  seine 
„zweite  Welt",  in  der  er  Herrscher  ist  und  seine  Wünsche  als  Träume 
erleben  kann.  Das  Nie-Erlebte  wird  zum  S  t  e  t  s  -  E  r- 
träumten! 

Die  Charakterbildung  des  Menschen  beginnt  in  den  ersten  Lebens- 
jahren. An  seiner  Umgebung  prüft  er  seine  Kräfte,  an  den  ihn  um- 
gebenden Beispielen  formt  er  sich  das  Bild  des  Lebens.  Übergroße 
Väter  müssen  dann  Kinder  haben,  die  an  sich  zweifeln,  weil  sie  das 
Bild  des  genialen  Vaters  niederdrückt  und  ein  Gefühl  der  Minderwertig- 
keit erzeugt,  das  ihrem  Leben  den  Stempel  aufdrückt.  Jedes  Kind  hat 
einen  Wunsch:  den  Vater  zu  übertreffen.  Dieser  Wunsch  mag  sich 
zuerst  darin  äußern,  den  Vater  zu  erreichen,  so  groß  und  stark  zu  sein 
wie  der  Vater.  Schließlich  mündet  der  Wunsch  in  einen  stillen  Wett- 
bewerb, der  sich  zwischen  Vätern  und  Söhnen  und  zwischen  Mutter 
und  Tochter  abspielt,  so  lange  die  Welt  existiert.  Nach  einem  starken 
Vater  formt  sich  der  starke  Sohn.  Wie  aber,  wenn  der  Vater  schwach 
ist  und  die  Mutter  im  Hause  regiert?  Was  für  ein  sonderbares  Weltbild 
muß  60  ein  Kind  in  sich  aufnehmen?  Muß  es  nicht  glauben,  die  Frauen 
regierten  die  Welt,  muß  es  sich  nicht  zu  dieser  Frage  so  stellen,  daß 
es  sich  entweder  wünscht,  ein  Weib  zu  sein  und  zu  herrschen,  oder 
als  Mann  dem  Weibe  zu  entfliehen,  wenn  es  seinen  „Willen  zur  Macht" 
durchsetzen  will? 

In  diesen  Konflikt  mischt  sich  die  Sexualität,  mischt  sich  die 
Erotik  und  verwirrt  die  kindliche  Seele,  schiebt  die  Entscheidung 
hinaus,  erfüllt  das  kindliche  Herz  mit  Angst  und  Zweifel. 

Alfred  Adler,  der  diesen  Zusammenhängen  mit  großem  Scharf- 
sinn nachgespürt  hat,  hat  einen  wichtigen  Faktor  in  der  Dynamik  der 
Neurosen  in  dem  „männlichen  Proteste"  erblickt.    Aus  dem  Wunsche 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  B19 

„Ich  will  ein  ganzer  Mann  sein!"  wären  alle  Reaktionen  und  Schutz- 
bauten des  Neurotikers  zu  erklären.  Die  Homosexualität  zeigt  uns 
diesen  Protest  in  einer  sonderbaren  Verzerrung.  Der  Homosexuelle 
schreit:  Ich  will  ein  Weib  sein!  Er  kann  sogar  bis  zum  Transvestismus 
gehen  und  sich  als  Weib  kleiden.  Adler  hilft  sich  durch  einen  un- 
erlaubten Kunstgriff  und  meint:  Es  wäre  ein  männlicher  Protest  mit 
weiblichen  Mitteln.  Auf  diesem  Wege  hoffe  der  Homosexuelle  sein 
Persönlichkeitsgefühl  zu  erhöhen;  er  fliehe  das  Weib,  weil  er  eine 
Niederlage  fürchte,  er  weiche  den  Entscheidungen  aus.  Das  stimmt  nur 
für  einzelne  Züge,  aber  nie  für  das  Gesamtbild.  Beim  Problem  der 
Homosexualität  scheitert  die  Hypothese  von  Adler  vollkommen. 

Das  Maßgebende  ist,  daß  sich  in  der  Seele  des  Kindes  ein  Wunsch 
festsetzt,  der  sich  meist  nach  dem  Kräfteparallelogramm  der  Familie 
richtet.  Ist  die  Mutter  die  Starke,  die  Herrin,  so  muß  der  Wunsch 
entstehen:  Ich  möchte  so  sein  wie  die  Mutter!  Ich  möchte  wie  sie 
herrschen  und  erobern!  Die  Liebe  zur  Mutter  kann  diesen  Identifizie- 
rungsprozeß steigern  und  vollends  zur  zielsetzenden  Kraft  gestalten. 
Das  Kind  wird  schon  in  frühen  Jahren  die  Mutter  nachahmen,  wird 
sich  weiblich  gebärden,  wird  mit  Puppen  spielen,  wird  kochen,  wird 
gerne  Mädchenkleider  anlegen.  Es  kann  diese  Einstellung  überwinden 
oder  es  bleibt  in  ihr  stecken,  es  greift  auf  sie  zurück  und  wird  erst 
später  ein  Homosexueller.  (Tardive  Homosexualität.)  Ich  spreche  jetzt 
der  Einfachheit  halber  von  Knaben.  Der  gleiche  Effekt  kann  aber 
erzielt  werden,  wenn  ein  brutaler  Vater  die  Mutter  unterdrückt,  das  Kind 
die  Mutter  leiden  sieht,  der  Vater  ihm  als  ein  abschreckendes  Beispiel 
erscheint.  Dann  kann  der  „Wille  zur  Macht"  im  Kinde 
sich  dem  „Willen  zum  Ethos"  beugen.  Das  Kind 
wünscht:  Ich  will  lieber  nicht  herrschen,  wenn  ich  so  werde  wie  der 
Vater  und  will  lieber  so  sein  wie  die  Mutter.  Liebt  dieses  Kind  den 
tyrannischen  Vater,  so  kann  das  Kind  homosexuell  und  passiv  werden: 
Ein  Weib  und  einem  starken  Mann  ergeben. 

Das  sind  einige  willkürlich  herausgegriffene  Beispiele  aus  dem 
Leben.  Ich  habe  sie  hervorgehoben,  weil  man  so  oft  von  Homosexuellen 
hört,  sie  hätten  eine  energische  starke  Mutter  gehabt,  der  Vater  wäre 
in  der  Ehe  eigentlich  der  weibliche  Teil  gewesen.  Natürlich  kommt 
auch  das  Gegenteil  vor.  Ebenso  häufig  ist  die  Angabe,  daß  die  Mutter 
schwer  neurotisch  gewesen  .  -.  .  Es  gibt  keine  allgemeine  Regel  in  der 
Psychogenese  der  Homosexualität.  Jeder  Fall  erfordert  eine  in- 
dividuelle Lösung.  '  Deshalb  sind  die  Leitsätze  von  Sadger  als  un- 
umstößliche Axiome  absolut  nicht  zu  verwenden.  Jeder  dritte  Fall 
wirft  sie  über  den  Haufen. 


320  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Es  führen  viele  Wege  zur  Homosexualität. 
Wir  können  unmöglich  alle  beschreiben.  Wir 
können   nur    einzelne    Typen   hervorheben. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  der  Besprechung  des  wichtigen  Themas: 
Wie  verhält  sich  der  Neurotiker  zu  seiner  Mutter?  Wir  haben  gesehen, 
daß  Analytiker  die  Homosexualität  mit  der  verdrängten  Liebe  zur 
Mutter  in  Beziehung  bringen.  Halten  wir  uns  zuerst  an  meine  kleine 
Statistik.  Meine  20  Homosexuellen  antworten  auf  die  Frage:  „Haben 
Sie  eine  besondere  Vorliebe  für  die  Mutter  oder  den  Vater?  Oder  Rh- 
eines Ihrer  Geschwister?" 

„Nur  für  die  Mutter  —  Mutter  —  keine  besondere  Vorliebe  — 
beide  gleich  -  für  die  Mutter  -  für  den  Vater  —  keine  besondere 
Vorliebe  —  eher  für  die  Mutter  —  liebe  die  ganze  Familie  außerordent- 
lich —  für  den  Vater  —  Mutter  —  für  meinen  Vater  —  Mutter  — 
Mutter  —  Mutter  —  Mutter  —  Ich  liebe  besonders  einen  Bruder  (alle 
anderen  gleich)   —  den  Vater  —  die  Mutter." 

Ungefähr  die  Hälfte  betonen  eine  stärkere  Liebe  für  die  Mutter. 
Nun  habe  ich  diese  Fälle  herausgewählt,  weil  ich  gerade  an  einem  Falle 
sehr  prägnant  nachweisen  kann,  daß  sich  hinter  der  Liebe  zur  Mutter 
eine  leidenschaftliche  Ablehnung  des  Vaters  verbirgt;  ein  anderer  hat 
die  Liebe  zur  Schwester,  die  in  der  Psychogenese  seiner  Homosexualität 
eine  große  Rolle  spielt,  ganz  verschwiegen.  Eine  solche  Statistik  be- 
darf der  Überprüfung  durch  die  Analyse.  Aber  auch  nach  dieser  Prüfung 
bleibt  noch  immer  ein  gewisser  Prozentsatz,  bei  dem  die  übertriebene 
Liebe  zur  Mutter  besonders  deutlich  ist.  Auch  unter  den  Fällen,  in 
denen  die  stärkere  Liebe  zum  Vater  betont  wird. 

Hirschfeld  betont  das  Attachement  des  männlichen  Urnings  an 
seine  Mutter  als  ein  konstantes  Vorkommen.    Er  behauptet: 

„Zu  einem  Weibe  allerdings  fühlt  sich  der  Homosexuelle  in 
einer  ganz  besonderen  Liebe  hingezogen:  zu  seiner  Mutter  und  auch  hier 
fehlt  nicht  die  Analogie,  die  uns  oft  ein  besonders  inniges  Verhältnis 
zwischen  der  urnischen  Tochter  und  ihrem  Vater  zeigt.1)  Das 
Attachement  des  Homosexuellen  an  seine  Mutter  ist  so  typisch,  daß  die 
*  reudache  Schule  in  diesem  „Mutterkomplex"  eine  Ursache  der  Homo- 
sexualität hat  erbhcken  wollen.  Ich  halte  diese  Folgerung 
für  einen  Trugschluß.  Der  Homosexuelle  entwickelt  sich  nicht 
zum  Urning,  weil  er  sich  schon  als  Kind  zu  der  Mutter  so  stark  hingezogen 
fühlt,  sondern  früher  ahnend  als  wissend  lehnt  er  eich  in  dem  unbe- 
stimmten Gefühl  seiner  Schwäche  und  Sonderart  an  die  Mutter  an,  die 
ihrerseits,  ebenfalls  instinktiv,  ihn  oft  zu  ihrem  Lieblingskinde 
macht. " 


*)  Auch  da6  Gegenteil  kommt  vor. 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  321 

Diese  Folgerung  von  Hirschfeld  möchte  ich  nicht  unterschreiben. 
Der  Urning  ist  häufig  das  Lieblingskind  der  Mutter,  oft  schon  ehe  er 
geboren  wurde.  Seine  Bevorzugung  erwidert  das  Kind  durch  eine 
leidenschaftliche  Liebe  zur  Mutter,  mit  welcher  es  sich  dann  voll- 
kommen identifiziert.  Oft  hatte  sich  die  Mutter  ein  Mädchen  gewünscht 
und  erzieht  den  Knaben  dann  wie  ein  Mädchen.  So  kannte  ich  einen 
Urning,  dem  seine  Mutter  lange  Zeit  keine  Höschen  geben  wollte,  den 
sie  immer  um  sich  hatte,  dem  sie  in  den  ersten  Kinderjahren  die  Geni- 
talien in  einer  Hautfalte  versteckte  und  ihm  sagte :  Du  bist  ein  Mädel. 
Er  wurde  noch  als  größerer  Knabe  öfters  in  Mädchenkleider  gesteckt 
und  hatte  noch  im  späteren  Alter  eine  ausgesprochene  Neigung  zum 
Transvestismus. 

Es  gibt  zweifellos  viele  Fälle,  in  denen  die  direkte  Liebe  zur 
Mutter  alles  Lieben  zum  weiblichen  Geschlechte  absorbiert  hat. 

So  sagt  ein  Urning  aus  der  Beobachtung  von  Hirschfeld: 

„Meine  Mutter  war  mein  Alles,  sie  war  mein  bester  Freund,  sie  war 
das  Alpha  und  Omega  meines  Lebens.  Für  sie  hatte  ich  viel  schöne 
Pläne  geschmiedet,  um  ihr  Alter  zu  verschönern  ...  Da  ereignete  sich 
die  Katastrophe,  die  fast  *die  Vernichtung  meines'  Lebens  bedeutete,  der 
Tod  entriß  mir  meine  so  innigstgeliebte  Mutter.  Die  Nachricht  ihrer 
Erkrankung,  die  mich  das  Schlimmste  befürchten  ließ,  traf  mich  im  Norden 
von  Irland  und  die  Qualen,  die  ich  in  den  zwei  Tagen  und  zwei  Nächten 
auf  der  Eeise  nach  Deutschland  ausstand,  können  keine  Worte  beschreiben. 
Leute  verließen  mein  Kupee  in  der  Bahn,  weil  sie  fürchteten,  ich  könne 
wahnsinnig  werden  .  .  .  Ich  pflegte  meine  Mutter  Tag  und  Nacht  drei 
Wochen  lang,  da  entriß  sie  mir  Gott,  und  ich  blieb  als  einsamer  Wanderer, 
an  Leib  und  Seele  gebrochen,  zurück.  Dies  war  ein  Schlag,  von  dem  ich 
mich  nio  erholen  konnte.  Ich  kehrte  des  Vergessens  wegen  in  meine  alte 
Tätigkeit  nach  England  zurück,  aber  alles  war  umsonst.  Vergessenheit 
gab  es  für  mich  nicht,  der  Schmerz  nagte  Tag  und  Nacht  an  meiner  Seele 
und  meinem  Körper.  Ich  hatte  alle  Widerstandskraft  verloren.  So  ging 
ich  wieder  nach  meiner  Heimat  in  das  alte  Familienhaus,  wo  meine 
Familie  schon  100  Jahre  gelebt  hatte.  Oft  war  ich  dem  Wahnsinne  nahe 
und  fühlte  mich  nur  etwas  ruhiger  auf  dem  Friedhof  an  den  Gräbern 
.  meiner  Eltern.  Da  ich  keine  Ruhe  fand,  reiste  ich.  In  allen  Kirchen  und 
Kathedralen  der  Städte  und  allen  Kapellen  der  Dörfer  habe  ich  Gott 
für  die  Seele  meiner  geliebten  Mutter  angefleht.  Der  ewig  quälende 
Schmerz  über  den  Tod  meiner  geliebten  Mutter  hatte  meine  Nerven  sehr 
angegriffen  .  .  .  Durch  diese  heftigen  Gemütsbewegungen  fühlte  ich  mich 
wie  gelähmt,  mein  Denkvermögen  war  paralysiert,  ich  verfiel  in  Trüb- 
sinn und  Melancholie,  obgleich  ich  mich  oft  anstrengte,  mich  aufzuraffen. 
Ich  gab  allen  Briefwechsel  auf,  da  niemand  mich  zu  trösten  vermochte. 
Als  diese  Welt,  die  zwischen  meiner  Mutter  und  mir  herrschte,  erlosch, 
hatte  das  Leben  kein  Interesse  mehr  für  mich." 

Stokol,  Störungen  dos  Trieb-  und  Affektlobens.  II.  2.  Aufl.  9J   . 

t 

/ 


322 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Das  Verhältnis  der  Urlinde  zum  Vater  und  des  Urnings  zur  Mutter 
betont  auch  das  Grundschema  von  Hirschfeld: 


Urnischer  Knabe: 

Er  bevorzugt  Mädchenspiele, 
meidet  ausgesprochene  Knaben- 
spiele, hat  viel  Mädchenhaftes  im 
Charakter  und  Benehmen,  häufig 
■  auch  im  Aussehen.  (Bemerkungen 
der  Umgebung :  „Er  ist  das  reine 
Mädchen.") 


Urnisches  Mädchen: 

Sie  bevorzugt  Knabenspicle, 
hat  Abneigung  gegen  weibliche 
Handarbeiten-  Näschereien  usw., 
vi»l  „Knabenhaftes"  in  Wesen, 
Bewegungen,  oft  aucli  im  Aus- 
sehen. (Bemerkungen:  „Sie  ist 
wie  ein    Junge.") 


II.  Verhalten    gegenüber    dem    anderen    Geschlecht: 

Er  befindet  sich  lieber  in  Ge- 
sellschaft von  Mädchen. 

Seelische  Fixierung  an  die 
Mutter. 


III.  Verhalten    gegenüber 
(unbewußt  erotisch  gefärbt): 

Instinktive  Zurückhaltung 
und  Schamhaftigkeit  gegenüber 
Knaben.  Oft  schwärmerische  Ver- 
ehrung eines  Lehrers  oder  Mit- 
schülers. 


Sie  tummelt  sich  lieber  mit 
Knaben. 

Innigeres  Verhältnis  '  zum 
Vater. 

dem    eigenen    Geschlecht 


Die       Schamhaftigkeit    '  ist 
gegenüber  Mädchen   größer. 
•    Häufig  Schwärmerei    für  eine 
Lehrerin,   Mitschülerin  oder  eine 
andere  weibliehe  Person. 


Wie  mächtig  aber  der  Einfluß  der  Mutter  durch  die  Erziehung 
wirken  kann,  beweist  eine  Stelle  aus  einem  Krankenbericht: 

„Ein  junger  Leutnant  erzählt:  Sobald  ich  dem  Schulzimmer  entflohen 
war,  eilte  ich  zu  meinen  Freundinnen.  Meine  Mutter  liebte  es,  mfch  zu 
ihren  Geschäftsgängen  mitzunehmen  und  fragte  mich  dann  bei  Einkäufen, 
wie  mir  dieses  oder  jenes  gefiele.-  Bei  jedem  neuen  Hut,  den  sich  meine 
Mutter  kaufte,  wurde  ich  als  Modell  verwandt,  das  heißt,  mir  wurden  die 
verschiedenen  Damenhüte  auf  den  Kopf  gesetzt  und  der  mich  am  besten 
kleidete,  den  erkor  meine  Mutter  für  sich.  „Du  siehst  wie  ein  kleines 
Mädchen  aus,"  sagte  mir  meine  Mutter  häufig  bei  der  Hutprobe,  „s  c  h  a  d  e. 
daß   du  kein  Mädel  geworden  bist."  (Hirschfeld,  1.  c.  S.  113.) 

Dies  „schade,  daß  du  kein  Mädchen  geworden 
b  i  s  t",  zeigt  uns,  wie  die  Mutter  die  Seele  des  jungen  Kindes,  die  ja 
so  plastisch  ist,  beeinflußt.  Hirschfeld  aber  meint,  die  Verhältnisse 
lägen  umgekehrt.  Die  Eltern  ahnten  die  homosexuelle  Anlage  ihres 
Kindes  und  behandelten  es  danach:. 

„Oft  unterstützen  die  Angehörigen  die.  Veranlagung  urnischor 
Kinder  und  beschäftigen  sie  dementsprechend.  Die  Väter  fühlen  sich  zu 
urnischen  Töchtern  besonders  hingezogen  —  die  Mütter  verwenden  hin- 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  323 

gegen  ihre  urnischen  Söhne  gern  zu  allerlei  häuslichen  Beschäftigungen. 
Man  glaube  jedoch  nicht,  daß  erst  durch  die  Erziehung  diese  femininen 
oder  virilen  Eigenschaften  hervorgerufen  werden,  bei  einem  nicht  urnischen 
Knaben  würde  die  Mutter  überhaupt  nicht  solche  Verwendung  suchen. 
Wenn  Krafft-Ebing  in  seiner  Epikrise  des  Falles  der  Gräfin  S  a  r  0 1 1  a 
Vay  schreibt:  „eine  Marotte  des  Vaters  war  es  unter  anderem,  daß  er 
S.  ganz  als  Knaben  erzog,  sie  reiten,  kutschieren,  jagen  ließ,  ihre  Energie 
als  Mann  bewunderte,  sie  Sandor  nannte.  Dagegen  ließ  dieser  närrische 
Vater  seinen  zweiten  Sohn  in  Weiberkleidung  gehen  und  als  Mädchen  er- 
ziehen", so  darf  man  zugunsten  des  Vaters  annehmen,  daß  er  vermutlich 
nur  der  ausgesprochenen  Neigung  und  dem  starken  Drängen  der  Kinder 
allzu  willfährig  entgegenkam."    {Hirschfeld,  1.  c.  S.  112.) 

Freilich,  wenn  man  alles  so  willkürlich  auslegt  und  zu  Ehren  des 
Vaters  annimmt,  er  habe  einen  großen  psychologischen  Scharfsinn 
erwiesen,  so  kann  man  alles  beweisen. 

Wer  offene  Augen  hat,  wird  aus  diesen  Beobachtungen  und ,  aus 
einem  anderen  Falle  von  Hirschfeld,  der  in  der  Tat  eine  bedeutsame 
Veröffentlichung  darstellt,  weil  er  den  ganzen  Jammer  der  Homo- 
sexuellen offenbart,  seine  Schlüsse  ziehen  können.  Ein  Urning  erzählt 
von  seiner  Mutter: 

„Inmitten  seines  Kummers  fühlte  er  sich  plötzlich  umarmt,  geküßt, 
die  Mutter  hielt  ihn  fest  umschlungen ;  sie  zog  sein  kleines  Gesicht  an 
das  ihrige  und  ihre  Tränen  flössen  zusammen,  bis  sie  ihn  getröstet  hatte 
und  seine  Augen  wieder  lachten.  Das  waren  unvergeßliche  Momente  im 
Leben  des  homosexuellen  Kindes.  Er  spürte,  daß  sein  treuester  Freund 
die  Mutter  war,  und  sein  dankbares  Herz  malte  sich  aus,  wie  er  sie  be- 
schenken sollte  neben  anderen  Müttern.  Sein  ganzes  Wünschen  und  Hoffen 
drehte  sich  um  sie.  Ihretwegen  machte  er  seine  Schulaufgabenä  ihretwegen 
hütete  er  sich,  den  Vater  zu  erzürnen;  sie  sollte  nicht  seinetwegen  ge- 
scholten werden.  Sie  zufrieden  zu  sehen,  war  sein  Lebensziel.  Daß  sie 
es  nicht  war,  fühlte  er,  ebenso  wio  daß  auch  er  daran  mitschuldig  sei, 
und  mit  verdoppelter  Zärtlichkeit  hing  er  an  ihr,  der  stillen  Dulderin. 

Inzwischen  ward  er  16  Jahre,  es  reifte  in  ihm  das  Geschlecht,  und 
eine  verwirrende  Unruhe  erfaßte  ihn.  Die  Kameraden  erzählten  ihm  galante 
Abenteuer.  Nichts  von  allem,  was  sie  glücklich  machte,  verspürte  er. 
Er  fühlte  sich  vielmehr  tief  unglücklich,  als  sein  bester  Freund  ihn  mit 
einem  Mädchen  „verriet".  Er  fing  an,  sich  über  sich  selbst  klarer  zu 
werden,  und  die  erschreckende  Erkenntnis,  daß  er  sich  seiner  verirrten 
Gefühle  zu  schämen  hatte,  machte  ihn  erbeben.-  Er  wollte  alles  daran 
setzen,  in  die  rechte  Bahn  zu  kommen.  Aber  hier  zu  Hause  konnte  er 
mit  seinem  Geheimnis  nicht  leben;  seiner  Mutter,  die  er  über  alles  liebte, 
wollte  er  das  Herz  nicht  erschweren;  er  mußte  fort;  so  verließ  er  das 
Elternhaus,  ging  in  die  Fremde,  um  sein  Geschlechtsleben  zu  reparieren. 
In  der  Ferne  erhielt  er  die- zärtlichen  Briefe  seiner  Mutter,  an  die  er  wie 
an  eine  Geliebte  schrieb.  Nach  zweijähriger  Abwesenheit  kehrte  er  in 
die  Heimat  zurück.  Sein  Leben  entwickelte  sich  fortab  unter  den 
Augen    der    Mutter,    in    der    er    den    Inbegriff    aller 

21* 


/ 


;)->4:  Zweitor  Teil.   Die  Homosexualität. 

Weiblichkeit  sah.  Seine  Liaisons  mit  Frauen  waren  keusch.  Er 
verehrte  sie  und  hatte  das  Verlangen,  ihnen  zu  dienen.  Früh  ward  er  ihr 
Vertrauter,  denn  seine  weibliche  Seele  machte  ihn  zu  ihrem  natürlichen  Ge- 
nossen. Dennoch  war  er  tief  unglücklich,  da  seine  Gefühle  für  sie  sich 
nie  in  Sinnlichkeit  umsetzten  —  die  geschlechtliche  An- 
ziehung  blieb   au  s.„    (Hirschield,  1.  c.  S.  105.) 

Dieser  Urning  gesteht  es  ja  mit  seinen  eigenen  Worten,  daß  er 
in  der  Mutter  den  Inbegriff  aller  Weiblichkeit  sah.  Der  Schluß  ist 
dann  leicht  zu  ziehen.  Jedes  Weib  hat  ein  Stück  von  der  Mutter  an 
sich!  Solche  Fälle  waren  es,  die  ich  zuerst  beobachten  konnte  und 
die  mich  zu  dem  voreiligen  Schluß  verleiteten,  jeder  Homosexuelle 
sei  an  seine  Mutter  fixiert  und  fliehe  die  Frauen,  weil  als  unüberwind- 
liche Hemmung '  zwischen  ihm  und  dem  Weibe  das  ,  Bild  der  Mutter 
stehe.1) 

Eine  andere  Bemerkung-  von  Hirschfeld  scheint  mir  von  größter 
Bedeutung  zu  sein. 

„Was  das  von  Sadger  und  anderen  Freudschülern  hervorgehobene 
starke  Attachement  der  Homosexuellen  an  ihre  Mutter  betrifft,  so  liegt 
dieses  in  der  Tat  vor,  und  zwar  erstreckt  es  sich  bei  fast  allen  Homo- 
sexuellen über  die  eigene  Kindheit  hinaus  auf  die  ganze  Lebenszeit  der 
Mütter.  Wir  sahen,  daß  viele,  die  ihre  Mutter  im  vorgerückten  Alter 
verloren,  sich  lange  Zeit  nicht  von  diesem  Schlag  erholen  konnten.  Es 
erscheint  aber  viel  naheliegender,  anzunehmen,  daß  diese  starke  Liebe 
zur  Mutter  nicht  als  Ursache  der  Homosexualität  anzusehen  ist,  sondern 
als  Folge.  Abgesehen  von  seiner  feminineren  Natur,  verweist  auch  der 
Mangel  eigener  Häuslichkeit  den  Homosexuellen  inniger  und  länger  an 
seine  Mutter,  besonders  wenn  diese,  was  gerade  bei  homosexuellen 
Kindern  nicht  selten,  eine  stärkere  Persönlichkeit  ist.  Bei  Urningen, 
die  eine  Ehe  eingehen,  ist  diese  Hingabe  an  die  Mutter  nicht  60  ausge- 
sprochen, vielfach  überträgt  sich  dann  dieser  nicht  erotische,  wenn  aucli 
äußerlich  erotische  Liebe  leicht  vortäuschende  Gefühlskomplex  auf  die 
Gattin."  .(Hirschfeld,  I.e.    S..?44.) 

Mit  diesen  Worten  und  der  Möglichkeit  der  Übertragung  der 
Mutterliebe  auf  ein  anderes  weibliches  Wesen  gibt  ja  Hirschfeld  die 
Heilungsmöglichkeit  zu,  welche  die  Analytiker  anstreben.  Nur  möchte 
ich  davor  warnen,  die  ganze  Frage  der  Homosexualität  durch  die  Be- 
tonung der  einen  Tatsache  erledigen  zu  wollen. 


*)  In  einem  Roman,  der  eine  Selbstbiographie  und  ein  Bekenntnis  ist,  erzählt 
der  Seid,  daß  er  bei  6einem  ersten  Besuch  im  Lupanar  immer  an  seine  Mutter  denken 
mußte.  (Erlebnisse  des  Zöglings  Taxil.  Wiener  Verlag.)  Dieses  Buch  ist  auch  interessant 
weil  es  die  homosexuellen  Begebenheiten  einer  Kadettenschule  ausführlich  schildert. 
Diese  Tatsache,  daß  junge  Menschen  bei  den  ersten  Besuchen  im  Bordell  an  ihre  Mutter" 
denken  müssen,  ist  häufig  die  Ursache  einer  vollkommenen  Impotenz.  Vgl.  Weininger: 
(„G  eschlecht    und    Charakte  r")    da6   Kapitel :   Mutter   und   Dirne. 


J 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  325 

In  erster  Linie  möchte  ich  hervorheben,  daß  es  zwei  Muttertypen 
in  der  Geschichte  der  Urnings  gibt:  die  starke  Mutter  und  die  schwache 
Mutter.  Beide  kommen  vor  und  beide  können  das  Schicksal  ihres  Kindes 
determinieren.  Hirschfeld  betont,  daß  der  Urning  sich 
leicht  an  die  starke  Mutter  attachieft.  Dies  stimmt 
auch  mit  meinen  Beobachtungen  und  zeigt  uns  einen  ganz  bestimmten. 
Typus  von  Homosexualität,  den  ich  bald  beschreiben  werde.  Die  starke 
Mutter  beherrscht  ein  schwaches  Kind  ihr  ganzes  Leben  lang,  sie  läßt 
es  nicht  mehr,  los  und  bestimmt  sein  Verhalten  zum  weibliehen 
Geschlechte. 

Es  wird  auch  von  Interesse  sein,  diesbezüglich  die  Ansicht  eines 
Mannes  zu  hören,  der  in  einer  Millionenstadt  der  geistige  Führer  der 
Homosexuellen  ist,  sie  organisiert  und  große  Erfahrungen  hat.  Dieser 
Herr  schreibt  mir: 

Sehr  geehrter  Herr  Doktor! 

Ihrem  geschätzten  Wunsch  entsprechend  gestatte  ich  mir,  Ihnen  nach- 
stehend einige  Lebensbeschreibungen  zu  übermitteln. 

Vorher  möchte  ich  Ihnen  noch  das  Resultat  einer  Rundfrage  mitteilen: 
Ich  habe  sie  an  800  Personen  gestellt.  Es  ist  sehr  bemerkenswert,  daß  keiner 
der  Befragten  wußte,  daß  seine  Antwort  für  mich  von  besonderem  Interesse  sei, 
da  dieselbe  in  ganz  alltäglichen  Gesprächen  eingeflochten  war.  Es  dürfte  dem- 
nach auch  der  Einwand,  der  in  medizinischen  Kreisen  sonst  sehr  oft  erhoben 
wird,  nicht  stichhältig  sein,  nämlich,  daß  den  Aussagen  von  Patienten  kein 
oder  sehr  wenig  Wert  beizumessen  sei,  da  dieselben  unwahre  oder  zumindestens 
unwillkürlich   zu    ihren   Gunsten  beeinflußte   Darstellungen   geben. 

Unter  800  Befragten  erklärten  65  % ,  d  a  ß  ihre  M  utteräu  ß  e  r  s  t 
energisch  und  selbständig  sei,  während  der  Vater  sanft  und 
gutmütig,  sowie  unselbständig  und  sehr  leicht  zu  beeinflussen  wäre. 

Meines  Erachtens  sind  diese  65%  durch  Vererbung  übertragene  Fälle, 
in  den  restlichen  35%  -dürften  sich  ja  gewiß  auch  noch  eine  Anzahl  derselben 
verbergen,  doch  konnte  ich  dies  selbstverständlich  n,icht  feststellen,  interessant 
aber  müßte  hier  eine  ärztliche  Untersuchung  .sein. 

Ebenso  sprechen  für  eine  weitaus  überwiegende  angeborene  Veranlagung 
die  so  häufigen  Erscheinungen,  daß  in  Familien,  in  welchen  eines  der  Kinder 
homosexuell  ist,  alle  oder  doch  zumindestens  die  meisten  seiner  Geschwister 
ebenfalls  gleichgeschlechtliche  Veranlagung  aufweisen. 

* 
Einige    Beispiele. 

1.  U.  Seh.,  26  Jahre,  Kaufmann.  Die  Mutter  äußerst  selb- 
.ständig,  in  allen  Fragen  tonangebend.  Der  Vater  gutmütig, 
leicht  zu  beeinflussen.  U.  Seh.  war  vor  einigen  Jahren  in  Behandlung  von 
Prof.  Pilz.  Er  verkehrte  dann  auch  geschlechtlich  mit  Mädchen,  hatte  aber 
nach  dem  Akt  stets  Abscheu  und  das  Bedürfnis,  mit  Männern  zu  verkehren. 
Anfangs  setzte  er  diesem  Verlangen  Widerstand  entgegen,  nach  zirka  zwei 
Monaten  aber  —  er  war  inzwischen  körperlich  stark  herabgekommen  —  gab 
er  allmählich  wieder  nach  und  verkehrt  heute  ausschließlich  mit  Männern. 


326  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Sein  um  fünf  Jahre  jüngerer  Bruder  ist  Schauspieler  und  ebenfalls  homosexuell 
Sein  älterer  Bruder,  auch  Kaufmann,  ist  in  seinem  Sexualleben  vollkommen 
normal,  jedoch  sehr  unselbständig  und  launenhaft.  Seine  Schwester  ist  eben- 
falls heterosexuell,  hat  aber  äußerst  männliche  Züge  und  Körperformen 
leichten  Bartanflug  und  eine  Baßstimme,  welche  selbst  bei  einem  Manne  als 
äußerst  tief  bezeichnet  werden  müßte. 

2.  Graf  X     25  Jahre,   Mutter    sehr    energisch.    Derselbe    ist 
auch  in  seinen  Bewegungen  äußerst  feminin,  ziemlich  unvorsichtig  und  war 
schon  m  einige  unangenehme  Affären  verwickelt,  in  welchen  wir  auch  mit  Er- 
folg intervenierten.  Von  seinen  drei  Brüdern  sind  zwei  ebenfalls  homosexuell 
von  der  Familie  im  weiteren  Sinne  gesprochen,  auch  zwei  seiner  Vettern.    '  ' 

3:.1?arl  ~*\ ,28Janre>  Bankbeamter.  Hat  schon  eeit  sechs  Jahren  mit 
seinen  alteren  Ivo  legen  verkehrt.  Derselbe  ist  sehr  stark  feminin  und  hat 
das  Bedürfnis,  stete  m  Angst  zu  leben.  Stete  fürchtet  er,  daß  jemand  seiner 
Angehörigen  von  seiner  Veranlagung  erfahren  könnte,  obwohl  er  Ausländer 
ist  und  gar  memanden  Bekannten  hier  ansässig  hat.  Bietet  sich  aber  einmal 
ftieliir  kein  Grund,  so  hat  er  bald  einen  anderen  ausfindig  gemacht.  So  bei- 
spielsweise fürchtet  er  sich  auch  auf  dem  Gehwege,  auch  ganz  an  dessen 
Innenseite  von  einem  Automobil  überführt  zu  werden,  etc.  Da  derselbe 
aber  sonst  geistig  vollkommen  normal  ist,  schließe  ich  auf  eine  stark  maso- 
chistische  Veranlagung,  welcher  die  eigene  Angst  Befriedigung  gewährt.  Eine 
direkte  Art  der  masochistischen  Betätigung  liegt  nicht  vor.  Hingegen  ver- 
kehrt u  nur  mit  Personen  der  niedersten  Gesellschafteschiehte  (Pflasterer 
Kutscher  etc.),  Wobei  wahrscheinlich  auch  die  hiedurch  erhöhte  Gefahr  ihm 
den  Anreiz  bietet.  Seine  Mutter  ist  .normal  veranlagt,  jedoch  eine  äußeret 
e ner g i s c h e  Frau,  leitete  stets  die  Bewirtschaftung  ihrer  Güter  selbständig 
und  hat  .auch  bei  einem  Einbruch  in  ihre  Wohnung  die  beiden  Strolche  nieder- 
geschlagen und  dingfest  gemacht.  Sie  ist  jetzt  das  zweitemal  verheiratet 
hat  kleinen  Bartanflug  und  trägt  in  ihrer  Wohnung  auch  häufig  Männer- 
kleidung. 

Wir  werden  uns  nicht  wundern,  wenn  der  Experte  die  Tatsache 
betont,  daß.  die  Homosexualität  in  vielen  Fällen  gehäuft  auftritt. 
Gleiche  Ursachen,  gleiche  Wirkungen.  Auch  die  Tatsache,  daß  65% 
der  Homosexuellen  sehr  energische  Mütter  haben,  kann  an  und  für 
sich  nicht  als  ein  Moment  herangezogen  werden,  das  für  die  Psycho- 
genem der  Homosexualität  typisch  ist.  Der  Experte  meint  wohl,'  daß 
es  sich  um  männliche  Frauen  handelt,  so  daß  sie  dann  auch  weibliche 
Söhne  zur  Welt  brachten. 

Ich  möchte  jetzt  an  einem  Fall  eigener  Beobachtung' ausführen, 
in  welcher  Weise  die  Homosexualität  durch  eine  energische  Mutter  zu- 
stande kommt,  aber  gleich  im  Anschluß  daran  einen  Fall  vorführen, 
in  dem  das  Gegenteil  beobachtet  wurde.  Auch  sind  jene  hochinter- 
essanten Fälle  in  Betracht  zu  ziehen,  da  der  Homosexuelle  früh  von 
seiner  Mutter  entfernt,  wurde  oder  eine  hatte,  die  früh  verstarb.  (Ich 
kenne  mehrere  Homosexuelle, .  deren  Mutter  bei  ihrer  Geburt  starb.1) 


/  / 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  -   Sein  Vorhalten  zur  Mutter.  327 

Unmöglich  kann  man  sich  dann  wie  Badger  mit  dem  Einfluß  der  Pflege- 
person  helfen.  Denn  alle  jene  Hemmungen,  welche  die  sexuelle  Ein- 
stellung zur  Mutter  verhindern,  können  bei  der  Pflegeperson  (Amme, 
Kinderfrau  usw.)  wegfallen  .  .  .  und  trotzdem  tritt  die  Homosexualität 
auf.  Der  Weg  zur  Homosexualität  steht  eben  jedem  Menschen  offen. 
Die  Kräfte,  die  ihn  zum  gleichen  Geschlechte  drängen,  sind  hetero- 
genster Natur. 

Fall  Nr.  58.  Herr  Ypsilon,  ein  Theologe  im  Alter  von  33  Jahren,  erzählt, 
daß  er  schon  seit  der  Jugend  homosexuell  sei  und  schwer  darunter  leide.  „Ich 
habe  eine  solche  Zuneigung  zu  schönen  Knaben,  daß  ich  am  ganzen  Körper 
zu    zittern  anfange,  wenn  so  ein  Junge  vorbeigeht.    Ich  fürchte,  daß  ich  mir 
einmal  in  der  Schule  werde  etwas  zu  schulden  kommen  lassen.    Ich  möchte 
mich  von  dem  krankhaften  Trieb  befreien  lassen,  wenn  es  irgendwie  angeht. 
Ich  kenne  aber  alle  Schriften  von  Hirschfeld  und  weiß,  daß  es  für  mich  keine 
Hilfe  gibt,  da  der  Zustand  angeboren  ist.  Ich  stamme  aus  einer  wohlhabenden 
Familie,  die  sehr  kinderreich  ist.    Alle  unsere  Verwandten  haben  mindestens 
ein  halbes  Dutzend  Kinder:  Ich  wurde  auch  als  das  siebente  der  Kinder  ge- 
boren, der  einzige  Knabe  unter  lauter  Mädchen.    Nach  mir  kam  noch  eine 
kleine  Schwester  und  dann  starb  mein  Vater.    Ich  war  sechs  Jahre  alt,  als 
mir  sein  Tod  berichtet  wurde.  Ich  erinnere  mich  noch,  daß  ich  ziemlich  gleich- 
gültig war  und  weiter  mit  meinen  Puppen  spielte,  so  daß  meine  Tante  mir 
vorwarf,  ich  wäre  ein  garstiger  Junge  und  hätte  gar  kein  Herz.   Ich  wußte 
noch  nicht,  was  ich  verloren  hatte.   Vielleicht  wäre  alles  mit  mir  anders  ge- 
kommen, wenn  ich  vom  Vater  erzogen  worden  wäre.   Doch  auch  daran  zweifle 
ich.   Mein  Vater  war  ein  guter,  schwächlicher  Mann,  der  meiner  ^Mutter  nicht 
gewachsen  war.    Die  Mutter  war  der  Herr  im  Hause  und  der  Vater  soll  sie 
immer  sehr  respektiert  und  alles  getan  haben,  was  sie  von  ihm  verlangte. 
'Ich  erinnere  mich  noch  an  Spaziergänge  mit  dem  Vater,  in  denen  er  sehr 
langsam  ging,  weil  er  herzleidend  war.   Er  stützte  sich  manchmal  auf  seinen 
dicken  Stock  und   mußte  immer  tief  Atem    holen.    Vielleicht  stammt   daher 
meine  Gewohnheit,  während  der  Spaziergänge  stehen  zu  bleiben  und  tief  auf- 
zuatmen. Die  Mutter  war  sehr  nervös,  leicht  erregbar,  litt  viel  an  Migräne, 
während  der  das  ganze  Haus  mäuschenstille  sein  mußte.  Sie  war  sehr  energisch 
und  sehr  strenge.    Ich  wurde  auch  wiederholt  von  ihr  gesehlagen  und  nicht 
immer  war  die  Strafe  am  Platze.   Ich  war  ein  sanftes,  leicht  lenkbares  Kind, 
das  sich  keine  Gedanken  darüber  machte  und  leicht  vergessen  konnte.    Ich 
war  nachdenklich  und  träumerisch  und  oft  so  in  meine  Spiele  versunken,'  daß 
ich  die  ganze  Welt  um  mich  vergaß.  Ich  beneidete  die  Schwestern,  die  so 
viele  Puppen  hatten,  und  zog  die  Puppen  meinen  Soldaten  vor.    Ich  kränkte 
mich,  wenn  man  mir  Säbel  und  Soldaten  brachte,  und  wünschte  mir  eine  schöne, 
große  Puppe  zu  Weihnachten.    Es  war  immer  mein  Schmerz,  daß  ich  sie 
nie  erhielt.    Wenn  mir    aber  die  Schwestern  ihre  Puppen  borgten,    war  ich 
überglücklich.    Ich    hatte    leider  keine   Knaben  als   Gespielen,    nur    meine 
Schwestern  und  ihre  Freundinnen,  und  wurde  als  einziger  Bub  oft  von  ihnen 
gehänselt  und  hinausgeschickt,  wenn  sie  wisperten  und  sich   „Geheimnisse-1 
mitteilten.  Es  hieß  dann  immer:  „Das  geht  dich  nichte  an!  Das  ist  nur  für 
Mädels!"  Ich  war  schüchtern  und  feige  und  lief  davon,  wenn  fremde  Knaben 
mit  mir  raufen  wollten. 


328 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Ich  war  trotzdem  sehr  stolz,  daß  ich  der  einzige  Junge  in  der  Familie 
war,  weil  ich  wieder  von  den  Verwandten  sehr  gehätschelt  wurde.  Nur  kränkte 
ich  mich,  daß  man  immer  von  mir  mehr  verlangte,  weil  ich  ein  Junge  war. 
Ich  mußte  viel  mehr  lernen  und  beneidete  oft  die  Schwestern,  daß  es  ihnen 
besser  ging.  Ich  hatte  auch  oft  Streit  mit  ihnen  und  erinnere  mich,  daß  ich 
trotz  meiner  Sanftmut  sehr  wild  werden  konnte.  Ich  ging  einmal  mit  einem 
Messerchen  auf  eine  Schwester  los,  die  mich  in  Wuf  gebracht  hatte,  so  daß 
sie  zitternd  zur  Mama  lief.  Damals  wurde  ich  gehörig  verhauen.  Ich  weiß 
aber  seit  jenem  Erlebnis,  daß  in  mir  auch  eine  große  Wildheit  steckt,  die 
mich  zu  den  gefährlichsten  Taten  treiben  könnte.  Ich  erleide  deshalb  lieber 
Unrecht  und  stecke  manches  ein,  weil  ich  fürchte,  es  könnte  sonst  meine  Wut 
wieder  zum  Vorschein  kommen. 

Ich  war  sehr  talentiert  und  lernte  ursprünglich  sehr  leicht.  Später  wurde 
ich  zerstreut  und  mußte  alle  Kraft  zusammennehmen,  um  in  der  Schule  auf- 
passen zu  können.  Ich  war  sehr  naiv  und  unschuldig  und  glaubte  noch  lange 
an  das  Storchmarchen.  In  der  Schule  verliebte  ich  mich  in  einen  Jungen.  Ich 
glaube,  ich  war  damals  ungefähr  11  Jahre  alt.  Ich  bewunderte  ihn  und  wollte 
ihm  gern  m. allen  Stücken  gleichen.  Da  er  der  beste  Schüler  war,  so  bemühte 
ich  mich  auch,  vorwärts  zu  kommen,  und  war  bald  sein  Rivale.  Ich  war  sehr 
eifersüchtig,  wenn  er  mit  anderen  Knaben  verkehrte  und  durfte  ihn  nicht  näher 
kennen  lernen,  weil  er  armer  Leute  Kind  war,  und  seine  Familie  meiner  Mutter 
die  immer  einen  ausgesprochenen  Patrizierstolz  hatte,  nicht  paßte.  Ich  aber 
war  glücklich,  wenn  ich  nur  ein  paar  Worte  mit  ihm  reden  durfte.  Um  die 
Madchen  kümmerte  ich  mich  gar  nicht  und  wunderte  mich,  daß  die  anderen 
Schüler  so  oft  von  Mädchen  sprachen  und  ihnen  nachliefen.  Ohne  verführt  zu 
werden,  fing  ich  mit  13  Jahren  zu  onanieren  an  und  war  sehr  glücklich  darüber, 
eine  so  schöne  Kunst  erfunden  zu  haben.  Ich  wußte  damals  noch  nicht,  daß 
dies  die  Quelle  meines  schweren  Leidens  werden  sollte.  Allmählich  wurde  ich 
von  meinen  Mitschülern  aufgeklärt;  die  rohe  Wirklichkeit  widerte  mich  an. 
ich  hörte  alle  diese  Gespräche,  und  sie  blieben  an  mir  nicht  haften. 

Um  diese  Zeit  entstand  in  mir  der  Wunsch,  Geistlicher  zu  werden.  Ich 
war  immer  sehr  fromm  und  meine  Mutter  nahm  mich  schon  als  sehr  kleines 
Kiud  jeden  Sonntag  in  die  Kirche  mit.  Ich  dachte,  auf  der  Kanzel  stehen  und 
predigen  sei  das  Höchste,  was  ein  Mensch  erreichen  konnte.  Besonders  machte 
es  auf  mich  einen  tiefen  Eindruck,  als  einmal  ein  Superintendent  zu  uns  ins 
Haus  kam  und  meine  fromme  Mutter  ihm  die  Hand  küßte.  An  diese  Szene  habe 
ich  oft  denken  müssen  und  seit  ich  die  modernen  psychologischen  Schriften 
und  besonders  Ihre  Bücher  kenne,  bin  ich  der  Ansicht,  daß  dieser  Eindruck  es 
war,  der  mich  zum  geistlichen  Berufe  drängte. 

u  tu  I(i  WiH  Ihnen  nicht  verschweigen,  daß  ich  um  die  Zeit  der  Matura  eine 
heftige  Periode  des  Zweifels  mitmachte,  und  mein  Glauben  unter  dem  Eindruck 
der  Schriften  von  Haeckel,  die  mir  ein  Kollege  borgte,  sehr  zu  wanken  anfing. 
In  meiner  Not  ging  ich  zu  dem  Superintendenten,  der  mich  vollends  von  der 
Haltlosigkeit  dieser  Werke  überzeugte  und  meinen  Glauben  neu  bestärkte.  Ich 
hatte  noch  mit  meiner  Mutter  zu  kämpfen,  die  trotz  ihrer  Frömmigkeit  mit 
meiner  Berufswahl  nicht  zufrieden  war.  Ich  sollte  die  Güter  meines  Vaters  über- 
nehmen und  mich  dafür  ausbilden  lassen.  Es  widerstrebte  mir,  und  es  gelang 
mir  mit  Hilfe  des  Superintendenten,  meine  Mutter  zu  bestimmen,  einzuwilligen. 
Noch  hatte  ich  nicht  das  Bewußtsein  meiner  Abnormität.  Ich  war  schon 
19  Jahre  alt  und  war  der  festen  Überzeugung,  ich  könnte  mit  einer  Frau  ver- 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  329 

kehren,  wenn  ich  nur  wollte.  In  dem  ersten  Jahre  meiner  Hochschulstudien  ließ 
ich  mich  nach  einer  wüsten  Trinkerei  von  Kollegen  verleiten,  mit  ihnen  ins 
Bordell  zu  gehen.  Im  Rausche  verkehrte  ich  einmal  —  ich  glaube  ohne  jeden 
Genuß  — :  und  mußte  dies  Erlebnis  teuer  bezahlen.  Denn  das  Erwachen  am 
nächsten  Tage  war  fürchterlich.  Ich  kam  mir  entwürdigt  und  entmenscht  vor 
und  schämte  mich  vor  meinen  Freunden  und  vor  mir  selbst.  Am  liebsten  hätte 
ich  mir  das  Leben  genommen,  so  verzweifelt  war  ich  damals.  Ich  fürchtete  auch, 
ich  hätte  mich  infiziert.  Ich  hatte  schon  viel  über  Geschlechtskrankheiten  ge- 
hört und  glaubte  nun  fest,  daß  ich  krank  sein  müßte.  Ich  schämte  mich  aber, 
zu  einem  Arzt  zu  gehen  .  .  .  Erst  das  eingehende  Studium  einiger  populär- 
wissenschaftlicher Bücher  gab  mir  die  Beruhigung,  daß  das  böse  Erlebnis  keine 
Folgen  nach  sich  gezogen  hatte. 

Da  kam  ein  Prozeß,  der  das  Thema  Homosexualität  ins  Haus  brachte. 
Ich  kam  plötzlich  zur  Erkenntnis,  daß  ich  abnormal  war.  Bisher  war  ich  ge- 
neigt, die  Schwärmerei  für  schöne  Knaben  als  eine  Art  griechischen  Schön- 
heitskultus zu  betrachten.  Ich  wollte  mir  keine  Rechenschaft  geben.  Nun  stand 
es  in  aller  Klarheit  vor  mir,  und  ich  mußte  mir  gestehen,  daß  ich  so  war  wie 
der  Angeklagte  des  Prozesses.  Es  handelte  sich  um  einen  Lehrer,  der  einige 
seiner  Schüler  verführt  hatte. 

Ich  nahm  mir  vor,  die  Leidenschaft  für  Knaben  auszurotten  und  den 
Verkehr  mit  Frauen  aufzunehmen.  Leider  konnte  ich  mich  nie  als  Mann  er- 
weisen, weil  ich  einen  Ekel  vor  den  Frauen  empfand,  wenigstens  vor  denen, 
die  ich  kennen  lernte.  Sie  —  es  handelte  sich  natürlich  immer  nur  um  Dirnen 
—  hatten  alle  einen  fürchterlichen  Geruch,  der  mich  zur  Verzweiflung  brachte 
und  jede  sexuelle  Erregung  unmöglich  machte.  Immer  mußte  ich  konstatieren, 
daß  die  Dirne  einen  eigenartigen  Gestank  ausströmte,  wenn  sie  sich  auszog. 
Ich  konnte  diesen  Gestank  auch  konstatieren,  wenn  das  Mädchen  stark  parfü- 
miert war,  was  bei  diesen  Frauen  so  oft  der  Fall  ist. 

Ich  hoffte,  daß  ich  durch  eine  rasche  Heirat  auf  die  Bahn  des  Normalen 
gelangen  könnte.  Ich  war  ja  reich  und  unabhängig.  Nach  meinem  Examen  er- 
hielt ich  eine  Stelle  als  Religionsprofessor  an  einem  Gymnasium.  In  dieser 
Stadt  lernte  ich  ein  älteres,  sehr  sympathisches  Mädchen  kennen.  Ich  pflegte 
mit  ihr  anregenden  Umgang  und  überzeugte  mich,  daß  sie  in  jeder  Hinsicht 
ein  vortreffliches  Wesen  war.  Wir  standen  schon  fast  vor  der  Verlobung.  Ich 
war  glücklich,  daß  ich  niemals  an  ihr  jenen  unangenehmen  Geruch  der  ex- 
tremen Weiblichkeit  beobachten  konnte,  der  mich  aus  dem  Bordell  vertrieben 
hatte.  Da  merkte  ich  eines  Tages,  daß  sie  ihre  jüngere  Schwester  sehr  ener- 
gisch anfuhr,  so  daß  es  zu  einem  kleinen  Streit  kam.  Die  Schwester  warf  ihr 
nun  vor,  daß  sie  „herrschsüchtig"  wäre.  Dies  Wort  fiel  wie  ein  Feuerbrand 
in  meine  Seele.  Ich  hasse  alle  herrschsüchtigen  Frauen  und  finde  Männer,  die 
unter  dem  Pantoffel  stehen,  lächerlich.  Ich  hatte  nun  keine  Ruhe  und  überlegte 
immer  hin  und  her.  Ich  mußte  mir  sagen,  daß  ich  der  schwächere  Teil  bin, 
und  daß  sie  mich  vollständig  beherrschen  werde.  Ich  glaube  aber,  es  war  nur 
ein  Vorwand,  um  nicht  heiraten  zu  müssen.  Denn  immer  mehr  verfolgten  mich 
die  Gedanken  an  die  Knaben,  und  ich  verliebte  mich  in  einen  meiner  Schüler, 
so  daß  ich  fast  wahnsinnig  wurde,  weil  fch  den  sündigen  Gedanken  aus  meinem 
Kopfe  jagen  wollte.  Schließlich  habe  ich  diese  Leidenschaft  überwunden.  Aber 
nur  dadurch,  daß  ich  täglich  dem  anderen  Laster,  der  Onanie,  fröhnte.  Da 
war  ich  zu  schwach,  um  zu  widerstehen,  und  obwohl  ich  weiß,  daß  ich  mich 
für  mein  ganzes  Loben  schädige,  bin  ich  doch  nicht  imstande,  ohne  die  Onanie 


330  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität, 

zu  leben.    Denn  nach  der  Onanie  bin  ich  viel  ruhiger  und  kann  wenigstens, 
schlafen." 

Dieser  Bericht  ist  eine  der  gewöhnlichen  Beichten,  wie  wir  sie  von  Ho- 
mosexuellen hören.  Ich  schlage  dem  Kranken  eine  längere  Behandlung  vor, 
auf  die  er  gern  eingeht.  Solche  Fälle  sind  schon  aus  dorn  Grunde  dankbarer, 
weil  der  entschiedene  Wille  zur  Heterosexualität  vorhanden  ist.  Andere  Homo- 
sexuelle, die  nur  aus  Not  (z.B.  wegen  gerichtlicher  Verfolgung)  sich  analy- 
sieren lassen,  haben  nur  einen  Wunsch:  Die  Analyse  möglichst  rasch  hinter 
sich  zu  haben  und  ihre  Paraphilie  zu  behalten. 

Die  Analyse  ging  ziemlich  flott  vor  sich.  Zuerst  trat  zutage,  daß  er  noch 
eine  Reihe  heterosexueller  Episoden  erlebt  hatte,  die  er  in  dem  ersten  Bericht 
unterschlagen  hatte.  Er  hatte  sich  so  in  den  Gedanken  der 
angeborenen  Homosexualität  eingelebt,  daß  er  alle 
anderen  Erlebnisse  aus  seinem  Gedächtnisse  ver- 
loren hatte.  Nicht  wirklich  verloren,  auch  nicht  im  Sinne  Freuds  so 
verdrängt,  daß  sie  ihm  vollkommen  unbewußt  waren.  Eigentlich  wußte  er 
alles.  Er  wollte  nicht  daran  denken.  Wenn  ich  fragte  :•  Weshalb  haben  Sie 
mir  diesen  oder  jenen  Vorfall  verschwiegen,  so  sagte  er:  „Ich  habe  nicht 
daran  gedacht.  Mit  Absicht  habe  ich  nichts  verschwiegen.  Das  andere  kam 
mir  in  den  Sinn,  und  an  diese  Szene  habe  ich  nicht  gedacht." 

Zuerst  erwähnt  er,  daß  er  schon  vor  der  ersten  Neigung,  die  ganz  blaß 
und  nur  angedeutet  war,  eine  Bekanntschaft  mit  e"inem  Mädchen  hatte.  Es  war 
im  zweiten  Jahre  der  Hochschule.  Die  Tochter  seiner  Zimmerfrau  zeigte  ihm 
deutlich  ihre  Neigung.  Sie  gefiel  ihm  sehr  gut,  we.il  sie  knabenhaft  aussah  und 
jenem  Knabentypus  ähnelte,  der  ihm  so  gefiel.  Zart,  blond,  mit  scharfen,  feinen 
Gesichtszügen.  Sie  küßten  sich,  und  sie  kam  oft  zu  ihm  ins  Zimmer,  wenn  die 
Mutter  nicht  zu  Hause  war.  Ja,  sie  kam  sogar  einige  Male  in  sein  Bett,  wobei 
er  sehr  leidenschaftlich  erregt  wurde.  Es  war  eigentlich  das  einzige  Mädchen, 
bei  dem  er  nichts  von  dem  unangenehmen  Geruch  verspürte.  Aber  er  rührte 
sie  nicht  an  und  berührte  auch  nicht  ihre  Genitalien.  Davor  hatte  er  eine  un- 
überwindliche Abneigung.1)  Sie  lagen  still  nebeneinander  und  hielten  sich  um- 
schlungen. Als  das  Mädchen  ihm  sagte,  er  könne  alles  mit  ihr  machen,  was 
er  wolle,  sie  liebe  ihn  so  sehr,  daß  sie  vor  gar  nichts  zurückschrecke,  wurde 
er  ängstlich  und  sperrte  die  Tür  ab,  so  daß  sie  nicht  zu  ihm  kommen  konnte. 
Er  sagte  ihr  dann,  er  wolle  sie  nicht  unglücklich  machen,  er  habe  Angst,  er. 
werde  die  Beherrschung  verlieren.  Bald  darauf  verließ  er  unter  irgend  einem 
Vorwand  die  Stadt  und  suchte  eine  andere  Hochschule  auf.  Sie  korrespondierten 
noch  eine  Weile,  dann  aber  ließ  er  ihre  Briefe  uneröffnet  liegen.  Er  wußte 
nicht,  warum.  Er  denke  oft  mit  Sehnsucht  an  sie  und  glaube,  sie  wäre  die 
einzige  gewesen,  die  ihn  hätte  retten  können.  Nun  habe  er  sich  um  sein  Glück 
gebracht.  Denn  er  habe  vernommen,  daß  das  Mädchen  schon  verheiratet  sei. 

Auf  diese  Weise  benimmt  sich  der  Homosexuelle  sehr  häufig,  wenn  er 
Gefahr  läuft,  heterosexuell  zu  werden  .  .  . 

Dann  erinnert  er  sich,  daß  er  •noch  einen  zweiten  Versuch  bei  einem 
Dienstmädchen  gemacht  habe.  Er  weiß  nicht  mehr,  ob  ihn  der  Geruch  gestört 


*)  "Aucli   Hirschfeld   betont    —    wie   6ehon    erwähnt    -r-,    daß    die   Homosexuellen 
Frauen  hie  und  da   küssen,   aber  Vor   ihren   Genitalien  einen   großen  Horror   zeigen. 


•MldM 


i>ic  Familie  des  Homosexuellen.  -  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  S81 

hat,  aber  er  führte  den  Beischlaf  aus,  ohne  zu  einem  Orgasmus  zu  kommen. 
Er  wurde  schließlich  sehr  müde  und  wich  jeder  weiteren  Gelegenheit  aus, 
mit  ihr  zusammenzukommen. 

Viel  bedeutsamer  ist  aber,  was  er  allmählich  aus  seiner  Jugend  erzählte. 
Der  Vater  war  ein  großer  Damenfreund,  wie  ihm  seine  Tante  später  gestanden 
hatte.  Er  hatte  einmal  eine  schwere  Syphilis  überstanden  und  war  wahrschein- 
lich an  den  Folgen  dieses  Leidens  gestorben.  Er  erinnert  sich  an  fürchterliche 
Szenen,  die  sich  im  Hause  zugetragen  hatten.  Die  Mutter  hätte  den  Vater  an- 
geschrien und  ihn  zornig  aus  dem  Zimmer  gewiesen.  Ein  anderes  Mal 
sperrte  die  Mutter  die  Türe  innen  mit  einem  Riegel  ab,  so  daß  der  Vater  nicht 
in  die  Wohnung  gelangen  konnte  und  ins  Hotel  schlafen  gehen  mußte. 

Nach  dem  Tode  des  Vaters  hörte  er  im  Nebenzimmer,  wie  die  Tante  mit 
einer  anderen  Dame  über  die  Mutter  sprach.  Sie  hätte  den  Vater  ins  Grab  ge- 
trieben. Er  sei  etwas  später  aus  dem  Gasthause  gekommen,  und  da  habe  ihm 
die  Mutter  eine  solche  Szene  gemacht.  Der  Vater  habe  sich  so  aufgeregt,  daß 
er  einen  Herzkrampf  bekommen  hätte  und  bald  darauf  gestorben  wäre.  Dann 
hörte  er  etwas  von  Vergiften  und  er  ahnte  schon  damals,  daß  der  Vater  nicht 
eines  natürlichen  Todes  gestorben  sei.  Erst  später  habe  er  erfahren,  daß  der 
Vater  sich  in  jener  Nacht  mit  Morphium  vergiftet  habe.  Er  wollte  mir  das 
zuerst  nicht  sagen,  weil  er  das  Andenken  seines  Vaters  nicht  entehren  wollte. 
Mit  seiner  Mutter  sprach  er  niemals  über  die  Todesursache  seines  Vaters.  Aber 
eine  andere  Tante  teilte  ihm  den  ganzen  Sachverhalt  mit.  Es  scheint,  daß  der 
Vater  sich,  etwas  hatte  zuschulden  kommen  lassen  und  in  gerichtliche  Unter- 
suchung hätte  kommen  sollen.  Die  Mutter  wußte  an  jenem  Abend  davon  und 
drohte  dem  Vater  mit  Scheidung.  Ob  nun  die  Drohung  daran  schuld  war  oder 
der  Vorfall  (er  soll  sich  an  einem  minderjährigen  Mädehen  vergriffen  haben), 
das,  wisse  sie  nicht.  Die  Mutter  verweigerte  jede  Auskunft.  Wiederholt  aber 
hörte  er  die  Mutter  sagen:  „Er  hat  dieselben  Fehler  wie  sein  Vater.  Wenn 
ich  nur  nicht  mit  dem  Buben  Kummer  erlebe V  Oder:  „Ein  Junge  macht  einem 
zehnmal  mehr  Sorge  wie  ein  Mädchen  .  .  .' 

Eine  andere  Szene  von  größter  Bedeutung  spielte  sich  mit.  seiner 
Schwester  ab.  Es  war  kurz  nach  dem  Tode  des  Vaters  und  er  spielte  mit  seiner 
jüngeren  Schwester.  Sie  zeigten  sich  ihre  Genitalien,  und  er  legte  sich  auf  sie. 
Sie  fühlte  Schmerzen  und  schrie  etwas.  Da  kam  die  Mutter  und  überraschte 
sie.  Er  bekam  fürchterliche  Schläge  und  wurde  in  ein  finsteres  Zimmer  ge- 
sperrt. Die  Mutter  setzte  ihm  auseinander,  er  wäre  ein  Bösewicht  und  werde 
sicher  einmal  im  Zuchthause  enden.  Auch  damals  hörte  er  sie  sagen,  er  hätte 
das  wilde  Blut  seines  Vater  geerbt. 

Es  gab  noch  eine  Reihe  kleinerer  heterosexueller  Episoden.  Er  beob- 
achtete die  Dienstmädchen  beim  Ausziehen  und  verliebte  6ich  in  eine  kleine 
Kusine,  so  daß  er  damit  geneckt  wurde. 

Schreiten  wir  nun  zur  psychologischen  Analyse  seiner  Homosexualität. 
Der  Tod  seines  Vaters  und  das  von  ihm  belauschte,  halb  verstandene  und  halb 
nur  geahnte  Gespräch  über  seinen  Vater,  die  Aussprüche  der  Mutter,  waren 
für  ihn  ein  drohender  Fingerzeig  für  die  Zukunft.  Mußte  er  sich  nicht  vor- 
nehmen: Ich  will  nicht  so  werden  wie  der  Vater,  sonst  werde  ich  früh  sterben? 
Mußten  die  Szenen,  in  denen  der  geliebte  Vatef  eine  so  klägliche  Rolle  spielte, 
in  ihm  nicht  die  Angst  vor  dem  Weibe  entwickeln?  Seine  Mutter 
war  die  strenge  Herrscherin  des  Hauses.  Vor  ihr  zitterten  alle  Kinder,  denn 
sie  strafte  alle  Vergehen  mit  unerbittlicher  Strenge.  In  seinem  kindlichen  Hirn 


332  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

mußte  sich  die  Vorstellung  festsetzen:  Die  Frauen  haben  es  besser,  sie 
herrschen  und  regieren.  Seine  Schwester  aber  bewunderte  er  und  weil  er  um 
zwei  Jahre  älter  war,  so  beherrschte  er  sie  und  betrachtete  sie  als  sein  Spiel- 
zeug. Die  schreckliche  Szene  aber,  welche  ihm  seine  Mutter  nach  dem  sexuellen 
Spiel  mit  der  Schwester  gemacht  hatte,  ihre  drohenden,  rollenden  Augen,  die 
empfindliche  Züchtigung,  das  Einsperren  in  das  finstere  Zimmer  schafften  feste 
Assoziationen  zwischen  dem  Begriffe  „Lust  beim.  Weibe"  und  „empfindliche 
Strafe".  Auf  jedes  Verlangen  mußte  zuerst  in  Erinnerung  an  diese  Szene 
eine  Angstreaktion  erfolgen.  Nimmt  man  noch  dazu,  daß  die  Bilder  vom  Tode 
des  Vaters  als  ewige  Warnung  vor  frühem  Tod  und  Krankheit  durch  seine 
Seele  zogen,  addiert  man  zu  diesen  Einflüssen  das  Bild  der  herrschenden 
Frau,  so  wird  einem  klar,  daß  dieser  Mann  vor  dem  Weibe  zittern  und 
zum  Manne  flüchten  mußte.  Unterstützt  wurde  diese  Flucht  durch  seine  weib- 
liche Anlage,  die  sich  besonders  in  seinem  Wesen  äußerte.  Aber  er  konnte 
sich  auch  im  Momente  der  Gefahr  als  ein  ganzer  Mann  beweisen.  Er  hatte 
eigentlich  nur  eine  Angst:  das  Weib. 

In  seinen  Nächten  schreckte  ihn  hie  und  da  ein  grauenhaftes  Bild:  Er 
sah  eine  riesenhafte  Figur,  wie  ein  Götzenbild,  weib- 
lich und  ganz  nackt.  Sie  rollte  furchtbar  mit  gläser- 
nen Augen,  so  daß  er  vor  Schrecken  vor  ihren  Thron 
hinfiel  und  nicht  aufzuschauen  wagte.  Er  erwachte  dann 
mit  Herzklopfen  und  konnte  lange  keinen  Schlaf  finden. 

Was  er  gesehen,  .war  der  Götze  „Weib",  vor  dem  er  sich  so  fürchtete, 
es  war  das  Bild  seiner  Mutter  und  der  anderen  furchtbaren  Frauen,  zu  deren 
Füßen  sich  die  Männer  werfen  müssen,  um  sie  wie  eine  Gottheit  zu  verehren. 
Die  Angst  um  seine  Selbständigkeit  und  das  Gefühl,  daß  er  verloren  sei,  wenn 
er  eine  Frau  lieben  würde,  legten  sich  zwischen  ihn  und  das  Weib.  Lieben 
heißt  sich  unterwerfen  und  er  wollte  sich  keiner  Frau  auf  dar  Welt  unter- 
werfen. Er  wollte  auch  keinem  Manne  Untertan  sein  und  spielte  immer  den 
Aktiven  in  seiner  Phantasie. 

Wir  sehen,  dieser  Homosexuelle  steht  unter  der  Herrschaft  einer  Angst- 
vorstellung, welche  sich  als  aus  der  Kindheit  stammend  erweist.  Man  könnte 
ebenso  von  einer  Zwangshandlung  sprechen.  Ich  habe  anläßlich  der  psycho- 
logischen Analyse  der  Zwangshandlungen  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
sich  bei  Zwangshandlungen  immer  zwei  Punkte  finden. 

1.  Sie  enthalten  eine  Todesklausel.  (Wenn  du  das  machst  oder  nicht 
machst,  so  wirst  du  oder  eine  andere  Person  sterben.) 

2.  Sie  erfüllen  irgend  einen   Imperativ   aus  der   Kindheit. 

Hier  sehen  wir  eine  klassische  Bestätigung  meiner  Thesen,  die  in  ver- 
änderter Form  (natürlich  ohne  die  Quelle  der  neuen  Erkenntnis  zu  nennen) 
von  anderen,  Psychanalytikern  benützt  wurden.  Der  Patient  Ypsilon  fürchtet 
den  Tod,  wenn  er  sich  mit  dem  Weibe  einläßt.  (Sein  Vater  starb  an  Syphilis. 
Er  leidet  an  Angst  vor  Infektionen.  Man  erinnere  sieh  an  die  Angstperiode 
nach  dem  ersten  Koitus  im  Rausche.)  Die  Worte  der  starken  Mutter,  die  Dro- 
hungen nach  der  Szene  mit  der  Schwester  wirken  als  ein  infantiler  Imperativ: 
Du  sollst  kein  Weib  berühren,  denn  darauf  stehen  der  Tod  und  die  Hölle. 
Dieses  furchtbare  Weib,  das  ihm  im  Traume  erscheint,  trägt  manchmal  eine 
große,  lange  Schlange.  Die  Analyse  konnte  nachweisen,  daß  sich  ein  früher 
Eindruck  in  diesem  Traumbilde  wiederholte:    das  bekannte  Bild  von  Stuck 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  333 

„Die  Sund e".  Das  Weib  ist  das  Symbol  der  Sünde  und  des  Bösen.  Schon 
die  erste  Lektüre  der  Bibel  führte  ihm  das  Weib  als  Sünde  vor  und  seine 
ganze  innere  Religion  baute  sich  auf  diesem  Grunde  auf. 

Dazu  kam  die  Differenzierung  von  dem  Vater,  den  er  so  liebte,  und  der 
ein  so  furchtbares  Schicksal  genommen.  Er  wollte  nicht  so  werden  wie  der 
Vater  war.  Gerade,  weil  es  seine  Mutter  gedroht  hatte  und  es  ihm  als  sein 
sicheres  Schicksal  vorzeichnete.  Nun  gerade  nicht.  Er  differenzierte  sich  vom 
Vater.  Er  wurde  ein  Frauenfeind,  er  floh  die  Frauen  und  er  wollte  nicht  wie 
der  Vater  unter  die  Herrschaft  eines  Unterrockes  kommen. 

Und  doch  sehnte  er  sich  nach  dem  Weibe.  Er  suchte  es  im  Spiegelbilde 
des  Knaben,  der  immer  weibliche  Züge  aufweisen  mußte.  Es  waren  die  Züge 
seiner  Schwester.  In  jeder  Liebe  steckt  eine  Ichliebe.  Der  Inzest  zeigt  innige 
Beziehungen  zum  Narzissmus.  In  der  Schwester  fand  er  das  Stück  von 
seinem  weiblichen  Ich,  dem  er  alle  seine  Huldigungen  darbringen  wollte. 
Zugleich  aber  spielte  er  die  Szene  seiner  Kindheit,  welche  für  ihn  eine  solche 
Bedeutung  hatte.  Er  spielte  mit  seiner  Schwester.  Die  Hemmungen,  die  sich 
daran  knüpften,  mußten  sich  auch  auf  die  Knabenliebe  übertragen.  Er  konnte 
nicht  zur  Tat  schreiten.  Alle  seine  Sexualität  mußte  sich  in  der  Onanie  aus- 
leben. In  seinen  Phantasien,  die  sehr  mühsam  zu  entdecken  waren,  liebte  er 
nicht  nur  Knaben,  sondern  es  kam  hie  und  da  zu  sonderbaren  Metamorphosen. 
Die  Knaben  zerflossen  und  wandelten  sich  in  knabenhafte  Mädchen,  welche 
die  Züge  seiner  Schwester  trugen.  Nie  phantasierte  er,  daß  er  ein  Weib  sei. 
Denn  das  Bild  des  Vaters  war  zu  schwach,  um  sich  in  seinen  Phantasien 
festzusetzen.  Er  blieb  in  allen.-  seinen  Träumen  der  .  Knabe,  der  mit  der 
Schwester  spielt. 

Doch  noch  eine  zweite  Richtung  seines  Sexuallebens  trat  in  der  Analyse 
zutage,  die  er  in  der  ersten  Erzählung  angedeutet  hatte.  Er  hatte  eine  auf- 
fallende Neigung  zu  alten  Frauen.  Wir  hören  diese  Tatsache  oft  von  den 
Homosexuellen  bestätigen.1)  Sie  finden  in  den  älteren  mütterlichen  Frauen  oft 
ein  Bild  der  eigenen  Mutter,  zu  der  sich  manchmal  die  ganze  heterosexuelle 
Liebesfähigkeit  flüchtet.  Einmal  war  er  nahe  daran,  sich  in  eine  ältere  weiß- 
haarige Frau  zu  verlieben.  Ein  anderes  Mal  hatte  er  sehr  zärtliche  Gefühle 
für  eine  Greisin,  die  schon  75  Jahre  alt  war.  Ja,  er  gestand  mir,  daß  er  mit 
ihr  hätte  verkehren  können. 

Wir  sehen  eine  merkwürdige  Erscheinung.  Die  Jugend  und  das  Alter 
reizen  ihn  und  kommen  für  ihn  sexuell  in  Betracht.  Was  dazwischen  liegt, 
scheint  ausgelöscht  zu  sein.  Es  liege  nahe,  in  solchen  Fällen  eine  Fixierung  an 
die  Großmutter  zu  suchen.  Allein  das  bequeme  Schema  von  Freud  und  von 
Bittet  versagt  hier  vollkommen.  Er  hat  keine  Erinnerung  an  die  Großmütter, 
die  fern  von  ihnen  wohnte.  Es  ist  nur  festzustellen,  daß'  er  sich  über  Jung 
und  Alt  sehr  viele  Gedanken  in  seiner  Kindheit  machte  und  sich  sehnsüchtig 
wünschte,  alt  zu  sein.  Immerhin  will  ich  es  nicht  ausschließen,  daß  ältere 
Personen,  von  denen  er  nichts  weiß,  in  seiner  Kindheit  eine  große  Rollo 
spielten. 


')  Platen,  der  auch  eine  flüchtige  Liebe  zu  einem  Mädchen  mit  20  Jahren  hatte, 
liebte'  außer  seiner  Mutter  auch  seine  Hausfrau  und  deren  Mutter.  Von  Platene  Mutter- 
liebe sagt  Frey,  ßie  wäre  beispiellos  gewesen.  Auch  Frey  betont:  Dem  Homosexuellen 
ist  der  Umgang  mit  bloß  freundschaftlichen  oder  mütterlichen  Frauen  wohltuend.  (Aus 
dem  Seelenleben  des  Grafen  Platen.  Jahrb.  f .  sex. .  Zwischenst.,   1899.) 


334  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Es  kommt  nämlich  zutage,  daß  er  doch  einmal  einen  heterosexuellen 
Koitus  mit  großem  Orgasmus  absolviert  hatte.  Er  wohnte  bei  einer  älteren 
Frau,  die  eine  Großmutter  bei  sich  hatte,  mit  der  er  sich  sehr  viel  beschäf- 
tigte und  stundenlange  Gespräche  führte.  Es  war  um  diese  Zeit,  da  er  sehr 
nervös  war.  Die  alte  Frau  pflegte  ihn  und  saß  stundenlang  an  seinem  Bette. 
Einmal  waren  sie  ganz  allein  und  er  hatte  Angstgefühle  und  bat  sie,  sich  zu 
ihm  zu  setzen.  Plötzlich  küßte  er  sie  stürmisch  und  vollzog  einen  Koitus, 
ohne  daß  die  Matrone  sich  sträubte.  Sie  meinte  nur,  auf  ein  solches  Glück 
hatte  sie  sich  nie  mehr  gefaßt  gemacht. 

Nach  einigen  Tagen  verließ  er  die  Wohnung  und  verdrängte  den  ganzen 
Vorfall.  Er  wollte  an  ihn  nicht  denken.  Er  schämte  sich  in  seine  Seele  hinein 
und  meinte,  ich  werde  mit  ihm  nicht  mehr  sprechen,  wenn  ich  dieses  greuliche 
Erlebnis  erfahren  würde  .  .  .*) 

Auch  Kinder  weiblichen  Geschlechtes  spielen  in  seine  Phantasie  hinein. 
Wie  kommt  es  aber,  daß  gerade  Mädchen  und  Weiber  ausgeschlossen  waren, 
während  das  unreife  Mädchen  und  die  Greisin  ihn  sexuell  anzogen?  Das 
stammte  aus  seiner  psychischen  Einstellung  dem  Weibe  gegenüber.  Vor  dem 
Kinde  und  der  Greisin  fürchtete  er  sich  nicht.  Die  G reisin 
war  schwach;  er  fühlte  sich  ihr  gegenüber  als  starker  Mann,  ^ebenso  beim 
unreifen  Mädchen.  .  Nur  vor  dem  starken  Weibe  brauchte/er  zu  fürchten. 
Hinter  dieser  Angst  verbarg  sich  die  Angst  vor  sich  selbst.  Denn  er  haßte 
das  Weib,  dem  er  sich  unterlegen  fühlte.  Sein  Sadismus  gegen  die  Frauen 
tobte  sich  zuweilen  in  Traumbildern  aus,  in  denen  die  Wut  des  Ohnmächtigen 
über  das  Weib  triumphierte.  Zwischen  demütiger  Liebe  und  hochmütigem 
Hasse  pendelte  sein  heterosexuelles  Fühlen.  In  seiner  Liebe  zu  alten  Frauen 
mischte  sich  die  Liebe  zu  seiner  Mutter,  die  er  trotz  ihrer  Strenge  und  viel- 
leicht auch  wegen  ihrer  Strenge  ganz  außerordentlich  liebte.  Bei  der  Dirne 
erwachten  in  ihm  die  Gedanken  an  die  Mutter.  Es  fallen  ihm  Szenen  ein.  in 
denen  er  seine  Mutter  verdächtigte,  mit  einem  Onkel  ein  Verhältnis  zu  haben. 
Er  gedenkt  eines  Bildes,  auf  dem  die  beiden  photographiert  sind,  wo  sie  beide 
so  sonderbar  lächeln.  Der  Onkel  ist  der  einzige,  dem  die  Mutter  folgt  und  zu 
Willen  ist.   Er  aber  hatte  immer  eine  Antipathie  gegen  den  Onkel,  der  mit 


*)  Ich  finde  bei  Hirschfeld  folgenden  sehr  interessanten  Passus:  „Auch  homo- 
sexuelle Männer  lieben  vielfach  da.s  Zusammensein  und  die  Unterhaltung  mit  Frauen, 
mit  denen  sie  viele  gemeinsame  Beziehungen  verbinden.  Namentlich  ältere 
Frauen  6ind  Homosexuellen  sehr  sympathisch.  Meisners  Bemerkung: 
„Gegen  ältere  Damen  und  die  häufig  von  der  Männerwelt  verspotteten  alten  Jungfern 
ist  der  Urning  voll  Artigkeit  und  Höflichkeit,  weshalb  ihn  diese  auch  besonders  gern 
haben",  trifft  völlig  zu.  Nur  wenn  in  den  Frauen  erotische  Gefühle  zu  dem  jüngeren 
Homosexuellen  zutage  treten,  was  erfahrungsgemäß  nicht  selten  ist,  gerät  der  Urning 
in  eine  unbehagliche  Lage.  Ich  kenne  einen  Fall,  in  dem  sich  eine  60jährige  Gräfin  in 
einen  25jährigen  homosexuellen  Schriftsteller  verliebte,  dem  sie  Hunderttausende  schenkte. 
Trotz  der  ansehnlichen  äußeren  Vorteile,  die  der  Homosexuelle  aus  diesem  Verhältnis 
zog  —  beide  durchreisten  die  Welt  im  elegantesten  Stil  — ,  geriet  er  durch  die  Ver- 
liebtheit, der  alten  Dame  in  einen  überaus  nervösen  Zustand;  er  meinte,  es  wäre  ihm, 
al6  befände  er  sich  in  einem  goldenen  Käfig.  Dritten  Personen  täuschen  diese  Ver- 
bindungen zwischen  homosexuellen  und  heterosexuellen  Männern  und  Frauen  oft  Liebe 
vor,  ein  Eindruck,  der  von  den  Homosexuellen  6elb6t,  um  der  Welt  Sand  in  die  Augen 
zu  streuen,   oft  absichtlich  noch  sehr  gefördert  wird."   (Hirschfeld,  1.  c.  S.  102.) 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  335 

ihm  lieb  sein  wollte  und  dem  er  aus  dem  Weg  lief.  So  mußte  sich  ihm  das 
Weib  nicht  nur  als  furchtbar,  sondern  auch  als  treulos  und  als  schlecht  auf- 
drängen. Lasse  dich  nicht  mit  den  Frauen  ein!  Sie  werden  dich  beherrschen, 
betrügen,  in  das  Grab  bringen!  Meide  sie,  wenn  du  lange  leben  und  gesund 
bleiben  willst! 

In  der  Analyse  gelang  es,  die  Angst  vor  dem  Weibe  zu  lindern  und 
das  Zwanghafte  der  Knabenliebe  einer  sanften  Sympathie  weichen  zu  .lassen. 

Wie  weit  die  Heilung,  eines  Homosexuellen  möglich  ist,  das  ist  eine 
Frage,    die   sich   nur   nach    bestimmten   Prinzipien    beantworten    läßt. 

In  diesem  Falle  trat  die  Möglichkeit  ein,  mit  Frauen  zu  verkehren. 
Doch  daß  die  Analyse  die  homosexuelle  Triebkraft  beseitigt,  ist. nach  meinen 
vorherigen  Ausführungen  ja  ganz  ausgeschlossen.  Sie  würde  ja  den  Menschen 
durch  Verdrängung  der  Homosexualität  wieder  neurotisch  machen.  Wir 
können  nur  die  Verdrängung  aufheben,  welche  die  heterosexuelle  Komponente 
betroffen  hat  und  den  Menschen  dann  wieder  bisexuell  machen.  Von  ver- 
schiedenen Faktoren  hängt  es  dann  ab,  ob  er  imstande  ist,  mit  der  hetero- 
sexuellen Betätigung  allein  auszukommen,  ob  er  sich  mit  Hilfe  eines  Kom- 
promisses helfen  kann.  In  diesem  Falle  war  die  Analyse  erfolgreich.  Zuerst 
kamen  die  Wurzeln  jener  merkwürdigen  Erscheinung  zutage,  daß  ihm  die 
meisten  Frauen  wegen  ihres  Gestankes  ekelhaft  waren. 

Es  war  von  vorneherein  anzunehmen,  daß  die  Analyse  eine  zurück- 
gedrängte Mysophilie  zum  Vorschein  bringen  werde.  Zuerst  fand  sich  die  Tat- 
sache, daß  die  Sünde  stinkt.  Das  Weib  war  die  Sünde  wie  der  Teufel.  Der 
Teufel  stinkt  doch  immer,  und  dieser  Gestank  wird  als  ein  Merkmal 
charakteristischer  Art  für  den  Bösen  angesehen.  Das  Weib,  die  Vertreterin 
der  Sünde,  mußte  also  stinken.  Er  fürchtete  sich  vor  der  Sünde,  ein  Ekel  war 
Ekel  vor  der  Sünde.  Dann  aber  zeigte  es  6ich,  daß  er  in  seiner  Kindheit  eine 
ausgesprochene  Liebe  für  den  Gestank  des  Kotes  hatte,  die  sich  in  Rudimenten 
noch  heute  erhalten  hat.  Er  findet  den  Geruch  des  Abortes  gar  nicht  unan- 
genehm, er  kann  sehr  lange  im  Aborte  sitzen  bleiben  und  liest  dort  mit  Vor- 
liebe die  Zeitung.  Für  die  eigenen  Caprylgerüche  (Schweiß  zwischen  den 
Zehen,  Achselschwciß)  hat  er  eine  tmleugbare  Vorliebe.  Als  Kind  jedoch 
spielte  er  mit  Kot  und  pflegte  es  so  einzurichten,  daß  an  seinen  Hosen  immer  * 
ein  Stück  Kot  klebte.  Seine  Mutter  pflegte  ihn  immer  zu  untersuchen  und 
züchtigte  ihn  sogar,  weil  er  so  ein  „Schweindr  war.  Er  pflegte  auch  den  Stuhl 
im  Zimmer  zu  machen,  die  Wände  anzuschmieren,  die  Papiere  vom  Aborte  zu 
sammeln.  Hinter  dem  Ofen  hatte  er  immer  eine  große  Sammlung  solcher 
Papiere,  zu  denen  er  sehr  gerne  roch. 

Seine  Mutter  hatte  einen  eigentümlichen  starken  Geruch,  der  sich  zur 
Zeit  der  Menses  sehr  verstärkte  und  ihm  zuerst  sehr  angenehm  war  und  von 
ihm  gesucht  wurde.  Ihr  Hemd  roch  sehr  intensiv  nach  Urin,  da  sie  beim 
Husten  und  Lachen  immer  etwas  Urin  verlor,  wie  er  später  von  ihrem  Haus- 
arzte hörte.  Er  pflegte  sich  sehr  gerne  diese  alten  Hemden  aus  der  Schmutz- 
wäsche zu  holen  und  daran  zu  riechen.  Eine  andere  merkwürdige  Erscheinung, 
die  ich  noch  in  einem  ähnlichen  Falle  beobachtet  habe,  war,  daß  er  beim 
Niesen  immer  diesen  scharfen  Geruch  der  Mutter  verspürte.  Später  gab  er  alle 
diese  Dinge  auf.  Doch  kam  er  einmal  in  ein  Hotel,  in  dessen  Bett  er  ein  altes 
Frauenhemd  fand,  das  einen  ähnlichen  Geruch  hatte.  Er  wollte  das  Hemd 
wegwerfen  und  konstatierte  zu  seinem  Erstaunen  eine  heftige  Erregung  und 


336 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


eine  Erektion  von  seltener  Intensität.  Er  behielt  das  Hemd  im  Bette  und 
onanierte  einige  Male  in  dieser  Nacht.  Er  weiß  jetzt,  daß  er  beim  Onanieren 
immer  diesen  Geruch  als  Aura  verspürt. 

Sein  Ekel  vor  den  Prostituierten  ist  die  verdrängte  Begierde  nach  den 
Uringerüchen.  Es  ist  ein  Symptom  der  Abwehr.  Doch  was  er  abwehren  will, 
das  sind  seine  Inzestgedanken,  vor  denen  er  zu  den  Männern  flüchtet. 

•Ich  möchte  noch  über  seine  weiteren  Lebensschicksale  berichten.  Er 
heiratete  eine1  ältere  Dame,  eine  Witwe,  die. Mutter  von  zwei  sehr  lieben 
Knaben  war.  Die  Dame  ist  sanfter  Gemütsart,  und  sehr  nachgiebig.  Er  be- 
hauptet sehr  glücklich  zu  sein  und  beim  Koitus  vollen  Orgasmus  zu  empfinden. 
Die  Liebe  zu  den  Knaben  überträgt  er  in  sublimierter  Form  auf  seine  beiden 
Söhne,  die  er  außerordentlich  verwöhnt  und  mit  väterlicher  Liebe  betreut. 

Homosexuelle  Phantasien  sollen  noch  hie  und  da  auftreten,  aber  leicht 
überwunden  werden  können  .  .  . 

Eine  ganz  andere  Einstellung  zeigt  der  nächste  Homosexuelle, 
dessen  Mutter  als  gutmütig,  sanft,  leicht  melancholisch  geschildert  wird. 

Fall  Nr.  59.  Herr  I.  R.,  ein  Mann  von  40  Jahren,  sucht  mich  auf,  weil  er 
wegen  einer  Erpressung  Angst  vor  einer  Gerichtsverhandlung  hat.  Er  hatte 
ein  Verhältnis  mit  einem  Diener,  das  drei  Jahre  dauerte.  Der  Diener  wurde 
wohl  stets  für  seine  Liebesdienste  entlohnt,  wäre  aber  so  fein  und  nett  gewesen, 
daß  er  ihm  nie  eine  gemeine  Erpressung  zugemutet  hätte.  I.  R.  war  immer 
in  bescheidenen  Verhältnissen,  hatte  aber  unvermutet  eine  große  Erbschaft  ge- 
macht. Nun  schrieb  ihm  der  Diener  einen  Brief,  in  dem  er  eine  größere  Summe 
forderte,  weil  er  in  Not  sei.  „Ich  werde  vielleicht  wegen  Erpressung  ins 
Kriminal  kommen,  Sie  werden  aber  auch  vor  der  ganzen  Öffentlichkeit  blamiert 
sein.  Ich  bin  ein  armer  Teufel,  dem  nichts  geschehen  kann.  Sie  sind  aber 
dann  in  Wien  unmöglich.  Ich  habe  Briefe  von  Ihnen  in  Händen,  welche  einen 
untrüglichen  Beweis  unserer  unerlaubten  Beziehungen  bilden.  Überdies  habe 
ich  Zeugen,  welche  unsere  intimen  Beziehungen  bestätigen  werden  müssen, 
wenn  sie  vor  Gericht  unter  Eid  ausgefragt  werden."  Ich  will  nur  zuerst 
konstatieren,  daß  die  Polizei  in  diesem  Falle  dem  Erpresser  schnell  das  Hand- 
werk legte,  ohne  daß  der  arme  I.  R.,  der  dem  Selbstmorde  nahe  war,  in- 
kommodiert wurde.  Ich  aber  hatte  Gelegenheit,  das  Seelenleben  eines  Homo- 
sexuellen kennen  zu  lernen,  der  nicht  geändert  werden  wollte  und  fest  daran 
hielt,  daß  seine  Veranlagung  vom  Hause  aus  eine  homosexuelle  war. 

I.  R.  schwärmte  nur  für  ordinäre  Männer.  Er  hatte  viele  feine  Freunde, 
die  ihm  gerne  zu  willen  wären.  Diese  kann  er  aber  nur  mit  schwärmerischer 
Freundschaft  regalieren.  Niemals  ist  es  zu  einer  Erektion  gekommen  und  der 
Versuch  eines  sexuellen  Aktes  mißlingt  vollkommen.  Anders  wenn  es  sich  um 
einen  Kutscher  oder  Diener  handelt,  der  recht  einfach  gekleidet  ist  und 
schmutzige  Hände  hat.  Diese  sind  für  ihn  geradezu  ein  sexuelles  Stimulans. 
Der  Akt  geht  in  solcher  Weise  vor  sich,  daß  der  Penis  den  anderen  Penis  mit 
der  Spitze  berührt  und  solange  drückt,  bis  die  Ejakulation  erfolgt.  Im  Mo- 
mente der  fremden  Ejakulation  kommt  der  eigene  Orgasmus,  der  sehr  stark 
ist,  wenn  er  das  fremde  Sperma  auf  seinem  Sperma  fühlt.  Die  Vermischung 
der  beiden  Flüssigkeiten  versetzt  ihn  in  eine  mystische  Ekstase. 

Er  behauptet  von  der  Kindheit  an  anders  gewesen  zu  sein  als  seine 
vier  Brüder.    Den  ersten  homosexuellen  Akt  führte  er  mit  23  Jahren  aus. 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  337 

Vorher  hatte  er  einige  Male  mit  Dirnen  verkehrt,  weil  er  sich  dazu  verpflichtet 
fühlte.  Der  Genuß  wäre  sehr  gering  gewesen.  Eigentlich  war  ihm  die  Sache 
gleichgültig. 

Schon  bei  seiner  ersten  Konsultation  sagte  er  mir :  „Wenn  meine  Mutter 
von  dieser  Geschichte  etwas  erfährt,  so  muß  ich  mir  das  Leben  nehmen."  Die 
Mutter  glaubt,  daß  er  ein  weibliches  „Verhältnis"  hat.  Wenn  er  seine  Rendez- 
vous mit  Männern  hat,  die  er  immer  bezahlt,  ist  die  Mutter  der  Ansicht,  er 
gehe  zu  seinem  Mädchen  oder  in  ein  öffentliches  Haus.  Sie  hindert  ihn  nicht, 
schickt  ihn  sogar  öfters  weg:  „Du  bist  wieder  nervös.  Du  sollst  wieder  zu 
deinem  Mädchen  gehen."  Als  er  sich  einmal  für  eine  Sängerin  interessierte, 
die  allerdings  etwas  Männliches  an  sich  hatte  und  einen  tiefen  Alt  von  wunder- 
barem Timbre  aufwies,  für  den  er  immer  eine  Schwärmerei  hatte,  war  seine 
Mutter  eifersüchtig  und  suchte  allerlei  Gründe,  um  ihm  zu  beweisen,  daß  die 
Sängerin  eine  „ganz  falsche"  Person  wäre.  Er  gab  dann  die  Beziehungen  bald 
auf,  weil  er  die  ewigen  Szenen  im  Hause  nicht  vertragen  konnte.  Vorher 
begleitete  er  überallhin  die  Mutter,  nun  wollte  er  auch  einmal  mit  der  Sängerin 
ins  Konzert  gehen.  Seine  Mutter  machte  ihm  eine  so  fürchterliche  Szene,  daß 
er  viele  Jahre  daran  dachte.  Denn  sie  fiel  in  Ohnmacht  und  der  herbeigeholte 
Hausarzt  gab  ihm  zu  verstehen,  daß  die  Mutter  viele  solcher  Szenen  nicht 
überleben  würde. 

Man  sah  ihn  dann  nie  ohne  Mutter.  Sie  gingen  zusammen  spazieren, 
sie  gingen  zusammen  in  die  Theater,  Konzerte,  sie  machten  gemeinsam  alle 
Ausflüge,  kurz  er  ersetzte  der  Mutter  vollkommen  den  Vater.  Der  Vater  lebte 
von  der  Mutter  getrennt.  Sie  hatte  sich  von  ihm  geschieden,  wie  sie  erfahren 
hatte,  daß  er  mit  ordinären  Männern  Verhältnisse  hatte.  Dies  hatte  sie  dem 
Sohn  erzählt,  der  vorher  nicht  wußte,  weshalb  seine  Eltern  nicht  zusammen 
lebten.  Sie  sagte  ihm  das  einmal,  als  er  schon  22  Jahre  alt  war  und  sie  darum 
befragte.  Diese  Erzählung  erregte  ihn  so,  daß  er  einige  Nächte  nicht  schlafen 
konnte.  Er  kam  dann  bald  dazu,  die  Szene,  die  ihm  die  Mutter  erzählte,  selbst 
zu  erleben  und  blieb  nun  in  Banden  dieser  Leidenschaft.  Vor  seiner  Mutter 
hütete  er  ängstlich  sein  Geheimnis.  Sie  hatte  in  verächtlichem  Tone  von  diesen 
Schweinereien  gesprochen  und  sich  oft  glücklich  gepriesen,  daß  er  ganz  anders 
geartet  wäre.  Sie  würde  sicherlich  sterben,  wenn  sie  das  von  ihm  erfahren 
würde,  und  das  könnte  er  nicht  überleben. 

Den  Vater  sehe  er  fast  gar  nicht.  Er  lebe  nicht  in  Wien  und  käme  nur 
selten  hierher.  Die  ersten  Jahre  besuchte  er  den  Knaben,  durfte  ihn  aber  nie 
allein  sehen,  das  war  ausgemacht.  Die  peinlichen  Szenen  —  seine  Mutter  war 
immer  anwesend  —  sind  ihm  noch  immer  in  Erinnerung.  Der  Vater  ver- 
zichtete dann  vollkommen  auf  jedes  Wiedersehen.  Er  gab  sein  Geschäft  auf, 
in  dem  er  reich  geworden.  Er  war  nämlich  ein  berühmter  Damenschneider 
und  durch  seinen  exquisiten  Geschmack  berühmt. 

Die  Ursache,  weshalb  er  den  Verkehr  durch  den  Kontakt  der  Phalli  aus- 
führt, weiß  er  nicht  anzugeben.  Er  meint,  die  schmutzige  Hand  des  Arbeiters 
würde  er  nicht  ertragen.  Auf  die  geschilderte  Weise  käme  eine  innige  Be- 
rührung zustande,  und  es  werde  doch  eine  gewisse  Distanz  eingehalten.  Diese 
Erklärung  kann  richtig  sein,  scheint  mir  dazu  zu  dienen,  eine  Zwangshandlung 
mit  dem  Verstände  zu  erklären  (zu  „rationalisieren",  wie  Jones  treffend  diesen 
Mechanismus  bezeichnet).  Es  ließ  sich  aber  bei  längerer  Analyse  eine  andere 
Begründung  finden. 

Stekol,  Störungen  dea  Trieb-  und   Affektlebens.  IT.  2.  Aufl.  22 


338  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität, 

Es  wurde  klar,  daß  er  in  dem  fremden,  ordinären,  schmutzigen  Manne 
seinen  Vater  suchte.  Die  Mutter  sprach  vom  Vater  nie  anders,  als  dieser  „or- 
dinäre, schmutzige  Mensch,  dem  ich  nie  die  Hand  reichen  könnte.  Mich  ekelt, 
wenn  ich  an  eine  Berührung  denke.  Und  ich  kann  es  nicht  ausdenken,  daß 
ich  seine  Frau  gewesen  bin". 

Oft  hatte  es  seine  Phantasie  beschäftigt,  wie  die  Eltern  verkehrt  haben 
mögen.  In  der  Kindheit  hatte  er  solche  Szenen  belauscht,  denn  seine  Eltern 
waren  sehr  unvorsichtig.  Er  hatte  sich  gewünscht,  an  Stelle  der  Mutter  zu  sein, 
denn  er  liebte  damals  den  Vater  ganz  außerordentlich.  Die  bewußte  Szene  hat 
also  folgende  Phantasie  zur  Grundlage :  Er  spielt  die  Mutter,  mit  der  er  sich 
vollkommen  identifiziert.  Der  ordinäre  Kerl  ist  der  Vater.  Die  Berührung  der 
Glieder  symbolisiert  den  Koitus,  die  Vermischung  der  Samenflüssigkeiten  die 
Befruchtung.1)  In  der  Sängerin  liebte  er  aber  eine  Imago  seiner  Mutter.  Die 
Mutter  hatte  eine  wunderbar  schöne,  tiefe  Altstimme.  Die  Sängerin  hatte  das 
gleiche  Timbre  .  .  .  Hier  versuchte  er  eine  Art  Selbstheilung,  eine  Über- 
tragung aller  Erotik  und  Sexualität  von  der  Mutter  auf  ein  Ersatzobjekt.  Seine 
Liebe  pendelte  zwischen  Vater  und  Mutter.  In  der  Mutter  verkörperte  sich  ihm 
der  Begriff  Weib,  der  aber  aller  Sexualität  entkleidet  wurde.  Auch  der  Mann 
durfte  nicht  in  allen  seinen  Vertretern  sexuell  sein.  Den  Freunden  wurde  die 
Erotik  reserviert,  aber  die  sexuelle  Betätigung  bei  ihnen  blieb  unmöglich. 
Nur  der  ordinäre  Typus  Mann  war  ihm  sexueU  zugänglich. '  Er  hatte  sein 
ganzes  Leben  gegen  die  Sexualität  als  das  Tierische  und  Ordinäre  angekämpft, 
als  das  Erniedrigende.  Er  mußte  fallen,  wenn  er  sexuell  empfinden  sollte.  Er 
mußte  diesen  Fall  als  Erniedrigung  empfinden  und  sich  nach  den  reinen 
Höhen  der  Freundschaft  sehnen.  Diese  Wertung  wurde  ihm  von  seiner 
schwärmerischen  exaltierten  Mutter  eingeimpft,  welche  ihren  Sohn  anders 
haben  wollte  als  die  anderen  Männer.  Er  sollte  das  Tierische  ganz  über- 
winden .  .  .  Seine  Mutter  hatte  ihm  gestanden,  daß  sie  beim  Verkehr  mit  ihrem 
Manne  nie  etwas  empfunden  hatte.  Sie  wüßte  nicht,  weshalb  die  Menschheit 
auf  solche  gemeine  Dinge  einen  solchen  Wert  lege.  Diese  Wertung  der  Mutter 
wurde  seine  Weltanschauung.  Ihre  Ausführungen  über  die  Frauen,  vor  denen 
sie  ihn  bei  jeder  Gelegenheit  warnte,  deren  Tücke  sie  immer  wieder  hervorhob, 
deren  Falschheit  sie  ihm  mit  tausend  Beispielen  belegte,  mußte  seine 
sexuelle  Leitlinie  vom  Weibe  abbiegen,  um  so  mehr,  als  die  sexuelle  Bin- 
dung an  die  Mutter  immer  fester  wurde,  als  er  mit  seiner  Mutter  eine 
Ehe  führte,  eine  Ehe  nach  ihrem  Geschmacke,  in  dem  nichts  fehlte  als 
der  sexuelle  Verkehr.  Er  betonte,  daß  seine  Mutter  eine  sanfte,  leicht 
melancholische  Frau  war.  Sie  gab  sich  ganz  in  Kunst  und  Kunstbegeisterung 

aUj  m  Sle  War  doch  stark  und  enerSisch  in  dera  beharrlichen  Erziehen 
und  Modeln  ihres  Kindes.  Sie  hörte  nicht  auf,  ihn  von  den  anderen  Frauen 
abzuziehen. 

Daß  er  seinem  Vater  nachgeriet,  mögen  andere  als  hereditäre  Belastung 
auffassen.  Er  suchte  erst  die  Männer  auf,  nachdem  ihm  die  Mutter  den  wahren 
Grund  ihrer  Scheidung  mitgeteilt  hatte.  Das  zeigt  uns  deutlich,  daß  die  alte 
Liebe  zum  Vater  lebendig  wurde,  und  er  sich  der  Mutter  gegenüber  als  der 


*)  Ich  verstand  erst  später,  daß  es  sich  um  eine  „Mutterleibsphantasie" 
handelte.  Er  stellte  sich  eine  Situation  im  Mutterleibe  vor,  bei  der  er  im  Leibe  der 
Mutter   die   Wonnen    des   Beischlafes   mitgenießen   konnte. 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verbalten  zur  Mutter.  3B9 

Vater  fühlte.    Er  mußte  dann  so  handeln  wie  der  Vater,  er  mußte  die  kalte 
Mutter  mit  einem  Manne  betrügen. 

Leider  konnte  ich  eine  weitere  Analyse  nicht  durchsetzen.  Herr  I.  R. 
verließ  nach  der  Regelung  seiner  Affäre  dankbar  seinen  Helfer  und  ließ  nichts 
weiter  von  sich  hören. 

Deutlich  ist  zu  ersehen,  daß  die  Mutter  allein  das  Schicksal  ihres 
Sohnes  nicht  determiniert.  Das  Beispiel  und  das  Schicksal  des  Vaters, 
sein  Wesen  wirken  auch  bestimmend  mit.  Freilich,  der  große  Einfluß 
der  Mutter,  die  schon  in  der  frühen  Kindheit  das  weiche  Herz  d'es 
Kindes  zu  beeinflussen  beginnt,  leuchtet  aus  diesen  Beispielen  hervor. 
Wie  groß  der  Egoismus  der  Mütter  sein  kann,  wie  bestimmend  die 
Angst,  ihren  Lieblingsknäben  einmal  zu  verlieren  und  einem  anderen 
Weibe  zu  überlassen,  das  kann  nur  der  ermessen,  der  Gelegenheit 
gehabt  hat,  solche  Mütter  zu  analysieren  und  alle  Abgründe  zu  er- 
messen, welche  der  Begriff  Mutterliebe  in  sich  faßt. 

Wenn  eine  Mutter  einem  zehnjährigen  Knaben  auf  dem  Sterbe- 
bette zum  letzten  Segen  die  Worte  zurufen  kann:  „Hüte  dich  vor  den 
Frauen!"  dann  ist  noch  viel  mehr  möglich.1)  Dann  ist  auch  die  heim- 
liche Minierarbeit,  welche  in  dem  Kinde  diese  Angst  vor  den  Frauen 
großzieht,  zu  begreifen.  Man  muß  aber  verstehen,  daß  verschiedene 
Kräfte  von  verschiedenen  Seiten  das  gleiche  Ziel  erreichen  können.  Wir 
werden  im  nächsten  Kapitel  auch  von  den  Einflüssen  des  Vaters 
sprechen  können  und  immer  wieder  gestehen  müssen,  daß  viele,  viele 
Wege  in  das  Reich  der  „echten  Homosexualität"  führen,  aus  dem  es 
angeblich  kein  Entrinnen  mehr  gibt  .  .  . 

Wenden  wir  uns  zu  zwei  interessanten  Beobachtungen  von  Fere. 
welche  seinem  hochinteressanten  Werke  „L'Instinct  Sexuel"  ent- 
nommen sind. 

Fall  Nr.  60.  M.  P.,  41  Jahre  alt,  ist  der  einzige  Sohn  eines  im  Alter  von 
74  Jahren  an  Gehirnschlag  verstorbenen  Vaters.  Er  wurde  von  einem  Onkel, 
welcher  fünfzehn  Monate  jünger  war  als  sein  Vater  und  welcher  beinahe  im 
selben  Alter  wie  dieser  und  an  derselben  Krankheit  starb,  erzogen.  Dieser 
Onkel  war  Junggeselle.  Er  hat  persönlich  keinen  Anverwandten  gekannt. 
Man  weiß  nichts  aus  seiner  frühesten  Jugend,  außer  daß  er  an  nächtlichen 
Angstzuständen  und  Bettnässen  bis  zu  seinem  zwölften  Lebensjahr  gelitten 
hatte.  Seine  Mutter  weckte  ihn  zu  bestimmten  Stunden,  um  den  Urinabgang 
zu  vermeiden;  der  Erfolg  war  nur  ein  teilweiser.  Manchmal  konnte  er  dann 
nicht  wieder  einschlafen,  dann  nahm  sie  ihn  zu  sich  ins  Bett, 
um  ihn  wieder  zu  beruhigen.  Eines  Nachts,  während 
er  sich  bewegte,  streifte  er  seine  Mutter  an  einem 
behaarten  Körperteil;  dieser  Kontakt  rief  plötzlich 
den   Gedanken   an   ein   Tier  wach.    Er   sprang   schreiend 


-1)  Ich   habe   inzwischen   Mütter  kennen   gelernt,    die   mir   gestanden   haben,   mit 
ihrem  Söhnchen  „gespielt"  zu  haben. 

22* 
/       • 


340 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


aus  dem  Bett  und  wollte  sich  nur  mehr  in  sein  eigenes 
legen.    Es  brauchte  lange  Zeit,  bis  er  sich  beruhigte.  Wenn  man  dieses 
Ereignis  als  Ausgangspunkt  seiner  Krankheit  annimmt,  so  steht  es  fest,  daß  er 
noch  nicht  3  Jahre  alt  war.   Von  diesem  Augenblick  an  machte  er,  wenn  seine 
Mutter  oder  später  seine  Amme,  die  in  ihren  Diensten  verblieben  war,  ihn  in  ihr 
Bett  nahmen,  alle  möglichen  Anstrengungen,  um  nicht  wieder  in  seines  zurück- 
gelegt zu  werden.    Er    wurde    von    dem   Gedanken    verfolgt, 
sich      über    .die      Empfindung,      die      ihm      so      großen 
Schrecken     eingejagt     hatte    und     welche    ihm    nie    ge- 
nügend    erklärt     worden       war,       Aufklärung     zu     ver- 
schaff e.n.  Er  stellte  sich  schlafend,  um  seine  Amme  während  sie  sich  anzog 
beobachten  zu  können.    Es  dauerte  einige  Monate,  bevor  er  „das  Tier"  ent- 
deckte.   Aber  die  Kenntnis  seines  Sitzes  klärten  ihn  nicht  über  sein  Wesen 
auf;    seine  ewigen  Fragen  hatten  nur  eine  strengere  Beaufsichtigung   zur 
Folge;    schließlich  gab  er  es  auf,  von  seiner  Umgebung  Aufklärungen  zu 
erlangen,  aber  seine  Unruhe  legte  sieh  nicht.   Er  war  nicht  ganz  8  Jahre  alt, 
als  ihn  ein  Buch  über  Anatomie  in  ziemlich  verworrener  Weise  aufklärte. 
^  Und  er  begriff,  daß  alle  Frauen  mit  demselben  Tiere  versehen  seien,   daß 
•sie  ihn  aber  nicht  auf  dieselbe  Art  wie  seine  Amme  lieben  und  ihn  nicht 
gegen   alle  Gefahren  schützen  würden.    Er  begann  Widerwillen  gegen  die 
Berührung  von  Frauen  zu  zeigen  und  vertrug  es  nicht,  wenn  ihn  eine  andere  als 
seine  Amme  auf  den  Schoß  nahm,    obwohl    er    aus    eigenem    An- 
trieb den  Männern  auf  die  Kniee  kletterte.    Junge  Mädchen 
bis  zum  13.,  14.  oder  15.  Jahre  flößten  ihm  nicht  denselben  Widerwillen  ein, 
er  spielte  mit  ihnen  ohne  jegliche  Hemmung.   Er  zeigte  keine  anderen  nervösen 
Störungen  .als  das  Bettnässen,  welches  (immer  schwächer  werdend)  andauerte; 
aber  der  Gedanke,  der  Ursache  seines  Widerwillens  gegen  die  Frauen  auf  den 
Grund  zu  kommen,  ließ  ihm  keine  Buhe.  Er  wagte  hie  und  da  an  die  Dienst- 
mädchen und  .an  seine  Kameraden  eine  Frage  zu  stellen,  deren  Beantwortung 
aber  eher  dazu  beitrug,  seine  Neugierde  zu  reizen  als  sie  zu  befriedigen. 

Er  war  beiläufig  12  Jahre  alt,  als  ihm  ein  Buch  über  venerische  Krank- 
heiten, welches  im  Gebrauch  der  vornehmen  Welt  stand,  in  die  Hände  fiel; 
es  genügte,  um  ihn  aufzuklären,  aber  nicht  um  ihm  seinen  Widerwillen  zu 
nehmen.  Er  begann,  sich  gegen  die  Amme  zu  wehren,  deren  Berührung  ihm 
eine  peinliche  Angst  verursachte.  Das  Bettnässen  hatte  aufgehört.  Er  begann 
Masturbation  mit  einigen  Kameraden,  ohne  jedoch  einem  davon  freund- 
schaftlich zugetan  zu  sein.  Erst  im  Alter  von  15  Jahren  faßte  er  eine  heftige 
Zuneigung  zu  einem  17jährigen  Jungen,  dessen  Sexualmerkmale  besonders 
entwickelt  waren.  (Er  hatte  eine  kräftige  Muskulatur,  beginnenden  Bartwuchs 
und  eine  sonore  Stimme.)  Diese  Zuneigung  veranlaßte  ihn,  sich  von  allen 
anderen  zufälligen  Neigungen  fernzuhalten.  Aber  nachdem  dieser  Junge, 
wenigstens  was  ihn  betraf,  keinerlei  ähnliche  Neigungen  zeigte,  war  das  Ver- 
hältnis ein  rein  freundschaftliches  und  dauerte  sogar  bis  zum  Austritte  aus 
der  Schule.  Er  glaubt,  daß  sein  Kamerad  nie  seine  wirklichen  Gefühle  ihm 
gegenüber  bemerkt  hat. 

Er  masturbierte  nur  in  großen  Zwischenräumen,  aber  hatte  oft  erotische 
Träume,  wo  nur  Knaben  eine  Rolle  spielten. 

Er  war  22  Jahre  alt,  als  sein  Freund  durch  äußere  Umstände  gezwungen 
war,  sieh  von  ihm  zu  trennen.  Erst  von  diesem  Augenblick  an  begann  er  nach 
Gelegenheiten  zu  suchen,  um  in  den  Gymnasien,  Fechtböden  und  öffentlichen 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  -  Sein  Verhalten  zur  Mutter. 


341 


Bädern  Männer  mit  ausgesprochenen  sexuellen  Merkmalen  zu  treffen.  Er  emp- 
fand dabei  eine  gewisse  sexuelle  Erregung,  aber  niemals  so  stark,  üaii.  es  inn  zu 
MbSTSf  sonst  welchen  herausfoxdemdea  Handlungen ^*^e 
Er  hatte  bei  niemandem  solche  Neigungen  bemerkt,  Chatte  ^ ditemm al  üie 
Hoffnung   ihnen  bei  jemandem  zu  begegnen.    Er  war  sich  wohK beWttJSV ^ 
er  2te  den  Frauen  anders  war  als  die  anderen  Männer;   aber  er  konnte 
seh  nicht  helfen  und  die  Sache  mit  dem  „Tier"  und  die  daraus  folgende 
Furcht  d e  nach  seiner  Meinung  nichts  mit  seinem  Widerwillen  u .tun  hat* 
kamen  ihm  höchst  lächerlich  vor.  Er  litt  darunter,  nicht  wie  die  andern  zu  sein 
mT  die  Hoffnung  auf  eine  Heirat  und  Vaterfreuden  aufgeben  zu  müssen 
Mittlerweile  haL  er  sich  eine  gute  Stellung  in  Industriekreisen  verschaff 
„ "abe    «nötigt   ziemlich  weit  außerhalb  der  Stadt  zu  wohnen;    es  fehlte 
mm  iede  Zerstreuung;    der  Gedanke  an  eine  Heirat  verfolgte  ihn.    Er  war 
27  Jahre  alt    als  er  beschloß,  seine  Männlichkeit  auf  die  Probe  zu  stellen; 
bei  einer  GescStereise  versuchte  er  in  einem  Bordell  das  erste  Mal  einen 
SsSteÄr.  Trotz  seines  Entschlusses  nützte  er  das  Entgegenkommen 
SÄen  Ohne  Resultat  aus;   erst  das  vierte  Mal  hatte  er  einen  Erfolg 
m  verST  weil  er  die  Erinnerung  an  seinen  Schulfreund  zu  Hilfe  rief. 
Er  ImpSnTdnr^aue  keine  Befriedigung,  und  dieser  Teilerfolg  unterließ  eine 
tiefe  Erschöpfung,  die  ganz  verschieden  war  von  der  Ermüdung,  welche  er  nach 
SelbstbeSgung  oder  Spielereien  mit  anderen  Burschen    empfunden  hatte. 
™tnd  emfger   Monate  machte  er  mit  Intervallen  von  einigen  Wochen 
Serum    Verbuche,    die    jedoch    nur    durch    »|»^^g*£ 
Mittels  von  Erfolg  begleitet  waren.    Jeder  neue  \  ersuch  hatte  ihn  m .einen 

MngeWen  Gestände  ^^^Z^Z^^^  » 
hörte  wohl,  was  um  ihn  gesprochen  wurtte,  ^are  *  .    „         ,         . 

antworten.   Diese  Störungen  dauerten  nur  einen^ Augenblick^ heßen  aber  eine 
Emnfindung  zurück,   die  er  ziemlich  treffend    mit  „Ruckst  öS    in    nie 
V?rgangenheit"    bezeichnet.    Es  schien  ihm    als  ob  die  jüngsten ^Er- 
eignisse, besonders  die  des  Tages,  in  die  Feme  gerückt  seien,  daß  die  Zeit  die 
seit  jenen  Ereignissen  verflossen  war,  plötzlich  eine  längere  sei,  und  daß  er  zu 
allem,  was  er  noch  zu  tun  habe,  zu  spät  kommen  würde    Er  seheint  wahrend 
dieser  Anfälle  nicht  das  Bewußtsein  verloren  zu  haben;  öfters  war  er  von  ihnen 
in  seinem  Bureau  heimgesucht  worden  und  konnte  er,  indem  er  seine  Augen 
auf  die  Pendeluhr  heftete,  bemessen,  daß  sie  nur  einige  Sekunden  dauerten; 
trotzdem  schienen  ihm,  wenn  die  Sinne  ihre  volle  Schärfe  wiedergewonnen 
hatten,  die  kürzlich  verflossenen  Ereignisse  Stunden  weit  zurückzuliegen;  und 
obwohl  er  eine  Sinnestäuschung  festzustellen   imstande  war,   hatte  er   das 
Bedürfnis,  sich  zu  beeilen  und  die  verlorene  Zeit  wiederzugewinnen.    Diese 
Störungen   traten   während   der   folgenden    Jahre    beiläufig    einmal   monat- 
lich  auf. 

Seit  er  auf  seine  Heiratspläne  verziehtet  hat,  hat  er  sich  zu  einer  kon- 
tinuierlichen Arbeit  gezwungen,  um  so  viel  als  möglich  sexuellen  Erregungen 
aus  dem  Wege  zu  gehen.  Trotzdem  blieb  er  erotischen  Träumen,  wo  aus- 
schließlich Männer  eine  Rolle  spielten,  unterworfen.  Mehrere  Male  hat  es  ihn 
stark  zu  Männern  hingezogen,  da  er  aber  auf  keine  Erwiderung  seiner  Gefühle 
hoffen  konnte,  sind  diese  Anwandlungen  ohne  Folgen  geblieben. 


342 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Im  Frühling  des  Jahres  1895  sind  diese  Schwindelanfälle  infolge  von 
Übermüdung  heftiger  geworden  und  haben  öfters  zu  Ohnmaehtsanfällen  ge- 
führt. Diese  hatten  eine  rückwirkende,  vollkommene  Gedächtnisschwäche 
von  einer  bis  zu  zwei  Stunden  zur  Folge,  dann  setzte  die  Erinnerung,  mit  einer 
Hemmung  ähnlich  der  früheren,  wieder  ein. 

Diese  Verschlimmerung  seines  Zustandes  nötigte  ihn,  ärztliche  Hilfe 
in  Ansprach  zu  nehmen.  Er  schrieb  diesen  Zustand  der  Enthaltsamkeit  zu 
die  er  durch  die  oben  angeführten  Tatsachen  erklärt, 

Ende   November  desselben   Jahres   erwachte  er   durch   einen  heftigen 

Kopfschmerz,  welcher  durch -eine  rauchende  Lampe  verursacht  war    Um  8  Uhr 

morgens,    als  er  in  sein  Bureau  kam,    verlor  er  plötzlich  das  Bewußtsein. 

Erst  zwei  Stunden  später,  in  seinem  Bett,  kam  er  wieder  zu  sich;  er  erinnerte 

sich  nicht  mehr  daran,  daß.er  des  Morgens  aufgestanden  war.   Er  hatte  sich 

in  die  Zunge  gebissen,  hatte  in  seine  Kleider  uriniert,  und  die  Quetschungen 

die  er  an  verschiedenen  Körperteilen  hatte,  zeigten  von  heftigen  Konvulsionen! 

beither  hat  er  sich  einer  Bromkur  unterzogen,  durch  die  er  neuerliche  Krämpfe 

und  bchwmdelanf alle  vermieden  hat;   aber  seine  sexuelle  Anomalie  ist  die  alte 
geblieben. 

Dieser  geradezu  außerordentliche  Fall  zeigt  uns  in  Reinkultur 
die  Entstehung  einer  Homosexualität  durch  ein  infantiles  Trauma.  Die 
sexuelle  Neigung  zur  Mutter  und   zur  Amme  wird  in   Ekel  vor   dem 
„Tier"  und  in  Angst  verwandelt.   Er  liebt  nur  junge  Mädchen,  weil  sie 
noch  kein  Tier  haben.  Er  flüchtet' in  die  .Homosexualität,  während  seine 
Phantasien  bei  der  Mutter  weilen.  Es  kommt  erst  zu  kleinen  Anfällen, 
flüchtigen  Absenzen,    die   als   Regressionen   („Rückstoß    in   die   Ver- 
gangenheit")   aufzufassen    sind.     Er    möchte   die   Zeit    zurückdrehen, 
möchte  wieder  ein  Kind  sein  und  bei  der  Mutter  im  Bette  liegen  und 
nach  dem  „Tier"  greifen.    Infolge  des  Größenunterschiedes  zwischen 
dem  Kinde  und  seinen  Sexualobjekten   (Mutter  und  Amme),  entsteht 
angesichts   seiner   sexuellen   Wünsche   dann   ein   Gefühl   der   Minder- 
wertigkeit, das  im  späteren  Alter  zur  Entstehung  einer  Impotenz  in- 
folge Angst  vor  dem  Weibe  führen  kann.    Die  epileptischen  Anfälle, 
in  denen  wahrscheinlich  ein  Inzest  mit  einem  Verbrechen  kombiniert 
wird,  zeigen,  wie  er  es  versucht,  sich  aus  der  unerträglichen  Realität  in 
eine  Traumwelt  zu  flüchten,  in  der  er  wahrscheinlich  heterosexuell  wird. 
Hat  in  diesem  Falle  ein  Mann  durch  Fixierung  an  die  Mutter  und 
durch  ein  infantiles  Trauma  den  Weg  zum  eigenen  Geschlechte  gesucht, 
so  kann  andrerseits  auch  bei  Mädchen  eine  starke  Fixierung  an  die 
Mutter  (bei  männlichen  Homosexuellen  an  den  Vater)  die  erste  Veran- 
lassung zur  Ausbildung  einer  Homosexualität  sein.   Die  nächste  Beob- 
achtung von  F6rt  bietet  zahlreiche  interessante  Ausblicke. 

Fall  Nr.  61.  Frau  G.,  ein  Neunmonatkind,  von  guter  Konstitution,  hat 
sich  in  den  ersten  Monaten  in  normaler  Weise  entwickelt.  Als  sie,  erst  im 
vierzehnten   Monat,   entwöhnt   wurde,    war   ihr   Benehmen   ein   sehr   merk- 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  -  Sein  Verhalten  zur  Mutter,  343 

würdiges     Es  kostete  viel  Mühe,   sie  von  der  Mutterbrust   zu  entwöhnen, 
rot  ziem  sie  schon  seit  langem  an  andere  Nahrung  gewohnt  war;    sie  b£ 
uhg      si^hnt  Lrch  Berührung  der  Brust  ihrer  Mutter    welche Mue  nut 
einem  merkwürdigen  Ausdruck  preßte.    Einige  Maie  des  Tages  mußte  « ch 
die  Mutter  ihre  Zärtlichkeiten  gefallen  lassen,  widrigenfalls  sie  m  hettigen 
t£mS*.    Sie  mußte  ihre  beiden  Brüste  entblößen  und  das  Kind  küßte 
und  drückte  sie  abwechselnd;    nur  schwer  gelang  es,  es  zu  beiuhigem    Nach 
acht    Monaten    sah    die    Mutter,    die    schwanger    geworden   w    die .Not 
wendigkeit  ein,  dieser  Anomalie  ein  Ende  zu  setzen;    es  gluckte  nur  mit 
schwer  Mühe  und  unter  Auftritten,   deren  Heftigkeit  man  es  zuschreibt 
Saß  se  nach  drei  Monaten  einen  Abortus  herbeiführten.   Trotzdem  versuch te 
man   de    einmal  erzielten  Erfolg  zu  behaupten.    Aber  diese  Neigung  machte 
"  ch  auch  weiterhin  öfters  bemerkbar.    Eines  Tages  betrat  ^dwdH» 
iährige  Kind  das  Zimmer  der  Mutter  in  .dem  Augenblick,  als  der  Gatte  dv 
S     sich    hres  Kleides  zu  entledigen.    Es  geriet  in  fürchterlichen  Zorn  und 
schrie      Das   gehört   mir!   Das   gehört  mir!"  Und  es  gelang  nur 
Tchwer    es   wegzubringen  und    zu    beruhigen.     Von    diesem   Augenblick   an 
weigere  es'sich  während  einiger  Monate,  seinen  Vater 
zu  küssen  und  auch  nur  sich  von  ihm  berühren  zu  lassen.    Die  Muttei, 
die  neuerdings  in  die  Hoffnung  gekommen  war,  blieb  größtenteils  zu  Hause 
sie  benützte  die  Gelegenheit,  das  Kind  zu  besänftigen;    e,s  gelang  ihr,  es  in 
Bezu*  auf  den  Vater  sanfter  zu  stimmen.   Als  die  Zeit  der  Entbindung  heran- 
rückte, bereitete  die  Mutter  die  Kleine  vor,  daß  sie  ein  Brüderchen  bekommen 
würde     „Ich  werde   ihn  lieben,  wenn  er  eine   Amme  habe 
wird    aber  wenn   er  meine  Tutis   anrührt,  werde  ich   ihn 
t ten."  Die  Mutter  war  entschlossen,  ihr  Kind  selbst  zu  stillen;    da  sie 
aber  überzeugt  war,  daß  ihre  Tochter,  falls  sie  es  bemerken  wurde,  wieder 
von  Wutausbrüchen  befallen  würde,  ließ  sie  ein  Stubenmädchen   die  Rolle 
.liner   Amm     spielen  und   gab   das  kleine   Mädchen  für   halbe  Tage .außer 
Haus     Es  gelang  ihr,   die  ganze  Stillperiode  zu  verbergen;    das  Mädchen 
liobte'  ihr  Meines  Schwesterchen  und  spielte  mit  ihm    so  lange  es  zu  Hause 
war     aber  von  Zeit  zu  Zeit  befielen  sie  Zweifel  und  ihre  Mutter  mußte  ihre 
Liebkosungen  dulden,  um  sie  zu  beruhigen.    Sie  war  schon  fast  8  Jahre  alt, 
ab  sie  zum  letzten  Male  ihre  merkwürdigen  Forderungen  stellte. 

Einige  Zeit  vorher  hatte  ihr  ein  Dienstbote  verraten,  daß  ihre  kleine 
Schwester  (so  wie  sie)  von  ihrer  Mutter  gestillt  worden  war;  sie  geriet 
in  heftigen  Zorn  und  wollte  sich  auf  ihre  Schwester  stürzen;  da  das 
Mädchen  erst  seit  kurzer  Zeit  im  Hause  war,  konnte  man  sie  von 
der  Unrichtigkeit  dieser  Angaben  überzeugen;  der  sicherste  Beweis  schien 
ihr  aber,  daß  ihre  Schwester  ihre  Zärtlichkeit  für  die  Mutter  niemals 
durch  dieselben  Liebkosungen  bewies.  Sie  gesteht  es  freimütig,  daß  ihre 
Leidenschaft  für  die  Brüste  ihrer  Mutter  sehr  lange  Zeit  gedauert  hat, 
bis  in  das  Alter  der  Pubertät,  daß  sie  sie  aber  von  ihrem  achten  Jahr 
an  aus  Eigenliebe  und  weil  sie  durch  die  Weigerungen  ihrer  Mutter 
litt  verbarg.  Bis  zu  diesem  Zeitpunkte  hatte  sie  auch  ihrer  unbestimmten 
Eifersucht  betreffs  des  Vaters  nicht  Herr  werden  können;  sie  bemühte 
sich  durch  Zuvorkommenheit  den  Widerwillen,  den  sie  gegen  seine  Zart- 
EttrtE  empfand,  wettzumachen.  Dieser  Widerwillen '***»«* 
nicht  allein  auf  den  Vater,  er  machte  sich  gegen  alle  Manner  welchen 
'  Alters  immer    geltend;    Ausnahmen  bildeten  nur   ganz   junge  Manner  und 


344  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

besonders  solche,  welche  ein  eher  feminines  Aussehen  zeigten.  Einer  ihrer 
Vettern,  welcher  die  Ausnahme  genossen  hatte,  bemerkte,  als  er  sichtbare 
Zeichen  yon  Pubertät  zu  zeigen  anfing,  daß  diese  Sympathie,  deren  Gegen- 
stand er  bislang  gewesen  war,  sich  in  schlecht  verhehlte  Antipathie  ver- 
wandelte Die  vertraulichen  Mitteilungen  ihrer  Mitschülerinnen  machten 
sie  bald  darauf  aufmerksam,  daß  sie  „anders"  empfand;  sie  wunderte  sich 
über  die  Ideen,  die  sie  aussprechen  hörte. 

Mit  13'/,.  Jahren  menstruierte  sie  zum  ersten  Male,  ohne  besondere 
Störungen  der  Gesundheit  oder  des  Charakters  zu  empfinden  und  von  da  an 
immer  regelmäßig.  Die  Pubertät  scheint  nichts  an  ihrem  Widerwillen  geKen 
die  Manner  geändert  zu  haben,  aber  je  aufgeklärter  sie  über  die  geschlecht- 
lichen Beziehungen  wurde,  desto  mehr  kam  ihr  ihre  Anomalie  zum  Bewußtsein 
und  desto  mehr  verwundert  war  sie  über  dieselbe.  Von  da  an  empfand  sie  stärker 
für  junge  Madchen  und  begann  sich  nach  ihrer  Berührung  zu  sehnen.  Als 
h!LmF  lh;'e]n+Ll1eblingskolleginnen  z»  tanzen  begann,  bemerkte  sie,  daß  sie 
™it0n  t?  lhres  1?u'sens  mit  dem  des  jungen  Mädchens  eine  besonders 
angenehme  Erregung,  die  mit  einer  Erektion  der  Brustwarzen  verbunden  war 

2325'  q  l*  +Wai'  8echfehn  Jahre  alt'  als  sie  zum  ersten  Male,   in  einer 
ähnlichen  Situation,  merkte,  daß  ihre  Genitalien  an  dieser  Erregung  teil- 

S2  f     ?aß   WmdTi    Von'diesem  Momente  an   begann   sie   erotische 
SSrftt^rJ^f  Sich  immer  Um  JunSe  Mädchen  h^delte.    Sie 

fir mmSS         '  7  ,c  es  ,ßie  erst  mit  siebzehn  Jahren  vei'iieß> keines 

der  Madchen  wie  sie  empfand;    sie  hat  keine  gekannt,  die  dieselbe  Sehnsucht 
MiÄ^mUl^  ^  ^^  Mtte'  V°n  ^  6iSenen  Leidenschaft 

p^iA1S-Sie  aU"  deS  I,nStitüt  ausgetreten  war,  traf  sie  in  einer  befreundeten 
lamilie  ein  junges  Mädchen  ihres  Alters,  welche  .sofort  ihre  Empfindungen 
verstand    sie  in  ihr  Zimmer  zog  und  sie  in  die  Reizungen  der  Vulva  ein- 
weihte.   Sie  empfand  Widerwillen  gegen  diese  Berührungen  und  vermied  die 
Gelegenheiten  dazu.    Trotzdem  nahm  dieses  junge  Mädchen  von  dieser  Zeit 
an  emen  Platz  an  ihren  erotischen  Träumen  ein.    Nach  ihrer  Aussage  war 
vi!!    ü  ,eiIl!1Se  ®ele&nhßit>  bei  der  sie  Berührungen  der   Geschlechtsteile 
versucht  hatte,  aber  oftmals  nachher  habe  sie  wollüstige  Empfindungen  beim 
Kontakt  von  jungen  Mädchen  und  mehr  noch  von  jungen  Frauen  (mit  starkem 
Pigment  und  wohlriechenden  Hautsekretionen)  gehabt.    Sie  empfand  keinerlei 
Anzielmngsgefuhl  für  junge  Männer,  ausgesprochen  abgestoßen  wurde  sie  nur 
von  Männern  mit  starken  sexuellen  Merkmalen,  mit  starkem  Bartwuchs  und 
tiefer  btimme    Sie  war  19  Jahre  alt,  als  sie  zum  ersten  Mal  einen  Heirat- 
antrag erhielt,   mehrere  andere  folgten,   welche  alle   sofort   abschlägig   be- 
schieden  wurden,  mit  keiner  anderen  Begründung  als  die  des  sexuellen  Wider- 
willens   Sie  war  sich  der  Anomalie  dieses  Widerwillens,  den  sie  bei  keiner  ihrer 
Gefährtinnen  bemerken  konnte,  und  den  sie  ohne   Erfolg  zu  unterdrücken 
suchte,  wohl  bewußt.    Sie  konnte  sich  wohl  in  die  Rolle  einer  Frau  und 
Familienmutter  hineindenken  und  wünschte  zu  heiraten;    jedesmal,  wenn  ein 
Madchen  ihrer  Bekanntschaft,  das  jünger  war  als  sie,  heiratete,  empfand  sie  ein 
lebhaftes   Gefuh    des  Bedauerns,  -  aber  ■  es  war  ihr  unmöglich,   die  Anträge, 
welche  ihr  gestellt  wurden,  so  sehr  vorteilhaft  sie  auch  waren,  anzunehmen. 
Sie  war  22  Jahre  alt,  als  man  ihr  einen  jungen  Mann  von  28  Jahren 
vorstellte,  der  eine  gute  Lebensstellung  inne  hatte,  aber  schmächtig  und  fast 
bartlos   war   und   dem   man   außerdem   nachsagte,    er    habe   eine  weibische 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  345 

Erziehung  genossen  und  sich  nie  recht  vom  Gängelband  seiner  Mutter  los- 
machen können.  Es  schien  ihr,  als  wenn  sich  nie  wieder  so  eine  Gelegenheit 
bieten  würde,  die  die  Ansprüche  ihrer  Familie  und  zugleich  das,  was  sie 
Vernunft  nannte,  so  befriedigen  könne.  Sie  gab  sofort  ihre  Zustimmung  und 
beeilte  sich  so  sehr,  die  definitive  Lösung  herbeizuführen,  daß  jedermann  in 
Erstaunen  versetzt  wurde.  Sie  empfand  keine  sexuelle  Anziehung,  aber  es  schien 
ihr,  daß  der  junge  Mann  ihr  am  ehesten  helfen  könne,  ihre  Pflichten  zu  erfüllen. 
Sie  empfand  Achtung  für  ihren  Mann,  deren  •  er  sich  durch  seine  Stellung 
wohl  verdient  gemacht  hatte. 

Der  Geschlechtsakt  ist  für  sie  immer  mit  Abscheu  verbunden  gewesen 
und  konnte  nie  die  Erregung  hervorrufen,  die  sich  ihrer  immer  leicht  beim 
Zusammensein  mit  jungen  Frauen  bemächtigte. 

Sie  hat  sich  an  den  Koitus  aus  Pflichtgefühl,  aus  Entgegenkommen  und 
Ergebenheit  für  ihren  Mann,  den  sie  wie  einen  Bruder  liebte 
und  dem  sie  sowohl  als  Mitarbeiterin  als  auch  als  Beraterin  behilflich  war, 
gewöhnt.  Selten  hatte  sie  in  seinen  Armen  empfunden  und  das  auch  nur  durch 
die  Vorstellung  von  weiblichen  Bildern. 

Beiläufig  acht  Monate  vor  ihrem  ersten  Besuch  bei  mir,  hatte  sie 
einen  Wagenunfall  mitgemacht,  welcher  ihr  mehr  Schrecken  als  Schmerzen 
verursacht  hatte;  die  Folgeerscheinungen  waren  eine  Serie  von  neurastheni- 
schen  Störungen:  Kephalgie,  Dyspepsie,  Schlaflosigkeit  und  Unentschlossen- 
heit,  dann  machten  sich  quälende  Schuldgefühle  geltend.  Vor  allem 
machte  sie  'sich  Vorwürfe,  daß  sie  in  ihrer  Kindheit 
nicht  alles,  was  ihr  möglich  gewesen  war,  getan  hatte, 
um  den  Widerwillen,  den  ihr  ihr  Vater  einflößte,  zu 
überwinden:  dies  sei,  dachte  sie,  die  Ursache  aller  ihrer  Schmerzen ;  sie 
hätte  früher  ihre  Anomalie  eingestehen  und  sich  heilen  lassen  sollen  etc. 
Von  Zeit  zu  Zeit  verfolgt  sie  der  Gedanke,  daß  sie  ihren  Selbstmordideen 
nachgeben  könne.  [L'Instinct  Sexuel,  Evolution  et  Dis- 
solution,  Paris,  Ancienne  Librairie  Germer  Bailiiere 
et  Cie.,   Felix  Alcan  Editeur   (S.  243-247).] 

Der  Autor  erwähnt  noch,  daß  die  Patientin  keine  Störung  der 
Menstruation  zeigte,  und  glaubt  mit  einer  längeren  Bromkur,  die  neur- 
asthenischen  Zustände  gebessert  zu  haben.  Ihre  sexuelle  Einstellung 
blieb  unverändert. 

Wir  sehen  in  diesem  Falle  die  deutliche  Fixierung  an  die  Mutter, 
und  zwar  an  eine  bestimmte  erogene  Zone,  an  den  Busen.  Trotzdem 
wäre  es  ganz  gefehlt  anzunehmen,  daß  der  Vater  dieses  frühentwickelte 
Kind  kalt  gelassen  hat.  Die  Stärke  der  affektativen  Einstellung  gegen 
den  Vater,  die  spätere  Reue  über  dieses  Verhalten,  die  Abneigung  gegen 
alle  bärtigen  Männer,  zeigt,  daß  es  sich  um  Verdrängungserscheinungen 
handelt,  die  durch  Abwehr  negativen  Charakter  angenommen  haben.1) 


\  ', 


1)  Zahlreiche    einschlägige    Beobachtungen    mit    psychologischer    Analyse    finden 
eich  in  Band  III. 


346 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Sehr  bedeutsam  sind  die  Stärke  der  Eifersucht  und  die  deutliche 
Betonung  der  Todeswünsche  gegen  die  Schwester.  Sie  würde  sie  töten, 
wenn  sie  an  der  Brust  der  Mutter  trinken  würde. 

Ich  möchte  hier  noch  einige  Beobachtungen  anführen,  welche 
zeigen,  wie  die  Homosexualität  unter  dem  Einflüsse  von  Störungen  der 
inneren  Sekretion  einsetzen  kann. 

Dann  kommt  es  aber  zu  den  gleichen  psychischen  Mechanismen, 
wie  ich  sie  bereits  beschrieben  habe.  Das  Bild  gleicht  oft  einer  Para- 
noia, über  die  ich  noch  im  Zusammenhang  abhandeln  werde.  Oft  bricht 
die  Psychose  im  Anschluß  an  das  erste  sexuelle  Erlebnis  aus.1) 

Fall  Nr.  62.  Fräulein  N.  G.,  ein  25jähriges  Mädchen,  leidet  an  einer 
Erkrankung  der  Hypophyse,  Akromegalie.  Die  Diagnose  wurde  röntgeno- 
logisch bestätigt.  Objektive  Erscheinungen:  Haarwuchs  am  ganzen  Körper, 
der  sich  erst  seit  dem  20.  Jahre  ausbildete,  Ansatz  eines  Schnurrbartes,  Flaum 
im  Gesichte;  leichte  Atrophie  der  Mammae,  Ausbleiben  der  Menses,  auf- 
fallende Adipositas,  beginnender  Riesenwuchs  der  Hände  und  Füße.  Psycho- 
logisch bietet  ihr  Zustand  sehr  großes  Interesse.  Sie  verläßt  das  Zimmer  seit 
einem  Jahr  nicht  mehr,  da  ihr  die  Leute  auf  der  Straße  beleidigende  Be- 
merkungen zurufen.  Überdies  leidet  sie  an  permanenten  Stimmen,  die  so 
quälend  sind,  daß  sie  sich  am  liebsten  das  Leben  nehmen  möchte.  Sie  be- 
richtet, der  Zustand  hätte  sich  ausgebildet,  seit  sie  bei  einem  jungen  Mann 
in  seiner  Wohnung  zu  Besuch  gewesen.  Sie  habe  sich  dort  nackt  ausgezogen, 
sei  auch  mit  ihm  in  einem  Bette  gelegen,  es  sei  aber  nichts  vorgefallen.  Diesen 
Besuch  hätte  sie  ein  zweites  Mal  wiederholt.  Man  könnte  diese  Erzählung 
für  eine  Phantasie  halten.  Aber  der  Vater  hatte  den  jungen  Mann  zur  Rede 
gestellt  und  aus  seinem  Munde  die  Bestätigung  dieses  Abenteuers  seiner 
Tochter  erfahren.  Der  Jüngling  war  auch  bereit,  das  Mädchen  zu  heiraten, 
aber  sie  wollte  von  einer  Ehe  nichts  wissen.  Es  erweist  sich  der  Satz,  den  ich 
so  oft  bestätigen  kann:  Das  erste  sexuelle  Erlebnis  ist  bei  Mädchen  der 
Prüfstein  der  'schwachen  Gehirne.  Sehr  häufig  bricht,  die  Psychose  im  An- 
schluß an  das  Erlebnis  aus. 

So  auch  in  diesem  Falle.  Sie  fühlte,  daß  man  sie  auf  der  Gasse  merk- 
würdig ansah,  daß  die  Leute  Bemerkungen  machten,  daß  sie  sich  etwas 
zuflüsterten.  Sie  wollte  das  Haus  nicht  mehr  verlassen  und  machte  dem 
Vater  die  größten  Szenen,  weil  er  sie  nicht  sorgfältig  genug  erzogen  hatte, 
weil  er  sie  nicht  sorgfältig  genug  bewacht  hatte.  Er  wäre  an  ihrem  Unglücke 
schuld.  Gegen  die  Mutter  stellte  sie  sich  noch  feindlicher  ein  und  behauptete, 
die  Mutter  wäre  nicht  zärtlich  genug,  sie  nehme  auf  ihre  Krankheit  keine 
Rücksicht,  sie  sei  egoistisch.  Sie  vertrug  nicht,  daß  die  Mutter  das  Haus 
verließ,  und  wurde  immer  wütend,  wenn  sie  es  versuchte.  Sie  schlug  alles 
klein,  was  im  Zimmer  war,  wenn  die  Mutter  ihr  widersprach.  Dem  Vater 
gegenüber  war  sie  sanft,  selbst  die  Vorwürfe  kleidete  sie  in  milde  Worte.  Nur 
der  Mutter  gegenüber  wallten  die  Affekte  auf. 

Das  Mädchen  erzählte  mir  dann  von  ihren  Stimmen  und  von  dem  Beginn 
ihrer  Krankheit.   Sie  hatte  bemerkt,  daß  die  Nachbarin,  eine  auffallend  schöne 


*)  Vgl.  Band  III  das  Kapitel  „Das  sexuelle  Trauma  des  Erwachsenen". 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  347 

.Frau,  sie  so  sonderbar  anlachte,  als  wenn  sie  ihr  Erlebnis  mit  dem  jungen 
Manne  kennen  würde.  Diese  Nachbarin  hatte  ein  Verhältnis  mit  einem  Freund 
ihres  Mannes.  Die  Kranke  stand  nun  stundenlang  hinter  der  Tür  und  wartete, 
bis  der  Geliebte  kam.  Dann  brach  sie  in  Wut  aus  ...  Sie  hatte  sich  in  diese 
Frau  homosexuell  verliebt.  Sie  hörte  damals  die  ersten  Stimmen,  die  ihr 
zuriefen:  „Du  bist  eine  ekelhafte  homosexuelle  Hure!"  Sie  hatte  schon 
Bücher  gelesen,  welche  sie  über  alles  aufgeklärt  hatten.  Seit  jenem  ersten 
Zuruf  kamen  die  Stimmen  immer  häufiger,  und  immer  war  es  der  Vorwurf 
der  Homosexualität,  den  sie  ihr  zuriefen.  Schließlich  hörte  sie  auch  Stimmen, 
daß  sie  mit  der  Mutter  ein  Verhältnis  habe.  Unter  dem  Einflüsse  der  inneren 
Sekretion  kam  die  latente  Homosexualität  immer  mehr  hervor.  Sie .  hatte 
nun  die  Idee,  daß  sie  sich  ganz  zum  Manne  umwandeln  werde,  'sie  werde 
eine  Metamorphose  durchmachen,  schon  fange  ihr  ein  Penis  zu  wachsen  an, 
die  Mutter  werde  dann  zwei  Männer  haben  usw.  .  .  . 

In  der  Psychose  sind  solche  Einstellungen  sehr  häufig  zu  beob- 
achten, weil  ja  die  Hemmungen  fortfallen  und  die  Kranken  diese  Dinge 
erzählen,  die  sie  sonst  scheu  verschweigen.  Sicherlich  ist  hier  durch  eine 
Überproduktion  von  Andrin  die  männliche  Tendenz  verstärkt  worden. 
Ob  aber  nicht  das  Umgekehrte  möglich  ist?  Sollten  nicht  psychische 
Kräfte  die  Sekretion  beeinflussen  können?  Der  Ausbruch  der  Krankheit 
nach  dem  erwähnten  Trauma  ist  sehr  merkwürdig.  Um  so  merk- 
würdiger, als  damals  verschiedene  Dinge  vorgefallen  sind,  welche  den 
Ekel  vor  der  Geschlechtsbestimmung  des  Weibes  sicherlich  steigern 
konnten.  Sie  wurde  von  dem  Manne  gezwungen,  eine  Pellatio  auszu- 
führen, so  daß  sie  fast  erstickt  wäre.  Nachher  trat  ein  Ekel  vor  dem 
Fleisch  auf,  der  viele  Monate  dauerte  .  .  . 

Allerdings  ist  sein-  schwer  zu  beurteilen,  wie  weit  da  psychische 
Kräfte  mitwirken.  Ich  habe  bemerkt,  daß  männliche  Neurotiker,  die 
Kinder  bleiben  wollen,  in  der  Tat  jung  aussehen  und  nach  einer  ana- 
lytischen Behandlung,  die  den  Infantilismus  überwinden  hilft  und  die 
Kranken  seelisch  zu  Erwachsenen  macht,  sich  der  Bartwuchs  einstellt, 
der  bisher  ganz  gefehlt  hat.  Warum  sollte  die  Psyche  nicht  auch  die 
Drüsen,  welche  mit  dem  Geschlechtstrieb  in  Verbindung  stehen,  be- 
einflussen können? 

In  dieser  Hinsicht  gibt  der  Fall  von  Alfred  Gallais1)  sehr  inter- 
essante Perspektiven. 

Fall  Nr.  63.  Es  handelt  sich  um  einen  akromegalen  Riesen,  der  absolut 
nur  ein  Weib  sein  will.  Er  sagt:  „Ich  will  ein  Weib  sein,  ich 
will  nur  von  Männern  geliebt  werde n."  In  einem  Brief  an 
die  Eltern  schreibt  er:  „Ich  bin  aus  dem  Krankenhaus  in  Creteil  geflohen, 
weil  man  wollte,  daß  ich  ein  Mann  sein  soll.  Mein  Charakter  verträgt  das 
nicht.  Ich  will  gern  arbeiten,  wenn  ich  „Mama"  behilflich  sein  darf.   Ich  liebe 


*)  Nouvelle  Iconographie  de  la  Salpetriere,    Bd.  25,  1912. 


348  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

die  Frauenarbeit,  Sticken,  alle  Hausarbeiten.  Ich  möchte  eine  Frisur  haben, 
wie  die  Frauen  sie  tragen.  Um  mich  meiner  glücklichen  Tage 
zu  erinnern,  will  ich  kein  Mann  sein,  sondern  ein  Weib.  Wenn  ich  bei 
der  Mutter  wäre,  würde  ich  immer  brav  (gentille)  sein,  ich  würde  ihr  helfen." 

Man  sieht  deutlich,  daß  er  sich  mit  der  Mutter  identifiziert,  weil  er  sie 
liebt.  Welcher  Art  diese  Liebe  ist,  das  verrät  der  Bericht  von  Gallais,  der 
wörtlich  sagt:  „Wir  mußten  die  Besuche  seiner  Familie  eine  Zeitlang  ein- 
schränken, denn  die  Umarmungen  seiner  Mutter  verur- 
sachten ihm  schmerzhafte  Sensationen  in  den  T  e- 
stikeln.  (!)  Einige  Male  machte  der  Sohn  masturba- 
torische  Manipulationen,  während  die  arme  Mutter 
ihn    umarmt  e." 

Er  war  schon  als  Kind  auffallend  neuropathisch.  Im  fünften 
Lebensjahre  wurde  er  von  einem  Knechte  vergewal- 
tigt und  masturbiert.  Im  Anschluß  daran  trat  eine  Veränderung 
seines  Wesens  ein.  Er  wurde  traurig  und  litt  wohl  zehnmal  täglich  an 
nervösen  Krisen,  während  der  er  schrie:  „Ich  bin  besessen,  ich  weiß  nicht, 
was  ich  fühle.  Geh  weg!  Geh  weg!  Du  tust  mir  weh!  Man  bohrt  mir  einen 
Nagel  in  den  Kopf!" 

Von  diesem  traumatischen  Erlebnis  an  werden  alle  seine  Phantasien 
passiv.  Er  zieht  oft  Frauenkleider  an.  Nur  einmal  versucht  er  einen  Gewalt- 
akt an  seinem  Vater!  Er  träumt  und  phantasiert  immer,  daß  er  „die  Liebe 
eines  starken  Mannes  erobern  wolle,  die  ihn  ganz  beherrscht".  Dieser  Gedanke 
verursacht  ihm  sofort  eine  Erektion.  Er  bedauert  bitter,  physisch  kein  Weib 
sein  zu  können.  In  solchen  Momenten  wird  er  traurig  und  masturbiert,  um 
sich  zu  trösten. 

Der  Fall  zeigt  uns  deutlich  die  determinierende  Wirkung  eines  Traumas, 
das  in  ihm  die  Phantasie  erweckt,  dem  Vater  die  Mutter  zu  er- 
setzen. Denn  was  er  sucht,  ist  immer  ein  Ersatz  des  Vaters.  Er  will  ein 
Weib  sein,  und  dieser  starke  Wille  scheint  seine  physische  Entwicklung  und 
vielleicht  auch  seine  Krankheit  verursacht  zu  haben  .  .  .  Bemerkenswert  ist 
noch  eine  Neigung  zu  seiner  Kusine.  (Das  oft  erwähnte  Inzestkompromiß.) 

Die  Theorie  der  erblichen  Anlage  hat  gewiß  eine  große  Bedeutung. 
Aber  neben  dem  Fatum  der  Vererbung  steht  die 
plastische  Kraft  des  Erlebnisses.  Spricht  dieser  Fall 
nicht  Bände?  Ein  kleiner  Knabe  wird  vergewaltigt,  zum  Receptaculum 
seminis  gemacht,  er  empfindet  dabei  das  erstemal  die  Lust  eines  starken 
Orgasmus.  Vor  seine  Seele  drängt  sich  dann  ein  Bild:  So  macht  es  der 
Vater  mit  der  Mutter.  Der  Knecht  wird  ihm  zum  Vater,  er  wird  zur 
Mutter.  Jeder  Koitus  imponiert  als  eine  Vergewaltigung.  Er  fühlt  sich 
der  passiven  Rolle  vermöge  seiner  Schwäche  viel  näher.  Kann  so  ein 
Trauma  nicht  den  Wunsch  erwecken:  Ich  will  ein  Weib  sein!?  Kann 
so  ein  Wunsch  nicht  in  einem  zarten  Organismus,  der  in  Entwicklung 
ist,  alle  komplizierten  Vorgänge  der  inneren  Sekretion  in  Verwirrung 
bringen  ?  Ich  weiß,  daß  diese  Erklärung  kühn  ist  und  allen  Materialisten 
und  Mechanisten  nicht  behagen  wird.  Der  Analytiker  aber  sieht  mit 
Erstaunen,  daß  er  die  Bedeutung  psychischer  Kräfte  noch  immer  unter- 


Die  Familie  des  Homosexuellen.  —  Sein  Verhalten  zur  Mutter.  349 

schätzt  hat.  Wenn  durch  die  Macht  des  Gedankens  Lähmungen  zustande 
kommen,  weshalb  sollten  nicht  auch  Drüsen  vorübergehend  ihre  Sekre- 
tion einstellen  können?  Die  eine  angeregt,  die  anderen  gehemmt  werden? 

Hier  beginnt  für  mich  das  große  Rätsel  der  Neurose.  Es  gibt 
immer  eine  Linie,  wo  die  psychischen  Kräfte  in  physische  übergehen. 
Wie  das  zustande  kommt,  wie  das  möglich  ist,  das  wissen  wir  noch  nicht. 
Aber  die  Möglichkeit  dürfen  wir  nicht  von  der  Hand  weisen. 

Wir  können  dies  Kapitel  nicht  beschließen,  ohne  auf  die  wichtigen 
Arbeiten  von  Steinach  hingewiesen  zu  haben.  Steinach  hat  durch  eine 
Reihe  genialer  Operationen  die  Bedeutung  der  inneren  Hormone  für  die 
Ausbildung  des  Geschlechtscharakters  nachgewiesen.  Seine  letzte  Auf- 
fassung in  der  Frage  der  Bisexualität  lautet  nach  Paul  Kammer  er1)  : 
„Vor  Differenzierung  der  Keimdrüse  zur  Pubertätsdrüse  befindet  sich 
der  Embryo  im  Stadium  latenter  Bisexualität;  wenn  die  Differenzierung 
des  Keimstockes  eine  durchgreifende,  d.  h.  nach  der  einen  oder  anderen 
Gesclüechtsrichtung  überwiegend  ist,  entstehen  ausgesprochen  männ- 
liche oder  weibliche  Individuen.  Wenn  dagegen  die  Differenzierung  des 
Keimstockes  eine  unvollständige  ist  —  ohne  entschiedenes  Überwiegen 
der  einen  oder  anderen  Richtung  — ,  so  entstehen  Zwitter,  und  zwar 
je  nach  Aktivität  der  geschlechtsverschiedenen  Pubertätsdrüsen  jeweils 
eine  der  unzähligen  Formen  des  Hermaphroditismus." 

Wir  werden  in'  einem  späteren  Kapitel  noch  einmal  auf  die 
Forschungen  Steinachs  zurückkommen.  Es  wirft  sich  nur  die  Frage 
auf,  ob  angesichts  seiner  sensationellen  Funde  eine  jede  Psychologie 
der  Homosexualität  nicht  überflüssig  wäre.  Das  wäre  sie  in  der  Tat, 
wenn  es  keine  „psychischen  Hormone"  gäbe.  Ich  habe  Steinach  einmal 
die  Anregung  gegeben,  experimentell  die  Bedeutung  der  seelischen 
Kräfte  nachzuweisen,  und  entnehme  einer  Bemerkung  Paul  Federns  in 
der  „Zeitschrift  für  ärztliche  Psychanalyse",  daß  derartige  Unter- 
suchungen im  Gange  sind. 

Steinach  hat  durch  seine  Forschungen  bewiesen,  daß  die  Annahme 
der  Bisexualität,  welche  die  Psychanalyse  auf  Grund  ihrer  seelischen 
Forschungen  postuliert  hat,  biologisch  richtig  ist.  Fraglich  erscheint 
es  mir  aber,  ob  wir  jetzt  der  Aera  einer  neuen  operativen  Therapie 
der  Homosexualität  entgegengehen.  Die  Erfolge  von  Lichtenstern,  der 
durch  Hodentransplantation  die  männlichen  Tendenzen  verstärkte, 
sind  gewiß  sehr  interessant  und  wären  beweisend,!  wenn  nicht  die 
gleichen  Erfolge  auch  auf  psychotherapeutischem  Wege  erzielt  werden 

*)  Paul  Kammerer:  Steinachs  Forschungen  über  Entwicklung,  Beherrschung 
und  Wandlung  der  Pubertät.  Ergebnisse  der  inneren  Medizin  und  Kinderheilkunde. 
Bd.  XVII,  1919.  Diese  Arbeit  bietet  eine  ausgezeichnete,  zusammenfassende  Darstellung 
aller  Arbeiten  und  Ergebnisse  von  Steinach  und  von  seinen  Schülern. 


350        Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität.  —  Die  Familie  der  Homosexuellen. 

und  Lichtenstern1)  die  Kraft  der  Suggestion  ausschalten  könnte. 
Sicherlich  wird  diese  Therapie  für  gewisse  Fälle, 
wo  der  organische  Charakter  unzweifelhaft  ist, 
von  großer  Bedeutung  werden. 

Vielleicht  wird  sich  der  therapeutische  Wert  der  Steinachschen 
Methode  bei  gewissen  Depressionszuständen,  Psychosen  und  bei  der 
Paranoia  bewähren.  Darauf  werde  ich  noch  im  letzten  Kapitel  dieses 
Werkes  zu  sprechen  kommen.  Sicher  ist  es,  daß  die  operative  Therapie 
der  Homosexualität  nichts  mehr  als  eine  schöne  Idee  —  man  könnte 
sogar  behaupten  —  ein  wissenschaftliches  Märchen  ist.  Schrenk- 
Notzing  hat  vor  längerer  Zeit  einen  Bericht  über  Heilung  von  Homo- 
sexuellen durch  Hypnose  veröffentlicht.  Ich  habe  diese  Erfolge  lange 
bezweifelt  und  wurde  aus  dem  Saulus  ein  Paulus,  seit  ich  selbst  im- 
stande war,  in  drei  Wochen  eine  komplette  Homosexualität  zu  heilen. 
Über  den  Fall  werde  ich  noch  berichten.  Er  beweist  uns,  daß  eine 
psychische  Therapie  der  Homosexualität  möglich  und  aussichtsreich 
ist.  Diese  Therapie  kann  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nur  die  analytisch- 
pädagogische sein.  Die  Propaganda  von  Hirschfeld  und  von  seinem 
Kreise  hat  in  diese  Frage  viel  Verwirrung  gebracht  und  der  wissen- 
schaftlichen Erforschung   keinen  allzu   großen  Nutzen  gebracht. 

Ich  stehe  daher  den  Versuchen,  die  Homosexualität  durch  Ein- 
pflanzung eines  fremden  (kryptorchen)  Hodens  zu  heilen,  sehr  skeptisch 
gegenüber.2)  Selbst  wenn  die  Methode  gut  wäre  —  sie  kommt  nur  für 
organische  Hermaphroditen  und  Verletzte  (ihrer  Hoden  beraubte)  in 
Betracht  — ,  so  wird  sie  immer  für  wenige  Fälle  reserviert  bleiben. 
Es  ist  sehr  schwer,  einen  gesunden  kryptorchen  Hoden  zu  beschaffen. 
Schließlich  würden  sieh  die  Reichen  diesen  Luxus  erlauben  und  die 
Maßnahme  käme  sozial  gar  nicht  in  Frage. 

Die  Homosexualität  läßt  sich  aber  nicht  von  der  organischen 
Seite  allein  erklären.  Der  Mensch  ist  keine  Ratte  und  kein  Kaninchen. 
Der  Mensch  steht  unter  dem  Einflüsse  seelischer  Kräfte.  Auch  seine 
Geschlechtsdrüsen  gehorchen  seelischen  Einflüssen. 

Dieses  Buch  aber  betont  überall  die  psychischen  Seiten.  Ich 
weiß  wohl,  daß  ich  das  Physische  vernachlässige.  Ich  tue  das  mit  Ab- 
sicht, weil  ich  es  als  meine  Aufgabe  betrachte,  die  zum  Teil  bisher 
unbekannten  seelischen  Zusammenhänge  aufzuspüren  und  darzustellen. 


J)  Lichtenstern:  Mit  Erfolg  ausgeführte  Hodentransplantation  am  Menschen. 
M.  med.  W.,  1916,  Nr.  19.  —  Weitere  Fälle  erfolgreicher  Hodentransplantation.  Sitzung 
der  Gesellschaft  der  Ärzte  in  Wien.  Wiener  klin.  W.,  1918,  Nr.  45. 

-')  Ebenso  skeptisch,  beurteile  ich  die  Versuche,  Menschen  durch  operative  Ein- 
griffe zu  verjüngen.    Davon  mehr  in  Band  V. 


Die  Homosexualität. 

IX. 
Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß. 

Wenn  wir  nun  alles  dieses  uns  vergegenwärtigen 
und  wohl  erwägen,  so  sehen  wir  die  Päderastie  zn  allen 
Zeiten  und  in  allen  Ländern  auf  eine  Weise  auftreten, 
die  gar  weit  entfernt  ist  von  der,  welche  wir  zuerst,  als 
wir  sie  bloß  an  sich  selbst  betrachteten,  also  a  priori, 
vorausgesetzt  hatten.  Nämlich  die  gänzliche  Allge- 
meinheit und  beharrliche  Unausrottbarkeit, 
der  Sache  beweist,  daß  sie  irgendwie  aus  der 
menschlichen  Natur  selbst  hervorgeht;  da  sie 
nur  aus  diesem  Grunde  jederzeit  und  überall  unausbleib- 
lich auftreten  kann  als  Beleg  zu  dem  naturam  expelles 
furca,  tarnen  usqae  recurret.  Schopenhauer. 

Ich  eröffne  die  Kasuistik  dieses  Kapitels  mit  der  Darstellung 
eines  Patienten,  den  ich,  einmal  gesprochen  habe.  Ich  kenne  ihn  aus 
seinen  Briefen.  Trotzdem  scheint  mir  der  Fall  von  prinzipieller  Be- 
deutung zu  sein,  weil  er  viele  Bestätigungen  meiner  vorgehenden  Aus- 
führungen enthält.  Die  Dürftigkeit  psychologischer  Erkenntnis,  die 
wir  aus  diesen  Anamnesen  von  Homosexuellen  mit  eingeschränktem  Ge- 
sichtskreis schöpfen,  wird  uns  erst  vollkommen  klar  werden,  wenn  wir 
eine  vollständige  Analyse  eines  Homosexuellen  kennen  lernen  werden. 

Fall  Nr.  64.  Herr  G.L.  schreibt  mir: 

Ich  werde  mich  bemühen,  Ihnen  einen  redlichen  und  wahrheitsgetreuen 
Einblick  in  mein  Geschlechts-  und  Seelenleben  zu  verschaffen.  Geboren  und 
erzogen  als  jüngstes  von  zehn  Kindern,  wuchs  ich  bis  zu  meinem  fünften  Lebens- 
jahre, in  dem  ich  begann,  die  Schule  zu  besuchen,  auf  dem  Lande  auf,  ohne 
daß  in  meiner  Erinnerung  etwas  anderes  haften  blieb,  als  daß  ich  leidenschaft- 
lich gern  mit  Feuer  spielte  und  oft  bis  in  dieses  Alter  das  Bett  näßte, 
mit  dem  angenehmen  Empfinden  dabei,  dies  auf  dem  Anstandsorte  zu  tun.  Auch 
weiß  ich,  daß  ich  meine  Schwestern  sehr  beneidete.  Durch  meine  außerordent- 
lich strengen  und  religiösen  Eltern  natürlich  streng  erzogen,  lernte  ich  früh- 
zeitig die  Grenze  zwischen  Mein  und  D^ein,  Gut  und  Böse,  Wahrheit  und  Lüge 
unterscheiden.  Immer  beaufsichtigt  von  meinen  Eltern  und  Erziehern  —  was 
dem  modernen  Geiste  nicht  entspricht  — ,  war  ich  zu  sehr  den  Spielen  der 
Kinder  entzogen. 


352  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Spielte  ich,  so  war  es  wohl  zumeist  mit  Knaben,  ohne  mich  erinnern 
zu  können,  dieses  Spiel  dem  mit  Mädchen  vorzuziehen.  In  der  freien  Zeit  viel 
mit  ländlichen  Arbeiten  beschäftigt,  ward  ich  zirka  acht  Jahre  alt,  da  das 
erste  geschlechtliche  Ereignis  in  meinem  Gedächtnisse  haften  blieb,  und 
zwar  insofern,  als  ich  in  diesem  Jahre  Zeuge  war,  wie  gleichaltrige 
Knaben  mit  dem  Geschlechtsteil  eines  Hundes  spiel- 
ten, und  ein  andermal,  als  die  gleichen  Knaben  mit  den 
eigenen  Geschlechtsteilen  spielten  und  sie  auch 
gegenseitig  in  den  Mund  nahmen,  ohne  meinerseits 
dabei  die  Regung  empfunden  zu  haben,  dies  auch  nach- 
zuahmen. Mit  Mädchen  hätte  ich  wohl  in  den  Kinder] ahren  wenig  Umgang, 
nur  einmal  erinnere  ich  mich,  dabei  gewesen  zu  sein, 
wie  mehrere  Knaben  von  1 1—1 2  Jahren  einem  Mädchen 
an  den  Leib  rückten,  doch  nahm  ich  selbst  daran  nicht  teil.  Wohl 
zog  ich  in  dieser  Zeit  im  Spiele  mehrmals  Frauenkleider  an,  während 
ich  heute  vor  einem  Mann  mit  Prauenkleidern  eher  Abscheu 
empfände.  Zwei  Geschehnisse,  meine  Person  betreffend,  sind  mir  noch  in 
Erinnerung,  nämlich  einmal  in  Gegenwart  anderer  Knaben  mit  dem  eigenen 
Geschlechtsteil  gespielt  zu  haben,  und  ein  zweites  Mal,  daß  ich  einen  Knaben 
nackten  Leibes  heiß  umfing  und  „Vater  und  Mutter"  spielte.  So  verflossen 
13  Jahre  durch  nichts  unterbrochen  als  durch  einen  Sturz  von  einem  Baume, 
bei  dem  ich  -mich  erheblich  am  Hinterhaupte  verletzte.  In  dieser  Zeit  war 
es,  daß  mein  Lehrer,  der  mich  nicht  nur  für  einen  intelligenten,  sondern  auch 
für  einen  Musterknaben  hielt,  meine  armen  Eltern  überredete,  mich  studieren 
zu  lassen.  Tatsächlich  gelang  es  mir,  einen  Freiplatz  in  einem  Institut  zu 
bekommen.  Kurze  Zeit  darauf  trat  an  mich  ein  Schulkamerad  heran  und 
lehrte  mich  onanieren.  Obwohl  schon  Erektion  zustande  kam, 
erfolgte  wahrscheinlich  infolge  zu  geringer  Entwicklung  kein  Samenerguß. 
Er  bewog  mich  und  einen  anderen  Kameraden,  ihn  zu  onanieren  —  doch 
sonst  nichts.  Andere  Kameraden  sprachen  wohl  in  dieser  Zeit  auch  von  diesem 
oder  jenem  Mädchen,  welches  hübsch  sein  sollte.  Ich  jedoch  stand  meines  Er- 
innerns  diesem  Begriffe  „hübsche  Mädchen"  wie  einem  Rätsel 
gegenüber.  Da,  es  war  wohl  in  der  zweiten  Gymnasialklasse,  das  14.  Jahr 
mochte  überschritten,  gewesen  sein,  als  ein  Professor  einmal  vergessen  hatte, 
seine  Hose  in  Ordnung  zu  bringen,  als  ich,  dies  bemerkend,  wie  gebannt  dort- 
hin blickte  und  so  zum  ersten  Male  zum  traurigen  Bewußtsein  meines  Ge- 
schlechtslebens kam.  Von  dieser  Zeit  an  machte  ich  die  Bemerkung,  daß  mich 
dieser  Professor  außerordentlich  anzog,  obwohl  er  mich  in 
der  Schule  nicht  liebte.  Es  begannen  die  ersten  Kämpfe,  die  ersten  Wünsche 
in  der  erwachten  Knabenseele  aufzuflattern.  Unter  anderen  waren  es  zwei 
Knaben,  die  mit  ihrem  Liebreiz  mich  anzogen.  Ich  onanierte  damals  viel, 
ohne  dabei  Phantasien  zu  haben,  mehrmals  auch  mit  einem  anderen  Knaben. 
Doch  hatte  ich  die  Empfindung,  daß  es  mich  geschlechtlich  zu  ihnen  zog,  und 
auch  im  Traum  äußerte  sich  der  Wunsch,  ihr  Freund  zu  sein.  Die  Reize  waren 
jedoch  keine  solchen,  daß  ich  sie  nicht  hätte  unterdrücken  können.  Noch  ein 
älterer  Mann  folgte  dann,  zu  dem  es  mich  unwiderstehlich  hinzog.  Im  Wachen 
und  im  Traum  hatte  ich  in  diesen  Jahren  keinen  Gedanken  an  die  Frau.  Da 
kam  ungefähr  im  18.  Jahre  die  erste  große  Woge,  die  mich  beinahe  über  Bord 
spülte. ,  Ich  kam  in  nähere  Berührung  mit  einem  entfernten  Verwandten,  einem 
schönen,  geistvollen  und  grundgütigen  alten  Gelehrten,  der  übrigens 
I 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  j$5§ 

glücklich  verheiratet  war.  Ich  lernte  das  Leid  einer  unglücklichen  Liebe 
kennen,  träumte,  was  ich  nicht  erreichte,  und  suchte  dieser  verderblichen 
Leidenschaft  durch  übermäßiges  Onanieren  zu  begegnen.  Der  aufreibende 
Kampf,  mein  Geheimnis  zu  bewahren,  alles  andere  seelische  Elend  brachten 
mich  eines  Tages  so  weit,  daß  ich  mit  einem  Weinkrampf  völlig  zusammen- 
brach. Der  energische  und  doch  gütige  Zuspruch  meines  Verwandten,  dem  ich 
mich  gezwungen  anvertraute,  rettete  mich  damals  vor  dem  Selbstmord. 
Nächsten  Tag  ward  der  Hausarzt  gerufen,  ein  liebenswürdiger,  junger 
Menschenfreund,  der  sich  meiner  annahm.  Tag  um  Tag  sprach  er  mit  mir  und 
suchte  auf  meine  Seele  einzuwirken,  und  erreichte  dabei,  daß  mein  Geschlechts- 
leben gänzlich  in  den  Hintergrund  trat,  bis  er  nach  etwa  fünf  Monaten  mich 
für  reif  hielt,  einen  Beischlaf  auszuüben.  Doch  dies  ward  für  mich  eine 
neue  Niederlage.  Das  heimliche  Nichtwollen,  die  Furcht  vor 
Erkrankung  machten,  daß  ich  im  geeigneten  Augenblick  unvermögend 
war.  Ich  klärte  jedoch  darüber  den  Arzt  nicht  auf,  so  daß  er  mich 
kurz  nachher  als  geheilt  entließ.  Wieder  kamen  Jahre  des 
Kampfes;  in  Erwartung  eines  geistigen  Zusammenbruches  spielte  ich  mit 
dem  Gedanken  eines  erlösenden  Selbstmordes.  Doch  dazu  fehlte  mir  der 
Mut.  .  .  .  War  es  Feigheit,  war  es  das  Sträuben  des  gesundheitstrotzenden 
Körpers,  der  sich  weigerte,  aus  dem  Leben  hinauszugehen,  ohne  ein  einziges 
Mal  das  höchste  Ziel  eines  gesunden  Leibes,  die  Liebe,  genossen  zu  haben? 
In  diesen  Jahren  starb  auch  mein  Verwandter  und  meine  Verzweiflung  war 
grenzenlos.  Denn  ich  war  von  dieser  großen  Liebe  so  absorbiert,  daß  ich  die 
ganze  übrige  Welt  vergessen  hatte.  Doch  kaum  getröstet  über  dieses  Unglück, 
erwachte  ich  zu  neuer  Pein;  es  kreuzten  Menschen  meinen  Weg,  denen  ich 
mich  bedingungslos  angeschlossen  hätte,  wenn  ich  irgend  eine  Annäherang  be- 
merkt, hätte.  In  einem  mutlosen  Augenblick  vertraute  ich  mich  Hofrat  W.  an, 
der  mich  tröstete,  daß  mein  Übel  nicht  so  tief  sitzen  könnte,  weil  ich  zu  ihm 
käme.  Er  riet  mir  auch,  die  Bekanntschaft  mit  Mädchen  zu  suchen  (ich  hatte 
auch  dienstlich  viel  mit  Mädchen  zu  tun  und  zwang  mich  auch  selbst,  tanzen 
zu  lernen).  Seinen  Rat  befolgend,  ging  ich  zu  öffentlichen  Mädchen,  und  ich 
übte  wiederholt  den  Beischlaf  aus,  ohne  dabei  Genuß  oder  Freude  zu  finden. 
Ja,  ich  ging  so  weit,  daß  ich  einem  anständigen  Mädchen  einen  Heirats- 
antrag machte.  Mein  Schicksal  wollte  es,  daß  ich  auch  auf  dieser  Linie 
abgeschlagen  wurde,  wohl  heimlich  zu  meiner  Erleichterung.  Denn  ich 
konnte  und  kann  mir  nicht  vorstellen,  daß  meine  Liebe,  die  unbedingt  und 
absolut  mit  meinem  Ideal  des  Schönen  aufs  innigste  verknüpft  ist,  das  ich 
im  Wesen,  im  Antlitz,  in  der  Gestalt  des  schönen  Knaben  und  Greises 
finde,  vernichtet  werden  soll.  Frühling  und  Herbst,  Knabe  und  Greis  gleichen 
wunderbarem  Werden  und  wehem,  wonnigem  Sterben.  Während  ich  nur 
bei  Berührung  mit  diesen  wunderbarste  Wonne  empfinde,  ist  mir  die  Be- 
rührung mit  einem  Weibe  gleichgültig,  wenn  nicht  gar  ekelhaft.  So 
vergingen  wieder  Zeiten  des  Kampfes,  viel  gestrauchelt,  aber  nicht  gefallen, 
weil  ich  aus  Furcht  vor  Entdeckung  sehr  zurückhaltend  war.  Nachts  gequält 
von  den  Träumen  des  Tages,  in  denen  ich  schon  unendliche  Wonne  bei  Vor- 
stellung an  eine  innige  körperliche  Berührung  empfand,  träumte  mir  auch 
und  ich  dachte  auch  an  eine  Berührung  mit  dem  Munde,  doch  nicht  an  einen 
Liebesgenuß  von  rückwärts.  Entsetzt  vor  dem  Entdecktwerden  —  ich  erröte 
«ehon,  wenn  in  einer  Gesellschaft  auch  nur  ein  unbeabsichtigter  Scherz 
gemacht  wird  — ,  beschloß  ich  oft,  in  die  Fremdenlegion  zu  fliehen,  oder  in  ein 

Stekel,  Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebens.  II.  2.  Aufl.  23 


354  [Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Land  auszuwandern,  wo  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  kein  Verbrechen  und 
keine  Schande  wäre. 

Oft  hörte  ich  auch,  wo  sich  diese  Menschen  treffen,  doch  fand  ich  nie 
den  Mut,  hinzugehen,  aus  Furcht,  erkannt  zu  werden,  der  Schande  anheim- 
zufallen und  subsistenzlos  zu  werden.  Dies  eine  schmerzte  mich  am  meisten, 
daß  ich  als  minderwertiger  Wüstling  gelten  soll,  während  Millionen  und 
Millionen  charakterloser  Lumpen,  denen  das  Gesetz  noch  eher  beisteht,  sich 
des  Lebens  freuen  und  noch  geachtet  und  geschätzt  sind,  während  ich,  mit 
den  Eigenschaften  des  wahren  Menschen  ausgestattet,  in  freudlosem  Feuer 
mich  verzehre.  Zwei  Frauen  traten  noch  in  meinen  Lebensweg,  mit  denen  ich 
in  nähere  Berührung  trat,  die  eine  zog  mich  für  Augenblicke  an,  w  e  i  1  sie 
einen  knabenhaft  unentwickelten  Leib  hatte,  die 
andere,  weil  ich  alkoholisiert  war.  Doch  machte  ich  dabei 
die  Bemerkung,  daß  ich  bei  körperlicher  Berührung  und  Kuß  keinen  Genuß 
fand,  ja  bei  vielen  Frauen  würde  ich  schon  Ekel  haben, 
wenn  ich  etwas  zum  Essen  aus  ihrer  Hand  nähme. 
Mehrere  öffentliche  Mädchen  versuchten  mich  zu  reizen  (lambentes  glandem 
membri),  aber  ich  hatte  trotz  Erektion  kein  besonderes  Lustgefühl  und  nach 
der  geschlechtlichen  Ermattung  wieder  Elend  —  wieder  das  alte  Lied.  Manch- 
mal führte  mich  meine  Verzweiflung  in  die  Kirche  und  in  diesem  Mysterium 
fand  ich  Tränen  und  faltete  inbrünstig  meine  Hände  zum  Gebet  —  ohne  selbst 
im  Herzen  zu  glauben  — .  Oft  zweifelte  ich  an  meinem  Verstände  und  hatte 
die  Absicht,  in  ein  Irrenhaus  zu  gehen,  doch  auch  dadurch  würde  mein  Elend 
bekannt  und  für  immer  wäre  der  Weg  zu  den  Menschen  zurück  abgeschnitten. 
Wohl  träumte  ich  manchmal  auch  von  Frauen,  empfand 
dabei  nichts,  während  ich  bei  einem  Traum  von  inniger  Umschlingung  oder 
nur  Betasten  oder  Beschauen  des  Knaben  oder  Greises  eitel  Lust  empfand. 
Ich  träumte  von  Berührung  mit  dem  Munde. 

Noch  etwas  von  der  Familie.  Infolge  der  Strenge  des  bereits  ver- 
storbenen Vaters  war  ich  mehr  der  nachsichtigeren  Mutter 
zuneigend.  Von  vier  Schwestern  ist  eine  verheiratet  und  auch  beide 
Brüder,  wie  ich  glaube,  glücklich  und  zufrieden.  (Ich  empfinde  großes  Scham- 
gefühl gegen  alle  Verwandten,  groß  und  klein.)  Ein  einziger  Onkel  zeigte 
exzentrisches  Wesen  und  blieb  unverheiratet.  Meine  sonstigen  Lebensgewohn- 
heiten sind  ganz  die  normaler  Menschen,  ich  habe  Freunde,  welche  verheiratet 
sind  und  meinen  Zustand  nicht  kennen.  Nur  oft  und  oft  bin  ich  schrecklich 
gereizt  infolge  meiner  Seelenqual.  Nun  zu  Ende:  Sie  werden,  geehrter  Herr 
Doktor,  mich  nicht  bewegen  können,  noch  einmal  Ihre  Ordination  aufzu- 
suchen, weil  mir  schon  der  prüfende  Blick  Ihres  Mädchens  die 
Angst  einflößt,  erkannt  und  diagnostiziert  zu  werden.  Sollte  es  Sie  drängen, 
mir  einen  Rat  zu  geben,  wie  ich  am  ehesten  diesem  Drange  widerstehen  kann, 
oder  ein  Land  zu  nennen,  wohin  ich  mich  wenden  könnte,  wäre  ich  sehr  dank- 
bar —  wenn  nicht,  so  bin  ich  es  gewohnt,  geschlagen  zu  werden."  —  —  — 

Einer  der  üblichen  Berichte,  der  das  Wichtigste  verschweigt.  Das 
Schuldbewußtsein  des  Masochisten,  der  „gewohnt  ist,  geschlagen  zu 
werden",  geht  aus  der  lächerlichen  Angst  vor  dem  prüfenden  Blick 
meines  Dienstmädchens  hervor.  Diese  Angst  würde  wahrscheinlich 
in  der  Analyse  seine  sadistische  Einstellung  zum  Weibe  ergeben.  Sonst 
einige  bemerkenswerte  Angaben.  Er  ist  aus  einer  kinderreichen  Familie, 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  355 

der  Vater  streng,  die  Mutter  nachsichtig,  er  beneidete  seine  Schwestern. 
Aus  seiner  Kindheit  werden  eine  ganze  Menge  homosexueller  Erlebnisse 
erzählt  und  die  Neigung,  sich  Frauenkleider  anzuziehen.  Diese  Neigung 
deutet  auf  eine  ausgesprochene  Identifizierung  mit  der  Schwester  oder 
der  Mutter.  Aber  aus  welchem  Grunde  wollte  er  ein  Weib  sein?  Aus 
welchem  Grunde  wollte  er  die  Mutter  spielen?  Er  wollte  dem  Vater  ein 
Weib,  auch  die  Mutter  ersetzen.  Hier  war  es  der  starke  Vater, 
der  den  Knaben  so  angezogen  hatte,  daß  er  ihm  alles  sein  wollte.  Er 
verliebt  sich  dann  im  Leben  immer  wieder  in  ältere  Herren,  die  ihm 
den  Vater  ersetzen  können.  Der  Greis  ist  jedesmal  eine  Imago  des 
Vaters.  In  den  homosexuellen  Szenen  mit  Greisen,  die  sich  in  seiner 
Phantasie  oder  in  Wirklichkeit  abspielen,  bleibt  er  das  Kind,  mit  dem 
der  Vater  zärtlich  wird  und  von  dem  sich  der  Vater  die  Fellatio 
machen  läßt.  Er  hat  aber  auch  die  Vorliebe  zu  Knaben.  Da  wird  er 
der  Vater,  während  der  Knabe  sein  Jugendbild  wird. 

Interessant  ist  dieser  ausgesprochene  Ekel  vor  dem  Weibe,  der 
nach  Alkohol  verschwindet,  so  daß  ein  Koitus  ausgeführt  wird.  Er 
war  auch  nahe  daran,  sich  zu  verlieben,  weil  ein  Mädchen  einen  knaben- 
haften Typus  zeigte;  Dies  verrät  Zusammenhänge  zwischen  den 
Knaben  und  den  Mädchen.  Die  Knaben  werden  geliebt,  wenn  sie  die 
Züge  einer  geliebten  Schwester  tragen,  die  Greise  aber,  wenn  sie  an 
den  Vater  erinnern. 

Der  Weg  zum  Weibe  jedoch  ist  verschlossen.  Ekel  und  Angst 
vor  Infektionen  verstecken  bedeutsamere,  tiefere  Motive,  welche  reli- 
giöser Natur  sind.  Jede  Dirne  wird  zur  Schwester,  der  jüngeren  «Aus- 
gabe der  Mutter.  Ohne  Analyse  ist  die  Genese  dieser  Paraphilie 
nicht  zu  verstehen.  Er  flieht  mich,  weil  er  die  Wahrheit  nicht  sehen 
will.  Der  strenge  Vater  scheint  in  ihm  die  Seimsucht  nach  einem 
gütigen  wachgerufen  und  sein  Schicksal  determiniert  zu  haben.  Eine 
Liebe  zur  Schwester  schien  aus  der  ersten  Besprechung  deutlich  her- 
vorzugehen. 

Fall  Nr.  65.  Herr  T.D.,  26  Jahre  alt,  kämpft  seit  Jahren  vergeblich 
gegen  seine  homosexuellen  Neigungen.  Er  liebt  entweder  schöne  Greise  mit 
weißen  Barten,  welche  aber  immer  ein  erotisches  Ideal  bleiben,  mit  denen  er 
sich  gern  unterhält,  Spaziergänge  macht,  Karten  spielt,  musiziert,  oder  sehr 
einfache  Menschen,  am  liebsten  Schifferknechte,  Pflasterer,  Soldaten,  von  denen 
die  Artilleristen  bevorzugt  werden.  Seine  Betätigung  beschränkt  sich  darauf, 
das  Glied  des  fremden  Mannes  in  die  Hand  zu  nehmen  und  das  eigene  dem 
anderen  in  die  Hand  zu  geben.  Dann  Orgasmus,  der  sehr  rasch  erfolgt.  Nach 
der  Tat  Reue  und  fester  Vorsatz,  es  nicht  mehr  zu  machen.  Beim  letzten  Ver- 
suche wurde  er  von  einem  Wachmann  ertappt  und  samt  dem  Arbeiter  zur  ge- 
richtlichen Verantwortung  gezogen. 

23* 


356  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Die  Analyse  ergibt  folgende  Tatsachen:  Er  hatte  wiederholt  versucht, 
mit  Frauen  zu  verkehren,  wurde  aber  immer  von  großer  Angst  und  von  Ekel 
daran  gehindert.  Die  Erektion  ist'  sehr  stark,  aber  vor  der  Immissio  des  Penis 
wird  derselbe  schlaff  und  fällt  zusammen.  Erzielung  des  Orgasmus  durch  die 
Hand  der  Frau  ist  möglich,  nachher  stellt  sich  ein  heftiges  Ekelgefühl  ein, 
er  muß  sofort  baden.  Er  hatte  verschiedene  Gelegenheiten,  mit  Mädchen 
und  schönen  Frauen  intim  zu  werden,  sie  machten  ihm  sogar  Anträge,  er  ging 
aber  niemals  darauf  ein. 

Seine  Familiengeschichte  ist  folgende:  Er  ist  der  einzige  Sohn  eines  vor 
vier  Jahren  verstorbenen,  sehr  gütigen  Vaters.  Die  Mutter  starb  bei  seiner 
Geburt,  was  bei  ihm  eine  Assoziation  zwischen  Tod  und  Koitus  bewirkte. 
Er  müsse  bei  Frauen  immer  daran  denken.  Sein  Vater  war  ganz  außerordent- 
lich zärtlich  mit  ihm  und  heiratete  seinetwegen  nicht  mehr.  Als  er  noch  jung 
war,  spielte  der  Vater  immer  mit  ihm  und  beschäftigte  sich  in  allen  seinen 
freien  Stunden  mit  ihm.  Später  wurde  das  Band  noch  inniger.  Er  fühi-te 
eigentlich  eine  Art  Ehe  mit  dem  Vater. 

Er  begann  sehr  früh  zu  onanieren  und  will  dabei  nur  Phantasien  von 
ordinären  Männern  gehabt  haben,  welche  sein  Glied  in  die  Hand  nahmen. 

Seine  Liebe  zum  Vater  war  entschieden  pathologisch.  Blieb  der  Vater 
einmal  eine  Viertelstunde  länger  aus,  so  begann  er  zu  weinen  und  war  kaum 
zu  trösten.  Seinem  Vater  Freude  zu  bereiten  und  ihm  den  Verlust  der  gelieb- 
ten Mutter  zu  ersetzen,  war  das  ganze  Streben  seines  Lebens.  Als  der  Vater 
krank  wurde,  war  er  so  aufgeregt,  daß  man  für  seinen  Verstand  zitterte.  Nach 
dem  Tode  seines  Vaters  machte  er  einen  Selbstmordversuch,  der  durch  den 
treuen  Diener  des  Vaters  vereitelt  wurde.  Er  machte  allerlei  Gelübde,  unter 
anderen,  das  ganze  Trauerjahr  nicht  zu  onanieren.  Das  konnte  er  nicht  ein- 
halten ...  An  heterosexuelle  Szenen  in  der  Kindheit  kann  er  sich  erst  nicht 
erinnern,  ebenso  nicht  an  homosexuelle  Erlebnisse.  Allmählich  aber  lüftet  sich 
das  Dunkel,  das  über  seiner  Kindheit  liegt,  und  es  treten  eine  Menge  von  Er- 
lebnissen zutage,  welche  die  Entwicklung  der  Homosexualität  gefördert  hatten. 
Sein  Vater  war  immer  ein  großer  Damenfreund  und  er  merkte  schon  als  Kind, 
daß  der  Vater  sowohl  mit  seiner  Erzieherin,  als  auch  mit  der  Köchin  und  dem 
Stubenmädchen  intimen  Umgang  hatte.  Er  überraschte  einmal  den  Vater,  als 
er  mit  der  Köchin  in  seinem  Zimmer  allein  war  und  sie  gerade  umarmte.  Er 
erhielt  von  dem  wütenden  Vater  eine  Ohrfeige,  weil  er  ohne  zu  klopfen  ein- 
getreten war.  Es  war  eines  der  wenigen  Male,  daß  er  von  seinem  Vater  ge- 
züchtigt wurde.  Auch  hörte  er  des  Nachts  einige  Male,  wie  der  Vater  zu  der 
Erzieherin,  die  damals  noch  jung  und  sehr  hübsch  war,  ins  Bett  stieg  und 
dort  allerlei  vollführte.  Später  erhielt  er  einen  Erzieher,  der  sich  dem  genius 
loci  anpaßte  und  es  auch  mit  den  Dienstboten  hielt.  Er  hatte  als  Kind  oft 
den  Wunsch,  ein  Weib  zu  sein  und  an  Stelle  der  Köchin  dem  Vater  zu  willen 
zu  sein.  Dabei  schien  sein  Vater  zu  fürchten,  daß  sein  einziger  Sohn  den 
Frauen  in  die  Hände  fallen  werde,  und  verabsäumte  nicht,  ihn  durch  ent- 
sprechende Lehren  zu  warnen.  Mit  12  Jahren  klärte  ihn  der  Vater  über  die 
Gefahren  der  Onanie  auf,  was  zur  Folge  hatte,  daß  er  gegen  die  Onanie 
kämpfte,  aber  sie  nicht  aufgeben  konnte.  Einige  Jahre  später  erzählte  ihm  der 
Vater  von  den  schrecklichen  Folgen  der  Geschlechtskrankheiten  und  warnte 
ihn  vor  Dirnen.  Er  solle  sich  in  acht  nehmen,  er  müsse  oft  durch  die  Stadt 
gehen,  die  Dirnen  wollten  immer  solche  junge,  unschuldige  Knaben  verführen, 
und  mancher  werde  fürs  Leben  unglücklich. 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  357 

Von  Bedeutung  ist  auch,  daß  er  mit  fünf  Jahren  mit  einem  Mädchen 
aus  der  Nachbarschaft  spielte  und  es  versuchte,  den  Vater  nachzuahmen.  Er 
muß  das  Mädchen  verletzt  haben,  denn  es  schrie,  die  Erzieherin  kam  herein, 
es  gab  böse  Szenen  und  er  erhielt  von  der  Erzieherin  arge  Schläge. 

Einen  bösen  Eindruck  machte  auch  eine  furchtbare  Szene  zwischen  der 
Köchin  und  der  Erzieherin,  die  aufeinander  wegen  des  Vaters  eifersüchtig 
waren.  Sie  lagen  einander  in  den  Haaren  und  das  ganze  Haus  war  in  Erregung. 
Die  Köchin  mußte  sofort  das  Haus  verlassen.  Er  glaubt,  daß  seit  dieser  Szene 
der  Vater  alle  Beziehungen  zu  den  Leuten  des  Hauses  abbrach.  Mit  19  Jahren 
vorliebte  er  sich  in  die  Kassiererin  eines  Kaffeehauses  und  wollte  sie  gern 
erobern.  Sein  Vater  aber,  dem  er  alles  erzählte,  warnte  ihn  vor  diesen  Kassiere- 
rinnen, weil  sie  meistens  krank  und  angesteckt  wären.  Er  erzählte  ihm  zur 
Warnung,  daß  er  in  der  Jugend  durch  eine  solche  Geschichte  arge  Unannehm- 
lichkeiten hatte  und  sogar  Erpressungen  ausgesetzt  war. 

Er  erfüllte  sein  Herz  mit  Schrecken  vor  dem  Weibe.  Überdies  gab  er  ihm 
ein  Buch,  das  ihn  über  die  Folgen  der  Geschlechtskrankheiten  belehrte,  so  daß 
er  sich  nicht  mehr  traute,  sich  von  einer  Dirne  berühren  zu  lassen,  wennn  er 
kein  Kondom  anhatte.  Nach  dem  Verkehre,  der  ja  nur  in  manuellen  Manipula- 
tionen bestand,  mußte  er  sich  sofort  baden  und  endlose  Male  mit  Seife  die 
Genitalien  waschen.  Nach  einem  homosexuellen  Akte  unterlag  er  diesem 
Waschzwang  nicht. 

Nun  kommen  wir  zur  Analyse  seiner  Akte,  die  sich  als  veritable  Zwangs- 
handlungen erweisen.  Er  wird  plötzlich  unruhig,  wehrt  sich  mächtig,  läuft 
dann  stundenlang  herum,  bis  er  schließlich  einem  von  den  männlichen  Prosti- 
tuierten, die  ihre  Opfer  sofort  erkennen,  in  die  Hände  fällt.  Da  er  aber  nie 
einen  Namen  nannte,  sich  in  keine  intimeren  Beziehungen  einließ,  war  auch  er 
keinen  Erpressungen  ausgesetzt.  Einmal  glaubte  er,  daß  ein  Masseur  sich 
seine  Physiognomie  gemerkt  und  ihn  erkannt  hatte.  Er  sah  ihn  einige  Male 
vor  seinem  Hause.  Sofort  verließ  er  Wien  und  machte  eine  größere  Reise, 
die  ihn  einige  Monate  in  die  Fremde  führte. 

In  dem  Akte  suchte  er  die  Liebkosungen  seines  Vaters.  Er  teilte  die 
Liebe  in  ihre  zwei  bekannten  Komponenten.  Die  Erotik  reservierte  er  für  die 
älteren  Herren,  die  Ärzte,  die  guten  älteren  Freunde,  die  Sexualität  be- 
schränkte sich  auf  die  ordinären  Männer.  So  hatte  er  auch  das  Wesen  des 
Vaters  in  zwei  Teile  geteilt,  in  den  hochstrebenden,  intellektuellen,  fein- 
sinnigen Vater  und  in  den  Frauenjäger  und  Liebhaber  der  ordinären  Dienst- 
boten. In  der  Szene  blieb  er  ein  Mann,  aber  er  nahm  eine  Regression  in  die 
Kindheit  vor  und  wurde  wieder  das  Kind,  das  vom  Vater  jene  Zärtlichkeiten 
erwartet,  die  an  die  Dienstboten  verschwendet  wurden.  Überdies  trugen  die 
ordinären  Männer  die  Züge  der  Dienstboten,  es  waren  auch  männliche 
Dienstboten. 

Es  handelte  sich  um  eine  Transkription  der  Dienstbotenliebe  auf  Männer. 
Für  Dienstboten  hatte  er  immer  eine  Vorliebe  und  da  er  fürchtete,  daß  er  noch 
eine  Köchin  heiraten  könnte,  hielt  er  sich  von  ihnen  fern.  Nur  einmal  im 
Vorzimmer  eines  Freundes  umarmte  er  plötzlich  eine  Köchin  und  küßte  sie 
leidenschaftlich.  Die  hätte  ich  sicher  koitieren  können,  sagte  er  mir.  Er  hörte 
aber  sofort  auf,  den  Freund  zu  besuchen  .  .  . 

Er  identifizierte  sich  vollkommen  mit  seinem  Vater.  Er  wohnte  in  seiner 
Wohnung,  trug  sieh  wie  der  Vater,  hatte  den  gleichen  Schnitt  der  Kleider, 
obgleich  er  ganz  veraltet  war.    Aber  er  wollte  sich  doch  in  einer  Hinsicht 


358  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

differenzieren.  Er  wollte  nicht  der  Liebhaber  seiner  Dienstboten  werden.  Er 
hielt  sich  deshalb  einen  Diener  und  speiste  immer  außer  Haus,  um  keine 
Köchin  halten  zu  müssen.  Dem  Diener  aber  näherte  er  sich  nie  vertraulich.  Er 
wollte  nicht  wie  der  Vater  im  Hause  unter  Dienstboten  einen  Geliebten  haben. 

Die  Analyse  förderte  eine  unterdrückte  sadistische  Einstellung  gegen  die 
Frauen  zutage.  Seine  ersten  Versuche  bei  Dirnen  mißlangen  und  nur  unter 
dem  Einflüsse  von  Alkohol  kam  ein  mißglückter  Koitus  zustande.  Nachträglich 
aber  erinnerte  er  sich  an  einen  einzigen  Kongressus,  der  ihm  glückte.  Das 
Mädchen  hatte  ihn  durch  eine  Bemerkung,  daß  er  ein  Patzer  wäre,  in  Zorn 
gebracht.  Er  stürzte  sich  auf  sie,  wollte  sie  schlagen  und  bemerkte,  daß  sich 
seine  Libido  enorm  steigerte.  In  dieser  "Wut  vollzog  er  einen  Koitus.  Aber 
er   hätte   sie   am   liebsten  erdrosselt! 

Er  zeigte  eine  Idiosynkrasie  gegen  verschiedene  v/eibliche  Berufe. 
Krankonschwestern  in  der  Tracht  würde  er  mit  kaltem  Blute  zerreißen.  Eben- 
so hasse  er  alle  Nonnen.  Er  würde  es  keinem  Weibe  raten,  ihn  zu  reizen.  In 
seinem  Zorne  würde  er  schreckliche  Taten  verrichten.  Er  gesteht,  daß  er 
eine  Lieblingsphantasie  habe:  Ein  Weib  in  der  Luft  auseinanderzureißen. 

Die  Ursache  dieser  sadistischen  Einstellung?  Seine  infantile  Eifer- 
sucht gegen  alle  die  Frauen,  die  ihm  die  Liebe  des  Vaters  geraubt  hatten. 
Unter  ihnen  befand  sich  auch  eine  Krankenschwester,  die  ihn  während  eines 
längeren  Leidens  gepflegt  hatte. 

Dieser  Haß  gegen  die  Frauen  machte  ihn  impotent  und  trieb  ihn  in  die 
homosexuelle  Richtung.  Denn  er  fürchtete  sich  vor  sich  selbst,  wenn  er  mit 
Frauen  allein  blieb.  Er  konnte  plötzlich  aus  dem  Lupanar  weglaufen,  als 
wäre  er  von  tausend  Dämonen  gehetzt. 

Es  gelang  mir,  ihn  zu  überzeugen,  daß  diese  sadistische  Einstellung  ein 
Rudiment  seiner  Jugendgefühle  sei,  daß  er  eigentlich  mit  Gespenstern  kämpfe, 
die  er  längst  überwunden  hätte.  Er  müsse  nun  bewußt  gegen  seine  kriminellen 
Instinkte  kämpfen  und  sie  im  wiederholten  Ringen  unschädlich  machen. 

Allmählich  begann  er  schon  während  der  Analyse  mit  Dirnen  zu  ver- 
kehren und  wagte  es  auch,  einen  Coitus  lege  artis  auszuführen.  Er  zwang 
sich  dazu,  weil  er  nicht  mehr  mit  dem  Gesetze  in  Konflikt  kommen  wollte. 
(Die  gerichtliche  Untersuchung  wurde  niedergeschlagen,  weil  es  zu  keinem 
Akte  gekommen  war  und  diese  Manipulationen  in  Österreich  meist  nicht  be- 
straft werden,  wenn  sie  kein  öffentliches  Ärgernis  erregen.)  Später  nahm  er 
sieh  eine  Geliebte,  von  der  er  sich  auf  Reisen  begleiten  ließ  und  die  er  ur- 
plötzlich abfertigte.  Er  hatte  eine  Dame  kennen  gelernt,  die  ihn  seelisch  und 
körperlich  fesselte.  Nach  zwei  Jahren  erhielt  ich  seine  Vermählungsanzeige. 
In  diesem  Falle  erzielte  die  Analyse  einen  vollen  Erfolg! 

Hier  sehen  wir  eine  vollkommene  Fixation  an  den  Vater,  die  erst 
überwunden  werden  muß,  um  den  Weg  zum  Weib,  der  durch  allerlei 
infantile  Imperative  versperrt  war,  frei  zu  machen.  Weder  die  Mutter 
noch  die  Erziehungspersonen  spielen  in  der  Psychogenese  seiner  Homo- 
sexualität eine  Rolle,  dagegen  eine  starke  sadistische  Einstellung 
gegen  die  Frauen,  welche  durch  eine  ihm  unerklärliche  Angst  vor 
den  Frauen  verhüllt  wurde. 

Wir  sehen  aber  aus  diesem  Falle,  wie  einseitig  die  Sadgereche 
Erklärung  der  Homosexualität  ist,  welche  die  ganze  Psychogenese  auf 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  359 

das  Verhältnis  zur  Mutter  aufbaut  und  den  Vater  gar  nicht  berück- 
sichtigt. 

Auch  ist  zu  denken,  daß  so  viele  Kinder  zur  Mutter  flüchten, 
weil  sie  sich  vom  Vater  vernachlässigt  fühlen,  weil  sie  den  Vater 
hassen  und  zu  ihm  in  kein  rechtes  Verhältnis  kommen  können.  Gerade 
diese  übertriebene  Liebe  zur  Mutter  und  der  dick  aufgetragene  Vater- 
haß verbirgt  in  sehr  geschickter  Weise  die  Fixierung  an  den  Vater. 

Ich  habe  wiederholt  beweisen  können,  daß  die  Söhne  von  Frauen- 
jägern infolge  von  Differenzierung  zur  Homosexualität  neigen.    Numa 
Praetorius1),  ein  Forscher,  der  sich  mit  Haut  und  Haaren  der  Lehre 
Hirschfelds   von   der    angeborenen   Homosexualität    verschrieben   hat, 
übersieht  beharrlich  diese  schon  in  der  Jugend  aufgetretene  Differenzie- 
rung.   Sein  „wollustfreudiger"  Vater  war  ein  Freund  derber  Zoten. 
E  r  duldet  keine  Zoten  und  will  keine  anrüchigen  Lieder  hören.   („Ich 
will  nicht,  daß  man  Schweinereien  und  häßliche  Dinge  spricht.")   Der 
Vater  sorgt  früh  für  eine  natürliche  Aufklärung  seines  Sohnes,  tollt 
mit  ihm  nackt  im  Bett  herum,  nimmt  ihn  ins  Bad  mit,  so  daß  sich  der 
Kleine  über  die  großen  Genitalien  des  Erzeugers  verwundert  ausspricht. 
Der  Vierjährige  läuft  einer  Tänzerin  nach  und  hebt  ihre  Röcke  in  die 
Höhe.    Man  erzählt  ihm  von  seiner  zukünftigen  Frau.    Er  zeigt,  wie 
er  es  im  Bette  machen  wird  .  .  .  Alle  heterosexuellen  Episoden  der 
Kindheit    faßt   Numa  Praetorius    als    Suggestionen    des    Milieus    auf. 
Ludwig  schäckert  mit  der  Amme  und  nennt  sie  seine  „Dirne".    Er 
verliebt  sich  fünfjährig  in  die  Amme  seines  Schwesterchens  und  küßt 
sie  voll  Inbrunst  auf  Auge,  Mund  und  Nase  .  .  .  Ein  anderes  Mädchen 
faßt  er  an  die  Brust.   Aber  alle  diese  Episoden  zählen  dem  unbeirrten 
Forscher  nicht. 

Ist  es  ein  Wunder,  daß  sich  Ludwig  XIII.  vor  den  Frauen  fürchtete 
und  seine  eigene  Gattin  erst  beschlafen  konnte,  nachdem  man  ihn  durch 
den  Anblick  eines  koitierenden  Paares  gereizt  und  ihn  sein  Günstling 
Herr  Luynes  in  seinen  Armen  ins  Schlafzimmer  seiner  Frau  tragen 
mußte?  Praetorius  gibt  selbst  zu,  daß  Ludwig  XIII.  später  viel 
häufiger,  als  es  gesetzlich  vorgeschrieben  war  (einmal  in  vierzehn 
Tagen!),  seiner  Frau  beiwohnte.  Er  nimmt  es  auch  als  Zwang  hin,  daß 
der  König  seine  Frau  liebte  und  Kinder  zeugen  konnte.  Auch  andere, 
sehr  ernste  seelische  Liebesneigungen  zu  Damen  des  Hofes  werden  als 
vorübergehende  Täuschungen  bezeichnet,  während  jede  homosexuelle 
Episode  breit  dargestellt  und  als  Folge  der  natürlichen  Veranlagung 


!)  Numa  Praetorius:  Das  Liebesleben  Ludwig  XIII.  von  Frankreich.  Abhand- 
lungen aus  dem  Gebiete  der  Sexualforschung,  Bd.  IL  H.  6.  Verlag  Marcus  &  Weber, 
Bonn  1920. 


360 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


geschildert  wird.  Besonders  betont  wird  die  Eifersucht  des  Königs, 
die  uns  das  Verständnis  seiner  Homosexualität  erleichtert.  Er  war  in 
seinen  Vater  verliebt,  dessen  Spiele  seine  Begierde  früh  gereizt  hatten. 
Er  war  auf  alle  seine  Maitressen  eifersüchtig.  Er  wollte  aber  auch 
kein  Frauenjäger  wie  der  Vater  werden  und  fürchtete,  den  Frauen  zu 
erliegen.  Aus  Angst  vor  der  Macht  der  Frauen  flüchtete  er  zu  den 
Männern.  (Übrigens  ist  keine  homosexuelle  Episode  historisch  belegt.) 

Auf  diese  Weise  kann  man  jeden  Fall  von  Homosexualität  als 
angeborene  Anlage  beschreiben,  da  ja  jedermann  bisexuell  ist.  Man 
denke  sich  aber  in  die  Seele  dieses  Kindes  hinein,  das  schon  in 
frühesten  Jahren  das  rohe  Treiben  eines  liederlichen  Frauenjägers  be- 
obachten mußte  und  schon  als  kleines  Kind  seine  unehelichen  Halb- 
geschwister nicht  als  Geschwister  annehmen  wollte.  Wer  das  Liebes- 
leben Ludwig  XIII.  unvoreingenommen  betrachtet,  muß  zur  Erkenntnis 
kommen,  daß  der  liederliche  Vater  die  sexuelle  Leitlinie  seines  Sohnes 
in  die  Richtung  zum  gleichen  Geschlechte  umgebogen  hat. 

Ich  werde  jetzt  drei  solcher  Beispiele  aus  meiner  Erfahrung  mit- 
teilen und  mich  nur  auf  die  wichtigsten  Momente  beschränken. 

Fall  Nr.  66.  Herr  S.L.  ist  seit  drei  Jahren  nicht  mehr  Bankbeamter. 
Lr  erkrankte  vor  drei  Jahren  an  verschiedenen  nervösen  Übeln,  welche  durch 
einen  Urlaub  behoben  werden  sollten.  Dieser  Urlaub  sollte  sein  Verhängnis 
werden.    Das  Leiden  wurde  nicht  besser,  er  aber  wurde  vollkommen  arbeits- 
unfähig und  kam  nicht  mehr  ins  Amt  zurück.  Sein  Vater  stand  immer  auf  dem 
Standpunkt,  daß  das  ganze  Leiden  eingebildet  wäre,  und  wollte  nichts  von 
einer  Verlängerung  des  Urlaubes  wissen.  In  der  Folge  aber  wurde  das  Leiden 
seines  Sohnes  immer  schlimmer.   Aus  Trotz  gegen  die  Einstellung  des  Vaters 
simulierte  er  erst  die  Verschlechterung,  welche  sich  dann  in  der  Tat  so  fixierte, 
daß  er  dann  unglücklich  darüber  war  und  das  Leiden  gerne  los  werden  wollte. 
Es  kam  bei  ihm  zu  schweren  Attacken  von  Atemnot,  so  daß  er  nichts  sprechen 
konnte.  Diese  Atemnot  ging  in  Paroxysmen  vor  sich.   Als  er  nach  einem  Jahre 
seine  Stelle  bei  der  Bank  verlor,  wurde  er  ganz  mittellos  und  ersuchte  seinen 
reichen  Vater,  ihn  zu  erhalten.    Der  Vater  verweigerte  jede  Unterstützung, 
weil  sein  Sohn  nicht  arbeitsunfähig  wäre  und  das  ganze  Leiden  simuliere,  um 
ihm  einen  Schabernack  zu  spielen.   S.  L.  klagte  nun  seinen  Vater  auf  Susten- 
tation  und  gewann,  unterstützt  durch  die  Zeugnisse  einiger  ärztlicher  Autori- 
täten, welche  eine  schwere  Neurasthenie  konstatiert  hatten,  den  Prozeß,  so  daß 
6ein  Vater    ihm  einen  monatlichen  Beitrag  zahlen  mußte.    Die  Beziehungen 
zwischen  Vater  und  Sohn  wurden  ganz  abgebrochen,  so  daß  ein  Advokat  die 
Auszahlung    des  Sustentationsbeitrages  übernahm.    S.  L.  hatte    aber  keinen 
anderen  Gedanken  als  die  Rache  an  seinem  Vater.   Er  war  sehr  erfinderisch 
im  Ersinnen  neuer  Prozesse  und  neuer  Quälereien.  Schließlich  kam  er  zur  Über- 
zeugung, er  wäre  nicht  der  Sohn  seines  Vaters  und  drohte  mit  einer  Klage, 
von  der  ihn  nur  die  Liebe  zu  seiner  Mutter  abhielt.   Diese  war  empört  über 
die  Zumutung  des  Sohnes,  stand  aber  so  unter  seinem  Einfluß,  daß  sie  nicht 
die  Kraft  hatte,  mit  ihm  zu  brechen.  Sie  kam  heimlich  mit  ihm  zusammen  und 
steckte  ihm  immer  wieder  Geld  zu.   Die  Mutter  liebte  er  über  alles  und  ver- 


Die  Kollo  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  '  ;$(j[ 

langte  von  ihr,  sie  solle  den  Vater  verlassen.  Er  forschte  auch  durch  Detektivs, 
ob  er  den  Vater  nicht  einer  Untreue  gegen  die  Mutter  überführen  könnte. 
Vom  Vater  sprach  er  nicht  anders,  als  das  „alte  Schwein",  „der  alte  Ver- 
brecher", „der  Haderlump".  „Ich  könnte  ihn  heute  in  Schmerzen  verrecken 
sehen,  es  wäre  mein  bester  und  schönster  Tag".  Ich  habe  noch  nie  einen  so 
glühenden  Vaterhaß  beobachten  können. 

Er  war  überzeugter  Homosexueller  und  haßte  auch  alle  Frauen  mit  Aus- 
nahme seiner  Mutter,  für  die  er  eine  abgöttische  Verehrung  hatte.  Ihren  an- 
geblichen Treubruch,  den  sie  mit  einer  hochgestellten  Persönlichkeit  begangen 
haben  sollte  (der  bekannte  Familienroman  des  Neurotikers!),  fand  er  selbst- 
verständlich, denn  es  sei  ein  Wunder,  daß  diese  zartbesaitete  Mutter  es  an  der 
Seite  dieses  schrecklichen  Menschen  ausgehalten  hätte.  Der  Vater  hätte  die 
Mutter  nur  durch  brutale  Gewalt  zum  Koitus  gezwungen.  Er  sei  das  Produkt 
einer  solchen  Vergewaltigung  usw.  ...  Er  liebte  nur  jüngere  Männer,  selbst 
Knaben,  gegen  die  er  ziemlich  brutal  war.  Hie  und  da  kam  es  zu  Akten  mit 
älteren  Männern,  gegen  die  er  dann  sehr  gefügig  und  passiv  war,  sich  ihnen 
auch  in  jeder  Weise  gefällig  zeigte.  Er  ließ  sich  päderastieren  und  scheute 
auch  vor  der  Fellatio  nicht  zurück. 

Die  Analyse  ergab  eine  leidenschaftliche  Liebe  zum  Vater,  die  sich  in- 
folge der  vermeintlichen  Abweisung  in  Haß  vorwandelt  hatte.  Er  war  der 
Ansicht,  daß  der  Vater  die  anderen  Brüder  vorzöge,  und  flüchtete  zur  Mutter, 
der  er  oft  über  die  Strenge  und  Lieblosigkeit  des  Vaters  klagte.  In  seinen 
homosexuellen  Akten  spielte  er  aktiv  den  Vater,  wurde  dann  strenge  und 
fast  grausam,  passiv  spielte  er  einen  Akt  mit  dem  Vater,  dem  er  dann  sehr 
gefügig  war  und  so  seine  ganze  unterdrückte  Liebe  ausströmen  ließ,  als 
wollte  er  ihm  zeigen:  So  könnte  ich  mit  dir  sein,  wenn  du  mir  gefällig 
wärest.  Grausame  Phantasien,  die.  sich  mit  der  Rache  an  dem  Vater  beschäf- 
tigten, wurden  unter  großem  Widerstände  gestanden.  Er  war  einige  Male  nahe 
daran,  seinen  Vater  zu  erschießen.  Er  träumte  sich  in  Lagen,  in  denen  der 
Vater  von  seiner  Gnade  und  Großmut  abhing.  Z.B.:  Der  Vater  hatte  eine 
große  Defraudation  begangen.  Er  aber  sei  dnreh  eine  geniale  Erfindung  ein 
Millionär  geworden.  Nun  läge  der  Vater  flehend  zu  seinen  Füßen  und  er  ver- 
sage ihm  die  Hilfe.  Seine  Lieblingslektüre  sind  Bücher,  die  sich  mit  Schilde- 
rungen von  Folterungen,  mit  Inquisition  usw.  befassen.  Das  bekannte  Werk 
von  Octave  Mirbeau  „Le  jardin  des  suplices"  versetzte  ihn  in  Ekstase. 

Andere  Wurzeln  der  Homosexualität  übergehe  ich  hier,  weil  ich 
mich  jetzt  nur  auf  das  Vaterproblem  beschränke  .  .  . 

Der  nächste  Fall  zeigt  ein  ganz  ähnliches  Bild: 

Fall  Nr.  67.  Herr  G.  Z.  hat  seit  einigen  Jahren  ein  Verhältnis  mit  einem 
älteren  Herrn,  einem  Künstler,  in  dessen  Salon  lauter  junge  Leute  verkehren. 
Er  ist  nicht  wie  die  anderen  Freunde  Musiker,  sondern  Jurist,  und  lernte 
Herrn  X.,  seinen  „väterlichen  Freund",  wie  er  ihn  bezeichnet,  zufällig  kennen. 
Vorher  war  er  noch  ganz  abstinent.  Erst  mit  21  Jahren  wurde  er  der  Freund 
des  Herrn  X.  Die  Freundschaft  war  ganz  platonisch,  bis  sie  eine  gemeinsame 
Reise  machten.  In  Salzburg  mußten  sie  in  einem  Zimmer  schlafen,  weil  das 
ganze  Hotel  sonst  besetzt  war.  Es  kam  zu  einem  intimen  Verkehr  (Coitus  inter 
femora),  wobei  er  die  Frau  spielte,  wie  auch  immer  später.  G.  Z.  steht  zu 
seinem  Vater  in  einem  sehr  gespannten  Verhältnisse.   Sie  reden  fast  gar  kein 


362  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Wort.  Er  arbeitet  in  der  Kanzlei  seines  Vaters,  aber  er  verkehrt  mit  ihm  nur 
geschäftlich.  Seine  ganze  freie  Zeit  widmet  er  der  Mutter.  Eines  Tages  über- 
rascht er  die  Mutter  mit  der  Mitteilung,  er  habe  den  Vater  überwachen  lassen 
und  konstatiert,  daß  er  mit  einigen  Frauen  Verhältnisse  habe.  Er  verlangt  von 
der  Mutter,  daß  sie  sich  von  dem  Vater  scheiden  lassen  solle.  Dem  Vater  macht 
er  eine  kolossale  Szene  und  stellt  die  Forderung,  daß.  der  Vater  die  Kanzlei 
verlassen,  sich  zurückziehen  und  ihm  die  Führung  aller  Geschäfte  übergeben 
solle,  worauf  der  Vater  ihm  die  Türe  weist.  Ein  Brief  der  Mutter  teilt  ihm 
mit,  daß  er  gar  nicht  der  Sohn  des  Vaters  wäre,  worauf  er  sich  in  seinem 
Zimmer  einschließt  und  erschießt. 

Die  Eifersucht  auf  den  Vater  hatte  ihn  in  den  Tod  getrieben.  In 
den  Szenen  mit  dem  väterlichen  Freunde  spielte  er  den  Sohn,  der  seinem 
Vater  die  Frauen  ersetzt. 

Fall  Nr.  68.  Herr  T.  B.,  32  Jahre  alt,  leidet  ebenfalls  an  Arbeitsunfähig- 
keit wie  Nr.  66.  Er  hat  allerlei  begonnen,  konnte  es  aber  nicht  zu  etwas 
rechtem  bringen.  Sein  Vater  ist  ein  einfacher  Beamter  und  wäre  sogar  auf 
seine  Hilio  angewiesen.  Er  aber  sitzt  zu  Hause  und  klagt  über  Anfälle,  die 
epileptischer  Natur  6ein  sollen,  aber  nur  während  der  Nacht  auftreten  und 
eich  als  hysterische  Angstanfälle  erweisen.  Sein  Bruder  ist  fleißig  und  arbeit- 
sam, der  Liebling  der  Familie.  Wenn  man  den  Bruder  lobt,  wird  er  so  wild, 
daß  er  in  Raserei  gerät.  Mit  dem  Bruder  spricht  er  sehr  wenig,  nur  die  not- 
wendigsten Worte.  Vom  Vater  behauptet  er,  daß  das  Zusammenleben  mit  ihm 
eine  Qual  bedeutet.  Er  sei  ein  fein  organisierter  Mensch.  Aber  die  Art,  wie 
der  Vater  esse  und  rede,  rege  ihn  auf.  Er  werde  den  Tag  segnen,  da  er  wieder 
einmal  arbeitsfähig  sein  werde  und  das  Elternhaus  werde  verlassen  können. 
Die  Mutter  hält  seine  Partei,  glaubt  an  seine  Krankheit  und  seine  Anfälle, 
kommt  des  Nachts  während  der  Anfälle  an  sein  Bett,  macht  ihm  Umschläge 
und  beruhigt  ihn  nach  ihren  Kräften.  Nur  die  Mutter  weiß,  daß  er  homo- 
sexuell ist,  und  stört  ihn  in  dieser  Hinsicht  gar  nicht.  Sie  ist  aber  sofort  eifer- 
süchtig, wenn  er  sich  mit  Mädchen  unterhält,  und  kommt  auch  jede  Nacht  in 
die  Küche,  um  nachzusehen,  ob  keiner  ihrer  Söhne  die  Dienstmädchen  aufge- 
sucht habe.  Sie  begleitet  den  kranken  Sohn  auf  seinen  Wegen,  ist  seine  Ver- 
traute. Mit  ihrem  Manne  lebt  sie  sehr  schlecht,  sie  haben  alle  eheliehen  Be- 
ziehungen längst  abgebrochen.  So  gibt  es  zwei  Parteien  in  dem  Hause,  er  und 
die  Mutter  und  der  Vater  mit  dem  anderen  Sohne. 

Überdies  macht  der  kranke  Sohn  Schulden,  so  daß  es  täglich  heftige 
Szenen  und  Konflikte  im  Hause  gibt.  Der  Vater  läßt  in  der  Zeitung  eine 
Annonce  einrücken,  daß  er  für  seinen  Sohn  keine  Schulden  mehr  zahlen  werde. 
Darauf  verläßt  die  Mutter,  die  sich  durch  Klavierstunden  ganz  unabhängig 
gemacht  hat,  mit  ihrem  Liebling  das  Haus.  Sie  mieten  eine  besondere  Wohnung 
und  die  Mutter  erhoffte  sich  von  der  Trennung  und  von  der  ruhigen  Pflege  eine 
vollkommene  Genesung  ihres  kranken  Kindes.  In  diesem  Stadium  wird  T.  B. 
zu  mir  gebracht  und  in  analytische  Behandlung  genommen.  Schon  nach  zwei 
Tagen  werde  ich  zum  Vater  gerufen.  T.  B.  sei  dort  unter  einem  Vorwande 
hingekommen  und  habe  unter  den  alten  Büchern  gesucht,  dann  einen  schweren 
Anfall  bekommen,  so  daß  er  im  Bette  liege.  Er  sei  60  schwer  krank,  daß  er 
das  Bett  nicht  verlassen  könne.  Es  war  die  Liebe  zum  Vater,  die  ihn  hinge- 
trieben hatte.  Er  konnte  ohne  den  Anblick  seines  Vaters  nicht  leben  und  er 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  ?,63 

brachte  es  nicht  über  sich,  den  Bruder  mit  dem  Vater  allein  zu  lassen.  Die 
Mutter  zieht  zum  Vater  zurück.  Ich  stelle  als  Bedingung  der  Behandlung  die 
Isolierung  des  Kranken,  mäßige  Beschäftigung,  worauf  die  Mutter  scheinbar 
eingeht.  Am  nächsten  Tage  schreibt  mir  der  Kranke,  daß  er  nicht  imstande 
sei,  mit  seinen  Anfällen  in  einer  fremden  Wohnung  zu  leben,  er  bricht  infolge- 
dessen die  Behandlung  ab.  Eine  Erfahrung,  die  ich  schon  mit  dem  Epileptiker 
Nr.  51  gemacht  habe. 

Die  spezifische  Phantasie  in  seinen  Szenen,  in  denen  er  immer  passiv 
war,  stellte  ihn  als  Mutter  dar,  die  sich  dem  Vater  hingab.  Folgender  Traum 
brachte  einige  Aufklärungen: 

Ich  liege  im  Bette  in  einer  merkwürdigen  Kleidung,  mit  einer 
Haube  am  Kopfe  und  einem  grünen  Schlafrock.  Ich  blicke  in  einen  Spiegel 
und  statt  meines  Bildes  sehe  ich  die  Mutter,  über  die  sich  der  Vater  beugt 
und  ihr  einen  Kuß  gibt.  Nun  verschmilzt  das  Spiegelbild  mit  dem  ur- 
sprünglichen dadurch  zu  einem  Bilde,  daß  sich  die  beiden  Bilder  nähern 
und  miteinander  vereinigen.  Ich  fühle,  wie  ich  mich  in  ein  Weib  ver- 
wandle und  alles  Männliche  von  mir  abfällt.  Ich  habe  lange  schwarze 
Haare  eine  weiße  Haut  und  eine  hello  Stimme.  Meine  Arme  strecken 
sich  aus  um  einen  Mann  zu  umarmen,  da  erwache  ich  mit  Angst  und 
Herzklopfen. 
Eine  Analyse  dieses  Traumes  ist  wohl  überflüssig.  Der  Kranke  wollte 
ihn  nicht  verstehen. 

Aber  auch  die  Fixierung  an  die  Mutter  ist  häufig  mit  Haß  mar- 
kiert. Man  glaube  nicht,  daß  der  Homosexuelle  immer  ein  gutes  Ver- 
hältnis zu  seiner  Mutter  hat.  Es  kommt  auch  vor,  daß  sich  die  Liebe 
zur  Mutter  hinter  einem  bewußten  Haß  und  einem  unnatürlichen  Ekel 
verbirgt,  wie  der  nächste  Fall  beweist: 

Fall  Nr.  69.  H.  U.,  24jähriger  Bildhauer,  ist,  seit  er  sich  erinnern  kann, 
homosexuell.  Seine  Neigung  sind  immer  Kellner  und  Schankburschen,  immer 
Leute,  die  in  einem  Gasthausgewerbe  zu  tun  haben.  Hat  vier  Schwestern  und 
noch  einen  älteren  Bruder,  der  nach  Amerika  gehen  mußte  und  verschollen 
ist.  Sein  Vater  ist  Schriftsteller,  ein  genialer,  aber  verkommener  Mann,  der  im 
Journalismus  endete.  Er  hängt  mit  allen  Fasern  seines  Herzens  an  dem  Vater, 
den  er  gegen  die  Angriffe  der  Mutter  verteidigen  muß.  welche  müde  ist,  die 
unaufhörlichen  Liebesaffären  ihres  Mannes  zu  ertragen.  Der  Vater  lebt  fort- 
während in  irgend  einer  Ekstase,  die  nur  einige  Tage  bis  zu  einer  Woche 
dauert.  Er  ist  nicht  wählerisch  und  verschmäht  weder  Dienstmädchen  noch 
Dirnen,  hat  täglich  ein  anderes  Rendezvous  und  vergeudet  auf  diese  Weise 
einen  großen  Teil  seines  Einkommens.  Im  Hause  gibt  es  immer  Szenen,  so 
daß  der  Vater  nicht  gerne  in  der  Familie  bleibt  und  auch  die  Abende  im 
Wirtshaus  verbringt.  Das  Verhältnis  zwischen  Sohn  und  Mutter  ist  ebenso 
unleidlich  wie  zwischen  den  Eltern.  Der  Sohn  läßt  es  seine  Mutter  immer 
fühlen,  daß  sie  ihm  unausstehlich  ist.  Kommt  sie  ihm  im  Zimmer  näher,  so 
weicht  er  ihr  aus  und  ruft:  Rühr  mich  nicht  an,  mir  graust  vor  dir!  Er  läßt 
sich  von  ihr  nicht  streicheln,  hat  kein  gutes,  freundliches  Wort  für  die  arme 
gequälte  Frau.  Auch  gegen  seine  Schwestern  ist  er  immer  sarkastisch,  kühl, 
abweisend  und  liebt  es,  sie  mit  ihren  Verehrern  aufzuziehen  und  zynische  Be- 
merkungen über  sie  zu  machen.   Die  Sache  drängt  zur  Katastrophe,  er  muß 


364 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


das  Haus  verlassen  und  will  keinen  von  der  Familie  sehen  mit  Ausnahme 
des  Vaters,  den  er  täglich  in  der  Redaktion  aufsucht.  Er  haßt  alle  Frauen 
fanatisch  und  schwört  auf  Strindberg  und  auf  Weininger. 

Hinter  diesem  Frauenhaß  verbirgt  sich  eine  große  Liebe  zu  der  Mutter, 
den  Schwestern  und  allen  Frauen.  Er  gleicht  darin  vollkommen  dem  Vater, 
dessen  Schicksal  er  nicht  teilen  will.  Er  schützt  sich  gegen  die  Liebe  zu  der 
Mutter,  weil  er  dann  verloren  wäre  und  den  Frauen  erliegen  würde.  Die  furcht- 
baren Szenen,  die  er  in  der  Kindheit  mitgemacht  hat,  zeigten  ihm  einen  Vater, 
der  sich  durch  die  Frauen  ruinierte,  der  sein  hohes  Ziel  nicht  erreichen  konnte, 
weil  er  alle  seine  Kräfte  in  unzähligen  Liebesabenteuern  verzettelte.  Die  Homo- 
sexualität soll  ihm  ein  Schutz  gegen  die  Frauen  sein.  Die  Kellnerliebe  erklärt 
sich  aus  dem  Umstände,  daß  seine  Mutter  eine  Kellnerin  war,  vom  Vater  ge- 
heiratet wurde,  weil  sie  von  ihm  schwanger  wurde  und  er  das  Kind  legiti- 
mieren wollte.  Er  unterbricht  die  Analyse  nach  zwei  Wochen,  weil  er  fühlt, 
daß  seine  Einstellung  gegen  die  Frauen  erschüttert  wird.  Er  fühlt  sich  aber 
in  dieser  Einstellung  sicher.  Unter  den  Kellnern  bevorzugt  er  kleine  Jungen, 
welche  das  Gesicht  seiner  Schwester  zeigen. 

Diese  Fixierung  an  die  Schwester  ist  gar  nicht  so  selten,  wie  der 
nächste  Fall  illustriert,  den  ich  noch  in  den  Anfängen  meiner  ana- 
lytischen Tätigkeit  beobachten  konnte. 

Fall  Nr.  70.  Herr  P.  Gr.,  ein  Realschulprofessor,  sucht  mich  auf,  weil  er 
seit  einigen  Wochen  von  einer  Leidenschaft  befallen  wurde,  die  ihm  alle 
Lebensfreude  zu  zerstören  droht.  Er  ist  26  Jahre  alt  und  hat  noch  keinen  Ge- 
schlechtsverkehr gehabt.  Ja,  er  hat  noch  nicht  einmal  eine  rechte  Liebe  durch- 
gemacht. Da  traf  er  vor  einigen  Monaten  ein  Mädchen,  das  ihm  sehr  gefiel,  mit 
dem  er  sich  verlobte.  Sie  sollen  in  einem  halben  Jahre  heiraten.  Es  ist  dies 
eine  Freundin  einer  seiner  Schwestern,  die  er  vorher  nicht  beachtete,  aber 
bei  einem  Ausfluge  so  kennen  und  schätzen  lernte,  daß  er  sich  blitzschnell  in 
sie  verliebte.  Es  war  keine  große,  flammende  Liebe,  mehr  ein  gegenseitiges 
Verstehen  und  ein  starkes  seelisches  Band.  Er  war  abstinent  aus  Überzeugung. 
Er  wollte  keusch  in  die  Ehe  treten  und  war  stolz  darauf,  daß  er  in  dieser 
Hinsicht  anders  war  als  seine  Freunde  und  Kollegen.  Da  trat  ein  Ereignis  in 
seinem  Leben  auf,  das  ihn  zu  erschüttern  drohte  und  ihn  zum  Selbstmord- 
kandidaten machte.   Ich  erzähle  es  mit  seinen  Worten: 

„In  meiner  Klasse  befindet  sich  ein  sehr  schöner,  gut  gewachsener, 
schlanker,  intelligenter  Junge,  der  mir  durch  seine  guten  Antworten  und  seine 
feinen  Manieren  auffiel.  Ich  stellte  gerne  an  ihn  Fragen,  wenn  die  anderen 
Schüler  versagten,  weil  ich  sicher  war,  eine  gute  Antwort  zu  erhalten,  und 
hielt  den  anderen  Jungen  meinen  Liebling  öfter  als  Beispiel  vor,  nach  dem 
sie  sich  richten  sollten.  Eines  Nachts  aber  träumte  ich,  daß  der  Junge  in 
meinem  Bette  liege  und  ich  ihn  umarmte  und  küßte.  Ich  wachte  erschrocken 
auf  und  wußte  mich  bald  zu  beruhigen.  Unsinn!  —  sagte  ich  mir.  Was  träumt 
man  nicht  alles  zusammen!  In  der  Schule  aber  merkte  ich  an  diesem  Tage  eine 
gewisse  Befangenheit  dem  Jungen  gegenüber,  weil  ich  immer  an  den  Traum 
denken  mußte.  Ich  vermied  es,  an  ihn  eine  Frage  zu  stellen.  Wie  vorher 
schon  häufig  wartete  der  Junge  vor  der  Schule  auf  mich  und  fragte  mich,  ob 
er  mitgehen  dürfe.  Wir  hatten  den  gleichen  Weg  und  ich  benützte  gern  diese 
Spaziergänge,  um  mit  ihm  zu  plaudern.  Es  zerstreute  mich.  Ich  hörte  allerlei, 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  3G5 

wie  die  Schüler  über  die  Lehrer  denken,  was  mir  sehr  wichtig  schien.  Denn 
ich  habe  eine  sehr  hohe  Auffassung  vom  Beruf  des  Lehrers.  Lehren  heißt 
Seelen  bilden  und  so  wollte  auch  ich  alles  Edle  und  Hohe  in  die  Seele  dieses 
Kindes  pflanzen. 

Ich  gestattete  ihm  gerne  auch  an  diesem  Tage  die  Begleitung.  Ich  war 
auffallend  zerstreut  und  wortkarg.  Während  ich  ihn  vorher  hie  und  da  unter 
den  Arm  genommen  hatte,  vermied  ich  diesmal  alle  Vertraulichkeiten,  weil 
der  Traum  sich  zwischen  mich  und  den  schönen  Knaben  gestellt  und  alle  Ver- 
traulichkeit und  Unbefangenheit  zerstört  hatte.  Ich  kam  nach  Hause  und  ging 
rasch  zu  meiner  Braut.  Sie  fand  mich  zerstreut,  wollte  den  Grund  wissen,  den 
ich  aber  aus  guten  Gründen  verschwieg.  Ich  wollte  mit  ihr  zärtlich  sein, 
stachelte  mich  mit  Küssen  und  Umarmungen  auf.  Aber  o  Schrecken!  Mitten 
in  dem  Kusse  dachte  ich  an  den  Jungen  und  wie  ich  ihre  Lippen  so  heiß  fühlte, 
schien  es  mir,  es  wären  die  Lippen  meines  Schülers.  Ich  ließ  sie  erschrocken 
aus  meinen  Armen,  schützte  ein  Unwohlsein  vor  und  eilte  nach  Hause. 

Ich  war  so  erregt,  daß  ich  lange  nicht  einschlafen  konnte.  Ich  nahm  mir 
vor,  die  törichte  Leidenschaft  zu  bekämpfen.  Ich  hatte  wohl  vorher  flüchtig 
von  Knabenliebe  gehört,  wußte  auch,  daß  sie  in  Griechenland  gang  und  gebe 
gewesen,  allein  nie  war  mir  ein  Gedanke  an  einen  Mann  oder  einen  Jungen 
gekommen.  Ich  fühlte,  daß  ich  nicht  länger  Lehrer  bleiben  durfte,  wenn  es 
mir  nicht  gelang,  der  Leidenschaft  Herr  zu  werden  und  die  Wirkungen  des 
Traumbildes,  zu  dem  wohl  unbewußte  Wünsche  Anlaß  gegeben  hatten,  aus- 
zulöschen. Ich  schwur  mir,  mit  mir  strenge  zu  sein,  die  Bevorzugung  des 
Knaben  aufzugeben,  seine  Begleitungen  nicht  mehr  herauszufordern.  Denn  ich 
hatte  ihn  zuerst  angesprochen  und  aufgefordert,  mit  mir  gemeinsam  nach 
Hause  zu  gehen.  Ich  wollte  stark  sein  und  wieder  meine  ganze  Liebe  und 
mein  ganzes  Sehnen  meiner  Braut  zuwenden. 

Am  nächsten  Schultage  zwang  ich  mich,  nicht  in  die  Richtung  zu  sehen, 
wo  der  Knabe  saß.  Aber  ich  mußte  hinsehen  und  der  eine  flüchtige  Blick 
trieb  mir  das  Blut  in  die  Wangen.  Er  war  schön  wie  ein  griechischer  Knabe; 
so  edel  geformt  seine  Züge  und  so  leuchtend  sein  Auge,  daß  ich  mich  am 
liebsten  stundenlang  in  dieses  herrliche  Antlitz  vertieft  hätte.  Ich  erwachte  aus 
meinen  Phantasien,  die  der  Klasse  hoffentlich  nicht  auffielen.  Ich  wollte  aber 
den  Eindruck  verlöschen,  den  mein  Hinstarren  auf  den  Knaben  bei  den 
Kindern  hervorgerufen  haben  mochte  und  rief  den  Jungen  auf.  Ich  war  strenge, 
unbarmherzig  strenge  mit  ihm,  suchte  nach  Fehlern.  Und  wer  findet  keine 
Fehler,  wenn  er  sie  sucht?  Dann  tadelte  ich  den  Knaben  so  strenge,  daß  er 
zu  weinen  anfing  und  sich  weinend  in  die  Bank  setzte  und  lange  nicht  be- 
ruhigen konnte.  Das  erweckte  erst  recht  meinen  Zorn.  Ich  wollte  die  Stimme 
des  Innern  übertönen,  die  mir  zurief:  Es  ist  ein  Unrecht,  daß  du  den  guten 
mngen  Freund  so  marterst,  er  kann  ja  nichts  für  deine  bösen  Gedanken!  .  .  . 
Ich  wurde  noch  strenger  und  schrie  ihn  an. 

Auf  der  Gasse  traute  er  eich  nicht,  mich  zu  begleiten,  ich  eilte  rasch 
davon  und  lief  einige  Stunden  wie  ein  Verrückter  durch  die  Straßen.  Ich 
machte  mir  Vorwürfe  und  weinte  um  den  verlorenen  Spaziergang,  um  das 
schöne  freundschaftliche  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler.  Ich  nahm 
mir  vor,  am  nächsten  Tage  gerechter  zu  sein  und  mich  um  den  Knaben  nicht 
zu  bekümmern.  Aber  eine  wilde  dämonische  Kraft,  die  starker  war  als  meine 
guten  Vorsätze,  trieb  mich  dazu,  dem  Knaben  wieder  wehe  zu  tun  und  ihn 
vor  der  Klasse  herabzusetzen.    Es  war,  als  ob  ich  mich  für  das  Leid  hätte 


gß(3  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

rächen  wollen,  das  er  mir  angetan  hatte.  Ich  wußte,  daß  ich  mich  selbst 
damit  strafte,  daß  ich  mehr  darunter  litt  als  der  Knabe,  der  sieh  veränderte, 
schlichtem  wurde,  sehr  schlecht  aussah  und  sichtbar  unter  der  ungerechten  Be- 
handlung litt.  Ich  wurde  mißgestimmt,  mürrisch,  gereizt.  Ich  kam  vollkommen 
aus  dem  seelischen  Gleichgewichte.  Ich  begann,  die  Gesellschaft  meiner  Braut 
zu  meiden.  Es  schien  mir  wie  eine  Entweihung  ihrer  reinen  Liebe  zu  sein, 
daß  ich  nun  in  Liebe  zu  einem  Knaben  entbrannt  war.  Sie  wurde  auch  kühler 
und  zurückhaltender,  weil  sie  sich  mein  Wesen  nicht  erklären  konnte. 

Es  wurde  allmählich  etwas  besser  in  der  Schule.  Ich  konnte  mich  be- 
herrschen und  etwas  gerechter  werden.  Auch  die  Spaziergänge  wurden  wieder 
aufgenommen,  der  Knabe  begann  mich  wieder  zu  begleiten  und  wir  gingen 
manchmal  sogar  einige  Stunden,  trafen  uns  auch  an  Feiertagen.  In  seiner 
Nähe  war  ich  glücklich  und  alle  Wünsche  schwiegen.  Ich  freute  mich  seiner 
Schönheit  und  seines  regen  Geistes  und  zählte  schon  die  Minuten,  bis  wir  un6 
sehen  sollten. 

Da  trat  ein  Ereignis  ein,  das  mir  die  Augen  öffnete.  Meine  Braut  schrieb 
mir  einen  Brief,  in  dem  sie  mir  die  Auflösung  der  Verlobung  ankündigte. 
Ich  war  nicht  einmal  so  verzweifelt,  als  ich  es  mir  vorgestellt  hatte,  wenn 
ich  vorher  diese  Eventualität  überdacht  hatte.  Nun  gut  —  dachte  ich  —  jetzt 
kannst  du  dich  ganz  deinem  geliebten  Knaben  hingeben.  Zugleich  überfiel 
mich  am  Tage  eine  sinnliche  Erregung,  wie  sie  nur  einmal  in  meinem  Traume 
aufgetreten  war.  Nun  wußte  ich,  daß  ich  den  Knaben  meiden  mußte,  wenn 
ich  nicht  ein  Verbrechen  begehen  wollte.  Meine  erste  Aufgabe  war  nun:  Die 
Braut  wieder  zu  versöhnen,  die  zweite,  aus  der  Schule  fortzukommen,  um  den 
Knaben  nicht  mehr  zu  sehen.  Meine  Braut  blieb  fest  und  meinte,  sie  hätte 
sich  überzeugt,  daß  ich  sie  nicht  liebe.  Ich  hätte  vor  ihr  Heimlichkeiten.  Schon 
war  ich  auf  dem  besten  Wege,  ihr  die  ganze  Wahrheit  zu  sagen.  Ich  stürzte 
mich  weinend  zu  ihren  Füßen.  Sie  sagte  ruhig:  „Laß  das!  Was  gebrochen 
ist,  kann  man  nicht  mehr  ganz  machen.  Es  ist  besser,  wenn  wir  auseinander- 
gehen. Mache  mir  nicht  den  Abschied  schwer.  Gehen  wir  als  gute  Freunde 
auseinander  und  bewahre  mir  ein  gutes  Angedenken."  Dann  eilte  sie  aus  dem 

Zimmer  und  ließ  mich  allein. 

t 

Als  ich  am  nächsten  Tag  in  die  Sehule  kam,  fehlte  der  Knabe,  er  war 
krank.  Ein  Knabe  meldete,  er  habe  einen  Scharlach.  Meine  Angst  um  ihn 
war  grenzenlos.  Ich  hatte  keinen  anderen  Gedanken  als  den  Knaben.  Täglich 
mußte  mir  ein  Schüler  über  sein  Befinden  Bericht  erstatten.  Ich  wanderte  oft 
vor  seinem  Hause  auf  und  ab  und  manche  Nacht  blickte  ich  zu  dem  erleuchteten 
Fenster  hinauf,  wo  eine  Schwester  Krankenwache  hielt.  Schließlich  hörte  ich, 
daß  es  besser  ginge,  er  sei  außer  Gefahr  und  würde  in  einigen  Wochen  in 
die  Schule  kommen.  Ich  mußte  mich  in  der  Schule  zusammennehmen,  um  über- 
haupt vortragen  zu  können.  Meine  Gedanken  waren  immer  bei  meinem  ge- 
liebten Schüler.  Ich  rechnete  immer  in  Gedanken:  Wie  viele  Tage  mußt  du 
noch  schmachten?  In  drei  Wochen  kommt  er.   So  jubelte  es  in  mir  .  .  . 

Es  mußte  anders  werden.  Ich  konnte  das  Leben  so  nicht  weiter  er- 
tragen. Ich  vertraute  mich  meinem  Vater  an,  der  mich  zu  Ihnen  schickte 
und  meinte,  Sie  würden  in  diesem  schwierigen  Falle  schon  Rat  und  Hilfe 
wissen." 

Ich  wußte  vorerst  noch  keinen  Rat  und  keine  Hilfe.  Ich  ließ  den  Liebes- 
'  kranken  erst  sein  Leid  frei  ausströmen,  was  schon  eine  große  Erleichterung 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  367 

verschaffte.  Dann  aber  verschaffte  ich  mir  Einblick  in  sein  Seelenleben  vor  der 
Knabenliebe. 

Es  stellte  sich  heraus,  daß  er  eigentlich  nur  einen  Menschen  geliebt 
hatte  und  liebte:  seine  Schwester.  Die  Liebe  zur  Braut  war  eine  Ersatzliebe 
für  seine  Schwester.  Auch  seine  Braut  war  homosexuell  und  liebte  in  ihm 
den  Bruder  ihrer  besten  Freundin.  Als  sich  diese  Freundin  während  der  Ver- 
lobung zurückzog  und  eine  andere  Freundschaft  bevorzugte  (offenbar  unter 
dem  Eindrucke  unbewußter  Eifersucht  auf  den  Bruder!),  erkaltete  ihr  Gefühl 
für  den  Bräutigam  und  sie  nahm  den  Anlaß  gerne  auf,  um  mit  ihm  zu  brechen. 
Das  trat  bald  zutage  und  wirkte  außerordentlich  entlastend  auf  den  Professor, 
der  6ich  die  heftigsten  Vorwürfe  gemacht  hatte. 

Je  mehr  sich  die  Braut  seiner  Schwester  ent- 
fremdete, desto  gleichgültiger  wurde  sie  ihm.  Der 
Knabe  aber  hatte  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit 
seiner   Schwester! 

An  diese  Ähnlichkeit  hatte  er  vorher  nie  gedacht!  Sie  hatte  die  gleichen 
Augen,  die  gleiche  Haarfarbe  und  fast  die  gleiche  Stimme,  die  bei  ihm  eine 
so  große  Rolle  spielte.  Um  jene  kritische  Zeit  interessierte  sich  die  Schwester 
für  einen  Arzt.  Er  fühlte,  daß  ihm  ihre  Liebe  verloren  ging  und  er  suchte 
einen  Ersatz  für  sie  und  fand  ihn  in  dem  Knaben  .  .  . 

Nun  konnte  er  sich  mit  der  Schwester  offen  aussprechen.  Sie  hatte  die 
nötige  psychologische  Vorbildung,  um  ihn  ganz  zu  verstehen  und  ihm  die 
Hand  zur  Besserung  zu  reichen. 

Die  ganze  ungeheure  Erregung  flaute  ab.  Die  Liebe  zu  dem  Knaben 
wich  einem  sanften  Wohlwollen,  das  ihn  nicht  mehr  störte.  Die  Spaziergänge 
machte  er  nun  mit  seiner  Schwester,  die  ihn  öfters  aus  der  Schule  abholte. 
Ich  hörte  noch  Monate  nachher,  daß  er  ganz  ruhig  wäre  und  keinen  Grund 
zur  Klage  hätte.  Es  gelang  ihm,  die  Liebe  zu  der  Schwester  in  gemeinsame 
geistige  Interessen  zu  sublimieren,  so  weit  es  eben  möglich  war.  Aber  offene 
Verhältnisse  schaffen  eine  gesunde  Atmosphäre,  welche  die  Überwindung  von 
Inzestwünschen  leichter  ermöglichen  als  die  Schleichwege  und  Umwege  der 
Verdrängung  und  Übertragung. 

Ich  habe  diesen  Fall  so  ausführlich  geschildert,  weil  er  typisch  ist 
und  die  Übertragung  von  der  Schwester  auf  einen  Knaben  häufiger 
vorkommt,  als  man  nach  der  bisher  publizierten  Kasuistik  der  Homo- 
sexualität a  priori  annehmen  würde.    Es  ist  auch  zu  berücksichtigen, 

daß  die  Schwester  ein  verjüngtes  Ebenbild  der  Mutter  darstellt.1) 
» 

*)  Ibsen,  der  große  Psychologe,  hat  dio  Umwandlung  der  Schwesternliebe  in 
eine  Knabenliebe  mit  großer  Meisterschaft  geschildert.  In  „Klein  Eyolf"  verliert  der 
Schriftsteller  Almers  plötzlich  die  Liebe  zu  seiner  Frau  und  will  sich  nur  seinem 
Kinde  widmen.  Dies  Kind  wurde  „Klein  Eyolf"  genannt,  wie  seine  Schwester,  die 
einstens  Knabenklcider  anlegte  und  sich  auch  als  „Klein  Eyolf"  bezeichnete.  Die  Eltern 
hatten  einen  Knaben  erwartet.  Almers  wandelt  die  Schwesternliebe,  welche  durch  das 
ganze  Stück  zieht,  in  die  Knabenliebe  um.  Er  hat  das  Gesetz  der  „Umwandlung" 
erfunden,  das  der  von  mir  in  diesen  Kapiteln  geschilderten  Metamorphose  entspricht. 
Klein  Eyolf  ist  eigentlich  das  Trauerspiel  der  latenten,  auf  die  Schwesternliebe  zurück- 
gehenden  Homosexualität.    Almere   kann   sich   nicht   teilen,   er  kann   nicht   homo-   und 


3(j;S  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

An  dieser  Stelle  möchte  ich  noch  einen  wichtigen  Fall  aus  der 
Erfahrung  von  F6r6  mitteilen: 

Fall  Nr.  71.  M.  X.,  34  Jahre  alt,  ist  ein  intelligenter  und  gebildeter 
Mensch.  Schon  als  Kind  liebte  er  die  Einsamkeit  und  die  Introspektion  nahm 
einen  großen  Platz  in  seinem  Seelenleben  ein.  Man  findet  keine  anderen  Spuren 
von  neuropathischem  Temperament  als  Bettnässen  bis  zum  6.  oder  7.  Jahre, 
und  nächtliche  Angstzustände.  Seit  seinem  siebenten  Jahr  wird  er  von 
Zweifeln  bezüglich  Rechtschaffenheit  und  sexueller  Moral  gequält.  Er  suchte 
in  seinen  Kleidern  und  seinem  Stimmer,  ob  er  nicht  etwas  linde,  was  ihm  nicht 
gehöre ;  er  fragte  sich,  ob  er  seine  Schwester  nicht 
entjungfert  habe,  weil  er;  ihr  vor  einigen  Jahren, 
ohne  es  zu  wollen,  als  sie  beim  Baden  im  Meer  zu- 
sammen spielten,  den  Bauch  berührt  hatte.  Als  er 
9  Jahre  alt  war,  wurde  er  von  einer  heftigen  Liebe  zu 
einem  kleinen  Mädchen  von  7  Jahren  erfaßt;  es  war 
das  einzige  Mal  in  seinem  Leben,   daß  er  für  ein  anders- 


heterosexuell sein.  Diese  Unfähigkeit  der  Teilung,  die  Wurzel  der  echten  Homosexualität, 
geht  durch  das  ganze  Stück.  Rita  kann  nicht  teilen,  Almers  kann  nicht  teilen,  er  muß 
sich  ganz  geben.  Der  Wegbaumeister  will  nicht  ein  halbes  Weib,  er  kann  auch  nicht 
teilen.  Almers  kann  nicht  zwischen  Frau  und  Schwester  teilen.  Er  umarmt  die  Frau 
und  denkt  an  die  Schwester.  (Die  Schwester,  die  er  6einen  kleinen  und  seinen  großen 
Eyolf  nannte.  Die  Schwester  in  Hosen,  die  ihm  sein  Ideal  verkörperte,  ein  Weib  in 
Männerkleidern,  ein  bisexuelles  Wesen,  bei  dem  man  nicht  teilen  braucht.)  „Die  G e- 
schwisterliebe  ist  das  einzige  Verhältnis,  das  dem  Gesetz 
der  Wandlung  nicht  unterworfen  is  t."  Rank  (Das  Inzestmotiv  in 
Dichtung  und  Sage.  Franz  Deuticke,  1912,  S.  654)  und  Pfister  (Anwendung  der  Psycho- 
analyse in  der  Pädagogik  und  Seelsorge,  S.  72)  sehen  wohl  den  Inzest,  aber  übersehen, 
daß  sich  die  Handlung  um  den  Ausbruch  einer  Homosexualität  und  um  die  Psychogenes? 
der  Homosexualität  dreht.  Es  handelt  sich  um  eine  Flucht  vor  der  Schwester  zu  dem 
Mann,  eine  Homosexualität,  die  stecken  geblieben  ist  und  sich  auf  den  Knaben  sub- 
limierte.  Das  Drama  ist  noch  voll  von  solchen  Heimlichkeiten  und  fordert  zu  einer 
genauen  Analyse  heraus.  Denn  Almers,  seine  Frau  und  sein  Kind  werden  die  Vertreter 
der  weiblichen,  männlichen  und  infantilen  Komponente  in  uns,  die  wir  zu  vereinigen 
trachten  (Dreieinigkeit!).  Die  Regression  auf  das  Infantile  setzt  mit  der  Wcltflucht 
ein.  (Ausflug  in  die  Einsamkeit  des  Hochgebirges.)  Es  ist  der  einsame  Ibsen,  der  als 
Wegbaumeister  einen  neuen  einsamen  Höhenweg  anlegen  will  und  der  nicht  merkt,  daß 
dieser  Weg  in  sein  Jugendland  zurückgeht.  Irgendwo  im  Meere  seiner  Seele  schwimmt 
das  tote  Kind  und  starrt  mit  offenen  Augen  in  die  Unendlichkeit.  Ein  Kind  wird  in 
diesem  Stücke  getötet.  Es  ist  der  mißlungene  Versuch  einer  Regression  ins  Infantile. 
Die  Kindheit  ist  endgültig  ertrunken  und  die  Erinnerung  (Die  Rattcnmamsel !)  versenkt 
.  alle  nagenden  und  beißenden  Vorwürfe  wieder  in  das  Meer  der  Seele.  Sie  6ind  tot  die 
Erinnerungen  .  .  .  und  das  nächste  Stück  behandelt  das  Thema:  Wenn  die  Toten  er- 
wachen. Sie  sind  aber  schon  in  Klein  Eyolf  erwacht  ...  die  Toten,  die  Ibsen  in  seiner 
Brust  trug,  die  Leiche,  von  der  Rita  so  oft  spricht.  Das  Kind  in  ihm  ist  tot,  und  der 
Mann  droht  nun  auch  zu  sterben.  Es  ist  wie  das  Geständnis  der  Impotenz,  die  in  der 
großen  Szene  Rita-Almers  mit  unglaublicher  Realität  geschildert  wird.  Der  Mann 
/  in  ihm  stirbt  und  das  Weib  in  ihm  stellt  die  Forderungen.    Näheres  über  diese  endo- 

psychischen    Vorgänge    in   meinem-  Buche   über    Masochismus. 


Die  Rolle  des  Vaters  uud  der  Geschwister.  -  Der  Kiuderhaß.  369 

geschlechtliches  Wesen  eine  Empfindung  hatte,  die 
nicht  mit  Ekel  verbunden  war.  Er  behauptet  übrigens,  daß 
zu  dieser  Zeit  seine  Gefühle  keinerlei  physischen  Hintergrund  hatten,  und 
daß  er  erst  etwas  später  zu  masturbieren  begann,  eine  Gewohnheit,  die  er  seit- 
her nicht  abgelegt  hat. 

Er  war  beiläufig  19  Jahre  alt,  als  er  anfing,  sich  zu  jungen  Burschen 
hingezogen  zu  fühlen;  er  bekräftigt,  daß  er  trotz  seiner  Wünsche  immer  nur 
ohne  physische  Folgerung  geliebt  hat;  er  wird  durch  Skrupeln,  die  durchaus 
nichts  mit  seiner  Anschauung  zu  tun  haben  und  die  er  als  weichlich  empfindet, 
zurückgehalten.  Seine  Neigungen  machen  sich  in  seinem  praktischen  Leben 
sehr  unangenehm  fühlbar:  er  wurde  gezwungen,  eine  Erziehungsanstalt,  in 
der  er  einen  sehr  vorteilhaften  Platz  hatte,  wo  er  aber  seiner  Neigungen  halber 
verspottet  wurde,  zu  verlassen;  er  mußte  auch  den  Verkehr  mit  einer  Familie, 
die  ihm  eine  sehr  wertvolle  Stütze  war,  aufgeben,  weil  er  einem  jungen  Mann, 
dem  zu  Ehren  er  bereits  die  Werke  eines  griechischen  Dichters  übersetzt  hatte, 
ein  Gedicht  in  lateinischer  Sprache  widmete.  Plötzlich  unterbricht  er  seinen 
Bericht:  „Sie  werden  mir  zugeben,  sagte  er  mir,  daß  ein  schöner  Jüngling, 
was  Körperformen  anbelangt,  jeder  Frau  weit  überlegen  ist.  Shakespeare 
liebte  die  Knaben;  Marlow  sagte,  daß  derjenige,  welcher  die  Knaben  und 
den  Tabak  nicht  liebe,  ein  Dummkopf  sei."  Er  betrachtet  seine  Inversion 
durchaus  nicht  als  etwas  Krankhaftes ;  seiner  Meinung  nach  ist  es  etwas  ebenso 
normales  als  das  andere.  Er  ist  übrigens  imstande,  normale,  sexuelle  Be- 
ziehungen zu  unterhalten  und  auf  Anraten  seines  Arztes  versuchte  er  sie 
sogar  als  Arznei  gegen  die  Gewohnheit  des  Masturbierens,  aber  sie  ließen 
ihm  jedesmal  ein  Gefühl  des  tiefsten  Ekels  und  Zweifel  in  Bezug  auf  An- 
steckung zurück.  Er  masturbiert  öfters  mehrmals  des  Tages  und  hat  wegen 
der  daraus  resultierenden  Folgeerscheinungen,  wie  Erschöpfung  und  intellek- 
tueller Unfähigkeit,  einen  Arzt  zu  Rate  gezogen;  es  ist  nicht  sicher,  ob  er 
seine  Angewohnheit  vom  ethischen  Standpunkt  aus'  als  verwerflich  empfindet, 
und  gibt  in  dieser  Beziehung  nur  zweideutige  Antworten.  Er  unterliegt  in 
Bezug  auf  seine  sexuellen  Funktionen  heftigen  Zweifeln;  wenn  er  morgens 
oder  den  Abend  vorher  masturbiert  hat,  kommt  ihm  der  Gedanke,  er  sei  im- 
potent, und  er  beginnt  aufs  neue;  plötzlich  fällt,  ihm  ein,  der  Orgasmus  sei 
nicht  genug  stark  gewesen:  neuerlicher  Versuch. 

Diese  Exzesse  werden  von  Depressionen  und  neurasthenischer  Unent- 
schlossenheit  mit  mehr  oder  minder  starkem  Zweifel  abgelöst;  er  erörtert  ver- 
schiedene Möglichkeiten  vor  dem  Aufstehen,  vor  dem  Anziehen,  vor  den  Mahl- 
zeiten; und  in  diesen  Zeiträumen  entstehen  die  fixen  Ideen  und  die  krank- 
haften Zweifel.  Als  M.  mich  das  erste  Mal  zu  Rate  zog,  litt  er  seit  zwei  Tagen 
an  ähnlichen  Anfällen,  er  war  davon  überzeugt,  daß  ein  citriges  Wimmerl, 
welches  er  am  Kinn  hatte,  ein  Zeichen  von  Syphilis  sei,  welche  er  sich  von  einer 
Frau,  mit  der  er  vor  vier  Monaten  den  Beischlaf  ausgeübt  hatte,  geholt  habe. 
Seit  dieser  Zweifel  sich  seiner  bemächtigt  hatte,  hatte  er  alle  Spezialbe- 
handlungen,  deren  er  habhaft  werden  konnte,  gelesen.  Jede  Beschreibung,  die 
er  las,  bestärkte  ihn  in  seiner  Überzeugung.  Er  zeigte  keinerlei  Merkmal 
einer  Lues.  Er  hatte  sich  vor  vier  Monaten  nicht  syphilitisch  infiziert  und 
die  Verletzung,  die  er  im  Gesicht  hatte,  wies  auch  nicht  auf  Syphilis  hin; 
zwei  Spezialisten,  die  er  tags  zuvor  zu  Rate  gezogen  hatte,  hatten  ihm  dies 
übrigens  bestätigt.  Aber  er  systematisierte  seine  Zweifel  dahin,  zu  erfahren, 
ob  die  Ansteckungszeichen  nicht  etwa  später  zum  Vorschein  kommen  könnten 

Stekel,  Stömngon  dos  Trieb-  und  Affoktlobens.  II.  2.AuB.  24 


370 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


und  6eine  kleine  Wunde  nicht  dann  syphilitischen  Charakter  annehmen  könne. 
Man  hatte  ihm  bereits  versichert,  daß  eine  so  lange  Verzögerung  von  An- 
6teckungserscheinungen  von  der  Regel  abweiche  und  ich  wiederholte  ihm  diese 
Versicherung.  Er  zweifelte  deshalb  nicht  weniger;  er  wollte  Genaueres  über 
die  Dauer  der  Ansteckungsgefahr  in  einem  wissenschaftlichen  Buch  lesen.  Als 
er  es  gelesen  hatte,  ging  er  befriedigt  weg;  aber  bald  kam  er  die  Treppe 
wieder  herauf  und  wartete  bis  die  Reihe  an  ihn  käme;  er  wollte  sich  die 
Nummer  des  Bandes  und  die  Seite  des  Lexikons  aufschreiben,  um  mit  Muße 
über  die  darin  enthaltenen  Beweisführungen  nachzugrübeln.  Trotzdem  hielten 
die  Zweifel  wegen  der  Infizierung  noch  drei  Monate  an. 

Ich  war  sehr  erstaunt,  als  ich  bei  einem  seiner  folgenden  Besuche  be- 
merkte, daß  er  bei  der  Schilderung  seiner  fixen  Ideen  und  Ängste  vollständig  an 
die  Syphilis  vergaß.  Es  fiel  ihm  schwer,  sie  wieder  ins  Gedächtnis  zurück- 
zurufen. Er  erzählte  daraufhin,  es  sei  nicht  das  erste  Mal,  daß  er  sich  bei 
solchen  Vergeßlichkeiten  ertappe,  daß  oftmals  Gedanken,  die  ihn  am  meisten 
von  allen  gequält  hätten,  für  eine  Zeitlang  vollständig  aus  seinem  Gedächtnis 
entschwanden  und  wenn  er  sich  an  dieselben  wieder  erinnerte,  es  nur  wie  die 
Erinnerung  an  einen  Traum  sei;  und  plötzlich  erzählte  er  mir,  daß  er  von 
dem  jungen  Mann,  den  er  monatelang  geliebt  hatte,  ohne  seine  Gedanken 
auf  etwas  anderes  konzentrieren  zu  können  und  dem  er  das  lateinische  Ge- 
dicht gewidmet  hatte,  sich  nur  ein  ganz  unbestimmtes  Bild  machen  könne, 
während  das  Bild  dessen  Vaters  und  der  Leute,  die  in  seinem  Haus  ver- 
kehrten, äußerst  klar  vor  seinen  Augen  stünde.  Er  besitzt  Aufzeichnungen 
über  diese  „Erscheinungen",  welche,  wären  sie  nicht  in  seiner  eigenen  Hand- 
schrift, ihm  wie  ein  Roman  erscheinen  würden.  Einige  dieser  „Erscheinungen" 
haben  sich  des  öfteren  zu  mehr  oder  minder  fernen  Zeitpunkten  wiederholt. 

Es  treten  Perioden  der  Besserung  seines  Zustandes  ein,  wenn  er  unter 
einem  psychischen  Einfluß  steht,  dem  es  gelingt,  seinen  Hang  zur  Ein- 
samkeit und  seine  Nahrungsaufnahme  zu  regeln,  aber  die  Umkehrung  seiner 
sexuellen  Empfindung  hat  sich  niemals  geändert.  (L'Instinct  Sexuel,  Paris 
1899,  Aneienne  Librairie  Germer  Bailiiere  et  Cie.,  Felix  Alcan  Editeur, 
S.  160—164.) 

Dieser  Fall  zeigt  uns  eine  deutliche  Einstellung  zur  Schwester. 
Denn  die  Angst,  die  Schwester  defloriert  zu  haben,  entspricht  einem 
Wunsche.  Auch  die  Angst  vor  Syphilis  entschleiert  sich  dem  Kundigen 
als  eine  Maske,  d.  i.  als  Angst  vor  dem  Inzeste.  Weil  dieser  Kranke 
in  jedem  Mädchen  eine  Schwester  sah,  mußte  er  sich  gegen  alle  Frauen 
sichern.  In  den  Traumzuständen  scheint  er  ein  Erlebnis  mit  der 
Schwester  wiederzuerleben. 

Derartige  Traumzustände  kommen  bei  Homosexuellen  außer- 
ordentlich häufig  vor.  Sie  versinken  dann  in  die  Jugend  und  erleben 
verschiedene  Szenen,  die  dem  Bewußtsein  nicht  nahen  dürfen. 

Ich  habe  auch  Fälle  beobachtet,  in  denen  Melodien  als  Reprä- 
sentanten dieser  Erinnerungen  auftauchten.  So  wurde  ein  Homo- 
sexueller monatelang  zwangsmäßig  von  einer  Melodie  verfolgt.  Die 
Analyse,  ergab,  daß  es  sich  um  ein  Lied  handelte,  das  seine  Mutter 
oft  gesungen  hatte  und  das  von  der  Falschheit  der  Frauen  handelte. 


. 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß. 


371 


Die  Familiengeschichte  des  Homosexuellen  kann  uns  die  Rätsel 
seiner  Einstellung  lösen  helfen. 

Allein  mit  Vater,  Mutter,  Schwester  und  Bruder  *)  ist  das  Ideal 
des  Homosexuellen  noch  nicht  erschöpft.  Wir  kommen  somit  zur  Ein- 
sicht, daß  die  Fixierung  an  die  Familie  überhaupt  irgend  eine  Beziehung 
zum  Problem  der  Homosexualität  hat,  daß  die  Homosexualität  häufig 
eine  Flucht  vor  dem  Inzest  darstellen  kann.  Wir  haben  allerdings  auch. 
Fälle  kennen  gelernt,  wo  sich  diese  Wurzeln  nicht  'nachweisen  lassen, 
besonders  in  den  bemerkenswerten  Formen  von  tardiver  Homosexuali- 
tät. Aber  warum  sollen  andere  psychische  Kräfte,  welche  sich  in 
Haß,  Ekel,  Angst  und  Scham  ausdrücken,  nicht  ebenfalls  zur  Homo- 
sexualität führen  können? 

Die  Liebe  zur  Familie  ist  eine  Form  des  Narzissmus.  Jedes 
Familienmitglied  ist  ein  Spiegelbild  von  uns  selbst.  Ich  kann  in  den 
Eltern,  in  den  Geschwistern  viel  leichter  mich  selbst  lieben,  als  in  einem 
Fremden.  Diese  Wahrheit  ist  zuerst  von  Leo  Berg  in  aller  Schärfe 
ausgesprochen  worden.  In  seinem  geistreichen  Werke  „Geschlechter" 
(Kulturprobleme  der  Gegenwart,  IL  Serie,  2.  Band,  Hüpeden  &  Merzyn, 
Verlag,  Berlin  1906)  sagt  er:  „Was  setzt  der  Homosexuelle  an  die 
Stelle  der  Fortpflanzung?  Zunächst  spielt  bei  ihm  die  Selbstsucht,  die 
Liebe  zum  Gleichen,  eine  viel  größere  Rolle  als  bei  dem 
Heterosexuellen,  den  die  Fremdartigkeit  reizt,  weshalb  auch  der  Fort- 
pflanzungstrieb bei  ihm  gewöhnlich  äußerst  schwach  ist,  aber  ausge- 
schaltet ist  er  natürlich  nicht.  Ein  junger  Arzt,  der  sich  mir  selbst 
als  Homosexueller  bekannte,  erzählte  mir  von  einem  Genossen,  der  eine 
wahnsinnige  Sehnsucht  nach  einem  Kinde  hätte.   Es  war  ein  mächtiger 


*)  Wie  früh  diese  Fixierung  an  den  Bruder  auftreten  kann,  die  dann  scheinbar 
verschwindet  und  als  angeborene  Homosexualität  imponiert,  das  zeigt  uns  folgende 
Stelle  aus  einer  Beobachtung  von  Hirschfcld:  „Ich  haßte  Knaben  und  Knabenspiele; 
meine  Schwester  war  mein  alter  Ego,  während  mein  13  Jahre  älterer 
Bruder,  ein  sehr  schöner  Mann,  mein  kindliches,  reine  6,  un- 
schuldiges Herz  furchtbar  verwirrte.  Ich  habe  ihn  weit  mehr 
seiner  Schönheit,  al6  seiner  guten  Eigenschaften  wegen 
angebetet.  Dabei  wurde  ich  äußerlich  immer  schroffer  gegen  ihn.  Ich  er- 
innere mich  genau,  daß  im  6.  oder  7.  Jahr  vorübergehend 
meines  Bruders  Schönheit  mir  wie  ein  ge offenbartes  My- 
sterium durch  Mark  und  Bein  zitterte.  Mit  10 Jahren  weinte  ich 
eine  ganze  Nacht,  als  ich  mich  in  seiner  mir  schaurigsüßen  Gegenwart  zur  Ruhe  habe 
begeben  müssen.  Ich  empfand  ein  Schamgefühl,  wie  ich  es  in  Mutters  und  Schwesters 
Gegenwart  nicht  kannte.  Klar  und  bewußt,  natürlich  als  tiefstes  Geheimnis  vor  ihm, 
habe  ich  ihn  vom  10.  bis  15.  Jahre  vergöttert,  am  höchsten  stand  diese  Verehrung 
vom  10.  bis  12.  Jahro,  als  er  sich  verheiratete.  Ich  war  todunglücklich,  daß  er  uns 
dadurch  ferner  rückte,  und  empfand  es  als  etwas  Entsetzliches,  daß  er,  wie  ich  glaubte, 
nun    seine    Jungfräulichkeit    einbüßt  e."    (Hirschfeld,   1.  c.  S.  46.) 

24* 


/ 


372  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Muttertrieb  in  ihm,  ein  Zeichen  seines  weiblichen  Geschlechtsemp- 
findens  bei  männlichem  Körper;  er  ist  ganz  Weib,  ganz  Hingebung, 
und  liebt  wie  ein  Weib,  nur  mit  dem  Fluche,  daß  er  dem  Manne  seiner 
Liebe  kein  Kind  gebären  kann."  Berg  verweist  schließlich  darauf,  daß 
die  Homosexuellen  ihre  F ortpflanz ungs-  und  Zeugungskraft'  ins 
Geistige  übertragen. 

Der  von  Berg  erwähnte  Fall  beweist  an  und  für  sich  nichts 
anderes,  als  daß  es  sich  um  eine  vollkommene  Identifizierung  mit  der 
Mutter  handelt.  Aber  daß  diese  Liebe  zum  Gleichen  Beziehungen  zur 
gewollten  Sterilität  hat,  das  habe  ich  längst  gefunden.  Der  Homo- 
sexuelle verzichtet  auf  die  Unsterblichkeit,  die  durch  die  Fortpflanzung 
bedingt  ist.  (Zahlreiche  homosexuelle  Künstler  erringen  sich  die  Un- 
sterblichkeit auf  geistigem  Gebiete.)  Diese  Einstellung  zeigt  uns  eine 
Rebellion  gegen  das  Natürliche  und  Gesetzmäßige.  Der  Homosexuelle 
ist  wirklich  der  Eigene  und  der  Einzige.  Er  hat  niemals  seinesgleichen, 
was  ja  seinen  geheimen  Stolz  ausmacht.  Das  „aparte  Gebaren",  worauf 
Freimark  a)  aufmerksam  macht,  der  Stolz  auf  die  Ausnahme  bringen 
ihn  auch  in  Opposition  zum  Fortpflanzungstrieb.  Er  will  nicht  sein 
wie  die  anderen.  Und  wenn  Gott  uns  dazu  bestimmt  hat,  Kinder  zu 
zeugen,  so  will  er  Goft  trotzen  und  gegen  alle  Teleologie  die  sinnlose 
Liebe,  die  Liebe  an  und  für  sich,  die  Liebe  ohne  Zweck,  die  Liebe 
wider  die  Natur  durchsetzen.  Es  ist  anzunehmen,  daß  die  Frauen 
diesen  der  Mütterlichkeit  feindlichen  Instinkt  viel  deutlicher  zeigen 
werden. 

Wer  wollte  nun  bezweifeln,  daß  die  Angst  vor  dem  Kinde,  vor 
der  Mütterlichkeit  eine  bedeutsame  soziale  Erscheinung  ist?  Sollte 
diese  Angst  vor  dem  Kinde  nur  den  Frauen  eigen  sein  und  nicht  auch 
den  Männern?  Sollte  sie  sich  nicht  als  Flucht  vor  der  Geschlechtsbe- 
stimmung äußern  können?  Wir  brauchen  nur  um  uns  zu  sehen.  Es 
wimmelt  von  jungen  Ehepaaren,  die  keine  Kinder  haben  wollen,  von 
anderen,  die  sich  mit  einem  oder  zwei  Kinder  begnügen.  In  dieser  Er- 
scheinung steckt  gewiß  ein  Stück  Homosexualität,  ein  Abweichen  von 
den  biblischen  Grundsätzen  der  Fortpflanzung.  Aber  aueh  ein  Rück- 
schlag eigener  Erfahrungen.  In  dem  Verhältnis  zwischen  Kindern  und 
Eltern  bereitet  sich  eine  neue  Phase  vor.  Der  uralte  Konflikt  zwischen 
neuer  und  alter  Generation,  zwischen  Vätern  und  Söhnen,  Müttern  und 
Töchtern,  Kindern  und  Eltern  verlangt  nach  neuen  Normen.  Nicht 
ohne  Grund  ist  unsere  Zeit  das  Jahrhundert  des  Kindes  genannt 
worden,  wurde  das  Schlagwort  vom  Recht  des  Kindes  geprägt.  Je 
feindlicher  ein  Kind  gegen  seine  Eltern   (im  Unbewußten)   eingestellt 

1)  Züchtbarkeit  der  Homosexualität.  Sexualproblerae.  6.  Jahrg.,  12.  H.,   1910. 


Die  Kolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderhaß.  373 

ist,  desto  größer  muß  die  Angst  vor  den  eigenen  Kindern  sein,  in 
denen  man  sich  Feinde  und  Rivalen  erzieht.1)  Es  ist  auch  so,  als  ob 
das  eigene  Spiegelbild  uns  anziehen  und  abstoßen  würde,  als  ob  man 
sich  vor  dein  Gleichen  ebenso  fürchten  würde  wie  vor  dem  Fremden. 
Ein  uralter  Kampf  zwischen  Neuem  und  Altem  tobt  immer  in  uns. 
Gierig  nach  Neuem  kleben  wir  an  dem  Alten.  Im  Besitze  des  Neuen  v 
sehnen  wir  uns  nach  dem  Alten. 

Nirgends  setzt  sich  die  Bipolarität  stärker  durch  als  im  Sexuel- 
len.   Es  heißt,  daß  Gegensätze  sexuelle  Anziehungskraft  haben.    Die 
Erfahrung  des  Alltags  bestätigt  dies.    Aber  es  gibt  einen  Punkt,  wo 
der  Gegensatz  in  das  Gleiche  übergeht.   Les  extremes  se  touchent!  In 
jedem  von  uns  lebt  auch  ein  anderer,  der  den  vollen  Gegensatz  zu 
uns  bildet.    In  der  gegensätzlichen  Frau  lieben  wir  unseren  Gegensatz 
und  im  gleichen  Manne  versuchen  wir  vor  diesem  Gegensatze  zu  fliehen. 
Mutterinstinkt  und  Haß  vor  der  Mutterschaft  gehen  nicht  ge- 
trennt durch  die  menschliche  Seele.  In  der  homosexuellen  Frau  werden 
wir  immer  diesen  Haß  vor  der  Mutterschaft  finden  und  wo  sich  die 
Liebe  zum  Kinde  äußert,  erweist  sie  sich  als  Selbstbetrug  und  Phrase. 
Wir  werden  in  dem  Buche  über  die  Dyspareunie  der  Frau,  in  dem  einige 
homosexuelle  Frauen  geschildert  werden,    diese  Erfahrung  bestätigen 
können.    Wir  können  wohl  Zerrbilder    der  Kinderliebe  finden,    aber 
selten  die  Liebe,  wie  sie  dem  normalen  Weib  eigen  ist.   Auch  unser  in 
den  Knaben    verliebte  Professor,    den  wir  zuletzt    geschildert  haben, 
liebte  die  Kinder  als  solche  nicht  und  wollte  keine  Kinder  haben.    In 
seiner  Liebe  zu  dem  Knaben  rächte  sich  auch  der  unterdrückte  Vater- 
instinkt. 

Die  Lebensgeschichten  homosexueller  Frauen  unterscheiden  sich 
nur  in  dem  Punkte  von  denen  der  Männer,  daß  hie  und  da  die  Sehnsucht 
nach  dem  Kinde  auftaucht,  als  könnte  von  dem  Kinde  das  neue  Heil 
und  die  Erlösung  aus  den  Leiden  kommen.  Sonst  zeigt  die  Urlinde 
die  gleiche  Psychogenese  wie  der  Urning.  Eine  starke  Fixierung  an 
die  Familie,  nicht  immer  an  den  Vater,  wie  Hirschfeld  behauptet. 
Außerordentlich  häufig  eine  Liebe  zur  Mutter,  die  sich  gar  nicht  mas- 
kiert, eine  Liebe  zu  einer  Schwester,  welche  durch  das  ganze  Leben 
geht  und  zu  den  sonderbarsten  Maskierungen  führt. 

Ich  will  dies  Kapitel  noch  mit  einem  Falle  weiblicher  Homosexua- 
lität schließen,  der  uns  die  erwähnten  Einstellungen  mit  außerordent- 
licher Prägnanz  vorführt: 


x)  Ganz  wundervoll  ist  dieser  Gedanke  inGrieeldisvonGerhartHaupt- 
mann  ausgedrückt.  Der  Vater  ist  auf  den  Sohn  eifersüchtig,  weil  er  selbst  einmal  ein 
Feind  und  Rivale  des  Vaters  war  .  .  . 


374 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Fall  Nr.  72.  Fräulein  Ilse  —  so  wollen  wir  sie  nennen  —  ist  infolge 
von  verschiedenen  Aufregungen  an  einer  Depression  erkrankt,  während  der 
sie  sehr  abmagerte  und  trotz  einer  gelungenen  Mastkur  in  einem  Sanatorium 
nicht  genesen  konnte.  Sie  ist  ein  auffallend  schönes  Mädchen,  24  Jahre  alt, 
üppig,  durchwegs  weiblieh  bis  auf  eine  scharfe,  etwas  energische  Nase  und 
stark  gezeichneten  Augenbrauen.  Ihre  Mutter,  die  sie  mit  großer  Redseligkeit 
einführt,  meint,  es  wäre  der  Tod  ihres  Mannes  gewesen,  der  das  Mädchen  so 
erschüttert  hat.  Ilse  widerspricht  einige  Male  gereizt  und  kommt  mit  der 
Mutter  wegen  Kleinigkeiten  in  Kontroversen.  Auf  eine  Ermahnung  der  Mutter 
versinkt  sie  in  ihre  Depression  und  spricht  kein  Wort.  Ich  nehme  sie  in  Be- 
handlung und  habe  eine  Woche  lang  ein  schweres  Kreuz  mit  ihr.  Sie  spricht 
fast  gar  nichts,  benimmt  sich  negativistisch  und  meint  nur  ab  und  zu-    Geben 

SS  if6  Mühe'  Es  wird  nie  mehr  Sut  werden-  Geben  Sie  mir"  lieber 
ein  Mittel,  damit  ich  rasch  sterben  kann."  Sie  wird  nur  lebhafter,  wenn  sie 
vom  toten  Vater  spricht,  meint,  er  hätte  nicht  sterben  müssen.  Die  Mutter 
hatte  noch  einen  Professor  heranziehen  sollen.  Eigentlich  sei  es  auch  ihre 
petaüO,  weil  sie  nicht  energisch  genug  auf  der  Berufung  einer  Kapazität  be- 
standen hatte. 

Allmählich  gewinnt  sie  Vertrauen  zu  mir  und  erscheint  eines  Tages  wie 
verwandelt.  Sie  müsse  mir  doch  die  Wahrheit  eingestehen.  Sie  sei  nicht 
normal  Sie  sei  schon  seit  der  Kindheit  homosexuell  und  habe  nie  für  Männer 
em  Interesse  gehabt.  Dies  hatte  schon  ihre  Mutter  behauptet,  welche  mir 
sagte:  „Ich  verstehe  das  Mädchen  nicht.  Sie  ist  immer  aus  dem  Zimmer  ge- 
laufen, wenn  junge  Leute  bei  Alfred  (ihrem  Bruder)  waren.  Das  Mädchen 
ist  eine  Männerfeindin!"  Diese  Tatsache,  die  während  der  ersten  Konsultation 
von  dem  Madchen  bestritten  wurde,  wird  jetzt  von  ihr  bestätigt.  Sie  habe  nie 
Interesse  für  Männer  gehabt.  Dagegen  habe  sie  sich  schon  mit  11  Jahren 
leidenschaftlich  in  eine  Lehrerin  verliebt.  Sie  war  ein  tolles  Mädchen,  trug 
oft  die  Kleider  ihres  Bruders  und  spielte  mit  allen  Jungen.  Mit  vierzehn 
Jahren  verliebte  sie  sich  wieder  in  eine  Freundin. 

Ihre  jetzige  Depression  rührt  von  einer  großen  Enttäuschung  her.  Sie 
hat  mit  einer  Französin  eine  Liebschaft  angeknüpft,  in  der  sie  unendlich 
glücklich  war.  Über  die  Art  ihres  Verhältnisses  äußert  sie  eich  nicht,  gibt 
aber  zu,  daß  sie  sehr  intim  gewesen  sei.  Plötzlich  merkte  sie,  daß  die  Französin 
ihr  untreu  sei  und  mit  einem  anderen  Mädchen  mehr  verkehre  wie  mit  ihr. 
Sie  litt  furchtbar  unter  den  Qualen  der  Eifersucht.  Nun  fühle  sie  auch  einen 
Ekel  vor  allen  Frauen,  wie  sie  ihn  vorher  vor  den  Männern  hatte.  Auf  die 
Frage,  warum  sie  sich  vor  den  Männern  ekle,  antwortet  sie:  „Weil  s.ie  alle, 
alle  ohne  Ausnahme  abscheuliche  brutale  Tiere  sind  .  .  ." 

Nun  beginnt  Ilse  auch  ihre  Erlebnisse  zu  erzählen.  Sie  war  sieben 
Jahre  alt,  als  sie  beim  Onkel  zu  Besuch  war.  Er  zeigte  ihr  sein  großes  Glied 
und  forderte  sie  auf,  es  in  die  Hand  zu  nehmen.  Das  tat  sie  und  noch  manches 
andere  usque  ad  ejaculationem.  „Wie  sollte  ich  vor  Männern  Respekt  haben, 
wenn  sie  die  unschuldige  Seele  eines  Kindes  so  vergiften!"  Der  Onkel  lebt  noch 
und  ist  der  einzige  Mann,  dem  sie  zugetan  ist.  Sie  dachte,  es  müse  doch  eine 
Krankheit  sein,  und  hat  ihm  verziehen.  „Es  war  auch  nur  einige  Male  und  der 
Onkel  glaubt,  ich  habe  es  längst  vergessen  .  .  ." 

Viel  schwerer  fällt  noch  ein  anderes  Trauma  ins  Gewicht,  das  eigentlich 
eine  Reihe  von  Traumen  war.  Ihre  Mutter  ist  eine  leichtsinnige  Frau  gewesen 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  -  Der  Kinderhaß.  375 

und  ist  es  noch  heute,  obwohl  sie  schon  50  Jahre  alt  ist.    Aber  sie  weiß  sich 
so  raffiniert  zu  kleiden  und  herzurichten,  daß  sie  noch  immer  Eroberungen 
macht.  Nun  folgen  eine  Menge  schwer  Anklagen  gegen  die  Mutter,  die  wohl 
alle  berechtigt  sind,  denn  ich  konnte  mich  von  der  Wahrheit  ™*g***£ 
überzeugen.    Die  Mutter  hatte  immer  einige  Liebhaber,  die  für  ihre  großen 
BedürfnLe  aufkamen.   Sie  wurde  als  Kind  zu  den  Rendezvous  mi^nommen 
und  hatte  wiederholt  Gelegenheit,    Zärtlichkeiten  zu  beobachten.  Verschiedene 
häßliche  Szenen  sind  ihr  noch  aus  den  ersten  Kinderiahren  in  Ennnwun*. 
Sie  war  schon  als  Kind  sehr  sinnlich  und  onanierte  mit  der  Schwester  und  dem 
Bruder  zusammen.    Sie  war  frühreif  und  früh  verdorben  und  jeder  glaubte 
sie  werde  die  zweite  Mutter  werden.   Da  ging  mit  ihrer  Schwester  eine  grobe 
Umwandlung  vor  sich.   Sie  wurde  fromm  und  wollte  ins  Kloster  gehen    bie 
machte  sich  über  die  fromme  Schwester  lustig,  bewunderte  aber  innerlich  ihe 
Keuschheit.    Das  war,  als  sie  14  Jahre  alt  war.    Sie  weiß  jetzt,  daß  sie  in 
den  Hausarzt  verliebt  war  und  auch  für  Männer  Interesse  hatte,  allerdmgs 
sich  auch    in  die  Lehrerinnen  und  Freundinnen  verlieben  konnte.    Als  sie 
16  Jahre  alt  war,  ließ  sich  die  Schwester  mit  einem  Leutnant  ein  und  mulite 
sich  in  einem  Sanatorium  kürettieren  lassen,  worauf  sie  Fieber  bekam  und 
einige  Wochen  schwer  krank  war. 

Das  Vorgehen  der  Schwester  erschütterte  sie  außerordentlich.  Innerlich 
war  sie  nämlich  stolz  gewesen,  daß  in  ihrer  Familie  doch  ein  so  reines, 
keusches  Wesen  vorhanden  war.  Nun,  da  die  Schwester  dem  Beispiele  dei 
Mutter  folgte,  schien  es  ihr,  daß  auch  sie  verloren  sei  und  den  gleichen  Weg 
wandeln  müsse.  Damals  habe  es  in  ihr  eine  Verdrängung  gegeben  und  sie 
habe  auch  einen  furchtbaren  Haß  gegen  alle  kleinen  Kinder  bekommen.  Sie 
konnte  kein  kleines  Kind  sehen.  Sie  dachte,  wenn  ich  Mutter  wäre  ich  wurde 
es  ermorden.  Dieser  Gedanke  war  ihr  so  schrecklich,  daß  sie  nicht  schlafen 
konnte.  Es  sei  wohl  mit  der  Zeit  besser  geworden,  aber  der  Kmderhaß  oder 
noch  vielmehr  die  Angst  vor  den  Kindern,  die  Angst,  sie  könnte  den  Kindern 
etwa6  antun,  sei  noch  immer  vorhanden. 

Ich  vermute,  daß  sich  hinter  diesem  Haß  die  Lösung  ihres  Problems 
verbirgt.   Ich  komme  auf  die  Erlebnisse  des  sechzehnten  Jahres  zurück,  weil 
in  diesem  Alter  die  vollkommene  Abkehr  von  den  Männern  erfolgte. 
„Warum  hassen  Sie  die  Kinder?" 

„Das  weiß  ich  nicht  ...    Ich  glaube,  ich  müßte  ihnen  den  Hals  um- 
drehen.   Ich  werde  wütend,  wenn  ich  Kinder  sehe." 
„War  dieser  Haß  immer  vorhanden?" 

„Nein  ...  ich  war  sogar  früher  eine  Kindernärrin.  Ich  habe  mir  immer 
Kinder'gewünscht.  Wenn  ich  Ihnen  sagte,  daß  ich  immer  Knabenspiele  spielte, 
so  war  das  nicht  die  Wahrheit.  Jetzt  entsinne  ich  mich,  daß  ich  auch  bei 
meiner  Puppe  Amme  war  und  daß  wir  oft  Kindergebären  gespielt  haben.  Der 
Bruder  war  der  Doktor  und  ich  lag  als  Wöchnerin  im  Bette." 

„Haben  Sie  denn  als  Kind  Gelegenheit  gehabt,  eine  Geburt  zu  sehen?" 
"ja  alles  .  .  .  Unsere  Tante  hat  bei  uns  entbunden,  eine  romantische 
Geschichte  Ein  uneheliches  Kind,  ihre  Eltern  durften  nichts  von  der  Ent- 
bindung wissen,  sonst  wäre  sie  verstoßen  worden.  Wir  Kinder  wußten  aber 
alles  Sie  hat  dann  den  Mann  geheiratet  und  ist  sehr  glücklich  geworden 
Das  kleine  Kind  war  damals  eine  Zeitlang  bei  uns.  Ich  hatte  es  sehr  heb 
und  trug  es  herum  .  .  -" 


37Ü 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


„Hatten  Sie  noch  einige  solcher  Tanten  in  der  Familie?" 
„Unter  uns  gesagt:  Die  Familie  meiner  Mutter  hatte  einen  schlechten 
Ruf.  Es  waren  sechs  Frauenzimmer  und  eine  leichtsinniger  als  die  andere. 
Keine  war  eine  Unschuld,  als  sie  heiratete.  Immer  gab  es  allerlei  Geschichten 
und  man  hatte  keine  Ruhe.  Deshalb  hat  mich  die  Sache  mit  der  Schwester  so 
erschüttert.  Ich  dachte  mir  immer,  es  sei  meine  Bestimmung,  auch  eine  .  .  . 
Dirne  zu  werden.  Sie  entschuldigen,  daß  ich  so  hart  von  meiner  Mutter 
spreche.    Aber  es  ist  leider  die  Wahrheit  ..."     ' 

„Eine  Dirne  ist  ja  käuflich  ...    Es  ist  doch  ein  Unterschied,  wenn 
man  aus  Leidenschaft  leichtsinnig  ist  oder  aus  Geldgier." 

» (Nach  einer  größeren  Pause.)  Das  ist  es  eben,  was  ich  damals 

erfuhr.  Die  Mutter  war  für  Geld  zu  haben.  Der  Vater  war  ein  kleiner  Be- 
amter, ein  verdorbener  Jurist,  der  bei  einem  Advokaten  Schreiberdienste  leisten 
mußte.  Er  konnte  den  großen  Haushalt  nicht  bestreiten,  auch  wenn  er  hie  und 
da  ein  Nebengeschäft  machte,  das  ihm  reichlich  Geld  einbrachte.  Die  Mutter 
hatte  immer  einen  Freund,  der  für  uns  sorgte.  So  konnten  wir  sorgfältig 
erzogen  werden,  mein  Bruder  konnte  studieren,  wir  machten  alles  mit." 

„Wußten  Sie  das  schon  als  Kind?" 

„Ich  wußte  es  sehr  früh  .  .  ." 

„Sie  glauben  also,  daß  auch  die  Schwester  sich  bezahlen  ließ  und  sich 
verkaufte?" 

„Nein.  Die  Sache  verhält  sich  anders.  Die  Mutter  hatte  neben  dem 
zahlenden  Liebhaber  noch  immer  einen  anderen  für  das  Herz.  Das  war  ganz 
lustig.  Die  Herren  brachten  uns  immer  Bonbons  und  allerlei  Geschenke.  Als 
wir  älter  wurden,  war  die  Mutter  etwas  vorsichtiger.  Immerhin  gab  es  genug, 
dessen  man  sich  schämen  mußte,  wenn  ich  es  so  nachträglich  überdenke.  So 
kam  auch  ein  sehr  schöner  junger  Leutnant  in  unser  Haus,  den  sich  die 
Mutter  —  weiß  Gott  wo  —  eingefangen  hatte.  Dieser  war  der  erklärte 
Liebling  der  Mutter  und  durfte  machen,  was  er  wollte.  Das  Furchtbare  war 
aber,  daß  er  sich  auch  mit  der  Schwester  einließ  und  daß  die  Mutter  nach 
einigen  Eifersuchtsszenen  dies  dulden  mußte,  ja  vielleicht  unterstützte.  Denn 
ich  hörte  einmal  eine  Szene,  in  der  die  Mutter  dem  „Schikki"  —  so  hieß  der 
Leutnant  —  vorwarf,  daß  er  sich  die  Schwester  genommen  hätte.  Man  hätte 
ihr  für  deren  Jungfrauschaft  eine  sehr  hohe  Summe  geboten  und  das  Mädchen 
wäre  versorgt  gewesen.  Dann  gab  es  erbitterte  Szenen  zwischen  der  Mutter 
und  der  Schwester."1) 

...  Ich  breche  hier  das  Gespräch  ab.   Es  zeigt  sich,  daß  auch  sie,  daß 
das  ganze  Haus  in  den  Leutnant  verliebt  war,  selbst  der  Vater  und  der  Bruder. 


x)  Verhältnisse  von  Männern  mit  Mutter  und  Tochter  sind  nicht  so  selten.  Ich 
habe  in  meiner  Praxis  schon  einige  dieser  Fälle  beobachtet.  Gewöhnlich  ist  der  Vor- 
gang derart,  daß  der  gegen  die  Reize  der  Mutter  abgestumpfte  Liebhaber  sich  der 
Tochter  zuwendet.  (In-  Bei  Ami  vvon  Maupassant  wird  dieses  Motiv  behandelt.)  Ich 
habe  aber  jüngst  eine  hochstehende  Dame  behandelt,  welche  um  die  Beziehungen  ihrer 
Tochter  zu  ihrem  Liebhaber  wußte  und  sie  billigte.  Sie  willigte  sogar  in  die  Heirat 
dieser  Tochter  mit  dem  Liebhaber  ein,  um  ihn  nicht  zu  verlieren  und  ganz  an  6ich 
zu  binden.  Für  manche  Roues  gehört  die  Anknüpfung  solcher  Verhältnisse  zu  den 
auserlesensten  Genüssen. 


Die  Rolle  des  Vaters  und  der  Geschwister.  —  Der  Kinderbaß.  377 

Daß  sie  auch  auf  die  Mutter  eifersüchtig  war.  Diese  Eifersucht  öffnete  ihr 
die  Augen.  Dazu  kam,  daß  sie  von  den  Nachbarn  häßliche  Worte  über  die 
Mutter  hörte:  Sie  begann,  die  Mutter  zu  hassen,  aber  nur  sehr  kurze  Zeit. 
Dann  verwandelte  sich  der  Haß  in  den  Kinderhaß.  Sie  haßte  sich,  das  Kind, 
das  die  Mutter  verachtete.  Sie  wollte  nicht  mehr  so  sein  wie 
die  Mutter  und  die  Schwester.  Sie  wußte,  daß  sie  die 
gleichen  Erlebnisse  haben  werde,  daß  es  ihr  Schicksal 
war.  Sie  sträubte  sich  gegen  die  Weiblichkeit  und 
die  mütterlichen  Instinkte.  Allein  die  Analyse  zeigte,  daß  sie 
nur  einen  geheimen  Wunsch  hatte,  den  sie  nicht  sehen  wollte:  sie  wollte 
Mutter  sein  und  viele,  recht  viele  Kinder  gebären.  Nur  hinderte  sie  die 
neurotische  Reaktion  gegen  einen  mächtigen  Mutterinstinkt.  Mutter  6ein 
hieße,  sich  mit  der  verachteten  Mutter  identifizieren.  Ihr  besseres  Gefühl 
drängte  sie  zu  einer  Differenzierung  von  der  Mutter. 

Sie  wollte  kein  Weib  sein.  Sie  wollte  nicht  so  leichtsinnig  sein  wie  die 
Mutter.  In  diesem  Jahre  ging  auch  mit  ihrem  älteren  Bruder  eine  Umwandlung 
vor.  Er  wurde  ernst  und  begann  zu  dichten,  sich  für  alle  idealen  Bestrebungen 
zu  interessieren.  Sie  schloß  sich  ihm  an  -und  bald  hatte  sie  sich  vollkommen 
von  dem  Hause  und  besonders  von  der  Mutter  differenziert.  Sie  suchte  ernste 
Freundinnen  auf,  verkehrte  viel  mit  den  Kollegen  ihres  Bruders,  war  aber 
unnahbar,  wenn  sie  auch  über  alles  frei  und  offen  sprach.  Ihr  starkes  sinn- 
liches Temperament  trieb  sie  dann  in  die  Arme  der  Französin,  was  sie  ja 
einem  Verhältnisse  mit  einem  Manne  vorzog,  weil  die  Kinderangst  sie 
furchtbar  quälte.  Nach  dem  Treubruch  der  Französin  kam  es  zur  De- 
pression. 

Auch  in  diesem  Punkte  gab  es  eine  kleine  Überraschung.  Sie  gestand 
mir,  daß  die  Französin  auch  die  Geliebte  des  Bruders  war.  Sie  hatte  nie  davon 
gesprochen,  aber  sie  wußte  es  schon,  ehe  sie  sich  mit  der  Französin  einließ. 
Trotzdem  war  es  ihre  glücklichste  Zeit. 

Die  Depression  entstammt  also  der  zweiten  Quelle.  Der  Bruder  hatte 
die  Französin  verlassen  und  sich  eine  neue  Geliebte  genommen,  die  er  auch 
seelisch  liebte  und  die  er  heiraten  wollte.  Bei  der  Französin  war  es  nur  ein 
Spiel  mit  der  Sinnlichkeit  und  der  Bruder  gehörte  ihr  ganz.  Sie  waren  immer 
beisammen  und  sie  wußte  alle  Geheimnisse.  Sie  war  nie  eifersüchtig,  wenn  sie 
wußte,  daß  er  ein  Verhältnis  mit  einem  Mädchen  oder  mit  einer  Frau  hatte,  die 
er  seelisch  nicht  liebte.  Damals  lernte  der  Bruder  ein  reiches,  schönes  Mädchen 
kennen,  in  das  er  sich  verliebte  und  die  er  bald  heiraten  wollte.  Dieses 
große  Glück,  das  der  Bruder  machen  sollte  —  es  zerschlug  sich  an  dem  Wider- 
spruch der  Familie  der  Geliebten  —  war  ihr  gleichgültig.  Sie  wußte  nur,  daß 
sie  den  Bruder  verloren  hatte,  daß  er  nicht  mehr  ihr  gehörte.  Er  konnte  sein 
Mädchen  nicht  heiraten,  weil  ihre  Eltern  verlangten,  er  solle  sie  zuerst  exr 
halten  können.  Aber  sie  warteten  aufeinander  und  der  Bruder  habe  es  schon 
ziemlich  weit  gebracht  und  werde  sie  trotz  des  schlechten  Rufes  der  Mutter 
dennoch  heiraten.  Er  komme  nicht  mehr  ins  Haus  und  habe  mit  der  Familie 
ganz  gebrochen.  Nur  sie  sehe  er  hie  und  da  und  sei  ihr  der  alte  Freund  ge- 
blieben .  .  . 

Diese  interessante  Analyse  zeigt  uns  alle  jene  Moment«,  welche 
wir  in  der  Psychogenese  der  männlichen  Homosexualität  beobachten 
konnten.   Das  Mädchen  war  nämlich  auf  dem  Wege,  so  männersüchtig 


378     Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität,  —  Die  Rolle  des  Vaters  u.  der  Geschwister. 

zu  werden  wie  die  Mutter,  ja  vielleicht  sich  sogar  sexuell  zu  betätigen. 
Das  Erlebnis  mit  der  Schwester  öffnete  ihr  die  Augen  und1  wirkte  wie 
eine  furchtbare  Drohung.  Die  Sehnsucht  nach  Reinheit,  die  alle 
Menschen  beseelt  und  die  das  polare  Gegenstück  des  Dranges  nach 
Befleckung  ist,  wurde  in  ihr  übermächtig,  die  Angst,  so  zu  werden  wie 
Schwester  und  Mutter,  und  der  Haß  gegen  die  Mutter,  der  sich  als 
Kinderhaß  äußerte,  wirkten  zusammen,  um  einen  anderen  Menschen  aus 
ihr  zu  machen.  Sie  wäre  wahrscheinlich  auch  den  homosexuellen  Liebes- 
werbungen der  Französin  nicht  erlegen,  wenn  nicht  der  Umstand,  daß 
sie  die  Geliebte  des  Bruders  war,  sie  überwältigt  hätte.  Es  war  der 
Inzest  über  eine  Dritte  ...  Sie  haßte  die  Mutter  und  mußte  sich  vor 
Kindern  fürchten,  in  denen  man  sich  Feinde  erzog.  So  wurden  die 
Kinder  ihre  Feinde.  Der  Vater  spielte  in  ihrem  Leben  die  geringste 
Rolle  und  hatte  auf  die  Entwicklung  ihrer  Homosexualität  keinen 
Einfluß. 

Ihre  weiteren  Schicksale  sind  mir  nicht  gänzlich  Gekannt.  Die 
Depression  wurde  bald  besser  und  der  Kinderhaß  schwand  vollkommen. 
Sie  verließ  aber  Wien  und  begab  sich  ins  Ausland,  offenbar,  um  ihre 
ganze  Jugend  und  ihre  Familie  zu  vergessen.  Dies  war  mein  Rat  und 
der  Umstand,  daß  sie  ihn  befolgte,  läßt  uns  hoffen,  daß  sie  nun  nach 
allem  Wirrsal  ihr  Lebensschiff  in  einen  friedlichen  Hafen  steuern  wird. 


Die  Homosexualität. 

x. 

Homosexualität  und  Eifersucht. 

In    der  Eifersucht    liegt   mehr   Eigen- 
liebe  als  Liebe.  Rochefoucauld. 

Der  Mensch  ist  das,  als  was  er  sich  fühlt.  Goethe  sagt :  „Knecht 
und  Volk  und  "Überwinder  —  Sie  gesteh'n  zu  jeder  Zeit:  —  Höchstes 
Glück  der  Erdenkinder  —  Ist  doch  die  Persönlichkeit.  —  — " 

Dieses  Persönlichkeitsgefühl  —  man  könnte  es  auch  Ichgefühl 
nennen  —  hängt  von  vier  Faktoren  ab.  Diese  vier  Komponenten  des 
Ichgefühls  sind: 

1.  Die  Selbstliebe. 

2.  Die  Selbstachtung. 

3.  Das  Selbstvertrauen. 

4.  Das  Selbstbewußtsein. 

Kein  Mensch  kann  dieses  Persönlichkeitsgefühl  aus  eigenen 
Quellen  speisen.  Nur  der  Paralogiker,  der  das  Weltbild  zu  seinen 
Gunsten  fälscht,  kann  seinen  geheimen  Größenwahn  vor  sich  und 
scheinbar  vor  der  Welt  rechtfertigen.  Der  noch  nicht  dem  Wahne  Ver- 
fallene benötigt  die  Liebe  des  anderen,  seine  Achtung,  sein  Vertrauen 
und  seine  Anerkennung.  Diese  fremden  Bestätigungen  unseres  eigenen 
Urteils  speisen  die  Lustgefühle  der  Persönlichkeit. 

Auf  alle  Angriffe  gegen  das  Ichgefühl  reagiert  das  Individuum 
mit  Unlust.  Diese  Angriffe  müssen  nicht  aktiv  sein.  Sie  ergeben  sich 
aus  dem'  Differenzgefühl  zwischen  dem  Ich  und  seiner  Umgebung. 

Das  häufigste  der  Unlustgefühle  ist  der  Neid. 
Er  entspringt  der  Wahrnehmung,  daß  ein  anderer 
einen  größeren  materiellen  oder  geistigen  Be- 
sitzstand zeigt.  Die  Eifersucht  ist  erotischer 
Neid.      Sie    ist    das    Unlustgefühl,     das     durch    die 


380  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Wahrnehmung     entsteht,     daß     ein     anderer     mehr 
geliebt    wird. 

Die  Eifersucht  ist  also  ein  egoistisches  Ichgefühl,  sie  repräsen- 
tiert das  Gefühl  der  verletzten  Persönlichkeit,  das  seine  Ichliebe  nicht 
aufrecht  erhalten  kann,  da  es  von  einem  bestimmten  Objekt  nicht  an- 
erkannt wird.  Sie  ist  ein  Ur-Gefühl  im  Gegensatz  zu  den 
Kultur -Gefühlen,  die  aus  ethischen  und  ästhetischen  Quellen 
gespeist  werden.  Die  Ichliebe  (der  Narzissmus)  verlangt  nach  dem 
Spiegel  der  Umgebung.  Jede  Liebe  ist  im  Grunde  egoistisch.  (Ich 
liebe  dich,  weil  du  mich  liebst!)  Diese  Liebe  ist  stets  bereit,  in  Haß 
umzuschlagen  und  vßich  in  die  Formel  zu  verwandeln:  Ich  hasse  dich, 
weil  du  mich  nicht  liebst.  Die  Eifersucht  ist  das  Symptom  des  ver- 
letzten Persönlichkeitsgefühles. 

Ein  Beispiel  aus  meiner  Erfahrung  zeigt,  wie  sich  die  Eifersucht  maß- 
los steigern  kann,  wenn  dieses  Persönlichkeitsgefühl  gänzlich  niedergedrückt 
wird.  Eine  zirka  40jährige  Frau  fand  in  den  Taschen  ihres  Mannes  eine 
Ansichtskarte,  aus  der  sie  auf  eine  Untreue  schließen  konnte.  Sie  ver- 
folgte ihren  Mann  mit  Vorwürfen  und  quälte  ihn  derart,  daß  er  keine  Nacht 
schlafen  konnte.  Sie  wollte  um  jeden  Preis  den  Namen  der  Nebenbuhlerin 
wissen  und  schwor  es  ihm  hoch  und  heilig,  sie  werde  Ruhe  geben,  wenn  er 
ihr  die  ganze  Wahrheit  sagen  werde.  Die  Nebenbuhlerin  war  eine  schöne 
Frau  eines  seiner  Angestellten.  Er  wollte  ihren  Namen  um  keinen  Preis 
der  Welt  mitteilen.  Er  kam  auf  die  —  wie  er  glaubte  —  geniale  Idee,  ihr 
eine  andere  zu  nennen.  Zu  diesem  Zwecke  bestach  er  die  Frau  seines  Portiers, 
eine  dürre,  schielende,  häßliche  Frau.  Er  ließ  nun  seine  Frau  ins  Büro 
kommen  und  stellte  ihr  die  angebliche  Nebenbuhlerin  vor.  Die  mit  Geld 
reichlich  entlohnte  Portiersfrau  ließ  alle  Vorwürfe  der  erregten  Frau  ge- 
duldig über  sich  ergehen.  Nun  verschlimmerte  sich  das  Leiden.  Die  arme 
Frau  konnte  es  nicht  begreifen,  daß  der  Mann  sie  mit  einer  so  häßlichen 
alten  Vettel  betrogen  hatte.  („Wenn  es  wenigstens  eine  schöne  Frau  ge- 
wesen wäre!"  —  jammerte  sie.)  Sie  wurde  melancholisch,  die  Eifersucht 
steigerte  sich  zum  Eifersuchtswahn.  Immer  schwebte  ihr  das  Bild  der  häß- 
lichen Frau  vor.  (Wie  häßlich  mußte  sie  selbst  sein,  wenn  er  ihr  die  andere 
vorgezogen  hatte!)  Auf  meinen  Rat  gestand  ihr  der  Mann,  daß  er  'sie 
betrogen  und  ihr  ein  anderes  Weib  gezeigt  hatte.  Das  wollte  sie  nicht  mehr 
glauben  und  verstrickte  sich  immer  tiefer  in  ihre  Grübeleien.  Leider  entzog 
sie  sich  der  psychotherapeutischen  Behandlung,  so  daß  ich  über  die  weiteren 
Schicksale  dieser  Ehetragödie,  die  so  viele  Züge  einer  Ehekomödie  zeigte, 
nicht  berichten  kann. 

Die  Eifersucht  ist  immer  eine  Mischung  aus  Argwohn  und 
mangelndem  Selbstvertrauen.  Der  hypertrophischen  Ichliebe 
des  Eifersüchtigen  entspricht  ein  ebenso  starkes  Minderwertigkeits- 
gefühl. Deshalb  neigen  Häßliche,  Krumme,  Schielende,  mit  einem 
Fehler  Behaftete  zur  Eifersucht.  Wer  an  sich  glaubt,  kann  nicht  eifer- 


Homosexualität  und  Eifersucht.  381 

süchtig  sein.  Wer  sich  vertraut,  vertraut  der  Umgebung.  (Wie  der 
Schelm  ist,  so  denkt  er.) 

Die  Eifersucht  ist  die  Projektion  der  eigenen  Unzulänglichkeiten 
auf  die  Umgebung.1)  Sie  ist  ein  atavistisches  Aufflackern  eines  brutalen 
Ichgefühles,  wie  es  nur  dem  auf  seinen  Besitzstand  beharrenden  Ur- 
menschen eigen  war.  Alle  Kinder  sind  eifersüchtig.  Die  Eifersucht 
führt  uns  zu  den  Quellen  des  menschlichen  Trieblebens  zurück. 

Es  liegt  nicht  in  meiner  Absicht,  das  ganze  Thema  der  Eifersucht 
aufzurollen.  Allein  die  pathologische  Eifersucht  zeigt  bestimmte,  fast 
gesetzmäßige  Beziehungen  zur  Homosexualität,  denen  wir  nachgehen 
müssen.  Von  der  Homosexualität  haben  wir  gelernt,  daß  sie  sich  vor 
dem  Bewußtsein  verbergen  kann.  Das  gleiche  gilt  auch  für  die  Eifer- 
sucht. Ich  habe  viele  Neurotiker  beobachtet,  die  schwer  unter  Eifersucht 
gelitten  haben,  ohne  daß  es  ihnen  bewußt  war.  In  dem  Maskenspiel  der 
Neurose  taucht  die  Eifersucht  in  den  merkwürdigsten  Verkleidungen  auf. 

Der  nächste  Fall  zeigt  uns  diese  Maskierung  der  Eifersucht,  ihre 
Verquickung  mit  der  Homosexualität,  und  bietet  in  psychologischer 
Hinsicht  verschiedene  Ausblicke. 

Fall  Nr.  73.  Ein  sehr  intelligenter  Patient,  Herr  H.  J.,  schreibt  mir; 
„Haben  Sie  schon  darüber  nachgedacht,  daß  wir  an  manchen  Tagen  Ähnlich- 
keiten entdecken  und  an  anderen  gar  nicht?  Sie  wissen  sicherlich,  daß  die 
Neurotiker  und  die  Normalmenschen  gerne  Ähnlichkeiten  konstruieren,  wenn 
sie  Identifizierungsprozesse  vollziehen.  Der  Liebende  findet,  daß  die  Geliebte 
den  Gang  der  Mutter,  ihre  Sprache  zeigt,  und  wenn  die  Physis  keine  Ver- 
gleiche zuläßt,  so  findet  er  die  gleiche  Seele,  die  gleichen  Eigenschaften,  die 
gleichen  Fehler.  Aber  das  Phänomen,  von  dem  ich  sprechen  will,  ist  ein  ganz 
anderes.  Ich  sah  an  einem  Vormittag  einen  Mann,  der  meinem  Freunde,  dem 
Maler  X,  zum  Verwechseln  ähnlich  sah.  Ich  gehe  auf  ihn  zu  und  sage: 
Servus  X  —  noch  immer  in  dieser  Täuschung  befangen.  Ein  fremdes  Gesicht 
mit  der  gleichen  Bartform  starrt  mir  entgegen.  Mit  der  üblichen  Ent- 
schuldigung beende  ich  diese  Szene  und  gehe  weiter.  Nach  einer  Weile  sehe 
ich  wieder  meinen  Freund  X,  diesmal  etwas  nebelhafter,  nicht  mit  der  gleichen 
Präzision  wie  vorher.   Ich  kann  auch  diese  Illusion  gleich  korrigieren. 

Nun  wird  mein  psychologisches  Interesse  geweckt  und  es  fällt  mir  ein, 
daß  meine  Frau  mir  des  Morgens  gesagt  hatte,  sie  mache  heute  Vormittag  bei 
Maler  X  einen  Besuch.  Ich  nahm  gleichgültig  davon  Notiz  und  bat,  herzliche 
Grüße  zu  bestellen.  Im  Unbewußten  spann  'sich  ein  gewisses  Mißtrauen,  dem 
Bewußtsein  vollkommen  fremd:  Deine  Frau  geht  zum  Maler,  der  sie  verehrt 
und  ihr  den  Hof  macht.  Maler  sind  leichtsinnige  Menschen,  die  es  nicht  sehr 
genau  nehmen.  Wer  weiß,  ob  deine  Frau  genug  Widerstandskraft  auf- 
bringen wird? 

Diese  geheimen  Befürchtungen  führten  zu  einer  Symptomhandlung.  Ich 
sprach  einen  fremden  Herrn  als  Maler  X  an.    Also  eine  Wunscherfüllung. 


*)  Vgl.  das  Kapitel  „Eifersucht"  in  meiner  Essaysammlung  „Was  im  Grund  der 
Seele  ruht.  .  ."  Wien  1920,  IL  Aufl.,  Paul  Knepler. 


382  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Denn  wenn  X  auf  der  Straße  ist,  so  kann  er  jetzt  unmöglich  in  seinem 
Atelier  sein.  Ich  wünsche,  daß  er  nicht  zu  Hause  sein  soll.  Meine  Frau  soll 
ins  Atelier  kommen  und  dort  vernehmen:  Herr  X  ist  nicht  zu  Hause  .  . 
Dieser  Wunsch  setzte  sich  dreimal  durch.  Denn  dreimal  sah  ich  den  Herrn  X 
auf  der  Straße.  Andrerseits  projiziere  ich  den  Herrn  X  auf  fremde  Gesichter. 
Weil  ich  immer  an  Herrn  X  denke,  weil  mein  Ich  von  ihm  ganz  erfüllt  ist, 
weil  mich  innerlich  der  uneingestandene  Gedanke  beherrscht:  Was  macht 
jetzt  X  mit  deiner  Frau?  —  sehe  ich  überall  den  Herrn  X.  Die  Ringstraße 
ist  überfüllt  mit  lauter  Ähnlichkeiten,  jeder  Mann  ist  ein  Herr  X. 

Hier  verrät  die  Illusion  eine  weitere  Verdächtigung.  Ein  anderer 
Gedanke  leiht  dem  ersten  eine  besondere  Wertigkeit.  Gestern  hörte  ich  in 
einer  Gesellschaft  die  Ansicht  aussprechen,  „alle  Frauen  wären  zu 
haben  und  es  gebe  eigentlich  keine  anständige  Frau". 
Ich  opponierte  lebhaft  gegen  diese  Pauschalverdächtigung  und  versuchte,  das 
Lächerliche  und  Ungerechte  dieser  Ansicht  klarzulegen.  Und  heute  ertappe 
ich  mich  auf  dem  Gedanken :  Diese  Ähnlichkeit  mit  dem  Herrn  X,  dem  großen 
Unbekannten,  sind  alle  schönen  und  kräftigen  Männer  wie  X?  Du 
denkst  eben  daran :  Wer  weiß,  ob  nicht  dieser  Herr  oder  der  andere  der  Geliebte 
deiner  Frau  ist?  Warum  fällt  mir  der  Vers  aus  dem  Faust  ein:  Es  hat 
sie- schon  die  ganze  Stadt?  .  .  Ich  muß  nun  zur  Ehrenrettung  meiner  Frau 
berichten,  daß  sie  wirklich  eine  musterhafte  Gattin  ist  und  daß  mir  jeder 
Verdacht  ferne  liegt.  Aber  ich  suche  offenbar  Motive,  um  mich  zu  exkulpieren. 
Ich  soll  an  die  Schuld  aller  Frauen  und  damit  auch  an  die  Schuld  meiner  Frau 
glauben,  damit  ich  freie  Hand  für  neue  Liebeshändel  bekomme  .  .  .  Ich  beneide 
eben  den  Herrn  X  um  seine  Libertinage  und  möchte  gerne  wie  er  im  Atelier 
verschiedene  Damen  empfangen.  Ich  möchte  X  sein.  Ich  bin  in  der  Phantasie 
X  und  ich  sehe  mich  als  X  in  jedem  Fremden. 

Eine  Dame  meiner  Bekanntschaft  sah  immer  ihren  verstorbenen  Mann 
auf  der  Straße  in  Form  einer  auffallenden  Ähnlichkeit.  Diese  Ähnlichkeit 
meldete  sich,  wenn  ihr  „leichtlebige"  Gedanken  kamen.  Als  wollte  sie  die  Er- 
scheinung des  Mannes  mahnen  und  warnen!  „Drei  Jahre  sind  es  erst,  seit  ich 
gestorben  bin,  und  du  fängst  mit  leichtsinnigen  Sachen  an?  Hüte  dich!  Ich 
bewache  dich  im  Himmel  und  sehe  alle  deine  Streiche." 

Wir  geben  neidlos  zu,  daß  unser  Patient  ein  feinsinniger  Psychologe 
ist,  der  sich  ausgezeichnet  beobachtet,  und  doch  scheint  mir  in  diesem  ana- 
lytischen Meisterstück  ein  Rechenfehler  unterlaufen  zu  sein.  Ich  schreibe  daher 
dem  Herrn  H.  J.,  ich  möchte  ihn  gerne  über  diesen  interessanten  Fall  sprechen 
und  lade  ihn  ein,  mich  zu  besuchen.  Er  leistet  der  Einladung  Folge.  Aus 
unserem  Gespräche  hebe  ich  nur  das  Wichtigste  hervor: 

„Ist  Ihnen  nicht  aufgefallen,  daß  es  lauter  schöne  und  kräftige  Männer 
sind,  welche  Ihnen  als  Ähnlichkeiten  imponierten?" 

„Nein.  Weil  mein  Freund,  der  Maler  X,  auch  ein  schöner  und  kräftiger 
Mann  ist.    Andere  können  ihm  nicht  ähnlich  sehen  .  .  ." 

„Sind  Sie  auch  sonst  eifersüchtig?" 

„Nein.  Keine  Spur.  Nur  gerade  auf  X  und  auch  das  wußte  ich  nicht 
oder  ich  war  zu-  stolz,  um  es  mir  zu  gestehen." 

„Wie  stehen  Sie  zu  X?  Lieben  Sie  ihn  auch  wie  .  .  ." 

„Sie  meinen  wie  meine  Frau.  Freilich.  Ich  liebe  ihn.  Er  ist  ein  rei- 
zender Mensch." 


Homosexualität  und  Eifersucht.  383 

„Ist  es  nicht  merkwürdig,  daß  Sie  gerade  auf  den  einzigen  Mann  eifer- 
süchtig sind,  den  Sie  auch  lieben?" 

Er  denkt  eine  Weile  nach  und  findet  keine  Lösung.  Ich  erkläre  ihm, 
daß  es  sich  um  eine  verdrängte  homosexuelle  Einstellung  zu  seinem  Freunde 
handelt.  —  Sein  innerer  Gedankengang  lautet:  „Wenn  ich  eine  Frau  wäre, 
ich  könnte  ihm  nicht  Widerstand  leisten."  Und  vielleicht  geht  der  Gedanken- 
gang noch  weiter  und  formuliert:  „Schade,  daß  ich  keine  Frau  bin,  dann 
könnte  ich  den  schönen  Mann  besitzen  .  .  ." 

Er  versteht  sofort  den  Zusammenhang  zwischen  der  Eifersucht  und 
seiner  inneren  uneingestandenen  homosexuellen  Einstellung.  Er  erzählt,  daß 
er  nur  diesen  Freund  mit  einem  Kuß  begrüßt,  wenn  sie  sich  längere  Zeit 
nicht  gesehen  haben,  daß  er  ihn  gerne  unter  den  Arm  nimmt  und  seine  Hand 
hält.  Kurz,  er  ist  selbst  in  den  Freund  verliebt.  Er  sieht  überall  den  Freund 
und  die  Ähnlichkeiten  leben  in  seiner  Seele.  Sie  sind  alle  Ausstrahlungen  des 
einen  Gedankens:  Er  gefällt  mir  und  ich  möchte  eine  Frau  sein,  die  sich  ihm 
hingibt ! 

Es  wäre  sehr  verlockend,  den  Wegen  der  unbewußten  Eifersucht 
nachzugehen.  Wir  kämen  aber  zu  weit  von  unserem  Thema  ab.  Da  es 
sich  um  einen  sehr  komplizierten  Zustand  handelt,  der  die  verschieden- 
sten Wurzeln  haben  kann,  will  ich  einige  markante  Beispiele  aus 
meiner  Praxis  mitteilen  und  an  Hand  dieser  Beispiele  die  verschiedenen 
Formen  abhandeln. 

Fall  Nr.  74.  Der  stärkste  Fall  von  Eifersucht,  den  ich  zu  begutachten 
hatte,  war  der  einer  Arztensgattin.  Die  nun  schon  45jährige  Dame  teilt  mir 
folgendes  mit:  „Vielleicht  können  sie  mich  von  einem  quälenden  Zustand 
befreien,  der  mir  das  ganze  Leben  verbittert,  und  meine  Ehe  zu  einer  wahren 
Hölle  macht.  Ich  bin  nun  schon  22  Jahre  verheiratet  und  kann  sagen,  daß  ich 
noch  keinen  glücklichen  Tag  gehabt  habe,  außer  wenn  mein  Mann  mit  mir 
ganz  allein  war  und  wir  gar  keine  Gelegenheit  hatten,  ein  anderes  weibliches 
Wesen  zu  sehen.  Er  ist  Arzt  und  schon  in  der  Brautzeit  wurde  ich  auf  alle 
seine  Patientinnen  eifersüchtig.  Ich  kannte  diesen  abscheulichen  Zustand 
vorher  nicht.  Er  war  auch  nicht  so  stark,  sonst  hätte  ich  meinen  Mann 
nicht  geheiratet.  Erst  bezog  er  sich  nur  auf  meine  Freundinnen  und  auf  Be- 
kannte, besonders  auf  sehr  schöne  Frauen.  Nach  der  Hochzeit  wurde  mein 
Zustand  immer  schlimmer  und  schlimmer.  Ich  wartete  bei  den  Ordinationen 
hinter  der  Türe  und  zitterte,  hatte  Schüttelfröste  vor  Erregung.  Mein  Mann 
war  doch  Frauenarzt  und  dazu  noch  ein  sehr  berühmter  Frauenarzt.  Ich 
beschwor  ihn,  diesen  Beruf  aufzugeben  und  6ich  irgend  eine  andere  Spezialität 
zu  erwählen.  Ich  gestehe  aber,  daß  mich  früher  der  Umstand,  daß  er  Frauen- 
arzt war,  sehr  gereizt  hatte  und  bei  der  Wahl  des  Mannes  ausschlaggebend 
war.  Ich  dachte  mir:  Der  Mann  sieht  so  viele  schöne  Frauen,  sieht  sie  nackt 
und  hat  dich  gewählt!  Das  schmeichelte  mir  außerordentlich.  Das  war  aber 
nur  ganz  am  Anfang,  dann  drängten  sich  die  Eifersuchtsgedanken  vor. 

Ich  hatte  eine  sehr  schöne  Freundin,  die  bei  meinem  Manne  in  Be- 
handlung 6tand.  Was  ich  bei  ihren  Besuchen  auggestanden  habe,  ich  kann  es 
nicht  beschreiben.  Ich  stellte  mir  vor:  Jetzt  legt  sie  die  Bluse  ab  und  jetzt 
den  Unterrock.  Jetzt  sieht  er  ihren  Busen,  jetzt  6teigt  6ie  auf  seinen  Unter- 
suchungsstuhl, jetzt  gibt  sie  die  Beine  auseinander  .  .  .  Ich  litt  Höllenqualen. 


384  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Es  stand  bei  mir  fest,  daß  mein  Mann  dieser  Frau  nicht  widerstehen  könnte 
und  sie  küssen  müsse.  Ich  machte  ihm  eine  heftige  Szene;  ich  stritt  mit  der 
Freundin,  die  sich  empört  von  mir  wandte.  Das  wurde  in  der  Ehe  noch 
schlimmer.  Ich  quälte  meinen  Mann  so,  daß  er  schließlich  gestatten  mußte, 
daß  ich  durch  eine  unsichtbare  Öffnung  die  ganze  Ordination  kontrollieren 
konnte.  Ich  überzeugte  mich  nun,  daß  mein  Mann  mir  physisch  treu  war. 
Allein  wenn  er  mir  tausend  Eide  schwor,  daß  ihn  die  Frauen  nicht  reizten, 
ich  glaubte  es  nicht.  Ich  hatte  hur  einen  Refrain,  den  ich  täglich  wiederholte: 
Gib  deinen  Beruf  auf!  So  vergingen  die  Jahre  mit  Streit  und  Hader.  Nun 
habe  ich  schon  eine  verheiratete  Tochter,  und  ich  dachte  mir,  der  Zustand 
werde  sich  mit  zunehmendem  Alter  bessern.  Keine  Rede!  Es  wird  ärger 
und  ich  übertrage  diese  Eifersucht  schon  auf  meinen  Schwiegersohn,  ich  bin 
für  meine  Tochter  eifersüchtig  .  Glücklicherweise  hat  sie  keine  Anlagen  zur 
Eifersucht  und  lacht  mich  aus  .  .  . 

Auf  meine  Tochter  bin  ich  auch  eifersüchtig.  Ich  wollte  ihre  Liebe  ganz 
allein  für  mich  haben  und  gönnte  sie  nicht  ihrem  Manne.  Obgleich  sie  eine 
glänzende  Partie  machte,  war  ich  nicht  zufrieden  und  behandelte  meinen 
.  Schwiegersohn  sehr  ungerecht.  Das  kränkte  mich  selber,  aber  ich  konnte 
nichts  dafür.  Ich  habe  schon  die  berühmtesten  Ärzte  konsultiert,  war  sechs 
Wochen  bei  Professor  X.  in  hypnotischer  Behandlung,  habe  mich  für  drei 
Monate  von  meinem  Manne  getrennt,  es  hat  alles  nichts  genützt." 

So  die  Krankengeschichte.    Was  hat  diese  Eifersucht  zu  bedeuten? 

Die  Wurzel  dieser  Eifersucht  ist  eine  niehtbewußte  Homosexualität. 
Sie  ist  auf  die  Freundin  eifersüchtig,  weil  die  Freundin  ihr  selbst  so  gut  gefällt. 
Sie  fühlt  sich  in  die  Rolle  des  Mannes,  des  Arztes  ein  und  muß  es  sich  ge- 
stehen, daß  sie  dann  nicht  widerstehen  könnte.  Sie  fühlt  sich  als  Mann  in 
die  Szene  ein,  sie  untersucht  alle  diese  Frauen  mit  gierigen  Augen.  Das  Guck- 
loch im  Ordinationszimmer  ist  einerseits  dazu  da,  um  ihre  Eifersucht  zu  be- 
ruhigen und  dem  Manne  einige  ruhige  Stunden  zu  verschaffen,  andrerseits, 
damit  sie  alles  mitleben,  damit  sie  ihrer  Lust  als  Voyeuse  fröhnen  kann. 
Diese  Kontrolle  ist  ihr  tägliches  homosexuelles  Reizmittel,  an  dem  sie  sich 
entzündet,  um  dann  bei  ihrem  Manne  verbrennen  zu  können. 

Nach  der  Aufklärung  trat  eine  bedeutende  Besserung  auf.  Die  Dame  er- 
kannte auch,  daß  sie  ihre  Tochter  homosexuell  liebte  und  deshalb  auf  den 
Schwiegersohn  so  eifersüchtig  war. 

Es  ist  dies  gar  keine  bo  seltene  Erscheinung  und  manche  Ehe  ist 
deshalb  zugrunde  gegangen.  Die  böse  Schwiegermutter  ist  immer  die 
Mutter,  die  ohne  ihre  Tochter  nicht  leben  kann  und  die  der  Tochter 
immer  aufs  neue  beweisen  will,  wie  falsch  der  Mann  ist,  wie  wenig  er 
sie  schätzt  und  wie  sehr  sie  selbst  die  Tochter  liebt  .  .  .  Ich  habe  auch 
häufig  beobachtet,  daß  die  Tochter  nach  einem  schüchternen  Versuch 
in  der  Ehe  reuig  zur  Mutter  zurückgekehrt  ist.  Ich  sah  Mütter,  welche 
mit  der  Leidenschaft  eines  Liebhabers  um  ihre  Töchter  kämpften  lind 
jedem  Bewerber  durch  maßlose  Eifersucht  die  Bewerbung  erschwerten. 
Ich  habe  solche  Eifersucht  als  häufige  Wurzel  der  Melancholie  kon- 
statieren können.  Ich  verweise  hier  auf  den  Fall  Nr.  132,  den  ich  in 
„Nervöse  Angstzustände"  publiziert  habe  (2.  Aufl.,  S.  363). 


Homosexualität  und  Eifersucht.  385 

Fall  Nr.  75.  Die  gleiche  Wurzel  zeigt  der  nächste  Fall  von  Eifersucht. 
Eine  dreißigjährige,  jung  verheiratete  Dame  konsultiert  mich  wegen  einer  un- 
motivierten Eifersucht,  die  sie  seit  vier  "Wochen  peinigt.  Sie  erzählt  die  Ge- 
schichte ihrer  Eifersucht:  Sie  nahm  ein  neues  Stubenmädchen  auf,  das  sehr 
jung  war,  ein  wenig  kokett,  aber  ihr  auf  den  ersten  Blick  sehr  sympathisch 
schien.  Schon  nach  einer  Woche  wurde  sie  eifersüchtig  und  fand,  daß  ihr  Mann, 
der  die  Dienstmädchen  sonst  gar  nicht  regardierte,  mit  dem  Mädchen  viel  zu 
freundlich  und  liebenswürdig  wäre.  Sie  bildete  sich  ein,  er  blicke  sie  sogar 
fast  herausfordernd  an.  Sie  schwieg  erst  lange,  weil  sie  sich  genierte,  das 
ihrem  Manne  zu  sagen.  Dann  aber  habe  sie  ihm  Vorstellungen  gemacht:  er 
müsse  der  Strenge  sein.  Sie  habe  ihn  aufgefordert,  einen  energischen  Ton  im 
Verkehre  mit  dem  Mädchen  anzuschlagen.  Ihr  Mann  habe  sie  ausgelacht.  Er 
sei  wie  immer  mit  den  Mädchen  und  nicht  anders.  Alles  wäre  Einbildung. 
Das  Mädchen  sei  sehr  brav,  er  habe  gar  keinen  Anlaß,  es  anzuschreien  oder 
einen  energischen  Ton  anzuschlagen.  Diese  Auskunft  habe  sie  nur  eine  Weile 
beruhigt.  Sie  beobachtete  ihren  Mann  noch  peinlicher  und  glaubte,  daß  ihm  das 
Mädchen  sehr  gut  gefalle.  Sie  wachte  auch  des  Nachts  auf  und  ging  mehrere 
Male  in  das  Dienstbotenzimmer,  um  das  Mädchen  zu  kontrollieren.  Einmal 
habe  sich  ihr  Mann  den  Magen  verdorben  und  mußte  öfters  in  der  Nacht 
hinauslaufen.  Sie  war  der  Überzeugung,  daß  das  nur  ein  Vorwand  wäre,  um 
zum  Dienstmädchen  zu  gehen  und  lief  ein  paar  Male  auf  den  kalten  Gang  ins 
Vorzimmer,  so  daß  ihr  Mann  fragte :  Was  hast  du  denn  heute?  Sie  erwiderte, 
sie  wäre  besorgt,  ob  ihm  nicht  schlecht  wäre.  Schließlich  brach  die  Eifer- 
sucht offen  durch  und  sie  machte  ihrem  Manne  die  heftigsten  Vorwürfe.  Sie 
wisse  es  ganz  bestimmt,  er  habe  mit  dem  Mädchen  ein  Verhältnis..  Ihr  Mann 
war  empört  und  forderte  sie  auf,  das  Mädchen  sofort  zu  entlassen,  dann  werde 
er  und  sie  endlich  Ruhe  von  der  „verrückten  Sache"  haben.  Da  geschah  das 
Merkwürdige,  daß  sie  das  Mädchen  nicht  entlassen  konnte  und  wollte.  Das 
Mädchen  wäre  so  brav  und  ordentlich,  man  finde  heute  so  selten  ein  braves 
Mädchen,  sie  beschwor  ihren  Mann,  er  möge  doch  viel  strenger  mit  dem 
Mädchen  sein.  Er  mußte  ihr  wieder  schwören,  daß  er  mit  dem  Mädchen  nichts 
habe.  Auf  das  Mädchen  hatte  sie  eine  sonderbare  Wut, 
die  sie  sich  nicht  erklären  konnte.  Sie  hätte  sich 
auf  das  Mädchen  stürzen  und  sie  schlagen  können,  was 
ihr  unbegreiflich  sei,  denn  sie  habe  nie  ein  Dienst- 
mädchen geschlagen.  Es  wäre  ihr  aber  eine  wahre 
Wollust,  diesem  Mädchen,  das  ihr  schon  so  viel  Leid 
verursacht  habe,  einige  Schläge  zu  geben.  Sie  müsse 
sich  mit  Gewalt  zurückhalten,  um  nicht  dem  Zorne 
nachzugeben.  Sie  sei  dem  Mädchen  gegenüber  be- 
sonders empfindlich  und  vertrage  nicht  den  geringsten 
Widerspruch. 

Trotzdem  sei  sie  nicht  imstande,  dem  Mädchen  zu  kündigen  und  habe 
auch  eine  Angst,  mit  dem  Mädchen  allein  zu  bleiben. 

Alle  diese  Störungen  entsprangen  der  homosexuellen  Einstellung  zu 
diesem  Mädchen,  das  in  der  Tat  eine  auffallende,  blonde  Schönheit  war.  Sic 
selbst  liebte  das  Mädchen,  deshalb  konnte  sie  nicht  begreifen,  daß  ihr  Mann  das 
Mädchen  nicht  begehren  mußte.  Ihr  Kalkül  war:  Wenn  ich  ein  Mann  wäre, 
ich  würde  sofort  mit  dem  Mädchen  ein  Verhältnis  anfangen.  Interessant  und 
geradezu  typisch  ist  die  Einstellung  mit  Wut  und  das  Bedürfnis;  zu  schlagen. 

Stekol,  Störungen  des  Trieb-  und  Affoktlebens.  II.  2.AuB.  25 


386 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Die  Liebe  wird  in  das  Gegenteil  konvertiert  und  das  Verlangen,  das  Mädchen 
zu  berühren  (mit  ihrem  Körper  in  Kontakt  zu- kommen!),  setzt  sich  als  Trieb 
durch,  das  Mädchen  zu  schlagen.  "Wie  viel  Berührungen  aus  Zorn,  Schläge, 
Püffe,  Stöße  usw.  entspringen  der  Liebe,  die  sich  als  Haß  äußert! 

Ich  machte  der  Frau  begreiflich,  daß  sie  dem  Mädchen  kündigen  müsse, 
und  sie  verstand  bald,  welchen  Kräften  die  Eifersucht  entstammte.  Nach  der 
Entlassung  des  Mädchens  schwanden  alle  die  beschriebenen  Symptome. 

Eine  andere  Art  von  Eifersucht  ist  die  Verschiebung  von  einem 
Objekte  auf  ein  anderes  oder  auf  die  ganze  Umgebung.  Die  Eifersucht 
dient  dazu,  um  das  eigentliche  Objekt  der  Eifersucht  vor  sich  und  der 
Welt  zu  verbergen. 

Fall  Nr.  76.  Frau  H.  G.  ist  eine  38jährige  Frau,  die  mit  ihrem  Manne  in 
glücklicher  Ehe  gelebt  hat.  Nun  ist  sie  unglücklich  durch  Eifersucht.  Lassen 
wir  ihr  das  Wort:  „Ich  suche  Sie  auf,  damit  Sie  mich  von  einem  Zustand 
befreien,  der  einfach  unerträglich  ist.  Ich  habe  einen  braven,  guten  Mann,  über 
den  ich  mich  gar  nicht  beklagen  kann.  Er  ist  in  jeder  Hinsicht  ein  feiner  und 
tadelloser  Mensch.  Um  so  mehr  betrübt  es  mich,  daß  ich  jetzt  so  eifersüchtig 
geworden  bin.  Das  kam  erst,  als  mein  Mann  eine  schwere  Krankheit  überstehen 
mußte,  einen  Typhus,  nach  dem  ihm  ein  Herzleiden  zurückgeblieben  ist.  Seit 
dieser  Krankheit  muß  er  sich  sehr  schonen  und  während  er  vorher  mit  mir 
zwei-  oder  dreimal  die  Woche  verkehrte,  kommt  das  jetzt  einmal  im  Monate 
vor.  Ich  verstehe  das,  daß  der  Mann  krank  ist;  der  Arzt  hat  mich  sogar 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  er  sich  so  wenig  als  möglich  aufregen  dürfe. 
Aber  trotzdem  werde  ich  den  Gedanken  nicht  los,  daß  er  mir  untreu  ist.  Ich 
schäme  mich  so  darüber,  daß  ich  meinem  Manne  noch  nie  ein  Wort  von  dieser 
Eifersucht  gesagt  habe.  Er  ist  ja  auch  mit  mir  meist  zusammen,  ich  kenne 
alle  seine  Wege,  ich  begleite  ihn  wiederholt.  Ich  kann  aber  nicht  immer  bei 
ihm  sein.  Da  stehe  ich  mit  der  Uhr  in  der  Hand  und  zähle  die  Minuten,  ja 
sogar  die  Sekunden,  bis  er  zurückkommt.  Immer  der  eine  Gedanke :  Er  betrügt 
dich  jetzt!  Geht  er  in  ein  anderes  Büro,  so  macht  er  das,  weil  dort  eine 
Beamtin  ist,  der  er  den  Hof  macht.  Ist  er  im  Kaffeehaus,  so  hat  er  ein 
Rendezvous.  Kommt  er  einige  Minuten  später  aus  dem  Büro,  so  war  er  bei 
einer  Dirne.  Kurz,  immer  verfolgen  mich  diese  bösen  Gedanken,  ich  kämpfe 
dagegen,  jedoch  ich  werde  sie  nicht  los." 

„Wie  lange  dauert  dieser  Zustand  schon?" 

„Eigentlich  hat  es  erst  begonnen,  seit  er  wegen  seines  Herzleidens  in 
Franzensbad  war.  Dort  lernte  er  ein  älteres  Mädchen  kennen,  46  Jahre  alt, 
die  auch  ganz  allein  war.  Beide  schlössen  sich  aneinander  und  leisteten  sich 
Gesellschaft.  Ich  kenne  das  Fräulein,  sie  ist  hochanständig  und  wenn  meine 
Vernunft  oben  ist,  so  sage  ich  mir:  Es  ist  gar  nichts  vorgefallen,  die  beiden 
haben  eine  vorübergehende  seelische  Beziehung  gehabt.  Aber  in  den  bösen 
Stunden  glaube  ich  das  Schlimmste.  Ich  habe  einmal  einen  Brief  gelesen,  den 
die  Dame  meinem  Manne  geschrieben  hatte.  Es  war  einige  Wochen  nach  der 
Kur  in  Franzensbad,  da  kam  eine  Schachtel,  in  der  waren  Blumen  und  ein 
Brief  an  meinen  Mann.  Die  Dame  schrieb,  sie  danke  ihm  für  seine  anregende 
Gesellschaft  während  der  Kur,  sie  habe  sich  sehr  gefreut,  einen  so  vornehmen, 
geistig  hochstehenden  Mann  kennen  gelernt  zu  haben  und  sie  hoffe,  daß  ihre 
Freundschaft  die  Zeit  der  Kur  überdauern  werde.    Da  machte  ich  meinem 


Homosexualität  uud  Eifersucht.  387 

Manne  Vorstellungen  und  quälte  ihn  mit  Eifersucht.  Er  versicherte  mir  mit 
seinem  Ehrenworte,  daß  es  sich  nur  um  rein  freundschaftliche  Beziehungen 
gehandelt  habe ;  abgesehen  von  seinen  Vorsätzen,  sei  er  ein  kranker  Mann  und 
sei  froh,  wenn  er  seine  Ruhe  habe.  Ich  forderte  aber  die  völlige  Unterbrechung 
des  Briefwechsels,  was  mein  Mann  auch  erfüllte.  Er  ist  ja  ein  guter  Kerl, 
der  mir  jeden  Wunsch  von  den  Augen  abliest  und  ich  schäme  mich,  daß  ich 
immer  so  schlecht  von  ihm  denken  muß." 

Wir  sehen  hier  eine  Quelle  der  Eifersucht.  Die  Frau  hatte  einen  Mann, 
der  sie  vollkommen  befriedigte;  nun  mußte  sie  auf  einmal  abstinent  leben. 
Aus  dieser  Abstinenz  entstand  der  Gedanke:  Du  bist  noch  jung  und  be- 
gehrenswert, dir  machen  so  viele  Männer  den  Hof.  Nimm  dir  einen  Lieb- 
haber! Sie  wurde  ganz  erfüllt  von  Begehrungsvorstellungen  und  projizierte 
sie  auf  ihren  Mann.  Dann  wäre  auch  seine  Untreue  ein  Motiv  für  die  ihre 
gewesen.  Sie  brauchte  seine  Untreue,  sie  wünschte  sie,  um  'sich  dann  ent- 
schuldigen zu  können.  Ihre  Zwangsvorstellungen  sind  die  Verhüllung  des 
Gedankens :  0,  daß  mein  Mann  auch  untreu  wäre,  damit  ich  ein  Recht  hätte, 
mir  einen  Liebhaber  zu  nehmen. 

Was  sie  auf  diesen  Gedanken  bracht«,  war  der  Umstand,  daß  die 
Frau  eines  Kollegen  ihres  Mannes  eine  sehr  leichtsinnige  Frau  war 
und  trotzdem  eine  sehr  schöne  gesellschaftliche  Stellung  einnahm.  Sie  spricht 
von  dieser  Frau  mit  sehr  großem  Affekt. 

„Nimmt  es  diese  Frau  mit  der  Treue  nicht  so  genau  wie  Sie?" 

„Diese  Frau?  Die  hat  nicht  einen,  sondern  immer  sechs  Liebhaber  zu 
gleicher  Zeit  und  noch  mehr.  Die  genießt  das  Leben.  Und  die  Liebhaber 
zahlen  ihr  alles.  Sie  hat  die  schönsten  Toiletten  und  Hüte,  macht  schöne 
Reisen  und  der  Mann  weiß  alles." 

„Ist  der  Mann  dieser  Frau  nicht  eifersüchtig?" 

„0  nein!  Der  weiß  alles  und  tröstet  sich  auf  seine  Weise.  Aber  wissen 
Sie,  was  merkwürdig  ist?  Diese  leichtsinnige  Frau  ist  auf  ihren  Mann  eifer- 
süchtig. Sie  macht  ihm  furchtbare  Szenen,  wenn  sie  von  seinen  Eskapaden 
hört  und  hat  doch  gar  kein  Recht  dazu.  Die  beiden  haben  sich  ja  gegen- 
seitige Freiheit  gegeben  .  .  ." 

Auch  diese  Erscheinung  kommt  häufig  vor  und  ist  sehr  interessant. 
•  Eheleute,  die  gesondert  leben,  jeder  zahllose  Verhältnisse  und  Abenteuer 
hat  und  die  trotzdem  aufeinander  sehr  eifersüchtig  sind,  es  aber  meistens 
nicht  zeigen  wollen.1)  Es  sind  Menschen,  die  einander  sehr  lieben,  aber  in 
dem  Kampfe  der  Geschlechter  die  Treue  als  Niederlage  werten,  als  eine 
Unterwerfung  unter  den  anderen,  die  lieber  zugrunde  gehen,  als  daß  sie  diese 
Liebe  eingestehen.2) 

Die  bewußte  Freundin  ist  eine  mondäne  Frau  mit  wunderbaren  Um- 
gangsformen, die  alle  Vergnügungen  mitmacht,  die  in  der  Gesellschaft  eine 


*)  Arthur  Schnitzler  hat  mit  großer  psychologischer  Meisterschaft  60  ein  Paar 
in  seinem  besten  Stücke  „Das  weite  Land"  beschrieben.  Der  Fabrikant  Hofrichter,  der 
von  Verhältnis  zu  Verhältnis  flattert,  und  ßeine  Frau,  die  sich  mit  einem  jungen 
Kadetten  tröstet,  6ind  so  ein  Paar,  das  einander  liebt  und  lieber  zugrunde  geht,  ehe 
es  sich  diese  Liebe  offen  eingesteht. 

9)  Vgl.   das  Kapitel  „Der  Kampf  der   Geschlechter"    in    meinem  Buche    „Das 

lieb«  Ich". 

20* 


388  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Rolle  spielt,  das  Leben  in  Vollen  Zügen  genießt.  Sie  ist  überdies  eine  schöne 
Frau  und   gefällt  unserer  eifersüchtigen  Patientin    sehr  gut. 

Hinter  ihren  eifersüchtigen  Gedanken  stecken  wieder  homosexuelle 
Phantasien.  In  dem  Momente,  als  ihr  Mann  seine  ehelichen  Beziehungen 
restringierte,  erwachte  das  verdrängte  gleichgeschlechtliche  Begehren.  Eine 
Untreue  wollte  sie  nicht  begehen.  Der  Mann  war  ihr  verschlossen.  Also 
mußten  sich  ihre  Gedanken  auf  die  Frau  richten.  Ihre  inneren  Gedanken 
waren:  Wenn  ich  ein  Mann  wäre,  ich  würde  jeden  Moment  eine  Frau  auf- 
suchen und  ganz  besonders  die  schöne,  leichtsinnige  Freundin,  die  mir  so 
gut  gefällt. 

Die  leichtsinnige  Freundin  hatte  alles  in  ihr  aufgewühlt.  Nicht  nur 
die  Homosexualität,  sondern  auch  alle  Dirneninstinkte,  die  in  jedem  Weibe 
tief  verborgen  schlummern  oder  vor  sich  und  vor  aller  Welt  offenkundig 
hervortreten.  Für  den  Genuß  der  Liebe  noch  bezahlt  werden,  jedesmal  die 
Anerkennung  der  sexuellen  Leistung  in  klingender  Münze  erhalten  —  das 
ist  eine  Phantasie,  die  sich  in  verschiedenen  Symptomen  bei  neurotischen 
Frauen  äußert. 

Alles,  was  eine  Frau  erreichen  kann,  erobert  sich  die  polygame 
Freundin  und  wird  trotzdem  nicht  verachtet.  Sie  verkehrt  in  der  feinsten 
Gesellschaft,  man  drückt  einfach  ein  Auge  zu,  weil  sie  es  so  geschickt 
verbirgt. 

Dieses  Beispiel  steht  immer  vor  ihren  Augen.  Sie  selbst  i'st  sexuell 
nicht  befriedigt,  sie  kommt  kaum  mit  ihrem  bescheidenen  Gehalte  aus  und 
sieht  vor  sich  eine  Frau,  die  alles  findet,  was  ihr  fehlt:  Liebe  und  Geld.  Sie 
muß  sich  immer  wieder  die  Frage  vorlegen:  Soll  man  anständig  sein? 

Sie  gibt  ähnliche  Gedankengänge  unumwunden  zu,  meint  aber,  das 
könne  nicht  die  Ursache  der  Eifersucht  sein.  Denn  sie  sei  auch  auf  das 
Dienstmädchen,  den  Diener  und  die  Kinder  eifersüchtig.  Sie  sei  sogar  auf 
ihre  Freunde  eifersüchtig.  Sie  habe  einen  guten  Freund,  den  sie  sozusagen 
einer  Freundin  abgetreten  habe,  weil  er  ihr  ganz  gleichgültig  war.  Seit  er 
mit  der  Freundin  verkehrt,  ist  sie  furchtbar  eifersüchtig  und  möchte  den 
Freund  wieder  erobern  und  ganz  allein  für  sich  haben.  Sie  verträgt  es  nicht, 
wenn  das  Kind  mit  anderen  Menschen  freundlich  ist,  wird  wild,  wenn  das 
Dienstmädchen  einen  Brief  oder  eine  Ansichtskarte  erhält.  E 's  .ist  dies  ' 
die  Wahrung  des  Besitzstandes  bei  verringerter 
sexueller  Befriedigung.  Sie  ist  sozusagen  auf  schmale  Kost  ge- 
setzt und  will  alle's,  was  die  Welt  an  Liebe  bieten  kann,  für  sich  allein 
reservieren.  Sie  will  das  Wenige,  was  sie  hat,  für  sich  behalten  und  als  ihr 
Eigentum  strenge  bewachen.  Man  sieht  eine  ähnliche  Erscheinung  bei 
Kindern,  welche  einen  bevorzugten  älteren  Bruder  oder  eine  ältere  Schwester 
haben.  Sie  werden  dann  furchtbar  eifersüchtig  auf  ihr  kleines  Eigentum  und 
sind  verzweifelt,  wenn  die  Geschwister  über  ihre  Spielsachen  kommen.  Die 
anderen  mögen  mehr  haben,  aber  sie  wollen  das  Wenige,  das  sie  haben,  für 
sich  allein  haben. 

So  erzählt  die  Patientin  von  ihrer  Eifersucht  auf  alles  und  auf  alle. 
Sie  zeigt  aber  wenig  Verständnis  für  psychologische  Zusammenhänge,  fürchtet  . 
zu  mir  zu  kommen,  weil  während  ihrer  Abwesenheit  vom  Hause  die  Bewachung 
des  Mannes  unterbrochen  wird  und  bleibt  einige  Tage  aus.    Es  ist,  als  ob 
sie  mir  etwas  Wichtiges  mitzuteilen  hätte  und  den  Mut  dazu  nicht  fände. 


Homosexualität  und  Eifersucht.  389 

Bald  kommt  sie  wieder  zu  mir  und  klagt  über  eine  Verschlimmerung 
der  Eifersucht;    sie  habe  heute  schrecklich  gelitten,  die  ganze  Nacht  kein 
.   Auge  geschlossen.   Und  allmählich  gesteht  sie,  daß  die  Eifersucht  eigentlich 
nach  dem  Tode  der  Mutter  begonnen  habe. 

„Wissen  Sie  —  Herr  Doktor  —  meine  Mutter  war  das  Muster  einer 
edlen  Frau.  Sie  war  tugendhaft,  fleißig,  gebildet,  milde,  ein  wahrer  Engel 
in  Menschengestalt.  Trotzdem  liebte  ich  —  ich  weiß  es  nicht  warum  — 
meinen  Vater  viel  mehr.  Vielleicht,  weil  er  mehr  mit  uns  spielte  und  sich 
viel  mehr  um  unsere  Unterhaltungen  und  Ausflüge  bekümmerte,  während 
.  uns  die  Mutter  mit  ziemlicher  Strenge  erzog  und  dafür  sorgte,  daß  wir  was 

*  Ordentliches  lernten.  Da  starb  meine  Mutter  an  einem  schmerzhaften  Neu- 
gebilde. Ich  dachte  daran:  „Jetzt  wirst  du  dem  Vater  die  Mutter  ersetzen 
müssen.  Du  mußt  dich  um  ihn  kümmern."  Der  Vater  war  schon  62  Jahre 
alt  und  wurde  hie  und  da  von  gichtischen  Schmerzen  geplagt.  Mein  Erstaunen 
war  groß,  als  der  Vater  schon  nach  einigen  Wochen  die  Trauer  ablegte  und 
sich  in  einen  eleganten  Lebemann  verwandelte,  er,  der  solide  Beamte,  der 
vorher  ohne  die  Mutter  keinen  Schritt  gegangen  ist!  .  .  .  Er  begann  ver- 
rufene Nachtlokale  zu  besuchen  und  ich  hörte  bald,  daß  er  mit  verschiedenen 
leichtsinnigen  Frauen  Verhältnisse  hatte.  Ich  war  so  untröstlich,  daß  ich 
täglich  auf  den  Zentralfriedhof  zum  Grabe  der  Mutter  hinausfuhr.  Dort 
warf  ich  mich  in  bitterer  Herzensnot  zu  Boden  und  flehte  und  weinte  zur 
Mutter.  „Mutter!"  —  schrie  ich  —  „du  kannst  es  nicht  zulassen,  daß  dein 
Ansehen  und  deine  Ehre  so  geschändet  werden!  Mutter,  du  mußt  der  lieder- 
lichen Wirtschaft  ein  Ende  machen!  Du  mußt  den  Vater  so  krank  machen, 
daß  er  nicht  mehr  sündigen  und  dein  Andenken  nicht  entweihen  kann."  So 
flehte  und  betete  ich.  Aber  es  half  mir  nichts.  Bald  merkte  ich,  daß  der 
Vater  mit  unserem  jungen  Dienstmädchen  ein  Verhältnis  habe  und  daß  sie 
sich  sein  Geld  verschreiben  lassen  wollte.  Ich  jagte  sie  mit  der  Polizei  aus 
dem  Hause,  weil  ich  darauf  gekommen  war,  daß  sie  den  Vater  bestohlen 
hatte.  0,  ich  war  wie  eine  Furie  und  unerbittlich,  weil  die  Ehre  meiner 
Mutter  auf  dem  Spiele  stand  und  ich  verlernt  hatte,  meinen  Vater,  der  mir 
das  Teuerste  war,  zu  achten.  Ich  hatte  nun  einige  Wochen  Ruhe,  weil  der 
Vater  an  einem  Gichtanfall  erkrankte.  Ich  flehte  zu  Gott,  zur  Mutter 
Gottes  sie  mögen  doch  den  Vater  ans  Bett  fesseln,  damit  er  keine  neuen 
Sünden  mehr  begehen  könnte.  Allein  der  Vater  wurde  bald  gesund  und  führte 
sein  lustiges  Leben  in  Nachtlokalen  weiter.  Chanteusen,  Balletteusen,  Dirnen 
und  anderes  Gesindel  kamen  in  seine  Wohnung  und  wurden  dort  reich  be- 
wirtet Da  hörte  ich  eines  Tages,  daß  mein  Vater  wieder  heiraten  werde. 
Er  hatte  sich  mit  einer  Witwe  im  Alter  von  42  Jahren  verlobt.  Ich  wußte 
sofort,  daß  diese  Person  nur  auf  das  Geld  meines  Vaters  spekulierte.  Ich 
kaufte    mir    einen    Revolver    und    ich     sage    Ihnen   ehr- 

•  lieh:  Ich  hätte  die  Person  oder  den  Vater  niederge- 
schossen, wenn  sie  zur  Trauung  gegangen  waren. 
Vielleicht  alle  beide,  weil  ich  entschlossen  war, 
die  Schmach  und  Erniedrigung  meiner  edlen  Mutter 
nicht  zuzulassen.  Ich  ging  in  die  Wohnung  dieser  Person  und  stieb 
so  fürchterliche  Drohungen  aus,  daß  die  Verlobung  bald  aufgelöst  wurde. 
Ich  sagte  dieser  abgefeimten  Kokotte:  „Lebend  werden  Sie  den  Altar  nicht 
erreichen!  Das  schwöre  ich   Ihnen  bei  dem  Andenken  meiner  Mutter!     Ich 


390  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

war  auch  fest  entschlossen,  beide  niederzuschießen.    Sie  können  daraus  er- 
sehen, wie  sehr  ich  aufgeregt  war. 

Mein  Vater  brach  darauf  mit  mir  und  meinen  Schwestern  den  Verkehr 
ab.  Aber  die  Hochzeit  kam  nicht  zustande,  das  war  mein  Verdienst.  Ich 
verkehrte  nicht  mehr  in  seinem  Hause,  bis  er  plötzlich  vom  Schlage  gerührt 
wurde  und  auf  uns  Kinder  angewiesen  war.  Da  haben  wir  uns  vollständig 
ausgesöhnt  und  seit  damals  habe  ich  erst  wieder  einen  Vater.  Ich  besuche 
ihn  jetzt  täglich,  wir  wechseln  uns  in  der  Pflege  ab." 

„Haben  Sie  kein  Schuldgefühl  und  denken  Sie  nie,  daß  der  Vater  krank 
wurde,  weil  Sie  es  wünschten.  Wünschten  Sie  ihn  nicht  so  krüppelhaft  und 
Ihrer  Pflege  ausgeliefert,  daß  er  nichts  mehr  anstellen  könnte?" 

„Ich  empfinde  keine  Schuld  und  keine  Reue.  Nur  Genugtuung  .  .  .  Ich" 
habe  es  so  gewünscht  und  es  ist  bo  gekommen.  Denn  jetzt  habe  ich  wieder 
einen  Vater,  dessen  ich  mich  nicht  schämen  muß.  Aber  Sie  dürfen  nicht 
glauben,  daß  ich  für  mich  eifersüchtig  war.  Ich  fühlte  mich  nur  als  die 
Stellvertreterin  der  Mutter." 

„Sind  Sie  auf  Ihre  Schwester  nicht  eifersüchtig?" 

„Ja  .  .  .  wenn  der  Vater  mit  ihr  sehr  lieb  ist,  so  fühle  ich  wieder  diese 
wilde  Eifersucht  in  mir  aufsteigen,  aber  ich  beherrsche  mich  .  .  ." 

Hier  sehen  wir  die  Eifersucht  erst  von  einem  inzestuösen  Wunsch  auf 
den  Mann  abgelenkt,  dann  auf  die  ganze  Umgebung.  Es  ist  die  Verschiebung 
der  Eifersucht  auf  alle,  um  die  eine  auf  den  Vater  besser  zu  verbergen.  Nach 
dem  Tode  der  Mutter  erstand  für  diese  Frau  eine  kritische  Situation.  Offen- 
bar war  ihr  Wunsch  als  Kind  so :  „Wenn  die  Mutter  sterben  würde,  so  würde 
ich  den  Vater  heiraten!"  Ein  Wunsch,  den  so  viele  Mädchen  haben  und  auch 
offen  aussprechen.  Jetzt  trat  mit  dem  Tode  der  Mutter  die  Konstellation 
ein.  Es  war  ein  Platz  beim  Vater  offen,  der  von  anderen  Frauen  besetzt 
wurde.  Daß  der  alte  Vater  noch  ein  Mann  war,  bewies  er  durch  seine  Hand- 
lungsweise. Dieser  Phantasie  stand  aber  eines  entgegen:  Ihr  Mann.  So 
lange  er  lebte,  konnte  sie  ja  nicht  zu  ihrem  Vater  ziehen.  Die  Krankheit 
ihres  Mannes  brachte  sie  ihrem  Ziele. um  ein  Stück  näher.  Denn  die  Ärzte 
sagten,  er  habe  ein  schweres  Herzleiden,  er  werde  nicht  mehr  lange  leben. 
So  konnte  sie  frei  werden.  Diese  Regung  erklärt  ihr  eine  Reihe  von  sonder- 
baren Träumen.  Sie  träumt  immer  wieder,  daß  sie  mit  ihrem  Manne  Streit 
hat  und  ihn  schlägt.  Einige  Male  hat  sie  ihn  im  Traume 
schon  erschlagen  und  sogar  schon  erschossen.  Sie 
ist  aber  auch  gegen  ihr  Kind  ungerecht  und  kann 
es     plötzlich    hassen. 

Wir  merken,  daß  die  Eifersucht  gegen  den  Mann  auch  den  Sinn  hat, 
einen  Haß  zu  motivieren,  der  ganz  anderen  Quellen  entströmt.  Denn  sie 
gesteht,-  daß  sie  in  den  Stunden  der  Eifersucht,  in  denen  sie  denkt,  ihr  Mann 
habe  sie  betrogen,  ihren  Mann  glühend  haßt  und  ihn  umbringen  könnte  .  .  . 
Der  Mann  ist  ein  Hindernis  und  der  Haß  gilt  diesem  Hindernisse.  In  den 
Träumen  tobt  sich  dieser  Haß  aus  und  bei  Tage  braucht  er  die  Rationali- 
sierung der  Eifersucht.  Denn  sie  gibt  zu,  daß  sie  ihren  Mann  nie  recht  ge- 
liebt habe.  Ihre  ganze  Liebe  gilt  dem  Vater.  Daß  sie  sich  vormacht,  für 
das  Andenken  der  edlen  Mutter  zu  kämpfen,  das  gibt  der  ganzen  Sache  ein 
ethisches  Mäntelchen  und  verbirgt  die  eigentlichen  Motive. 

Interessant  ist  die  Beziehung  dieser  Eifersucht  zur  Homosexualität. 
Sie  bildet  eine  wunderbare  Bestätigung  der  Ausführungen  über  Homosexuali- 


Homosexualität  und  Eifersucht,  391 

tat    Alan  muß  erst  begreifen,  wie  viele  Momente  hier  zusammenkamen    um 
diese  Regression  auf  das  Infantile  zustandezubringen:  Die  schwere  Krankheit 
ihres  Mannes,  seine  relative  Impotenz  und  Zurückhaltung,  die  Krankheit  der 
Mutter,  der  leichtsinnige  Lebenswandel  des  Vaters,  der  ihr  bewies,  daß  man 
sich  noch  im  Alter  ändern  könne  und  daß  es  nie  zu  spät  sei,  um  die  Liebe 
mit  vollen  Zügen  zu  genießen.  Die  Homosexualität  lag  bei  ihr  immer  bereit, 
um  loszubrechen.    Sie  identifizierte  sich  mit  dem  Vater  und  sah  die  hrauen 
mit  seinen  Augen  an.    Sie  hatte  'sich    in  eine  leidenschaftliche  Liebe  zum 
Manne  geflüchtet  und  kleine  homosexuelle  Episoden  ihrer  Kindheit  wurden 
leicht    überwunden.    Die  Einstellung  auf   die  Heterosexualität    gelang  mit 
Hilfe  des   geliebten  Mannes  vollkommen.    Die  Homosexualität  wurde  ver- 
drängt, um  in  der  Zeit  der  beginnenden  Menopause,  im  „kritischen  Alter 
der  Frau  wieder  hervorzubrechen.    Hier  spielen  die  Involutionsvorgänge  der 
Keimdrüsen,  die  Verringerung  des  weiblichen  organischen  Besitzstandes  eine 
Rolle.    Die  Impotenz  des  Mannes  und  das  Beispiel  der  schönen  Freundin,  in 
die  'sie  selbst  heimlich  verliebt  war,  weckten  wieder  die  homosexuellen  Emp- 
findungen, welche  sich  aber  nur  in  der  Form  von  Eifersucht  zeigten.    Erst 
das  Beispiel  des  Vaters,  der  ja  die  tiefste  Ursache  ihrer  Abkehr  vom  Manne 
war     brachte  sie  ganz   aus    dem   Gleichgewichte.    Sie    hätte    eine   Urlmde 
werden  können,  wenn  der  Vater  der  alte,  gute,  bescheidene,  stille  Mensch 
geblieben  wäre.    Da  er  aber  nach  dem  Tode  ihrer  Mutter  die  Maske  ablegte 
und  von  einem  Lebensrausch  ergriffen  wurde,  weckte  er  in  ihr  alle  bösen 
Instinkte.   Nicht  nur  die  infantilen  erotischen  Einstellungen,  sondern  auch  die 
infantile  Kriminalität.    Sie  tötete  im  Traume  ihren  Mann,  der  sie  hinderte, 
ganz  zum  Vater  zu  ziehen  und  den  alten  infantilen  Wunsch  zu  erfüllen, 
die  Frau  des  Vaters  zu  sein.    Sie  tötete  aber  auch  die  Kinder  und  die  Ge- 
liebte   unzählige  Male  in  ihrer  Phantasie.    Nicht  nur-  das  Bedürfnis    nach 
Liebe  meldete  sich  in  dem  kritischen  Alter  dieser  Frau,  sondern  auch  der 
Urgrund  alles  menschlichen  Fühlens,   der   Urschlamm,   aus   dem   sich   alles 
Große  und  Schöne  geboren  hat:  der  Haß. 

Haß  gegen  das  andere  Geschlecht  und  gegen  die  Rivalen,  Haß  gegen 
die  Kinder,  die  sie  ermorden  könnte,  wenn  der  Föhn  des  Zornes  die  Wogen 
ihrer  Seele  erregt  .  .  . 

Fall  Nr.  77.  Es  handelt  sich  um  ein  dreißigjähriges  Mädchen,  das  von 
einer  merkwürdigen  Form  der  Eifersucht  befallen  wurde.  Sie  ist  eifersüchtig 
auf  die  Wohnung  und  behütet  sie,  wie  ein  anderer  Mensch  seine  Geliebte 
behütet.  Sie  hat  eine  ältere  Schwester,  die  seit  fünf  Jahren  verheiratet  ist 
und  außerhalb  Wiens  lebt.  Diese  Schwester  war  ihr  mehr  als  die  Mutter 
und  als  alle  anderen  Freundinnen.  Sie  betrachtete  sie  als  ihre  zweite  Mutter, 
vertraute  ihr  alle  Geheimnisse  an,  ließ  sich  von  ihr  in  jeder  Hinsicht  leiten 
und  lenken.  Sie  war  vollkommen  glücklich  in  diesem  seelischen  Verhältnisse 
und  wünschte  sich  nichts  anderes.  Sie  liebte  nur  diese  eine  Schwester  die 
anderen  Geschwister  waren  ihr  mehr  oder  weniger  gleichgültig.  Plötzlich 
tauchte  in  der  Familie  das  Projekt  auf,  diese  Schwester  zu  verheiraten  und 
eine  Tante  brachte  einen  Bewerber  ins  Haus.  Sie  fand  diesen  Bewerber 
lächerlich,  nicht  passend  für  die  Schwester  und  kämpfte  mit  ihren  schwachen 
Kräften  gegen  diese  Verbindung.  Aber  ihre  Mutter  setzte  sich  mit  Feuereifer 
für  die  baldige  Hochzeit  ein.   Da  passierte  es  dem  Mädchen,  daß  sie  in  der 


392  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Nacht  aufwachte.  Unvermittelt  wie  ein  Blitz  durchschoß  sie  ein  fürchter- 
licher Gedanke:  „Du  mußt  deine  Mutter  umbringen!"  (Es  war  die  letzte 
Rettung  —  in  dem  Bestreben,  daß  die  Schwester  ewig  bei  ihr  bleiben  sollte 
Die  Mutter  war  die  Urheberin  ihres  Unglücks.  Sie  konnte  ohne  die  Schwester 
nicht  leben.)  Über  diesen  Gedanken  war  sie  so  entsetzt,  daß  sie  aus  Reu*» 
schwer  gemütsleidend  wurde.  Es  entwickelte  sich  eine  schwere  Neuron 
welche  im  Wesentlichen  aus  einem  System  von  Strafen  und  Bußen  be- 
stand welche  sie  sich  bewußt  auferlegte.  Und  erst  allmählich  entwickelte 
sich  die  Eifersucht  auf  die  Wohnung.  Die  Schwester  wohnte  außerhalb 
Wiens  m  Ungarn  und  mußte  zeitweise  nach  Wien  kommen.  Es  war  ja  selbst- 
verständlich daß  sie  in  der  großen  Wohnung  von  sieben  Zimmern,  die  sie 
ganz  allein  bewohnten  ein  Plätzchen  finden  konnte.  Das  Mädchen  ertrug 
aber  die  Anwesenheit  der  Schwester  in  der  Wohnung  nicht.  Sie  wurde  go^ 
mutskrank  fing  zu  weinen  an,  fand,  daß  die  Möbel  ruiniert  und  abgenützt 
wurden,  sc  Mief  ganze  Nächte  nicht  und  fragte  die  Schwester  täglich      We 

^TJ'Z\\R0Cr  }f  WiGn  Weiben?"  -  S0  daß  die  Schwester'ihren  Auf! 
enthalt  nach  Möglichkeit   abkürzen  mußte 

ein  Kind  T^w  u"8?  ^  Ah  dann  die  bester  Jahr  für  Jahr 
Schwer  h "  f  Wdt  w ZtG'  oduldete  Sie  M  nicht>  daß  die  Kinder  der 
ta£Sn£  J£r   i      ^  nSie,  WU1'de  nach  einem  solchen  Kinderbcsuch 

chw 5 \Z     ,  ,kl'anrk'    daß  die  Mutter  ihre  erheiratete  Tochter    be- 

Wohn  ,'nlT         an?rS  LT  ZU  nehmen-   Die  Kinder  durften  tarn  in  die 

mme,  lfai°mmenA  ^  "^  T  in  eine,n  bestimmten  Zimmer  aufhalten. 
Imme,  hatte  sie  Angst,  es  werde  etwas  in  der  Wohnung  ruiniert  Daß  es 
mch  die  Eifersucht  auf  die  Mutter  war,  beweist  der  Umland,-  daß  sie 
nichts  dagegen  hatte,  wenn  die  Mutter  ihre  Schwester  besuchte.  Sie  fuhr 
auch  gerne  mit  und  .war  dort  liebenswürdig  und  erträglich.  Sie  wurde  erst 
?JlnZvTen ft  RacheSöttin'  wenn  ihre  Wohnung  in  Frage  kam.  Selbst- 
verstandlich  wollte  sie  auch  die  Mutter  ganz  allein  für  sich  haben.  Die 
grenzenlose  Eifersucht  gegen  die  Schwester  war  anscheinend  vollkommen 
geschwunden  und  hatte  sich  ganz  auf  die  Wohnung  verschoben,  in  der  sie 
beide  einmal  so  glücklich  waren.  Haßgedanken  und  Beseitigungsideen  gegen 
die  Kinder  der  Schwester  stellten  sich  auch  ein.  Sie  dachte  an  eine  Vergif- 
tung, die  in  Ihrem  Haage  bei  einem  MaMe  vor  s.ch  gehen  goUte    Vielle.cht 

stammt  die  Angst  vor  der  Anwesenheit   der  Schwester  und   ihrer  Kinder 
gedanken  *"  ^   Sicherung   ^en   ihre  kriminellen   Rache- 

war iÄl^Q- nUP  €i.nen  Menschen  wahrhaft  geliebt:   die   Schwester.    Sie 
na,r  mi  alles-   Sle  nannte  sie  ihre  zweite  Mutter,  sie  nannte  sie  ihre  Freundin 

G rrV8ieÄre  G,eliebtG-    Sie  Wachte  deS  Mor^  airf  und  ihr  erster 

wl  Sl    ™  +        ^r^1,  Und  das  Bestrcben>  «*  Freude  zu  bereiten,  sie 

eg  e  sich  mit  einem  Gebete  für  die  Schwester  zu  Bette.    Sie  war  gut  und 

edel,    weil  sie  die  Schwester  liebte    und  weil    sie  glücklich  war,    daß   die 

Schwester  ihr  die  ganze  Zeit  widmete.    Sie  unterrichtete  sie,  ging  mit  ihr 

spazieren,  sie  führte  sie  in  die  Kunst  ein,  bildete  ihr  Herz.   Sie  war  glücklich 

und  wünschte  sich  nichts  anderes,  als  immer  so  mit  der  Schwester  zu  leben 

Da  kam  die  Verlobung  und  Heirat  der  Schwester.    Ihr  Herz  achrie  auf 

über   diesen  furchtbaren   Verrat  und  verhärtete  sich.    Sie  haßte   alles,   die 

ganze  Welt.   Die  Mutter,  welche  diese  Heirat  unterstützt  hatte,  die  anderen 

Schwestern,   welche  auch   dafür  waren,   die  Brüder,   welche  nicht  opponiert 


1 


Homosexualität  uod  Eifersucht.  393 

hatten.  Nur  eine  alte  Kinderfrau,  welche  immer  zu  ihr  gehalten  hatte,  ihr 
eiserner  Besitzstand  war,  wurde  von  dem  Hasse  ausgenommen  und  blieb  als 
eine  Art  bescheidenen  Liebesobjektes.  Die  Wohnung  aber  war  erfüllt  von 
Erinnerungen  an  die  liebe  Schwester.  Die  Möbel  waren  die  stummen  und 
doch  so  beredten  Zeugen  ihres  einstigen  Liebesglückes.  Sie  durften  nicht 
durch  die  Anwesenheit  der  treulosen,  veränderten  Schwester  entweiht  werden. 
Die  Kinder  haßte  sie,  wünschte  ihnen  den  Tod  und  trotzdem  fürchtete  sie, 
sie  könnte  ihnen  ein  Leides  tun.  In  ihr  kämpften  eben  zwei  Menschen!  Die 
Verbrecherin  und  die  Moralische.  Der  Anblick  der  Kinder  war  ihr  widerlich. 
Sie  trugen  die  Züge  der  Schwester  und  jenes  Mannes,  der  sie  ihr  geraubt. 

Ihr  ganzer  Besitzstand  war  die  Erinnerung  und  die  Möbel,  die  alten 
Zimmer,  welche  der  Phantasie  die  notwendige  reale  Grundlage  gaben.  „Die 
Erinnerung  ist  das  einzige  Paradies,  aus  dem  wir  nicht  vertrieben  werden 
können",  sagt  Jean  Paul.  Sie  konstruierte  sich  aus  ihrer  Wohnung  einen 
Tempel  der  Erinnerungen,  in  dem  jedes  Stück  von  dem  vergangenen  Glücke 
sprach,  in  dem  sie  noch  jetzt  lebte.  Denn  der  ganze  Tag  verging  in  Trödeln 
und  Phantasieren.  Sie  lebte  immer  nur  die  süßen  Stunden  und  Tage  mit  der 
Schwester  durch.  Kriminelle  Phantasien,  alle  anderen  zu  vergiften,  führten 
schließlich  auf  dem  Wege  der  Talion  zu  einer  Angst  vor  Vergiftung.  Sie 
hörte  auf,  alles  wahllos  zu  essen,  wie  sie  es  vorher  getan.  Sie  witterte  Gjft 
in  allen  Speisen.  Sie  begann  nach  den  Mahlzeiten  zu  erbrechen.  Sie  sonderte 
sich  von  allen  Menschen  ab  bis  auf  eine  Freundin,  die  treu  zu  ihr  hielt  und 
ihre  Abneigung  gegen  die  Schwester  teilte.  Sie  lebte  in  ständiger  Angst, 
sie  könnte  ihre  Mutter  ermorden,  weil  die  Imperative  („Töte  sie!")  immer 
wiederkehrten.  Den  Männern  ging  'sie  aus  dem  Wege.  Alle  Versuche,  sie 
zu  verheiraten  und  für  einen  Mann  zu  interessieren,  schlugen  fehl  .  .  . 

Die  Wohnung  war  ihr  Tempel,  der  nicht  entweiht  werden  durfte.  Dort 
verrichtete  sie  täglich  ihre  Andacht  und  dort  verankerten  sich  alle  ihre 
Liebesmöglichkeiten. 

Der  Fall  steht  hart  an  der  Grenze  der  Psychose.  » 

Nach  einer  halbjährigen  psychanalytischen  Behandlung  trat  eine  be- 
deutende Besserung  ein.  Sie  konnte  die  Besuche  der  Schwester  wieder  er- 
tragen, verlor  die  Zwangsimpulse,  die  Mutter  zu  töten,  konnte  wieder  alles 
essen  und  verlor  vollkommen  das  „nervöse"  Erbrechen.  Einen  sehr  günstigen 
Heiratsantrag  hatte  sie  zurückgewiesen.  Den  Männern  ging  sie  nach  wie 
vor  aus  dem  Wege. 

Nun  zu  den  nächsten  Fällen! 

Fall  Nr.  78.  Herr  R.  T.,  ein  bekannter  Dichter,  erst  31  Jahre  alt, 
leidet  ebenfalls  an  einer  pathologischen  Eifersucht,  die  ihn  schon  wiederholt 
in  schwere  Konflikte  gebracht  hat.  Er  war  immer  an  seine  Familie  fixiert 
und  lebte  nur  für  seine  Eltern  und  Geschwister.  Besonders  an  der  Mutter 
hing  er  mit  abgöttischer  Liebe.  Er  begann,  sich  mit  18  Jahren  in  die 
„Mädchen"  seiner  Freunde  zu  verlieben.  Sogar  in  eine  Dirne,  die  sein  bester 
Freund  öfters  besuchte,  verliebte  er  sich.  Schon  damals  trat  eine  starke 
Eifersucht  ein  und  er  forderte  die  Dirne  auf,  ihrem  Lebenswandel  zu  ent- 
sagen. (Es  ist  dies  das  typische  Erlebnis  aller  Jünglinge,  die  an  die  Mutter 
fixiert  sind.  Sie  suchen  ein  bipolares  Gegenstück  zur  Mutter  und  verknüpfen 
damit  eine   Rettungsphantasie.    Diese  Rettungsphantasie  verschleiert  nach 


392 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Nacht  aufwachte.  Unvermittelt  wie  ein  Blitz  durchschoß  sie  ein  fürchter- 
licher Gedanke:  „Du  mußt  deine  Mutter  umbringen!"  (Es  war  die  letzte 
Rettung  —  in  dem  Bestreben,  daß  die  Schwester  ewig  bei  ihr  bleiben  sollte. 
Die  Mutter  war  die  Urheberin  ihres  Unglücks.  Sie  konnte  ohne  die  Schwester 
nicht  leben.)  Über  diesen  Gedanken  war  sie  so  entsetzt,  daß  sie  aus  Reue 
schwer  gomtitsleidond  wurde.  Es  entwickelte  sich  eine  schwere  Neuros« 
welche  im  Wesentlichen  aus  einem  System  von  Strafen  und  Bußen  be- 
stand, welche  sie  sich  bewußt  auferlegte.  Und  erst  allmählich  entwickelte 
sich  die  Eifersucht  auf  die  Wohnung.  Die  Schwester  wohnte  außerhalb 
Wien?  in  Ungarn  und  mußte  zeitweise  nach  Wien  kommen.  Es  war  ja  selbst- 
verständlich daß  sie  in  der  großen  Wohnung  von  sieben  Zimmern,  die  sie 
ganz  allein  bewohnten,  ein  Plätzchen  finden  konnte.  Das  Mädchen  ertrug 
aber  die  Anwesenheit  der  Schwester  in  der  Wohnung  nicht.  Sie  wurde  ge- 
mütskrank fing  zu  weinen  an,  fand,  daß  die  Möbel  ruiniert  und  abgenützt 
wurden,  schlief  ganze  Nächte  nicht  und  fragte  die  Schwester  täglich:  „Wie 
lange  wirst  du  noch  in  Wien  bleiben?"  -  -  so  daß  die  Schwester  ihren  Auf- 
enthalt nach   Möglichkeit   abkürzen  mußte. 

So  verstrichen  einige  Jahre.    Als  dann  die  Schwester  Jahr  für  Jahr 
ein  Kind    in  die  Welt  setzte,    duldete  sie  es   nicht,    daß   die  Kinder  der 
Schwester  bei  ihnen  wohnten.    Sie  wurde  nach  einem  solchen  Kinderbesuch 
jedesmal  so  schwer  krank,    daß  die  Mutter  ihre  verheiratete  Tochter    be- 
schwor, irgendwo  anders  Logis  zu  nehmen.   Die  Kinder  durften  kaum  in  die 
Wohnung  kommen    dann  sich  nur  in  einem  bestimmten  Zimmer  aufhalten. 
Immer  hatte  sie  Angst,  es  werde  etwas  in  der  Wohnung  ruiniert.    Daß  es 
nicht  die  Eifersucht    auf  die  Mutter  war,    beweist    der  Umstand,    daß  sie 
nichts  dagegen  hatte,    wenn  die  Mutter  ihre  Schwester  besuchte.    Sie  fuhr 
auch  gerne  mit  und  war  dort  liebenswürdig  und  erträglich.    Sie  wurde  erst 
zu  einer  zürnenden  Rachegöttin,  wenn  ihre  Wohnung  in  Frage  kam.    Selbst- 
verständlich wollte  sie  auch   die  Mutter  ganz   allein   für  sich   haben.    Die 
grenzenlose   Eifersucht   gegen   die   Schwester   war    anscheinend   vollkommen 
geschwunden  und  hatte  sich  ganz  auf  die  Wohnung  verschoben,  in  der  sie 
beide  einmal  so  glücklich  waren.  Haßgedanken  und  Beseitigungsideen  gegen 
die  Kinder  der  Schwester  stellten  sich  auch  ein.    Sie  dachte  an  eine  Vergif- 
tung, die  in  ihrem  Hause  bei  einem  Mahle  vor  sich  gehen  sollte.    Vielleicht 
stammt  die  Angst  vor   der  Anwesenheit   der   Schwester  und   ihrer  Kinder 
aus  dieser   Quelle   und   war  eine   Sicherung   gegen   ihre   kriminellen   Rache- 
gedanken. 

Sic  hatte  nur  einen  Menschen  wahrhaft  geliebt:  die  Schwester.  Sie 
war  ihr  alles.  Sie  nannte  sie  ihre  zweite  Mutter,  sie  nannte  sie  ihre  Freundin 
und  sie  nannte  sie  ihre  Geliebte.  Sie  wachte  des  Morgens  auf  und  ihr  erster 
Gedanke  war  die  Schwester  und  das  Bestreben,  ihr  Freude  zu  bereiten  sie 
legte  sich  mit  einem  Gebete  für  die  Schwester  zu  Bette.  Sie  war  gut  und 
edel,  weil  'sie  die  Schwester  liebte  und  weil  sie  glücklich  war,  daß  die 
Schwester  ihr  die  ganze  Zeit  widmete.  Sie  unterrichtete  sie,  ging  mit  ihr 
spazieren,  sie  führte  sie  in  die  Kunst  ein,  bildete  ihr  Herz.  Sie  war  glücklich 
und  wünschte  sich  nichts  anderes,  als  immer  so  mit  der  Schwester  zu  leben. 

Da  kam  die  Verlobung  und  Heirat  der  Schwester.  Ihr  Herz  schrie  auf 
über  diesen  furchtbaren  Verrat  und  verhärtete  sich.  Sie  haßte  alles,  die 
ganze  Welt.  Die  Mutter,  welche  diese  Heirat  unterstützt  hatte,  die  anderen 
Schwestern,  welche  auch  dafür  waren,   die  Brüder,   welche  nicht  opponiert 


_. 


Homosexualität  und  Eifersucht.  uqq 

hatten.  Nur  eine  alte  Kinderfrau,  welche  immer  zu  ihr  gehalten  hatte,  ihr 
eiserner  Besitzstand  war,  wurde  von  dem  Hasse  ausgenommen  und  blieb  als 
eine  Art  bescheidenen  Liebesobjektes.  Die  Wohnung  aber  war  erfüllt  von 
Erinnerungen  an  die  liebe  Schwester.  Die  Möbel  waren  die  stummen  und 
doch  so  beredten  Zeugen  ihres  einstigen  Liebesglückes.  Sie  durften  nicht 
durch  die  Anwesenheit  der  treulosen,  veränderten  Schwester  entweiht  werden. 
Die  Kinder  haßte  sie,  wünschte  ihnen  den  Tod  und  trotzdem  fürchtete  sie, 
sie  könnte  ihnen  ein  Leides  tun.  In  ihr  kämpften  eben  zwei  Menschen!  Die 
Verbrecherin  und  die  Moralische.  Der  Anblick  der  Kinder  war  ihr  widerlich. 
Sie  trugen  die  Züge  der  Schwester  und  jenes  Mannes,  der  sie  ihr  geraubt. 

Ihr  ganzer  Besitzstand  war  die  Erinnerung  und  die  Möbel,  die  alten 
Zimmer,  welche  der  Phantasie  die  notwendige  reale  Grundlage  gaben.  „Die 
Erinnerung  ist  das  einzige  Paradies,  aus  dem  wir  nicht  vertrieben  werden 
können",  sagt  Jean  Paul.  Sie  konstruierte  sich  aus  ihrer  Wohnung  einen 
Tempel  der  Erinnerungen,  in  dem  jedes  Stück  von  dem  vergangenen  Glücke 
sprach,  in  dem  sie  noch  jetzt  lebte.  Denn  der  ganze  Tag  verging  in  Trödeln 
und  Phantasieren.  Sie  lebte  immer  nur  die  süßen  Stunden  und  Tage  mit  der 
Schwester  durch.  Kriminelle  Phantasien,  alle  anderen  zu  vergiften,  führten 
schließlich  auf  dem  Wege  der  Talion  zu  einer  Angst  vor  Vergiftung.  Sie 
hörte  auf,  alles  wahllos  zu  essen,  wie  sie  es  vorher  getan.  Sie  witterte  Gift 
in  allen  Speisen.  Sie  begann  nach  den  Mahlzeiten  zu  erbrechen.  Sie  sonderte 
sich  von  allen  Menschen  ab  bis  auf  eine  Freundin,  die  treu  zu  ihr  hielt  und 
ihre  Abneigung  gegen  die  Schwester  teilte.  Sie  lebte  in  ständiger  Angst, 
sie  könnte  ihre  Mutter  ermorden,  weil  die  Imperative  („Töte  sie!")  immer 
wiederkehrten.  Den  Männern  ging  sie  aus  dem  Wege.  Alle  Versuche,  sie 
zu  verheiraten  und  für  einen  Mann  zu  interessieren,  schlugen  fehl  .  .  . 

Die  Wohnung  war  ihr  Tempel,  der  nicht  entweiht  werden  durfte,  Dort 
verrichtete  sie  täglich  ihre  Andacht  und  dort  verankerten  sich  alle  ihre 
Liebesmöglichkeiten. 

Der  Fall  steht  hart  an  der  Grenze  der  Psychose.  - 

Nach  einer  halbjährigen  psychanalytischen  Behandlung  trat  eine  be- 
deutende Besserung  ein.  Sie  konnte  die  Besuche  der  Schwester  wieder  er- 
tragen, verlor  die  Zwangsimpukse,  die  Mutter  zu  töten,  konnte  wieder  alles 
essen  und  verlor  vollkommen  das  „nervöse"  Erbrechen.  Einen  sehr  günstigen 
Heiratsantrag  hatte  sie  zurückgewiesen.  Den  Männern  ging  sie  nach  wie 
vor  aus  dem  Wege. 

Nun  zu  den  nächsten  Fällen! 

Fall  Nr.  78.  Herr  R.  T.,  ein  bekannter  Dichter,  erst  31  Jahre  alt, 
leidet  ebenfalls  an  einer  pathologischen  Eifersucht,  die  ihn  schon  wiederholt 
in  schwere  Konflikte  gebracht  hat.  Er  war  immer  an  seine  Familie  fixiert 
und  lebte  nur  für  seine  Eltern  und  Geschwister.  Besonders  an  der  Mutter 
hing  er  mit  abgöttischer  Liebe.  Er  begann,  sich  mit  18  Jahren  in  die 
„Mädchen"  seiner  Freunde  zu  verlieben.  Sogar  in  eine  Dirne,  die  sein  bester 
Freund  öfters  besuchte,  verliebte  er  sich.  Schon  damals  trat  eine  starke 
Eifersucht  ein  und  er  forderte  die  Dirne  auf,  ihrem  Lebenswandel  zu  ent- 
sagen. (Es  ist  dies  das  typische  Erlebnis  aller  Jünglinge,  die  an  die  Mutter 
fixiert  sind.  Sie  suchen  ein  bipolares  Gegenstück  zur  Mutter  und  verknüpfen 
damit  eine   Rettungsphantasie.    Diese   Rettungsphantasie  verschleiert  nach 


394 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


meinen  Forschungen  nur  den  Wunsch,  sieh  selbst  zu  retten  .  .  .)  Er  wurde 
bald  mit  dieser  Liebe,  die  sehr  heftig  einsetzte,  fertig  und  mußte  Berlin 
verlassen,  weil  er  mit  seinen  Eltern  nicht  beisammen  leben  konnte.  Es  kam 
immer  wieder  zu  Streitigkeiten  zwischen  ihm  und  der  Mutter,  was  ihn  in 
seinem  Schaffen  sehr  behinderte. 

Er  wurde  mittlerweile  sehr  berühmt  und  konnte  über  große  Einkünfte 
verfügen.  Er  hatte  sich  angewöhnt,  mit  Freunden  die  ganzen  Nächte  in 
Cafes  oder  Vergnügungslokalen  zuzubringen  und  erst  Morgens  nach  Hause 
zu  kommen.  In  den  Mittagsstunden  stand  er  auf  und  da  schrieb  er  einige 
Stunden  bei  Tage,  das  war  seine  einzige  Arbeit. 

In  einem  Kabarett  lernte  er  ein  Mädchen  kennen,  das  die  Aufsicht  über 
die  damit  verbundene  Bar  hatte.    Sie  war  damals  35  Jahre  alt,  gab  sich 
aber  für  28  aus  und  sah  auch  viel  jünger  aus,  als  sie  in  der  Tat  war.    Mit 
diesem  Mädchen  knüpfte  er  Beziehungen  an,  die  erst  ganz  leichter  Natur 
waren.    Er  wußte,  daß  sie  von  einem  Grafen  ausgehalten  wurde,  was  ihn 
nicht  hinderte,  sich  von  ihr  „aus  Neigung"  lieben  zu  lassen.   Es  schmeichelte 
ihm  unendlich,   daß  dieses  Mädchen  oder  sagen  wir  lieber  diese  Frau  ihn 
allen  vorziehen  und  so  selbstlos  lieben  konnte.    Seine  Neigung  wurde  täglich 
stärker,  ebenso  auch  ihre  Liebe.    Sie  gab  den  Grafen  auf  und  gestand  ihm, 
daß  sie  nur  ihn  liebe  und  sich  nie  mehr  einem  anderen  hingeben  werde.    Er 
war  darüber  ganz  selig;  sie  mieteten  eine  gemeinsame  Wohnung.    Bald  je- 
doch verlangte  er,  daß  sie  die  Stelle  in  der  Bar  aufgeben  möge,  weil  sie  zu  viel 
mit  Herren  in  Berührung  kam.    Das  tat  sie  auch  gerne.    Bevor  er  jedoch 
mit  ihr  eine  gemeinsame  Wohnung  bezogen  hatte,  verlangte  er  eine  voll- 
kommene Generalbeichte  über    die  Vergangenheit.    Sie    erzählte    ihm  eine 
romantische  Lebensgeschichte  und  nannte  vier  Männer,  die  sie  vor  ihm  be- 
sessen hatten.    (In  Wahrheit  waren  es  Dutzende!)    Er  wurde    auf    diese 
Männer  rasend   eifersüchtig.    Sie  mußte  ihm  immer    wieder    die  Geschichte 
der  Vergangenheit  erzählen,  dann  wurde  er  wütend,  erregte  sich  sehr  sexuell, 
stellte  sich  vor,  wie  er  sich  an  den  Rivalen  rächen  könnte,  wie  er  sie  peitschen, 
ohrfeigen  oder    im  Duell  niederschießen,    sie  mit  dem  Säbel    durchbohren 
würde;  sein  Zorn  gegen  das  unglückliche  Mädchen  wuchs,  er  beschimpfte  sie, 
nannte  sie  „Dirne",  „Luder",  „Mistvieh",  er  drohte  ihr,  er  werde  sie  sofort 
verlassen,  er  schlug  sie  und  vollzog  dann  unter  großem  Orgasmus  den  Koitus. 
Bald  begann  ihn  aber  der  Zweifel  zu  plagen,  ob  sie  ihm  auch  wirklich 
die  ganze  Wahrheit  gesagt  hätte.    Er  durchforschte  ihre  Vergangenheit  und 
suchte  nach  dunklen  Punkten.    Ein  Detektiv  wurde  beauftragt,  sie  in  seiner 
Abwesenheit  zu  bewachen  und  ihre  Vergangenheit  ausfindig  zu  machen.   Bald 
hatte  dieser  Mann  den  gesamten  Tratsch  der  Nachbarschaft  aufgefangen  und 
als  Wahrheit  vorgebracht.  Neben  den  ihm  offen  zugestandenen  Verhaltnissen 
kamen  allerdings  noch  einige  andere  Liaisons  zutage,  von  denen  die  Frau 
nichts  erzählt  hatte.    Auch  mußte  sie  eingestehen,  daß  sie  viel  älter  war, 
als  sie  ihm  angegeben  hatte. 

Nun  begannen  Jahre  der  größten  Qual  und  einer  permanenten  Folter. 
Er  begann  schon  des  Morgens  nachzudenken,  wer  noch  von  seinen  Bekannten 
oder  Fremden  diese  Frau  besessen  haben  könnte.  Er  fragte  sie  erst  eindring- 
lich dann  immer  stürmischer,  er  ließ  sie  Eide  schwören,  dann  schlug  er  sie 
und'  wollte  das  Geständnis  mit  Gewalt  erpressen.  Vergebens  beschwor  sie 
ihn  und  machte  ihn  aufmerksam,  daß  sie  für  ifire  Vergangenheit  nicht  ver- 
antwortlich sei,  sie  habe  ihn  ja  damals  nicht  gekannt,  sie  habe  schon  als 


Homosexualität  und  Eifersucht.  395 

junges  Mädchen  das  ganze  Haus  und  eine  kranke  Mutter  erhalten  müssen; 
es  half  nichts,  er  gab  keine  Ruhe. 

Als  er  zufällig  bei  seinen  Forschungen  wieder  auf  einen  Mann  stieß, 
der  in  der  Liste  noch  fehlte,  warf  er  ein  Glas  nach  ihrem  Kopfe  und  ver- 
letzte sie  so  schwer,  daß  sie  mehrere  Wochen  krank  war.  Er  suchte  Streit 
mit  den  alten  Liebhabern  und  forderte  sie  aus  nichtigen  Anlässen,  ver- 
wundete einige,  da  er  ein  guter  Fechter  war. 

Schließlich  trennten  sich  die  beiden  Liebenden.  Die  Frau  hielt  es  nicht 
mehr  aus  und  drohte,  sich  das  Leben  zu  nehmen.  Aber  nach  einigen  "Wochen 
wurde  sie  krank  und  rief  ihn  an  das  Krankenlager.  Bei  einer  anderen  Ge- 
legenheit war  das  wieder  umgekehrt.  Kurz  —  die  beiden  Leute  kamen  nicht 
auseinander.  Es  war  die  letzte  Liebe  dieser  Frau,  deren  Reize  die  erste  Blüte 
verloren  hatten.  Sie  wollte  sich  mit  Hilfe  dieser  Liebe  in  die  Ehe  oder  in 
eine  der  Ehe  ähnliche  Existenz  retten.  Er  aber  hatte  das  Verhältnis  nur 
begonnen  wie  alle  anderen  und  war  plötzlich  in  eine  unlösliche  Beziehung 
gekommen,  die  ihn  von  der  ganzen  Welt  isolierte.  Denn  er  traute  sich  nicht, 
mit  seiner  Freundin  auszugehen.  Er  hatte  immer  das  unangenehme  Gefühl, 
er  werde  einem  der  früheren  Liebhaber  begegnen,  ja  er  durchforschte  die 
Züge  aller  Passanten,  ob  sie  ihn  nicht  auslachten. 

Er  hatte  einen  Freund,  der  ihm  vollkommen  ergeben  war.  Dieser  " 
Freund  haßte  seine  Freundin,  weil  sie  ihm  ja  den  besten  Freund  geraubt 
hatte.  Dieser  Freund  war  sejn  willenloser  Sklave.  Er  wurde  der  Wächter 
dieser  armen  Frau.  Aber  der  Freund  hatte  eine  sonderbare  Leidenschaft.  Er 
trachtete,  alle  Frauen  zu  besitzen,  welche  seinem  Freunde  gehörten.  (Es  ist 
dies  eine  durchsichtige  Maske  der  Homosexualität,  wie  ich  bereits  besprochen 
habe.)  So  kam  es,  daß  er  auch  dieser  Frau  den  Hof  machte,  die  sich  dadurch 
rächte,  daß  sie  scheinbar  darauf  einging  und  als  sie  Beweise  seiner  Pläne  in 
den  Händen  hatte,  dies  ihrem  Geliebten  mitteilte.  Es  kam  zu  furchtbaren 
Szenen,  zu  Revolverschüssen,  die  glücklicherweise  keinen  verletzten. 

Nun  begann  er  seine  Freundin  mit  den  Beziehungen  zum  Freunde  "a 
quälen.  Er  suchte  offenbar  nach  einem  Motiv,  um  mit  ihr  zu  brechen,  und 
schwor  sich,  er  werde  sie  sofort  verlassen,  wenn  er  ihr  auf  das  Geringste 
kommen  werde.  Sie  aber  zitterte  so  vor  seinen  Nachstellungen,  daß  sie  nie 
mehr  allein  auf  die  Gasse  ging  .  .  . 

Die  Motive  seines  Handelns  sind  klar.  Es  handelt  sich  um  eine  starke 
Homosexualität,  welche  sich  als  Eifersucht  auf  die  anderen  Männer  äußert. 
Daß  er  denken  kann,  dieser  oder  jener  Mann  hätte  sie  besessen,  gerade  das 
macht  den  stärksten  Reiz  dieses  Weibe's  aus.  Wenn  dieser  Mann  beteuert, 
daß  er  glücklich  wäre,  wenn  er  dieses  Weib  als  Unschuld  kennen  gelernt 
hätte,  so  täuscht  er  sich.  Er  wird  immer  wieder  die  Dirne,  das  anrüchige 
Weib  suchen.  Gerade  der  Umstand,  daß  diese  -Frau  älter  ist  als  er,  macht 
ihre  stärkste  Anziehungskraft  aus.  Denn  er  sucht  nach  einer  Mutterimago 
und  fühlt  sich  auch  am  wohlsten,  wenn  diese  Frau  ihn  bemuttert.  Wie  fast 
alle  Homosexuellen  hat  er  eine  große  Neigung  zur  Mutter.  Er  hat  aber  wie 
der  Homosexuelle  noch  nicht  die  Flucht  zum  Manne  vollzogen,  sondern  die 
Flucht  zur  Dirne,  zu  dem  entwerteten  Weibe  .  .  . 

Er  möchte  gerne  von  dieser  Frau  loskommen.  Aber  er  hat  sich  ihr 
durch  ihre  Verletzung,  von  der  ihr  eine  häßliche  Narbe  im  Gesichte  zurück- 
blieb, durch  sein  Schuldgefühl  vollkommen  ausgeliefert.  Da  er  ihr  den  Tod 
wünscht,  um  frei  zu  werden,  kettet  ihn  das  Gewissen  zehnfach  unlösbar  an 


ggg  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

sein  Opfer.  Seine  kriminellen  Phantasien  umspielen  beständig  die  gemarterte 
Frau  und  ihre  ehemaligen  Liebhaber.  Mit  Hilfe  der  Eifersucht  kann  er  seine 
geheimen  Mordgedanken  offen  ausdenken.  Dazu  kommt,  daß  er,  wie  viele 
Künstler,  sehr  abergläubisch  und  der  Ansicht  ist,  daß  ihm  diese  Frau  Glück 
gebracht'  hat.  Seit  er  sie  besitzt,  hat  er  unter  dem  Einfluß  der  großen  Auf- 
regungen seine  besten  Werke  geschaffen  und  die  größten  Erfolge  errungen. 
So  scheint  das  Verhältnis  für  sein  ganzes  Leben  gefügt  zu  sein  und  er  dürfte 
nicht  mehr  von  ihr  loskommen  .  .  . 

Es  gibt  gewiß  auch  eine  andere  Form  der  Eifersucht.  Wo  sie 
aber  in  diesen  pathologischen  Formen  auftritt,  wird  es  nie  schwer  fallen, 
die  Homosexualität  und  die  damit  verbundene  Kriminalität  als 
treibende  Kräfte  nachzuweisen.  Der  letzte  Fall  ist  besonders  be- 
weisend und  durch  die  Teilnahme  des  Freundes  sehr  charakteristisch. 

Unser  Patient  muß  an    die  Männer  denken,    weil  es  ihn  treibt, 
seine  Homosexualität  zu  betätigen.   Er  denkt  daran  auf  Umwegen,  so- 
zusagen über  und  durch  das  Weib.    Die  Eifersucht  gestattet  ihm,  an 
den  nackten  Mann  zu  denken;  er  malt  sich  den  Phallus  seines  Rivalen 
aus,  er  vergleicht  ihn  mit  dem  seinen;   er  schwelgt  in  den  Wonnen,  die 
seine  Geliebte  durch  einen  anderen  Mann  genossen;  er  fühlt  sich  ganz 
in  das  Weib  ein,  so  daß  er  in  diesen  Phantasien  selbst  ein  Weib  wird. 
Er  haßt  das  Weib  in  sich  und  überträgt  diesen  Haß  auf  sein  zweites 
Ich,  auf  seine  Geliebte.  Er  haßt  aber  auch  das  Weib,  weil  sie  nicht  im- 
stande' ist,  ihm  den  Mann  zu  ersetzen.    Vor  dieser  Liaison  verbrachte 
er  die  Mächte  in  Cafes  und  in  Weinstuben  mit  lauter  Männern.    Das 
macht  er  jetzt  nicht  mehr.    Er  läßt  seine  Geliebte  jetzt   nicht  mehr 
allein  und*  es  fehlen  die  stillen  Anregungen  der  Männerrunde.    Ebenso 
wie  seine  Geliebte  quält  er  seine  Mutter,  wenn  er  einige  Tage  zu  Hause 
ist.   Er  liebt  sie  so,  daß  er  nicht  einen  Tag  leben  kann,  in  dem  er  nicht 
mit  ihr,  die  in  Berlin  wohnt,  telephonisch  aus  Wien  gesprochen   hat. 
Ist  er  an  einem  Orte,  wo  er  nicht  telephonieren  kann,  so  muß  ihm  die 
Mutter  täglich  telegraphieren.    Sehr  interessant  ist,  wie  hinter  dieser 
Mutterliebe  sich  die  viel' stärkere  Liebe  zum  Vater  verbirgt.   Er  spielt 
diese  Liebe  zur  Mutter  als  stärksten  Trumpf  gegen  den  Vater  aus.   Er 
flieht  vor  der  sexuellen  Liebe  zum  Vater,  während  ihm  Inzestphanta- 
sien zur  Mutter  wiederholt  bewußt  waren.    Er  konstruiert  sich  immer 
zur  Mutterimago    noch  irgend  einen  Vater  dazu.    Am  stärksten   war 
seine  Eifersucht  gegen  einen  Advokaten,  der  schon  graue  Haare  hatte 
und  verheiratet,  also  ein  Vatersymbol  war.  Diesen  Mann  hatte  er  sogar 
aufgesucht,  um  ihn  zur  Rechenschaft  zu  ziehen  und  sich  dadurch  un- 
endlich lächerlich  gemacht.    Die  Eifersucht  war  aber  ganz  besonders 
geeignet,  seinen  latenten  Sadismus  manifest  zu  machen.    Nun  konnte 
er  in  seinen  blutrünstigen  Phantasien  schwelgen,  nun  konnte  er  sogar 
seine  Geliebte  verletzen  und  diese  wahnsinnige  Tat  mit  ^übergroßer 


Homosexualität  und  Eifersucht.  397 

Liebe"  entschuldigen.  Durch  die  Analyse  gelang  es,  das  Verhältnis 
bedeutend  zu  bessern.  Er  suchte  wieder  seinen  Stammtisch  im  Gast- 
haus auf  und  der  Friede  wurde  selten  gestört. 

Wie  schwer  manchmal  die  homosexuelle  Wurzel  solcher  Verhält- 
nisse zu  finden  ist,  das  beweist  der  nächste  Fall,  in  dem  sich  wieder 
einmal  die  Eifersucht  vor  dem  Bewußtsein  maskierte. 

Fall  Nr.  79.  Fräulein  K.  N.  sucht  mich  wegen  einer  eigentümlichen 
Schlafstörung  auf.  Sie  ist  außerordentlich  empfindlich  gegen  Geräusche. 
Sie  wohnt  bei  ihrer  Schwester,  die  eine  ganz  kleine  Wohnung  hat,  in  der  ein 
Zimmerchen  an  einen  Zimmerherrn  vermietet  ist.  Nun  besteht  ihre  Angst 
darin,  daß  sie  schon  am  Abend  zu  'spekulieren  anfängt,  wann  der  Zimmerherr 
nach  Hause  kommen  wird.  Ist  er  früh  zu  Hause  und  legt  er  sich  bald 
schlafen,  so  findet  sie  auch  bald  Ruhe  und  kann  die  Nacht  ruhig  durch- 
schlafen. Ist  er  aber  außer  Hause,  so  kann  sie  nicht  einschlafen.  Oder  sie 
schläft  ein  und  hat  einen  so  leichten  Schlaf,  daß  sie  sofort  wach  wird,  wie 
sie  hört,  daß  der  Zimmerherr  nach  Hause  kommt.  Dann  wird  sie  von  einer 
heftigen  Angst  überfallen  und  ihr  Herz  beginnt  stürmisch  zu  klopfen.  An- 
geblich sollen  auch  andere  Geräusche  die  Nachtruhe  stören.  Sie  wohnt  in 
einem  Hause,  an  dem  die  Stadtbahn  vorbeifährt.  Die  stört  sie  aber  nicht, 
ebensowenig  die  Elektrische.  Dagegen  stören  sie  Stimmen  im  Nebenzimmer, 
auf-  und  abgehende  Schritte  über  ihr. 

Man  könnte  nun  annehmen,  sie  wünsche  sich,  daß  der  Zimmerherr  zu 
ihr  käme,  und  sie  fürchte  sich  davor.  Sie  versichert  aber,  daß  ihr  der  Zim- 
merherr gleichgültig  wäre,  sie  könnte  ihm  keinen  Kuß  geben,  wenn  er  ihr 
dafür  Millionen  geben  würde.  Sie  sei  schon  ein  so  unglückliches  Geschöpf. 
Sie  werde  unbedingt  die  Wohnung  der  Schwester  verlassen  müssen.  Sie  habe 
schon  eine  ähnliche  Sache  mitgemacht.  Sie  war  der  Liebling  ihrer  Mutter, 
verwöhnt  und  in  jeder  Hinsicht  verhätschelt.  Da  erkrankte  die  Mutter  an 
einem  Schlaganfall  und  verlor  das  Bewußtsein.  Nachdem  sie  wieder  zu  sich 
gekommen  war,  lebte  sie  in  dem  Wahne,  ihr  Liebling  wäre  ihr  untreu  ge- 
worden, und  begann  das  arme  Kind  fürchterlich  zu  quälen.1)  Sie  warf  ihm 

*)  Das  Erwachen  der  Eifersucht  im  Senium,  in  marastischen  Zuständen  ist  eine 
außerordentlich  häufige  Erscheinung,  scheint  einerseits  mit  Störungen  der  inneren 
Sekretion,  andrerseits  mit  dem  Aufflackern  infantiler  Einstellungen  zusammenzuhängen 
Wir  finden  auch  öfters  die  Tatsache  hervorgehoben,  daß  6ich  die  krankhafte  Eifersucht 
nach  einem  längeren  Krankenlager  einstellt.  Manche  Ärzte  6ind  geneigt,  diese  Erschei- 
nung auf  eine  Intoxikation  zurückzuführen.  Mir  scheint  es  viel  wahrscheinlicher,  daß 
die  Möglichkeit  nachzudenken  eher  in  die  Wagschale  fällt.  Auch  ist  zu  berücksichtigen, 
daß  im  Angesichte  des  nahen  Todes  alle  unbefriedigten  Wünsche,  daher  auch  die 
homosexuellen,  noch  einmal  ihre  dringende  Forderung  nach  Erfüllung  stellen.  Dieser 
Umstand  mag  auch  zum  Aufflammen  von  Paraphilien  und  homosexuellen  Regungen  im 
Senium  führen,  wobei  noch  in  Betracht  kommt,  daß  infolge  von  organischen  Vorgängen 
in  der  Großhirnrinde  Hemmungen  entfallen.  Daß  die  Pflege  durch  eine  Kranken-  i 
Schwester  bei  weiblichen,  durch  einen  männlichen  Pfleger  bei  männlichen  Personen  eine 
Rollo  spielt,  habe  ich  wiederholt  beobachten  können.  Ja,  ich  sah  direkt  nach  längeren 
Krankheiten   homosexuelle    Beziehungen    mit    Pflegepersonen    entstehen,    sah,    daß    die 


398  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Verhältnisse  vor,  die  gar  nicht  bestanden,  schimpfte  sie  kalt,  egoistisch  und 
lieblos.  Dem  Mädchen  blieb  schließlich  nichts  anderes  übrig,  als  das  Eltern- 
haus zu  verlassen  und  sich  bei  fremden  Leuten  einzuquartieren.  Erst  nacli 
dem  Tode  der  Mutter  kam  sie  wieder  ins  Elternhaus.  Auch  der  Vater  war 
inzwischen  gestorben.  Die  beiden  Schwestern  standen  allein  und  waren  auf- 
einander angewiesen.  Aber  es  ging  heiß  zwischen  ihnen  zu  und  sie  gönnten 
sich  selten  eine  friedliche  Stunde. 

Schließlich  wurde  die  Schwester  sogar  aggressiv.  Sie  hatte  nämlich 
die  Schwester  „mit  aufgehobenen  Händen"  gebeten,  dem  Zimmerherrn  zu 
kündigen.  Sie  wollte  ihr  den  Zins  aus  Eigenem  ersetzen.  Aber  so  gehe  es 
nicht  weiter.  Sie  schlafe  keine  Nacht  und  gehe  seelisch  und  physisch  zu- 
grunde. Die  Schwester  jedoch  wurde  wild  und  begann  sie  mit  den  gleichen 
grausamen  Worten  zu  beschimpfen,  welche  die  Mutter  gebraucht  hatte.  Sie 
fuhren  einander  in  die  Haare.  Damals  hätte  sie  die  Schwester  erstechen 
können,  so  groß  wäre  ihre  Wut  gewesen. 

Nach  dieser  Szene  kam  sie  voll  Verzweiflung  wieder  zu  mir.  Ich  gab 
ihr  den  Rat,  auszuziehen.  Sie  könne  sich  doch  nicht  alles  gefallen  lassen 
und  brauche  ihre  Ruhe. 

Was  aber  gab  sie  mir  zur  Antwort? 

„Das  kann  ich  nicht!  Das  kann  ich  nicht!" 

„Warum  nicht?  Läßt  Sie  die  Schwester  nicht?" 

„Ach  nein!  Das  ist  es  nicht  .  .  .  Die  Schwester  sagte  mir  sogar 
gestern:   Zieh  nur  aus!  Ich  werde  den  Tag  segnen,  da  ich  Dich  los  werde! . .  .*' 

„Und  das  lassen  Sie  sich  gefallen?" 

„Ich  kann  nicht  ausziehen,  weil  .  .  ." 

„Sie  die  Schwester  lieben  und  ohne  sie  nicht  leben  können." 

„Das  ist  es.  Ich  kann  ohne  die  Schwester  nicht  leben  und  selbst  ihre 
Schimpfworte  und  Schelte  sind  mir  leichter  zu  ertragen  als  ein  Tag,  an  dem 
ich  sie  nicht  sehen  sollte." 

„Sie  werden  aber  doch  den  Schritt  tun  müssen  ...  Es  Sind  zu  un- 
gesunde Verhältnisse." 

„Ja  ...  ich  habe  es  gestern  auch  der  Schwester  gesagt:  Ich  ziehe  aus 
und  du  kannst  dann  deinen  Zimmerherrn  behalten 
und  mit  ihm  machen,  was  dir  beliebt.  Ich  werde 
dich    nicht     mehr    kontrolliere  n." 

Nun  war  es  klar,  daß  sie  jede  Nacht  wachte,  ob  der  Zimmerherr  nicht 
zur  Schwester  ging  und  daß  sie  sich  fürchtete  auszuziehen,  weil  sie  dann 
wußte,  daß  die  Schwester  mit  dem  Zimmerherrn  allein  war  und  er  dann 
jede  Nacht  zu  ihr  gehen  konnte.  Ich  machte  ihr  diesen  Mechanismus  klar, 
den  sie  nicht  recht  begreifen  wollte.  Die  homosexuelle  Liebe  zur  Schwester 
gab  sie  zu  .  .  . 

Sie  zog  in  ein  anderes  Quartier.  Es  war  ein  stilles  Zimmerchen,  das 
auf  einen  Garten  ging  bei  einer  alleinstehenden,  alten  Frau.  Aber  sie  fand 
auch  hier  keinen  Schlaf.  Die  alte  Frau  schnarchte  und  das  vertrug  sie  nicht. 


Liebe  zur  Mutter  oder  Schwester  aufs  neue  entflammte.  Nach  Infektionskrankheiten 
kommt  es  häufig  zu  einer  Regression  in  die  Kindheit.  Es  melden  sich  alle  infantilen 
Einstellungen.  Der  psychoseiuelle  Infantilismus,  über  den  wir  in  dem  V.  Bande  der 
„Störungen  des  Affekt-  und  Tricblebens"  abhandeln  werden,  bricht  besonders  nach  einer 
Zeit  des  Krankseins  aus,  in  der  man  sich  „wieder  als  Kind"  fühlt. 


Homosexualität  und  Eifersucht. 


399 


Dann  gab  es  eine  tickende  Uhr,  die  sie  immerfort  störte  und  nicht  einschlafen 
ließ,  ja  sogar  durch  die  Stundenschläge  aus  dem  Schlaf  weckte.  So  suchte 
sio  immer  Gründe  für  die  Unruhe,  die  in  ihr  war.  Das  Schlagen  ihres  Herzens 
(symbolischer  Ersatz  dafür:  die  Uhr)  ließ  sie  nicht  zur  Ruhe  kommen.  Sie 
suchte  ein  anderes  Quartier,  suchte  und  suchte  und  fand  kein  ruhigeres  als 
bei  der  Schwester.  Jeden  Abend  saß  sie  wieder  dort  und  ging  erst  spät  nach 
Hause.  Eine  vorübergehende  Indisposition  der  Schwester  wurde  von  ihr 
rasch  ausgenützt  und  sie  war  wieder  in  ihrem  Zimmerchen  und  zitterte 
wieder,  wenn  der  Zimmerherr  später  nach  Hause  kam.  Selbst  als  sie  einen 
Geliebten  fand,  der  sie  sexuell  vollkommen  befriedigte,  wurde  sie  nur  vorüber- 
gehend ruhig.  Die  heterosexuelle  Seite  ihres  Triebes  trieb  sie  immer  zu  dem 
Manne,  in  dessen  Armen  sie  die  Schwester  vergessen  wollte.  Aber  es  gelang 
nur  vorübergehend  und  ihre  Gedanken  kreisten  bald  wieder  zwischen  dem 
Zimmerherrn  und  der  Schwester.  Endlich  gab  die  Schwester  nach  und  der 
Zimmerherr  mußte  ausziehen.  Sie  erhielten  ein  älteres  Fräulein  als  After- 
mieterin. Da  wurde  sie  ruhig  und  konnte  wieder  schlafen.  Interessant  ist, 
daß  fast  alle  Schlafmittel  versagten  und  sie  nur  unruhiger  machten.  Sie 
wollte  nicht  schlafen,  um  die  Tugend  ihrer  Schwester  bewachen  zu  können. 
Wie  in  allen  anderen  vorhergehenden  Fällen  kam  es  auch  hier  zu  Tät- 
lichkeiten, stand  die  Kranke  an  der  Grenze  krimineller  Affekthandlungen. 
Haß  und  Liebe  zeigten  innige  Verbindungen.  Sie  litt  auch  an  Angst  vor 
Mördern,  sperrte  die  Türen  ab  und  zitterte  bei  jedem  Geräusche.  Es  war 
die  Angst  vor  den  eigenen  Mordgedanken.  Mit  der  infantilen  Liebe  zur 
Schwester  stieg  auch  die  infantile  Kriminalität  empor. 

Dieser  Fall  zeigt  uns  wie  die  vorhergehenden  die  innige  Ver- 
bindung zwischen  Eifersucht,  Homosexualität  und  Sadismus.  Denn  in 
den  Stunden  der  Wut  hatte  6ie  fürchterliche  Rachegedanken.  Sie  wollte 
die  Wohnung  mit  Petroleum  anzünden;  sie  dachte  daran,  sich  und  die 
Schwester  durch  Ausströmen  von  Gas  zu  vergiften;  sie  suchte  sich 
einen  Revolver  zu  verschaffen,  angeblich  um  sich  gegen  Einbrecher  zu 
sichern.  In  ihren  Träumen  tobte  sich  eine  Verbrecherin  aus,  die  zu 
ihrem  sonstigen  sanften  Wesen  einen  grellen  Widerspruch  bildete.  Im 
Affekte  wurde  die  Verbrecherin  stärker  als  ihr  Kulturmensch;  sie 
konnte  sich  an  der  Schwester  vergreifen  und  zückte  sogar  einmal  ein 
Messer.  Nach  solchen  Affektentladungen  brach  sie  in  sich  zusammen 
und  wurde  wieder  das  sanfte,  stille  Mädchen,  das  wegen  seiner  Güte 
überall  geschätzt  war. 


Die  Homosexualität. 

XL 
Homosexualität  und  Paranoia. 

Die  Eifersucht  wird  immer  mit  der  Liebe 
geboren,  aber  sie  stirbt  nicht  immer  mit  ihr. 

La  Rochefoucauld. 

r 

Es  ist  sehr  bezeichnend,  daß  der  Affekt  der  Eifersucht  alle 
Schranken  der  Kultur  durchbricht.  Außerordentlich  häufig  treten  Be- 
schuldigungen des  Inzestes1),  der  Homosexualität,  der  Onanie  und 
der  Zoophilie  hervor.  Frauen  beschuldigen  ihren  Mann,  daß  er  mit 
der  Tochter  Verkehr  pflege;  oder  sie  bezichtigen  den  Mann,  er  habe 
mit  dem  Freunde  ein  homosexuelles  Verhältnis.  Männer  behaupten 
das  Gleiche  von  ihrer  Frau.  Alle  diese  Beschuldigungen  sind  Projek- 
tionen der  eigenen  Sexualtendenzen  auf  das  Objekt  der  Eifersucht. 
Beaussart  (La  Jalousie.  Ännales  psychiques,  Bd.  71,  1913),  der  irr- 
tümlicherweise behauptet,  die  pathologische  Eifersucht  komme  bei 
Männern  häufiger  vor  als  bei  Frauen,  hebt  diese  Eigenschaft  der  Eifer- 
süchtigen besonders  hervor  und  begründet  sie  mit  dem  Mangel  wirk- 
licher Gravamina.  Diese  Motivierung  ist  fadenscheinig.  Unter  den 
von  ihm  mitgeteilten  Fällen  hebe  ich  den  einer  75jährigen  Frau  hervor, 
die  ihren  Mann  mit  grundloser  Eifersucht  zu  Tode  quälte  und  ihn  eines 
Tages  in  der  Wut  mit  einem  Rasiermesser  schwer  verletzte.  Die  Eifer- 
sucht ist  eben  eine  Rationalisierung  des  Hasses,  sie  greift  auf  die 
primär-egoistischen  Einstellungen  des  Urmenschen  zurück.  Die  hem- 
mungslosen sexuellen  Wünsche  im  Verein  mit  den  kriminellen  Impulsen 
zeigen  uns  eine  Regression  zum  Urmenschen.  Die  phylogenetische  Ur- 
sexualität  und  Urkriminalität  entspricht  der  ontogenetischen  primären 
Einstellung  des  Menschen  zu  seiner  Umgebung. 

Andere  Eifersüchtige  sehen  ihre  Kriminalität  im  Spiegelbilde 
der  Umgebung.   Ein  Eifersüchtiger  halluziniert,  daß  ihn  der  vermeint- 

*)  Vgl.  Willy  Schmidt,  „Inzestuöser  Eifersuchtswahn".  Groß'  Archiv,  Bd.  57 
S.257,  1914. 


Homosexualität  und  Paranoia.  401 

liehe  Geliebte  seiner  Frau  mit  einem  Messer  erstechen  will.  Auf  diese 
Weise  wird  dann  die  Ermordung  des  Geliebten  ein  Akt  der  Selbst- 
wehr.  Das  Verbrechen  erweist  sich  dann  als  selbstverständliche  Not- 
wendigkeit. Während  die  Männer  mit  Säbel,  Revolver,  mit  Reitpeit- 
schen, mit  Foltern  und  Fesseln  vorgehen,  tobt  sich  die  weibliche 
Kriminalität  in  Eifersuchtsakten,  durch  anonyme  Briefe,  Verleumdun- 
gen, Vergiftungen,  Kastration  und  Vitriol  aus   (Beaussart). 

In  vielen  Fällen  ist  die  Grenze,  wo  die  Eifersucht  in  den  Wahn 
übergeht,  wo  die  Neurose  zur  Psychose  wird,  kaum  zu  erkennen.  Oft 
ist  die  Eifersucht  das  erste  Symptom  einer  beginnenden  Paranoia. 

Die  nächsten  zwei  Fälle  haben  auch  ausgesprochen  paranoischen 
Charakter.    Wir  verdanken  Freud  wertvolle  Aufklärungen    über   das 
Wesen  der  Paranoia  oder,  wie  Freud  sich  ausdrückt,  der  „Paraphrenie" 
In  seiner  grundlegenden  Arbeit  „Psychoanalytische  Bemerkungen  über 
einen  autobiographisch  beschriebenen  Fall  von  Paranoia"   (Sammlung 
kleiner  Schriften  zur  Neurosenlehre.    Dritte  Folge.    Franz  Deuticke, 
Leipzig  und  Wien  1913)   wird  der  Nachweis  geliefert,  daß  die  para- 
noische Wahnbildung   auf   die  verdrängte  homosexuelle  Komponente 
des  Geschlechtslebens  zurückzuführen  ist.    Die  Verfolgung  der  Para- 
noiker  durch  Männer  ist  die  Projektion  der  eigenen  Gedanken   nach 
außen.    Der  Kranke  wird  von  homosexuellen  Phantasien  verfolgt  und 
konstruiert  aus  diesen  Phantasien  seine  Verfolger.    Der  Kranke  ver- 
wandelt die  Liebe  in   ihr  bipolares  Gegenstück,    in  den  Haß.    Freud 
sagt  darüber:    „Ich  liebe  ihn  nicht  —  ich  hasse  ihn  ja".    Dieser 
Widerspruch,  der  im  Unbewußten  nicht  anders  lauten  könnte,  kann 
beim  Paranoiker  nicht  in  dieser  Form  bewußt  werden.    Der  Mechanis- 
mus der  Symptombildung    bei  der  Paranoia  fordert,    daß  die  innere 
Wahrnehmung,  das  Gefühl,  durch  eine  Wahrnehmung  von  außen  er- 
setzt werde.    Somit  verwandelt  sich  der  Satz:  Ich  hasse  ihn  ja,  durch 
Projektion  in  den  anderen:  Er  h  a  ß  t  (verfolgt)  mich,  was  mich 
dann  berechtigen  wird,  ihn  zu  hassen.    Das  treibende,  unbewußte  Ge- 
fühl erscheint  so  als  Folgerung  aus  einer  äußeren  Wahrnehmung. 

„Ich  liebe  ihn  nicht,  ich  hasse  ihn  ja,  weil 
er  mich  verfolg  t." 

„Die  Beobachtung  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  der  Verfolger 
kein  anderer  ist,  als  der  einst  Geliebte." 

Was  aber  Freud  vollkommen  übersehen  hat,  sind  die  Beziehungen 
der  Paranoia  zur  Kriminalität.  Da  er  bisher  beharrlich  die  außer- 
ordentliche Bedeutung  der  latenten  Kriminalität  in  der  Psychogenese 
der  Neurose  vernachlässigte  und  nur  im  Sexuellen  die  Ursache  neuro- 
tischer und  psychotischer  Umwandlung  erkannte,  durfte  er  auch  nicht 
die  wichtige  Rolle  der  Kriminalität  in  der  Dynamik  der  Paranoia  be- 

Stekel,  Störungen  dos  Triob-  und  Affoktlebens.  n.  2.  Aufl.  26 


402  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

rücksichtigen.  Daher  kommt  es,  daß  sein  Schema  nicht  für  alle  Fälle 
der  Paranoia  gilt.  Denn  es  gibt  auch  eine  Paranoia,  welche  eine  Flucht 
vor  dem  Verbrechen  darstellt,  ja  sogar  die  Rationalisierung  eines  Ver- 
brechens ohne  Homosexualität  gestattet.  Es  sind  Ausnahmsfälle,  aber 
sie  kommen  vor.  Die  Angst  vor  dem  Wahnsinn,  an  der  so  viele  Neu- 
rotiker  leiden,  enthält  als  polare  Komponente  den  Wunsch  nach  dem 
Wahnsinn.  Denn  der  Wahnsinnige  ist  vor  sich  und  dem  Gesetze 
schuldlos.  „Er  kann  nichts  dafür."  Daher  kommt  es,  daß  so  häufig 
Paranoiafälle  mit  einem  Verbrechen  einsetzen.  Andrerseits  wird  der 
Paranoiker  wahnsinnig,  um  das  Verbrechen  nicht  zu  begehen.  Wir 
werden  erst  lernen  müssen,  daß  die  Internierung  ins  Irrenhaus  von 
vielen  Kranken  gewünscht  wird,  weil  sie  ihnen  Seelenfrieden  und  die 
Sicherheit  gibt,  daß  sie  nichts  anstellen  können. 

Die  Eifersucht  in  der  Paranoia  ist  wie  jede  Eifersucht  eine  Aus- 
drucksform der  Wut.  Sie  dient  aber  dazu,  um  die  Wut 
zu  rationalisieren  und  dem  Verbrechen  den  An- 
trieb und  die  Entschuldigung  einer  berechtigten 
Affekthandlung  zu  geben.  Wie  viele  von  den  Verbrechen 
aus  Leidenschaft  sind  aber  der  Leidenschaft  zum  Verbrechen  zuzu 
schreiben!  Noch  sehen  wir  nicht  vollkommen  klar  durch  alle  die 
Schleier,  welche  den  inneren  Verbrecher  verhüllen.  Noch  halten  wir  uns 
zu  ängstlich  an  die  oberflächlichen  Motivierungen,  die  der  Sadismus 
vorbringt,  um  sich  die  Wege  zur  Tat  zu  ebnen.  Die  Art,  wie  sieh  der 
Urmensch  in  uns  bewußtseinsfähig  machen  muß,  ist  der  beste  Grad- 
messer der  Kultur.  Deshalb  müssen  mit  fortchreitender  Kultur  die 
Irrenhäuser  in  dem  Maße  voller  werden,  als  die  Zuchthäuser  sich 
leeren.  .  .  . 

Wieder  muß  ich  hervorheben,  daß  Juliusburger  diese  Zusammen- 
hänge als  erster  klar  erkannt  und  scharf  präzisiert  hat.  Eigentlich  ge- 
bührt ihm  das  Verdienst,  die  Beziehungen  der  Paranoia  zur  Homo- 
sexualität aufgedeckt  zu  haben.  So  schrieb  er  schon  in  seiner  Arbeit: 
„Die  Homosexualität  im  Vorentwurf  zu  einem  deutschen  Strafgesetz- 
buch"   (Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  1911) : 

„Ferner  finden  wir  bei  Geisteskranken  das  bekannte  Auftreten  des 
Verfolgungswahns,  und  sein  Inhalt  wird  oft  genug  aus  der  Homosexuali- 
tät geschöpft,  insofern  die  Kranken  wähnen,  daß  sie  wegen  vermeint- 
licher Homosexualität,  von  der.  sie  gar  nichts  wissen,  Gegenstand  der 
Verfolgung  seien.  Oder  sie  glauben  in  ihrer  krankhaften  Geistesverfas- 
sung, deswegen  Gegenstand  von  Nachstellungen  zu  sein,  damit  sie  in 
den  vermeintlichen  Geheimbund  der  Homosexuellen  eintreten,  was  sie 
auf  das  entschiedenste  ablohnen.  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um 
eigenartige  psychische  Phänomene,  die  man  unter  den  Begriff  der  Projek- 
tion subjektiver,  dem  Individuum    unbewußter  Geschehnisse    in  seinem 


Homosexualität  und  Paranoia.  403 

Seelenleben  auf  die  Welt  der   Objekte,  auf  die  Außenwelt,   zusammen- 
fassen muß.  Wenn  ein  Individuum  in  Geisteskrankheit  gerät  und  wähnt, 
wegen  vermeintlicher    homosexueller  Neigungen  Gegenstand    der  Beob- 
achtung und  Bedrängung  durch    die  Umgebung  zu  sein,    so  läßt    sich 
dieso  Tatsache  nur   daraus   erklären,  daß   das   Individuum   tatsächlich 
in  seinem  Unbewußten  eine  stark  wirkende  homosexuelle  Komponente 
birgt,  dio  eben  durch  einen  eigenartigen  seelischen  Mechanismus  von  dem 
Individuum  weg  auf  die  Außenwelt  projiziert  wird.    Der  alte  Satz :  Aus 
nichts  wird  nichts,    gilt  auch  für  das  Seelenleben,    und  es  heißt  völlig 
unwissenschaftlich  verfahren,  will  man  hier  das  Gesetz  der  Kausalität 
oder  Motivation  nicht  in  seiner  durchgängigen  Wirksamkeit  anerkennen. 
Das    eindringende     Studium     des     Seelenlebens     unserer    Geisteskranken 
bringt  uns  die  wichtige  Erkenntnis,  daß  weit  häufiger,  als  wir  meinen, 
die  unbewußte  Homosexualität  den   Menschen   zu  schaffen  macht,  und 
ein  Weg,  um  diese  innere  Seelenspannung  zu  überwinden,  ist  eben  der 
Ausweg,  die  eigene  unbewußte  Homosexualität  zu  objektivieren,  zu  ver- 
gegenständlichen, auf  diese  Weise  das  durch  eine  falsche  Auffassung  der 
Dinge  gezüchtete  Schuldbewußtsein  zu  tilgen  und  dadurch  von  ihm  los- 
zukommen, daß  man  die  Schuld  auf  fremde  Schultern  abwälzt.    Zahl- 
reiche Wahnvorstellungen  unserer  Kranken  werden  erst  dadurch  begreif- 
lich und  sinnvoll,  daß  wir  erkennen,  wie  mächtig  im  Unterbewußtsein 
die  Homosexualität  wirkt." 

Juliusburger  erkennt  aber  auch  die  Bedeutung  des  Sadismus  in 
der  Psychogenese  des  Eifersuchtswahns  in  ihrer  überragenden  Be- 
deutung. In  der  erwähnten  Arbeit  „Zur  Psychologie  des  Alkoholismus" 
(Zentralblatt  für  Psychoanalyse,  Bd.  III,  1913)  macht  er  folgende 
treffende   Bemerkungen: 

„Ich  stimme  Freud  darin  bei,  daß  es  die  homosexuelle  oder  homo- 
psychische Komponente  des  Mannes  oder  der  Frau  ist,  welche  im  Wirts- 
haus und  in  der  Alkoholgeselligkeit  in  sublimierter  Art  und  Weise  eine 
ihrer  Erledigungen  findet.  Ich  konnte  mich  aber  bisher  noch  nicht  davon 
überzeugen,  daß  die  Homosexualität  oder  ihre  psychische  Vertretung 
auch  in  der  Pathogenese  des  Eifersuchtswahnes  die  gleiche  Rolle  spielt. 
Ich  behalte  daher  noch  die  Ansicht,  welche  ich  in  der  Arbeit  „Zur  Frage 
der  Genese  des  Eifersuchtswahns"  (mitgeteilt  in  dieser  Zeitschrift,  1911) 
durch  meinen  Kollegen  Hans  Oppenheim  vertreten  ließ.  Nach  wie  vor 
spreche  ich  als  die  bedeutsamste  Wurzel  des  Eifersuchtswahns  die 
sadistisch-masoch  istischen  Triebkräfte  im  Indivi- 
duum an.  Besonders  lehrreich  war  mir  ein  Fall,  wo  der  Sadismus  des 
eifersüchtigen  Alkoholisten  in  einer  Weise  zur  Darstellung  kam,  wie 
ich  sie  sobald  nicht  wieder  erlebte.  Gleichzeitig  äußerte  sich  der  Sadis- 
mus dieses  Trinkers  auch  in  einer  unglaublich  rohen  und  nur  aus  seinem 
Sadismus  zu  erklärenden  Behandlung  von  Hunden.  Schon  die  immer 
wieder  zu  beobachtende  Tatsache,  daß  der  eifersüchtige  Trinker  sich 
auch  dann  nicht  beruhigt  und  von  der  Qual  seines  Opfers  abläßt,  wenn 
dieses  in  der  Erwartung,  den  Partner  endlich  zu  beruhigen,  sich  bereit 
findet,  eine  vermeintliche  Schuld  zu  gestehen,  ich  sage,  diese  immer  aufs 

26* 


404  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

neue  sich  wiederholenden  Peinigungen  und  Malträtierungen  finden  eben 
nur  eine  endgültige  Erklärung  in  der  dem  Individuum  eingewurzelten 
sadistischen  Neigung,  die  immer  von  neuem  in  der  Begierde  nach  Genuß, 
im  Genuß  nach  Begierde  schmachtet.  Im  Sadismus  wurzelt  der  Eifer- 
suchtswahn, aus  dem  sadistischen  Trieb  erwächst  die  überwertige  Vor- 
stellung der  krankhaften  Eifersuchtsvorstellungen.  Der  Sadismus  ist 
die  immer  sprudelnde  Quelle,  aus  der  die  krankhaften  Bezichtigungs- 
ideen des  eifersüchtigen  Alkoholikers  stammen,  und  mit  dem  Sadismus 
immanent  verbunden,  kommt  der  Masochismus  auf  seine  Rechnung,  in 
dem  die  Qual  der  Eifersucht  Nahrung  und  Genuß  findet." 

„Neben  der  sadistisch-masochistischen  Komponente  in  der  Patho- 
genese des  Eifersuchtswahns  kommt  wohl  noch  in  Frage  die  Trans- 
ponierung eines  gewissen  Schuldgefühls.  Bei  meinen  Fällen  wenigstens 
konnte  unschwer  festgestellt  werden,  daß  der  eifersüchtige  Trinker,  der 
seine  Frau  eines  strafbaren  Umgangs  bezichtigte,  selbst  gern  Seiten- 
sprünge in  dieser  Beziehung  machte  oder  seine  Neigung  dahin  mit 
großer  Mühe  zu  unterdrücken  hatte.  Ein  ähnliches  Verhalten  konnte  ich 
bei  Frauen  finden,  welche  an  Eifersuchtswahn  erkrankt  waren.  Durch 
die  mehr  oder  weniger  bewußte  Projektion  des  Schuldgefühls  auf  den 
1  artner  sollte  eine  Entspannung  und  Befreiung  des  seelischen  Lebens 
erfolgen,  und  gleichzeitig  konnte  auch  durch  diesen  Mechanismus  wiederum 
dem  sadistischen  Trieb  gewissermaßen  Nahrung  zugeworfen  werden.  — 
Endlich  müssen  wir  zur  Erklärung  des  Eifersuchtswahns  noch  einen 
Faktor  heranziehen,  der  atavistisch  zu  begreifen  ist.  "Wir  werden  später 
noch  sehen,  wie  gewissermaßen  atavistische  Reminiszenzen  eine  große 
Bedeutung  in  der  Psychologie  des  Alkoholismus  beanspruchen.  In  der 
Seele  des  Mannes  schlummert  noch  aus  der  Vorzeit  die  Sucht  und  die 
Macht,  das  Weib  zu  beherrschen,  zu  tyrannisieren. 
Gerade  in  der  Alkoholikerseele  stoßen  wir  bei  näherem  Zusehen  häufig 
genug  auf  atavistische  Reste,  und  andrerseits  wird  wieder 
rückläufig  durch  die  chronische  Intoxikation  der  auf  dem  Urgründe  der 
Seele  ruhende  Atavismus  geweckt  und  ihm  der  Weg  zur  Oberfläche  ge-  , 
ebnet.  Der  Tyrann  der  überwundenen  Zeit  erwacht  im  Alkoholisten  und 
schwingt  seine  Herrschergeißel  über  die  unterworfene  Frau,  und  umge- 
kehrt kommt  in  der  an  Eifersucht  erkrankenden  Frau  das  alte  Ma-  • 
triarchat  in  abgeänderter  Weise  zum  Durchbruch.  Wir  werden  immer 
mehr  begreifen  und  einsehen,  wie  in  der  Psyche  des  Geisteskranken 
Atavismen  zu  neuem  Dasein  gelangen." 

Diese  Auffassung  der  Eifersucht  „als  Projektion  der  eigenen  Un- 
zulänglichkeit auf  die  Umgebung"  war  einst  der  Ausgangspunkt  meiner 
charakteriologischen  Untersuchung  der  Eifersüchtigen.  Ich  kam  aber 
bald  dahinter,  daß  das  Problem  kompliziert  ist.  Als  ich  schon  wußte, 
daß  die  Neurotiker  Rückschlagserscheinungen  sind,  enthüllte  sich  mir 
die  Eifersucht  als  eines  der  primitiven  Haßgefühle,  welche  dem  Ur- 
menschen eigen  waren.  In  der  Paranoia  verraten  sich  die  primären 
Einstellungen,  welche  durch  den  kulturellen  Überbau  verdeckt  werden. 
Im  Affekt  zeigt  sich  der  wahre  Mensch.  Auch  die  Eifersucht  verrät  uns 


Homosexualität  und  Paranoia.  405 

den  wahren  inneren  Menschen  mit  allen  seinen  heißen  Begierden  und 
verborgenen  Triebkräften. 

Der  nächste  Fall  zeigt  uns  alle  charakteristischen  Momente:  den 
Verfolgungswahn,  die  pathologische  Eifersucht  und  den  brutalen  Sadis- 
mus. Die  Krankheitseinsicht  fehlt  vollkommen.  Die  Eifersucht  wird 
als  begründet  angesehen.  Es  werden  lächerliche  Verdachtsmomente 
betont,  um  das  Objekt  der  Schuld  zu  überführen.  Bei  allen  geschilderten 
„Verfolgungen",  die  als  große  reale  Gefahr  gewertet  werden,  fehlen 
objektivo  Kriterien.  Der  Sadismus  bricht  offen  durch,  bedient  sich 
aber  noch  immer  affektativer  Rationalisierungen. 

Fall   Nr.  80.  Herr   A.  W.,   ein   Fabrikant  von   29  Jahren,    konsultiert 
mich  wegen   Angstzuständen,    die   ihn    schon  wiederholt    in    unangenehme 
Situationen  gebracht  haben.   Das  erste  Mal  brach  der  Angstzustand  in  Tirol 
aus.   Er  wollte  eine  bestimmte  Partie  machen  und  bat  seinen  Wirt  um  Aus- 
kunft.  Der  Wirt  führte  ihn  selbst  auf  den  Weg,  der  gar  nicht  gepflegt  und 
unordentlich  gehalten  war.    Plötzlich  begegneten  ihm  auf  dem  Wege  einige 
unheimliche  Gestalten.    Er  konnte  sich  aber  noch  beherrschen,  obwohl  er  in 
ihnen  Strolche  oder  zumindest  Wilddiebe  vermutete.  Da  bemerkte  er,  wie  aus 
der  Höhe  einige  Männer  auf  ihn  zukamen.   Jetzt  lief  er  davon,  was  er  konnte. 
Aus  der  Ferne  ertönte  ein  Schuß,  der  ihm  galt.  .  .  Er  kam  atemlos  ins  Tal 
und  meldete  das  dein  Gendarmen.    Dieser  schüttelte  den  Kopf  und  wollte 
nicht  einmal   den  Wirt  einvernehmen.    Der  Wirt  versicherte,    er  habe   den 
Herrn  nur  über  eine  Abkürzung  geführt,  die  auch  die  Jäger  benutzten.   Diese 
Abkürzung  leite  dann  auf  den  anderen  bequemen  Promenadeweg.    A.  blieb 
aber  dabei,  daß  es  nicht  mit  rechten  Dingen  zugegangen  sei  und  daß  man 
ihn  überfallen  wollte.  Der  Gendarm  meinte,  das  sei  in  ihrer  Ortschaft  schon 
seit  30  Jahren  nicht  vorgefallen.    Allein  A.  ließ  'sich  nicht  überzeugen  und 
glaubt  auch  noch  heute,  es  habe  sich  um  einen  Überfall  gehandelt.   Er  könnte 
ja  auch  im  Recht  Bein,    wenn  es   sich  um  diesen  einzigen  Vorfall    handeln 
würde.   Er  hat  aber  solcher  Erlebnisse  eine  schwere  Menge.   Er  war  auf  einer 
Reise  in  Schweden,  da  habe  er  bemerkt,  daß  der  Wirt  mit  einigen  Gästen 
in  schwedischer  Sprache  leise  gesprochen  habe,  und  sie  hätten  ihn  so  unheim- 
lich angeblickt.    In  seinem  Zimmer  gab  es  keinen  Schlüssel,  um  das  Zimmer 
abzusperren.    Er  konnte  nicht   schlafen  und    blickte   zum   Fenster   hinaus. 
Da  bemerkte  er,  daß  noch  einige  dieser  unheimlichen  Gesellen  in  das  Gasthaus 
kamen.   Er  wollte  nicht  länger  in  diesem  Hause  bleiben.   Der  Wirt  bedeutete 
ihm,  er  habe  das  Zimmer  gemietet  und  müsse  bleiben.   Sie  konnten  sich  nicht 
verständigen.    Da  sah  er  einen  Wachmann  vorbeigehen.    Er  rief  ihn  an,  er 
solle  ihn  befreien.  Der  Wachmann  kannte  einige  deutsche  Worte,  kam  hinauf 
und  'sie  gingen  auf  die  Polizeistube,  wo  ein  Protokoll  über  seine  sonderbaren 
Erlebnisse  aufgenommen  wurde.    Ein  drittes  Mal  verließ  er  ein  Gasthaus 
aus  ähnlichen  Motiven.    Auf  seinen  Ausflügen  trägt  er  einen  Revolver,  der 
ihm  eine  gewisse  Sicherheit  gewährt. 

Die  Diagnose  der  Paranoia  ist  nicht  schwer  zu  stellen.  Die  mangelnde 
Kritik  nach  dem  Ablaufe  de's  Affektes  verrät  den  psychotischen  Charakter 
dieser  Affektion.  Es  kann  wohl  einem  Angstneurotiker  etwas  Ähnliches  pas- 
sieren.  Er  wird  sich  aber  später,  vielleicht  schon  nach  einigen  Stunden  sagen: 


406  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Es  war  ein  Unsinn,  und  er  wird  sich  genieren,  darüber  zu  sprechen.  Dieser 
Mann  trägt  seine  Geschichte  mit  der  Absicht  vor,  mich  von  seinen  Gefahren 
zu  überzeugen. 

Diese  Verfolgungen  sind  die  Produkte  seiner  homosexuellen  Einstel- 
lungen, die  er  nicht  bewältigen  kann.  Wir  erkundigen  uns  nach  seinen  Ge- 
wohnheiten und  hören,  daß  seine  Mutter  sehr  früh  gestorben  ist  und  daß 
ihm  der  Vater  die  Mutter  vollkommen  ersetzte.  Er 
führte  bis  vor  einigen  Monaten  mit  dem  Vater'  eine  seelische  Ehe.  Sie  gingen 
immer  zusammen  aus,  nie  einer  ohne  dem  anderen,  sie  schliefen  in  einem 
Zimmer,  machten  ihre  Spaziergänge  gemeinsam.  Nur  selten  wurde  diese 
Gewohnheit  durch  einen  Abend  bei  Freunden  unterbrochen. 

Nun  trat  ein  merkwürdiges  Erlebnis  ein,  das  wir  bei  diesen  latent 
Homosexuellen  immer  wieder  finden.  Er  verliebte  sich  in  ein  Mädchen,  das 
die  Geliebte  eines  Angestellten  war.  Diese  Leidenschaft  ging  rasch  vorüber. 
Eine  zweite  jedoch  sollte  ihn  bald  aus  der  gewohnten  Bahn  bringen.  Im 
Geschäfte  war  ein  anderes  Mädchen,  mager,  klein,  ziemlich  unansehnlich, 
wenig  entwickelt.  (Ein  Typus,  der  sich  dem  Manne  nähert.)  Dieses  Mädchen 
hatte  einen  Bräutigam,  der  6ie  immer  abholte.  Man  wußte  schon  im  Ge- 
schäfte, daß  der  Bräutigam  draußen  wartete,  wenn  die  Sperrstunde  kam. 
(Sie  soll  auch  mit  den  anderen  Männern  des  Geschäftes  poussiert  haben.) 
In  dieses  Mädchen  verliebte  er  sich  mit  jener  wahnsinnigen  Leidenschaft,  wie 
sio  die  Homosexuellen  zeigen,  wenn  sie  sich  vor  dem  Manne  retten  wollen, 
wenn  sie  sich  auf  der  Flucht  vor  dem  Manne  befinden.  Es  gelang  ihm  bald, 
den  anderen  Konkurrenten,  der  ein  armer  Beamter  war,  zu  verdrängen  und 
ihre  Gunst  zu  gewinnen.  Das  arme  Mädchen  war  überglücklich  und  stolz, 
daß  der  reiche  Fabrikantenssohn  ein  Auge  auf  sie  geworfen  hatte.  Er  zeigte 
dem  Mädchen  sofort,  daß  er  ernste  Absichten  habe.  Er  zog  sich  ganz  vom 
Vater,  der  dieser  Verbindung  heftigen  Widerstand  entgegensetzte,  zurück. 
Er  lebte  nur  in  dem  Mädchen  und  für  das  Mädchen.  Sie  mußte  sein  Kontor 
verlassen.  Der  Vater  wünschte  es,  außerdem  sprachen  die  Angestellten  aller- 
lei Dinge,  die  ihm  unangenehm  waren.  Er  erhielt  Briefe,  die  ihn  aufklären 
sollten,  wie  leichtsinnig  das  Mädchen  war.  Ein  anderer  Beamter  teilte  ihm 
mit,  daß  er  das  Mädchen  geküßt  habe  und  daß  sie  gar  nicht  spröde  wäre. 
Diese  Menschen  ahnten  natürlich  nicht,  daß  diese  Mitteilungen  seine  Leiden- 
schaft für  das  Mädchen  steigern  mußten.  Denn  die  Phantasie,  daß  ein 
anderer  Mann  sie  geküßt  habe,  war  es  ja,  die  ihn  am  meisten  erregte.  Diese 
Erregung  wandelte  sich  in  Zorn  und  Wut,  aber  sie  wirkte  auf  seine  homo- 
sexuelle Komponente.  Je  mehr  er  gegen  das  Mädchen  gehetzt  wurde,  desto 
inniger  schloß  er  sich  an  sie.  Er  sah  sie  dreimal  täglich.  Er  holte  sie  morgens 
ab,  sie  gingen  mittags  zusammen  spazieren  und  der  Abend  und  öfters  auch 
die  Nacht  gehörte  dem  Mädchen,  das  durch  das  Zeugnis  eines  Arztes  be- 
scheinigen konnte,  daß  sie  noch  virgo  intaeta  war.  Seine  Beziehungen  zu 
ihr  waren  auch  derart,  daß  ihre  Virginität  nicht  angetastet  wurde.  Dieses 
Verhalten,  dieses  Zurückschrecken  vor  der  Defloration  unter  dem  Vorwando 
ethischer  Tendenzen  entspricht  der  Unsicherheit  und  Hinterhältigkeit  der 
Neurotikcr,  der  Angst,  sich  definitiv  zu  binden,  der  Angst  vor  den  Folgen 
und  beweist  die  mangelnde  Libido.  Die  Leidenschaft  steckte  mehr  im 
Seelischen,  sie  war  etwas  Vorgeschobenes,  etwas  Unechtes.  Denn  sie  waren 
manche  Nacht  beisammen,  in  der  er  sich  damit  begnügte,  daß  sie  im  gleichen 
Zimmer  war  .  (sie  schliefen  nie  in  demselben  Bette).   Ihre  Anwesenheit  he- 


Homosexualität  und  Paranoia.  407 

ruhigte  ihn  am  meisten.  Da  fühlte  er  sich  vor  seinen  homosexuellen  Ge- 
danken sicher.  Er  brauchte  auch  das  Verhältnis,  um  aller  Welt  demon- 
strieren zu  können,  daß  er  nicht  homosexuell  sei  und  die  Frauen  liebe. 

Allein  es  setzte  schon  in  den  ersten  Tagen  dieses  Verhältnisses  eine 
Eifersucht   ein,    die   für   diese   Menschen   typisch    ist   und    ihnen    gestattet, 
sich  doch  immer  wieder  in  Gedanken  mit  Männern  zu  beschäftigen.    Er  be- 
gann erst  ihre  Vergangenheit  zu  durchforschen.  Sie  mußte  ihm  alles  beichten. 
Dann  aber  setzte  die  nicht  endende  Qual  der  endlosen  Tage  ein.    Schon  am 
Morgen  beobachtete  er  sie  argwöhnisch.   Hatte  sie  blaue  Ringe  um  die  Augen, 
sah  sie  blaß  aus,  so  war  er  sofort  sicher,  daß  sie  ihm  diese  Macht  untreu 
gewesen.    Obwohl  er  sie  in  später  Nacht  bis  zum  Hause  begleitet  und  sie 
morgens  abgeholt  hatte,  so  war  er  doch  der  Ansicht,  daß  sie  später  aus 
dem  Hause  geschlüpft  sei  und  irgend  einen  ungekannten  Liebhaber  autge- 
sucht habe,   öfters  schon  durchwachte  er  eine  ganze  Nacht  vor  ihrem  Hause. 
Er  'sah   seltsame  Schatten  in  ihrem  Fenster  sich  auf  und  abbewegen  und 
wußte  sogleich,  daß  es  ein  Mann  sein  müsse.   Er  litt  Höllenqualen.   Er  beauf- 
tragte einen  Detektiv,  das  Mädchen,  zu  überwachen,  und  ertappte  sie  auf 
<>iner  unschuldigen  Lüge.    Sie  wurde  durch  seine  ewigen  Fragen  ganz  aus  der 
Fassung  gebracht  und  mußte  manchesmal  lügen,  um  Ruhe  zu  haben.    Eine 
solche  kleine  Lüge  war  der  Ausgangspunkt  eines  Zwistes,  der  viele  Wochen 
dauerte.  Sie  bemerkte,  daß  er  vor  ihrem  Hause  auf  und  ab  patroullierte. 
Er  sah  jammervoll  aus,  da  er  kaum  zum  Schlafen  kam,  und  vernachlässigte 
seine  Geschäfte  in  der  Fabrik.    Sie  nahm  ihm  das  Wort  ab,  daß  er  abends 
nach  Hause  gehen  werde.    Er  gab  es  und  war  sofort  unruhig.    Denn  es  war 
ihm  Gewißheit,  daß  'sie  das  getan,  um  ihn  desto  sicherer  betrügen  zu  können. 
Dann  tobten  in  ihm  fürchterliche  Rachegedanken.    Den  unbekannten 
Liebhaber  wollte  er  niederschießen  und  das  arme  Mädchen  erwürgen.    Viel- 
leicht suchte  er  nach  einer  Untreue,  um  sich  von  dem  Madchen  losen  zu 
können  und  seine  Untreue  mit  der  ihren  zu  entschuldigen. 

Selbstverständlich  schützte  er  eine  Reise  vor,  um  unvermutet  bei  dem 
Mädchen  zu  erscheinen.  Er  glaubte  den  Rauch  einer  Zigarre  zu  erkennen, 
zerrte  sie  bei  den  Haaren  und  wollte  ein  Geständnis  ihrer  Untreue  erpressen. 
Er  verdächtigte  sie  auch  eines  Verhältnisses  mit  ihrem  70jährigen  Vormund! 
Für  die  Analyse  sind  diese  Fälle  sonst  nicht  günstig  und  ziemlich  aus- 
sichtslos: Ich  bin  aber  so  glücklich  wie  Bjerre1),  über  mehrere  komplette 
Heilungen  von  Paranoia  berichten  zu  können.  Meistens  unterbrechen  diese 
Patienten  die  Psychanalyse  und  verlassen  unter  einem  Vorwande  den  Arzt.  Es 
nützt  gar  nichts,  sie  auf  die  Übertragung  aufmerksam  zu  machen.  In  dem 
Momente,  als  sie  eine  Neigung  zum  Arzte  fassen,  wandelt  sich  diese  Neigung 
in  Angst  und  Mißtrauen.  Sie  wollen  ihre  Homosexualität  nicht  einsehen.  Die 
psychischen  Störungen  gehen  so  weit,  daß  eine  Korrektur  nicht  mehr  möglich 
ist.  Sie  bleiben  oft  schon  nach  einigen  Besprechungen  aus.  Dieses  plötzliche 
Ausbleiben  steht  im  schroffen  Gegensatz  zu  ihrer  anfänglichen  Begeisterung 
für  die  neue  Behandlungsmethode.  Andere  lassen  sich  einige  Wochen  halten 
und  kommen  in  der  Analyse  nicht  vorwärts.  Geht  man  auf  die  homosexuellen 
Tendenzen  nicht  ein,  so  kann  man  sie  länger  analysieren,  bleibt  aber  immer 
auf  der  Oberfläche,  da  sie  nicht  zu  bewegen  sind,   aufrichtig  zu  sein,  vor 

J)  Zur    Radikalbehandlung     der     chronischen     Paranoia.      Jahrbuch     f.  peycho- 
jvnalytieche  Forsch.,   1912,   III.  Bd. 


408  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

dem   Arzte  immer   Geheimnisse   haben   und   alle   Einfälle,   welche   sich   auf 
das  Verhältnis  zum  Arzt  beziehen,  verschweigen. 

Er  kam  immer  mit  dem  Revolver  zu  mir,  immer  bereit,  den  vermeint- 
lichen Verfolger  niederzuschießen.  Ich  versuchte  ihm  begreiflich  zu  machen, 
daß  er  von  seinen  eigenen  homosexuellen  und  kriminellen  Gedanken  verfolgt 
werde.  Er  hörte  ungläubig  zu,  war  aber  nicht  so  ablehnend,  wie  ich  es  bei 
den  meisten  Paranoikern  gewöhnt  bin. 

Auch  dieser  Patient  blieb  trotz  guter  Krankheitseinsicht  nach  drei 
Wochen  aus,  weil  die  Behandlung  ihn  furchtbar  aufrege.  Er  glaubte,  i  c  h 
wäre  mit  seinem  Vater  in  Verbindung1)  und  wolle  ihn 
vom  Mädchen  trennen.  Seine  eigentliche  Liebe  war  der  Vater,  der  mir  in  der 
Psychogen«»  der  männlichen  Paranoia  eine  prominente  Bedeutung  zu  haben 
scheint. 

Ich  sah  ihn  zwei  Jahre  später  während  des  Krieges.  Er  war  als  Frei- 
JtSSL  .  gezogen,  hatte  sich  ausgezeichnet  und  wurde  leicht  verwundet. 
Er  fühlt  sich  seit  dem  Kriege  besser.  Die  Verlobung  hatte  er  bald  nach  der 
Behandlung  aufgelöst.  Die  Verfolgungsideen  sollen  bedeutend  zurückge- 
treten sein.  ° 

Der  nächste  Fall  zeigt  uns  eine  paranoische  Eifersucht  mit  Wahn- 
bildungen  auf  Grund  von  Indizienbeweisen,  die  mit  großem  Scharfsinn 
ausgeklügelt  und  behandelt  werden.  Diese  Fälle  bilden  die  Übergänge  z* 
den  Querulanten,  die  ihr  „Recht"  suchen,  wohl  weil  eine  innere  Stimme 
überschrien  werden  soll,  welche  das  „Unrecht"  betont. 

Fall  Nr.  81.  Herr  S.  D.  wird  von  dem  Hausarzte  seiner  Familie  aus  der 
.berne  an  mich  gewiesen.  Ich  sollte  entscheiden,  ob  seine  Eifersucht  begründet 
oder  nur  die  Folge  einer  Krankheit  sei. 

Es  handelt  6ich  um  einen  sehr  energischen,  strebsamen  30jährigen  Kauf- 
mann,   der  ein  Wirtsgesehäft  in  Verbindung    mit  einem  größeren  Laden   in 
einem  Dorfe  betreibt.   Er  brachte  es  im  Laufe  von  acht  Jahren  zu  großem  An- 
sehen und  Wohlstand.   Er  konzentrierte  förmlich  den  ganzen  Kleinhandel  des 
Dorfes,  betrieb  auch  ein  Engrosgeschäft  für  die  Kleinhändler  der  Umgebung 
und  war  auf  dem  besten  Wege,  ein  sehr  reicher  Mann  zu  werden,  als  die 
Eifersuchtsszenen  mit  seiner  Frau  einsetzten.    Seine  Frau  war  eine  frigide 
Natur  die  in  seinen  Armen  ganz  kalt  blieb,  was  ihn  immer  sehr  kränkte.  Nach 
der  Geburt  von  zwei  Kindern  wurde  sie  etwas  wärmer.  Als  sie  aber  das  erste 
Malin  semen  Armen  einen  starken  Orgasmus  empfand,  war  ihm  das  sofort 
verdächtig  und  er  schloß  daraus,  daß  sie  einen  anderen  Lehrer  in  der  Liebe 
gehabt  haben  müsse.  Wie  sollte  es  möglich  sein,  daß  eine  kalte  Frau  plötzlich 
über  Nacht  in  eine  leidenschaftliche  verwandelt  wurde?   Er  begann  die  Frau 
zu  beobachten  und  kam  zum  Ergebnis,  es  müsse  sie  ein  Mann  besessen  haben, 
der  einen  sehr  großen  Phallus  hatte.    Im  Dorfe  befand  sich  ein  nicht  mehr 
junger,  reicher  Bauer,  der  wegen  der  Größe  seines  Phallus  und  seiner  Potenz 
■  bekannt  war.    Dieser  Mann  war  sein  Stammgast  in  der  Schenke.    Was  war 
naherliegend,  als  sofort  zu  schließen,  es  müsse  dieser  Bauer  gewesen  sein?  (Wir 
erkennen,  daß  er  sich  offenbar  schon  lange  in  der  Phantasie  mit  dem  großen 
Penis  des  Bauern  beschäftigt  haben  muß.   Diese  Phantasie  projizierte  er  auf 
seine  Frau.  Seine  Neugierde  und  das  Verlangen,  den  großen  Phallus  zu  seheu, 

')  Eine   symbolische   Darstellung   meiner    Identifizierung   mit    dem    Vater. 


Homosexualität  und  Paranoia.  409 

verschob  er  auf  seine  Frau.  So  ist  unser  Denken  beschaffen.  Dieser  Autismus 
(Bleuler)  macht  uns  kritiklos  und  läßt  uns  alle  Erscheinungen  der  Welt  durch 
die  Brille  unserer  Affekte  sehen.  Mußte  sich  seine  Frau  nicht  als  Weib  für 
den  großen  Phallus  des  Bauern  interessieren,  von  dem  man  in  der  Schenke 
ungeniert  sprach,  wenn  er,  der  Mann,  schon  dieses  Interesse  zeigte?  So  unge- 
fähr ist  die  Logik  dieses  Denkens.)  Er  begann  den  Bauern  und  seine  Frau 
zu  beobachten.  Er  schützte  eine  Reise  vor  und  sagte  seiner  Frau,  er  werde 
erst  am  nächsten  Tage  zurückkommen.  Er  kam  aber  am  Abend  zurück.  Er 
ging  leise  die  Stiege  in  sein  Schlafzimmer  hinauf.  Er  hörte  einen  dumpfen 
Krach.  Natürlich,  der  Bauer  war  aus  dem  Fenster  gesprungen.  Es  war  —  wie 
die  Frau  meinte  —  die  Katze,  welche  aufgescheucht  wurde;  er  blieb  dabei,  es 
müsse  ein  Mann  im  Zimmer  gewesen  sein.  Seine  Frau  war  so  beleidigt,  daß 
sie  ihn  gleich  verlassen  wollte  und  zu  ihm  kein  Wort  mehr  sprach.  Er  wurde 
kleinmütig  und  bat  sie  flehentlich  um  Verzeihung,  und  teilte  ihr  den  Grund 
seiner  Eifersucht  mit.  Die  Frau  antwortete,  sie  habe  immer  empfunden,  aber 
sich  geschämt,  es  ihm  zu  zeigen.  Plötzlich  sei  es  ihr  eingefallen,  es  sei  das 
ein  Unsinn,  auch  habe  sie  ihn  viel  mehr  liebgewonnen  als  vorher.  Sie  könne 
doch  nichts  dafür,  daß  sie  jetzt  mehr  empfinde. 

Es  gab  nun  eine  Pause  von  einigen  Monaten.  Da  erhielten  sie  Ein- 
quartierung und  ein  wohlgestalteter  Hauptmann  bezog  eine  Stube.  Dieser 
Hauptmann  erregte  seinen  Verdacht  von  dem  ersten  Tage  der  Einquartierung. 
Er  fand,  daß  seine  Frau  dem  Hauptmanne  den  besseren  Kaffee  gab,  daß  sie 
ihn  viel  zu  freundlich  behandelte  und  ihm  allerlei  Aufmerksamkeiten  erwies. 
Seine  Frau  wies  darauf  hin,  daß  der  Hauptmann  ihnen  alle  Lieferungen  für 
seine  Kompanie  übertragen  und  so  ein  großes  Geschäft  verschafft  habe,  und 
meinte,  daß  sie  nur  aus  geschäftlichem  Interesse  freundlich  sei,  daß  aber  diese 
Freundlichkeit  nie  die  Grenzen  der  Konvention  überschritten  habe.  Er  aber 
sammelte  Beweise  für  die  Untreue  seiner  Frau.  Als  ein  solcher  Beweis  erschien 
ihm  der  Rest  einer  Zigarette,  die  er  im  Schlafzimmer  seiner  Frau  fand.  Er 
untersuchte  sie  sorgfältig  und  bat  den  Burschen  des  Hauptmannes,  ihm  einmal 
eine  Zigarette  seines  Herrn  zu  verschaffen,  sie  hätten  ein  so  wundervolles 
Aroma  und  er  wolle  sie  einmal  versuchen.  Er  erhielt  diese  Zigarette  und  sie 
hatte  dio  gleiche  Hülse  wie  die  seine.  Es  war  allerdings  eine  Zigarette,  wie  er 
sie  selbst  rauchte,  aber  der  Kranke  konstatierte,  daß  ein  besonderer  Streifen 
drinnen  zu  sehen  war,  der  sich  in  anderen  Hülsen  nicht  befand.  (Diesen 
Streifen  konnte  ich  nicht  sehen.)  Von  der  gleichen  Art  waren  seine  anderen 
Beweise.  Diesmal  kam  es  zu  einem  großen  Streite  mit  seiner  Frau,  der  viel 
heftiger  war  als  die  vorhergehenden  Kämpfe.  Jetzt  folgte  Fall  auf  Fall.  Er 
verdächtigte  seine  Kommis  und  entließ  sie  nach  ein  paar  Wochen.  Jeder 
war  der  Geliebte  seiner  Frau.  Schließlich  überfiel  er  seine  Frau  und  begann 
wütend  auf  sie  loszuschlagen  und  sie  zu  würgen.  Die  Frau  verließ  ihn  am 
nächsten  Tag,  zog  zu  ihren  Schwestern  und  reichte  die  Scheidungsklage  ein. 
Sie  behauptete,  ihr  Mann  wäre  nicht  normal,  und  er  kam  nun  nach  Wien,  um 
sich  freiwillig  meiner  Beobachtung  zu  unterziehen. 

Ich  ging  zuerst  auf  seine  Wahnvorstellung  ein  und  versuchte  vorsichtig, 
sie  zu  korrigieren.  Er  ließ  sich  auch  in  einzelnen  Punkten  belehren,  zeigte 
eine  gewisse  Krankheitseinsicht  und  war  gar  nicht  ungehalten,  als  ich  ihm 
das  Zeugnis  der  Gesundheit  verweigerte.  Mittlerweile  hatte  er  sich  seinen 
Bart  rasieren  lassen,  um  jünger  auszusehen.  Diese  Metamorphose  war  nicht 
nötig,  denn  er  sah  jung  genug  aus,  es  war  aber  ein  Durchbruch  seiner  weib- 


410  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

liehen  Tendenzen.  Er  hatte  auch  eine  Reihe  von  Träumen,  in  denen  er  eine 
Frau  war.  Meistens  lebte  er  die  alten  Eifersuchtsszenen  noch  einmal  durch 
und  wiederholt  tötete  er  seine  Frau  im  Traume. 

So  träumte  er: 

Ich  bin  mit  meiner  Frau  in  einem  Zimmer,  und  zwar  habe  ich  mich 
als  Frau  verkleidet,  damit  man  mich  nicht  erkennt.  Meine  Frau  geht  aus 
dem  Zimmer,  es  war  sehr  finster.  Da  kam  der  Hauptmann  in  das  Zimmer 
und  wollte  mir  unter  die  Röcke  greifen.  Er  wurde  aber  aus  dem  Zimmer 
gerufen.  Ich  stürzte  mich  auf  meine  Frau:  So  eine  Hure  bist  du!  Jetzt 
weiß  ich  alles  .  .  .  und  stach  ihr  ein  Messer  durch  den  Hals. 

In  einem  anderen  Traume  lag  er  unter  dem  Bette  und  fühlte  die  Be- 
wegungen des  Koitus  mit.  Sehr  charakteristisch  war,  daß  er  nach  Streit-  und 
Prügelszenen  immer  das  Bedürfnis  hatte,  mit  seiner  Frau  zu  verkehren  und 
daß  seine  Libido  eine  viel  größere  war  .  .  offenbar  durch  die  sadistische 
Erregung. 

Diesen  Patienten  hatte  ich  fünf  Jahre  nach  Abschluß  der  Be- 
handlung wiedergesehen.  Er  hatte  sich  von  seiner  Frau  getrennt  und 
war  anscheinend  ganz  ruhig.  Er  behauptet  vollkommen  gesund  zu  sein, 
nicht  mehr  an  Eifersucht  zu  leiden  und  hie  und  da  mit  Frauen  zu  ver- 
kehren. Ich  wage  es  nicht  zu  entscheiden,  ob  ich  diesen  Erfolg  der 
Analyse  und  heilpädagogischen  Behandlung  zuschreiben  darf. 

Ein  Äquivalent  des  permanenten  Wahnes  bieten  die  verschiedenen 
Rauschzustände,  die  wir  als  periodische  Wahnzustände  betrachten 
dürfen,  Nun  ist  es  in  der  Tat  auffallend,  wie  viele  Alkoholiker,  Mor- 
phinisten, Opiumesser,  Kokainisten  und  in  neuerer  Zeit  Adalin-, 
Verona!-,  Medinal-,  Luminalverbraucher  an  Angst  vor  dem  Wahnsinn 
leiden.  Analysiert  man  einen  dieser  Fälle,  so  stößt  man  immer  auf  die 
so  oft  betonte  homosexuelle  Komponente  und  einen  unterdrückten 
Sadismus.  Die  psychischen  Mechanismen  dieser  Kranken  sind  die 
gleichen  wie  die  bei  den  paranoischen  Formen  des  Eifersuchtswahnes 
beschriebenen.  Im  Vordergrunde  des  Leidens  steht  die  Angst  vor  dem 
Wahnsinn.  Es  handelt  sich  um  die  endöpsychische  Erkenntnis,  daß 
innere  Kräfte  die  Wahnbilder  höher  werten  als  die  Realität. 

Der  nächste  Fall  bringt  uns  eine  Reinkultur  dieses  Zustandes,  der 
oft  mit  Selbstmord  endet. 

Fall  Nr.  82.  Herr  0.  L.,  ein  Geigenkünstler  von  großem  Talente,  leidet 
an  unerträglichen  Angstzuständen,  unter  denen  die  Angst  vor  dem  Wahnsinn 
am  stärksten  hervortritt.  Er  hat  auch  Stunden  einer  unerklärlichen,  furchtbar 
quälenden  Angst,  ohne  daß  er  sich  sagen  könnte,  wovor  er  Angst  hat.  Er 
fühlt  nur,  daß  er  etwas  furchtbares  machen  könnte,  um  der 
Angst  zu  entgehen  und  endlich  einmal  Ruhe  zu  haben.  Er  glaubt,  er  könnte  ein 
Verbrechen  anstellen,  um  eingesperrt  zu  werden  und  sicher  zu  sein,  daß  er 
sich  nicht  mehr  zu  fürchten  brauche.  In  den  ersten  Wochen  spricht  er  nur  von 
der  Angst  vor  seinem  Vater.   Er  leidet  förmlich  an  der  fixen  Idee,  sein  Vater 


Homosexualität  und  Paranoia.  411 

werde  nach  Wien  kommen  und  ihn  in  ein  Irrenhaus  sperren  lassen.  Bevor  er 
das  ertragen  würde,  würde  er  zuerst  den  Vater  und  dann  sich 
erschießen.  Er  kommt  immer  wieder  auf  seinen  Verdacht  zurück,  daß 
ich  mit  dem  Vater  in  Verbindung  stünde.  (So  äußert  sich  bei  diesen  Kranken 
die  Identifizierung  des  Arztes  mit  dem  Vater.  Der  Arzt  wieder  ein  Symbol 
des  Vaters!)  Er  nimmt  schon  durch  mehrere  Jahre  verschiedene  narkotische 
Mittel.  Eigentlich  nicht,  um  zu  schlafen.  Denn  er  könnte  auch  ohne  Veronal 
oder  Pantopon  -schlafen.  Aber  er  habe  dann  so  entsetzliche  Angst.  Und  er 
fühle  es,  daß  er  dann  durch  die  Narkotika  ein  viel  besserer  Mensch  sei.  Er 
nimmt  ganz  unglaubliche  Quantitäten  von  narkotischen  Mitteln.  Er  hatte 
schon  einmal  in  selbstmörderischer  Absicht  10  g  Veronal  genommen  und  nur 
erzielt,  daß  er  48  Stunden  lang  wie  erschlagen  schlief  und  dann  ohne  Schädi- 
gung des  Organismus  erwachte.  Er  schläft  täglich  bis  11  oder  12  vormittags, 
mitunter  bis  zum  Nachmittag  und  ist  dann  noch  immer  etwas  schlaftrunken. 

Er  ist  jetzt  strenger  Alkoholabstinent.'  Er  hatte  schon  einige  Male  im 
Rausche  große  Dummheiten  angestellt.  Einmal  attackierte  er  einen  Offizier  in 
einem  Nachtlokale,  wollte  ihn  umarmen,  küssen  und  machte  ihm  verschiedene 
Anträge,  die  ihm  einen  Hinauswurf  eintrugen.  Auch  kam  es  zu  schweren 
Rauf  bändeln,  die  ihn  mit  der  Polizei  in  Konflikt  brachten.  Er  gab  seinem 
Vater  das  Ehrenwort,  nicht  mehr  zu  trinken,  weil  er  in  eine  Alkoholent- 
ziehungsanstalt  gebracht  werden  sollte.  Dieses  Ehrenwort  brach  er  nur  einmal, 
begann  aber  die  verschiedenen  narkotischen  Mittel  zu  nehmen.  Während  eines 
sechsmonatlichen  Aufenthaltes  in  einem  Sanatorium  erholte  er  sich  vollkom- 
men und  gewöhnte  sich  die  narkotischen  Mittel  ab.  Einen  Monat  nach  dem 
Verlassen  des  Sanatoriums  erlag  er  wieder  dem  Drange,  Schlafmittel  zu 
nehmen. 

Er  ist  ein  auffallend  schöner,  sehr  kräftiger  Mann,  der  viel  Glück  bei 
Frauen  hat.  Er  blieb  aber  keiner  längere  Zeit  treu,  nur  seiner  letzten  Freundin. 
Diese  habe  er  wirklich  geliebt  und  liebe  sie  noch  heute.  Er  würde  sie  heiraten, 
Avenn  er  sie  erhalten  könnte. 

Er  leidet  immer  unter  Eifersucht,  und  zwar  unter  einer  typischen  Form 
der  Vergangenheitseifersucht,  die  wir  bei  dem  Beispiele  des  Künstlers  Nr.  78 
bereits  kennen  gelernt  haben.  Er  läßt  sich  immer  wieder  die  Szenen  erzählen, 
in  denen  seine  Freundinnen  verführt  wurden.  Besonders  die  Szene  der  De- 
floration muß  er  auf  das  genaueste  wiedererleben  können.  Er  gerät  dadurch  in 
hochgradige  sexuelle  Erregung.  Nur  unter  diesen  Umständen  kann  er  bei 
Frauen  Orgasmus  erzielen.  Sonst  kommt  es  vor,  daß  er  eine  halbe  Stunde  lang 
koitiert,  ohne  daß  Ejakulation  eintritt.1) 

Schließlich  erzwingt  er  die  Ejakulation  und  den  Orgasmus,  wenn  die 
Frau  die  Friktion  des  Penis  mit  der  Hand  besorgt.  Diese  Art  von  Sexual- 
befriedigung läßt  auf  irgend  ein  Erlebnis  aus  der  Jugend  schließen,  bei 
dem  diese  Art  gewählt  wurde.  Zuerst  gesteht  er,  daß  er  im  Alter  von  17  Jahren 
ein  Verhältnis  mit  einem  Jungen  hatte,  der  ihn  auf  diese  Weise  befriedigte. 
Noch  frühere  Szenen  aus  der  Kindheit  tauchen  auf.  Immer  wieder  handelt  es 
sich  um  Szenen  mit  Knaben.  Jetzt  will  er  von  homosexuellen  Tendenzen  nichts 
wissen.  Er  habe  sich  mit  17  Jahren  von  seinem  Freunde  gewaltsam  losgerissen 
und  begonnen,  leidenschaftlich  Frauen  und  Mädchen  nachzujagen. 

*)  Eine  bei  Neurotikern  nicht  seltene  Form  der  Sexualstürung,  welche  auf  ein 
anderes   Sexualziel   schließen   läßt.    Vgl.  Band   IV   „Die   Störungen   des   Orgasmus". 


412 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


In  der  Wahl  seiner  Liebesobjekte  verrät  sich  seine  latente  Homo- 
sexualität. Am  häufigsten  verführte  er  die  Schwestern  von  Freunden,  die  ihm 
gut  gefielen.  Ich  konnte  kein  Verhältnis  finden,  bei  dem  nicht  ein  Mann  eine 
Rolle  spielte.  Wo  dieser  Mann  nicht  vorhanden  war,  wurde  er  herbeigeholt, 
um  die  bestimmte,  zu  seiner  Libidinisierung  notwendige  Konstellation  zu  er- 
zielen. Sehr  bezeichnend  ist  eines  der  letzten  Beispiele  der  jüngsten  Zeit. 
Er  lernte  in  einem  Sanatorium  eine  junge  Dame  kennen,  die  bald  seine 
Geliebte  wurde.  In  diesem  Sanatorium  befand  sich  auch  einer  seiner  intimsten 
Freunde.  Er  bat  diesen  Freund,  sein  Glück  bei  der  Dame  zu  versuchen,  er 
wolle  ihre  Treue  auf  die  Probe  stellen.  Der  Freund  weigerte  sich.  Er  fürchtete 
Zwistigkeiten  mit  seinem  Freunde  und  das  war  ihm  die  Dame  nicht  wert.  Nun 
wählto  unser.  Patient  einen  anderen  Weg,  um  seinen  Freund  mit  der  Dame 
zu  vereinigen.  Er  wettete  mit  ihm  um  eine  hohe  Summe,  daß  er  dieses  Mäd- 
chen nicht  werde  erobern  können.  Der  Freund  ging  auf  die  Wette  ein  und 
konnte  ihm  schon  nach  drei  Tagen  mitteilen,  daß  er  die  Wette  gewonnen 
habe.  0.  L.  wollte  nun  einen  sehr  genauen  Bericht  von  der  Verführungsszene 
haben,  wurde  so  wütend,  daß  er  den  Freund  hätte  niederschießen  können. 
Als  der  Freund  nach  einigen  Monaten  wieder  einmal  eine  andere  Geliebte  von 
ihm  besessen  hatte,  überfiel  er  ihn  auf  der  Straße  und  hätte  ihn  erschlagen, 
wenn  ihn  nicht  andere  Kameraden  zurückgehalten  hätten. 

Er  hat  in  Wien  die  sichere  Gewißheit,  daß  dieser  „verfluchte  Kerl"  auch 
seine  jetzige  Geliebte,  ein  Mädchen,  das  er  wirklich  liebe,  erobern  werde. 
Dann  werde  er  aber  in  seine  Heimat  fahren  und  das  Mädchen  und  den  Freund 
niederschießen.  Diese  Freundin  hat  einen  Bruder,  der  in  der  Psychogenese 
dieser  Liebe  eine  große  Bedeutung  hat.  Einmal  erzählte  ihm  das  Mädchen,  wie 
namenlos  sie  ihren  Bruder  liebe.  Sie  könne  es  verstehen,  wenn  sich  eine 
Schwester  dem  Bruder  hingäbe.  Nun  verlangte  er  von  ihr,  daß  sie  mit  dem 
Bruder  verkehren  sollte,  stellte  aber  eine  unerläßliche  Bedingung:  Er  müsse 
Zeuge  dieser  Hingabe  sein.  Diese  Phantasie  wurde  zur  quälenden  Zwangs- 
vorstellung. Er  quälte  sie  bei  jeder  Gelegenheit,  sie  möge  ihm  doch  diesen 
Wunsch  erfüllen,  er  forderte  den  Bruder  immer  auf,  zu  kommen,  wenn  die 
Schwester  zugegen  war.  Einmal  waren  sie  allein.  Er  brach  sein  Ehrenwort 
und  sie  zechten  um  die  Wette.  Er  wurde  schwer  berauscht,  machte  dem 
Bruder  seiner  Geliebten  eine  feurige  Liebeserklärung,  forderte  ihn  auf,  mit 
ihm  nach  Hause  zu  gehen  und  ihm  die  Schwester  zu  ersetzen. 

Seine  Mutter  war  gestorben,  als  er  15  Jahre  alt  war.  Der  Vater  nahm 
sich  eine  junge  Frau  ins  Haus,  in  die  er  sich  verliebte.  Zugleich  haßte  er 
sie  auch,  weil  er  fürchtete,  der  Vater  werde  ihn  zugunsten  dieser  Frau  ent- 
erben. Er  hatte  schon  Pläne  gemacht,  diese  Frau  mit  Gift  aus  der  Welt  zu 
schaffen.  Vollkommen  unbewußt  und  am  tiefsten  verdrängt  ist  seine  Liebe  zum 
Vater,  den  er  quält  und  dem  er  sehr  schwere  Sorgen  macht.  Er  stand  im 
Beginne  einer  großen  Entwicklung,  alle  Lehrer  prophezeiten,  er  werde  einer 
der  größten  Geigenkünstler  der  Welt.  Sein  erstes  Konzert  war  ein  beispiel- 
loser Erfolg.  Da  brach  die  Neurose  aus  und  er  war  mit  seiner  Kunst  fertig. 
Fertig  wie  mit  seinem  Leben. 

Hinter  der  Neurose,  deren  Tendenz  dahin  geht,  den  armen  Vater  immer 
wieder  in  Sorge  zu  versetzen,  ihn  zu  kränken  und  ihn  zu  zwingen,  sich  mit 
dem  mißratenen  Sohne  zu  beschäftigen,  verbirgt  sich  eine  leidenschaftliche 
Liebe  zum  Vater,  den  er  offen  beschimpft,  dem  er  20  Seiten  lange  Briefe 
schreibt,    den  er  erschießen  will,   wenn  er  sein  Erbe  schmälern  würde.    Eine 


Homosexualität  und  Paranoia-  413 

Erinnerungsspur  führt  zu  Kindheitsphantasien,  die  der  geschilderten  mit  dem 
Jungen  entsprechen.  Schließlich  produziert  er  eine  Erinnerung,  die  den  Vater 
schwer  belastet.  Auch  der  Vater  war  Trinker.  .  .  . 

Es  hat  den  Anschein,  als  ob  er  diese  Szene  vergessen  wollte.  Seine  Mord- 
phantasien gehen  gegen  den  Vater.  Das  tritt  immer  mehr  zutage.  Er  wird 
zum  Kranken  und  Veronalisten,  um  kein  Verbrechen  zu  begehen.  Er  fühlt 
eich  vom  Vater  verletzt  und  bei  Seite  geschoben.  Seine  wahnsinnige  Ver- 
schwendungssucht bringt  ihn  mit  ihm  in  permanente  Konflikte.  Der  Vater 
droht,  er  werde  ihm  keine  Schulden  mehr  bezahlen.  Er  müsse  einmal  das 
teuere  Leben  aufgeben.  Da  bricht  der  Krieg  aus.  Er  meldet  sich  unter  den 
ersten  Freiwilligen,  zeichnet  6ich  mehrfach  aus  und  findet  schließlich  in  einem 
Gefechte  den  Tod. 

Ich  habe  im  Kapitel  „Homosexualität  und  Alkohol"  auf  die  latente 
Homosexualität  der  Trinker  aufmerksam  gemacht.  Der  bekannte  Eifer- 
suchtswahn der  Alkoholiker  findet  nach  diesen  Darstellungen  eine  neue 
Beleuchtung.  Der  Rausch  ist  dann  gewissermaßen  eine  periodische  arti- 
fizielle  Paranoia,  bei  der  die  Verfolgungsvorstellung  in  den  Vordergrund 
treten  kann.  In  vielen  Fällen  ist  sie  sehr  deutlich  zu  beobachten.  In 
dieser  Hinsicht  unterscheidet  sich,  der  schwere  Alkoholiker  kaum  vom 
Paranoiker.  Beide  glauben  an  die  Wahrhaftigkeit  ihrer  Wahngebilde. 

Zwei  Fälle  von  Eifersuchtswahn  bei  Alkoholikern  mögen  diese 
lange  Reihe  von  Krankheitsgeschichten  beschließen: 

Fall  Nr.  83.  Herr  N.  V.,  Hauptmann,  hat  mit  34  Jahren  geheiratet  und 
ist  jetzt  zwei  Jahre  verheiratet.  Seine  Ehe  ist  von  dem  ersten  Tage  an  un- 
glücklich. Er  hatte  vorher  nur  mit  Dirnen  verkehrt  und  war  bei  diesen  immer 
sehr  potent.  Bei  seiner  Frau  ist  er  impotent.  Er  ist  darüber  unglücklich  und 
tröstet  sich  bei  Dirnen.  Er  begann  zu  trinken  und  im  Rausche  seine  Frau 
zu  schlagen.  Er  beschimpfte  sie  dann,  schalt  sie  Dirne  und  behauptete,  sie 
hätte  mit  allen  Offizieren  Verhältnisse.  Während  er  vorher  auch  schon  trank, 
aber  mit  Maß,  wird  er  jetzt  ein  ausgesprochener  Potator,  treibt  sich  in 
Schenken  herum  und  wird  im  Rausche  mit  Kellnern  und  Untergebenen  sehr 
freundlich,  küßt  sie  und  trinkt  mit  ihnen  Bruderschaft.  Er  ist  fest  davon 
überzeugt,  daß  seine  Frau  ihn  betrügt,  und  verdächtigte  sogar  seinen  Burschen, 
den  er  im  Rausche  jämmerlich  verprügelte. 

Die  Frau  verließ  den  Mann  und  flüchtete  zu  ihren  Eltern. 

Das  wirkte  auf  den  Mann  so  deprimierend,  daß  er  gänzlich  geändert 
und  reuig  nach  einem  dreimonatlichen  Aufenthalte  in  einem  Sanatorium 
zurückkehrte  und  sie  bewog,  wieder  mit  ihm  zu  leben.  Aber  schon  nach  einigen 
Wochen  setzte  die  Eifersucht  wieder  ein.  Diesmal  bezichtigte  er  sie  der  un- 
natürlichsten Verbrechen.  Er  warf  ihr  vor,  daß  sie  sich  von  dem  Hunde  lecken 
ließe  und  schoß  das  Tier  nieder.  Er  bewachte  sie  eifersüchtig  und  verbot  ihr 
jeden  Umgang.  Schließlich  entdeckte  er,  daß  sie  mit  ihrem  15jährigen  Bruder 
Umgang  pflege.  Er  schnitt  aus  dem  Leintuch  einen  Fleck  aus,  der  ihm  als 
Beweisstück  ihrer  Untreue  galt.  Er  überfiel  sie  bei  Nacht,  würgte  sie  und  er- 
preßte ihr  das  Geständnis  des  Umganges  mit  dem  Bruder.  Sie  flüchtete  wieder 
zu  den  Eltern,  weigerte  sich  aber,  ihren  Mann  dem  Psychiater  auszuliefern. 
Sie  wolle  nicht  die  Ursache  seiner  Internierung  sein! 


414  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Mittlerweile  machte  der  Wahn  beim  Kranken  rapide  Fortschritte.  Er 
betrank  sich  ganz  exzessiv  und  provozierte  einen  Skandal  vor  dem  Hause  ihrer 
Eltern.  Er  machte  bei  der  Polizei  die  Anzeige,  daß  ihn  seine  Frau  und  sein 
junger  Schwager,  mit  dem  sie  in  sträflichen  Beziehungen  stehe,  durch  vei- 
dächtige  Subjekte  verfolgen  ließen.  Er  machte  aber  aufmerksam,  er  werde  den 
Kerlen  einen  Denkzettel  geben  und  den  ersten,  der  ihm  zu  nahen  wage,  nieder- 
schießen. Internierung.  Delirium  tremens.  Exitus  infolge  interkurrenter  Er- 
krankung. 

Hervorzuheben  ist,  daß  der  beschuldigte  Schwager  ein  besonderer  Lieb- 
ling von  ihm  war,  den  er  sehr  gerne  mit  auf  die  Jagd  nahm,  der  er  leiden- 
schaftlich fröhnte.  In  der  Volltrunkenheit  wollte  er  ihn  immer  umarmen 
und  liebkosen. 

Eine  Verbindung  von  Paranoia  und  Alkoholismus  zeigt  auch  die 
letzte  der  hier  vorgeführten  Beobachtungen: 

Fall  Nr.  84.  Es  handelt  sich  um  eine  nicht  mehr  junge  Frau.  Es  ist 
eine  Großmutter  von  vielen  Enkeln,  die  jetzt  schon  54  Jahre  alt  ist  und  bis 
vor  einigen  Jahren  nicht  eifersüchtig  war.  Wie  ihr  Mann  mit  ihr  zu  ver- 
kehren aufhörte,  faßte  sie  sofort  die  Idee,  er  müßte  mit  einem  schönen 
Mädchen  ein  Verhältnis  haben,  das  vorher  bei  ihnen  bedienstet  war  und  das 
Haus  verlassen  hatte.  Sie  hatte  das  Mädchen  öfters  in  der  Nähe  des  Hauses 
gesehen  und  sich  gewundert,  daß  es  so  schön  aussah  und  so  nett  gekleidet 
gewesen  war.  Das  Mädchen  war  ihr  überhaupt  sehr  lieb  gewesen.  Sie  hatte 
sogar  geweint,  als  das  brave  Mädchen  den  Dienst  kündigte.  Nun  quälte  sie 
ihren  Mann,  er  müsse  ein  Verhältnis  mit  diesem  Mädchen  haben,  sie  wisse 
es  ganz  bestimmt.  Der  Mann  stellte  das  Verhältnis  in  Abrede,  mußte  aber 
—  von  ihr  gequält  —  zugeben,  daß  er  sie  einige  Male  auf  der  Gasse  ge- 
sehen und  mit  ihr  gesprochen  habe.  Das  war  nun  der  Anlaß  zu  so  argen 
Eifersuchtsszenen,  daß  der  Mann  das  Haus  verließ  und  wochenlange  ver- 
reiste. Er  wollte  seine  Ruhe  haben  und  war  energisch  genug,  dies  durch- 
zusetzen.   Ja,  er  drohte  sogar  mit  Scheidung. 

Dio  Frau  begann  zu  trinken,  und  zwar  am  liebsten  Liköre  und  aucii 
gewöhnlichen  Schnaps.  Betrunken,  pflegte  sie  sehr  ordinär  zu  werden  und 
über. das  Mädchen  zu  schimpfen.  Sie  sei  eine  Hure,  man  solle  ihr  die  Kleidor 
vom  Leibe  reißen.  Sie.  bedrohte  den  Schwiegersohn  der  jüngsten  Tochter  und 
trug  sich  mit  dem  Gedanken,  ihn  mit  Vitriol  zu  übergießen.  Sie  hatte  auch 
im  Rausche  den  Drang,  ihre  jüngste  Tochter  aufzusuchen  (offenbar  um  den 
Schwiegersohn  zu  treffen!)  und  lief  oft  zum  Bahnhof,  stieg  in  verkehrte 
Züge  und  machte  allerlei  Unsinn,  so  daß  sie  interniert  werden  mußte.  Im 
Sanatorium  entwöhnte  man  sie  leicht,  sie  zeigte  keine  Abstinenzerscheinungen, 
aber  sie  rechnete  sich  täglich  vor,  was  ihr  Mann  mit  dem  Mädchen  mache. 
Sie  behauptete  —  wie  fast  alle  Paranoiker  — ,  sie  habe  telepathische  Eigen- 
schaften und  fühle  es  auf  die  Distanz,  daß  ihr  Mann  jetzt  mit  dem  Mädchen 
zusammen  sei.  Das  sei  unumstößlich  und  davon  werde  sie  kein  Arzt  abbringen. 

Diese  Behauptung  hatte  auch  eine  innere  Wahrheit:  Der  Mann  in  ihr 
war  mit  dem  Mädchen  beisammen,  d.h.  der  Mann  in  ihr  beschäftigte  sich 
fortwährend  mit  dem  Mädchen.  Sie  hatte  ja  auch  keinen  anderen  Gedanken 
als  das  Mädchen.  Es  war  so,  als  ob  sie  sich  sagen  wollte:  Wenn  ich  ein 
Mann  wäre,  ich  würde  mich  in  dieses  Mädchen  verlieben  und  würde  sie  keinen 
Moment  allein  lassen.    Sie  müßte  mir  ganz  zu  eigen  sein. 


Homosexualität  und  Paranoia. 


415 


Nach  der  Hochzeit  ihrer  jüngsten  Tochter  war  sie  an  einer  Depression 
erkrankt,  in  der  schon  die  ersten  Anfänge  des  Alkoholismus  auftraten. 

Sie  hatte  offenbar  zwei  homosexuelle  Liebesobjekte,  die  sie  identi- 
fiziere: das  Dienstmädchen  und  die  jüngste  Tochter.  In  der  Tat  kam 
sie  bald  auf  den  Gedanken,  daß  ihr  Mann  mit  der  bewußten  Tochter 
sträflichen  Umgang  pflege.  Sie  machte  sogar  eine  diesbezügliche  Ein- 
gabe an  das  Gericht  und  erbot  sich,  Beweise  für  diese  Behauptung  zu 
erbringen.  Ihr  Mann  wolle  sie  jetzt  vergiften.  Man  habe  ihr  einen 
Kaffee  gebracht,  der  nach  Arsenik  gerochen  habe. 

So  verschiebt  sie  die  eigenen  kriminellen  Ideen  auf  die  Umgebung. 
Wir  erkennen,  daß  sie  trinken  mußte,  um  das  wilde  Tier  in  sich  zu  be- 
täuben, das  seine  Grausamkeit  und  seine  atavistischen  Regungen  aus- 
leben wollte.  Die  endgültige  Internierung  in  einer  Anstalt  änderte 
nichts  an  ihren  Einstellungen.  Sie  schimpfte  über  den  Mann,  der  sie  im 
Bunde  mit  dem  verhaßten  Schwiegersohn  hatte  einsperren  lassen,  um 
sie  zu  verhindern,  daß  sie  ihre  bösen  Streiche  der  ganzen  Welt  bekannt- 
geben könne. 

Wie  nahe  liegen  in  allen  diesen  Fällen  die  verbotenen  Regungen 
neben  einander!  Fast  einförmig  das  gleiche  Bild:  Kriminalität,  Homo- 
sexualität und  Inzest.  Nach  dem  jahrelangen  Zwange  einer  offiziellen 
Monosexualität  rächt  sich  die  Unterdrückung  durch  das  Manifestwerden 
der  Pansexualität  und  der  Kriminalität  in  pathologischer  Form.  Denn 
alle  diese  Krankengeschichten  enthüllen  den  „Anderen"  das  zweite  Ich, 
den  verdrängten   Menschen. 

Wir  haben  eine  Menge  Menschen  kennen  gelernt,  die  sich  als 
Opfer  unserer  mönosexuellen  Kultur  manifestiert  haben.  Die  Mensch- 
heit zahlt  ihre  Entwicklung  zum  Monosexualismus  mit  neurotischer 
Homosexualität,  mit  allen  Neurosen,  mit  Alkoholismus  und  Paranoia. 

Doch  wäre  es  verfehlt,  die  Kultur  dafür  anzuklagen  und  von  einer 
Änderung  der  Gesetzgebung  und  offiziellen  Moral  grundlegende  Bes- 
serungen zu  erwarten.  Sicherlich  müssen  alle  Menschenfreunde  kämpfen, 
daß  die  moralische  Ächtung  und  die  legale  Verfolgung  der  Homosexuel- 
len abgeschafft  und  einer  freieren  Anschauung  in  der  Frage  aller  Para- 
philien  vorgearbeitet  wird.  Allein  wir  dürfen  nicht  verkennen,  daß  es 
sich  um  gewaltige  soziale  Kräfte,  um  Entwicklungstendenzen  handelt, 
welche  über  alle  menschlichen  Kräfte  hinaus  einem  unbekannten  höheren 
Ziele  zustreben.  Die  Entwicklung  der  Menschheit 
geht  eben  vom  Bisexualismus  zum  Monosexualis- 
mus. Auch  die  „echte"  Homosexualität  ist  in  der 
Form,  wie  wir  sie  heute  überall  finden,  ein  Be- 
weis   für    diese    Anschauung. 


416 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Denn  wäre  die  Homosexualität  ein  angeborener  Zustand,  wie  es 
Hirschfeld  und  Blüher  annehmen,  dann  müßten  sie  den  Typus  der 
Gesundheit  darstellen,  und  es  gäbe  bei  ihnen  keine  verdrängte  Hetero- 
sexualität,  es  gäbe  keine  Morphinisten,  Alkoholisten  und  Dipsomanen1) 
unter  ihnen.  Die  Zahl  mag  allerdings  nicht  groß  sein,  das  rührt  aber 
daher,  daß  die  Homosexualität  der  Uranier  schon  ein  Kompromiß  dar- 
stellt, einen  Heilungsversuch  der  Natur  und  der  Psyche,  sich  aus  dem 
unlöslichen  bisexuellen  Konflikt  zu  retten.  Gerade  der  Umstand,  daß 
alle  Neurotiker  ßückschlagserscheinungen  sind,  spricht  für  die  Theorie 
von  der  Entwicklung  der  Menschheit  zur  Monosexualität.  Der  Neuro- 
tiker könnte  als  Bisexueller  ein  früheres  Entwicklungsstadium  repräsen- 
tieren, wenn  es  die  Kulturmoral  nicht  verhindern  würde.  Wo  er  es  ver- 
sucht (wie  z.  B.  der  Dichter  Oskar  Wilde) ,  geht  er  an  der  allgemeinen 
Ächtung  zugrunde,  er  stirbt  den  bürgerlichen  Tod.  Die  Homosexualität 
geht  deshalb  selten  in  eine  Paranoia  über,  in  der  die  HeteroSexualität 
zutage  tritt,  wie  es  umgekehrt  beim  Heterosexuellen  mit  der  verdräng- 
ten Homosexualität  der  Fall  ist.  Das  beweist,  daß  die  Homosexualität 
schon  die  Neurose,  schon  eine  Vorstufe  der  Psychose  der  Paranoia  ist. 
Denn  bricht  beim  Homosexuellen  die  Paranoia  aus,  dann  lebt  er  in 


*)  Freilich  führt  Hirschfeld  diese  krankhafte  Neigung  auf  die  soziale  Ächtuug 
der  Homosexuellen  zurück.  Das  ist  meiner  Ansicht  nach  eine  willkürliche  Annahme. 
Auch  dio  Neigung  der  Homosexuellen  zu  Affektstörungen,  ihre  gesteigerte  Sensibilität, 
ihre  6chmerzbare  Reizbarkeit,  ihre  endogene  Verstimmung  ist  nur  ein  Beweis,  daß  alle 
Homosexuellen  schwere  Neurotiker  sind.  Hirschfeld  mag  die  akuten  Ausbrüche  von 
Affektpsychosen  bei  Homosexuellen  auf  die  Wirkung  der  Konflikte  zurückführen.  Aber 
unmöglich  ist  es,  diese  gesteigerte  Affektivität  auf  den  femininen  Einschlag  der  Urninge 
zu  beziehen.  Wie  wären  dann  die  ebenso  unangenehmen  Störungen  der  Urlinden,  die 
sich  durch  einen  6tark  maskulinen  Einschlag  auszeichnen,  zu  erklären?  Hirschfeld 
verweist  auf  die  Angstzustände  der  Homosexuellen  (S.  916)  und  sagt  wörtlich:  „Gerade 
dieser  Zustand  findet  sich  vielfach  auch  bei  Homosexuellen,  die  vom  Haus  aus 
psychisch  völlig  intakt  sind."  Nein  —  6ie  sind  eben  vom  Haus  aus  nicht  psychiscli 
intakt,  sondern  alle  durch  die  Verdrängung  der  Heterosexualität  schwer  neurotisch. 
Die  Oberfläche  kann  täuschen  und  mancher  Mann,  der  äußerlich  das  Bild  der  Ge- 
sundheit bietet,  eine  ausgeglichene  Natur  scheint,  kämpft  innerlich  mit  einer  schweren 
Neurose.  .  .  Übrigens  hebt  Hirschfeld  auch  die  Disposition  der  Homosexuellen  zu  Ver- 
folgungswahn und  Beziehungsvorstellungen  hervor.  Von  den  homosexuellen  Frauen  er- 
zählt Hirschfeld:  „Namentlich  homosexuelle  Frauen  werden  mit  der  Zeit  durch  die 
ihnen  wider  ihren  Willen  auferlegte  Erfüllung  ehelicher  Pflichten  sehr  nervös  und 
leiden,  abgesehen  von  Angstzuständen,  an  schweren  Depressionen."  .  .  Woher  weiß  nun 
Hirschfeld,  daß  diese  Depressionen  von  der  Erfüllung  der  ehelichen  Pflichten  stammen? 
Ich  kenne  homosexuelle  Frauen,  welche  geschieden  sind  und  noch  schwerer  leiden,  ich 
kenne  homosexuelle  Jungfrauen,  welche  ebenso  neurotisch  sind  wie  die  Frauen  und  ron 
schweren  Depressionen  geplagt  werden.  Alle  diese  Momente  beweisen,  daß  der  Homo- 
sexuelle seine  Monosexualität  ebenso  teuer  bezahlt  wie  der  neurotische  monosexuell 
Heterosexuelle. 


Homosexualität  und  Paranoia.  417 

dem  Wahne,  dem  entgegengesetzten  Geschlechte  anzugehören,  und  kann 
auch  so  weit  kommen,  daß  er  seine  Genitalien  nicht  mehr  sieht  und  es 
fühlt,  daß  er  sich  verwandelt  hat.  Die  Paranoia  ergänzt  dann  noch 
physisch,  was  sich  seelisch  schon  in  ihm  vollzogen  hat.  Der  Wunsch 
des  männlichen  Homosexuellen:  Ich  will  ein  Weib  sein!  geht  in  der 
Paranoia  in  Erfüllung.  Er  hat  dann  tausend  Beweise,  daß  er  ein  Weib 
ist.  Solche  Fälle  sind  zahlreich  beschrieben  worden,  besonders  von 
Krafft-Ebing,  der  sie  als  „Metamorphosis  sexualis  paranoica"  be- 
zeichnet. Solche  Menschen  bilden  sich  ein,  daß  sie  eine  Periode  haben, 
weil  sie  alle  vier  Wochen  aus  der  Nase  bluten  (kommt  auch  bei  nicht 
paranoischen  Urningen  vor!),  es  gehen  ihnen  unten  Molimina  durch 
fünf  Tage  zur  Vollmondzeit  ab.  So  erzählt  der  Patient  von  Krafft- 
Ebing  (Beobachtung  134,  S.  245)  :  „Alle  4  Wochen,  zur  Vollmondzeit, 
habe  ich  5  Tage  lang  alle  Molimina  wie  eine  Frau,  körperlich  und 
geistig,  nur  daß  ich  nicht  blute  (!),  während  ich  ein  Gefühl  von  Ab- 
gang der  Flüssigkeit,  ein  Gefühl  von  Geschwollensein  der  Genitalien 
und  des  Unterleibes  (innen)  habe;  eine  sehr  angenehme  Zeit,  besonders 
wenn  nachher  und  später  in  ein  paar  Tagen  das  physiologische  Gefühl 
der  Begattungsbedürftigkeit  kommt  mit  seiner  ganzen,  das  Weib  durch- 
dringenden Kraft."  Ein  anderer  Paranoiker  behauptet,  er  sei  von  jeher 
ein  Weib,  ein  französischer  Quäkerkünstler  habe  ihn  in  der  Jugend 
durch  Zauberei  mit  männlichen  Genitalien  versehen  und  durch  Salben 
das  Entstehen  des'  Busens  verhindert.  Ein  Mädchen  meiner  Beobachtung 
fühlte  den  Penis,  wies  auf  die  Barthaare  im  Gesichte  hin  und  meinte, 
sie  sei  nur  ein  verhexter  Mann.  Sie  fühle  aber,  wie  ihr  der  Penis  im 
Innern  wachse  und  allmählich  herauskomme. 

Daß  aber  auch  die  Verdrängung  der  Heterosexualität  für  den 
Homosexuellen  schwere  Folgen  haben  kann,  ihn  zum  Alkoholismus 
drängt,   einen  Verfolgungswahn  erzeugt,  beweisen    die  nachfolgenden 

Zeilen: 

„Ich  habe  bei  Homosexuellen  Zustände  von  Präkordialangst  mit 
starken  vasomotorischen  Störungen  gesehen,  wie  sie  furchtbarer  schwer- 
lich gedacht  werden  können.  Neben  der  Angstneurose  scheint  mir  als 
Abstinenzleiden  besonders  gelegentlich  eine  Art  Verfolgungs- 
wahn .vorzukommen,  bei  dem  es  oft  schwer  zu  unterscheiden 
ist,  ob  er  noch  in  das  Gebiet  nervöser  Zwangsvorstellungen  öder  schon 
in  das  der  Paranoia  fällt.  Solche  Personen  bilden  sich  ein,  daß  jedermann 
ihnen  ihre  Homosexualität  anmerke,  die  Leute  beobachteten  ihre  Hände 
und  lächelten  spöttisch,  daß  sie  keinen  Verlobungs-  und  Trauring 
trügen,  im  Restaurant  zischelte  man  an  den  Nachbartischen  „verständ- 
nisinnig" über  den  „eingefleischten  Junggesellen",  in  den  Hotels  merk- 
ten Portiers  und  Kellner  gleich,    „was  los  sei",  und  behandelten  sie 

Stekel,  Störungen  doa  Trieb-  und  Affoktlebens.  II.  2.  Aufl.  27 


418 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


verächtlicher  oder  vertraulicher  als  die  übrigen  Gäste,  auf  der  Straße 
fielen  Bemerkungen  über  ihren  trippelnden  Gang,  kurz  überall  fühlen 
sie  sich  beobachtet,  geniert;  manche  erröten  fortwährend,  andere  werden 
krankhaft  mißtrauisch  und  menschenscheu,  wieder  andere  —  und  das 
ist  das  Schlimmste  —  flüchten  sich  zum  Alkohol.  Überzeugt  von  der 
Richtigkeit  ihrer  Wahrnehmungen  und  auch  dem  Arzte  gegenüber 
refraktär,  entschließen  sich  Patienten  dieser  Art  meist  schwer  und 
spät,  zum  Arzt  zu  gehen,  dem  sie  sich  dann  häufig  erst  unter  falschem 
Namen  vorstellen.  Haben  diese  Verfolgungsideen  bereits  sehr  lange 
gedauert,  so  sind  solche  Zustände  kaum  noch  zu  beseitigen,  jedenfalls 
erfordern  sie  die  größte  Mühe  und  Geduld  des  Arztes,  sowie  das  Auf- 
gebot eines  ganzen  Heilapparates,  vor  allem  des  psycho-  und  hydro- 
therapeutischen, wogegen  man  mit  Medikamenten,  für  deren  Verordnung 
eine  ziemliche  Verlockung  besteht,  recht  vorsichtig  sein  soll."  (Hirsch- 
feld 1.  c.  S.  455.) 

Aus  dieser  Beobachtung  von  Hirschfeld  erheUt  das  tiefe  Schuld- 
bewußtsein der  Homosexuellen,  das  aber  nicht  auf  ihre  Homosexualität, 
sondern  auf  ihre  Kriminalität  zurückzuführen  ist.    Vielleicht  ist  diese 
Verlotung  von  Homosexua!ität  und  Kriminalität,  von  pathologischer 
Eigenliebe  und  unterdrücktem  Hasse,  diese  Unfähigkeit  zu  einer  wirk- 
lichen Liebe,    die  Ursache,    daß  die  Menschen    sich  gegen    die  Mono- 
sexualität  sträuben  und  daß  unzählige  Opfer  fallen,  unzählige  Menschen 
durch  raffinierte  seelische  Martern  zugrunde  gehen.    So  wie  wir  nicht 
mehr  die  Götter  der  Urzeit  haben  —  Männer  mit  weiblichen  Busen  und 
Frauen  mit  einem  gewaltigen  Phallus  —  so  wie  wir  eine  Teilung  der 
Gottheit  in    drei  Komponenten    (Mann,  Weib,  Kind)     vorgenommen 
haben,  die  vereint  eine  Kraft  darstellen,  so  müssen  wir  uns  auch  nur  für 
ein   Liebes-Ideal  entscheiden.     Das    ist    der    Monotheismus 
der      Sexualität,       der      noch      viel      starrer      und 
strenger     ist     als     der     religiöse.      „Lieben     heißt 
seinen    Gott    finden"     habe    ich    definiert.     Es    s  o  1- 
len  aber  keine  anderen  Götter   sein  neben   diesem 
trotte.    Dieser   Kampf    um    den    einzigen   Gott    der 
Liebe  schließt  alle  erotischen  Tragödien  unserer 
Kultur  in  sich  ein:    den  Kampf    um    die  Treue    und 
um      die      Monogamie,      die       sich       vorläufig       als 
äußerstes    Ziel    der     kulturellen     sexuellen    Leit- 
linie  zeigen.    Zwischen    dem   Pansexualismus   des 
Urmenschen     und     der     strengen     Monogamie     und 
der    Monosexualität     des     Kulturmenschen    liegen 
alle  Entwicklungsmöglichkeiten  und  Hemmungen, 


Homosexualität  und  Paranoia. 


419 


welche   sich  als  P  airapathien,   Paraphilien,   Trunk- 
sucht,   Paralogien    usw.  äußern. 

Die  Analyse  der  Eifersucht  hat  uns  deutlich  gezeigt,  daß  mit 
der  verdrängten  Homosexualität  auch  die  Kriminalität  zum  Vorschein 
kommt.  Die  Kranken,  von  denen  wir  erzählt  haben,  schlagen,  sie  tragen 
Revolver  bei  sich,  sie  drohen  mit  Totschlag.   Mancher  Mord  aus  Eifer- 
sucht geht  auf  die  Triebkraft  der  Kriminalität  zurück.    Es  ist  ja  zu 
bedenken,  daß   die  Verdrängung  die  Homosexualität  ebenso  wie  die 
anderen  paraphilen  Triebe  und  die  Kriminalität  unterdrückt.   Bricht 
nun  die  verdrängte  Homosexualität  aus  der  Versenkung  des  Unbe- 
wußten hervor,  so  reißt  sie  auch  alle  verdrängten  Regungen  des  Hasses 
mit  sich.    Mit  dem  verdrängten  Homosexuellen  meldet  sich  auch  der 
verdrängte  Verbrecher.    Diese  Erscheinung  macht  uns  die  furchtbaren 
Verbrechen  verständlich,  welche  die  Paranoiker  begehen,  wenn  sie  sich 
verfolgt  und  bedroht  fühlen.    Sie  projizieren  nicht  nur  die  Verfolgung 
durch  homosexuelle  Ideen  auf  die  Umgebung,  sondern  auch  ihre  eigenen 
kriminellen  Impulse.    Man  will  sie  morden  .  .   .  das  heißt  eben:  Ich 
will  morden    und  deshalb    nehme  ich  an,    daß    der  andere    mich    er- 
morden will. 

Sieht  man  aber  in  der,  Homosexualität  ein  archaisches  Symptom, 
eine  Rückschlagserscheinung,  so  wird  man  auch  verstehen,  daß  der 
Inzest  in  allen  Formen  bei  dem  Homosexuellen  eine  größere  Rollo 
spielen  muß  als  bei  dem  Normalen.  Der  Urning  steht  zeitlich  dem 
antiken  Ödipus  und  die  Urlinde  der  antiken  Elektra  näher  als  die 
Normalmenschen.  Auch  die  Herrschsucht  muß  sich  in  kräftigeren  Zügen 
nachweisen  lassen.  Zeigt  doch  die  Unterdrückung  der  heterosexuellen 
Komponente  schon  das  Bestreben,  Herr  über  sich  zu  werden  und  be- 
weist doch  diese  einseitige  Vergewaltigung  den  eigensinnigen  Willen 
zur  Macht  über  sich  selbst!  In  der  Eifersucht  bricht  der  Wille  zur 
Macht  in  heftigen  Affekthandlungen  hervor  und  zeigt  die  innigen  Be- 
ziehungen der  Homosexualität  zum  Sadismus,  die  wir  in  den  nächsten 
Kapiteln  ausführlich  besprechen  werden. 


27* 


Die  Homosexualität. 

XII. 
Homosexualität  und  Sadismus. 

Man  mißversteht  das  Raubtier  und  den  Raubmen- 
schen (z.B.  Cesare  Borgia)  gründlich,  man  mißversteht  die 
„Natur",  so  lange  man  noch  nach  einer  „Krankhaftigkeit" 
im  Grunde  dieser  gesündesten  aller  tropischen  Untiere 
und  Gewächse  sucht,  oder  gar  nach  einer  ihnen  einge- 
borenen „Hölle" :  wie  es  bisher  fast  alle  Moralisten  se- 
tan  haben.  ,T.         ,   ° 

Jsietzsche. 

Unsere  Untersuchungen  über  das  seelische  Phänomen  der  Eifer- 
sucht  haben   uns    immer   wieder    auf   die    Zusammenhänge   zwischen 
Homosexualität  und  Sadismus  geführt,  die  wir  schon  bei  Besprechung 
der  Abwehrreaktionen  des  Homosexuellen  flüchtig  erwähnt  haben.   Der 
Nachweis  der  sadistischen  Einstellung  des  Homosexuellen  ist  uns  in 
den  meisten  Fällen  gelungen,    bei  denen  wir  danach  geforscht   haben. 
Dies  Verhalten  ist  so  typisch,  daß  ich  mich  wundern  muß,  daß  es  nicht 
früheren  Beobachtern  in  seiner  Gesetzmäßigkeit  aufgefallen  ist.    Die 
Häufigkeit  abnormer  sexueller  Gelüste  bei  Homosexuellen  wurde  zwar 
von  vielen  Ärzten  hervorgehoben  und  zugunsten  einer  degenerativen 
Anlage  verwertet.    Da  sie  aber  nur  auf  die  Mitteilungen  angewiesen 
waren,  die- ihnen  die  Homosexuellen  machten,  und  ihnen  die  Tiefenfor- 
schung der  psychologischen  Analyse  nicht  zugänglich  war,  mußte  ihnen 
diese  Gesetzmäßigkeit  entgehen.   Wir  werden  in  dem  nächsten  Kapitel 
aus  einem  ausführlich  mitgeteilten  Falle  erst  mit  voller  Deutlichkeit 
ersehen,  wie  lückenhaft  diese  ersten  Mitteilungen  der  Patienten  sind. 
Ich  habe  schon  hervorgehoben,  daß  die  Wahrheitsliebe  der  Homosexuel- 
len von  vielen  Forschern  ernstlich  bestritten  wird.    Dazu  kommt  noch 
der  Umstand,  daß  die  sadistischen  Triebkräfte  von  den  Neurotikem 
bewußtseinsunfähig  gemacht  werden.    Sie  sind  verdrängt  und  gehören 
zu  dem  beharrlich  übersehenen  und  beiseite  gestellten  Inventarium  der 
homosexuellen  Psyche. 

Nur  in  vereinzelten  Fällen  drängt  sich  der  Sadismus  übermächtig 
in  den  Vordergrund  des  Bewußtseins  und  gibt  dem  paraphilen  Krank- 


Homosexualität  und  Sadismus.  421 

heitsbilde  die  spezifische  Färbung.  Dann  allerdings  beschränkt  sich  der 
Sadismus  nicht  allein  auf  das  entgegengesetzte  Geschlecht.  Sexuelle 
Lust  und  Grausamkeit  sind  unlösbar  miteinander  verlötet;  die  kultur- 
feindlichen Triebe  sind  keiner  sozialen  Sublimierung  fähig x) ;  das 
kranke  Individuum  bildet  eine  Gefahr  für  die  Gesellschaft,  gerät  mit 
den  Gesetzen  in  Konflikt  und  endet  im  Zuchthause  oder  im  Irrenhause. 
Denn  diese  Fälle  zeigen  uns  den  Homosexuellen  des  Durchschnittes  in 
pathologischer  Vergrößerung  und  Verzerrung. 

In  dieser  Hinsicht  bildet    die   nachstehende  Beobachtung    von 
Fleischmann2)  ein  Paradigma. 

Fall   Nr.  85:    Körperlich     zeigt    Pat.     beginnende    Basedowsche    Er- 
krankung.   Seine  Stimmung  ist  'sehr,  labil,  er  verfällt  von  einem  Extrem  m 
das  andere.    Er  ist  argwöhnisch,  sehr  lügenhaft,  sehr  reizbar,  schlug  z.  13.  m 
Wut  seinen  Vater.    Sein  religiöses  Gefühl  ist    nicht  besonders  ausgeprägt 
In  seinem  ganzen  Handeln    macht  sich    eine    große  Willensschwäche    und 
Energielosigkeit  bemerkbar.    Seit  dem  17.  Jahre  frönte  Pat.  zeitweise  exzes- 
siv dem  Alkoholgenuß.    Über  sein  sexuelles  Leben  ist  folgendes  zu  erfahren: 
Als  Kind  von  10  Jahren  habe  er  in  einem  Buche  eine  Illustration,  eine  Prugel- 
szene  darstellend,  gesehen  und  dabei  ein  eigenartiges  Wollustgefühl  verspürt. 
Nun  suchte  er  sich  immer  wieder  diese  Szene  in  Erinnerung  zurückzurufen 
wobei  er  sieh  in  die  Rolle  des  Geprügelten  hineindachte.    Schon  das  Wort 
„Peitschen"  hatte  für  ihn  etwas  Aufregendes,  Reizvolles.    Pat    ahnte  schon 
damals,  daß  in  diesem  Treiben  etwas  Anormales  liege,  und  empfand  dabei  ein 
drückendes  Schuldgefühl.    In  dieser   Zeit  fuhr  er  einmal  mit  seiner  Mutter 
aufs  Land.    Sie  fuhren  an  einem  Teich  vorbei,    an  dessen  Ufer  ein  nackter 
Mann  stand,  der  badete.    Mit  dieser   Szene  beschäftigte  er  sich ,  gleichfa IIb 
in  seinen  Gedanken  monatelang.   Mit  11  Jahren  bat  Pat.  einmal  seinen  Vatei 
er  solle  ihn  züchtigen,  er  habe  ein  unreines  Gewissen,  erreichte  jedoch  seinen 
Zweck  hierbei  nicht.  Seine  Phantasie  bildete  sich  immer  mehr  aus    Er  lebte 
sich  mit  Vorliebe  in  die  Situation  des  Kapitän  Dreyfus  ein,  wünschte  dessen 
Demütigung  und  Leiden  selbst,  zu  erleben.    Diese  Phantasie  beherrschte  Pat 
derart,  daß  seine  Schulleistungen  nachließen;  er  wurde  zerstreut,  hatte  viel 
Kopfschmerzen.    Mit   15  Jahren  ging  er   zur  Realisation  seiner   Phantasie- 
Szenen  über:  er  entkleidete  sich  in  seinem  Zimmer,  fesselte  sich  die  Hände 
und  hängte  sich  an  den  Fesseln  auf.   Dabei  beschwerte  er  seine  frei  herunter- 
hängenden Beine  mit  Gewichten.    Pat.  hatte  hierbei  Orgasmus  und  Ejakula- 
tion    Einer  Folterillustration,  die  er  in  einer  illustrierten  Weltgeschichte 
entdeckte,  entnahm  er  neue  Methoden.    Mit  Vorliebe  realisierte ,  er  Kreuzi- 
güngsszenen.    Bei  allen  diesen  Prozeduren  stellte  sich  Pat.  lebhaft  vor,  daß 
er  von  Henkersknechten   gemartert  werde.     In   irgendeine    Beziehung   zum 
eigenen  oder  zum  anderen  Geschlecht  brachte  er  diese  Selbstquälerei  nie.  Er 
hatte  geschlechtliche  Befriedigung,  ohne  an  ein  Geschlecht  zu  denken.    Der 
Genuß  kam  im  Orgasmus  und  in  der  Ejakulation  zum  Ausdrucke.  Allmählich 

*)  Vgl.  Stehel:  Berufswahl  und  Neurose.    Groß'  Archiv,  Bd.  19. 

»)  Beiträge  zur  Lehre  von  der  konträren  Sexualempfindung.    Zeitschr.  f.  Psych. 

u.Neur.,  Bd.  VII,  1911. 


■ 


422  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

•ließ  der  Reiz  dieser  Selbstquälerei  nach,  seine  Phantasie  erlahmte,  und  Pat. 
begann   in  der  Masturbation  sexuelle  Befriedigung  zu  suchen.    Er  pflegte 
hierbei  den  Penis  zwischen  den  Beinen  nach  hinten  zu  ziehen  und  mit  den 
Oberschenkeln  hin  und  her  zu  wetzen.    Bei  diesen  Manipulationen  tauchten 
homosexuelle  Regungen  bei  ihm  auf.    Er  pflegte  sich  bei  der  Onanie   die  er 
anfänglich  alle  vier  Wochen  einmal,    später  täglich,    in  letzter  Zeit  aucli 
5-10mal l)  hintereinander  vornahm,  die  Oberschenkel  eines  jungen  Knaben 
vorzustellen.  Anfänglich  genügte  diese  Vorstellung  ohne  alle  Nebengedanken 
Spater  ging  er  zur  Vorstellung  des  Coitus  intra  femora  über.    Aber  auch 
sonst  beherrschten  ihn  konträre  Sexualempfindungen.    So  faßte  er  zu  einem 
jüngeren  Kameraden  eine  so  tiefe  Neigung,  daß  er  sich  entschloß,  die  Klasse 
freiwilhg  zu  wiederholen,  nur  um  mit  dem  betreffenden  Jungen  in  einer  Klasse 
sitzen  zu  können.   Der  Vater  brachte  ihn  wegen  Lügenhaftigkeit  in  eine  Er- 
ziehungsanstalt,   wo  er  von  'seinen  Kollegen    sexuell  aufgeklärt    und    zur 
mutuellen  Onanie  verführt  wurde.    Er  sei  sich  aber  nicht  bewußt  gewesen, 
daß  er  Unwahrheiten  gesprochen  habe,  da  er  nicht  mehr  imstande,  gewesen 
sei     rhantasieprodukte    von  Realitäten    zu  unterscheiden.     Mit  17  Jahren 
näherte  sich  Pat.  einer  Bauerntochter,  erreichte  auch,  daß  er  bei  ihr  schlafen 
durfte;  zum  Koitus  ließ  sie  ihn  aber  nicht  zu;  Pat.  glaubt,  daß  ihm  der 
Koitus  damals  einigen  Genuß  verschafft  hätte. 2)  In  dieser  Zeit  mißbrauchte 
.er  emen  seiner  besten  Freunde  in  der  Phantasie  täglich.    Er  stellte  sich  ihn 
entblößt  vor    wobei  er  mit  den  Körperteilen  abwechselte.     Er   tastete  ihn 
m  seinen  Gedanken  ab  und  kam  schließlich  so  weit,  daß  er  sich  in  einen  kom- 
pletten homosexuellen  Akt  mit  ihm,  eine  einerseits  aktive  Immissio  penis 
in  anum,  vorstellte;  dabei  masturbierte  er  nach  der  obenerwähnten  Methode 
Nach  einem  Jahre  konnte    er  sich  nicht    mehr  beherrschen;    er  überredete 
•seinen  Freund,  sich  vor  ihm  auszuziehen  und  sich  bauchwärts  auf  ein  Sofa 
zu  legen.    Pat.  .selbst  legte  sich  auf  ihn  und  versuchte  die  Immissio;  diese 
gelang  ihm  eines  plötzlich  aufgetretenen  Ekelgefühls  wegen  nicht.    Er 
nahm  Abstand    davon,    ejakulierte    aber    trotzdem    ante    portas;    nachher 
empfand  er  Scham.    In  der  Folgezeit  trennte  sich  Pat.  nach  einem  Streit 
von  diesem  Freunde.  Es  wurden  jetzt  die  sadistischen  Regungen  wieder  wach. 
Er  stellte  sich  Marterszenen  vor,  übernahm  dabei  die  Rolle,  die  Qualen,  die 
dabei  zur  Anwendung  kamen,  zu  bestimmen;  die  Ausführung  derselben  über- 
ließ er  den  zu  diesem  Zwecke  erdachten  Personen.    Mit  Vorliebe  wählte  er 
unter  seinen  jüngeren  Kollegen  seine  Opfer.    Pat.  hatte  sich  36  verschiedene 
Folterqualen  zurecht  gedacht,   für  deren  jede  er  ein  schriftliches   Zeichen 
setzte.   Durch  einen  Würfelwurf  bestimmte  er  aus  den  geworfenen  Augen  die 
zu  quälende   Person    sowie  die    zur  Anwendung    kommenden   Qualen,    die 
Marterinstrumente.    So  würfelte  Pat.  stundenlang.  - 

Hiermit  operierte  er  zwei  Jahre.  Allmählich  verlor  das  ganze  System 
den  Reiz;    seine  Phantasie  erlahmte;    er  gab  es  schließlich    ganz  auf.    Mit 

a)  Ich  hatte  einen  Soldaten  in  Beobachtung,  der  durch  3  Wochen  angeblich 
täglich  15mal  (!)  onanierte.  Schwerer  Hypochonder.  Das  Motiv  scheint  die  Erzeugung 
eines  Leidens  gewesen  zu  sein,  um  auf  diese  Weise  nulitärfrei  zu  werden. 

2)  In  der  von  Ziemcke  mitgeteilten  Krankengeschichte  desselben  Patienten  lautet 
die  Episode:  „Mit  17  Jahren  der  erßte  Koitus  mit  einem  Bauernmädchen  mit  Genuß 
und  ohne  Störung."  Ein  Beweis,  wie  die  heterosexuellen  Episoden  allmählich  in  der 
Erinnerung  korrigiert  und  zugunsten  einer  homosexuellen  Anlage  verändert  werden 


Homosexualität  imd  Sadismus. 


423 


18  Jahren  versuchte  Pat.  zum  zweiten  Male  einen  normalen  Koitus.  Es  kam 
wohl  zur  Erektion,  aber  zur  vorzeitigen  Ejakulation  ante  portas.  Bin 
dritter  Koitus  mißlang  wegen  Trunkenheit.  Er  nahm  wieder  seine  Zuflucht 
/Air  Onanie  und  stellte  sich  dabei  die  Unterschenkel  junger  Knaben  vor;  die- 
selben bedeuteten  für  ihn  einen  Fetisch.  Masochistische  Regungen  traten 
nicht  mehr  auf;  er  schwelgte  in  homosexuellen  Phantasien,  Spater  stellte 
Pat  sich  den  Coitus  intra  femora  von  Knaben  vor.  Er  schloß  i  reundschaf t 
mit  einem  14jährigen  Jungen,  diesen  küßte  er  ab  und  ließ  sich  von  ihm  an 
die  Genitalien  greifen.  Als  er  aber  bemerkte,  daß  jener  behaarte  Unter- 
schenkel hatte,  kühlte  sich  seine  Leidenschaft  sofort  ab.  Pat.  trug  sich 
in  dieser  Zeit  (20  Jahre)  mit  Selbstmordgedanken,  weil  Bein  Leben  ein  ver- 
fehltes sei.  Eine  angestellte  Psychanalyse  regte  ihn  nur  noch  mehr  aui, 
anstatt  ihn  zu  beruhigen.  Wiederum  schloß  Pat.  eine  Freundschaft  mit  einem 
14jährigen  Knaben;  da  derselbe  aber  alle  körperlichen  Liebesbezeugungen 
schroff  abwies,  blieb  die'  Zuneigung  rein  platonisch.  Ab  und  zu  half  sich  Pat. 
mit  Onanie,  wobei  er  sich  den  Coitus  intra  femora  seines  Freundes  vorstellte. 
Es  traten  wieder  sadistische  Neigungen  auf.  Pat.  wurde  immer  erregter, 
bestellte  einen  Knaben  unter  einem  nichtigen  Vorwande  zu  sich,  mißhandelte 
ihn  in  raffiniertester  Weise,  hängte  ihn  z.  B.  mit  auf  den  Rücken  zusammen- 
gebogenen Händen  auf,  schlug  ihn  mit  einem  Rohrstock  auf  das  Gesäß  und 
die  Oberschenkel;  für  jeden  Schlag  erhielt  der  Knabe  Geld.  Infolge  dieser 
Affäre  kam  Pat.  in  die  Klinik.1) 

In  der  psychologischen  Analyse  dieses  Falles  bemerkt  Fleisch- 
mann, der  besonders  die  Bedeutung  des  Traumas  hervorhebt  und  der 
Onanie  eine  verhängnisvolle  Rolle  in  der  Psychogenese  dieser  Para- 
philie  zuschreibt:  „Aus  diesem  Falle  geht  mit  Klarheit  hervor,  daß  alle 


*}  Ziemcke  schildert  diese  Begebenheit:  „Gegen  Ende  seiner  Studienzeit  in  Kiol 
nahm  er  sich  eines  Nachmittags  einen  12jährigen  Jungen  von  der  Straße  in  seine 
Wohnung,  dem  er  den  Auftrag  gab,  Bücher  für  ihn  fortzubringen.  Als  der  Junge  zurück- 
kam fragte  er  ihn,  ob  er  einige  Versuche  mit  ihm  machen  dürfe,  klopfte  ihm  zunächst 
auf  'die  Kniescheiben,  ließ  ihn  dann  die  Strümpfe  ausziehen  und  mit  entblößten  Knien 
auf  der  Kante  der  untersten  Kommodenschublade  knien;  sodann  mußte  sich  der  Junge 
mit  entblößtem  Oberkörper  und  ausgestreckten  Armen  hinstellen,  während  er  ihn  mit 
einer  Schreibfeder  in  die  Achselhöhlen  und  unter  die  Fingernägel  stach.  Weiter  fesselte 
er  ihm  die  Hände  auf  den  Rücken  und  hing  ihn  an  einen  Türhaken  in  Mannshöhe  auf, 
der  aber  riß.  Nunmehr  zog  er  den  Jungen,  der  sich  aufs  Sofa  legen  mußte,  die  Hosen 
herunter,  so  daß  Gesäß  und  Oberschenkel  frei  waren  und  fragte  ihn,  ob  er  25  Schläge 
mit  dem  Rohrstock  aushalten  könne,  er  solle  für  jeden  Schlag  5  Pfennig  erhalten. 
Als  der  Junge  nach  dem  43.  Schlag  die  Schmerzen  nicht  mehr  ertragen  konnte,  wurde 
die  Belohnung  auf  10  Pfennig  erhöht,  worauf  dieser  noch  5  Schläge  aushielt.  Wie 
festgestellt  war,  hatte  der  Täter  die  Nacht  vorher  bis  zum  frühen  Morgen  stark  ge- 
kneipt und  nach  eigener  Angabe  am  nächsten  Tage  starke  Unruhe  und  Herzklopfen 
gehabt  Er  gab  noch  an,  er  habe  unter  einem  absoluten  Zwange  gehandelt,  er  erinnere 
.ich  zwar  noch  ganz  deutlich  an  die  Einzelheiten  des  Vorganges,  aber  alles  sei  wie  im 
Taumel  geschehen.  Nach  der  Tat  habe  er  das  Gefühl  der  Erleichterung  gehabt,  die 
Erregung  und  Unruhe  habe  sich  bald  gelegt.  Die  Untersuchung  ergab  auf 
körperlichem  Gebiet  keine  Abweichungen  und^  ebensowenig 
gröbere     Defekte     auf     intellektuellem     Gebiet. 


424  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

sexuellen  Anomalien  nur  in  ihren  Sexualobjekten  und  Sexualzielen 
verschieden  sind,  in  den  Bedingungen  ihrer  Entstehung  aber  als  voll- 
kommen gleichwertig  zu  betrachten  sind." 

Was  aber  diesem  Falle  eine  besondere  Bedeutung  gibt,  ist  die  nie 
fehlende  Verbindung  von  Sadismus  mit  Masochismus,  die  noch  so 
wenigen  Sexualforschern  als  bipolarer  Ausdruck  einer  und  derselben 
Kraft  aufgefallen  ist;  ferner  das  tiefe  Schuldgefühl,  das  keinem  Maso- 
chisten  fehlt;  ferner  die  Abwehrreaktionen  gegen  die  homosexuellen 
Regungen:  Der  Ekel  vor  der  Immissio  penis  in  anum  und  die  unange- 
nehmen Empfindungen,  als  er  die  Behaarung  des  Knaben  erblickte.  ' 

Ferner  zeigt  uns  dieser  interessante  Kranke  die  überragende  Be- 
deutung des  Vaters  in  der  Psychogenese  der  Homosexualität  und  die 
Wiederholung  der  „spezifischen  Szene".    Mit  llJahren  bat  er  seinen 
Vater,  ihn  zu  züchtigen,  weil  er  sich  schuldig   fühlte.    Mit  25  Jahren 
führt  er  diese  Züchtigung   an  einem  12jährigen  Jungen  in  raffinierter. 
Weise  aus.    Man  muß  schon  seelenblind  sein,  um  nicht  zu  erkennen, 
daß  er  den  Vater  spielt,  der  seinen  Sohn  martert.  Die  Entstehung  dieser 
Einstellung  könnte  man  sich  ungefähr  folgendermaßen  rekonstruieren. 
Seine  primäre  Phantasie    war  wohl  durch    den  Wunsch  bedingt,    der 
Vater  möge  mit  ihm  zärtlich  sein.  Er  wollte  dem  Vater  die  Mutter  er- 
setzen.    (Coitus  inter  femora!)    Wahrscheinlich  Eifersuchtsgedanken 
gegen  die  Mutter,  Rachegedanken  gegen  den  Vater  aus  verschmähter 
Liebe;  aus  diesen  Gedankensünden  entsprang  sein  Schuldbewußtsein, 
das  sich    im  Masochismus  äußerte.    Denn    wie  ich    in  den    späteren 
Bänden  2)  dieses  Werkes  ausführen  werde,  ist  der  Sadismus  immer  die 
primäre  Einstellung,  die  sich  infolge  von  Schuldbewußtsein  in  Maso- 
chismus konvertiert  oder  sich  mit  ihm  kombiniert. 

Ich  möchte  noch  auf  die  Bemerkung  von  Fleischmann  zurück- 
kommen, daß  den  Patienten  die  Psychanalyse  nur  verwirrte  und  nicht 
heilte.  Es  geht  unbedingt  nicht  an,  daß  alle  Mißerfolge  der  Psych- 
analyse der  Methode  angekreidet  werden.  Die  Psychanalyse  ist  eine  sehr 
schwere  Kunst  und  wird  immer  nur  wenigen  Auserwählten  zugänglich 
sein.  Nicht  alles,  was  den  Namen  Psychanalyse  führt,  ist  es  in  Wirklich- 
keit. Oft  lassen  sich  die  Patienten  einige  Tage  behandeln,  verlassen  dann 
den  Arzt  und  behaupten,  die  Psychanalyse  (die  einige  Monate  hätte 
dauern  sollen!)  hätte  keinen  Erfolg  gehabt.2)  Eine  Analyse  des  vorher- 

*)  Band  VII  der  Störungen  des  Trieb-  und  Affektlebens:  „Sadismus  und  Maso- 
chismus". 

s)  Im  Verein  der  Ärzte  in  Odessa  wurde  einmal  ein  Kollega  vorgestellt,  den  ich 
angeblich  erfolglos  behandelt  hätte.  Er  litt  an  Zwangsvorstellungen  schwerster  Art  und 
stand  eine  Woche  in  meiner  Behandlung.  Ich  hatte  drei  Monate  vorgeschlagen.  Nichts- 
destoweniger wurde  er  als  Beweis  von  der  Wertlosigkeit  der  Psychanalyse  vorgefülirt. 


* 


Homosexualität  und  Sadismus.  425 

gehenden  Falles  hätte  gewiß  zu  einer  Vertiefung  der  psychologischen 
Analyse  und  zu  neuen  Erkenntnissen  geführt. 

Sicherlich  können  während  einer  psychanalytischen  Behandlung 
verschiedene  sexuelle  verdrängte  Einstellungen  manifest  werden.  Sie 
müssen  es  sogar,  können  aber  mit  Hilfe  des  Arztes  erledigt  und  über- 
wunden werden. 

Zum  Thema  „Homosexualität  und  Sadismus"  gehört  der  nachfol- 
gende Bericht  über  einen  lesbischen  Lustmord,  den  ich  dem  trefflichen 
Werke  von  Kratter  „Gerichtsärztliche  Praxis"  (Verlag  Ferd.  Enke, 
1919,  Bd.  II,  S.  38)  entnehme. 

Lesbischer  Lustmord.    Abgebissene  Na'se. 

„In  der  Nacht  vom  16.  zum  17.  Mai  1897  spielte  sich  in  einem 
Bordell  in  Graz  ein  aufsehenerregendes  Ereignis  ab.  Die  daselbst  als 
Küchen-  und  Stubenmädchen  bedienstete  M.  0.  wurde  von  ihrer  Dienst- 
geberin,  der  Bordellinhaberin,  durch  zahlreiche  Messerstiche  mit  einem 
langen  Küchenmesser  in  Brust  und  Bauch  ermordet.  Die  absolut  töd- 
lichen Verwundungen  der  Lunge,  des  Herzens  und  der  Leber  sollen  hier 
nicht  weiter  erörtert  werden.  Nur  das  Motiv  der  Tat  erscheint  mir  in 
diesem  Falle  einzigartig. 

Die  Täterin  stand,  wie  die  Erhebungen  feststellten,  in  sehr  innigen 
geschlechtlichen  Beziehungen  zu  ihrer  Bediensteten,  der  Ermordeten.  Oft 
schloß  sie  sich "  stundenlang  mit  ihr  ein,  oft  schlief  das  Dienstmädchen 
die  ganze  Nacht  bei  ihrer  Herrin.  Dieses  Verhältnis  war  allen  Prosti- 
tuierten des  Hauses  wohlbekannt.  Die  M.  0.  war  als  Dienstbote  des 
Hauses  nicht  auch  Freimädchen,  im  Gegenteil,  männlicher  Verkehr 
war  ihr  strengstens  untersagt;  sie  war  ausschließlich  die  Geliebte  ihrer 
Herrin. 

An  dem  Tage  der  Ermordung  war  die  M.  0.  von  einem  achttägigen 
Urlaub,  den  sie  zum  Besuche  ihrer  Angehörigen  erhalten  hatte,  zurück- 
gekehrt. Die  Frau  empfing  sie  schon  in  sehr  erregter  Stimmung.  Schon 
während  der  Abwesenheit  der  M.  0.  war  sie  sehr  aufgeregt  gewesen  und 
hatte  Eil'ersuchtsgedanken  geäußert.  Sie  war  von  der  Besorgnis  gequält, 
die  M.  0.  würde  ihr  Fernsein  vom  Hause  zu  geschlechtlichem  Verkehr 
mit  Männern  benützen.  Bald  nach  der  Ankunft  der  M.  0.  schloß  sich 
die  Dien'stgeberin  mit  ihr  im  Schlafzimmer  ein.  Es  waren  etwa 
l1/»  Stunden  vergangen,  da  hörten  die  im  Hause  verteilten  Freimädchen 
plötzlich  einen  gellenden  Schrei,  der  aus  dem  Schlafzimmer  der  Hausfrau 
drang,  darauf  Lärm  und  Hilferufe.  Sie  liefen  erschreckt  zusammen  und 
versuchten  die  versperrte  Türe  zu  öffnen,  was  nicht  gelang.  Plötzlich 
wurde  sie  von  innen  aufgerissen  und  die  blutüberströmte  und  nur  mit 


/ 


Zufällig  war  in  der  Sitzung  Kollega  Dr.  W.  anwesend,  der  die  Tatsache  kannte,  daß 
die  vermeintliche  Analyse  nur  eine  Woche  gedauert  hatte.  Er  konnte  die  Angelegenheit 
gleich  berichtigen.  Nach  einigen  Wochen  begab  sich  der  charaktervolle  kranke  Arzt 
in  die  Behandlung  des  Dr.  W.  .  .  . 


426  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

einem  Hemde  bekleidete  M.  0.  stürzte  heraus,  gefolgt  von  der  sieh  wie 
toll  gebärdenden  Hausfrau,  die  ein  langes  geschliffenes  Küchenmesser 
schwang  und  auf  die  Fliehende  zustach.  Diese  floh  nach  dem  Hofe,  wo 
sie  von  der  Angreiferin  erreicht  noch  mehrere  Stiche  erhielt,  bis  sie 
leblos  zusammenbrach.  Dies  spielte  sich  so  rasch  ab,  daß  die  selbst 
zu  Tode  erschrockenen  Mädchen  gar  nicht  Zeit  fanden,  etwa  der  Wüten- 
den in  den  Arm  zu  fallen. 

Eine  Verletzung  ist  nun  bemerkenswert  und  gibt  der  grauenvollen 
Tat  die  besondere  Signatur:  die  Nase  war  abgebissen.  Dies  geschah 
zweifellos,  als  die  beiden  noch  im  Bette  lagen  oder  als  sich  die  M.  0. 
zum  Weggehen  anschickte,  jedenfalls  als  erster  Angriff,  der  den  gel- 
lenden Aufschrei  der  M.  0.  verursacht  hatte.  Die  abgebissene  Nasen- 
spitze wurde  von  der  bald  erschienenen  Gerichtskommission  in  einer  Ecke 
des  Zimmers  vorgefunden,  wohin  sie  gespuckt  worden  war. 

An  sich  schon  ist  die  ungemein  seltene  Verletzung  interessant. 
Die  Wundränder  sind  leicht  gequetscht,  sonst  ist  die  Abtrennung  so 
scharf,  daß  man  fast  an  einen  Schnitt  denken  könnte.  Die  Knorpel  der 
Nasenflügel  sind  ausgerissen  (nicht  abgebissen).  Wem  aber  die  psycho- 
logischen Zusammenhänge  gegenwärtig  sind,  die  zwischen  Wollust  und 
Grausamkeit  bestehen,  dem  bedeutet  der  Fall  mehr  als  eine  seltene  Biß- 
verletzung der  Nase.  Es  liegt  zur  Grausamkeit  gesteigerte  potenzierte 
Wollust  vor.  Der  leidenschaftliche  Kuß  wird  zum  wahnsinnig  wilden 
,  Biß,  die  unstillbare  Geschlechtsgier  zur  Mordlust.  Höchstgradig  ge- 
steigerte Wollust  des  Weibes  ist  Nymphomanie.  Die  heterosexuelle 
Nymphomane  ist  naturnotwendig  Masochistin,  sie  wirft  sich  jedem  Manne  ' 
schamlos  hin;  die  homosexuelle  ebenso  zwingende  Sadistin,  die  Grau- 
samkeitsakte am  Weibe  ausführt,  wie  sonst  nur  der  sadistische  Mann. 
Ihr  Angriffsziel  kann  nur  das  Weib  sein,  wenn  ihre  Homosexualität 
echt  ist.  Unser  Fall  ist  die  Probe  aufs  Exempel.  Es  ist  der  ins  Weib- 
liche übersetzte  Lustmord,  der  psychologisch  nur  auf  solcher  Basis 
denkbar  und  möglich  ist. 

Übrigens  ist  unsere  Lustmörderin  als  geisteskrank  erkannt  und 
der  Irrenanstalt  übergeben  worden,  wo  sie  nach  nicht  allzu  langer 
Zeit  an  Paralyse  zugrunde  ging.  Es  hatte  sich  demnach  wohl  um  eine 
der  bekannten  manischen  Explosionen  im  Verlaufe  der  Paralyse  ge- 
handelt. 

Es  ist  mir  fraglich,  ob  Kratter  recht  hat,  wenn  er  der  Urlinde 
immer  eine  sadistische  Einstellung  zum  gleichgeschlechtlichen  Partner 
vindiziert.  Denn  es  gibt  auch  passive  Urlinden,  die  den  Frauen  gegen-, 
über  immer  die  Unterliegende  spielen  und  sich  ihr  ganz  ergeben, 
während  sie  dem  Manne  gegenüber  sadistisch  eingestellt  sind.  Ja,  ich 
habe  bei  Urlinden  fast  immer  eine  sadistische  Einstellung  gegen  den 
Mann  konstatieren  können.  In  einem  von  mir  nicht  gänzlich  zu  Ende 
analysierten  Falle  bestand  ein  deutlicher  Kastrationskomplex.  (Das 
Abbeißen  der  Nase  in  dem  Falle  von  Kratter  könnte  der  symbolische 
Ausdruck  der  Kastration  sein.) 


Homosexualität  und  Sadismus.  427 

Dem  gleichen  Trugschluß  wie  Kratter  erliegt  auch  Otto  Groß, 
der  in  seinem  Aufsatze  „Über  Konflikt  und  Beziehung" x)  zum  Schlüsse 
kommt,  daß  sich  für  beide  Geschlechter  verschiedene,  typische  Kräfte- 
paare ausbilden:  „Beim  Mann  heterosexueller  Sadismus  und  passive 
Homosexualität,  bei  der  Frau  heterosexueller  Masochismus  und  aktive 
Homosexualität."  Ich  bedauere,  daß  Groß  mich  schlecht  verstanden  hat. 
Denn  es  ist  ganz  gleichgültig,  ob  der  Urning  oder  die  Urlinde  sich  als 
Homosexuelle  aktiv  oder  passiv  einstellen.  Der  Homosexuelle  kann  dem 
Weibe  gegenüber  sadistisch  und  trotzdem  als  Homosexueller  immer 
aktiv  auftreten,  ja  auch  dem  Manne  gegenüber  sadistisch  sein,  wie  wir 
bald  sehen  werden.  Die  Schlußfolgerungen  des  genialen  Otto  Groß 
sind  leider  nicht  durch  analytische  Erfahrung  gewonnen  worden.  Sie 
sind  Spekulationen,  intuitiv  erfaßt  und  geistreich  durchdacht,  sie 
bleiben  aber  immer  Spekulationen. 

Wenden  wir  uns  wieder  der  Analyse  von  homosexuellen  Sadisten  zu. 

Der  nächste  Fall  zeigt  uns  das  Manifest  wer  den  einer  latenten 
Homosexualität  nach  einigen  analytischen  Behandlungen. 

Fall  Nr.  86.  Herr  Delta,  Student  der  Medizin,  24  Jahre,  erblich  nicht 
belastet,  körperlich  vollkommen  gesund,  leidet  an  Depressionen  und  Unfähig- 
keit zur  Arbeit.  Er  teilt  das  Wichtigste  Seiner  Anamnese  und  seine  letzten 
Erlebnisse  in  einem  Briefe  mit: 

„Ich  bin  seit  meiner  frühesten  Kindheit  von  außerordentlicher  Sinn- 
lichkeit gewesen.  Bei  uns  war  es  Sitte  oder  vielmehr  Unsitte,  daß  wir 
Kinder  in  der  Früh  zu  den  Eltern  ins  Bett  kamen.  Ich  natürlich  immer  bei 
der  Mutter,  während  sich  meine  Schwestern  mit  Vorliebe  beim  Vater  auf- 
hielten. Auch  wir  Geschwister  untereinander  besuchten  uns,  ich  habe  bei 
dieser  Gelegenheit  immer  versucht,  speziell  bei  meiner  Schwester  N.,  die  schon 
damals  Verheiratet  war,  mit  dem  Gesichte  unter  die  Bettdecke  zu  gelangen 
in  der  offenbaren  Absicht,  einen  Kunnilingus  auszuführen.  Warum  ich  dies 
damals  nur  bei  N.  tat,  ist  mir  nicht  genug  klar,  ich  glaube  deshalb,  weil  sie 
mir  entgegenkam  und  solche  Praktiken  doch  nur  gelingen  können,  wenn  die 
Partnerin  wenigstens  im  Unbewußten  darauf  eingeht.  Dies  geschah  im  Alter 
von  5  Jahren.  Übrigens  habe  ich  im  Alter  von  13  Jahren  bei  meiner 
Schwester  B.,  während  sie  schlief,  einen  Kunnilingus  ausgeführt.  Überhaupt 
spielten  diese  Phantasien  bei  mir  eine  große  Rolle  in  meinem  späteren  Leben, 
indem  sich  auf'  Grund  derselben  eine  starke  Schweißsekretion  an  den  Hand- 
flächen bildete,  die  aber  im  Momente,  wo  ich  mir  diese  Phantasien  bewußt 
machte,  zum  Teile  verschwand.  Außerordentlich  erregend  wirkten  auf  mich 
die  Hühnerschlachtungen  durch  die  Köchin.  Wenn  die  Köchin  das  Huhn 
zwischen  die  Beine  in'  die  Genitalgegend  nahm  und  es  so  schlachtete,  konnte 
sie  in  mir  einen  wahren  Orgasmus  hervorrufen.    Ich  habe  dies  nachzuahmen 


*)  D  r  e  i    Aufsätze    über    den    inneren    Konflikt.     Abhandlungen 
aus  dem  Gebiete  der  Sexualforschung,  Bd.  II,  H.  3,  Bonn,  Marcus  &  Weber,  1920. 


428 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


versucht,  indem  ich  Fliegen  fing,  sie  durch  Anpressen  an  die  Schamgegend 
oder  den  Penis  tötete  oder  im  Urin  ertränkte.  Mein  Verhältnis  zu  Freunden, 
Mitschülern  usw.  war  auch  äußerst  merkwürdig.  Den  intimsten  Verkehr 
pflog  ich  mit  Proletarierkindern,  während  ich  mit  Kindern  meiner  Gesell- 
schaftsklasse wohl  Freundschaften  schloß,  mich  aber  niemals  mit  ihnen  innig 
befreunden  konnte;  die  Proletarierkinder  gaben  sich  mir  eben  oft  zu  homo- 
sexuellen Akten  her,  was  ich  von  den  andern  nicht  zu  fordern  wagte.  Ein 
Greislersohn  ist  mir  in  Erinnerung,  mit  dem  ich  Versuche  eines  Coitus  in  os 
machte.  Ein  Traum  ist  mir  aus  meiner  Kinderzeit  in  Erinnerung  geblieben. 
Im  Hofe  unseres  Hauses  geht  eine  fürchterliche  Metzelei  vor  sieh,  an  der  sich 
meine  Schwester  W.  mit  einem  Mann  beteiligt.  Ich  werde  von  den  beiden 
verfolgt,  zu  Boden  geworfen  und  durch  einen  Schlag  gegen  die  Stirne  getötet. 
Ich  will  nur  noch  bemerken,  daß  ich  mir  das  Töten  in  der  Weise  bildlich 
vorstellte,  daß  der  Tötende  sich  dem  zu  Tötenden  rittlings  auf  den  Mund 
setzte.  So  haben  wenigstens  wir  Kameraden  uns  gegenseitig  „getötet". 
Gleichaltrige  Mädchen  waren  mir  ein  Greuel,  während  reifere  Mädchen  und 
Frauen  Gegenstand  meiner  größten,  leider  nur  platonischen  Verehrung 
waren.  In  der  Volksschule  verliebte  ich  mich  in  jede  strenge  Lehrerin, 
einmal  gleich  in  zwei.  Ich  wünschte  von  diesen  beiden  gestraft  zu  werden, 
und  zwar  auf  eine  ganz  eigene  Art.  Ich  sollte  von  den  beiden  ins  Bett  ge- 
nommen und  zu  „Tode"  gedrückt  werden1),  selbstverständlich  mit  den 
Genitalien.  Auch  die  Immictio  in  o's  durch  ein  Weib  war  in  meiner  Phantasie 
eine  bei  mir  sehr  beliebte  Tortur. 

■  Nun  kommt  die  Pubertät.  Ich  nehme  zum  Ausgangspunkt  meiner 
späteren  Neurose  (Menschenscheu)  die  Tatsache,  daß  ich  nur  mit  solchen 
Menschen  verkehren  konnte,  die  mir  sexuell  etwas  bieten  konnten,  und  zwar 
schon  als  Kind!  Diese  Verkehrtheit  machte  sich  in  der  Pubertät  noch  viel 
schärfer  bemerkbar.  Von  der  platonischen  Verehrung  von  reiferen  Frauen  kam 
ich  vorläufig  nicht  ab.  Junge  Mädels  waren  mir  weiterhin  entsetzlich,  bis  ich 
mich  in  eines  sterblich  verliebte.  Ich  folgte  der  Kleinen  durch  Jahr©  wie  ein 
Schatten,  war  aber  trotz  ihrer  Ermunterung  nicht  dazu  zu  bringen,  sie  anzu- 
sprechen. Als  ich  es  endlich  doch  tat,  da  war  mir  auf  einmal  der  Grund 
meines  sonderbaren  Benehmens  klar,  ich  brachte  nicht  ein  Wort  heraus,  der 
ganze  Zauber  war  mit  einem  Schlage  verflogen,  sie  erschien  mir  gewöhnlich 
und  minderwertig,  wiewohl  ich  bei  objektiver  Beurteilung  gerade  das  Gegen- 
teil einräumen  mußte.  Genug,  die  Neigung  kam  erst  in  ihrer  ganzen  Intensität 
zurück,  nachdem  ich  mich  von  ihrer  persönlichen  Bekanntschaft  ein  wenig 
erholt  hatte.  In  jener  Zeit  schloß  ich  Freundschaft  mit  einem  Kollegen 
Josef  Z.  Das  Bindeglied  unserer  Freundschaft  war  eben  jene  schwarze  Hexe. 
Er  liebte  sie  nämlich  ebenso  (man  sollte  meinen,  daß  dies  unser©  Freund- 
schaft zerreißen  sollte).  Wir  wurden  nicht  müde,  uns  gegenseitig  von  ihr 
vorzuschwärmen  und  die  Freundschaft  war  erst  zu  Ende,  als  ich  merkte, 
daß  er  unserm  Idol  untreu  wurde.  Dabei  erschien  mir  damals  nichts  häßlicher 
als  der  Anblick  eines  Pärchens.  Ich  hatte  di©  Empfindung,  daß 
der  Mann  etwas  von  seiner  Würde  und  Manneskraft 
durch     di©     Gesellschafteines     Weibes     verliert.     Mein 


*)  Es  handelt  sich  um  eine  „infantile  Sexualtheorie",  die  den  Koitus  sadistisch 
als  ein  Zerdrücken  auffaßt. 


Homosexualität  und  Sadismus.  429 

nächster  Freund  war  Herbert.  Mit  dem  hatte  ich  wenig  sexuelle  Berührungs- 
punkte, es  sei  denn,  daß  wir  gemeinsam  die  ersten  Bordellbesuche  machten  und 
erfolglos  den  diversen  Stubenfeen  den  Hof  machten.  Herbert  war  aber  von 
einer  derartigen  Lustigkeit,  daß  ich  ihn  allmählich  liebgewann,  besonders  aber, 
weil  er  mir  sklavisch  zugetan  war.  Aber  schon  damals  machte  meine  Neurose 
reißende  Portschritte,  ich  wurde  immer  menschenscheuer  und  immer  lächer- 
licher und  als  sich  schließlich  sein  Witz  gegen  mich  kehrte,  war  es  auch  mit 
dieser  Freundschaft  zu  Ende.  Nun  kam  Friedrich.  Er  hing  mit  schwärme- 
rischer Liebe  an  mir,  das  ging  so  drei  Jahre,  bis  er  heiratete,  und  nun  war 
ich  allein  in  der  Welt.  Meine  gute  Mutter,  an  der  ich  als  Kind  mit  schwär- 
merischer Liebe  hing,  konnte  mich  bloß  zu  trösten  versuchen,  aber  nicht 
trösten.  Als  Kind  war  ich  von  ihr  nicht  fortzubringen,  das  bekannte  Winter- 
lied  von  Mendelssohn  brachte  mich  vor  Jahren  unfehlbar  zum  Weinen,  weil 
mir  der  Gedanke  schrecklich  war,  daß  eine  Mutter  ihr  Kind  verlieren  sollte. 
Trotzdem  ich  also  Mutterliebe  in  reicherem  Ausmaße  hatte,  als  sie  gewöhnlich 
sonst  jemand  hat,  blieb  ein  ungestilltes  Sehnen  zurück.  Da  machte  ich  mit 
der  Psychanalyse  Bekanntschaft,  welche  mir  meine  Jugendperversitäten  in 
Erinnerung  brachte.  Ich  beschloß,  allen  meinen  mir  bewußten  Trieben  nachzu- 
gehen und  kam  zu  folgendem  Resultat: 

Mein  Verhältnis  zum  W'e  ibewird  sich  eigentlich 
nie  befriedigend  gestalten,  ich  kann  entweder  über 
oder  unter  ihr  sein,  Hammer  oder  Amboß,  ein  unbe- 
fangener Verkehr  ist  unmöglich,  weil  ich  schon  beim 
Anblick  eines  schönen'  Weibes  ganz  von  Sinnen  bin, 
am  liebsten  möchte  ich  ihr  zu  Füßen  liegen,  ihren 
Befehlen  blind  gehorchen.  Das  wollen  aber  die  Weiber  nicht, 
sie  wollen  unterworfen  werden,  s  i  e  wollen  den  Mann  fühlen.  Ein  Verkehr  auf 
dem  Niveau  der  Gleichheit  langweilt  mich,  so  bleibt  nur  der  Sadismus  meiner- 
seits, der  mir  offen  gestanden,  schon  manche  nette  Stunde  verschafft  hat. 
Wahre  Freundschaft  auf  dem  Niveau  der  gegenseitigen  Liebe  und  Achtung 
kann  ich  aber  nur  wie  in  der  Kindheit  mit  dem  Manne  schließen." 

Das  wäre  die  Krankengeschichte  eines  typischen  Bisexuellen,  der 
auf  dem  besten  Wege  ist,  ein  echter  Homosexueller  zu  werden. 
Registrieren  wir  erst  die  Tatsache  seiner  psychanalytischen  Be- 
handlungen, ehe  wir  zu  einer  Analyse  seiner  sexuellen  Einstellung 
gehen.  Er  kam  vollständig  arbeitsunfähig  zu  einem  Analytiker,  der 
ihm  von  Freud  empfohlen  wurde.  Damals  war  er  noch  impotent  beim 
Weibe  und  auf  Onanie  angewiesen.  In  der  ersten  Analyse  wurde  er 
darüber  belehrt,  daß  er  in  seine  Mutter  verliebt  sei.  Diese  Belehrung 
wirkte  nach  seiner  Angabe  auf  ihn  „befreiend".  (Er  teilte  sie  sogar 
seiner  Mutter  mit!)  Kurze  Zeit  nach  dieser  Erkenntnis  gelang  ihm 
der  erste  Koitus  mit  einer  Dirne.  Aber  die  Neurose  änderte  sich  nicht 
und  er  kam  kurze  Zeit  zu  mir  in  Behandlung.  Ich  konstatierte  einen 
enormen  Widerstand  gegen  die  Aufdeckung  der  wahren  Einstellung. 
Er  wendete  alle  möglichen  Kunstgriffe  an,  um  die  Stunden  auszufüllen 
und  nur  das  zu  verraten,  was  er  sagen  wollte.    Schilderungen  seines 


430  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

starken  Sadismus  und  seiner  masochistischen  Phantasien  waren  bald 
erledigt.  Dagegen  konnte  er  sich  nicht  zur  Klarheit  über  sein  Ver- 
hältnis zum  Vater  durcharbeiten.  Er  wurde  arbeitsfähig,  besuchte 
wieder  die  Vorlesungen  und  begann  sehr  fleißig  zu  studieren.  Ich  merkte 
die  Aussichtslosigkeit  meiner  Bemühungen,  brach  unter  irgend  einem 
Vorwande  die  Analyse  ab.  Sind  doch  Patienten,  wie  ich  den  Typus  als 
„psychanalytischen  Ahasver"1)  geschildert  habe,  die  undankbarsten 
Objekte  für  die  ärztliche  Kunst.  Sie  eilen  von  einem  Analytiker  zum 
andern,  er  solle  noch  die  übrig  gebliebenen  Reste  aufarbeiten,  und 
bleiben  fast  immer  so  krank  als  sie  waren.  Sie  fassen  auch  die  Analyse 
als  ein  Machtproblem  auf,  sie  wollen  über  ihren  Arzt  triumphieren, 
sie  wollen  stärker  sein  als  er  und  —  was  das  Wichtigste  ist  —  sie 
wollen  die  grundlegenden  Einstellungen  nicht  einsehen.  Sie  sehen  be- 
harrlich an  den  Grundlagen  ihrer  Neurose  vorbei,  wobei  ihnen  das 
psychanalytische  Scheinwissen  und  die  partielle  Selbsterkenntnis 
das  „Nichtsehenwollen"  erleichtern.  Sie  laufen  dann  von  Arzt  zu 
Arzt,  kritisieren  den  ersten  beim  zweiten,  den  zweiten  bei  dem  dritten, 
den  dritten  bei  dem  vierten.  Es  hängt  dies  auch  mit  ihrer  Vaterein- 
stellung zusammen,  auf  die  wir  in  diesem  Falle  noch  zurückkommen 
wollen. 

Wie  ich  vorausgesehen  habe,  so  kam  es.  Er  ging  wieder  zu  Freud, 
der  ihm  einen  dritten  Analytiker  empfahl,  nachdem  er  den  ersten  unter 
keiner  Bedingung  wieder  aufsuchen  wollte.  Nach  mehrmonatlicher  Be- 
handlung brach  er  die  Behandlung  ab  und  betrachtete  sich  als  gesund. 
Nach  einem  halben  Jahre  kam  er  wieder  zu  mir,  teilte  mir  mit,  er  sei 
seit  seiner  ausschließlich  homosexuellen  Betätigung  vollkommen 
gesund,  arbeitsfähig,  frisch  wie  ein  Fisch  im  Wasser.  Aber  es  scheine 
ihm  doch  noch  etwas  zu  fehlen.  Über  meinen  Wunsch  schreibt  er  mir 
den  eingangs  mitgeteilten  Krankheitsbericht  und  versichert,  daß  er 
nichts  gegen  dessen  Publikation  einzuwenden  habe.  Er  gibt  noch  einige 
mündliche  Ergänzungen,  auf  die  ich  später  zurückkommen  will. 

•Das  Charakteristische  seiner  Einstellung  zum  Weibe  betont  er 
in  seiner  Mitteilung.  Er  kann  nur  quälen  oder  gequält  werden,  er  kann 
nur  maßlos  hassen  oder  maßlos  lieben.  Vor  dieser  maßlosen  Liebe 
fürchtet  er  sich.  Es  drängt  ihn,  sich  dem  Weibe  zu  unterwerfen,  ihr  als 
Sklave  zu  dienen,  was  seinen  symbolischen  Ausdruck  in  dem  Verlangen 
nach  Kunnilingus  und  im  Erleiden  der  Mictio  in  os  findet.  Er  will  dem 
Weib  nur  ein  Mittel  ihrer  Lust,  nur  ein  Gefäß  ihrer  Ausscheidungen, 
nur  ein  williger  Sklave  ihrer  Launen  sein.  Die  Unterwerfung  geht  so 
weit,  daß  er  sich  vom  Weibe  töten  lassen  will.  In  der  sadistischen  Um- 


')  Zentralblatt  f.  Psychoanalyse,    IV.  Bd. 


Homosexualität  und  Sadismus.  43  ^ 

kehrung  heißt  diese  Einstellung:  Erst  durch  das  Töten  des  geschlecht- 
lichen Partners  zeigt  man  sich  als  sein  Herr,  besitzt  man  ihn  ganz. 

Sein  Gefühlsleben  schwankt  beim  Weibe  nur  zwischen  zwei  Ex- 
tremen: Haß  bis  zur  Vernichtung  und  Liebe  bis  zum  Vernichtetwerden. 
Daß  er  sich  schützen  muß,  um  nicht  dem  Hasse  anheimzufallen  und 
nicht  zum  Verbrecher  zu  werden,  ist  ja  klar.  Die  Erkenntnis,  daß  ihm 
der  Ljjbensinstinkt  und  der  Wille  zur  Macht  hindern,  sich  dem  Weibe 
bis  zur  Vernichtung  seines  Ich  zu  unterwerfen,  erfordert  schon  eine 
tiefere  Einsicht  in  das  Kräfteparallelogramm  solcher  Seelen.  Seine 
Einstellung  zum  Weib  ist  zu  affektativ,  als  daß  er  sie  auf  das  richtige 
Mittelmaß  korrigieren  könnte.  Wie  deutlich  spricht  das  Erlebnis  aus 
seiner  Jugend,  die  große  Liebe  zu  dem  jungen  Mädel,  dem  er  wie  ein 
Schatten  folgte!  Aber  er  wagte  es  nicht,  diese  Liebe  zu  realisieren. 
Er  fürchtete  sich  vor  sich  selbst  und  vor  der  Unterwerfung.  Das 
Mädchen  gab  ihm  zu  verstehen,  daß  er  keine  Niederlage  erleben  würde. 
Trotzdem  wendete  er  aus  Angst  den  Kunstgriff  vieler  Neurotiker  an. 
Er  entwertete  sie  sofort,  sie  verlor  allen  Reiz,  als  er  sie  kennen  lernte; 
sie  gewann  ihn  erst  wieder,  als  keine  Gefahr  bestand,  bei  ihr  die  Probe 
seiner  Persönlichkeit  zu  bestehen.  Er  hielt  sich  für  häßlich  und  glaubte 
nicht  daran,  daß  er  gefallen  könnte.  Er  haßte  die  Frauen  um  ihrer 
Schönheit  willen,  weil  er  selbst  gerne  eine  schöne  Frau  gewesen  wäre. 

Auch  diesen  Wunsch  wußte  er  sich  zu  verschleiern,  indem  er  den 
Wert  des  Männlichen  zu  überschätzen  anfing.  „Ich  hatte ;  die  Emp- 
findung" —  gesteht  er  — ,  „daß  ein  Mann  etwas  von  seiner  Würde  und 
Manneskraft  durch  die  Gesellschaft  eines  Weibes  verliert."  Man  bedenke, 
daß  dieser  Mann  seine  Mutter  sehr  hoch  stellt  und  sie  als  Menschen  und 
als  Weib  überschätzt.  Der  Normale  formt  das  Bild  des  Weibes  nach 
seiner  Mutter.  Er  aber  macht  seine  Mutter  zur  Ausnahme,  wie  so  viele 
Homosexuelle,  er  nimmt  sie  allein  von  der  Verachtung  aus,  mit  der 
er  das  ganze  weibliche  Geschlecht  bedenkt.  Jetzt  kann  er  dem  Weibe 
nur  als  Sadist  entgegentreten.  Denn  der  Haß  überwindet  das  Weib 
leichter  als  die  Liebe! 

Auf  die  Frage,  was  er  bei  den  Männern  sucht  und  weshalb  er  die 
Männer  den  Frauen  vorzieht,  antwortet  er:  „Ich  suche  beim  Manne 
den  Penis.  Ich  denke  hauptsächlich  nur  an  seinen  Penis.  Ich  finde  bei 
den  Männern  einen  Widerstand.  Ich  finde  das  Weib  häßlich  und  den 
Mann  schön.  Ich  suche  meistens  weibliche  Männer,  die  mir  das  Mädchen 
mit  dem  Penis  repräsentieren.  Nur  ein  einziges  Mal  gefiel 
mir  ein  älterer  Mann  mit  einem  sehr  energischen 
Gesicht.  Und  was  mich  beim  Manne  am  meisten  anzieht :  das 
Problem  des  Unterwerfens  kommt  nicht  in  Frage.  Der  Mann  unter- 
wirft sich  nicht,  nur  das  Weib!" 


432  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Er  aber  sucht  nicht  das  sich  unterwerfende  Weib.  Er  verlangt  nach 
einem  starken  Weibe,  das  ihn  beherrscht.  Er  gesteht,  daß  der  Verkehr 
mit  einer  Sadistin  ihn  befriedigen  würde.  Aber  wie  er  es  in  seiner  Mit- 
teilung gesteht:  Die  Weiber  wollen  nicht  überwinden,  sie  wollen  unter- 
worfen werden. 

Wir  merken,  daß  die  polare  Geschlechtsspannung  zwischen 
Mann  und  Weib  bei  ihm  aufs  äußerste  verstärkt  ist.  Er  wäre  imsfande, 
das  Weib  zu  töten,  das  ihn  unterwirft,  wie  Judith  den  Holofernes  tötete, 
weil  er  sie  sexuell  überwunden  hatte.  x) 

Die  Art  seiner  Onanie  (Das  Zerdrücken  einer  Fliege  am  Penis!) 
verrät  uns  seine  spezifische  Onaniephantasie.  Er  zerdrückt  ein  Weib, 
er  erdrosselt  sie,  während  er  es  koitiert.  Er  hatte  kurze  Zeit  nach  der 
ersten  Analyse  ein  Verhältnis  mit  einem  Stubenmädchen.  Er  schildert 
sie  mir:  Sie  ist  riesig  groß  und  so  stark,  daß  sie  mich  mit  einer  Hand 
überwältigen  könnte.  Bei  diesem  Mädchen  war  er  vor  sich  selbst  sicher. 
Nie  aber  würde  er  es  wagen,  ein  Verhältnis  mit  schwächlichen  Personen 
einzugehen,  obgleich  sie  ihn  sexuell  mehr  reizen.  Er  hat  allen  Grund, 
das  Weib  zu  fliehen,  weil  er  die  Umkehrung  seiner  übergroßen  Liebe  in 
einen  tödlichen  aggressiven  Haß  fürchtet.  Er  behauptet,  er  könnte 
jetzt  nur  mit  einer  in  jeder  Hinsicht  perversen  Frau  ein  Verhältnis 
eingehen.  Nur  eine  solche  könnte  ihn  reizen  und  ihm  etwas  bieten.  Die 
Probe  auf  diesen  Wunsch  hat  er  noch  nicht  gemacht.  Es  ist  so,  als  ob 
er  die  seelische  Beteiligung  des  Herzens  fürchten  würde  und  das  Weib 
nur  als  Werkzeug  seiner  Lust  gebrauchen  könnte.  Die  Perversität  der 
Frau  soll  ihn  seine  stärkste  Paraphilie  vergessen  lassen:  Das  Ver- 
langen, ein  Weib  zu  töten! 

Nun  versuchen  wir  aus  seiner  Familiengeschichte  die  Entstehung 
dieser  Einstellungen  zu  begründen. 

Er  stammt  aus  einer  Ehe,  in  der  beide  Eltern  ausgesprochene  In- 
dividualitäten waren.  Der  Vater  war  ein  „Selfmademan",  der  sich  aus 
eigener  Kraft  zum  mehrfachen  Millionär  emporgearbeitet  hatte.  Er  war 
ein  strenger,  energischer  Mensch,  der  immer  an  sein  Geschäft  dachte,  nie 
viel  Zeit  für  seine  Familie  übrig  hatte.  Mit  den  Kindern  war  er  zärtlich, 
so  lange  sie  klein  und  ein  niedliches  Spielzeug  waren.  Dann  änderte  er 
sein  Wesen  dem  Patienten  gegenüber  und  verlangte  von  ihm  strenge 
Pflichterfüllung  in  der  Schule.   Mit  den  Mädchen  blieb  er  auch  später 


*)  Vgl.  meine  Aueführungen  „Der  Kampf  der  Geschlechter"  in  meinem  Buche 
„Das  liebe  Ich"  (Verlag  Otto  Salle,  Berlin  1913).  Ich  behandle  jetzt  eine  schwerkranke 
Frau,  die  an  dem  gleichen  Problem  gescheitert  ist.  Sie  blieb  bei  allen  Männern  anästhe- 
tisch. Den  einzigen  Mann,  der  sie  ein  einziges  Mal,  als  er  mit  ihr  verkehrte,  empfinden 
ließ,  den  haßt  sie  und  könnte  ihn  umbringen. 


Homosexualität  uud  Sadismus.  453 

zärtlich,  so  daß  der  Knabe  unwillkürlich  die  Schwestern  beneiden  mußte. 
Dieses  Umbiegen  von  Zärtlichkeit  in  Strenge  kommt  bei  vielen  Eltern 
vor  und  ist  die  Ursache  hartnäckiger  Trotzeinstellung  besonders  gegen 
den  Vater.  Das  Kind  sehnt  sich  dann  ewig  nach  der  Jugend,  in  der  der 
Vater  so  lieb  und  zärtlich  war.  Vielleicht  mag  mit  diesem  Sehnen  nach 
der  Jugend  die  Erscheinung  zusammenhängen,  daß  so  viele  Homo- 
sexuelle einen  ausgesprochenen  infantilen  Typus  zeigen. a)  Vielleicht 
ist  der  milde  Greis,  den  so  viele  Homosexuelle  suchen,  nur  der  gütige 
Vater  der  Jugend,  der  noch  nicht  die  strengen  Strafen  kannte.  .  .  . 

Die  Mutter  unseres  Patienten  war  eine  auffallend  kluge  und  sehr 
schöne  Frau,  die  ihr  ganzes  Leben  mit  ihrem  Manne  um  die  Herrschaft 
im  Hause  kämpfte.  Ich  hatte  Gelegenheit,  einen  tiefen  Blick  in  diese 
Ehe  zu  werfen.  Ich  kenne  keine  zweite,  in  der  der  Kampf  um  die  Per- 
sönlichkeit so  auf  die  Spitze  getrieben  war.  Es  gab  immer  Szenen  im 
Hause,  die  sich  fast  bis  zu  Tätlichkeiten  steigerten.  Beide  Teile  hüteten 
sich,  dem  Partner  die  Liebe  zu  zeigen.  Das  hieße  ja  seine  Überlegenheit 
anerkennen.  Sie  taten  sich  an,  was  sie  nur  konnten.  Sie  schienen  kalt 
und  gleichgültig  gegeneinander  und  hatten  doch  immerwährend  Streit. 
Merkte  der  Mann,  daß  ein  anderer  der  schönen  Frau  den  Hof  machte, 
so  lächelte  er  überlegen  und  räumte  dem  Nebenbuhler  das  Feld,  als 
wollte  er  der  Frau  zeigen,  daß  er  nicht  eifersüchtig  wäre  und  ihr  jede 
Freiheit  gestatten  würde.  Auch  die  Frau  schien  die  Seitensprünge  ihres 
Gatten  nicht  sehen  zu  wollen.  Trotzdem  gingen  sie  bei  jeder  Gelegen- 
heit auf  einander  los.  Einmal  kam  es  so  weit,  daß  die  Frau  den  Mann 
mit  dem  Revolver  bedrohte  und  ein  „schreckliches  Ende"  machen  wollte. 

Zwischen  diesen  kämpfenden  Eltern  standen  die  Kinder  und 
nahmen  verschieden  Partei.  Der  Sohn  stellte  sich  ganz  auf  die  Seite 
der  Mutter.  Er  war  unglücklich,  daß  sie  sich  so  viel  gefallen  ließ,  und 
stachelte  ihren  Zorn  immer  wieder  auf,  verlangte,  sie  solle  den  Kampf 
siegreich  zu  Ende  kämpfen,  ja  sich  sogar  von  dem  Manne  für  immer 


*)  Havelock  Ellis  und  Moll  (Handbuch  der  Sexualwissenschaften,  Leipzig,  F.  C. 
W.  Vogel,  1912)  betonen  diesen  Umstand:  „Bei  beiden  Geschlechtern  wird  oft  eine 
bemerkenswerte  Jugendlichkeit  der  Erscheinung  bis  in  das  Alter  des  Erwachsenen  be- 
wahrt. Die  Liebe  zu  Grün,  das  normalerweise  eine  hauptsächlich  von  Kindern  und 
speziell  von  Mädchen  bevorzugte  Lieblingsfarbe  ist,  wird  oft  ■  beachtet.  Ein  gewisser 
Grad  von  schauspielerischem  Talent  ist  nicht  ungewöhnlich,  ebenso  wie  die  Neigung 
zu  Eitelkeit,  gelegentlich  auch  eine  weibliche  Liebe  zu  Schmuck  und  Juwelen.  Von 
vielen  dieser  psychischen  und  physischen  Charakteristika  kann  man  6agen,  daß  sie 
einen  gewissen  Grad  des  Infaptilismus  anzeigen,  und  dies  stimmt  mit  der  Annahme 
überein,  die  die  Homosexualität  auf  die  ursprüngliche  Bisexualität  zurückführt;  denn 
je  weiter  wir  in  der  Lebensgeschichte  des  Individuums  zurückgehen,  um  so  mehr  nähern 
wir  uns  dem  bisexuellen  Stadium." 

St  ekel,  Störungen  deH  Trieb-  und  Affektlebons.  n.  2.  Aufl.  28 


434  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

trennen.  Vom  Vater  wußte  er  außer  seiner  geschäftlichen  Tüchtigkeit 
nichts  Gutes  zu  sagen.  Er  sei  ein  gefühlloser  Mensch,  der  kein  Herz  habe, 
er  sei  nur  eine  Rechenmaschine  usw.  .  .  Bei  oberflächlicher  Betrachtung 
hatte  es  den  Anschein,  als  ob  er  die  Mutter  liebte  und  den  Vater  haßte. 
Allein  hinter  diesem  Haß  verbarg  sich  die  sorgfältig  gehütete  Liebe 
aus  den  Kinder  jähren.  Diese  Liebe  aber  wollte  er  nicht  einsehen.  Das 
war  immer  der  kritische  Punkt  seiner  Analysen.  Er  ergriff  stets  die 
Flucht,  wenn  die  Rede  auf  seine  Neigung  zum  Vater  kam,  oder  wenn 
seine  ursprüngliche  Einstellung  zu  ihm  aus  verschiedenen  Zeichen  klar 
wurde.  Diese  Erfahrung  kann  man  in  allen  Analysen  machen.  Nichts 
ist  so  schwierig,  als  bei  männlichen  Homosexuellen  die  Auflösung  des 
Vaterhasses  und  seine  Rückführung  in  die  infantile  Liebe.1) 

In  seinen  homosexuellen  Szenen  spielt  er  den  Vater,  der  mit 
seinem  Kinde  zärtlich  ist.  Wir  verstehen  auch,  warum  ihn  der  ältere 
Mann  mit  dem  energischen  Gesichte  so  plötzlich  anziehen  könnte.  Er 
war  eben  ein  Bild  eines  strengen  Vaters. 

Da  er  in  seiner  Jugend  Zeuge  eines  heftigen  Kampfes  zwischen 
Mann  und  Frau  war,  dieser  Kampf  auch  bis  in  sein  reifes  Alter  hinein- 
spielte, mußte  er  das  Liebesproblem  als  Machtproblem  auffassen.  Er 
hatte  immer  nur  die  eine  Frage:  Wer  ist  der  Stärkere?  Dieser  Fall 
zeigt  uns  mit  seltener  Klarheit  die  Mechanismen,  auf  die  Alfred  Adler 
so  großes  Gewicht  legt.  Aber  er  zeigt  uns  auch  eine  Inzestliebe  zu 
seiner  Schwester,  die  ihm  vollkommen  bewußt  ist.  Er  sucht  in  den 
jungen  Männern  Ebenbilder  seiner  Schwester.  Er  zeigt  uns  auch  eine 
Verankerung  an  die  Mutter,  mit  der  er  in  seltener  Übereinstimmung 
lebt.  Trotzdem  hat  er  die  Liebkosungen  seines  Vaters  nicht  vergessen. 
In  dem  Wunsche,  zu  Tode  gedrückt  zu  werden,  in  allen  seinen  maso- 
chistischen  Phantasien  ist  das  Bild  des  strengen  Vaters  in  einer  ver- 
steckten Form  wie  bei  einem  Vexierbilde  angebracht.  Herrschen  und 
Dienen  —  um  diese  beiden  Begriffe  dreht  sich  sein  Denken.  Er  verkehrt 
nur  mit  Menschen,  denen  er  sich  überlegen  fühlte.  Er  wählte  schon  als 
Knabe  Proletarierkinder,  denen  er  imponieren  konnte.  Er  verließ  einen 
Freund,  weil  er  über  ihn  Witze  machte.  Er  war  ein  häßliches  Kind. 
Das  führte  ihn  auf  die  Bahn  des  Hassenden  und  Beneidenden.  Er  haßte 
alle  Frauen,  weil  sie  ihm  Rivalinnen  bei  seinem  Vater  waren.  Er  hatte 
die  Vorstellung,  er  würde  mehr  geliebt  werden,  wenn  er  schöner  wäre. 

Er  war  ein  Sklave  seiner  Familie,  von  der  er  nie  mehr  loskommen 
sollte.  Er  zog  in  eine  fremde  Stadt,  um  sich  von  der  Familie  zu  befreien. 
Dort  erkrankte  er  aus  Sehnsucht.  Seine  Mutter  mußte  zu  ihm  kommen. 


*)  In    ähnlicher    Trotzeinstellung    stehen    viele    —    nicht    alle    —    Urlinden    a* 
ihrer  Mutter. 


Homosexualität  und  Sadismus. 


435 


Er  war  stolz,  wenn  er  mit  ihr  spazieren  ging  und  man  sie  für  ein  Liebes- 
paar hielt.  Aber  er  sehnte  sich  heimlich  eigentlich  nach  dem  Vater  und 
konnte  es  ihm  nie  verzeihen,  daß  er  damals  seine  Badereise  nicht  unter- 
brochen und  ihn  aufgesucht  hatte. 

Er  kämpft  eigentlich  den  Kampf  seiner  Eltern  weiter.  In  seinem 
Innern  befehden  sich  Mann  und  Weib.  Vielleicht  auch  das  Kind,  das 
mehr  den  Zuschauer  bildet  und  auf  die  Frage  „Wen  hast  Du  lieber  ?"  die 
stereotype  Antwort  „Beide"  geben  würde.  Jetzt  scheint  das  Weib  in 
ihm  gesiegt  zu  haben.  Er  glaubt  den  Mann  in  sich  unterworfen  zu 
haben.  Ich  halte  seine  Homosexualität  für  eine  Übergangserscheinung. 
Erst  die  Befreiung  von  seiner  Familie  wird  ihm  die  Gesundheit  bringen. 

Man  sieht  es  so  häufig,  daß  die  Neurotiker  erst  nach  dem  Tode 
eines  ihrer  Eltern  oder  beider  genesen.  Aber  in  manchen  Fällen  bleiben 
die  Eltern  nach  dem  Tode  noch  immer  die  Herrscher  der  kindlichen  Seele 
und  ihr  Imperium  endet  erst  mit  dem  Tode  ihres  Kindes,  das  sich  an 
dieser  Liebe  zu  Tode  liebt 


28* 


Die  Homosexualität. 

XIII. 
Analyse  eines  Homosexuellen. 

_  Was  ist  das  Siegel  der  erreichten 
Freiheit?  —  Sich  nicht  mehr  vor  sich 
selber  schämen.  Nietzsche. 

Eine  vollständige  Analyse  eines  Homosexuellen  gäbe  ein  ganzes 
Buch  für  sich.  Ich  will  diese  Arbeit  nicht  schließen,  ohne  ein  Bruchstück 
einer  solchen  Analyse  vorzuführen.  Die  Behandlung  dauerte  sechs 
Wochen,  dann  wurde  sie  durch  den  Krieg  unterbrochen.  Auch  diese 
Analyse  drang  eigentlich  nur  bis  zum  Vaterkomplex  vor.  Aber  sie  bietet 
uns  reiche  Erkenntnisse  und  eine  Zusammenfassung  aller  Beziehungen! 
die  wir  schon  an  kleineren  Beispielen  besprochen  haben. 

Fall  Nr.  87.  Herr  Sigma,  ein  Student  aus  Dänemark,  im  Alter  von 
£6  Jahren,  konsultiert,  mich  wegen  verschiedener  seelischer  Störungen  Er 
ist  seit  einigen  Monaten  sehr  deprimiert,  immer  müde,  meist  schlaflos  und 
unlanig  zu  einer  konzentrierten  Arbeit.  Er  soUte  jetzt  seine  letzte  Prüfung 
machen  und  ist  nicht  imstande,  zu  studieren.  Er  klagt  über  Mangel  jeder 
Lebensfreude.  Er  müsse  auch  gestehen,  daß  ihm  hie  und  da  Selbstmordideen 
Kommen,  die  er  aber  seiner  Mutter  zuliebe  bekämpfe.  Er  habe  eine  fürchter- 
liche Angst,  er  könnte  einem  solchen  Impulse  erliegen. 

Sigma  ist  bewußter  Homosexueller.  Er  betont:  Erhabenieei» 
Interesse  für  das  weibliche  Geschlecht  gezeigt  und 
«ich  schon  als  Knabe  nur  in  Knaben  verliebt  Er  ist 
der  einzige .Sohn  einer  sehr  fleißigen,  braven,  wohlhabenden  Mutter,  die  nur 

Zr^Jfl  w  J^1-  *tarb  VOr  einigen  Jahren-  Er  lebt  vollkommen 
zurückgezogen,  hat  keine  Freunde,  da  ihn  die  Mutter  daran  hindert.  Einmal 
hatte  er  -  er  war  17  Jahre  -  einen  guten  Freund,  den  er  sehr  liebte,  da 
mengte  sich  die  Mutter  ein  und  verbot  ihm  den  Umgang.  Nun  ist  er  voll- 
kommen isoliert.  Die  freie  Zeit  widmet  er  der  Mutter,  wenn  er  nicht  im 
Theater  oder  in  einem  Konzerte  ist.  Er  verkehrt  auch  in  keiner  Familie, 
«a  ihn  die  Eifersucht  der  Mutter  daran  hindert. 

Er  beginnt  (spontan)  die  Schilderung  seines  Lebens  mit  seiner  erste« 
Lrinnerung : 


Analyse  eines  Homosexuellen.  437 

Ich  war  2  Jahre  alt,  da  spielten  wir  mehrere  Kinder 
im  Freien.  Da  kam  eine  Dame  auf  uns  zu  und  warf 
einen  schönen  Ball  ins  Gras.  Sie  sagte:  Wer  den  Ball 
erhascht,  dem  soll  er  gehören.  Ich  war  der  nächste 
daran  und  traute  mich  nicht,  in  den  feinen  Rasen 
zu  treten.  So  kam  es,  daß  ein  anderer  den  Ball  er- 
haschte... 

Diese  Erinnerung  scheint  für  Sigma  charakteristisch  zu  sein.  Sie  ent- 
hält wie  alle  „ersten  Erscheinungen"  die  Determinante  des  ganzen  Lebens.1) 
Sie  zeigt  uns  einen  Menschen,  der  sich  nicht  traut,  dessen  Aktivität  aus 
Rücksicht  auf  andere  gehemmt  ist.  Er  erklärt,  daß  er  aus  Rücksicht  für  die 
Mutter  auf  alle  Freuden  des  Lebens  verzichtet  habe.  Immer  ist  er  klein- 
mütig, hat  das  Gefühl  seiner  Minderwertigkeit  und  traut  sich  keine  größere 
Leistung  zu.2) 

Soine  Sexualität  erwachte  sehr  früh.  Er  spielte  immer  gerne  mit 
Mädchen  und  fühlte  sich  immer  als  Mädchen.  Er  zog  gerne  Hüte  und  Kleider 
seiner  Mutter  an.  Seine  Mutter  war  die  Herrin  im  Hause,  die  Erhaltcrm  und 
Ernährerin.  Der  Vater  spielte  immer  eine  untergeordnete  Rolle.  Wir  sehen 
wieder  einmal  die  Beobachtung  bestätigt,  daß  sich  das  Kind  mit  dem 
Stärkeren  von  seinen  Eltern  identifiziert.  So  mußte  auch  bei  Sigma  die 
Identifizierung  mit  der  Mutter  früh  einsetzen  .  .  . 

Schon  in  der  Volksschule,  mit  sieben  Jahren,  verliebte  er  sich  in  seinen 
Lehrer.  So  kam  es,  daß  er  einer  der  besten  Schüler  wurde.  Sein  Stolz  war 
es,  daß  er  immer  von  diesem  Lehrer  gelobt  wurde.  Auch  Mitschüler  liebte  er, 
war  aber  zu  scheu,  es  ihnen  zu  gestehen.  Mit  12  Jahren  begann  er  zu  ona- 
nieren, wobei  er  sich  immer  einen  nackten  Mann  vorstellte.  Er  war  bisher 
sehr  fromm  gewesen  und  zeichnete  sich  bei  der  Beichte  durch  die  längsten 
Sündenregister  und  seine  tiefe  Zerknirschung  aus.  Mit  zwölf  Jahren  wurde  er 
frei  und  entwickelte  sich  langsam  zu  einem  Atheisten.  Der  Kampf  gegen  die 
Onanie  setzte  mit  14  Jahren  ein,  als  er  hörte,  die  Onanie  wäre  sehr  schädlich. 
Er  onanierte  dann  seltener.  Nach  Pollutionen  am  nächsten  Tage  großes 
Müdigkeitsgefühl.    Er  faßt  sein  jetziges  Leiden  als  Folge  der  Onanie  auf. 

Im  Gymnasium  war  er  schon  zerstreut  und  machte  mit  Ach  und  Krach 
seine  Matura.  Er  war  immer  scheu,  mied  die  Kollegen,  welche  zynische  Ge- 
spräche über  Frauen  führten,  so  daß  er  „Fräulein  Sigma"  genannt  wurde. 
Für  einige  Jahre  kam  er  aus  dem  Hause.   Sie  lebten  früher  am  Lande  und  er 


*)  Dr.  Paul  Schrecker,  Die  individualpsychologische  Bedeutung  der  Kindheits- 
erinnorungen.  Zentralbl.  f.  Psychoanalyse,  Bd.  IV. 

=)  Der  Ball  ist  ein  Symbol  der  Liebe.  Wunderschön  drückt  dieses  Symbol  das 
Gedicht  von  Björres-Münchhausen  „Der  goldene  Ball"  aus:  „Was  auch  an  Liebe  mir 
vom  Vater  ward,  —  Ich  habs  ihm  nicht  vergolten,  denn  ich  habe  —  Als  Kind  noch 
nicht  gekannt  den  Wert  der  Gabe  —  Und  ward  als  Mann  dem  Manne  gleich  und 
hart.  —  —  Nun  wächst  ein  Sohn  mir  auf,  so  heiß  geliebt  —  Wie  keiner,  dran  ein 
Vaterherz  gehangen,   —  Und  ich  vergelte,  was  ich  einst  empfangen,  —  An  dem,  der 

mire  nicht  gab  noch  wiedergibt. Denn  wenn  er  Mann  ist  und  wie  Männer  denkt,  — 

Wird  er  wie  ich  die  eignen  Wege  gehen,  —  Sehnsüchtig  werde  ich,  doch  neidlos  sehen,  — 
Wenn  er,  was  mir  gebührt,  dem  Enkel  schenkt.  —  —  Weithin  im  Saal  der  Zeiten 
sieht  mein  Blick  —  Dem  Spiel  des  Lebens  zu,  gelassen  und  heiter,  —  Den  goldnen  Ball 
wirft  jeder  lächelnd  weiter,  —  Und  keiner  gab  den  goldnen  Ball  zurück!" 


438  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

mußte  nach  Kopenhagen.  Er  lebte  damals  bei  einigen  älteren  Schwestern,  mit 
denen  er  'sich  sehr  gut  verstand.  Er  musizierte  mit  ihnen,  machte  mit  ihnen 
gemeinsame  Spaziergänge,  hatte  viel  Anregung . . .  alles  jenseits  der  Erotik. 
Sein  ganzes  erotisches  Fühlen  galt  nur  Männern  und 
Jünglingen.  In  seinen  endlosen  Phantasien  dachte  er  in  seinem  ganzen 
Lehen  an  keine  Frau !  Er  träumt  nur  von  Männern  und  denkt  nur  an  Männer. 
Damit  schließt  die  erste  Sitzung. 

Sigma  betont  wieder  eine  einseitige  Einstellung  zu  Männern.  Trotzdem 
müsse  or  zu  seinen  gestrigen  Angaben  eine  kleine  Korrektur  machen.  Ich 
wiederhole,  daß  dies  ein  typisches  Erlebnis  in  der  Anamnese  von  Homosexuellen 
ist.  Sie  haben  alle  heterosexuellen  Erlebnisse  gänzlich  aus  ihrem  Gedächtnisse 
getilgt.  Heute  aber  trägt  Sigma  nach,  daß  hie  und  da  erotische  Träume  mit 
Frauen  vorgekommen  seien.  Vier-  oder  fünfmal.  Öfter  nicht.  Sie  führten  zu 
Pollutionen  und  seien  sehr  unbestimmten  Inhaltes  gewesen.  Auch  war  Sigma 
vorübergehend  mit  16  Jahren  in  seine  Kusine  verliebt.  Sofort  schwächt  er  seine 
Aussage  ab:  Das  sei  nur  ein  Sport  gewesen,  eine  Pose,  weil  ein  Vetter  in 
die  betreffende  Kusine  verliebt  war.  Er  hielt  es  für  seine  Pflicht,  sich  auch  in 
diese  Kusine  zu  verlieben.  Das  sei  aber  sehr  schnell  vorüber  gewesen.  Er 
müsse  jedoch  beichten,  daß  er  doch  Phantasien  mit  Frauen  gehabt  habe. 
Das  kam  auch  vor.    Aber  immer  nur  in  Verbindung  mit  Männern. 

Er  ist  fast  nur  in  Frauengesellschaft  aufgewachsen.  War  die  Mutter 
aus  dem  Hause,  so  gab  es  immer  eine  Tante,  die  ihn  beaufsichtigte.  Er  wurde 
noch  als  großer  Junge  in  die  Schule  geführt  und  aus  der  Schule  geholt.  (Die 
typische  Erziehung  zur  Unselbständigkeit!)  DicMutter  wollte  ihmFreundo  auf- 
drängen. Sic  fand  immer  irgendwelche  Knaben,  von  denen  sie  wünschte,  sie 
mögen  seine  guten  Freunde  werden.  Er  aber  fand  meistens  an  diesen  Knaben 
keinen  Gefallen.  Hatte  er  aber  einen  wahren  Freund  gefunden,  so  legte  die 
Mutter  ihr  Veto  ein,  wenn  die  Freundschaft  zu  leidenschaftlich  wurde.  Und 
er  war  immer  im  Begriffe,  sich  in  seine  Freunde  zu  verlieben.  Er  machte 
schon  früh  Gedichte  und  himmelte  seino  Freunde  an.  Auch  heute  sind  fast 
alle  seine  Verse  dem  Eros  Uranos  geweiht. 

Dann  denkt  er  eine  Weile  nach.  „Ich  identifizierte  mich  immer  mit  den 
Frauengestalten,  die  meist  sehr  starke,  sehr -energische  Frauen  waren.  Für 
solche  große  energische  Frauen  mit  männlichem  Einschlag  habe  ich  mich  er- 
wärmen können.  Wenn  mich  je  eine  Frau  oder  ein  Mädchen  interessiert  und 
in  meinen  Phantasien  eine  Rolle  gespielt  hat,  so  waren  sie  von  diesem  Typus." 
Dann  fällt  ihm  noch  eine  heterosexuelle  Episode  ein.  Er  schwärmte  ein  wenig 
für  die  Tochter  seiner  Zimmerfrau,  ging  mit  ihr  sehr  gerne  spazieren,  mu- 
sizierte gerne  mit  ihr  und  war  ein  wenig  unglücklich,  als  sie  dann  heiratete  .  .  . 

Zur  Erkenntnis  seiner  Homosexualität  kam  er  durch  den  Eulenburg- 
prozeß. Da  wurde  er  sehr  unglücklich,  denn  er  merkte  erst,  daß  er  anders 
war  als  die  anderen.  Er  galt  in  der  Mittelschule  immer  als  ein  Sonderling 
und  separierte  sich  von  den  Mitschülern.  Seit  dem  Prozesse  aber  war  es  ihm 
klar,  daß  sein  Ende  Wahnsinn  oder  Zuchthaus  sein  müsse.  Er  hatte  furchtbare 
Tage.  Er  war  in  einen  guten  Freund  verliebt  und  als  dieser  ihn  um  den 
Grund  seiner  Melancholie  fragte,  da  weinte  er  im  namenlosen  Schmerze  und 
schüttete  sein  Herz  in  vagen  Umschreibungen  aus.  Er  fühle  sich  anders  als 
die  anderen,  vereinsamt  und  abgeschlossen,  verkannt  und  unfähig.  Der  Freund 


Analyse  eines  Homosexuellen.  439 

meinte,  er  sollte  sich  mehr  künstlerisch  betätigen.   Er  faßte  sein  Leiden  als 
unbefriedigten  Ehrgeiz  auf. 

Seine  typischen  Träume  handeln  von  Verfolgung  durch  Männer  und  von 
Einbruch.  Ein  Traum  machte  auf  ihn  einen  großen  Eindruck:  Er  wurde  im 
Bette  von  einer  großen  Schar  von  Wanzen  verfolgt  und  wurde  schließlich 
'  selbst  eine  Wanze.1)  Eine  Zeitlang  hatte  er  wie  alle  Homosexuellen  eine  Angst 
vor  Infektionen  und  besonders  vor  der  Tuberkulose.  Er  war  fest  überzeugt, 
er  werde  jung  an  Tuberkulose  sterben. 

Wir  kennen  schon  die  Tuberkulose  (gerade  wie  die  Syphilis)  als  Re- 
präsentanten des  Bösen,  des  Schmutzigen,  des  Inzestes  und  der  Homosexualität. 
Doch  davon  hören  wir  vorläufig  gar  nichts.  Wir  wollen  Sigma  nicht  beein- 
flussen und  den  Ablauf  seiner  Assoziationen  nicht  stören.  Sigma  zeigt  wenig 
Lust  zur  Analyse.  Er  ist  mißtrauisch  und  zurückhaltend.  Er  hat  wenig  Zeit 
und  scheint  glücklich  zu  sein,  wenn  die  Sitzung  vorüber  ist. 

Die  nächste  Sitzung  wird  folgendermaßen  eröffnet:  Ich  bin  Sie  bitten 
gekommen,  mir  für  morgen  eine  Stunde  zu  bestimmen.  Ich  möchte  heute  aus- 
setzen. Ich  muß  mich  ein  wenig  ausruhen  und  meine  Kräfte  sammeln.  Die 
gestrige  Stunde  hat  mich  so  aufgeregt  .  .  . 

Nun  habe  ich  die  ersten  zwei  Stunden  fast  gar  kein  Wort  gesprochen 
und  Sigma  ruhig  reden  lassen.  Aber  der  Fluchtreflex,  der  alle  Homosexuellen 
beherrscht,  weil  sie  sich  vor  der  Wahrheit  fürchten,  äußert  schon  seine 
Wirkung. 

„Was  hat  Sie  denn  gestern  so  aufgeregt?" 

„Daß  Herr  Doktor  so  ruhig  waren.  Es  war  eine  unheimliche  Ruhe  .  .  ." 

„Wäre  es  Ihnen  lieber  gewesen,  wenn  ich  aufgeregt  gewesen  wäre?" 

„Nein  ...  ich  weiß  3a,  daß  der  Arzt  ruhig  sein  muß.  Aber  i  c  h  habe 
eben  diese  Ruhe  nicht.  Was  muß  ich  für  einen  jämmerlichen  Eindruck  auf  Sie 
gemacht  haben!" 

(Hinc  illae  lacrimae!  Dem  Kranken  geht  es  um  den  Eindruck  auf  den 
Arzt.  Er  will  wissen,  ob  der  Arzt  mit  ihm  Mitleid  hat,  ob  er  erschüttert 
Öder  gleichgültig  ist.  Er  fürchtet  lächerlich  zu  erscheinen.  Der  Arzt  wird  die 
Hauptperson,  um  die  sich  in  diesen  Tagen  das  Spiel  des  Lebens  dreht.) 

„Das  ist  doch  Nebensache.  Sie  wollen  ja  gesund  werden.  Das  hat  mit 
dem  Persönlichen  nichts  zu  tun." 

„Freilich  ...  das  sage  ich  mir  auch.  Herr  Doktor  sind  ja  meine  letzte 
Rettung.  Und  doch  verliere  ich  schon  die  Geduld  und  möchte  davonlaufen. 
Es  sind  keine  zwei  Wochen  her,  da  ging  ich  mir  einen  Revolver  kaufen  und 
wollte  mich  erschießen.  Es  scheiterte  nur  an  meiner  Ungeschicklichkeit.  Ich 
konnte  mir  keinen  Revolver  verschaffen.  Die  Verkäuferin  verlangte  eine  An- 
kaufsbewilligung, die  ich  nicht  hatte.  Meine  Stimme  muß  auch  gezittert  haben. 
Ich  war  so  aufgeregt  .  .  .  Hätte  ich  den  Revolver  erhalten,  ich  säße  heute 

nicht  bei  Ihnen. 

„Warum  wollten  Sie  denn  sterben?" 


!)  Vergleiche  die  Novelle  von  Kafka  „Die  Verwandlung",  Verlag  von  Kurt 
Wolff.  Sie  handelt  von  der  Verwandlung  eines  Menschen  in  eine  Wanze.  Die  Bedeutung 
dieses  Traumes  ist  wohl  eine  sadistische.  (Die  Wanzen  saugen  Blut.)  Diese  Deutung 
wird  dem  Patienten  nicht  mitgeteilt,  um  den  Ablauf  der  Assoziation  nicht  zu  beeinflussen 


440 


Zweiter  Teil    Die  Homosexualität. 


„Ein  Leben  voller  Kummer!  Keine  Freude!  Keine  Aussichten  auf  Bes- 
serung.  Die  ewige  Depression!" 

„Und  dachten  Sie  nicht  an  den  Schmerz,  den  Sie  der  Mutter  zufügen 
würden?  Der  Mutter,  die  ihr  Leben  für  Sie  geopfert  hat!" 

„Nein,  das  war  mir  ganz  gleich.  Das  wäre  nur  eine  gerechte  Strafe  für 
sie  gewesen,  weil  sie  mein  Leben  zerstört  hat.  Sie  wäre  wahrscheinlich  dann 
auch  zugrunde  gegangen  .  .  .  Nur  um  meinen  Freund  hat  es  mir  leid  getan. 
Er  hat  so  viel  zu  sorgen  und  zu  denken.  Es  hätte  ihn  gestört.  Er  ist  Schrift- 
steller und  arbeitet  jetzt  an  einem  neuen  Roman.  Er  wäre  sicher  aus  der 
Fassung  gekommen  und  in  seinem  Schaffen  gestört  worden." 

„Was  hat  Ihnen  denn  die  Mutter  zu  leide  getan,  daß  Sie  sie  so  grausam 
bestrafen  wollen?" 

Nun  ergießt  sich  der  lange  zurückgehaltene  Groll  gegen  die  Mutter,  die 
ihn  von  seinem  liebsten  Freunde  Ernst  getrennt  hätte. 

„Die  Mutter  hat  mein  Leben  vernichtet"    —    fährt  er  fort    —    „sie 
trennte  mich  von  meinem  einzigen  und  besten  Freunde.   Sie  ahnen  gar  nicht 
was  ich  gelitten  habe.  Täglich  kam  er  zu  uns  ins  Haus.  Mich  begleitete  er 
am  Klavier,  so  daß  wir  unvergeßliche  Abende  genossen  haben.    Der  Vater 
war  einst  ein  guter  Sänger.  Da  nie  ein  Begleiter  da  war,  so  vernachlässigte 
er  die  schone  Kunst.  Nun  wurden  wieder  die  Lieder  hervorgeholt.  Jeder  Abend 
war  ein  Fest.    Da  erkrankte  ich  an  einem  Lungenspitzenkatarrh  und  mußte 
nach  Ägypten.   In  meiner  Abwesenheit  kam  es  zur  Katastrophe.  Meine  Mutter 
fand,  daß  sich  mein  Freund  zwischen  die  Eltern  stelle  und  die  Liebe  des 
Sohnes  raube.    Sie  war  eifersüchtig,  weil  ich  öfters  an  Ernst  schrieb  und  er 
längere  Briefe  erhielt   als  die  Eltern.   Sie  zwang  meinen  Vater,    Ernst  einen 
unhöflichen  Brief  zu  schreiben  und  ihm  zu  verbieten,  ins  Haus  zu  kommen 
und  mit  mir  zu  korrespondieren.   Ich  erhielt  von  Ernst,  dem  ich  dreimal  der 
Woche  ausführlieh  schrieb,  während  er  nur  einmal  antwortete,  ein  ironisches 
Schreiben,  ich  möge  ihm  den  Erlaubnisschein  der  Eltern  beilegen,  wenn  ich 
ihm  einen  Brief  schreibe.    Dann  werde  er  mir  antworten.  Ich  verstand  nicht, 
was  das  bedeuten  sollte,  bis  er  mir  den  Brief  meines  Vaters  einschickte.    Ich 
war  aus  allen  Himmeln  gestürzt.    Ich  kam  bald  wieder  nach  Kopenhagen, 
wagte  aber  nicht,  offen  gegen  meine  Mutter  aufzutreten.    Sie  bekam  Herz- 
krämpfe, als  ich  ihr  bittere  Vorwürfe  machte,  und  ich  wurde  von  der  ganzen 
Verwandtschaft  als  ihr  Mörder  bezeichnet.   Heimlich  schlich  ich  mich  zu  Ernst 
und  traf  ihn  verstohlen  auf  der  Straße.  Aber  meine  Mutter  spionierte  mir  nach. 
Sie  folgte  mir  heimlich  auf  meinen  Gängen  und  wenn  sie  konstatierte,  daß  ich 
zu  Ernst  ging,  dann  gab  es  furchtbare  Szenen,  die  ich  gar  nicht  schildern 
kann    So  wurde  ich  verbittert  und  der  ganz  harmlose  Verkehr  bekam  einen 
krankhaften  Anstrich.  So  werden  Sie  verstehen,  daß  ich  meiner  Mutter  grollen 
muß  .  .  . 

„Haben  Sie  nicht  versucht,  offen  dagegen  zu  rebellieren?" 
„Dazu  war  ich  zu  schwach.  Mein  Vater  flehte  mich  an,  ich  solle  das 
schone  Familienglück  nicht  zerstören.  Es  war  ein  furchtbarer  Zwiespalt,  aus 
dem  ich  mir  keinen  Ausweg  wußte.  Das  war,  als  ich  19  Jahre  alt  war!  Jetzt 
habe  ich  meiner  Mutter  mitgeteilt,  daß  ich  Ernst  hie  und  da  treffen  muß.  Sie 
wehrt  sich  dagegen  und  will  mir  andere  Freunde  aufoktroyieren.  Man  bringt 
mich  mit  Mädchen  zusammen,  für  die  ich  mich  interessieren  soll.  Aber  schon 
der  Umstand,  daß  sie  mir  sozusagen  unter  Patronanz  der  Mutter  zugeführt 
werden,  macht  sie  mir  alle  unleidlich.  Dabei  weiß  ich,  daß  die  Mutter  ebenso 


Analyse  eines  Homosexuellen.  ji  _m 

eifersüchtig  wäre,  wenn  ich  ein  Mädchen  wirklich  lieben  würde.  Sie  duldet 
keine  andere  Liebe  neben  sich.  Ich  bin  zu  zerbrochen,  um  mich  zu  trennen 
und  selbständig  zu  machen.  So  bleibe  ich  das  ewige  Muttersöhnchen.  Doch 
ich  kann  nicht  so  weiter  leben.  Ich  bin  diese  Qual  satt  und  möchte  ein  Ende 
machen  .  .  ." 

„Es  geht  mir  viel  besser.  Ich  habe  gestern  den  ersten  schönen  Abend 
nach  langer  Zeit  gehabt.  Jetzt  beginnt  mir  Wien  zu  gefallen.  Ich  war  draußen 
im  Wicnerwald  und  habe  mich  an  den  ersten  Veilchen  erfreut.  Ich  habe  wieder 
Freude  an  der  Natur  gehabt.   Es  war  heuer  mein  erster  Ausflug." 

„Machen  Sie  denn  sonst  keine  Ausflüge?" 

„Ja,  jeden  Sonntag.  Immer  in  Begleitung  der  Mutter.  Wir  fahren  schon 
des  Morgens  hinaus,  essen  dann  im  Freien  und  verbringen  den  ganzen  Tag 
zusammen." 

„Mit  ihrem  Freunde  machen  Sie  wohl  nie  einen  Ausflug?" 
„Leider  nicht.  Oder  doch.  Ein  einziges  Mal.  Das  wollte  ich  Ihnen  ohne- 
dies heute,  erzählen.  Er  forderte  mich  auf,  mit  mehreren  seiner  Kollegen  ein« 
größere  Partie  auf  eine  ferne  Insel  zu  machen.  Ich  war  gleich  begeistert, 
weil  ich  hoffte,  daß  wir  bei  dieser  Gelegenheit  intim  werden  könnten.  Leider 
hatte  ich  mich  getäuscht.  Wir  waren  den  ganzen  Tag  sehr  lustig.  Ich  dachte 
immer  nur  an  die  Nacht.  Ich  hoffte,  wir  werden  Zimmer  mit  zwei  Betten  er- 
halten und  das  andere  werde  sich  dann  von  selbst  ergeben.  Leider  waren  in 
dem  Gasthofe  die  Zimmer  alle  vergeben  und  wir  mußten  mit  einem  Massen- 
quartiere vorlieb  nehmen.  Auch  da  war  ich  nicht  vom  Glück  begünstigt.  Mein 
Vetter  kam  neben  einem  anderen  Kollegen  zu  liegen.  Am  nächsten  Tage 
schützte  ich  Müdigkeit  vor  und  fuhr  zurück.  Ich  war  unglücklich  und  hätte 
am  liebsten  den  ganzen  Tag  geweint.  Ich  kam  allein  in  das  nächste  Dorf.  Es 
war  an  einem  Feiertage.  Ich  wußte  nicht,  was  ich  anfangen  sollte.  Da  ging 
ich  in  die  Kirche  ..." 
„Um  zu  beten?" 

„Keine  Spur.  Damals  war  ich  nicht  mehr  fromm.  Ich  ging  nur.  um 
nicht  allein  zu  sein  und  Leute  zu  sehen.  Es  tat  mir  wohl.  Die  vielen  ge- 
putzten' Menschen,  die  feierliche  Stimmung,  die  Musik,  der  Gesang,  die  Orgel. 
Ich  wurde  etwas  ruhiger,  ging  in  ein  Gasthaus  und  hatte  ein  dringendes  Be- 
dürfnis nach  Süßigkeiten.  So  liegen  bei  mir  das  Erhabene  und  das  Banale  bei- 
einander.1) Dann  fuhr  ich  nach  Hause,  trieb  mich  noch  in  den  Straßen  herum 
und  war  dann  glücklich,  als  es  schon  so  spät  war,  daß  ich  wieder  nach 
Hause  kommen  durfte  .  .  ." 

Es  folgen  nun  Schilderungen  seiner  Leidenschaft  für  den  Freund  Ernst. 
Er  träumte  stets  davon,  ihn  zu  besitzen,  und  hatte  keinen  anderen  Gedanken. 
Einmal  nur  versuchte  er  eine  Aggression  auf  ihn.  In  einem  Pissoir  griff  er 
nach  seinem  Penis.  Sein  Freund  wies  ihn  freundlich  ab  und  redete  nicht  mehr 
über  diese  Episode.  Er  wußte  aber,  daß  er  ihn  nie  besitzen  würde.  Inzwischen 
hatte  sich  der  Freund  in  eine  Schauspielerin  verliebt.  Er  war  nur  solange 
eifersüchtig,  als  der  Freund  ihn  nicht  zum  Vertrauten  gemacht  hatte.    Dann 

*)  Der  Mund  als  erogene  Zone!    Er  erwartete  Küsse  und  begnügto  sich  dann  als, 
Ersatz  mit  anderen  Süßigkeiten.    Er  ist  ein  arger  Nä6cher  und  benötigt  noch  immer 
Zuckerl,  die  er  stets  in  der  Tasche  bei  sich  trägt. 


t 


442  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

war  ei-  glücklich,  daß  die  Schauspielerin  einen  anderen  Mann  bevorzugte  und 
Ernst  nicht  erhörte.  Er  konnte  ihn  dann  wie  eine  Mutter  trösten.  Er  betont, 
daß  er  Männern  gegenüber,  wenn  sie  krank  oder  unglücklich  sind,  direkt 
mütterliche  Gefühle  habe  und  sich  als  Pfleger  großartig  be- 
währe. (Beweist  seine  ausgesprochene  Identifizierung  mit  der  Mutter.)  Nur 
6einen  Vater  konnte  er  nicht  pflegen,  als  er  an  Magenkrebs  erkrankte,  das 
Leiden  war  ihm  zu  furchtbar '  ekelhaft  ... 

Er  hat  folgenden  Traum  geträumt: 

„Ich  bin  in  der  Schule  aufgerufen  worden.  Ich  sollte  eine  mathe- 
matische Aufgabe  lösen,  konnte  ihr  nicht  gerecht  werden.  Dann  war  es 
eine  englische  Übersetzung  von  Shakespeare.  Da  konnte  ich  die  Vokabeln 
nicht.  Es  war  mir,  als  ob  die  einzelnen  Personen  des  Stückes  durch  Mit- 
schüler in  theatralischen  Kostümen  verkörpert  wären." 

Über  die  Analyse  dieses  Traumes  wäre  unendlich  viel  zu  sagen.  Das 
Wichtigste  ist  wohl  der  Affektwert  des  Traumes,  der  sich  auf  die  einfachste 
Formel  reduzieren  läßt:  „Ich  stehe  vor  Aufgaben  im  Leben,  denen  ich  mich 
nicht  gewachsen  fühle.  Ich  bin  ein  Schauspieler  und  trage  ein  theatralisches 
Kostüm.  Ich  spiele  den  Homosexuellen,  ich  habe  eine  ursprüngliche  Einstel- 
lung in  eine  andere  übersetzt."  Ihm  fällt  als  englisches  Stück  „Der  Kaufmann 
von  Venedig"  ein.  Auch  der  Professor,  der  ihn  in  Mathematik  prüfte,  heißt 
„Kaufmann".  In  diesem  Kaufmann  liegt  ein  Stück  Tragik  seines  Lebens.  Er 
studierte  reale  Fächer  (Realschule)  und  interessierte  sich  für  ideale  (Gym- 
nasium); er  konnte  nie  rechnen,  versagte  immer  in  der  Mathematik;  er  ist 
auch  bei  der  letzten  Prüfung  zum  Ingenieur  stecken  geblieben.  Er  hat  oin 
peinliches  Verhältnis  zum  Geld.  Seine  Mutter  wirft  ihm  immer  wieder  vor,  daß 
er  den  Wert  des  Geldes  nicht  kenne  und  mit  Geld  nicht  umgehen  lcönne.  Er 
differenziert  sich  von  seinen  Eltern,  die  beide  Kaufleute  waren. 

Im  „Kaufmann  von  Venedig"  bildet  die  größte  Tragik  das  Verhältnis 
des  Juden  zu  seiner  einzigen  Tochter.  Sie  flieht  mit  dem  Geliebten  und  verläßt 
den  geizigen  Vater,  der  ihr  gegenüber  nie  geizig  war.  So  möchte  er  es  gerne 
machen.  Er  möchte  mit  dem  Freunde  fliehen  und  die  Mutter  verlassen.  Sein 
Grundproblem  ist  doch:  Wie  überwinde  ich  die  Mutter?  Wie  kann  ich  mich 
von  ihr  lösen? 

Großen  Wert  legt  er  auf  die  Kästchenszene,  die  ihm  immer  außerordent- 
lich gefallen  hat.  Auch  er  steht  vor  dem  schwierigen  Problem  der  Kästchen- 
Wahl.  Vor  ihm  stehen  drei  Wege :  Mann,  Weib  und  Kind.  Er  ist  Kind,  möchte 
Weib  sein  und  fürchtet  ein  Mann  zu  sein.  Seine  inneren  Konflikte  sind  ein- 
geschlossen wie  die  Verse  in  den  Kästchen.  Wir  werden  sehen,  ob  die  Analyse 
sie  lösen  kann  .  .  . 

Dunkle  Beziehungen  scheinen  sich  zur  Grausamkeit  Shylocks  zu  er- 
geben. Er  betont  das  „Pfund  Fleisch",  das  der  Jude  seinem  Gegner  aus  dem 
Leibe  schneiden  will.  Aus  den  Assoziationen  scheinen  sich  Beziehungen  zu 
Badistischen  Einstellungen  zu  ergeben,  die  aber  vollkommen  unbewußt  sind. 
Jedenfalls  ist  der  erste  Traum  in  der  Analyse  von  allergrößter  Bedeutung. 
Seine  vollkommene  Lösung  und  Deutung  gelingt  immer  erst  später  .  .  . 


Analyse  eiues  Homosexuellen.  44o 

Er  spricht,  lange  Zeit  von  seinem  Verhältnis  zum  Gelde.  Der  Kenner  der 
Traumdeutung  vermutet,  daß  der  Geldkomplex  seine  Beziehungen  zur  Anal- 
erotik hat.  Er  bleibt  bei  seinem  Thema.  Bittet  früher  weggehen  zu  dürfen. 

Kommt  wieder  viel  später  und  fragt,  ob  er  früher  weggehen  kann. 
Er  habe  Hunger.  (Man  merkt  ihm  den  heftigsten  Widerstand  an.  Er  fürchtet, 
etwas  sagen  zu  müssen.)  Er  hätte  außerordentlich  viel  und  wild  geträumt, 
wisse  aber  nicht  mehr  was.  Er  müsse  sich  den  Magen  verdorben  haben,  denn 
am  Morgen  habe  er  gebrochen. 

Dieses  Erbrechen  am  Morgen,  das  bei  vielen  Neurotikern  und  auch  bei 
neurotischen  Kindern  auftritt,  ist  eine  Reaktion  des  moralischen  und  ethischen 
Ich  gegen  die  Träume  der  Nacht.  Man  kommt  sich  ekelhaft  vor,  man  hat 
einen  Ekel  vor  sich  selbst.  Dann  tritt  das  Brechen  auf,  das  auf  irgend 
eine  harmlose  Speise  am  Abend  geschoben  wird.  So  war  es  auch  hier.  Er  aber 
glaubt,  das  Bier  habe  sich  nicht  mit  dem  Kompott  vertragen  .  .  . 

Ob  er  sich  nicht  an  den  Traum  erinnere? 

„Nein,  gar  keine  Spur!" 

„Denken  Sie  ein  wenig  nach!" 

„Ich  habe  nur  Bruchstücke  behalten.    Nicht  der  Rede  wert." 

„Bitte   mir    diese    Bruchstücke    mitzuteilen." 

„Ich  habe  nur  von  verschiedenen  Klosetts  und 
Pissoirs  geträumt.  Hier  war  ein  Pissoir  und  im  Amte 
war  auch  ein  Pissoir  .  .  .  das  Weitere  war  verschwommen.  Ich 
erinnere  mich  nicht  daran." 

„Das  Erbrechen  am  Morgen  scheint  mir  darauf  hinzuweisen,  daß  es  sich 
um  Vorgänge  im  Pissoir  gehandelt  hat,  die  Ihnen  ekelhaft  erscheinen." 

„Kann  ich  mir  nicht  den  Magen  verdorben  haben?" 

„Sicherlich.  Die  Möglichkeit  ist  nicht  auszuschließen.  Aber  die  andere 
ist  auch  vorhanden.    Brechen  Sie  öfters  am  Morgen?" 

„Ja,  aber  immer  so  wie  heute.  Nur  den  Schleim.  Es  ist  mehr  ein  Brech- 
reiz als  ein  wirkliches  Erbrechen.    Darf  ich  schon  fortgehen?" 

„Sie  wissen,  daß  ich  Sie  nie  gewaltsam  zurückhalte.  Ich  möchte  Sie  nur 
darauf  aufmerksam  machen,  daß  ich  ganz  gut  merke,  daß  Sie  mir  wissentlich 
etwas  verschweigen  wollen.  Wie  stellen  Sie  sich  Ihre  Heilung  vor,  wenn  Sie 
nicht  den  Mut  haben,  sich  einem  Arzte  anzuvertrauen?  Oder  fürchten  Sie,  daß 
ich  Sie  weniger  achten  werde,  wenn  Sie  mir  etwa  die  Absonderlichkeiten 
Ihres  Sexuallebens  mitteilen  werden?  Sie  wollen  nur  rasch  davonlaufen  und 
Ihr  Geheimnis  behalten.  Gut.  Das  steht  Ihnen  ja  frei.  Dann  aber  verlangen 
Sie  nicht,  daß  sich  ein  Arzt  mit  Ihrem  Leiden  beschäftige.  Wer  heilen  will, 
muß  erst  klar  sehen." 

„Sie  haben  ganz  recht  Herr  Doktor.  Ich  verschweige  Ihnen  das  Wich- 
tigste . . .  Ich  habe  eine  bestimmte  Art,  sexuell  erregt  zu  werden,  die  wohl 
die  unangenehmste  ist,  die  einen  Mann  treffen  kann.  Sie  werden  bald  ver- 
stehen, warum  ich  Ihnen  die  Sache  so  lange  verschwiegen  habe.  Ich  glaubte, 
Ihnen  schon  zuviel  erzählt  zu  haben  und  wollte  meine  krankhafte  Verirrung 
für  mich  behalten.   Doch  Sie  werden  mich  verachten!" 

„Ich  verachte  keinen  Kranken!" 

„Ich  habe  schon  als  kleiner  Knabe  immer  das  größte  Interesse  für  das 
Klosett  gehabt.  Mein  Wunsch  war  immer:  einem  anderen  Manne  zusehen,  wie 
er  defäziert.  In  meinen  Schülerphantasien  stellte  ich  mir  immer  den  Lehrer  vor, 


444  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

der  vor  mir  zwangsweise  defäzieren  müsse.  Ich  bemühte  mich  immer  nur,  die 
anderen  Männer  zu  beobachten,  wie  sie  den  Stuhlgang  absetzen.  Konnte  ich 
so  einen  Akt  sehen,  so  kam  ich  in  große  Erregung  und  onanierte.  Mein 
ganzes  Denken  und  Sinnen  dreht  sich  noch  heute  um 
den  Abort  und  um  den  Stuhl.  Denken  Sie  sich!  Ich,  der  ästhe- 
tische Mensch,  der  Künstler,  der  Poet,  der  begeisterte  Musiker,  der  für  alles 
Schöne  und  Erhabene  schwärmt,  muß  an  den  Felsen"  einer  so  häßlichen  Per- 
version geschmiedet  sein!  Denken  Sie  diesen  Abgrund  zwischen  meinem  Geiste 
und  meinem  Körper!  Lerne  ich  einen  Mann  kennen,  der  mir  gefällt  so  ist 
mein  erster  Gedanke:  Den  möchte  ich  im  Aborte  seinen  Stuhl  absetzen 
sehen!  *) 

„Haben  Sie  vielleicht  als  Kind  eine  solche  Szene  beobachtet,  die  ihnen 
einen  großen  Lindruck  gemacht  hat?" 

»Ich  erinnere  mich  nicht  daran.  Ich  weiß  nur,  daß  ich  schon  in  der 
Volksschule  meine  Kollegen  zu  beobachten  trachtete.  In  Dänemark  ist  man 
etwas  freier  in  diesen  Dingen  als  hier  in  Österreich.  Auch  die  sexuelle  Freiheit 
bei  uns  scheint  mir  größer  zu  sein  als  hier.  Ich  hatte  später  Gelegenheit 
genug  meinem  Drange  zu  frönen.  Schließlich  brachte  ich  es  dahin,  mir  durch 

«XhSZl 0lr;\den  ich  iAmer>  dei>  Tasche  trage,  die  mir  jetzt  un- 
entbchrl  dien  Beobachtungen  zu  verschaffen.  Doch  ist  das  Bohren  meist  über- 
flüssig. Man  findet  schon  die  entsprechenden  Löcher  vor,  wenn  man  sucht.  Ich 

KLJÄ^J8?  £ben'  dT  i0h  habe  mich  ®»™&,  daß  die  meisten 
Klosette  diese  Beobachtungsstellen  zeigen.  Auch  hier  in  Wien  habe  ich  selten 
em  Klosett  gefunden,  wo  es  mir  nicht  möglich  war,  den  Akt  der  Defäkation  zu 
beobachten.  Ich  kämpfe  mit  aller  Macht  gegen  diese  unglückliche  Anlage  Ich 
unterliege  immer  wieder.  Ich  denke  schon  den  ganzen  Vormittag  daran  Wenn 
dann  der  Nachmittag  kommt,  werde  ich  schon  ungeduldig.  Es  treibt  mich 
einen  öffentlichen  Abort  aufzusuchen.  Dort  warte  ich,  bis  ein  Mann  kommt' 
Sehe  ich  ihn  defäzieren,  so  onaniere  ich  .  .  ." 

„Haben  Sie  auch  Frauen  beobachtet?" 

»Nein>  Frauen  sind  mir  ekelhaft,  wenn  ich  sie  mir  in  dieser  Situation 

Wir  stehen  jetzt  einer  Form  von  Analerotik  gegenüber,  die  einen  aus- 
gesprochen infantilen  Charakter  aufweist.  Kinder  zeigen  ohne  Ausnahme  alle 
eingrolies  Interesse  für  den  Abort  und  für  die  Vorgänge  der  Mictio  und  De- 
lation    fcme  ganze  Gruppe  infantiler  Sexualtheorien  beschäftigt  sich  mit 

uSrl01'^11^'  Di6  Kinder  k0mmen  aus  dem  Anus>  sie  ^rden  durch 
S^  HUg \USW-,.Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  es  sich  hier  um 
eXn  P^n+f mm  f  ?antiler  Eindrücke  handelt-  Der  Umstand,  daß  seine 
i™  H»a  n  \a*  ^  Si°h  erinncrh  kann'  den  Lehrer  betreffen,  beweist 
Tai  ul  f  oße  Autoritäten  seiner  Kindheit  diese  ersten  Eindrücke  ver- 
mittelt haben.  Wer  sind  diese  Autoritäten?  Darüber  haben  wir  nur  Ver- 
mutungen. Wir  müssen  geduldig  den  weiteren  Verlauf  der  Analyse  abwarten. 

Er  klagt,    daß  er  häßlich  aussehe,    weil  ihm  alles  herunterhänge;    es' 
komme  ihm  das  ganze  Gesicht  weiblich,  schwammig,  gedunsen  vor.   Er  blickt 

J)  Diese  Vorstellung  peinigt  viele  Neurotiker.  Das  ist  die  Art,  wie  sie  Personen 
herabsetzen,  die  ihnen  imponieren  und  sie  ihre  eigene  Minderwertigkeit  peinlich  empfinden 
lassen. 


Analyse  eines  Homosexuellen.  44.5 

•ft  in  den  Spiegel  und  betrachtet  sich.  Wie  im  Bilde  des  „Dorian  Gray" 
findet  er  die  Spuren  seiner  Paraphilie  in  seinem  Gesichte  ausgedrückt.  Er  eym- 
bolysiert  die  seelischen  Vorgänge  und  legt  sie  in  sein  Gesicht  hinein.  "  Er 
kämpft  ja  einen  harten  Kampf  gegen  seine  skatologischen  Phantasien  und 
Triebe,  er  kommt  sich  schwach,  weiblich,  häßlich  vor.  Laster,  niedrige  Den- 
kungsart,  tierische  Triebe,  häßliche  Leidenschaften  —  all  das  liest  er  in 
seinem  Gesichte. 

Seine  erste  Erinnerung  an  die  Paraphilie  ist  zu  notieren.  Er  spielt  mit 
einem  kleinen  Freunde,  einem  Vetter,  der  seinen  Stuhl  in  der  Nähe  der  Straße 
absetzen  will.  Er  bedeutet  ihm,  daß  Leute  kommen  könnten,  und  hält  ihn  zu- 
rück .  .  .  Schon  in  dieser  Erinnerung  drücken  sich  beide  Tendenzen  aus: 
die  koprophile  Neigung  und  der  Kampf  dagegen. 

Allerdings  geht  seine  Paraphilie  noch  weiter,  als  er  mir  bisher  einge- 
standen hat.  Wir  erfahren  heute,  daß  Ansätze  zuKoprophagie  vorhanden 
sind,  daß  es  sich  um  eine  Kombination  von  Homosexualität  und  argem  In- 
fantilisnms  handelt.  Er  möchte  auch  gerne  den  Partner  über  sich  defäzicren 
lassen.  Identifizierungen  mit  einem  Klosett  kommen  vor.  Die  Stelle  der  er- 
wünschten Defäkation  ist  der  Bauch,  hie  und  da  der  Mund.  Auch  Phantasien, 
aktiv  und  passiv  Pellatio  zu  machen,  sind  häufig.  Durch  die  Lektüre  von  ver- 
schiedenen medizinischen  und  populären  Büchern  wurde  seine  Phantasie  an- 
1  geregt  und  seine  Paraphilie  immer  aufs  neue  ausgebaut. 

Er  berichtet  über  zwei  Träume.  In  dem  ersten  lief  er  einer  Elektrischen 
nach,  die  er  nicht  erreichen  konnte.  Er  versuchte  vergeblich  einzusteigen,  sie 
rühr  ihm  vor  der  Nase  davon.  Im  zweiten  führte  er  seinen  Hund  spazieren, 
der  sich  mit  einem  anderen  Hunde  vereinigte,  während  er  davonlief.  Der  erste 
Traum  zeigt  uns  ein  unerreichbares  Ideal.  Der  zweite  jedoch  das  Bestreben, 
eich  von  dem  Animalischen  (von  dem  Tiere  in  sich)  zu  trennen.  So  läuft  er 
auch  vor  dem  Koitus  mit  einem  Weibe  davon. 

Er  erzählt,  daß  er  schon  lange  die  Gewohnheit  habe,  phantastische 
homosexuelle  Orgien  aufzuschreiben  und  daß  er  diese  erotischen  Novellen 
dann  viele  Monate  mit  sich  herum  trägt.  Die  letzte  Novelle  habe  er  vor 
14  Tagen  geschrieben.  An  diesen  Aufzeichnungen  habe  er  ein  besonderes 
Interesse,  weil  ihn  schon  das  Niederschreiben  und  dann  auch  die  Lektüre 
sehr  aufregen.  Den  Inhalt  der  letztbn  Phantasie,  die  er  aufgeschrieben  hat 
teilt  er  mit:  Es  ist  eine  Tafelrunde  von  zechenden  Soldaten.  Einer  hält 
ein  nacktes  Weib  (!)  auf  dem  Schoß.  Sie  muß  in  ein  Glas  urinieren.  In 
dieses  Glas  schüttet  der  Soldat  sein  Bier.  Sie  trinken  dann  alle  von  diesem 
Biere.1) 

Er  gesteht  dann,  daß  er  schon  einige  Male  mit  großem  Genüsse  uro- 
Iagnistische  Akte  ausgeführt  hat.  Eigentlich  hatte  er  vor  allen  diesen  Trieben 
nur  so  lange  Ruhe,  als  der  Freund  täglich  zu  ihm  kam  und  er  ihn  seelisch 
liebte.  Deshalb  war  er  so  unglücklich,  daß  seine  Mutter  ihm  diesen  Freund 
entzogen  hatte. 

■  Er  macht  einige  Mitteilungen  über  seine  Art,  sich  als  Voyeur  zu  be- 
tätigen.   Es  reizten  ihn  ursprünglich  nur  Männer  im  reifen  Mannesalter.   Sie 

*)  Die  sadistische  Bedeutung  dieser  Phantasie  werden  wir  erst,  später  kennen 
lernen.  Urin  vertritt  im  Traume  häufig  das  Blut     .  . 


446  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

mußten  sehr  schöne  reine  Wäsche  haben.  Die  Ejakulation  erfolgte,  wenn  er 
Gelegenheit  hatte,  den  Mann  nackt  zu  sehen,  wobei  ihn  der  Phallus  mehr 
interessierte  als  der  Podex. 

■  Er  gibt  auch  zu,  daß  er  Phantasien  hatte,  die  seinen  Vater  betrafen. 
Doch  wären  ihm  diese  Phantasien  unerträglich  und  zum  mindesten  unan- 
genehm gewesen,  so  daß  er  sie  beiseite  geschoben  habe.  Dagegen  wisse  er  sich 
bestimmt  zu  erinnern,  daß  seine  Mutter  als  erotisches  Objekt  für  ihn  nie  in 
Betracht  gekommen  sei. 

Er  wundert  sich  als  echter  Homosexueller  sehr,  was  in  der  letzten 
Phantasie  das  „nackte  Weib"  zu  tun  habe,  und  könne  sich  das  nicht  erklären. 
Aber  er  teile  mir  alle  Tatsachen  ohne  jede  Schminke  mit 

Er  fürchtet,  daß  die  Mutter  sich  mit  mir  ins  Einvernehmen  gesetzt 
habe.  Sie  komme  ihm  doch  hinter  alle  seine  Geheimnisse  ...  Ich  verweise 
auf  die  Tatsache,  daß  mir  die  Mütter  aller  Homosexuellen  immer  den  größten 
Widerstand  gegen  jede  Analyse  gezeigt  haben,  wenn  sie  merkten,  daß  ihre 
Söhne  frei  wurden  und  sich  an  mich  attachierten.  Auch  die  Mutter  Sigmas,  die 
ihn  nach  Wien  begleitet  hatte,  duldet,  wie  wir  wissen,  kein  intimeres 
Verhältnis.  So  erzählt  er,  daß  sie  ihm  erst  gestern  Vorwürfe  machte,  weil  er 
sie  am  Sonntag  allein  gelassen  habe.  Sie  will  ihm  alles  sein.  Sie  versucht 
auch,  mit  ihm  zärtlich  zu  sein,  ihn  zu  streicheln,  was  er  immer  energisch  ab- 
wehrt. (Er  glaubt,  daß  diese  Abwehr  auf  die  Einstellung  gegen  alle  Frauen 
zurückzuführen  ist.  Sie  ist  eine  Art  von  Schutz  gegen  alle  Zärtlichkeiten  der 
Mutter  und  findet  sich  typisch  bei  allen  Söhnen,  die  an  ihre  Mutter  inzestuös 
fixiert  sind.) 

Er  erzählt,  wie  ihm  seine  Mutter  einmal  anvertraute,  daß  sie  an  dem 
Vater  keine  Stütze  habe  und  eigentlich  allein  im  Leben  dastehe.  Damals 
weinte  er  über  das  Unglück  seiner  Mutter  und  verbrachte  eine  schlaflose 
Nacht  .  .  .  Seine  weiteren  Assoziationen  gehen  auf  die  Todeskrankheit  des 
Vaters,  der  längere  Zeit  an  einem  Krebsleiden  dahinsiechte.  Er  konnte  den 
Vater  nicht  pflegen,  ihm  gar  nicht  behilflich  sein.  Es  war  kurze  Zeit,  nachdem 
der  Vater  seinem  Freunde  abgeschrieben  hatte.  Er  hatte  noch  zu  viel  mit  sich 
zu  tun.  Er  folgte  teilnahmslos  den  furchtbaren  Phasen  des  letzten  Kampfes. 
Einige  Tage  vor  dem  Tode  träumte  er,  daß  er  den  Vater  tot  und  friedlich 
auf  der  Bahre  liegen  sah.  Es  war  ■  dies  ein  Ungeduldstraum.  Er  konnte  den 
Tod  des  Vaters  kaum  erwarten.  Er  erzählt,  daß  er  damals  den  Vater  heftig 
haßte,  weil  er  sich  von  der  Mutter  hatte  den  Brief  an  den  Freund  befehlen 
lassen.  Merkwürdigerweise  zürnte  er  der  starken  Mutter  nie  so  heftig  wie  dem 
schwachen  Vater.  Bei  dem  Leichenbegängnis  des  Vaters  und  auch  zu  Hause 
konnte  er  nicht  weinen.  Dieser  Vorgang  ist  typisch  für  solche  Menschen, 
denen  der  Tod  die  Erfüllung  eines  alten  Wunsches  bedeutet.  In  der  Tat  war 
der  schwerkranke  Vater  eine  arge  Last  im  Hause.  Die  Mutter  opferte  sich  auf 
und  der  Tod  war  für  alle  Teile  eine  Erlösung.  Auch  stand  er  zum  Vater 
immer  in  einem  ganz  fremden  Verhältnis.  Sie  hatten  einander  nie  gefunden  .  .  . 

Er  berichtet  eine  Menge  kleiner  Züge,  welche  alle  beweisen,  wie  uner- 
müdlich die  Mutter  bestrebt  ist,  ihn  an  sich  zu  binden.  Er  war  gestern  Nach- 
mittag im  Theater  und  dann  im  Prater.  Abends  fand  er  die  Mutter  traurig 


Analyse  eines  Homosexuellen.  .  447 

im  Zimmer.  Sie  sah  ihn  vorwurfsvoll  an  und  sagte:  Hast  du  während  deines 
Vergnügens  nicht  bedacht,  daß  du  die  Mutter  allein  zu  Hause  läßt?  .  .  . 

Er  soll  immer  an  seine  Mutter  denken  und  immer  fühlen,  daß  er  ewig 
an  sie  gebunden  ist.  Immerwährend  kommen  Tanten  und  Nachbarinnen  und 
erzählen  ihm,  was  die  Mutter  leidet,  wenn  er  sie  vernachlässigt.  Die  Mutter 
müßte  ihm  doch  näher  stehen  als  die  Fremden.  Als  er  noch  so  heftig  darunter 
litt,  daß  die  Mutter  ihm  den  Verkehr  mit  dem  Freunde  untersagt  hatte,  traf 
er  den  Freund  einmal  heimlich  und  sie  besuchten  ein  Theater.  Er  traf  die 
Mutter,  die  irgendwie  davon  erfahren  hatte,  nachts  mit  verbundenem  Kopfe 
im  Bette.  Sie  war  krank  vor  Aufregung  und  blieb  noch  eine  Woche  im  Bette 
liegen.  Schließlich  erklärte  ihm  eine  Tante,  er  wäre  der  Mörder  seiner  Mutter. 
Sie  könne  sich  seine  Leidenschaft  für  den  Freund  nicht  erklären.  Ob  er  nicht 
die  Schwester  des  Freundes  liebe?  Er  war  glücklich,  diesen  Ausweg  gefunden 
zu  haben  und  bejahte.  Nun  stieg  die  Eifersucht  seiner  Mutter  aufs  höchste. 
Bald  aber  überzeugte  sie  sich,  daß  er  sie  betrogen  hatte  und  daß  ihm  das 
Mädchen  ganz  gleichgültig  war. 

Er  empfand  die  Fessel  des  Hauses  so  bitter,  daß  er  schon  einmal  den 
Plan  gefaßt  hatte,  die  Eltern  niederzuschießen  und  sich  dann  sofort  auch  zu 
entleiben.  Es  kam  oft  zu  Streitigkeiten,  in  denen  er  plötzlich  unvermutet  heftig 
werden  konnte  und  einen  fürchterlichen  Haß  gegen  die  Mutter  aufsteigen 
fühlte.  Doch  gingen  solche  Episoden  bald  vorüber  und  er  fügte  sich  in  die 
Tyrannis  ihrer  Liebe.  Vielleicht  nicht  so  ungern,  wie  er  es  darstellt.  Denn 
Gelegenheiten  zur  Befreiung  gab  es  .  .  .  und  er  ergriff  sie  nicht.  Er  blieb 
untätig  zu  Hause  und  ließ  sich  erhalten  und  die  Mutter  für  sieh  sorgen. 


Er  träumte,  daß  er  viele  Pissoire  besuchte  und  von  einem  zum  anderen 
lief.  Dieser  Traum  zeigt  ihn  als  Suchenden.  Es  ist,  als  ob  er  einer  bestimmten 
Szene  der  Kindheit  nachlaufen  würde.  Er  schildert,  wie  unwiderstehlich  der 
Drang  über  ihn  kommt,  daß  er  von  einem  Klosett  in  das  andere  geht,  bis  er 
endlich  den  erwünschten  Anblick  genossen  hat.  Selten  ist  er  befriedigt.  Oft 
ein  Gefühl  des  Überdrusses  und  Ekeis  nachher.  Hie  und  da  eine  köstliche 
Ruhe,  in  der  er  seine  Gedanken  wieder  sammeln  kann. 

„Ich  habe  Ihnen  nicht  die  Wahrheit  gesagt,  als  ich  einen  Verkleidungs- 
trieb leugnete.  Ich  hatte  oft  derartige  Phantasien.  Besonders  gern  wäre  ich 
Salome  gewesen  und  spielte  mich  in  diese  Rolle  mit- großer  Intensität  hinein. 
Meine  Lehrer  waren  dann  die  Propheten,  deren  kaltes  abgeschlagenes  Haupt 
ich  küßte  .  .  ." 

Diese  deutlich  sadistische  Veranlagung  wird  durch  andere  kleine  Züge 
bestätigt.  Er  ist  eifersüchtig.  Einmal  sah  er  den  Freund  mit  einer  Dame 
längere  Zeit  freundlich  sprechen  und  schöpfte  Verdacht,  der  Freund  könnte  in 
diese  Dame  verliebt  sein.  Er  sagte  sich,  daß  er  das  Recht  habe,  den  Freund 
umzubringen,  weil  er  ihn  mehr  liebe  als  jemand  anderer  in  dieser  Welt.  Er 
malte  sich  auch  seinen  Tod  aus  und  was  er  mit  ihm  machen  würde.  Das 
Hauptmotiv  gesteht  er  zögernd:  Ich  würde  seine  Leiche  sexuell  mißbrauchen. 
Dann  spiele  auch  die  Vorstellung  einer  immensen  Trauer  hinein. 

Diese  beiden  Momente,  die  er  heute  erwähnte,  finden  sich  im  „Kaufmann 
von  Venedig".  Eine  Verkleidungsszene,  die  ihn  immer  sehr  erregt  hat,  Porzio 
ab  Richter  und    der  ein  Stück  Fleisch    ausschneidende  Jude.    Shylock    und 


448  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Salome!  Der  blutige  Kopf  des  Jochanaan  ist  verräterisch  genug.  Auch  heute 
hat  er  keine  Zeit  und  muß  rasch  weggehen.  Er  ist  immer  glücklich,  wenn 
die  Stunde  vorüber  ist.  Das  läßt  uns  auf  weitere  wichtige  Enthüllungen 
schließen. 

Er  trägt  einiges  über  seine  Mordideen  gegen  den  Freund  nach.  Die  liebste 
Phantasie  ist  es  ihm,  wenn  er  sich  vorstellt,  daß  er  den  Freund  in  die  Tiefe 
stürzt.  Sie  gehen  häufig  am  Meere  spazieren.  An  einer  Stelle  6ind  die  Felsen 
sehr  steil  und  der  Sturz  in  die  Tiefe  wäre  der  sichere  Tod.  Er  kämpft  gegen 
den  Gedanken,  den  Freund  hinunterzustürzen.  Auch  beschäftigt  ihn  die  Idee, 
was  er  dann  machen  würde?  Weggehen?  Nein  .  .  .  Nachspringen  und  mit 
ihm  vereint  sterben  .  .  . 

Tief  in  das  Rätsel  seiner  Homosexualität  bringt  uns  der  nächste  Traum. 
Er  erzählt  erst  diesen  Traum,  den  er  aufgeschrieben  mitbringt,  und  setzt  dann 
zögernd  den  Teil  hinzu,  der  als  Nachtrag  angemerkt  ist.  Dieser  Nachtrag  ent- 
hält in  den  meisten  Fällen  das  Wichtigste. 

Der  Traum  im  Eindämmern,  noch  vor  dem  Schlaf.  Schauplatz :  Die 
Grotte  gegenüber  dem  Schloß  Schönbrunn.  Ich  stieg  über  die  Felsen 
hinunter  und  bei  dem  letzten  Abhang  angelangt,  fürchtete  ich  mich  sehr 
vor  dem  Sprung  ins  leere  Bassin.  Ich  überlegte,  was  mir  zu  tun  bliebe, 
und  hatte  die  Vorstellung,  daß  hinter  meinem  Rücken  nicht  mehr  Felsen, 
sondern  hoho  Stufen  waren,  die  ich  nie  und  nimmer  zu  erklimmen  ver- 
mochte. Plötzlich  stand  ich  dennoch  auf  ebener  Erde,  außerhalb  des 
Teiches.  Blitzschnell  und  lautlos  glitt  ein  Automobil  an  mir  vorbei 
und  verschwand  spukhaft  in  den  Büschen.  Von  einem  Lenker  hatte  ich 
nichts  gesehen,  auch  keine  Insassen.  Mir  war  sehr  seltsam  zu  Mute,  doch 
wußte  ich  wieder,  daß  ich  zu  Hause  und  in  meinem  Bette  war.  Ich  hätte 
gern  weitergeträumt,  doch  überwog  der  Wunsch,  das  Bisherige  festzu- 
halten, alle  übrigen  Wünsche.  Ich  fürchtete,  meine  Phantasie  zu  ver- 
gessen, soweit  sie  bis  jetzt  gediehen  war,  und  meinem  Arzt  nichts  erzählen 
zu  können. 

Bald  darauf  schlief  ich  wirklich  ein  und  träumte  noch  sehr  viel.  Einiges 
habe  ich  nach  dem  Erwachen  am  Morgen  zu  rekonstruieren  versucht.  Bezeich- 
nend scheint  mir,  daß  die  meisten  Träume  mehr  angedeutet  als  ausgeführt 
waren,  daß  eigentlich  immer  noch  etwas  hätte  geschehen  müssen  und  daß 
sich  offenbar  schon  das  nächste  Traumbild  vordrängte,  bevor  das  eine  ausge- 
reift war. 

I 

Einmal  befand  ich  mich  in  einem  Theater  in  der  ersten  Reihe 
eines  höheren  Stockwerkes.  Es  sollte  „Tristan"  gegeben  werden.  An  Stelle 
des  Kapellmeiters  dirigierte  Arnold  Rose.  Den  Tristan  sang  im  Stil 
des  modernen  Deklamationsgesanges  ein  hübscher  Einjährig-Freiwilliger 
hinter  mir  in  der  zweiten  Reihe.  Neben  mir  saß  meine  Tante  aus  der 
Kindergartenzeit.  Ich  hatte  die  unangenehme  Empfindung,  als  müßte  ich 
gegen  meinen  Willen  ins  Parkett  hinunterspringen,  und  lehnte  mich  des- 
halb fest  in  meinen  Sitz  zurück,  so  zwar,,  daß  ich  die  Beine  weit  aus- 
streckte und  mit  den  Fußspitzen  an  die  Brüstung  stieß  (die  Bettwand?). 
Nun  wurde  mir  immer  unheimlicher  bei  dem  Gedanken,  daß  die  Brüstung 
nachgeben  und  wie  ein  Stück  Pappe  abfallen  könnte.  Ich  bat  meine  Tante, 


z 


Analyse  eines  Homosexuellen.  4.49 

mich  langsam  wieder  aufzurichten.  Mir  war  dabei  wie  einem  Schwer- 
kranken. Wieder  aufrecht  sitzend,  fühlte  ich  mich  frisch  und  gesund  und 
«ah  gerade,  wie  sich  der  Vorhang  vor  der  Bühne  senkte  und  einige 
Leute  davor  erschienen,  darunter  auch  einige  befrackte  Herren.  Also 
wieder  eine  Absage  bevorstehend.  Das  Publikum  brach  in  ironischen 
Applaus  aus,  pfiff  und  johlte. 

Ein  anderer  Traum:  Spät  abends  in  einem  großen  Garten.  Viele 
Leute,  so  wie  zum  Abschied  nach  einem  mit  inhaltslosem  Geschwätz  ver- 
brachten Nachmittag.  Meine  Eltern  waren  auch  anwesend.  Mein  Vater 
hat  es  eilig,  in  die  Stadt  zu  kommen.  Er  geht.  Es  ist  ganz  dunkel.  Gleich 
darauf  eine  Bahnhofsglocke,  der  Pfiff  einer  Lokomotive.  Ich  sage  in  die 
Nacht  hinein,  nicht  wissend,  ob  noch  jemand  neben  mir  ist  oder  nicht: 
Er  hat  Glück  gehabt.  Er  hat  den  Zug  a  tempo  getroffen.  Und  denke  mir, 
in  einer  Stunde  nachzukommen.  Ich  bin  sehr  müde.  Ich  freue  mich  auf 
mein  Bett  daheim. 

Sonniger  Nachmittag  in  einer  ärmlichen  Vorstadt.  Unter  einem 
Parterrefenster  stehen  einige  Blechgeschirre,  von  denen  ich  weiß,  daß 
sie  der  Frau,  die  da  oben  wohnt,  gehören.  Ein  altes  Weib  macht  eich 
damit  zu  schaffen,  prüft  die  Sachen,  hält  sie  einmal  hoch,  dann  wieder  nah, 
wie  zum  Scherz,  doch  weiß  ich,  daß  sie  nur  die  Gelegenheit  abwartet,  um 
unbemerkt  mit  ihnen  zu  verschwinden.  Im  Nachbarhaus  wird  ein  Fenster 
aufgerissen,  eine  gewöhnliche  Frauensperson  ruft  der  Unbekannten,  die 
hinter  dem  Fenster  wohnt,  unter  dem  das  Geschirr  steht,  zu,  sie  solle 
-üch  vor  der  Diebin  in  Acht  nehmen.  Hierauf  stehe  ich  selbst  im  Zimmer 
der  Besitzerin  des  Geschirres.  Sie  legt  gerade  ihren  besten  Putz  an. 
Die  warnende  Nachbarin  erscheint  und  frotzelt  die  Putzsüchtige,  die  über 
ihrer' Eitelkeit  darauf  vergißt,  ihre  Sachen  zu  hüten. 

Nachtrag : 

Ich  befand  mich  in  dem  Nebenzimmer.  Die  Frau  hatte  ein  kleines 
Mädchen  bei  sich.  Ich  hielt  meinen  Penis  in  der  Hand,  jagte  den  beiden 
nach  und  wollte,  daß  sie  ihn  in  die  Hände  nehmen,  und  verspritzte  so 
meinen  Samen  ... 

Vor  den  Händen  der  Frau  hat  mir  gegraut,  weil  sie  schmutzig  waren. 

Eine  Analyse  des  ganzen  Traumes  wird  hier  kaum  am  Platze  sein.  Der 
erste  Teil,  das  Springen  in  ein  tiefes  Bassin,  ist  ein  hypnagoges  Bild  und 
schildert  das  Einschlafen,  den  Sturz  in  die  Tiefe  des  Triebmenschen.  Das  rasch 
vorbeisausende  Automobil  die  Gefahr  .  .  .  Die  Aufführung  von  Tristan  deutet 
auf  eine  große  Leidenschaft  zu  einer  Königin.  Schon  Schönbrunn,  die  Sommer- 
residenz des  Kaiser,  geht  auf  das  Elternhaus.  Isolde  ist  auch  eine  Königin,  die 
für  Tristan  ewig  verloren  ist.  Ist  es  nicht  merkwürdig,  daß  er  von  „Tristan 
und  Isolde",  dem  Hohenlied  der  heterosexuellen  Liebe,  träumt?  Und  gilt  die 
Absage  nicht  der  Entsagung  dieses  geheimen  Wunsches.  Immer  wieder  die 
Gedanken  von  einem  Sturz  in  die  Tiefe  und  die  morschen  Hemmungen.  (Hier 
die  Brüstung.)  Der  befrackte  Herr  der  Gegensatz  der  Liebe  eines  modernen 
Kulturmenschen  zu  einem  Tristan.  (Er  ist  Tristan,  der  Zuschauer  und  der 
mitsingende  Einjährig-Freiwillige.)  Endlich  ein  anderes  Bild:  Die  Abreise 
(lies  der  Tod  des  Vaters).  „Er  hat  Glück  gehabt."  Was  soll  das  bedeuten?  Er 
hat  den  Zug  a  tempo  getroffen?  Denken  wir  daran,  daß  er  in  einem  seiner 
vorherigen  Träume  die  Elektrische  nicht  einholen  konnte,  so  können  wir  er- 

Stekel,  Störung«!!  dos  Trieb-  und  Affektlebens.  II.  2.  Aufl.  29 


450  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität, 

kennen,  daß  der  Vater  sein  Ziel  zur  rechten  Zeit  (a  terapo)  gefunden  hat, 
während  er  es  versäumt.  Wir  werden  bald  hören,  was  dieses  Ziel  bedeutet. 
Und  über  alle  Hindernisse  bricht  sich  ein  anderes  Bild  Bahn:  eine  alte  Frau, 
der  er  mit  erigiertem  Penis  nachläuft.  (Das  Kind  ein  Symbol  des  Genitales.) 
Vergl.  Die  Sprache  des  Traumes  das  Kapitel  „Die  Kinder  im  Traume",  S.  163.) 
Er  wundert  sich  nicht  wenig,  daß  er  im  Traum  heterosexuelle  Gefühle 
produziert.   Er  hat  bisher  nie  auf  die  Träume  geachtet. 

Noch  habe  ich  nicht  gesagt,  wen  die  alte  Frau  darstellen  sollte.  Er  wird 
aufgefordert,  eine  Frau  zu  nennen,  die  ihm  dazu  einfällt,  und  sagt  nach  einigem 
Zögern :  Meine  Mutter. 

Wir  sind  hier  auf  eine  der  Wurzeln  der  Homosexualität  gestoßen,  die 
wir  vielleicht  a  priori  erwartet  haben.  Ich  habe  mich  bisher  wohl  gehütet, 
irgend  eine  Anspielung  auf  sein  Verhältnis  zur  Mutter  zu  machen. 

Was  bedeutet  der  Teil  des  Traumes,  in  dem  von  den  Blechgeschirren 
die  Rede  ist?  Ich  stelle  mir  das  so  vor:  Er  hat  nicht  viele  Schätze,  es  ist 
leerer  Tand,  aber  es  gehört  alles  der  Besitzerin  da  oben  ...  der  Mutter. 
Die  Nachbarin  warnt  die  Mutter,  daß  ihr  ein  anderes  Weib  die  Liebe  des 
Sohnes  stehlen  könnte.  Die  Mutter  ist  sehr  putzsüchtig  und  verwendet  viel 
Zeit  auf  ihre  Toilette. 

Der  Schluß  des  Traumes  bringt  die  Pollution  und  den  höchsten  Affekt: 
das  Grauen  vor  den  schmutzigen  Händen  der  Frau  da  oben. 

Wir  sehen,  wie  langsam  sich  die  Pollution  vorbereitet.  Erst  wird  die 
heterosexuelle  Liebe  (Tristan)  vorgeführt.  Aber  seine  inneren  Stimmen  (das 
Publikum!)  wehren  sich  gegen  diese  Liebe,  sie  entwerten  sie  (johlen  und 
pfeifen,  ironischer  Applaus!).  Dann  tritt  der  Vater  in  Aktion.  Er  läßt  ihn  ab- 
fahren. Es  treten  andere  Frauen  auf  (das  alte  Weib  —  die  Nachbarin).  Aber 
erst  der  „Frau  da  oben"  —  der  Mutter  gelingt  es,  den  Orgasmus  durchzusetzen. 
Vor  dieser  Art  von  Pollution,  die  doch  nur  eine  unbewußte  Onanie  darstellt 
(schmutzige  Hände!),  graut  es  ihm. 

Der  nächste  Traum  bringt  eine  Situation,  in  der  ein  Mann  von  seinem 
Sohne  spricht.  Die  Szene  spielt  in  einer  Bedürfnisanstalt.  Wahrscheinlich 
handelt  es  sich  um  Reproduktion  einer  infantilen  Szene,  in  der  er  seinen  Vater 
bei  der  Notdurft  beobachtet  hat.  Viel  bedeutsamer  ist  der  zweite  Traum.  Ich 
lasse  beide  jetzt  folgen : 

Ich  befand  mich  in  dem  Abteil  einer  Bedürfnisanstalt  und  beobachtete 
mein  „Opfer".  Der  Mann  kehrte  mir  den  Rücken  zu  und  sprach  mit  sich 
eelbst  von  seinem  Sohne.  Ich  merkte,  daß  die  Wärterin  mich  von  außen 
beobachtete,  und  schickte  mich,  den  Hut  ergreifend,  in  dem  Augenblicke 
zum  Gehen  an,  als  sie  die  Tür  öffnete,  um  mich  auf  meinem  Seherposten  zu 
ertappen.  Ich  spielte  den  Unbefangenen,  nahm  in  aller  Ruhe  das  Taschen- 
tuch zu  mir,  auf  dem  ich  gekniet  war,  las  die  Unmenge  von  anderen 
Dingen  auf,  die  noch  am  Boden  verstreut  lagen  (Handschuhe,  Kragen- 
schoner etc.)  und  ging  mit  der  Genugtuung,  daß  ich  durch  meine  Fassung 
die  Frau  in  ihrem  Verdacht  schwankend  gemacht  und  einen  Skandal  abge- 
wehrt hatte  .  .  . 

Ich  stieg  die  Stufen  zu  einem  weitoffenen  Laden  hinan.  Auf  halbem 
Wege  erblicke  ich  in  einem  Winkel  die  Verkäuferin.  Bei  ihrem  Anblick 
befällt  mich  ein  heilloses  Bauchgrimmen.  Ich  kehre  um  und  entleere  mich 


Analyse  eines  Homosexuellen.  451 

vor  dem  Hause  in  aller  Öffentlichkeit.   Die  Frau  dort  oben  wird  mich  ja 
doch  nicht  sehen? 

Ihm  fällt  die  schon  erwähnte  Erinnerung  zu  diesem  Traum  ein  (S.  357) : 

Er  war  zwei  Jahre  alt,  da  ging  er  mit  einem  Knaben,  der  sich  auf  die 
Straße  setzte  und  seine  Notdurft  verrichtete.  Er  gesteht  jetzt,  daß  es  ihm  auch 
dio  Libido  steigere,  wenn  er  sich  vorstelle,  daß  man  ihm  bei  der  Defäkation 
zusehe.  Das  ist  ein  typischer  Fall  von  sexuellem  Infantilismus.  Er  ist  nicht 
nur  Voyeur,  er  ist  auch  Exhibitionist. 

Der  erste  Traum  enthüllt  die  Angst,  die  Mutter  (die  AVärterin!)  könnte 
seine  skatologischen  Tendenzen  erfahren.  Im  zweiten  wird  die  „Frau  da  oben" 
die  Zuseherin  einer  Szene  infantilen  Charakters.  Sie  dürfte  eine  Reproduktion 
einer  der  zahllosen  ähnlichen  Szenen  der  Kindheit  darstellen. 

Er  hat  schon  einige  homosexuelle  Akte  in  Bädern  vollzogen.  In  Däne- 
mark baden  die  Männer  nackt  in  den  Dampfbädern.  So  kam  es,  daß  er  sich 
von  einigen  Männern  anrühren  und  bis  zur  Ejakulation  reizen  ließ.  Er  hat 
auch  zu  dem  gestrigen  Traum  von  der  Defäkation  einen  Nachtrag  zu  liefern. 
Er  hörte  einmal  am  Meeresstrande  in  dem  Aborte  einen  Mann  stöhnen.  Er  stieg 
auf  die  Scheidewand  und  sah  einen  Mann  onanieren.  Sofort  wurde  er  so  er- 
regt, daß  er  dann  zurückstieg  und  auch  zu  onanieren  anfing.  Der  Mann  revan- 
chierte sich  und  sah  ihm  dann  zu,  was  seine  Libido  außerordentlich  steigerte. 

Seine  heutigen  Träume  sind  sehr  charakteristisch. 

Ich  bin  in  einem  Waggon  und  spiele  mit  einem  Wickelkinde,  das 
ich  gerne  los  sein  möchte.  Da  gab  mir  ein  Herr  den  Rat,  das  Kind  in  eine 
Blechschachtel1)  einzupacken,  und  das  tat  ich  auch. 

Deutung:  Er  will  seinen  Infantilimus  los  werden;  er  konserviert  ihn 
in  einer  Blechschachtel.  Kompromiß  aus  beiden  Strömungen.  Der  nächste 
Traum  erzählt  von  einem  Geistlichen,  der  vor  einem  großen  Loch  in  der  Erde 
steht  und  bedeutet,  dieses  Loch  beweise,  daß  eine  Askese  unmöglich  sei.  Man 
müsse  wenigstens  von  Zeit  zu  Zeit  onanieren.  Im  Loche  sah  man  Wurzeln, 
die  wie  Haare  aussahen.  Dann  ist  er  mit  der  Mutter  in  einem  Wagen.  Die 
Mutter  verwandelt  sich  in  eine  heilige  Madonna  oder  in  die  heilige  Zara  (?). 

Auch  die  Erde  steht  für  die  Mutter.  (Mutter  Erde.)  Das  Loch  deutet 
auf  Geburt  und  Tod.  Man  kommt  von  der  Mutter  und  geht  zur  Mutter.  Die 
Mutter  erscheint  wieder  als  Heilige  und  als  Zarin,  wofür  das  rätselhafte  Zara 
steht.  Der  Vater  ist  der  Zar,  wie  er  im  Tristantraumo  den  König  Marke  re- 
präsentierte.   Die  Folgerungen  ergeben  sich  von  selbst. 

Zu  den  Haaren  hat  er  eine  eigene  Einstellung.  Die  Haare  der  Frauen 
sind  ihm  ekelhaft.  Die  Mutter  hat  lange  blonde  Haare.  Der  Vater  war  sehr 
stark  behaart.  Früher  waren  ihm  die  behaarten  Männer  alle  ekelhaft.  Sein 
Ideal  sind  flaumige,  junge,  weibliche  Männer.  Er  sucht  eben  immer  wieder  das 
Weib  im  Manne  .  .  . 

Er  kommt  noch  einmal  auf  den  Traum  von  der  Erde  und  dem  Loche 
in  'der  Erde  zurück.    Er  erinnert  sich  jetzt  an  ihn  ganz  deutlich: 


*)  Vergleiche  die  Kästchen  („Kaufmann  von  Venedig")  im  ersten  Traume. 

29* 


452  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ich  bin  wieder  Mittelschüler  und  soll  mit  meinen  Kameraden  zur 
Beichte  geführt  werden.  Wir  stehen  in  einem  weiten,  kreisrunden,  aus 
der  Erde  gegrabenen  Platz.  Die  natürliche  Erdmauer  zieht  sich  in  der 
Höhe  von  2  m  ringsherum.  Darüber  baut  sich  eine  prächtige,  tempel- 
artige Halle  auf.  Ein  Mönch  weist  auf  die  nassen  Flecke  im  Erdwall 
und  vergleicht  sie  mit  den  erotischen  Gedanken,  die  auch  aus  dem  Leben 
eines  der  Kirche  Geweihten  nicht  auszuschalten  sind.  Darauf  erblicke 
ich  ein  Wurzelgestrüpp  an  der  Wand  und  denke  unwillkürlich  an  Scham- 
haare.  Der  Mönch  verurteilt  die  Askese. 

Ein  Traum,  der  überwiegend  religiöse  Bedeutung  hat.  Schon  in  den 
früheren  Träumen  war  „die  Frau  da  oben"  in  der  religiösen  Überdetermination 
als  „Mutter  Maria"  aufzufassen,  der  seine  Liebe  gehört,  die  keine  irdische 
Frau  ihr  rauben  dürfe.  Er  sieht  sein  Grab,  das  ihn  wie  ein  „Memento  mori!" 
auffordert,  sein  Leben  als  Vorbereitung  für  das  Jenseits  aufzufassen. 

Es  ist,  als  ob  ihm  das  Weib  der  Inbegriff  der  Sünde  wäre.  Jetzt  wissen 
wir,  warum  die  „Frau  da  oben"  ein  Kindlein  hat.  Es  ist  das  Jesukindlein. 
Er  hat  seinen  reinen  Glauben  befleckt.  Der  Wall  seines  Glaubens  (die  Erd- 
mauer!) ist  gleichfalls  von  seinen  sündigen  erotischen  Gedanken  beschmutzt. 

Der  große  Wall  um  den  Platz  in  der  Höhe  von  zwei  Metern  symboli- 
•  siert  alle  Hemmungen.  Er  ist  der  Mönch  selbst,  er  wollte  doch  vorübergehend 
Geistlicher  werden,  er  ist  ein  heterosexueller  Asket  ... 

Heute  Nacht  viele  Träume  von  Wanderungen  durch  Pissoirs.  In  einem 
Pissoir  traf  er  einen  Mann,  der  statt  des  Phallus  eine  Vagina  hatte. 

Wüste  Träume.  Unter  anderen  ein  Traum,  in  dem  er  einem  fremden 
Manne  podicem  lambit.  Solche  Wünsche  hat  er  auch  im  Wachen  .  .  .  Ferner 
Träume,  in  denen  er  mit  einem  fremden  Manne  gemeinsam  onaniert.  Schließ- 
lich aber  münden  die  kleinen  Träume  in  einen  großen,  in  dem  er  sich  mit 
dem  M  ä  d  c  h  e  n  befindet,  die  er  in  seiner  Jugend  verehrt  hat.  Die  ganze 
Nacht  geht  der  Kampf  gegen  die  heterosexuellen  Tendenzen,  bis  er  schließlich 
unterliegt. 

Deutlicher  Widerstand  gegen  die  Aufdeckung  der  heterosexuellen  Ten- 
denzen. 

Ein  Traum  verdient  aus  einer  langen  Reihe  hervorgehoben  zu  werden: 

Ich  gehe  mit  meiner  Mutter  spazieren.  Wir  sind  zärtlich  miteinander 
und  sie  sagt  mir  liebe  Worte.  Ich  pflücke  an  einem  Bache  wundervolle 
Anemonen  und  will  daraus  einen  Strauß  machen  und  ihn  meiner  Mutter 
verehren.  Die  Blüten  fallen  aber  alle  ab  und  nur  der  leere  grüne  Stengel 
bleibt  in  meiner  Hand. 

Wer  die  Symbolik  des  Blumenpflückens  *)  kennt,  wird  leicht  erkennen, 
daß  es  sich  um  Genüsse  erotischer  Natur  handelt.  Es  werden  aus  diesen  Lieb- 
kosungen leere  Stengel.  Die  Liebe  kann  keine  Blüte-  und  keine  Frucht  zeitigen. 

Er  verbreitet  sich  über  sein  Verhältnis  zur  Mutter.  Es  ist  eigentlich 
eine  Ehe  ohne  jede  erotische  Beziehung.    Denn  Zärtlichkeiten  von  Seite  der 


J)  Sprache  des  Traumes  Seite  148. 


Analyse  eines  Homosexuellen.  453 

Mutter  verträgt  er  nicht  und  hat  sie  sich  längst  ausgebeten.  Es  herrscht  jetzt 
zwischen  ihnen  eine  deutliche  Scheu.  Das  Erotische  wird  gar  nicht  berührt. 
Er  hat  sich  gegen  seine  Inzestgedanken  durch  eine  Schranke  von  scheinbarer 
Kälte  gesichert.  Aber  sie  leben  zusammen,  sie  gehen  zusammen  aus,  sie  teilen 
alle  geistigen  Genüsse.  Er  hat  an  seiner  Mutter  eine  Frau  gefunden,  die  sein 
ganzes  Leben  in  Beschlag  genommen  hat.  Und  er  ist  ihr  eigentlich  nicht 
böse,  daß  sie  ihn  vom  Freunde  getrennt  hat.  Er  versteht  sie  und  das  heißt, 
er  fühlt  mit  ihr.  Der  Freund  bedeutete  einen  Versuch,  sich  von  der  Mutter 
vollkommen  zu  befreien.  Die  Mutter  handelte  instinktiv  richtig,  wenn  sie  ihn 
zu  trennen  versuchte.  Er  will  auch  ernstlich  keine  Befreiimg  aus  dieser 
Sklaverei  der  Liebe.  Er  läßt  sich  gerne  leiten  und  als  Kind  behandeln.  Er  stellt 
sich  so,  als  ob  ihm  die  Liebe  und  das  Band  unangenehm  wären.  Beide  Strö- 
mungen —  zur  Mutter!  und  von  der  Mutter  weg!  —  leben  in  seiner  Seele. 
(Bipolarität!) 

Die  Behandlung  soll  ihm  auch  nur  Besserung  seiner  neurotischen  Be- 
schwerden und  keineswegs  Befreiung  von  der  Mutter  bringen.  Er  träumt,  daß 
er  genesen  ist  und  der  Mutter  mitteilt,  er  wäre  nun  gesund,  sie  würden  viel 
glücklicher  zusammen  leben  als  bisher. 

Im  Anschluß  an  einen  Traum  kommt  eine  neue  Liebesaffäre  zum  Vor- 
schein, die  er  mit  16  Jahren  durchmachte.  Er  machte  einem  Mädchen  den  Hof 
und  schickte  ihr  einige  Gedichte.  Er  glaubt,  daß  es  nur  ein  Spiel  war,  um 
sich  „einzureden",  daß  er  auch  Mädchen  lieben  könnte.  Auf  diese  Weise  will 
er  die  Tatsache  seiner  heterosexuellen  Strömungen  aus  der  Welt  schaffen.  Er 
meint  aber,  Liebesgedichte  hätten  nichts  zu  sagen.  Er  hätte  auch  an  seine 
Mutter  Gedichte  gemacht,  als  er  einige  Zeit  vom  Hause  weg  war. 

„Du    meines   keuschen    Herzens   Allgebieterin. 
Der   ich   mich   neige    in   tiefer   Demut   .   .   ." 

Die  Gedichte  sind  voller  Sehnsucht  und  Leidenschaft.  „Sein  Blut  schreit 
nach  ihr,  sein  Herz  ist  von  ihr  allein  erfüllt."  So  dichtet  nur  ein  sinnlos  Ver- 
liebter sein  Liebesobjekt  an. 

Wir  sehen  aus  diesem  Falle  den  klaren  Beweis,  wie  die  Monosexualität 
der  Homosexuellen  beschaffen  ist.  Er  wollte  aber  von  diesen  Beziehungen  nichts 
wissen.  Alles,  was  er  an  Kräften  der  Sublimierung  zur  Verfügung  hatte, 
wurde  auf  die  Mutterliebe  verwendet.  Daher  mußte  ein  Teil  seiner  Schmutz- 
liebe (Mysophilie)  erhalten  bleiben.  Was  er  auf  der  einen  Seite 
an  Reinheit  übertrieb,  mußte  auf  der  anderen  Seite 
als  Versinken  in  den  Schmutz  zum  Vorschein  kommen. 
Zu  betonen  ist  aber,  daß  er  seine  Homosexualität  nicht  verlieren  will.  Er  be- 
trachtet sie  als  einen  Schutz  und  als  eine  Auszeichnung  vor  anderen  Menschen. 
Das  beweist  wieder  die  Trostlosigkeit  therapeutischer  Bemühungen  in  den 
meisten  dieser  Fälle. 

Er  ist  erstaunt,  seit  er  seine  Träume .  kontrolliert,  wie  häufig  hetero- 
sexuelle Regungen  auftreten.  Heute  Nacht  träumte  er  zuerst,  daß  er  einer 
nackten,  wunderbar  gebauten  Frau  den  Finger  in  vaginam  et  in  anum  immissit. 

Ferner  einen  zweiten  sonderbaren  Traum,  der  in  der  Auflösung  seine \- 
Neurose  eine  große  Rolle  spielen  sollte:     • 


454  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität 

Ich  bin  mit  meiner  Mutter  in  der  Oper.  Mir  fällt  ein  langer  Gang 
auf,  an  dessen  Ende  man  eine  Aussicht  auf  Wien  hat.  Man  sieht  den  mäch- 
tigen Stephansturm,  von  dessen  Spitze  ein  feiner  Nebel,  wie  ein  Rauch 
oder  wie  eine  fein  zerstäubte  Wassersäule  ausgeht.  In  der  Oper  ist  die 
Vorstellung  geändert.  Man  gibt  statt  Don  Juan  die  Donna  carissima. 

Zeigt  schon  der  erste  Traum  eine  deutliche  Einstellung  zur  Frau,  so 
verrät  der  Programmwechsel  im  zweiten  die  Entstehung  seiner  Neurose.  Ich 
ersuche  ihn  um  eine  Schilderung  der  Frau  aus  dem  ersten  Traume.  Er  sah 
ihr  Gesicht  gar  nicht.  Er  sah  nur  den  blendend  weißen,  herrlichen  Körper. 

Solche  Träume  (Figuren  ohne  Gesicht!)  sind  sehr  häufig  und  dienen 
dazu,  das  geheime  Liebesobjekt  zu  verhüllen  und  nicht  erkennen  zu  lassen. 
Ich  kenne  Träumer,  die  mit  solchen  Halbfiguren  Pollutionen  träumen.  Das 
Gesicht  ist  nie  zu  sehen.  Oft  nur  ein  Teil  des  Körpers.  Wir  können  aus  dem 
zweiten  Traume  annehmen,  daß  es  sich  um  die  Mutter  handelt.  Sonst  wäre  es 
kaum  zu  erklären,  warum  das  Gesicht  der  Traumzensur  verfallen  wäre. 

Der  zweite  Traum  gehört  in  die  Kategorie  der  Mutterleibsträume.  Er 
ist  im  Mutterleibe.  (Zum  langen  Gang  fällt  ihm  der  Lebensweg  ein.  Es  ist  in 
der  Tat  der  Weg,  auf  der  er  zum  Leben  gekommen  ist.)  Der  Stephansturm  ist 
ein  phallisches  Symbol.  Die  Rauchsäule  die  Ejakulation  oder  die  Mictio.  Es 
ist  die  Vorstellung,  daß  er  sich  im  Mutterleibe  befindet  und  von  dort  den 
Vorgang  der  Begattung  beobachten  kann.  Noch  durchsichtiger  wird  der  Traum, 
wenn  man  weiß,  daß  der  Vater  Stephan  heißt.1) 

Nun  wird  sein  sexueller  Infantilismus  verständlich.  Er  leidet  an  der 
„Mutterleibsphantasio".  Jedes  Klosett  wird  ihm  zum  Symbol  des  Mutterleibes. 
Dort  beobachtet  er  den  urinierenden  Mann,  wie  er  den  Vater  im  Mutterleibe 
hätte  beobachten  können,  wenn  er  nur  damals  als  Embryo  genug  Verstand 
gehabt  hätte!  Man  würde  es  nicht  für  möglich  halten,  daß  intelligente  Men- 
schen Opfer  einer  so  kindischen  Phantasie  werden.  Die  Praxis  bestätigt  immer 
Wieder  die  eminente  Bedeutung  dieser  Phantasie.  In  diesem  Falle  bestand  Un- 
lust und  Abneigung  gegen  enge  geschlossene  Räume,  ferner  eine  Reihe  von 
paraphilen  Neigungen,  die  eich  aus  der  Phantasie  erklären  ließen.  Er  schwelgte 
in  dem  Gedanken,  sich  vom  Sperma  des  geliebten  Mannes  anspritzen  zu  lassen ; 
er  hatte  das  Verlangen  membrum  erreetum  amati  viri  fellare;  auch  seine 
urolagnistischen  und  koprolagnistischen  Gelüste  standen  unter  der  Herr- 
schaft der  einen  Phantasie.  Er  benimmt  sich,  als  ob  er  im  Mutterleibe  wäre. 
Der  Traum  sagt  aber  deutlich,  daß  in  dem  Theaterstücke  seines  Lebens 
ein  Programmwechsel  stattgefunden  habe.  Aus  einem  Don  Juan  ist  eine  Donna 
geworden.  (Carissima  .  .  .  eine,  die  ihm  am  teuersten  ist.)  Er  hat  einen  Pro- 
grammwechsel vollzogen  und  die  Liebe  zum  Vater  auf  die  Mutter  übertragen. 
Diese  Donna  ist  seine  vollkommene  Identifizierung  mit  der  Mutter.  Er  ist  im 
Mutterleibe  und  ist  die  Mutter  selbst.  Er  ist  sich  am  liebsten,  er  ist  sich  das 
liebste  Weib,  er  liebt  das  Weib  in  sich.  Die  nie  fehlende  Verliebtheit  der 
Homosexuellen  in  sich  selbst  (Narzissmus). 

Verschiedene  Erinnerungen  werden  lebendig,  die  alle  beweisen,  daß  seine 
ursprüngliche  Einstellung  heterosexuell  war.  So  verliebte  er  sich  mit  fünf 
Jahren  in  ein  Mädchen,  wollte  sie  heiraten  und  nannte  sie  seine  Braut.    Aus 


l)  Vergleiche  „Die  Sprache  des  Traumes"  das  Kapitel  „Mutterleibsträume"  S.  281. 


Analyse  eines  Homosexuellen. 


455 


eeinem  späteren  Alter  kennen  wir  nur  drei  heterosexuelle  Episoden.  Es  ist 
noch  nicht  verständlich,  warum  diese  vollkommene  Abkehr  vom  Weibe  er- 
folgte. Weitere  Aufklärungen  bringen  uns  Träume,  aus  denen  ich  nur  Bruch- 
teile berichte.    So  träumt  er: 

Ich  wohne  einer  Unterrichtsstunde  bei.  In  meinem  Lehrbuch  steht 
von  physikalischen  Versuchen  geschrieben,  im  weiteren  Verlaufe  wird  es 
zur  Historie.  Es  wird  etwas  von  der  Geschichte  der  alten  Bayern  erzählt. 
Die  Jahreszahl  4005  spielt  eine  Rolle.  Die  Sache  endigt  mit  einem  Märchen 
von  drei  Fichten,  die  am  Winterabend  vor  dem  Hause  stehen  und  drei  tote 
Frauen  bedeuten. 

Später  produziere  ich  mich  mit  Erfolg  als  Damenimitator. 

Zur  Zahl  4005  fällt  ihm  ein:  00  bezeichnet  man  einen  Abort.  45  ist 
die  Opuszahl  einer  Lieblingsoper  von  mir,  der  Salome  von  Richard  Strauß. 
4  und  5  sind  die  schlechten  Noten  in  der  Schule  .  .  . 

Die  Salome  von  Strauß  sowie  ein  früherer  Traum  führen  uns  auf  seine 
sadistischen  Instinkte.  Immer  deutlicher  wird  es,  daß  sein  ursprünglicher 
Sadismus  außerordentlich  groß  war.  Noch  heute  schwelgt  er  in  Phantasien 
von  Sexualverbrechen,  Totenschändung  usw.  ...  Er  spielte  mit  dem  Plane, 
sieh  und  die  ganze  Familie  zu  töten.  Ein  Widerstand  im  Hause  löst  sofort 
Mordgedanken  aus.  Seine  ursprüngliche  Stellung  zum  Weibe  war  auch 
sadistisch.  (Das  Hauptmotiv  der  Salome  der  abgehauene  Kopf  des  Propheten. 
Auch  das  herauszuschneidende  Pfund  Fleisch  des  Shylock  im  ersten  Traume 
bezieht  sich  auf  diese  Triebrichtung.  Ferner  der  Traum  von  der  Wanze!) 
Schon  früh  setzte  seine  Frömmigkeit  ein  und  schützte  ihn  gegen  da's  wilde 
Tier  in  sich.  Mit  sechs  Jahren  spielte  er  Prediger  und  hatte  seinen  eigenen 
Altar.  Er  floh  vor  dem  Weibe,  weil  er  seiner  selbst  nicht  sicher  war  .  .  . 

Er  hat  eine  ganze  Menge  von  Idiosynkrasien,  welche  sich  durch  einen 
verdrängten  Sadismus  erklären  lassen.  Er  kann  keine  Pfirsiche  essen,  weil  die 
Haut  ihn  an  eine  menschliche  Haut  erinnert ;  er  verträgt  nicht  „Haut  in  der 
Milch",  'sie  erregt  bei  ihm  Ekel  und  Brechreiz;  er  hat  oft  Abneigung  gegen 
Fleisch  und  hatte  eine  lange  vegetarische  Periode.  Fleisch  bezeichnet  er  als 
Tierleiche.  Die  Vorstellung  einer  menstruierenden  Frau  ist  außerordentlich 
ekelbetont.  Alle  Zusammenhänge  mjt  Blut  sind  sehr  affektbetont,  teils  positiv, 
teils  negativ. 

Was  bedeuten  die  drei  Fichten,  die  Symbole  toter  Frauen  darstellen? 
Sind  ihm  drei  weibliche  Ideale  gestorben?  Er  assoziiert  „Ein  Fichtenbaum 
stand  einsam  im  Norden  auf  kalter  Höhe  .  .  .  usw."  Dieser  Fichtenbaum 
träumt  von  Palmen  in  der  Gluthitze  des  heißen  Südens.  Weitere  Einfälle 
bleiben  aus.    Große  Hemmung  beim  Thema  der  „toten  Frauen". 


Ich  übergehe  eine  ganze  Menge  von  Tagen,  die  nur  eine  Vorbereitung 
zu  der  kommenden  Lösung  bedeuten.  Auch  will  ich  nur  das  wichtigste 
Traummaterial  mitteilen. 

Von  großer  Bedeutung  scheint  mir  der  nächste  Traum  zu  sein: 

Stehe  mit  meinem  Vater  an  einem  Strom.  Ein  kleiner  weißer 
Dampfer  entfernt  sich  von  uns  und  dreht  sich  und  wendet  sich  wie  ein 
Reptil.  Es  hätte  mir  viel  Vergnügen  gemacht,  auf  ihm  zu  fahren  (ich 
weiß   auch  nicht,   wie  ich   hineingekommen  wäre,   denn  er   ist   wie   im 


456  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Mikrokosmos).  Nun  ist  das  Schiff  versäumt  und  wir  müssen  auf  den 
Schnellzug  warten.  Daß  wir  mit  dem  Schiri  auch  schneller  daran  gewesen 
wären,  dieBe  Meinung  kann  ich  mit  meinem  Vater  nicht  teilen. 

Hierauf  biege  ich  in  eine  Grotte  ein,  wo  noch  viele  andere  Leute 
vorwärts  wandern.  Der  Weg  ist  vielfach  gewunden  und  ansteigend.  Wer 
von  meinen  Bekannten  mit  mir  geht,  weiß  ich  nicht.  Ich  habe  meine  ganz« 
Aufmerksamkeit  auf  Schlangen  gerichtet,  die  ich  an  einer  Leine  führe. 
Sie  haben  sehr  freundliche  Köpfe  und  manchmal  kommt  es  mir  vor,  als 
hätten  sie  Beißkörbe  um.  Zu  jemandem  in  meiner  Umgebung  mutmaße 
ich,  daß  man  ihnen  das  Gift  schon  ausgedrückt  hat.  Als  ich  endlich  hoch 
oben  in  einem  taghellen  Haus  ankomme,  sind  aus  ihnen  Hunde  geworden, 
die  meiner  Führung  entgleiten  und  blitzschnell  die  tiefen  Treppen  hin- 
untersausen. Gleich  darauf  sind  sie  wieder  bei  mir  und  lassen  sich  ganz 
ruhig  an  die  Leine  nehmen. 

Ich  finde  in  meiner  Wohnung  einen  Pack  Taschentücher,  wohl- 
verwahrt in  Seidenpapier. 

Dieser  Traum  ist  eine  Kombination  von  einem  Spermatozoentraum  und 
einer  Mutterleibsphantasie.  Der  Strom,  in  dem  sich  das  Schiffchen  bewegt, 
der  Lebensstrom,  der  Strom  des  Sperma  trägt  einen  bestimmten  Samenfaden, 
ihn  selbst.  Er,  der  Große,  möchte  wieder  in  das  kleine,  sich  wie  ein  Reptil 
windende  Schiffchen  zurück.  Er  möchte  wieder  klein  sein,  nicht  ein  Kind,  nein, 
der  Samenfaden.  Er  ist  mit  seinem  Leben  unzufrieden  und  möchte  sein  Leben 
noch  einmal  beginnen.  Der  Weg  führt  aus  dem  Strom  in  eine  Grotte  (den 
Leib  der  Mutter).  Zugleich  symbolisiert  dieser  Traum  sein  ganzes  Leben, 
das  ihn  aufwärts  führt  zu  lichten  Höhen  über  Mühen  und  Gefahren.  Seine 
Gedanken  sind  hier  als  Schlangen  dargestellt.  Sie  haben  wohl  freundliche 
Köpfe  (d.  h.  die  Sünde  lockt!),  aber  er  hat  sie  alle  gebändigt.  Alle  Sünden 
sind  überwunden,  alle  Schlangen  sind  gebändigt  und  tragen  Beißkörbe.  Das 
lichte  Haus  ist  die  Kirche.  So  zeigt  dieser  Traum  Anfang  und  Ende  des 
Lebens. 

Der  nächste  Traum  von  den  Taschentüchern  wird  verständlich,  wenn 
man  weiß,  daß  er  seine  Onanieakte  in  Taschentüchern  vollzieht.  Die  Ver- 
wahrung in  Seidenpapier  zeigt  uns,  daß  er  die  spezifische  Onaniephantasie 
verbirgt. 

Der  Traum  beschäftigt  sich  mit  dem  Vater.  In  den  letzten  Tagen  kamen 
seine  Gedanken  immer  wieder  auf  den  Vater  zurück.    Er  sagt  mir  darüber: 

„Ich  habe  sehr  schwere  Tage  gehabt  und  merkte  erst,  wie  sehr  ich  an 
den  Vater  fixiert  war  und  welche  überragende  Rolle  er  in  meinem  Leben  ge- 
spielt hat.  Ich  fühlte  gestern  den  ganzen  schweren  Haß  gegen  meinen  Vater, 
den  ich  durch  viele  Jahre  getragen  habe." 

„Warum  haßten  Sie  den  Vater?" 

„Erstens  weil  er  mich  gezeugt  hat  und  mir  seine  schwächlichen  Anlagen 
vererbte.  Solche  Männer  dürfen  keine  Kinder  haben.  Ich  habe  alle  seine 
Krankheitsanlagen  übernommen.  Dann  haßte  ich  ihn,  als  er  mich  durch  den 
von  der  Mutter  anbefohlenen  Brief  von  meinem  Vetter  trennte." 

„Da  müßten  Sie  ja  die  Mutter  hassen !  Ist  es  nicht  merkwürdig,  daß  Sie 
den  gleichen  Vorfall  bei  der  Mutter  verstehen  und  beim  Vater  nicht?  Bei  der 
Mutter  fühlen  Sie  sich  ein,  beim  Vater  sind  Sie  das  nicht  imstande." 


Analyse  eines  Homosexuellen.  4.57 

„Freilich,  wenn  Sie  das  auseinandersetzen,  'so  merke  ich,  daß  ich  dem 
Vater  großes  Unrecht  getan  habe.  Der  Brief  war  nur  ein  Vorwand,  uni  einen 
Grund  zum  Haß  zu  haben.  Ich  erinnere  mich  mit  Grauen  aTi  seinen  Todestag. 
Ich  hatte  den  Eindruck,  daß  der  Vater  vor  mir  Angst  hatte.  Er  sah  mich 
mit  großen,  glasigen  Augen  an  und  hielt  immer  die  Hand  der  Mutter.  Ich 
fühlt«  damals  etwas  wie  Eifersucht  gegen  die  Mutter,  versteh» 
jetzt,  daß  ich  immer  eifersüchtig  war.  Meine  Mutterleibsphantasie  heißt  ja, 
daß  ich  bei  den  Liebesakten  der  Eltern  dabei  sein  will.  Ich  will  dem  Vater  die 
Mutter  ersetzen.  Ich  liebte  ihn  als  kleines  Kind  mit  großer  Leidenschaft  und 
litt  dann  unter  seiner  Kälte.  Er  war  immer  übermäßig  lieb  und  freundlich  zu 
mir,  aber  ich  fühlte  doch,  daß  mir  etwas  fehlte." 

Er  hatte  vom  Vater  Zärtlichkeiten  erwartet.  Er  spielt  noch  jetzt  in 
seinen  sexuellen  Akten  zwei  Phantasien.  Er  ist  der  Knabe,  der  den  Vater 
beim  Koitus  belauscht.  Das  ist  die  eine  Abortphantasie,  wenn  er  ältere  Männer 
beobachtet.  Er  läßt  sich  von  einer  Respektsperson  als  reeeptaculum  seminis 
benützen.  (Starker  Wunsch,  Lehrern  Fellati 0  zu  machen  oder  sich  päderastieren 
zu  lassen!)  Er  ist  im  Mutterleibe  und  wird  vom  Vater  päderastiert  oder 
felliert.  Oder  er  ist  selbst  der  Vater,  er  identifiziert  sich  mit  dem  Vater,  dann 
sucht  ei-  junge  Knaben,  welche  ihn  selbst  repräsentieren. 

Man  wird  aber  einsehen,  daß  diese  Phantasien  so  weit  von  der  Realität 
abweichen,  als  es  überhaupt  möglich  ist.  Er  ist  nicht  imstande,  den  Übergang 
in  die  Realität  zu  finden,  weil  er  immer  wieder  der  Mutterleibsphantasie  er- 
liegt, die  in  Form  der  Klosettbeobachtungen  auftritt. 

Die  Liebe  zum  Vater  erweist  sich  als  die  stärkste 
Wurzel  seiner  Homosexualität.  Er  wollte  seinem 
Vater  die  Mutter  ersetzen.  Er  istin  seinen  Phantasien 
bald  Vater,  bald  Mutter  und  hat  seine  eigene  Indi- 
vidualität nicht  erreicht.  Er  liebt  sich  bald  mit  väterlichen, 
bald  mit  mütterlichen  Gefühlen. 

Aus  verschiedenen  Träumen  hebe  ich  nur  den  einen  hervor.  Er  zeigt 
uns  die  bekannte  Einstellung  zur  Mutter: 

Fahre  mit  meiner  Mutter  aufs  Land,  wo  wir  einige  Tage  zur  Er- 
holung verbleiben  wollen.  Gegend:  Waldgebirge.  Teils  nach  der  Natur, 
teils  aus  früheren  Träumen  bekannte  Bahnfahrt,  Umsteigstelle,  Fuß- 
wanderung. Wundervolle  Wälder  mit  reichblühenden  Bäumen.  Doch  dia 
Blüten  vielfach  braun  gefault,  wie  nach  zu  viel  Regen.  Fliederbüsche, 
doch  schon  arg  zerzaust  vom  Wetter  und  von  plündernden  Menschen.  Der 
Weg  mündet  auf  eine  Bergwiese  mit  der  Aussicht  auf  viele  Villen  im 
Tal.  Ich  erkenne,  daß  wir  uns  vergangen  haben,  wir  hätten 
auf  halbem  Wege  nach  rechts  abzweigen  müssen,  um  an  jenen  Ort  zu  ge- 
langen, wo  wir  uns  dauernd  niederlassen  wollten. 

Es  ist  eine  Liebe,  bei  der  die  Blüten  angefault  sind.  Sie  haben  sich 
vergangen  (man  achte  auf  den  Doppelsinn)  und  sind  vom  rechten  Wege  ab- 
gekommen. 

Sein  Sinnen  in  die  Vergangenheit  erhellt  aber  nicht  nur  aus  seinen 
Träumen.  Er  findet  unter  seinen  Jugendgedichten  eines,  das  vollkommen  der 
Vaterleibsphantasie  entspricht  und  das  von  den  Zeiten  spricht,  als  er  noch 
.,ungeformt  und  leise  im  Vaterschoße  ruhte"  .  .  .  . 


458  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Auf  lKue  Zusammenhänge  bringen  uns  die  nächsten  Tage.  Immer  tastet 
er  die  Vergangenheit  ab  und  träumt  sich  um  viele  Generationen  zurück.  Er  ist 
vornehmer  Abstammung,  ist  gar  nicht  der  Sohn  seines  Vaters,  ist  ein  von 
Zigeunern  ausgetauschtes  Kind,  er  ist  nur  zufällig  in  diese  Familie  hinein- 
geraten. 

Nun  zeigt  es  sich,  daß  zwei  Schicksale  in  der  Familie  viel  besprochen 
wurden,  welche  sein  Leben  determiniert  und  ihm  eine  Angst  vor  dem  Weibe 
erzeugt  hatten.  Das  eine  ist  das  Schicksal  seines  Vaters.  Er  war  vor  der 
jetzigen  Ehe  mit  einer  anderen  Frau  verheiratet,  die  er  auf  frischer  Untreue 
ertappte,  so  daß  er  sich  duellieren  mußte.  Eine  Narbe  auf  der  Stirne  gab 
davon  Kunde.  Ein  Onkel  aber  nahm  sich  das  Leben,  weil  er  erfuhr,  daß  seine 
Frau,  die  er  für  ein  treues  Weib  gehalten,  ihn  betrogen  hatte. 

Diese  Beispiele  standen  schon  als  Knabe  vor  seinen  Augen.  Sie  waren 
furchtbare  Drohungen:    Hüte  dich  vor  dem  Weibe! 

Die  nächsten  Tage  handeln  von  seiner  Angst  vor  dem  Weibe.  Wie  eine 
ewige  Warnung  stehen  das  Schicksal  seines  Vaters  und  seines  Onkels  vor  ihm. 
Schon  in  frühester  Kindheit  setzte  sich  bei  ihm  der  Gedanke  fest:  Hüte  dich 
vor  den  Frauen !  Seine  Mutter  tat  alles,  um  diesen  Gedanken  für  ewige  Zeiten 
zu  fixieren. 

Doch  jede  Angst  ist  die  Angst  vor  sich  selbst.  Die  Angst  vor  den  Frauen 
muß  noch  eine  tiefere  Determination  aufweisen.  Auf  neue  Zusammenhänge 
bringt  uns  der  nächste  Traum : 

Ich  stehe  zur  Abendzeit  auf  der  Straße.  Mir  gegenüber  ist  das 
Pflaster  aufgerissen.  Ein  Wagen  kommt  angefahren.  Er  kommt  aus  der 
Dämmerung,  während  es  die  Straße  hinunter  schon  stark  dunkelt.  Pferd 
und  Kutscher  werden  es  übersehen,  daß  die  Straße  aufgerissen  ist.  Da 
springt  ein  mächtiger  Bär  zur  Warnung  auf  das  Pferd  los,  der  Kutscher 
zieht  die  Zügel  straff  an  sich,  das  Tier  macht  einen  Bogen  um  das  auf- 
gerissene Pflaster,  wendet  auch  den  Kopf  ängstlich  davon  ab  und  lenkt 
dann  wieder  in  die  gerade  Richtung  ein.  Bevor  der  Wagen  in  die  Nacht 
entschwindet,  springt  noch  einmal  der  starke  Bär  an  ihm  hinauf. 

Ich  bin  heftig  darüber  entrüstet,  daß  man  so  wilde  Tiere  zur 
Warnung  ausschickt.  Es  könnten  kleine  Kinder  auf  dem  Wagen  sein, 
die  vor  Schreck  der  Schlag  trifft. 

Jeder  Satz  in  diesem  Traume  ist  ein  psychischer  Verrat.  Der  Traum 
schildert  seine  Lebensfahrt.  Eine  Hälfte  der  Straße  ist  aufgerissen  und  un- 
fahrbar.  Er  kann  nur  den  homosexuellen  Weg  gehen.  Der  heterosexuelle  ist 
so  aufgerissen,  daß  er  unfahrbar  ist.  Es  ist  dunkel  und  sein  Lebenswagen 
könnte  leicht  auf  diesem  Wege  verunglücken.  Die  Dunkelheit  symbolisiert  das 
Vergessen  der  ursprünglichen  Einstellungen;  der  Kutscher  ist  das  Bewußtsein, 
die  Pferde  sind  die  Triebe. 

Da  warnt  ihn  ein  Bär  vor  dem  Befahren  des  zerstörten  Weges.  Er  Ist- 
empört  über  diese  Form  der  Warnung.  Der  Hinweis  auf  die  kleinen  Kinder 
zeigt,  daß  die  Warnungen  bis  auf  die  Kindheit  zurückgehen,  in  der  er  mit 
einem  Bären  geschreckt  wurde. 

„Es  könnten  kleine  Kinder  auf  dem  Wagen  sein,  die  vor  Schreck  der 
Schlag  trifft",  erzählt  der  Traum.  Als  Kind  hörte  er  immer  wieder  die  Ge- 
schichte vom  Selbstmorde  des  Onkels,  der  sich  wegen  der  Untreue  der  Frau 


Analyse  eines  Homosexuellen.  459 

das  Leben  genommen  hatte.  Mußte  diese  Erzählung  nicht  wie  eine  ewige 
Warnung  vor  den  Frauen  in  seiner  Seele  leben?  Auch  das  Duell  des  Vaters, 
die  vorhandene  Narbe  beeinflußte  ihn  und  füllt  ihn  mit  Furcht  vor  den 
Frauen.1)  Mußte  er  sich  vornehmen,  keiner  Frau  zu  erliegen?  Und  schützte 
ihn  nicht  der  Haß  am  sichersten  gegen  die  gefährliche  Liebe? 

Wer  ist  der  mysteriöse  Bär  des  Traumes?  Natürlich  —  wie  jede  Figur 
des  Traumes  —  er  selbst.  In  ihm  lebt  die  Gewalt  eines  wilden  Tieres.  (Wir 
erinnern  uns,  daß  ein  Traum  in  Schönbrunn  spielte,  dem  Wiener  Tiergarten, 
in  dem  alle  wilden  Tiere  zu  sehen  sind.)  Wir  erinnern  uns  an  Shylock  (das 
Pfund  Fleisch)  und  an  die  verschiedenen  sadistischen  Motive  seiner  Neurose. 

Nun  schreiten  wir  zum  Zentrum  seiner  homosexuellen  Neurose  vor, 
welche  sich  als  mächtiger  Schutzwall  gegen  seine  Verbrechernatur  erweist.  Er 
ist  zuni  Weibe  mit  furchtbarem  Haß  eingestellt.  Er  ist  der  Lustmörder,  der 
"wilde  Bär,  der  sich  auf  die  Frauen  stürzen,  sie  ermorden  und  ihr  Blut  trinken 
will.  Der  Bär  zeigt  ihm  sein  eigenes  Bild  als  furchtbare  Warnung. 

Hüte  dich  vor  den  Frauen!  Da  mußt  du  zum  Mörder  werden.  Bleibe 
lieber  ein  Kind,  freue  dich  an  allem,  was  den  Kindern  Lust  bereitet.  Wehe, 
Wenn  dein  Wagen  die  Straße  fährt,  wo  alle  wilden  Leidenschaften  auf  dich 
lauern,  die  dich  schon  als  Kind  erfüllt  haben.  0  —  wärest  du  nie  geboren  oder 
könntest  du  dein  Leben  als  ein  neuer  Mensch  mit  friedlichen  Trieben  beginnen! 

Blut  ist  sein  einziges  Verlangen.  Sperma,  Urin,  Kot,  sie  sind  ihm  sym- 
bolischer Ersatz  des  Blutes. ') 

Nun  begreifen  wir  erst,  daß  er  kein  Mann  sein  darf  und  ein  Weib  sein 
will.  Seine  große  Aggressionskraft  mündet  in  den  Begriff  des  Mannes.  Alle? 
Passive,  Leidende,  Erduldende  wird  als  weiblich  gewertet. 

Einige  Tage  nach  diesen  Enthüllungen,  die  durch  eine  Fülle  von  Er- 
innerungen gestützt  werden,  bleibt  der  Patient  aus.  Dann  aber  erscheint  er 
und  teilt  mir  mit,  er  habe  bei  einer  Puella  publica  einen  Koitus  vollzogen. 
Er  glaube,  er  könne  nun  seine  Homosexualität  überwinden.  Er  habe  aber  ein 
Telegramm  erhalten,  das  ihn  nach  Dänemark  gerufen  habe. 

Von  seinen  weiteren  Schicksalen  habe  ich  nichts  gehört.  Ist  er  ein  Bi- 
sexueller geworden?  Hat  er  seinen  Infantilismus  überwunden?  Ist  der  aufge- 
rissene Teil  der  Lebensstraße  wirklich  fahrbar  geworden? 

Ich  kann  darauf  noch  keine  Antwort  geben.  Wir  haben  einen  tiefen 
Blick  in  die  Psychogenese  der  Homosexualität  getan  und  gesehen,  wie  viele 
Kräfte  vereint  wirken,  um  diese  Vergewaltigung  der  ursprünglichen  Anlage 
zustandezubringen. 

Heben  wir  die  wichtigsten  Momente  dieser  Krankengeschichte  her 
vor.   Man  kann  sie  in  der  Tat  nur  als  ein  „Bruchstück  einer  Analyse" 
betrachten.  Aber  sie  schreitet  unaufhaltsam  zum  Zentrum  der  Neurose 
vor  und  enthüllt  die  inneren  Einstellungen  des  Kranken,  die  sich  zu 
seinen  bewußten  im  schroffen  Gegensatz  befinden. 


')  Im  Tristan-Traume  (S.  360)  kehren  diese  Reminiszenzen  wieder.  Der  Vater  ist 
der  König  Marke,  der  betrogen  wurde.  Die  Episode,  der  Abreise  des  Vaters  in  diesem 
Traume  erklärt  sich  jetzt  erst.  Er  starb  rechtzeitig,  ehe  er  eine  zweite  Enttäuschung 
in  der  Liebe  erleben  mußte. 

*)  Vgl.  meine  ..symbolischen  Gleichungen"  in  der  „Sprache  des  Traumes":  „Alle 
Sekrete  und  Exkrete  sind  als  Symbole  einander  gleich." 


460 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Dieser  Mensch  trägt  die  Urinstinkte  der  Menschheit  in  sich.  Nicht 
ohne  Grund  gehen  seine  Träume  bis  auf  den  Vaterleib  zurück,  bis  auf 
die  Vorgeschichte  seines  Werdens.  Er  trägt  die  Engramme  versunkener 
Jahrtausende  in  sich,  die  wildesten  Instinkte  des  Urmenschen.  Der 
Phylogenese  seines  Seins  entspricht  die  Ontogenese.  Was  fehlt  ihm  zum 
Urmenschen"?  Er  zeigt  in  seinen  Träumen  und  Phantasien  die  fürchter- 
liche Blutgier,  die  Schrank enlosigkeit  der  Wünsche,  den  brutalen 
Egoismus  einer  längstvergangenen  Zeit.  Es  fehlt  selbst  die  primäre 
Schmutzliebe  der  Menschheit  nicht;  in  der  Krankengeschichte  stoßen 
wir  auf  urolagnistische  und  koprophage  Tendenzen. 

Man  halte  sich  den  Gegensatz  seines  triebhaften  und  kulturellen 
Ich  vor  Augen!  Es  handelt  sich  um  einen  feinen  stillen  Menschen  von 
vornehmem  Charakter,  um  einen  echten  Künstler,  einen  Schätzer  alles 
Schönen,  einen  Menschen,  der  bei  einer  Aufführung  des  Tristan,  vor 
einem  Gemälde,  vor  den  Schönheiten  der  Natur  in  Ekstase  gerät,  der 
befähigt  erscheint,  der  Kunst  einmal  große  Werke  zu  schenken! 

Mit  absoluter  Eindeutigkeit  beweist  dieser  Fall,  daß  meine  An- 
schauung, der  Homosexuelle  repräsentiere  eine  Rückschlagserscheinung, 
richtig  ist.  Andere  Ärzte  werden  von  Degeneration  sprechen.  Ja, 
aber  es  findet  sich- bei  ihm  kein  objektives  Zeichen  körperlicher  De- 
generation, es  findet  sich  nicht  die  pathologische  Aszendenz,  die  eine 
solche  Entartung  prädisponiert.  Dann  wären  alle  Künstler  Degenerierte, 
denn  alle  Künstler  zeigen  dieses  übermächtige  Triebleben,  das  wir  bei 
unserem  Kranken  beobachten  konnten.  Gerade  der  Umstand,  daß 
aller  Fortschritt  der  Menschheit  durch  Individuen  zustande  kommt,  die 
Rückschlagserscheinungen  repräsentieren,  sollte  uns  bewegen,  mit  dem 
Begriff  der  Entartung  vorsichtiger  umzugehen  und  für  jene  Fälle  zu 
reservieren,  in  denen  körperliche  Degenerationszeichen  und  moralische 
Minderwertigkeit  eine  unzweideutige  Sprache  reden. 

Wir  stehen  hier  dem  Phänomen  des  Urhasses  gegenüber,  der  die 
Ventile  der  Seele  zu  sprengen  droht  und  nach  Entladung  verlangt.  Ein 
Teil  des  Hasses  mag  sich  in  Liebe  verwandeln  und  solche  Menschen 
die  Wege  der  Propheten,  Religionsstifter,  Volksfreunde,  Philantropen 
wandeln  lassen.  Ein  anderer  bleibt  bestehen  und  besetzt  infantile 
Positionen. 

Wie  ist  Sigma  bewußt  eingestellt?  Mit  Liebe  zu  den  Männern,  mit 
Gleichgültigkeit  zu  den  Frauen,  mit  Haß  zu  dem  Vater  und  mit  bi- 
polarer Schwankung  zu  seiner  Mutter.  (Liebe  und  Haß.)  Im  Un- 
bewußten aber  liebt  er  den  Vater  und  haßt  alle  Frauen,  vielleicht  weil 
er  sie  lieben  muß.  Die  normale  Einstellung  verlangt  die  Projektion  der 
Liebesempfindung  in  bipolarer  Form  auf  das  jeweilige  Liebesobjekt. 
Man  liebt  und  haßt  einen  Menschen  zugleich.    Er  aber  haßt  nur  die 


Analyse  eines  Homosexuellen.  4g  i 

Frauen!    Wie  mag  es  zu  dieser  Umformung  des  Urhasses  gekommen 
sein?  Warum  kann  er  eich  zu  den  Frauen  nicht  bipolar  einstellen? 

Wir  müssen  weit  auf  seine  ersten  Kinderjahre  zurückgehen,  um  zu 
erkennen,  daß  er  den  Vater  liebte  und1  auf  die  Mutter  eifersüchtig  war. 
Alle  Frauen  waren  damals  Rivalinnen  in  der  Liebe  zu  seinem  Vater.  Er 
aber  wollte  ein  Weib  sein,  ein  Weib,  das  der  Vater  hebte.  Diese  Vater- 
imago  suchte  er  noch  heute  in  allen  Lehrern,  älteren  Freunden,  Vorge- 
setzten. Zu  diesen  muß  er  sich-  notgedrungen  homosexuell  einstellen, 
wenn  er  nicht  imstande  ist,  die  infantilen  Konstellationen  zu  über- 
winden. Was  er  als  Mutterliebe  innehat,  geht  auf  die  Identifizierung  mit. 
dem  Vater  zurück.  Von  ihm  hat  er  das  stille,  scheue,  duldende  Wesen. 
die  Passivität,  hinter  der  sich  eine  übergewaltige  Aggressivität  ver- 
birgt. Diese'  infantile  Einstellung  bedingt,  daß  sich  alle  infantilen 
Sexualregungen  in  seine  vita  sexualis  drängen. 

Wie  kann  die  Heilung  Zustandekommen?  Er  muß  erkennen,  daß  er 
nie  das  Verbrechen  ausführen  wird,  zu  dem  es  ihn  bei  den  Frauen 
drängt.  Er  muß  seine  Liebe  wieder  in  bipolarer  Gestalt  den  Frauen  und 
den  Männern  zuwenden.  Seine  reichen  seelischen  Antriebe  werden  es 
ihm  ermöglichen,  die  bisher  arg  vernachlässigte  seelische  Komponente 
der  Liebe  den  Frauen  zuzuwenden.  Vor  der  Analyse  strömte  alles 
Erotische  den  Freunden  zu.  Die  Heilung  führt  über  die  Eroberung  des 
Weibes  als  Freundin.  Erst  Freundin,  dann  erst  —  nach  langem  Suchen 
und  Kämpfen  —  die  Geliebte.  Er  muß  Vater  einem  fremden  Weibe 
gegenüber  werden. 

Ob  die  Analyse  der  richtige  Weg  ist?  Wer  wüßte  denn  jetzt  einen 
anderen  ?  Was  wäre  mit  Ablenkung,  mit  Strafe,  mit  Erziehung,  mit 
Hypnose  zu  leisten?  Nur  über  die  grausame  Selbsterkenntnis  der  Ur- 
triebe  und  des  Urhasses  kann  die  Urliebe  über  ihn  Gewalt  gewinnen. 
Diese  Urliebe  hatte  sich  ganz  auf  die  eigene  Person  konzentriert. 

Wie  alle  Homosexuellen  liebte  er  nur  sich.  Auch  diese  Eigen- 
schaft teilte  er  mit  den  Urmenschen.  Kannte  der  Urmensch  eine  andere 
Liebe  als  die  zu  sich  selbst?1) 

Ich  habe  schon  betont,  daß  die  Urninge  sich  suchen  und  dann 
eine  andere  Person  spielen  oder  daß  sie  in  dem  Manne  andere  Spiegel- 
bilder der  Kindheit  finden  wollen.  Das  Gleiche  gilt  für  die  Urlinden. 
Lieben  heißt  wohl  immer  sich  in  dem  anderen  finden.  Aber  warum 
finden  die  Urninge  sich  nicht  in  dem  weiblichen  Spiegelbilde?    Nicht 

J)  Rafialovich,  der  ein  kleines  Büchlein  über  „Die  Entwicklung  der  Homosexua- 
lität" (Berlin  1895)  geschrieben  hat,  sagt  in  den  paar  Seiten  seiner  Abhandlung  mehr 
Wahrheiten  als  andere  Autoren  in  dickleibigen  Folianten.  So  findet  sich  bei  ihm  der 
Satz:  „Es  gibt  keine  Grenzlinie  zwischen  Heterosexuellen  und  Homosexuellen."  Er 
betont  die  Eigenliebe  der  Homosexuellen.  „Sie  haben  die  Leidenschaft  der  Ähnlichkeit." 


■ 


462  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

für  alle  Fälle  läßt  sich  diese  Frage  gleichartig  beantworten.  Bei  den 
letzten  zwei  analysierten  Fällen  kommt  in  Betracht,  daß  sie  sich  als 
häßlich  bezeichneten.  Dem  Weibe  gegenüber  hatten  sie  ein  Gefühl  der 
Minderwertigkeit  und  des  Neides.  Die  Selbstliebe  stieß  immer  auf 
diese  Häßlichkeit  und  fürchtete  die  Niederlage  beim  Weibe.  Wie  konnten 
sie  mit  ihrer  Häßlichkeit  sich  die  Eroberung  eines  Weibes  zutrauen? 
Wie  die  Rolle  eines  Don  Juan  spielen,  zu  der  sie  die  latente  Homo- 
sexualität getrieben  hätte?  Unter  Männern  stand  Männerschönheit 
nicht  in  Frage.    Da  kam  es  auf  die  Gestaltung  der  Genitalien  an. 

Wenn  jede  Liebe  ein  Messen  der  Genitalien  sein  sollte,  so  konnte 
sich  der  Kranke  Delta  (Nr.  86)  mit  jedem  messen.  Er  hatte  den  lächer- 
lichen Stolz  auf  den  großen  Penis,  den  so  viele  Männer  zeigen.  Seine 
ganze  Sexualität  konzentrierte  sich  auf  dies  Symbol  der  Männlichkeit. 
Ganz  anders  bei  Sigma,  bei  dem  der  Penis  eine  nebensächliche  Rolle 
spielte.  Sieht  Sadger  in  dem  Narzissmus  die  Liebe  zu  den  eigenen 
Genitalien,  so  könnte  ihm  der  erste  Fall  recht  geben,  der  zweite  zeigt 
gar  keine  Spur  dieser  Penisliebe. 

In  seiner  Broschüre  „Das  Problem  der  Homosexualität"  (Ernst 
Reinhardt,  München  1917)  sucht  Adler  das  Gemeinsame  bei  allen  Para- 
philien  (dazu  rechnet  er  Sadismus,  Masochismus,  Masturbation,  Feti- 
schismus, Homosexualität  usw.)  in  folgenden  Erscheinungen:  1.  Jede 
Perversion  ist  ein  Ausdruck  einer  vergrößerten  seelischen  Distanz 
zwischen  Mann  und  Frau.  2.  Sie  deutet  gleichzeitig  eine  Revolte  gegen 
das  Einfügen  in  die  normale  Geschlechtsrolle  an  und  äußert  sich  als 
ein  planmäßiger,  aber  unbewußter  Kunstgriff  zur  Erhöhung  des 
eigenen  gesunkenen  Persönlichkeitsgefühles.  3.  Niemals  fehlt  dabei  die 
Tendenz  der  Entwertung  des  normal  zu  erwartenden  Partners.  4.  Per- 
versionsneigungen der  Männer  erweisen  sich  als  kompensatorische  Be- 
strebungen, die  zur  Behebung  eines  Gefühles  der  Minderwertigkeit 
gegenüber  der  überschätzten  Macht  der  Frau  eingeleitet  und  erprobt 
werden  ....  5.  Perversion  erwächst  regelmäßig  aus  einem  Seelenleben, 
das  durchwegs  Züge  verstärkter  Uberempfindlichkeit,  überstiegenen 
Ehrgeizes  und  Trotzes  aufweist  .  .  .  Mangel  tieferer  Kameradschaft- 
lichkeit, gegenseitigen  Wohlwollens."  —  Sehr  treffend  bemerkt  Paul 
Federn  in  der  Int.  Zeitschr.  f.  Psychoanalyse,  Bd.  V,  H.  3:  „Adler  ist 
noch  so  sehr  bestrebt,  seinen  eigenen  Fund  immer  wieder  vor  vAugen 
zu  führen,  daß  er  darüber  vergißt,  daß  doch  derselbe  überall  wieder- 
kehrende Ursachenkomplex  —  ohne  Kombination  mit  anderen  Ur- 
sachen —  nicht  imstande  sein  kann,  alle  Neurosenarten,  Angstzustände, 
Verstimmungen  und  noch  mehr,  zu  erklären.  An  dieser  mangelnden 
Selbstkritik  und  an  dieser  Übertreibung  ist  die  eigene  Sicherungs- 
tendenz des  Autors  gegen  alles,  was  Freud  mittelst  Psychanalyse  ent- 


r 


Analyse  eines  Homosexuellen.  4.(53 

deckt  hat,  schuld.  Er  geht  so  sehr  darauf  aus,  die  durch  die  psych- 
analytische Methode  aufgedeckte  und  in  jedem  einzelnen  Falle  wieder 
aufzufindende  infantile  libidinöse  Komponente  nicht  zu  finden,  daß 
er  sie  selbst  dort  leugnet,  wo  sie  manifest  geblieben  ist.  Das  Studium 
der  kindlichen  Sexualität  verlangt  vorurteilsfreie  Beobachter;  solche 
werden  sie  in  jedem  Falle  feststellen." 

Der  erste  Fall  weist  die  Mechanismen  yon  Adler  auf,  der  zweite 
deutet  sie  kaum  an.  Man  ersieht  daraus,  wie  leicht  es  möglich  ist, 
durch  eine  einseitige  Auswahl  der  Fälle  eigene  Annahmen  zu  be- 
weisen. x)  Es  ist  klar,  daß  jeder  ehrliche  Forscher  irgend  einer  Wahr- 
heit nahegekommen  ist.  Es  handelt  sich  immer  um  Querschnitte  durch 
die  Figur  der  Homosexualität.  Aber  ein  Querschnitt  gibt  nur  das 
Bild  der  Schnittfläche.  Erst  die  Vereinigung  aller  dieser  Schnitte 
kann  uns  das  Bild  der  Figur  rekonstruieren. 

In  beiden  Fällen  wirkten  infantile  Eindrücke  mit,  um  eine  dauernde 
Angst  vor  dem  Weibe  und  vor  der  heterosexuellen  Liebe  zu  formen. 
Delta  war  als  Kind  Zeuge  einer  unglücklichen  Ehe,  Sigma  hörte  von 
der  Falschheit  und  Treulosigkeit  der  Frauen.  Beiden,  gemeinsam  war 
auch  der  starke  Sadismus,  den  wir  in  allen  analysierten  Fällen  von 
Homosexualität  konstatieren  konnten. 

Wir  kommen  somit  zu  einer  einheitlichen  Formel  der  männ- 
lichen Homosexualität,  die  sich  in  verkehrter  Form  auch  für  die 
Frauen  anwenden  läßt: 

Die  homosexuelle  Neurose  ist  eine  durch  die 
sadistische  Einstellung  zum  entgegengesetzten 
Geschlechte  motivierte  Flucht  in  das  eigene  Ge- 
schlecht.2) 


*")  Zu  ähnlichen  Resultaten  ist  auch  Kläsi  (1.  c.)  gekommen. 

2)  Eine  vollständige  Analyse  eines  Homosexuellen,  die  sehr  deutlich  die  sadi- 
stische Komponente  der  Homosexualität  aufweist,  findet  sich  in  Band  IV  (Die  Im- 
potenz de6  Mannes)  im  Kapitel  „Impotenz  und  Homosexualität". 


Die  Homosexualität. 

XIV. 
Ergänzungen. 

Bei  der  Erklärung  der  Liebe  muß  ein 
physikalisches  Phänomen,  oder  ein  historisches 
Faktum  angenommen  werden.  Ist  es  Sympathie, 
wie  der  dumme  Magnet  das  rohe  Eisen  anzieht? 
Oder  ist  eine  Vorgeschichte  vorhanden, 
deren  dunkles  Bewußtsein  ans  blieb 
,  und  in    unerklärlicher  Anziehung    und 

Abstoßung  sich  ausspricht?        Heine. 

Einen  interessanten  Fall  von  weiblicher  Homosexualität  ver- 
öffentlicht Freud  in  seiner  Arbeit  „Über  die  Psych ogenese 
eines  Falles  von  weiblicher  Homosexualität". 
(Int.  Z.  f.  P.  A.  B.  VI.  H.  1.  1920) .  Es  handelt  sich  um  ein  18jähriges 
Mädchen,  das  eine  leidenschaftliche  Liebe  zu  einer  bekannten  Kokotte 
faßte,  welche  auch  als  Urlinde  bekannt  war.  Sie  verehrte  und  bemit- 
leidete diese  Dame.  Es  war  ihr  größtes  Vergnügen,  sich  mit  dieser 
„Dame"  öffentlich  zu  zeigen.  Sie  ging  mit  ihr  auf  eine  Promenade,  wo  sie 
der  Vater,  der  diesen  Umgang  streng  tadelte  und  sie  schon  einmal 
für  eine  homosexuelle  Schwärmerei  gezüchtigt  hatte,  treffen  mußte. 
Bei  der  arrangierten  Begegnung  warf  ihr  der  Vater  einen  zornerfüllten 
Blick  zu,  worauf  sie  sich  über  die  Mauer  in  den  Schacht  einer  Eisenbahn 
warf  und  schwer  verletzte.  Nach  ihrer  Wiederherstellung  wurde  sie  auf 
Wunsch  der  Eltern  einer  Analyse  unterzogen,  die  folgende  Tatsachen 
zutage  förderte.  Mit  13  und  14  Jahren  zeigte  sich  eine  übertrieben 
starke  Vorliebe  für  einen  dreijährigen  Jungen,  was  auf  deutliche  Mutter- 
gefühle schließen  ließ.  Dies  Interesse  ließ  nach,  als  die  Mutter  gravid 
wurde  und  einen  dritten  Bruder  zur  Welt  brachte.  Sie  war  damals 
schon  16  Jahre  alt.  Da  ging  in  ihr  eine  Wandlung  vor  sich.  Sie  begann 
eich  für  jugendliche  Frauen  zwischen  30  und  35  Jahren  zu  inter- 
essieren und  sie  zu  verehren.  Es  waren  dies  Mutter-Imagines.  Die 
Kokotte  war  wohl  keine  Mutter  aber  soll  die  Züge  des  geliebten  älteren 
Bruders  tragen.    Den  Selbstmordversuch  sieht  Freud  als  Zeichen  einer 


_ 


Ergänzungen.  4g5 

Mordabsicht  an  und  schließt  sich  meiner  Formel  an,  die  ich  zuerst 
in  meinem  Beitrag  zu  den  „Diskussionen  des  Wiener  psychoanalytischen 
Vereines  „Über  den  Selbstmord,  insbesondere  über  den  Schülerselbst- 
mord" (I.  F.  Bergmann,  Wiesbaden  1910)  ausgesprochen  habe:  „Nie- 
mand tötet  sich  selbst,  der  nicht  einen  anderen  töten  wollte."  Der 
Selbstmord  ist  die  selbst  diktierte  Strafe  für  Todeswünsche  oder 
Mordimpulse. 

Wem  sollen,  diese  Mordimpulse  gegolten  haben?  Freud  glaubt 
wohl  der  Mutter,  von  der  sich  das  Mädchen  in  Eifersucht  abwandte. 
Ich  glaube  auch  dem  Vater,  den  sie  mit  diesen  Liebschaften  tödlich 
treffen  und  verletzen  wollte.  Es  scheint  mir,  daß  der  Selbstmord  in  dem 
Momente  ausgeführt  wurde,  als  ihr  klar  wurde,  wie  sie  den  Vater  liebte 
und  wie  weh  sie  ihm  getan  hatte.  Sie  verliebte  sich  in  die  verschiedenen 
weiblichen  Objekte,  um  dem  Vater  zu  zeigen,  wie  Frauen  aussehen,  die 
man  lieben  könne.  Auch  die  Angst  vor  Gravidität  und  die  rechtzeitige 
Einstellung  gegen  eine  Gravidität  scheint  von  großer  Bedeutung  zu 
sein.  Freud  sucht  nach  den  psychischen  Ursachen  ihres  Ausweichens 
in  das  Homosexuelle  und  kann  sie  nicht  finden.  Er  verweist  auf  die 
Forschungen  von  Steinach  und  gesteht,  daß  die  Psychanalyse  allein 
nicht  imstande  ist,  das  Rätsel  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  voll- 
kommen zu  lösen.  (!)  Diese  Erklärung  mag  er  für  sich  und  seinen 
engeren  Kreis  abgeben.  Ich  stehe  auf  dem  Standpunkte,  daß  sich  das 
Rätsel  der  Homosexualität  nur  psychisch  lösen  läßt,  da  körperliche 
Bisexualität  und  körperliche  Merkmale  des  entgegengesetzten  Ge- 
schlechtes -  wie  auch  Freud  zugibt  -  bei  Heterosexuellen  vorkommen 
wahrend  Homosexuelle  oft  Vollmänner  und  Vollweiber  in  ieder  Hin- 
sicht des  Wortes  sind. 

Befassen  wir  uns  noch  einmal  mit  der  Patientin  von  Freud 
Mot  ve    ?Th       rCh,die  HÜllen  ^  Leidenß«ten  die  tieferen 

Kinde  den  Tod  gewünscht  zu  haben.  Das  erklärt  ihre  Liebe  zu  jungen 
Muttern.  Eine  Mutter  imd  ein  Kind  haßte  sie  und  als  Kom- 
pensation zeigte  sie,  »daß  sie  andere  Mütter  und  andere  Kinder  lieben 
konnte. 

Da  der  Vater  sie  nicht  beachtete  und  die  Mutter  gravid  machte, 
bestrebte  sie  sich  immer  wieder,  ihm  andere  Liebesobjekte  in  den 
Kreis  seiner  Beobachtung  zu  stellen.  Jede  junge  Frau,  in  die  sie  sich 
verliebte,  sollte  dem  Vater  sagen:  „Siehst  du  nicht,  wie  schön  andere 
sind?" 

Sie  identifizierte  sich  mit  dem  Vater  und  fand  jede  fremde  Frau 
schöner  als  die  Mutter.  Auch  die  Liebe  zu  den  Kokotten  hatte  den 
geheimen  Sinn:   Dirnen  bekommen  keine  Kinder.  Wieder  eine  Mahnung 

Stekol,  Störungen  dos  Trieb-  und  Affoktlubons.  IT.  2.  Aufl.  dq 


466  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

an  den  Vater.  Kannst  du  nicht  lieber  zu  Dirnen  gehen,  als  der  Mutter 
ein  Kind  machen,  das  mir  ein  lästiger  Konkurrent  in  der  Liebe  meiner 
Eltern  wird? 

Freud  sucht  immer  nach  den  infantilen  Traumen  und  übersieht 
ein  sehr  schweres  Trauma  seiner  Patientin,  60  daß  er  es  nicht  in 
Rechnung  stellt.  Die  Kranke  wurde  mit  16  Jahren  von  ihrem  (eifer- 
süchtigen!) Vater  für  eine  homosexuelle  Schwärmerei  empfindlich  ge- 
züchtigt. Man  stelle  sich  ein  ehrgeiziges,  etwas  männlich  geartetes, 
6tolzes,  kampfbereites  Wesen  vor,  dem  im  erwachsenen  Alter,  wo  man 
nur  nach  einem  Ziel  tendiert:  Dame  zu  sein  —  eine  solche  Demütigung 
bereitet  wird!  Mußte  diese  Patientin  nicht  einen  tödlichen  Haß  gegen 
den  Vater  hegen  und  ihm  den  Tod  wünschen?  Mußte  sich  dieser  Haß 
nicht  auf  alleMänner  übertragen?  Mußte  sienichtzumSclilussekommen: 
alle  Männer  sind  roh  und  gewalttätig  und  wollen  über  uns  triumphieren, 
uns  beherrschen,  uns  demütigen,  wenn  schon  das  Ideal  aller  Männer 
—  ihr  Vater  —  sie  so  schmachvoll  behandeln  konnte?  Mußte  sie  nicht 
in  die  Frauenliebe  flüchten?  Welches  Mädchen  von  16  Jahren  macht 
nicht  ihre  homosexuelle  Schwärmerei  durch?  Aus  Trotz  gegen  den  Vater 
hielt  sie  an  dieser  Einstellung  fest  und  übertrug  diesen  Trotz  auf  alle 
Männer,  auch  auf  den  Analytiker.  Freud  trat  dann  diese  Kranke  einem 
weiblichen  Arzt  ab.  Das  kommt  mir  wie  eine  Kapitulation  vor.  Sache 
des  Analytikers  wäre  es  gewesen,  diesen  Trotz  zu  entlarven,  den  Haß 
in  Liebe  zu  konvertieren  und  den  Weg  zum  Manne  frei  zu  machen. 

Diese  Kranice  hatte  ein  großes  Geheimnis,  das  sie  sich  nicht 
gestehen  wollte :  ihre  heterosexuelle  Liebe  zu  ihrem 
Vater.  Die  identische  Einstellung  verwendete  sie  gegen  den  Ana- 
lytiker. Es  wäre  eben  die  schwierige  Aufgabe  der  Analyse  gewesen, 
ihr  den  Haß  gegen  die  Mutter  (vielleicht  Todeswünsche  bei  der  Ge- 
burt) und  den  Haß  gegen  den  Vater  und  die  ursprünglich  sadistische 
Anlage  gegen  alle  Mütter  (Folge  ihrer  Eifersucht!)  aufzulösen  und 
sie  sehend  zu  machen.    Diese  Aufgabe  ist  nicht  gelungen.1) 

Man  wird  immer  die  Beobachtung  machen  können,  daß  Ana- 
lysierte, die  sich  irgend  eine  Liebe  —  aus  Stolz!  —  nicht  eingestehen 
wollen,  diese  Einstellung  auch  gegen  den  Arzt  beibehalten  und  das 
immer  eintretende  Phänomen  der  Übertragung  nicht  zugeben  wollen. 
Sie  gestehen  es  sowohl  s  i  c  h  als  auch  dem  Arzte  nicht  ein ! 

Sie  verbergen  diese  Liebe  vor  ihrem  Bewußtsein  und  ergreifen 
lieber  die  Flucht,  ehe  sie  sich  entlarven  lassen.    Besonders  weibliche 


*)  Bedauerlich  ist,  daß  Freud  die  Träume  dieser  Patientin  nicht  mitteilt,  sondern 
die  Bemerkung  macht,  daß  aus  einer  Reihe  von  wohlgedeuteten  Träumen  die  folgenden 
Erkenntnisse  geschöpft  wurden. 


■ 


Ergänzungen.  467 

Homosexuelle  sind  stets  bereit,  die  Übertragung  zu  verdrängen  und 
mit  Gleichgültigkeit,  Abneigung,  Sympathie  usw.  zu  maskieren. 

Auch  männliche  Homosexuelle,  die  mit  ihrem  Vater  in  Feindschaft 
leben,  wollen  oft  die  "Übertragung  nicht  eingestehen,  obwolü  sie  sonst 
bereit  sind,  sich  in  jeden  Arzt  zu  verlieben.  Sie  finden  den  Arzt  z.  B. 
zu  alt,  zu  häßlich,  zu  unsympathisch. 

Diese  Einstellung  stammt  gleichfalls  aus  infantilen  Quellen  und 
wiederholt  eine  infantile  Attitüde.  Sie  wollten  sich  auch  die  homo- 
sexuelle Liebe  zum  Vater  nicht  eingestehen. 

In  der  Psychotherapie  gibt  es  keine  alleinseligmachende  Methode 
und  der  Arzt  muß  im  Kampfe  mit  dem  Homosexuellen  alle  Feinheiten 
und  Finten  anwenden,  um  zum  Ziele  zu  gelangen.  In  dieser  Hinsicht  ist 
der  Fall  sehr  lehrreich,  den  ich  in  der  Wiener  Gesellschaft  der  Ärzte 
am  25.  Juni  1920  vorgestellt  habe. 

Ich  zitiere  das  offizielle  Protokoll.    (Wiener  klin.  Wochenschrift 

1920,  S.  618)  : 

Fall  Nr.  88.  Es  handelt  sich  um  einen  39jährigen  Serben,  der  mir  von 
einem  Belgrader  Kollegen  zur  psychotherapeutischen  Behandlung  überwiesen 
wurde.  Da  der  Patient  nur  wenig  Deutsch  verstand,  wollte  ich  ihn  erst  nicht 
in  Behandlung  nehmen.  Ich  entschloß  mich  dazu  nur  über  sein  dringendes 
Bitten  und  weil  er  meinte,  er  habe  schon  einmal  ziemlich  gut  Deutsch  ge- 
sprochen und  werde  sich  bemühen,  seine  alten  Kenntnisse  rasch  wieder  zu 
erwerben.  Aus  dem  Kriegsspital  VI  war  mir  die  enorme  Suggestibihtat  der 
slawischen  Rasse  bekannt,  da  ich  sehr  viele  Zitterneurosen  und  Falle  von 
Mutismus  durch  Hypnose  geheilt  hatte,  ohne  mich  mit  den  Patienten  fließend 
verständigen  zu  können. 

Ich  legte  mir  für  den  Fall  ein  eigenes  Verfahren  zurecht:  eine  Kom- 
bination von  analytischer  Erforschung  (vertiefter  Anamnese)  und  suggestiver 
Beeinflussung.  Der  Kranke  war  nicht  hypnotisierbar  wie  alle  Fälle  von 
Homosexualität,  die  ich  zu  behandeln  Gelegenheit  hatte.  Dagegen  war  er 
der  analytischen  Forschung  ziemlich  leicht  zugänglich.  Er  berichtete,  daß 
seine  homo'sexuelle  Einstellung  seit  der  Kindheit  bestand.  Er  hatte  immer 
onaniert  mit  der  Phantasie,  mit  einem  gigantischen  Phallus  zu  spielen. 

Seine  Phantasien  und  Träume  beziehen  sich  nur  auf  Männer  und  ihren 
Phallus.  Er  hat  nie  eine  Empfindung  bei  Frauen  gehabt,  nie  einen  Pollutions- 
traum, der  sich  mit  Frauen  beschäftigte,  bekanntlich  nach  Näcke  das  sicherste 
Kennzeichen  einer  „angeborenen  Homosexualität".  Seit  dem  14.  Lebensjahre 
habe  er  mit  Männern  verkehrt,  nie  Päderastie  betrieben,  die  Akte  beschränkten 
sich  auf  gegenseitiges  Spielen  mit  den  Geschlechtsteilen.  Seit  dieser  Zeit 
hatte  er  immer  Verhältnisse  mit  Männern,  immer  ein  brennendes  Verlangen, 
mit  Männern  zu  spielen.  Wenn  ihm  keine  Freunde  zur  Verfügung  standen,  so 
onanierte  er  mit  der  Phantasie  von  einem  gigantischen  Phallus. 

Alle  Versuche,  mit  Frauen  zu  einem  sexuellen  Verkehr  zu  gelangen, 
mißlangen.  Es  kam  zu  keiner  Erektion,  er  zitterte  am  ganzen  Körper, 
hatte  profusen  Schweißausbruch.  Im  besten  Falle  kam  er  zu  einer  Ejaculatio 
ante  vaginam  ohne  einen  Orgasmus. 

30* 


i 


468     y  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Er  machte  den  ganzen  Krieg  als  Soldat  mit,  auch  den  Rückzug  aus 
Albanien.  Wahrend  des  ganzen  Krieges  (1914  bis  1919)  nur  Onanie,  keine 
homosexuellen  Akte,  weil  er  keinen  Freund  finden  konnte. 

Seit  der  Rückkehr  aus  dem  Felde  bestanden  schwere  Depressionen  und 
Suizidgedanken  da  neuerliche  Versuche,  mit  Frauen  zu  verkehren,  mißlangen 
Die  analytische  Erforschung  dieses  Falles  ergab  folgende  Tatsachen:' 
Er  wuchs  m  männlicher  Gesellschaft  auf,  da  sejne  Mutter  starb,  als  er  noch 
nicht  ganz  zwei  Jahre  alt  war.  Den  Haushalt  betreute  ein  alter  Diener.  Im 
siebenten  Lebensjahre  wurde  er  von  seinem  um  fünf  Jahre  älteren  Bruder  ins 
fl  gS?Ten-'  Ta£f  der  Bruder  mit  seinen  Genitalien  spielte  und  ihm 
SSLfSX8  t\       ??ndiab'  d6r  ihm  damals  enorm  ^oß  erschien.    Das 

t  Z L  *  ge-  l  \  Der  Beginn  der  °nanie  'ßchloß  sich  a"  diese  P«iode. 
Er  erinnert  sich  auch  an  eine  flüchtige  heterosexuelle  Episode,  die  einzige 

ITmZ  a    Er  fPiflte  ^  Zehnten  ^^jahre  mit  seiner  Kusine  Vater 

und  Mutter  und  wurde  bei  diesem  Spiele  sexuell  erregt. 

c.  J"  de/  Analyse  trat  zutage,  daß  er  immer  wieder  das  Erlebnis  mit 
seinem  Bruder  zu  reaktivieren  trachtet.  Dieses  Erlebnis  spielt  auch  in  seinen 
Unaniephantasien  eine  große  Rolle. 

t™  J5  ?en  F,ralen,  hatte  er  iene  ängstlich?  Einstellung,  welche  Kläsi  als 
;'nXr  ^  b+ezejchnet-  (Beitrag  zur  Differentialdiagnose  zwischen 
angeborener  und  hysteriform  erworbener  Homosexualität.    Zschr.  f.  Neur.  u. 

TA  T'  ?  VV1"  2/3i  KläSi  Siebt  in  der  A^et  vor  der  Impotenz  dl 
Ursache  der  „hystenformen  Homosexualität"  und  übersieht,  daß  diese  Angst 
der  sadistischen  Einstellung  zum  Weibe  entspringt,  wie  ich  sie  in  meinem 
.  Buche  Onanie  und  Homosexualität"  nachgewiesen  habe.  Diese  sadistische 
Einstellung  welche  zur  Angst  vor  sich  selbst  führt,  war  in  diesem  Falle  sehr 
deutlich  und  durch  die  Erlebnisse  des  Krieges  verstärkt  worden. 

Mlt  der  analytisch-aufklärenden  Behandlung  kombinierte  ich  eine  Sugge- 
stivbehandlung. (Hydrotherapie,  Psychrophor,  durch  den  ein  faradischer  Strom 
geleitet  wurde.) 

In  den  ersten  zwei  Wochen  klagte  Patient,  daß  er  in  Gegenwart  seiner 
l'reunde  an  Erektionen  leide.  Es  wurde  ihm  Frauengesellschaft  angeraten 
und  verboten,  sich  mit  Männern  einzulassen,  wozu  er  großes  Verlangen  fühlte 
In  der  dritten  Woche  berichtete  er,  daß  das  erste  Mal  im  Leben  bei  einem 
bpaziergang  mit  einer  Dame,  die  er  kennen  gelernt  hatte,  eine  Erektion  auf- 
getreten war.  Es  wurde  der  bekannte  Kunstgriff  angewendet,  ihm  in  dem 
Stadium  der  Behandlung  einen  Koitus  zu  verbieten,  was  sehr  oft  zu  einer 
Übertretung  des  Verbotes  und  zu  einem  voUen  Erfolg  führt  So  war  es 
auch  m  diesem  Falle.  Er  kam  triumphierend  zu  mir  und  erzählte,  daß  er 
innerhalb  kurzer  Zeit  den  Koitus  dreimal  mit  gutem  Erfolg  und  mit  großem 
Orgasmus  ausgeführt  hatte.  • 

Seit  diesem  Erfolg  besteht  große  Neigung  zu  Frauen,  Selbstvertrauen 
Verlangen   nach  einer   Ehefrau;    weitere  Versuche  gelangen   alle     Die  De- 
pressionen sind  geschwunden,  er  fährt  nach  Hause  mit  der  Absicht   eich  sehr 
bald  zu  verheiraten. 

Der  Fall  ist  deshalb  so  wichtig,  weil  er  beweist,  daß  es  eine 
Psychogenie  der  Homosexualität  gibt,  und  daß  wir  uns  hüten  müssen, 
die  Homosexualität  im  Sinne  der  Forschungen  von  Steinach  und  der 
operativen  Erfolge  von  Lichtenstern,  in  jedem  Falle  operativ  anzugehen. 


Ergänzungen.  4ß9 

Es. empfiehlt  sich,  die  Operation,  deren  suggestive  Wirkung  bisher  nicht 
diskutiert  wurde,  erst  nach  Mißlingen  einer  sachgemäßen  psychothera- 
peutischen Behandlung  anzuempfehlen. 

Dieser  Fall  entscheidet  die  Diskussion  zwischen  Kräpelin  und 
Magnus  Hirschfeld,  der  im  Gegensatz  zu  Kräpelin  die  Homosexualität 
als  einen  endogen  bedingten  Zustand  ansieht  (das  dritte  Geschlecht), 
zugunsten  Kräpelins.  Was  wäre  aus  dem  Patienten  geworden,  wenn  er 
zum  Beispiel  zu  Hirschfeld  oder  Blüher  gekommen  wäre?  Sie  hätten 
ihn  auf  die  Bahn  der  Homosexualität  gedrängt,  die  heterosexuelle 
Komponente  seines  Wesens  wäre  nie  zum  Vorschein  gekommen,  die 
Depressionen  hätten  sich  wahrscheinlich  verstärkt.  Die  bisexuelle  Seite 
des  Mannes  gestattet  immer  ein  Ausweichen  nach  der  homosexuellen 
Seite,  eine  Erscheinung,  die  im  Kriege  häufig  beobachtet  wurde. 


Diesem  Sitzungsberichte  der  „Wiener  klin.  Wochenschrift"  möchte 
ich  noch  einige  Worte  hinzufügen.  Ich  stehe  und  falle  mit  der  Ansicht, 
daß  es  eine  Psychogenese  der  Homosexualität  gibt,  daß  die  Hypothese 
Hirschfelde  von  der  angeborenen  Homosexualität  ein  wissenschaftliches 
Märchen  und  sogar  ein  sehr  gefährliches  wissenschaftliches  Märchen 
ist.  Ich  halte  alle  Operationen  an  Homosexuellen  für  überflüssig,  grau- 
sam und  wissenschaftlich  nicht  indiziert.  Ich  habe  seit  der  ersten  Auf- 
lage dieses  Werkes  sehr  viele  Homosexuelle  gesehen  und  konnte  mich 
immer  wieder  überzeugen,  daß  organische  Grundlagen  der  Homo- 
sexualität nicht  vorhanden  sind,  daß  aber  immer  ein  Ausweichen  vor 
dem  Weibe  besteht,  welches  den  parapathischen  Homosexuellen  zu  den 
groteskesten  Umwegen  verleitet.  Es  gelang  mir  immer,  die  sadistische 
Komponente  nachzuweisen,  die  Einstellung  des  Homosexuellen  zum 
Weibe  mit  Haß.  Dieser  Haß  entsprang  oft  einer  infantilen  Eifersucht, 
oft  anderen  Quellen. 

Es  ist  aber' gefährlich,  immer  wieder  eine  einzige  Psychogenese 
der  Homosexualität  anzunehmen.  Es  führen  die  verschiedensten  Wege 
zu  diesem  Leiden.  Der  eine  erkrankt,  nachdem  er  nur  in  Weiber- 
gesellschaft  aufgewachsen  ist,  der  andere  (wie  der  letzte  Fall),  nach- 
dem er  seine  ganze  Jugend  unter  Männern  verbracht  hat.  Den  einen 
treibt  ein  Trauma  zur  Wiederholung  und  zur  Homosexualität,  den 
anderen  lenkt  es  von  diesem  Wege  ab. 

Der  Psychotherapeut  muß  an  jeden  Fall  unvoreingenommen 
herantreten  und  sich  auf  neue  Überraschungen  gefaßt  machen. 

Ich  kann  aber  dieses  Kapitel  nicht  schließen,  ohne  die  Kollegen 
nochmals  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie  hinterhältig  sich  der 
Homosexuelle  in  der  Behandlung  benimmt  und  wie  er  alles  darauf  an- 
legt, den  Psychotherapeuten  hinters  Licht  zu  führen  und  um  den 
Erfolg  zu  bringen. 


470 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualiät. 


Nur,  wo  wirklich  der  Wille  zu  Genesung  und  Änderung  vor- 
handen ist,  kann  ein  Erfolg  erzielt  werden,  wie  bei  dem  letzten  ge- 
schilderten Falle.  Der  Mann  litt  unter  seiner  Homosexualität.  Wenn 
aber  die  Männer  unter  dem  Einflüsse  der  Schriften  von  Blüher  stehen, 
der  in  dem  „Männerhelden"  den  höchsten  Typus  Mensch  idealisiert 
und  alle  sozialen  Bewegungen  auf  die  Männerbünde  zurückführt,  oder 
wenn  so  ein  Kranker  unter  der  Herrschaft  der  Ideen  Hirschfelde  steht, 
dessen  Propaganda  neben  ihrem  wissenschaftlichen  Verdienste  zur  Er- 
forschung der  Homosexualität  vielen  Leidenden  die  Aussichtslosigkeit 
einer  Änderung  predigt,  —  dann  freilich  tritt  er  an  die  Behandlung 
mit  Skepsis  und  dem  geheimen  Willen  zur  Krankheit  heran.  Er  ist 
„anders  als  die  anderen",  —  er  ist  ein  Eigener,  —  er  ist  der  „Un- 
glückliche, vom  Schicksal  zum  Leiden  Verdammte",  —  er  ist  „ewig  an 
den  Felsen   seiner  unglückseligen  Veranlagung   geschmiedet". 

Daß  er  nur  durch  einen  operativen  Eingriff  diese  organische  Ver- 
änderung erzielen  kann,  das  schmeichelt  seiner  Eigenliebe  und  enthebt 
ihn  des  geheimen  Schuldbewußtseins,  er  hätte  sich  selbst  die  Wege 
zum  anderen  Geschlechte  verschlossen. 

Furchtbar  ist  es,  wenn  die  Lebenslüge  des 
Homosexuellen  zusammenbricht.  Je  älter  er  wird, 
desto  trauriger  wird  sein  Schicksal.  D  a^n  n  klagt 
er  immer  wieder,  wie  schwer  er  es  empfindet,  daß 
er  allein  von  Familie  und  Kindersegen  ausge- 
schlossen ist.  Ich  wiederhole,  was  ich  an  anderen 
Stellen  gesagt  habe:  Ich  habe  noch  nie  einen  ge- 
sunden und  noch  nie  einen  glücklichen  Homo- 
sexuellen gesehen! 

Ich  denke  wieder  an  einen  schon  erwähnten  herrlichen  Künstler, 
einen  der  ersten  Meister  seines  Faches,  mit  allen  Gaben  des  Geistes 
und  des  Körpers  ausgestattet.  Er  vertraute  mir  sein  großes  Geheimnis, 
seine  Homosexualität,  an.  Aber  er  wollte  nichts  von  Genesung  wissen. 
Sein  Zimmer  schmückten  die  Photographien  seiner  Lieblinge,  darunter 
sogar  gekrönte  Häupter.  Er  litt  an  einer  Unmenge  neurotischer  Be- 
schwerden, die  ihm  das  Leben  verbitterten.  Eines  Tages  ließ  er  mich 
rufen  und  teilte  mir  seinen  Entschluß  zu  sterben  mit.  Er  hatte  gerade 
sein  Ideal  gefunden  und  das  höchste  Glück  der  homosexuellen  Liebe 
genossen.  Plötzlich  begannen  ihn  ordinäre  Melodien  zu  verfolgen,  die 
ihn  fast  wahnsinnig  machten.  Immer  wieder  hörte  er  diese  schrecklichen 
Gassenhauer,  er  —  der  große  Künstler,  der  bisher  nur  den  feinsten 
und  erlesensten  Harmonien  lauschen  konnte.  Nun  verfolgten  ihn  die 
Vorwürfe  in  der  Gestalt  der  Melodien  und  riefen  ihm  zu:  „Du  bist  ein 
ordinärer  Mensch!"  Er  teilte  mir  mit,  daß  er  sein  Leben  abschließen 


Ergänzungen. 


471 


wolle  und  verstand  es  selbst  nicht,  daß  er  es  in  einer  Zeit  tat,  in  der 
er  das  höchste  Glück  der  marin-männlichen  Liebe  genossen  hatte. 
Dieses  Glück  zeigte  ihm,  daß  sein  ganzes  Leben  eine  große  Lüge  ge- 
wesen. Er  ging  aber  lieber  in-  den  Tod,  ehe  er  den  Versuch  machte, 
die  furchtbare  "Wahrheit  „Das  Haupt  der  Medusa"  zu  sehen.  Er  wollte 
niemals  auf  eine  analytische  Behandlung  eingehen.  Es  beruhigte  ihn 
nur,  daß  er  mir  sein  Geheimnis  anvertrauen  und  mir  seine  verschiedenen 
Angstvorstellungen  mitteilen  konnte.  Seine  Hauptangst  war  die  Angst 
vor  dem  Erkälten  und  Erhitzen,  die  ich  bald  als  Angst  vor  .der  hetero- 
sexuellen Liebe  durchschaute. 

Andere  Homosexuelle  arrangieren  die  Behandlung  schon  im  Be- 
ginne so,  daß  sie  unglücklich  ausfallen  muß.  Es  wird  mir  ein  21jähriger 
Patient  aus  Kroatien  von  seinem  Bruder,  der  Arzt  ist,  zugeschickt. 
Ich  finde  einen  Vollmann  ohne  jede  Spur  eines  weiblichen  Einschlages. 
Auch  die  Anamnese  ergibt  eine  gute  Prognose.    Ich  verlange  aber  von 
ihm,  daß  er  in  Wien  nichts  erlebe  und  sich  in  keine  homosexuellen 
Beziehungen  einlassen  solle.  Wie  soll  man  einen  Homosexuellen  heilen, 
wenn  er  während  der  Behandlung  seine  Beziehungen  fortsetzt?    Ich 
warne  ihn  auch  vor  allen  aktuellen  Begebenheiten,  die  eine  empfindliche 
Störung  der  Behandlung  nach  sich  ziehen  würden.   Er  verspricht  hoch 
und  heilig,  6ich  nur  der  Behandlung  und  dem   Studium  der  Kunst- 
sammlungen zu  widmen.  Schon  am  vierten  Tage  der  Behandlung  sucht 
er  ein  Kaffeehaus  auf,  in  dem  sich  die  Homosexuellen  treffen.  Er  macht 
natürlich  einige  Bekanntschaften.   Am  sechsten  Tage  zeigt  er  mir  den 
leidenschaftlichen  Brief  eines  „vornehmen"   (!)   Freundes,  den  er  dort 
im  Kaffeehause  kennen  gelernt  hatte.   Ich  muß  gestehen,  daß  ich  einen 
solch  schönen  Liebesbrief  noch  nie  gelesen  hatte.    Er  übertraf   die 
Liebesbriefe  der  portugiesischen  Nonne.    Trotz  meiner  Warnung  ließ 
er  sich  in  das  Verhältnis  ein.   Schon  einige  Tage  später  verlangte  der 
vornehme  Freund,  er  möge  ihm  Geld  borgen,  er  sei  zufällig  in  Ver- 
legenheit;   er  ließ  sich  Geschenke  machen  usw.    Mein  Patient  hatte 
bald  eine  ganze  Tafelrunde  von  Parasiten,  die  er  ausführte  und  für 
die  er  die  ganze  Zeche  begleichen  mußte.    Obwohl  er  ein  sehr  reicher 
Mann  war,  reichten  seine  Mittel  für  dieses  verschwenderische  Leben 
.  nicht  aus.    Am  10.  Tage  der  Behandlung  gestand  er  mir,  daß  er  nun 
abreisen  müsse,  weil  er  sonst  ohne  Geld  bleiben  würde.    Er  habe  jetzt 
die   Wiener   Homos   kennen   gelernt.     Es   wären   lauter    verkommene 
Existenzen  gewesen,  die  sich  als  seine  Freunde  ausgaben.1)  Er  sei  um 


h 

*)  Selbstverständlich   ist   das   nicht   meine   Ansicht.     Es   gibt   viele    edle,    stille 
Naturen  unter  den  Homo6. 


472 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


eme  Erfahrung   reicher.    Vergebens  hatte  ich   ihn  gewarnt   und  ihm 
s  LgH  f'  tS  ^r™11™  ^  6Chten  Liebe  ™  wohl  der  Um- 

And^  ato  H-    Tl te  kein-?el1  VGrlange'  aUCh  ^  Geschenke  « 
Andenken   also  die  Uneigennutzigkeit  der  Liebe.    Aber  er  wollte  nicht 

wollt  "Dl   W*?^  UmnÖgliCh  ^^  Sie  k*^«- 
voll  e^  Dann  klagte  und  jammerte  er  und  versprach  wieder  zu  kommen 

Ich  lehnte  einen  zweiten  Versuch  ab.    Ich  hatte  genug  gesehen; 

zu  wissen    daß  dieser  Kranke  nicht  genesen  wollte  und  daß  er '  si 

immer  aktuelle  Erlebnisse  konstruieren  werde. 

Ein  dritter,  hochintelligenter  Patient  hatte  angeblich  den  festen 

IdTYc Z T     f    E[  maCht6  ZU  mir  die  Weite  **  -"em 
tracrsie  t>    r  ^  t  ?^  **  Behandl™g  Abstinenz.    Er  ver- 

fcht  gkeTt  des  Pat      t    dTDf  'f  BehandlUng  iSt  vollkommene  Auf- 
ricntigkeit  des  Patienten.   Es  darf  kein  Geheimnis  zwischen  Arzt  und 

S^ÄJ"  eirtGteimnis  ^  *  -  verschweig  wm 
Arztf  LZ L  t *  r  Jtrhen  Behandlun8  unterziehen.  Wer  dem 
ktnt  Td  wol  Hdaß;%Sach,en  gäbe'  ^er  die  er  nicht  sprechen 
uZp^rvlLt\  f  -ft  ^'Behandlung  genommen  werden. 
Zufell  ftT  Tn  alS°  AbStinenZ  Und  Volle  Aufrichtigkeit.  Ein 
™  d      AK       '  ^  ^  ^  ^  Krante^ger  gefesselt  war.   Einen  Tag 

Ztte  R2  TUnd  P  rT'  ^  "  lm  Dampfbade  <der  LÄ 
Stof  h!  fT S)neme  Betka-tsch^  ^macht  und  Beziehungen  an- 
geknüpft hatte.  Diese  Tatsache  hatte  er  mir  während  der  ganzen 
Behandlung  verschwiegen!  ganzen 

vnm  Df  5H«  der  Analyse  hängt  also  von  .der  Aufrichtigkeit  und 
vom  guten  Willen  der  Kranken  ab.  Freuds  Patientin  kam  nicht  frei- 
C t f  l  W^rdeTTVOm  Vater  gebracht.  Das  gibt  schon  schlechte 
Chancen  für  die  Heilung.  Mein  serbischer  Patient  kam  mit  dem  . 
glühenden  Wunsche,  gesund  zu  werden.  Das  gestattet  schon  eine 
günstige  Prognose.  Aber  ich  habe  auch  Fälle  geheilt,  die  durch  äußere 
Umstände  gezwungen  waren,  eine  Behandlung  einzugehen.  Es  ist  eben 
die  Kunst  des  Arztes,  diese  Kranken  mit  dem  „psychischen  Lasso" 
emzufangen,  ihre  Finten  zu  durchschauen,  sie  immer  wieder  auf  den 
Gregenwillen  aufmerksam  zu  machen  und  sie  langsam,  langsam  wieder 
bisexuell  zu  machen. 

Man  begegnet  in  der  Analyse  Homosexuellen,  die  angeblich  eine 
Analyse  ohne  Erfolg  durchgemacht  haben  und  homosexuell  geblieben 
sind.  Erkundigt  man  sich  nach  den  näheren  Details  der  Analyse  so 
hört  man  mit  Erstaunen,  daß  diese  Kranken  einige  Wochen  oder  sogar 
nur  einige  Tage  bei  einem  Arzte  gewesen  sind  oder  sich  von  einem 
bekannten  „analysieren"  haben  lassen. 








Ergänzungen.  473 

•  Leider  ist  die  Analyse  zum  Gesellschaftsspiel  geworden.  Jeder- 
mann analysiert '  und  die  vielen  Unberufenen  bringen  die  herrlichste 
aller  Heilmethoden  in  Verruf. 

Ein  Patient  schrieb  schon  seit  Jahren  Jammerbriefe.  Er  wolle 
in  meine  Behandlung  kommen  und  sich  von  seiner  unglückseligen 
Homosexualität  heilen  lassen.  Patienten,  die  sehr  lange  herum- 
korrespondieren, taugen  gewöhnlich  nicht  viel.  Sie  sind  zu  sehr  durch 
innere  Widersprüche  gehemmt. 

Endlich  sollte  der  Kranke  zu  mir  kommen.  Er  hatte  geheiratet 
und  lebte  in  der  Ehe  unglücklich.  Wie  diese  Ehe  aussah,  erfuhr  ich 
aus  einem  Briefe  seiner  Frau,  den  ich  im  Auszuge  hier  wiedergebe. 
Er  enthält  eine  objektive  Schilderung  eines  Homosexuellen  in-  seiner 
Ehe.  Es  handelt  sich  um  eine  hochintelligente»  Dame,  die  vor  dieser 
Ehe  mit  einem  Psychiater  verheiratet  war.  Dieser  hatte  im  Kriege 
seinen  Charakter  geändert,  so  daß  sie  tiefunglücklich  und  ganz  zerrüttet 
wurde.  Der  Anfang  des  Briefes  enthält  die  Schilderung  der  ersten 
Ehe.  Sie  ist  nach  allen  Aufregungen  namenlos  unglücklich  und  sehnt 
eich  nur  nach  Ruhe  und  Frieden.  Da  lernt  sie  meinen  Patienten  in  spe, 
Herrn  E.  keimen.  —  Nun  lasse  ich  ihr  das  Wort: 

...  Wir  unterhielten  uns  ausgezeichnet,  und  ich  fühlte  mich  in  seiner 
Gesellschaft  erleichtert  und  befreit.  E.  sah  mich  damals  in  meiner  schlechten 
Zeit,  viel  mit  Tränen  und  klagend.  Als  ich  in  Basel  war,  'schrieb  mir  E. 
und  suchte  mich  auf;  wir  korrespondierten  und  sahen  uns  öfters  und  wir 
erlebten  eine  entzückende  Zeit.  Ich  kannte  seine  Homosexualität  wohl 
und  er  sprach  auch  offen  und  ehrlich  mit  mir  darüber,  aber  „erlebt"  und 
„gesehen"  hatte  ich  noch  niemals  etwas  davon.  E.  bat  mich,  seine  Frau  zu 
werden  und  ich  ging  darauf  ein.  Ich  dachte,  daß  wir  uns  seelisch  so  nahe 
stünden,  daß  unsere  Interessen  so  sehr  die  gleichen  seien  und  daß  wir  uns 
so  gut  verstünden,  daß  alles  Erotische  und  Sexuelle  ohnedies  wegfalle,  da 
ich  selbst  keine  Ahnung  meiner  eigenen  Erotik  hatte,  die  vollkommen  schlief, 
und  ich  damit  bestimmt  rechnete,  daß  auch  E.  niemals  in  dieser  Weise  auf 
mich  übertragen  würde.  Es  kam  aber  alles  anders.  Ich  besuchte  meinen 
Mann  auch  harmlos  in  Zürich  in  seiner  eigenen  Wohnung,  aber  E.fand  den 
erotischen  Weg  zu  mir,  übertrug  sehr  stark  auf  mich  und  weckte  meine 
eigene  Leidenschaft.  Daneben  hatte  er  auch  seine  Freunde.  E.  schuf  nun 
menschlich  unmögliche  Situationen:  Sein  neuester  Freund  und  Geliebter, 
ein  bekannt  brutaler  und  verbrecherischer  Mensch  und  Homosexueller,  sollte 
mit  uns  unser  Verlobungsfest  feiern!!  Dessen  Frau  nahm  auch  teil  und  es 
gab  die  ekelhaftesten  Situationen.  Der  „Freund"  sang  in  meiner  Gegenwart 
Liebeslieder  an  meinen  Mann,  heulte  und  flennte  wie  ein  Weib  und  machte 
mir  unerhörte  Szenen.  Mein  Mann  stellte  sich  auf  meine  Seite  und  ent- 
zweite sich  mit  ihm.  (Nachher  aber  versöhnten  sie  sich  wieder.)  Ich  wußte, 
daß  es  auf  diese  Weise  über  menschliche  Kraft  gehe,  solche  Sachen  mit- 
anzusehen; wenn  ich  diese  Leute  nicht  sah  und  meinen  Mann  in  diesem 
„Rausch"  nicht  sehen  mußte,  ging  es.  Wir  heirateten  —  einige  Tage 
vor  unserem  Hochzeitsfeste  verliebte  sich  mein  Mann 


474 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


an  einem  Tage  in  einen  Südamerikaner,  es  war  nichts 
mehr  zu  retten,  und  ich  selbst  gestattete  meinem 
Manne  die  sexuellen  Beziehungen  zu  diesem  Manne; 
in  unserer  Hochzeitsnacht  vollzogen  sich  auch  diese. 
Sehr  verehrter  Herr  Doktor!  Es  ist  wahr,  daß  ich  meinem  Manne  die  Auf- 
rechterhaltung seiner  homosexuellen  Beziehungen  gestattet  habe.  Allerdings 
unter  ganz  anderen  Gesichtspunkten,  als  er  nachher  zugab.  Einmal  hatte 
sich  das  Bild  dadurch  verschoben,  daß  mein  Mann  sehr  stark  erotisch  und 
sexuell  auf  mich  übertrug  und  man  denken  sollte,  daß  damit  selbst  das 
größte  Maß  Sinnlichkeit  auskommen  müßte.  Zweitens  hatte  ich  nie  damit 
gerechnet,  diese  Leute  zu  sehen,  zu  empfangen  und  alle  die  Zeichen  der 
Verständigung  mitansehen  zu  müssen,  von  denen  man  sich  keine  Vorstellung 
machen  kann,  drittens  hatte  mein  Mann  mich  zahllose  Male  versichert,  daß 
er  da  nur  seine  grobe  Sinnlichkeit  auslebe,  die  Seele  damit  nichts  zu  tun 
habe  und  diese  mir  gan«  und  gar  verbleibe.  Ich  sah  aber,  daß  mein  Mann 
stets  von  einem  solch  ungeheuren  Rausch  erfüllt  war,  daß  er  sich  auf  diese 
Menschen  mit  all  seinen  Kräften  stürzte. und  daß  die  Seele  ebenso  be- 
ansprucht war  wie  alles  andere.  Mein  Mann  hatte  mir  absolute  Offenheit 
und  Wahrheit  versprochen;  ich  habe  aber  gesehen,  daß  kein  Mensch  der 
v\  elt  diese  Dinge  vereinen  kann  und  daß  es  unmöglich  ist,  nach  menschlichen 
Gesetzen  offen  und  wahr   zu   sein,  wenn  alles  lichterloh  in  einem  brennt. 

Die  Ehe  fing  schlecht  an,  weil  ich  natürlich  versagte,  ich  weinte  — 
das  machte  meinen  Mann  rasend  — ,  er  fühlte  sich  schuldig  und  warf  dieses 
Schuldbewußtsein  auf  mich,  er  liebte  mich  und  haßte  mich  als  den  Stein 
des  Anstoßes  und  ich  litt  unsäglich;  Szenen,  Auftritte,  bei  denen  E.jede 
Besinnung  verlor  und  wie  ein  Geisteskranker  tobte,  waren  an  der  Tages- 
ordnung. Mein  Mann  behandelte  mich  furchtbar.  Er  stellte  mich  nirgends 
vor,  zeigte  sich  nicht  mit  mir,  ging  keinen  Schritt  mit  mir  aus,  verleugnete 
mich  gänzlich,  kein  Mensch  wußte,  daß  er  verheiratet  sei,  er  schrieb  in  der 
Nacht  seitenlange  Liebesbriefe  an  seinen  Freund,  versteckte  alle  Briefe, 
schloß  alles  vor  meinen  Augen  weg;  ich  lebte  in  unerträglichen  Demütigungen, 
Kränkungen,  Unwahrheiten,  Geheimnissen,  ich  war  an  Leib  und  Seele  elend 
und  krank,  denn  ich  liebte  E.  mit  allen  meinen  Zärtlichkeiten  und  aller  Hin- 
gabe, deren  eine  Frau  fähig  ist.  Zahllose  Male  packte  ich  zusammen,  um 
weg  zu  gehen.  E.  hielt  mich  immer  wieder  zurück.  Prof.  H.  nahm  E.  in  Be- 
handlung, nachdem  er  ihm  die  Bedingung  gestellt  hatte,  die  Homosexualität 
aufzugeben;  er  war  kein  Arzt.  E.  machte  eine  sehr  kurze  Behandlung  durch 
und  Prof.  H.  ließ  sich  meiner  Meinung  nach  blenden  durch  die  frappante 
psychologische  Erkenntnis  und  Selbsterkenntnis  meines  Mannes;  er  be- 
wunderte ihn.  Alle  Menschen,  die  mit  E.  oberflächlich  oder  sogar  intim  mit 
ihm  verkehren,  unterliegen  vollkommen  seinem  ungeheuren  Reiz  und  Zauber 
und  dem  ganzen  Scharme  seiner  Persönlichkeit.  Eine  ungeheure  Aufrichtig- 
keit in  Dingen,  die  andere  Menschen  verschweigen,  verleitet  den  Unwissenden 
zu  der  Annahme  dieser  Eigenschaft  überhaupt;  da,  wo  es  aber  wirklich 
darauf  ankommt  und  E.  einen  Nachteil  psychischer  oder  äußerer  Art  hat, 
versagt  die  Aufrichtigkeit  vollkommen. 

E.  verkehrte  auch  mit  Frauen  in  einer  Art,  von  der  ich  keine  Ahnung 
hatte;  er  küßt  jedes  Weib,  und  wenn  bei  ihm  die  Sache  auch  durchaus 
harmlos  ist,,  so  bleibt  sie  bei  diesen  Frauen  es  nicht.   Hinter  meinem  Rücken 


Ergänzungen.  475 

lief  mir  zuletzt  seine  Freundin  ins  Haus,  und  als  ick  nach  Hause  kam   fand 
ich  sie  am  Bette  meines  Mannes  sitzen;    er  ging  ^*™*J?*™  *g 
war  täelich  mit  ihr  zusammen  und  blamierte  und  demutigte  mich  aui  alle 
Weise     Ich  war  nicht  eifersüchtig,   aber  ich  war  beleidigt  und  gekrankt. 
Nach  2  Monaten  versöhnten  wir  uns  und  wir  lebten  vom  Mai  bis 
Dezember  vollkommen  glücklich.    Mein  Mann  war  gut  und  rührend  zu 
mir    er  ging  fast  keinen  Augenblick  von  mir  weg  und  er  sagte  auch  zu 
anderen  Menschen,  die  es  bezeugen,  daß  er  so  glücklich  wie  nie  in  sem  m 
Leben  sei.    Ich  bekam  ein  Kindchen    alles  war  gut.  -  Nun  starb  der  Vater 
meines  Mannes  und  E. brachte  die  Mutter  mit.    E    war  nach  B-^^T 
Beerdigung  und  ließ  mich  nachkommen,  weil  er  ohne  mich  nicht  se minm 
Schon   im   Hause   dieser   Frau   befiel  mich   ein   ungeheurer    Schrecken.    Es 
ptTert"  Dmge,  die  ganz  gewiß  nicht  zu  den  in  Familien  üblichen  gehöre. 
Diese    Frau    zeigte    sich    Knackt    von    oben    bis unten 
und    verrichtete    alle    To  ilettengeheimnis  se    v  01     ihm. 
E.  hatte  mir  auch  gesagt,  daß  'sie  znsammeii Jn  einem  Bett  geschlafen  hatten 
bis  ich  kam.    Diese  merkwürdige  Mutter  hat  eine  Liebe  zu  ihrem ^  Sota», 
die  mit  Mutterliebe  und  Frauenwürde  nichts  mehr  zu  tun  hat.    bie  ist  in 
den  Sohn  absolut  verliebt.  E.  wird  Ihnen  selbst  von  Beiner ^fW.  sprechen 
Die  Mutter  ißt  die  Wurzel  seiner  Homosexualität  und  Prof.  H.  hatte  E.vor 
dieser  Mutter  gewarnt  und  ihm  gesagt,  welche  Rolle  sie  in  seinem  Leben  spiele 
E.  weiß  das  alles,  trotzdem  brachte  er  die  Mutter  mit  in  unser  Haus,  es  war 
durchaus  nicht  nötig. 

Der  Brief  bringt  eine  Menge  von  Details,  die  mir  nicht  das  erste 
Mal  hegegnen.  Ich  kenne  auch  andere  „Bisexuelle",  die  sich  als  Über- 
menschen" bezeichnen,  welche  in  der  Brautnach  das  Bedürfnis  hatten 
bisexuell  zu  verkehren.  Ich  kenne  Männer,  welchem  der  Brautnacht 
die  Geliebte  aufsuchten,  usw.  ...  Ich  kenne  auch  diese  Art  der  scham- 
losen Mütter,  wie  sie  der  Brief  der  armen  Frau  schildert. 

Aber  der  Leser  kann  sich  aus  diesen  Schilderungen  eine  Vor- 
stellung von  dem  modernen  Sexualleben  machen,  das  sich  zufällig  in 
der  prüden  Schweiz  abspielt.  Es  ist  dort  nicht  anders  als  in  allen 
anderen  Kulturzentren,  wo  sich  die  Snobs  und  Übermenschen  bemüßigt 
sehen,  ihre  Triebe  auszuleben  ...  Ich  habe  das  Land  der  Begebenheiten 
genannt,  weil  mir  einmal  vorgehalten  wurde,  meine  Krankengeschichten 
zeigten  in  ihrer  Sinnlichkeit  das  Wiener  Milieu,  den  Genius  loci.  Nun, 
dieser  Genius  loci  bleibt  sich  überall  gleich. 

Doch  kehren  wir  zu  meinem  Patienten  zurück.  Er  schreibt  und 
telegraphiert,  er  ist  ungeduldig,  er  kann  den  Tag  nicht  erwarten,  an 
dem  ich  von  meinem  Urlaube  zurückkommen  werde. 

Doch  siehe  da!  Ich  bin  zu  Hause  und  warte  einige  Wochen,  über 
einen  Monat  vergebens.  Eines  Tages  erscheint  er  -  6  Wochen  nach 
dem  Briefe  seiner  Gattin  -  und  teilt  mir  mit,  er  habe  sein  Geld  leicht- 
sinnig ausgegeben,  er  habe  die  Zeit  vertrödelt,  kurz,  er  könne  nur 
2  Wochen  in  Wien  bleiben. 


476 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


\ 


nicht  Ä!S?^?  nahm  [tnie  Behandl™S  nicht  an.   Ich  wollte 
nicht,  daß  er  wieder  von  einem  Mißerfolg  der  Analyse  sprechen  könnte 
einem  Werfolg den  er  schon  im  vorhinein  schlau  arrangiert  hat"' 
Selbstverständlich  war  E.  ein   großer   Männerheld,   hochbegabt 
genial,  von  sich  sehr  eingenommen,  unzufrieden  mit  seinen S 
und  von  seiner  Unheilbarkeit  im  Innern  fest  überzeugt  & 

W~   SemMVl       nlS  TZTUF  Mutt6^  Zeigt  uns  die  Wurz^  seines  kranken 

ZTr*      *  Semer uHelmreiSe  tdlte  er  Wieder  das  **t  ^iner  MuUe 
so  daß  die  Frau  sich  entschloß,  sich  von  ihm  scheiden  zu  lassen 

Nicht  nur  die  zärtliche  Mutter  kann  ihren  Sohn  in  eine  Para- 
pathie  brmgen  Auch  die  strenge  Mutter  kann  die  Wurzel  eineT Homo- 
sexualität werden.    Ebenso  der  strenge  Vater 

Im  Anschluß  an  die  Krankengeschichte  von  Freud  möchte  ich 

genT  dorn       ^  !?*"?*»  ****  *»  ^  £ft£ 

hTndeft ^Sfor8eXUailtätweine    BeaChtUng    Runden    ^■■*- 

t;iCh;,m  d\e  Wirkung  der   Schläge  auf   die 

u?£         *W*   haben   gehört>    daß    »   *Ws   Fall   der   Vater    die 

t: S22 geschlasei? ft  Es  ist  anzunehmen'  ȀS 

J^Ä  T?n'  Welche  das  Mädchen  erhalten  hatte,  und  daß 
vielmehr  du3  Wiederholung  einer  infantilen  Szene  stattfand.    Ich  habe 

.Mutter  haben.   Nun  gelang  es  mir  im  letzten  Jahre'  oft  nachzuweisen 
leider  habe  ich  vorher  diese  Tatsache  nicht  beachtet  -,  daß  diese 
Homosexuel  en  in  der  Kindheit  von  ihrer  Mutter  und  die  Urlinden 
von   ihren   Vätern   empfindlich   gezüchtigt   wurden.     Ich   möchte    be- 
tonen, daß  wahrscheinlich  auch  Ausnahmen  vorkommen,  aber  daß  wir 
bei   unseren   Forschungen   darauf   Rücksicht   nehmen   sollen,    ob    das 
Kind  m  der  Jugend  empfindlich  geschlagen  wurde.   Die  Schläge  an  und 
iur  sich  müssen  gar  nicht  sehr  schmerzhaft  gewesen  sein.   Es  kommt 
nur  darauf  an,  daß  sie  das  Kind  als  demütigend  und  als  herabsetzend 
empfunden  hat.    Als  Reaktion  auf  die  Prügelstrafe  treten  dann  Haß- 
gefuhle  gegen  den  Elternteil  auf,  der  die  Strafe  vollzogen  hat     Nun 
fand  ich  wiederholt,  daß  mir  Homosexuelle  berichteten,  sie  wären  von 
der  Mutter  oder  von  einer  Tante  sehr  energisch  geschlagen  worden 
Ein  Musterbeispiel,  wie  man  die  Homosexualität  künstlich  züchten 
kann   bietet  die  nächste  Beobachtung.    Ein  28jähriger  Homosexueller 
erzahlt,  daß  seine  Mutter  und  sein  Vater  immer  im  Streite  lagen    Bei 
diesen  Streitereien  erwies  sich  die  Mutter  immer  als  die   Stärkere 
Der  verschüchterte  Mann  mußte  kleinweise  nachgeben.    Dieses  Unter- 
hegen des  Mannes   scheint  auf  den  5jährigen  Knaben  einen  großen 
Eindruck  gemacht  zu  haben.    Denn  er  nahm  einmal  für  den  Vater 
Partei.    Die   Mutter   rief  ihm   zu:    „Schweig,   du  kleiner   Mistbub'" 


Ergänzungen. 


477 


worauf  der  Kleiner  frech  erwiderte:  „Schweig  du!  Du  Mistbub  — 
Mistfrau  —  nicht  ich  Mistbub!"  Der  Vater  lachte  und  meinte: 
„Kinder  und  Narren  sprechen  die  Wahrheit !"  Darauf  stürzte  sich  das 
entmenschte  Weib  auf  den  Knaben  und  schlug  ihn  so  mörderisch,  daß 
er  wahrscheinlich  tot"  liegen  geblieben  wäre,  wenn  sich  nicht  Gehilfen 
und  Nachbarn  eingemengt  und  das  Kind  den  Händen  der  Furie  ent- 
rissen hätten.  i  > 

Wie  steht  aber  jetzt  dieser  Homosexuelle  in  der  Familie?  Er 
lebt  mit  dem  gütigen  Vater  in  Zwist.  Sie  haben  alle  Beziehungen  ab- 
gebrochen und  reden  fast  gar  kein  Wort  miteinander.  Aber  die  Mutter 
verehrt  er  leidenschaftlich,  obwohl  sie  schwer  pathologisch  ist  und 
schon  mehrere  Jahre  in  einer  Irrenanstalt  interniert  war. 

Die  ursprüngliche  Haßeinstellung  gegen  die  Mutter  wurde  in- 
folge des  Schuldbewußtseins  in  Liebe  konvertiert.  Er  verschob  aber 
den  Haß  gegen  die  Mutter  auf  alle  Frauen,  vor  denen  er  sich  fürchtet. 
Der  unauslöschliche  Eindruck  der  Schläge  durch  ein  Weib  scheint 
diese  Haßeinstellung  und  die  Unüberwindlichkeit  seiner  Angst  be- 
gründet zu  haben. 

Vielleicht  ist  diese  Beobachtung  imstande,  uns  die  oft  geschil- 
derte Haßeinstellung  des  Homosexuellen  gegen  das  Weib  zu  erklären. 
Viele  Beobachter  wiesen  auf  die  Tatsache  hin,  daß  oft  Homosexuelle 
aus  einer  Kinderstube  stammen,  in  der  sie  von  lauter  Frauen  umgeben 
waren.  Wir  haben  in  dem  Falle  des  Serben  das  Gegenteil  gesehen. 
Aber  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß-  die  ewige  Bemutterung,  Bestrafung 
und  Erziehung  durch  Frauen  das  Kind  in  eine  Trotzeinstellung  zu 
allen  Frauen  bringen  kann.  Für  die  Prophylaxe  der  Homosexualität 
ergeben  sich  aus  dieser  Tatsache  sehr  wichtige  Schlußfolgerungen. 


XV. 

Rückblick  und  Ausblick. 

Im  Haß  ist  Furcht,  ein  großer,  guter 
Teil  Furcht.  Wir  Furchtlosen  aber,  wir  geisti- 
-  geren  Menschen  dieses  Zeitalters,  wir  kennen 
unseren  Vorteil  gut  genug,  um  gerade  als  die 
Geistigeren  in  Hinsicht  auf  diese  Zeit  ohne 
Furcht  zu  leben.  Man  wird  uns  schwerlich 
köpfen,  einsperren,  verbrennen ;  man  wird  nicht 
einmal  unsere  Bücher  verbieten  und  verbren- 
nen. —  Man  ist  Mann  seines  Faches  um  den 
Preis,  auch  das  Opfer  seines  Faches  zu  sein. 

Nietzsche. 

Wir  haben  gesehen,  wie  gewaltig  der  Haß  ist,  mit  dem  der  Homo- 
sexuelle seine  Mitwelt  bedenkt.  Mag  er  den  Haß  auf  das  andere  Ge- 
schlecht ablenken,  auf  das  eigene  richten,  oder  unter  Umständen  gegen 
sich  selbst,  er  bleibt  der  starke  Hasser,  der  die  primitiven  Gefühle  der 
Urzeit  vergebens  mit  den  ethischen  Forderungen  der  Kultur  zu  ver- 
binden trachtet.  Es  wirft  sich  die  Frage  auf,  ob  er  überhaupt  fähig 
ist  zu  lieben.  Man  könnte  dem  entgegnen,  daß  er  unter  Umständen 
seine  Mutter,  seinen  Vater,  einen  Freund  oder  einen  wirklich  „Ge- 
liebten" liebt.  Es  hat  aber  nur  den  Anschein,  als  wenn  er  sie  lieben 
würde.  In  Wahrheit  leidet  er  an  der  Unfähigkeit  zur  Liebe.  Er  teilt 
diese  Eigenschaft  mit  allen  Künstlern,  die  eigentlich  auch  unfähig  zur 
Liebe  sind.  Ich  müßte  mich  wiederholen  und  die  Ausführungen,  die 
ich  in  meinem  Buche  „Die  Träume  der  Dichter"  niedergelegt  habe, 
an  diese  Stelle  setzen.1) 

Alle  meine  Untersuchungen  über  die  Psychogenese  der  Neurose 
führen  mich  zu  dem  Phänomen  des  Hasses.  Schon  in  meinem  Buche 
„Die  Sprache  des  Traumes"  konnte  ich  den  Haß  als  das  primäre  Ge- 
fühl im  Menschen  bezeichnen,  der  bei  ethischen  Menschen  zur  Neurose 


*)  Seite  248.  „Die  Liebe  der  Neurotiker  zur  Familie  ist  eine  von  Reue  diktierte 
Korrektur  einstiger  Lieblosigkeit."  „Bei  den  Dichtern  bildet  sich  aus  der  Unfähigkeit 
zur  Liebe  eine  Sehnsucht  nach  der  Liebe  aus,  die  sie  zu  einer  immerwährenden  Jagd 
nach  Liebe  treibt.  Die  Liebe  ist  die  überwertige  Idee  und  das  unerreichbare  "Ideal  der 
Dichter  geworden."  „Den  Dichter  scheidet  vom  Verbrecher,  daß  er  den  Mangel  an 
Liebe  als  Fehler  fühlt  und  sich  aus  Haß  und  Verachtung  der  Menschheit  zur  Liebe 
und  Nächstenliebe  durchringt.'  , 


Rückblick  und  Ausblick.  479 

führen  muß,  wenn  ihnen  ein  starkes  Triebleben  eigen  ist.  „Die  Neurose 
ist  die  endopsychische  Wahrnehmung  des  Hasses  durch  die  Brille  des 
Schuldbewußtseins." x) 

Ich  glaube  den  Beweis  geliefert  zu  haben,  daß  der  Homosexuelle 
ein  Neurotiker  ist,  daß  er  in  bezug  auf  sein  Triebleben  eine  Rück- 
schlagserscheinung darstellt  und  daß  die  Homosexualität  eine  Art 
Heilungsprozeß  einer  zwischen  abnormem  Trieb  und  kultureller 
Hemmung  kämpfenden  Psyche  darstellt. 

Nun  darf  man  nicht  glauben,  daß  der  Homosexuelle  wie  der 
Neurotiker  arm  an  Liebe  seien.  Allein  all  ihre  Liebe  ist  Eigenliebe. 
Beruht  doch  jeder  kulturelle  Fortschritt  darauf,  die  Eigenliebe  in  eine 
soziale  Liebe  umzuwandeln.  Das  erklärt  uns  das  herrliche  Gebot  der 
Nächstenliebe:   Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst! 

Da  der  Homosexuelle  eigentlich  nur  sich  liebt,  so  sucht  er  nur 
sich  in  dem  anderen.  Diese  Erscheinung  ist  jeder  Liebe  eigen.  Was 
scheinbar  die  extremste  Regung  altruistisoher  Gefühle  darstellt,  ist 
in  Wahrheit  eine  Umformung  egoistischer  Regungen.  Liebe  ist 
potenzierter  Egoismus.  An  Narzissmus  leidet  jeder  Neurotiker.  Er 
ist  ein  Sklave  seines  Ich  und  kommt  von  sich  nie  los.  Daß  der  Homo- 
sexuelle sein  eigenes  Geschlecht  liebt  oder  zu  lieben  scheint,  hängt 
nur  bei  oberflächlicher  Betrachtung  mit  seinem  Narzissmu6  zusammen. 
Er  liebt  im  Grunde  genommen  weder  den  Mann  noch  das  Weib.  Er 
nahte  aber  einen  Haß  zu  bewältigen,  der  stärker  war  als  der  Haß  des 
Normalmenschen.  Dieser  Haß  war  das  Problem  seiner  Kindheit.  Als 
ein  ewiges  Kind  ist  es  ihm  noch  nicht  gelungen,  diesen  Haß  vollkommen 
zu  sublimieren  oder  ihn  an  Objekte  zu  fixieren,  die  zu  hassen  die 
Kultur  gestattet. 

Alle  Beobachter  von  Homosexuellen  betonen,  daß  bei  diesen  der 
Geschlechtstrieb  sehr  früh  erwacht.  Vielleicht  ist  es  neben  der  Fort- 
pflanzung die  größte  soziale  Mission  des  Geschlechtstriebes,  daß  er 
dazu  dient,  den  Haß  zu  überwinden.  Mit  Hilfe  der  Sexualität  wird 
aus  dem  egoistischen  Kinde  ein  liebender  Mensch..  Denn  die  Liebe  des 
Kindes  ist  noch  absolut  egoistisch.  Es  liebt  die  Personen,  die  ihm 
Gutes  erweisen.  Vergebens  bemüht  man  sich,  ihm  beizubringen,  daß 
es  auch  Lehrer  lieben  müsse,  die  streng  sind,  aber  es  gut  meinen,  daß 
Eltern  strafen  müssen,  wenn  sie  es  erziehen  wollen.  Diese  Einsicht 
erwächst  erst  dem  Reifen  und  läßt  ihn  die  kindlichen  Rachegefühle 
vergessen,  die  ihn  einmal  beim  Erdulden  von  Strafen,  die  immer  als 
ungerecht  empfunden  werden,  überkommen,  wenn  das  Schuldgefühl  noch 
nicht  eine  Umwertung  dieses  Urteils  vorgenommen  hat.  Aber  die  sexuelle 


*■)  Die  Sprache  des  Traumes,  Seite  563. 


-480  Zneiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Frühreife  bringt  schon  in  erster  Jugend  beim  Neurotiker,  also  auch  beim 
Homosexuellen  Begierden  zum  Vorschein,  welche  die  Liebe  der  Um- 
gebung erstreben  und  bereit  sind,  dafür  auf  den  Haß  zu  verzichten 
las  w.rd  dann  einer  geliebten  Person  der  relative  Anteil  an  Haß  ent- 
zogen und  auf  die  anderen  verschoben.  Diese  infantilen  Einstellungen 

hZT  vT    tVnd  die  MuWer  haseen'  weiI  ei°  r™1»  m  der 
L  eb    d  s  Vaters  ist.  Zugleich  werden  die  Schwestern  gehaßt  weil  sb 

Shlt  eK:r  f  eiI  dHr  niebe  entziehen-  di° d-  egoistischr , 

T  U u  !    vF  S1Ch  alIdn  in  AnsPruch  ™'-    Später  werden 

ittfrg^d  6  SChW6Stem  geUebtU"d  d6r  V««  -  to      • 

teren  ^L^T^VI  '*******.  ö«^  Ihr  Erwachen  in  spä- 
Dfese  Vel ,         ,      5*  6me  EeSreesi°n  •"«  ^antile  Einstellungen. 

NeZen  w  »n  ST  f  "T  *"*  *"  ^  Ge3C"leCht  ™5eh°b- 
tftftTwM  ,'  V  r  den  Vater'  S°  WeU  er  *ben  "<*•»  ^nn.  Die 
werden  a,  „  *  * '"  8BWBrtet  Zugleich  ffiit  d«sw  Einstellung 
Z  Vate  ri       U6n  l'eicMallS  R™Iin™h  die  ihm  die  Liebt 

des  Vaters  rauben  können.   Er  haßt  dann  alle  Frauen  und  der  Weg 

ur  homosexuellen  Neurose  ist  ihm  eröffnet.   Am  Anfange  der  Homo" 

nfaSit  W  t'  "«  "*<*»  ^  *  das  ganze  Lebenire 
mlantile  Wertung  beibehält. 

Ich  habe  schon  betont,  daß  es  die  Aufgabe  der  Sexualität  ist,  den 
lomLen  U^e™de\Allei^  diese  .Überwältigung  gelingt  nicht  voll- 

teZ  R1>}fW1Sf n  b^den,Ge8^chtern  bleibt  eine  ewige  Rivalität, 
welche  sich  m  dem  „Kampf  der  Geschlechter"  äußert.  Es  besteht  für 
mich  gar  kein  Zweifel,  daß  die  Fähigkeit  des  Menschen  zu  lieben  im 
w  !  ^  taUSende  zugenommen  hat.  Welche  subtile  Verfeinerung 
hat  die  Erotik  erfahren!  Wie  kompliziert  sind  die  Seelenvorgänge 
geworden,  die  sich  zwischen  dem  liebenden  Mann  und  dem  liebenden 
Weib  abspielen!  Aber  in  dem  gleichen  Maße  ist  der  Haß  gewachsen 
der  beide  Geschlechter  trennt.  Aus  dieser  Überwindung  des  Hasses' 
aus  diesem  zeitweiligen  Zurückfallen  in  die  Haßeinstellung  und  aus 
der  stets  erneuten  Überwindung  bezieht  die  moderne  Liebe  ihre  reichste 
Affektivität. 

Es  wirft  sich  eine  Frage  auf:  Gibt  es  in  der  Tat  einen  Beweis 
daiur,  daß  die  polare  Geschlechtsspannung  zwischen  Mann  und  Weib 
zugenommen  hat?  Wer  in  dem  Vordrängen  der  Frau  auf  sozialem 
Gebiete,  in  ihrem  Kampfe  um  die  Gleichberechtigung  noch  keine  Be- 
stätigung dieser  Annahme  ersehen  mag,  muß  sich  an  biologische  Tat- 
sachen    halfen         Dipra      hir.lrt„j„„T,.._       m  _  . 


Sachen    halten.       Diese     biologiechen      Tatsachen     b  e- 


j 


Rückblick  und  Ausblick.  4g  j^ 

weisen,  daß  die  Geschlechtsdifferenzierung  zwi- 
schen Mann  und  Weib  durch  die  Kultur  zunimmt. 
Das  Weib  der  Urzeit  war  früher  nicht  so  weiblich,  der  Mami  nicht  so 
männlich,  wie  das  Kulturweib  und  der  Kulturmann.  Fehlinger1)  führt 
durch  Vergleich  der  Naturvölker  mit  den  Europäern  den  Nachweis, 
daß  die  sekundären  Geschlechtsmerkmale  bei  den 
domestizierten  Völkern  viel  ausgeprägter  sind 
als  bei  den  wilden.  Es  seien  immer  stärkere  Reize  notwendig, 
um  den  domestizierten  Geschlechtstrieb  aufzustacheln.  Die  weiter- 
gehende Geschlechtsdifferenzierung  der  Europäer  finde  auch  darin 
Ausdruck,  daß  bei  ihnen  vom  Zeitpunkte  des  Eintrittes  der  geschlecht- 
lichen Reife  bis  zur  Erlangung  der  vollen  körperlichen  Reife  eine 
längere  Periode  verstreiche  als  bei  den  farbigen  Rassen.  Die  Natur- 
völker zeigten  eine  viel  größere  Ähnlichkeit  zwischen  Mann  und  Weib, 
die  bei  den  verschiedenen  Pygmäenrassen  am  ausgeprägtesten  sei. 
Diese  zeichneten  sich  durch  infantile  Körperformen  aus,  die  ja  be- 
kanntlich geschlechtlich'  sehr  wenig  differenziert  sind. 

Da  der  Homosexuelle  als  Rückschlagserschei- 
nung eine  Stufe  der  Menschheit  repräsentiert,  in 
der  die  bisexuelle  Gestaltung  des  Organismus 
viel  ausgeprägter  war,  so  bringt  er  schon  die  Dis- 
position zur  Einfühlung  in  beide  Geschlechter  ab 
ovo  mit.  Er  tritt  in  die  Welt  der  Geechlechtsdifferenzierung  wie 
etwas  Fremdes,  ihr  Feindliches  ein.  Er  entstammt  einer  Zeit,  in  der 
ein  Mann  unter  Umständen  eine  Frau  ersetz  en'konnte.  Seine  Engramme 
sehen  im  homosexuellen  Fühlen  etwas  so  Selbstverständliches,  als  wäre 
er  viele  hunderttausende  Jahre  vorher  auf  die  Welt  gekommen.  Allein 
er  bringt  auch  den  Haß  versunkener  Zeiten  in  die  Kulturwelt,  in  der 
die  Liebe  eine  so  große  Rolle  spielt.  Dieser  Haß  wird  zum  kräftigen 
Antrieb  in  dem  Kampf  der  Geschlechter.  Er  steht  physisch  als  Ver- 
mittler zwischen  Mann  und  Weib,  ist  aber  dieser  Vermittlerrolle  nicht 
gewachsen,  weil  er  die  ewige  Spannung  zwischen  Mann  und  Weib  in 
sich  nicht  verträgt.  Er  zersetzt  das  Liebesgefühl,  das  aus  Liebe  und 
Haß  besteht,  m  seine  zwei  Komponenten  und  verteilt  sie  auf  die  Ge- 
schlechter. Er  haßt  die  Frau  wie  ein  Urmensch  und  liebt  den  Mann 
als  Kulturmensch.  Erwachsen  muß  dieser  tödliche  Haß  verdrängt 
werden  und  zwischen  ihm  und  dem  Weibe  stehen.  Weil  er  unfähig 
ist,  ein  ganzer  Mann  zu  sein,  weil  er  aus  dem  In- 
fantilen nicht  herauskommen  kann,   haßt   er   auch 

*)  Domestikation  und  die  Bekundären  Geschlechtsmerkmale.  Zeitschrift  für 
Sexualwissenschaft,  III.  Bd.,  6./7.Heft,  1916. 

Stekel,  Stürnngon  des  Trieb-  und  A.Ü\,ktlt>bens.  II.  2. Aufl.  31 


482 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität, 


das  Weibische  in  sich.  Er  überschätzt  die  Männlichkeit  und 
wendet  ihr  mit  dieser  Wertschätzung  seine  ganze  Liebe  zu.  Der  Haß 
gegen  alle  Frauen  entspringt  aus  dem  Haß  gegen  das  eigene  Weibliche 
—  als  Reaktion  gegen  die  persönliche  Ohnmacht,  das  Weib  in  sich 
zu  überwinden  und  ein  ganzer  Mann  zu  sein.  Er  kann  schließlich  in 
dem  Bestreben  zur  Beendigung  des  inneren  Kampfes  zwischen  Mann 
und  Weib  sich  als  Weib  fühlen.  Das  heißt:  er  nimmt  dann  nur  ein 
Weib  von  dem  Hasse  aus  .  .  .  sich  selbst.  Auf  diesem  Wege  wird  er 
dann  zum  Transvestiten.  Er  kann  sich  heterosexuell  betätigen,  schein- 
bar die  Homosexualität  überwinden  und  zur  Buße  für  seinen  Haß  jenes 
Kleid  anlegen,  das  ihm  so  verächtlich  erschienen  ist.  Nur  über 
die  Brücke  des  Schuldbewußtseins  wird  der  la- 
tent Homosexuelle  zum  Transvestiten. 

Unsere  Untersuchungen  haben  uns  bewiesen,  daß  es  eigentlich 
keine  einheitliche  Psychogenese  der  Homosexualität  gibt.  Aber  allen 
Fällen  war  die  archaistische  Betonung  der  Bisexualität  gemeinsam. 
Wenn  ich  aber  von  Rückschlagserscheinung  spreche,  so  möchte  ich  es 
doch  vermieden  sehen,  diese  Auffassung  als  Entartung  oder  De- 
generation anzusprechen.  Denn  meine  Untersuchungen  der  Künstler 
haben  mir  bewiesen,  daß  sie  die  gleichen  Anlagen  haben  wie  die  Homo- 
sexuellen. Sie  sind  alle  Neurotiker.  In  der  Tat  ist  die  Liste  der  homo- 
sexuellen Künstler,  ja  sogar  der  homosexuellen  Genies,  wie  sie  bei 
ilirschfeld  zu  finden  ist,  geradezu  imponierend.  Ich  stehe  auf  dem 
Standpunkte,  daß  alles  Große  von  diesen  Rückschlagserscheinungen 
geschaffen  wurde  und  wird.  Als  ob  sich  die  Natur  durch  einen  Griff 
in  die  gärende  Kraft  der  Urzeit  verjüngen  und  neu  gebären  wollte. 
Es  wäre  vielleicht  eher  gestattet,  im  Sinne  von  Magnan  von  „De- 
generes  superieurs"  zu  sprechen.  Mir  scheint  die  wirkliche  Entartung, 
wie  sie  sich  in  physischen  Degenerationszeichen  offenbart  und  in  einer 
mangelnden  Anpassung  an  die  ethischen  Forderungen  der  Gesellschaft 
äußert,  eher  der  Schlußpunkt  einer  sich  erschöpfenden  Reihe  zu  sein, 
die  nach  abwärts  gerichtet  ist,  während  der  Neurotiker  einen  Aufstieg 
bedeutet.  Degeneration  und  Rückschlagserscheinung  haben  gewiß  viel 
Gemeinsames.  Aber  gleiche  Ursachen  haben  oft  verschiedene  Wir- 
kungen. Ich  verweise  nur  auf  die  jetzt  gut  gekannten  Gesetze  der  In- 
zucht. Verwandtenehen  können  durch  Summierung  der  guten  Anlagen 
zur  Bildung  eines  Genies,  aber  auch  durch  Verstärkung  krankhafter 
Dispositionen  zur  mehr  oder  minder  pathologischen  Entartung  führen. 

Steinach  hat  fünf  Hoden  von  Homosexuellen  untersucht1)    und 
einen  gewissen  Degenerationstypus  nachweisen  können.    Nach  seinen 

*)  Histologische  Beschaffenheit  der  Keimdrüse  bei  homosexuellen  Männern.    Aren. 
f.  Entwicklungsmechanik  der  Organismen.  Bd.  46.  H.  1. 


Rückblick  und  Ausblick.  483 

Feststellungen  ist  der  Hode  solcher  Mensehen  charakterisiert  durch 
einen  gewissen  Degenerations-  oder  atrophischen  Zustand  der  Samen- 
kanälchen,  durch  Verringerung  und  teilweise  Degeneration  der  Leydig- 
schen  Zellen  und  das  Vorhandensein  von  großen  interstitiellen  Zellen, 
die  Steinach  nach  Aussehen  und  Bau  als  den  Luteinzellen  nahestehende 
Elemente  bezeichnet  hat.  Der  Autor  hält  die  mikroskopischen  Bilder 
—  ganz  besonders  die  der  Degenerationserscheinungen  —  für  so  auf- 
fallend, „daß  die  Kriterien  der  angeborenen  Homo- 
sexualität auch  von  dem  histologisch  nicht  sehr 
geübten  Arzt  sofort  erkannt  und  sowohl  für  die 
Entschließung  zur  operativen  Behandlung  wie 
auch  zur  etwaigen  forensischen  Begutachtung 
verwertet   werden  können." 

Sehr  treffend  kritisiert  Kyrie  diese  Behauptung  in  der  „Wiener 
klin.  Wochenschrift"  (1920,  Nr.  4) : 

Diesen  Schlußfolgerungen  Steinachs  kann  der  Referent  nicht  bei- 
pflichten  und   wohl   jeder,    der    sich    mit    systematischen    Studien    der 
Strukturverhältnisse  des   Hodens   beschäftigt  und   die   Schwierigkeiten, 
welche  sich  der  Deutung  all  der  mannigfachen  pathologischen  Vorkomm- 
nisse in  diesem  Organ  entgegenstellen,  kennen  gelernt  hat,  wird  zu  dem 
gleichen  ablehnenden  Urteil  kommen  müssen.   Die  Dinge  liegen  durchaus 
nicht  so  einfach,  daß  man  auf  Grund  der  Untersuchung  einzelner  Testikel 
von  bestimmten  Krankheitsgruppen,  durch  Vergleich  derselben  mit  nor- 
malen   und    gewissen    pathologischen    Zuständen    ohneweiters    charak- 
teristische Merkmale   der   Organläsion  für   die  betreffende   Erkrankung 
ableiten  kann.    Jedem  Pathologen  ist  bekannt,  daß  die  verschiedensten 
Noxen  Degenerationszustände  im  Hodenparenclrym  bedingen  können,  die 
sich  prinzipiell  immer  wieder  gleichen.    Jeder  Insult,  mag  er  auch  noch 
so  verschiedener  Qualität  sein,  der  den  Testikel  trifft,  bewirkt  grund- 
sätzlich   dasselbe:     Degenerationserscheinungen    am    Samen    bildenden 
Apparat,  deren  höchstes  Stadium  durch  die  totale  Atrophie  des  Organes 
ausgedrückt  ist;    die   Zwischenzellen  verhalten  sich  hiebei  verschieden, 
je  nach  dem  Grade  der  Läsion  befinden  sie  sich  in  einem  hypertrophischen 
oder  atrophischen  Zustand.    Da  es  nun  kaum  eine  Allgemeinerkrankung 
gibt,  die  den  Hoden  nicht  schädigen  würde,  sind  auch  Degenerations- 
zustände  im  Hodenparenchym  ein  ungemein  häufiges  Vorkommnis.    Be- 
kanntlich stoßt  man  bei  Reihenuntersuchungen  oft  genug  auf  Testikel 
jugendlicher,  vollkräftig  entwickelter  Individuen  (beispielsweise  Material 
von  Selbstmördern,  von  Individuen,  welche  bei  Unglücksfällen  zugrunde 
gegangen  sind),  die  bedeutende  Parenchymläsionen  im  Sinne  von  Organ- 
degeneration oder  -atrophie  erkennen  lassen,  ohne  daß  sich  eine  direkte 
Ursache  hiefür  aufdecken  ließe.   Man  erwartet  in  solchen  Fällen  normale 
Organe  und  findet  pathologische  vor.    Durch  das  ganze  Organ  gleich- 
mäßig   entwickelte    normale    Verhältnisse    sind    bekanntlich    überhaupt 
nur  relativ  selten  anzutreffea 

Diese,  im  Rahmen  eines  Referates  nur  kurz  skizzierbaren  Tat- 
sachen müssen  bei  Beurteilung  pathologischer  Hodenzustände  im  all- 

31* 


484  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

gemeinen  zur  Vorsicht  mahnen;  und  dieses  gilt  auch  für  das  vor- 
liegende Material.  Steinach  hat  bei  homosexuellen  Männern  De^ene- 
rationszustände  im  Hoden  gefunden ;  d a ß  d i e s  e  L ä s  i  o n e n  d ur  c  h 
die  Homosexualität  bedingt  sind,  ist  damit  noch 
keineswegs  bewiesen.  Die  Degenerationserscheinungen,  wie  sie 
Stemach  beschreibt  und  für  das  Wesentliche  hält,  unterscheiden  sich 
in  gar  nichts  von  solchen,  wie  man  sie  bei  systematischer  Untersuchung 
der  Keimdrüsen  überhaupt  häufig  antrifft. 

Bezüglich  der  Deutung  der  großen,  'im  Zwischengewebe  liegenden 
Elemente  öieSleinach  als  mit  Luteinzellen  übereinstimmende,  bzw.  weib- 
liche Pubertatsdrüsenzellen  anspricht  und  deren  Vorkommen  er  mit  dem 
Atrophierungsprozeß  des  Organs  in  ursächlichen  Zusammenhang  bringt 
erscheint  wohl  auch  noch  entsprechende  Reserve  geboten.  Die  Variations- 
S*S£  i? ei"  ^wis^henzellen  ißt  eine  so  große,  die  Bilder,  unter  denen 
sich  dieselben  bei  Degenerationszuständen  des  Organs  präsentieren,  sind 
so  manmgfache,  daß  der  Versuch  einer  Agnoszierung  in  der  Richtung, 
wie  »xe  hier  von  Steinach  eingeschlagen  wird,  doch  kaum  anders  als  im 
r,7  ^tiven  Eindruckes  gewertet  werden  kann.  Unter  keinen 
Umstanden   liegen   die   Dinge  so   einfach,   daß   „der  histologisch   auch 

Art  &f^i  ,ArZ  X  TaJf hältniSSen  der  VOn  SUi™h  geschilderten 
Art  iigend  welche  Schlußfolgerungen  bezüglich  etwaig  bestehender 
Homosexualität  bei   dem   betreffenden   Individuum   wagen   dürfte 

Ich  neige  auch  zur  Ansicht,  daß  Steinach  Degenerationserschei- 
nungen beschrieben  hat,  wie  man  sie  wahrscheinlich  bei  vielen  anderen 
JNeurotikern  und  Verbrechern  finden  wird.  Steinach  müßte  noch  viel 
exaktere  Beweise  erbringen.  Und  schließlich  beweisen  diese  histo- 
logischen Befunde,  was  ich  immer  angenommen  habe:  daß  der  Homo- 
sexuelle eine  Rückschlagserscheinung  ist. 

In  dieser  atavistischen  Anlage  sehe  ich  die  Disposition  zur 
Homosexualität,  die  jedem  Neurotiker  eigen  ist.  Vielleicht  daß  noch 
organische  Veränderungen  eine  Bedeutung  haben,  wie  ich  sie  bei 
vielen  Homosexuellen  mehr  oder  minder  ausgeprägt  beobachten  konnte. 
Daß  Menschen  von  ausgesprochen  bisexuellem  Typus  nicht  homo- 
sexuell werden,  beweist  nichts  gegen  diese  organische  Grundlage.  Das 
ist  die  Stelle,  wo  ich  mit  Hirschfelds  Zwischenstufentheorie  zusammen- 
treffe. Von  hier  aus  scheiden  sich  unsere  Wege.  Diese  organischen 
Zusammenhänge  sind  einer  späteren  Untersuchung  vorbehalten.  Stehen 
wir  doch  auch  in  der  Erforschung  der  organischen  Bisexualität  erst  im 
Beginne  neuer  Erkenntnisse.  Besonders  die  Konstatierung  des  Halb- 
seitenhermaphroditismus  scheint. mir  für  die  Zukunft  eine  besondere 
Bedeutung  zu  haben.  Ist  mir  doch  jetzt  bei  der  Untersuchung  eines 
großen  Menschenmaterials,  wie  es  mir  in  der  Kriegszeit  zur  Verfügung 
stand,  aufgefallen,  wie  oft  sich  eine  gegengeschlechtliche  Anlage  speziell 
auf  der  linken  Seite  nachweisen  läßt.  (Bei  Männern  einseitige  Gynäko- 
mastie,   mangelnder   Haarwuchs,   asymmetrische   Gesichtsbildung,    die 


I 


Rückblick  und  Ausblick.  485 

links  mehr  weiblichen  Typus  aufweist.)  Auch  der  Nachweis  des  in- 
fantilen Typus  dürfte  für  die  Konstatierung  einer  organischen  Dis- 
position zur  Homosexualität  von  Bedeutung  sein. 

Doch  dieser  Nachweis  enthebt  uns  nicht  der  Verpflichtung,  eine 
Psychogenese  der  Homosexualität  zu  begründen.  Ich  glaube  es  deutlich 
bewiesen  zu  haben,  daß  es  eine  solche  Psychogenese  gibt.  Aber  in  der 
verwirrenden  Fülle  der  Möglichkeiten,  die  zur  homosexuellen  Neurose 
führen,  gibt  es  keine  Regeln!  Jeder  einzelne  Fall  ist  eine  Aufgabe  für 
sieh  und  gerade  in  diesem  Falle  heißt  es  strenge  individualisieren  und 
sich  davor  hüten,  durch  ein  bestimmtes  Schema  die  künftige  Forschung 
zu  hemmen. 

Eine  Frage,  die  kein  Sexualforscher  bis  heute  erschöpfend  be- 
antworten konnte,  wirft  sich  auf:  Wie  kommt  es,  daß  gerade  die  Homo- 
sexualität und  besonders  die  männliche  Homosexualität  sozial  so  ver- 
pönt ist?  Wie  kommt  es,  daß  unsere  Gesetzbücher  in  dieser  Frage 
meistens  rückständig  sind? 

Wir  können  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  nur  verstehen,  wenn 
wir  die  historische  Forschung  zu  Hilfe  nehmen.  Auffallend  ist  der 
Umstand,  daß  die  weibliche  Homosexualität  immer  nur  neben  der 
männlichen  einhergeht,  aber  lange  nicht  so  verpönt,  eher  stillschweigend 
geduldet  ist.  Ist  doch  Österreich  das  einzige  Land,  das  sexuellen  Um- 
gang zwischen  Frauen  als  Unzucht  bestraft.  Wir  sehen  hier  einen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Problem  der  Fortpflanzung,  für  die  der  Mann 
als  Zeuger  mehr  in  Betracht  kommt  als  das  Weib.1)  (Der  Samen,  das 
kostbarste  Gut,  mit  dem  ein  Mann  mehrere  Frauen  befruchten  kann, 
darf  nicht  nutzlos  verschleudert  werden.) 

Der  energische  Kampf  gegen  die  Homosexualität  fängt  mit  dem 
Judentum   an.    Mit   dem   Monotheismus   entwickelte   sich   der   Mono- 
sexualismus.    Die  Bibel  erwähnt  die  Homosexualität  kaum.    Kinder- 
segen, Fortpflanzung,  Menschenreichtum  waren  Notwendigkeiten,  denen 
sich  die  sexuellen  Triebrichtungen  unterordnen  mußten.  Wir  können 
daher  mit  einer  gewissen  Berechtigung  annehmen,  daß  das  Judentum 
die  Homosexualität  aus  sozialen  Motiven  bekämpft  hat.    Andrerseits 
war  die  Homosexualität  in  Griechenland  aus  sozialen  Motiven  geduldet, 
ja  sogar  gestattet  und  eingeführt.   Aristoteles  ist  der  Ansicht,  daß  die 
Dorier  in  ihren  Sitten  die  Tendenz  hatten,  durch  Begünstigung  der 
Knabenliebe  und  Trennung  der  Weiber  von  der  Gesellschaft  die  Be- 


*)  Eine  treffliche  Darstellung  der  Geschichte  der  Homosexualität  findet  sich  bei 
HirschfeU  (I.e.). 


486  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Völkerungszunahme  einzuschränken.1)  Aber  diese  Tendenz  allein  würde 
uns  die  Wertschätzung  der  Homosexualität  in  Griechenland  nicht  er- 
klären. 

Ich  verweise  auf  die  lesenswerte  Arbeit  eines  Philologen,  Professor 
E.  Bethe.*) 

Der  Verfasser  führt  den  Nachweis,  daß  die  Knabenliebe  im  Hellas 
von  den  Doriern  eingeführt  wurde.  Wenngleich  sich  Spuren  der  Knabenliebe 
auch  bei  den  Ioniern  finden,  so  wurde  sie,  wie  das  Rittertum  in  Griechenland 
durch  die  „Dorier",  zur  Mode.  Sie  war  nur  dem  freien  Manne,  dem  Ritter 
vorbehalten,  dem  Sklaven  (oft  bei  Todesstrafe!)  verboten.  Diese  Liebe  war 
in  festen  Formeln  geregelt  und  eine  staatliche  Institution.  In  Sparta,  Kreta, 
Theben  beruhte  die  Erziehung  zur  äps-n}  in  der  Herrenkaste  auf  Päderastie. 
„In  Sparta  waren  die  Liebhaber  für  die  Geliebten,  die  vom  zwölften  Jahre 
an  mit  ihnen  verkehrten,  so  sehr  verantwortlich,  daß  für  eine  unschamhafte 
Handlung  ihres  Geliebten  sie,  nicht  diese  gestraft  wurden."  „Das  Schlachtfeld 
von  Chaironeia  deckten  die  Liebespaare  der  heiligen  Schar  der  Thebaner  Mann 
für  Mann."  In  Kreta  ging  die  Liebeswahl  der  Knaben  in  der  Form  des 
Brautraubes  vor  sich.  Der  Liebhaber  kündigte  der  Familie  den  Raub 
an.  War  diese  mit  der  Wahl  nicht  einverstanden,  so  trachtete  sie  den  Raub 
zu  verhindern.  Je  höher  der  Liebende  stand,  desto  größer  die  Ehre  für  die 
Familie  und  den  Knaben.  Der  Erwählte  wurde  dann  von  seinem  Gönner 
bei  seiner  Rückkehr  aus  dem  fremden  Hause  mit  einer  Kriegsrüstung,  Becher 
und  Rind  beschenkt. 

Ja,  in  Theben,  Thera  und  Kreta  entbehrte  diese  Verein i- 
gungnicht  der  religiösen  Weihe.  „Die  Verlobung  oder  vielmehr 
die  fleischliche  Vereinigung  am  heiligen  Orte  selbst  unter  dem  Schutze  eines 
Gottes  oder  Heros  steht  bei  Thera  und  für  Theben  sicher.  In  Thera  reden 
eine  nicht  mißverständliche  Sprache  die  hocharchalischen  Felsin'schriften  doch 
wohl  des  siebenten  Jahrhunderts,  mit  gewaltigen  Buchstaben  eingemeißelt 
auf  dem  Götterberg  unmittelbar  nahe  der  Stadt,  in  50—70  Meter  vom  Tempel 
des  Apollon  Karneies  und  an  den  heiligen  Stätten  des  Zeus.  Da  heißt  es: 
„An  heiliger  Stätte,  unter  Anrufung  des  Zeus  hat  hier  Krion  seine  Ver- 
bindung mit  dem  Sohne  des  Bathykles  vollzogen  und  er  hat  sie  stolz  der 
Welt  verkündet  und  ihr  ein  unverwüstliches  Denkmal  gesetzt.  Und  viele 
Theräer  mit  ihm  und  nach  ihm  haben  an  derselben  heiligen  Stelle  denselben 
heiligen  Bund  mit  ihren  Knaben  geschlossen." 

In  Kreta  galt  es  für  eine  Schande,  wenn  ein  Knabe  aus  „ritterlichem" 
Hause  keinen  Liebhaber  fand.  Umgekehrt  galt  es  als  Ehre,  wenn  sehr  viele 
Männer  sich  um  ihn  bewarben. 

Dieses  Verhältnis  hatte  für  Liebhaber  und  Knaben  die  besten  Folgen. 
Jeder  wollte  das  Höchste  leisten,  um  seine  Tüchtigkeit  zu  beweisen  und 
als  äyaO-6;  &v^p  dazustehen.  Selbst  die  Heldensagen  mußten  auf  diese  Liebe 
Rücksicht  nehmen.  Die  Ruhmestaten  eines  Herakles  geschahen  dem  männ- 
lichen Liebling  Eurystheus  zu  Ehren.  Die  Abweisung  eines  werbenden  Mannes 


*)  Politik.  II.  Zitiert  nach  Havelock  Ellis  und  I.A.Symonds,  Das  konträre  Ge- 
schlechtsgefühl.   Leipzig,  Georg  H.  Wigands  Verlag,  1896. 

a)  Die  dorische  Knabenliebe.  (Ihre  Ethik  und  ihre  Idee.)  Rheinisches 
Museum  für  Philologie.  Neue  Folge.  Band  62,  1907. 





Rückblick  und  Ausblick.  487 

galt  als  Schmach,  welche  die  Ehre  befleckte.  Plutarch  erzählt  die  Geschichte, 
wie  Aristodamus  einen  sich  widersetzenden  Knaben  mit  dem  Schwerte  nieder- 
stößt. „Man  gerät  unwillkürlich  in  die  Sprache  unseres  ritterlichen  Ehren- 
komments" —  sagt  Bethe. 

Durch  diesen  Akt  übertrug  der  Ritter  seine  Ritterlichkeit  (äp"r^  auf  den  . 
Knaben.  Das  hatte  einen  symbolischen  Sinn.  Bei  den  Spartanern  hieß  der 
Päderasts<:o-vT,vxc.  der"  etwas  einbläst  (von  siowveW).  Was  aber  hauchte  der  Ge- 
liebte dem  Knaben  ein?  —  wohl  nur  das  -vs^.xdie  Seele,  ein  Glaube,  der  von 
den  ältesten  Zeiten  (Bibel!)  bis  ins  Christentum  hinein  lebendig  war.  Die  Seele 
des  Menschen  waren  jedoch  nach  primitiver  Anschauung  seine  verschiedenen 
Se-  und  Exkrete.  In  Urin,  Kot,  Blut,  Samen  steckte  die  Lebenskraft  und  ein 
großer  Zauber.  Mit  dem  männlichen  Samen  also  flößte  der  Dorier  seinem 
Knaben  die  Heldenkraft  ein.  (Ähnlich  wie  die  Wilden  in  Neuguinea  den  Urin 
des  Häuptlings  trinken,  um  seine  Kraft  und  Tapferkeit  zu  erwerben.  Eine 
Menge  ähnlicher  Beispiele  führt  Bethe  an.)  Der  Samen  wurde  als  Seele 
angesehen. 

(Bethe  weist  darauf  hin,  daß  die  Leber,  das  Herz  und  besonders  der 
Phallus  ebenfalls  als  Seele  aufgefaßt  wurden.  Näheres  ist  beim  Autor  nach- 
zulesen!) 

Die  sonderbare  Vorstellung,  seine  Seele  a  posteriori  einzuflößen,  führt 
der  Autor  auf  die  primitiven  Anschauungen  zurück.  Die  Tiere  hatten  keinen 
Widerwillen  gegen  diese  Liebesopferungen,  und  Menschen,  die  dem  Urin  und 
dem  Kote  zauberhafte  Wirkungen  zuschrieben,  könnten  keine  Ekelvorstel- 
lungen haben.  Wenn  der  Anus  als  Eingangspforte  für  böse  Damone  gegolten 
habe,  warum  sollte  nicht  der  gute  Zauber  der  Heldenkraft  da  hmem  schlupfen 

können? 

Die  Idee  aus  der  sich  die  Päderastie  als  staatliche  Institution  bei  den 
Dörfern  entwickelt  hatte,  konnte  sich  auf  die  Dauer  nicht  halten.  Sie  mußte 
mit  ihnen  zusammenbrechen  .  .  .  Aber  es  blieb  die  Knabenliebe  als  die  all- 
gemein geübte  Lust  und  galt  durch  das  ganze  Altertum  und  im  ganzen  weiten 
hellenischen  Kulturgebiet  geradezu  als  ein  notwendiges  Element  des  dezenten, 
griechisch  gebildeten  Lebens.  Erst  die  christliche  Kirche,  die  von  jeher  gegen 
dieses  Heidenlaster  besonders  geeifert,  hat  die  Päderastie  aus  der  christlichen 
Gesellschaft  verbannt  und  da  sie  es  nicht  durch  geistige  Mittel  vermochte,  im 
Jahre  342  ihre  kriminelle  Bestrafung  durchgesetzt." 

So  weit  der  Philologe,  der  noch  betont,  daß  in  der  vordorischen  Zeit 
(z.  B.  bei  Homer)  6ich  keine  Anhaltspunkte  für  die  Institution  der  Knaben- 
liebe finden. 

Bethe  verfällt  in  den  Fehler  vieler  Geschichtsforscher  und  Philo- 
sophen, die  christliche  Kirche  für  die  Neuorientierung  der  sexuellen 
Moral  verantwortlich  zu  machen.  Auch  Nietzsche  ist  der  gleichen  An- 
sicht. In  erster  Linie  übersehen  diese  Autoren,  daß  die  Neuorientierung 
schon  mit  dem  Judentum  einsetzt.  Zweitens,  daß  Religionen  auch  nur 
die  Resultate  sozialer  Notwendigkeiten  sind.  Die  Religionen  wußten 
sich  noch  immer  den  sozialen  Forderungen  ihrer  Zeit  anzupassen,  ja 
sie  sogar  durchzusetzen.  Unter  den  Imperativen  der  Religion  leiden  nur 
de  Über  den  Durchschnitt  emporragenden,  die  Freien,  die  Empörer,  die 


488  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ungebändigten.   Für  die  große  Masse  wird  es  immer  eine  Religion  und 
wird  es  auch  sexuelle  Hemmungen  religiöser  Natur  geben  müssen. 

Die  Sexualität  ändert  sich  stetig  und  strebt  einer  Verfeinerung  zu. 
Das  kann  kein  Einsichtiger  leugnen.  Es  ward  immer  mehr  von  der  Trieb- 
kraft gedrosselt.  Nur  wenn  die  Drosselung  zu  arg  wird,  kommt  es  zu 
Rückschlägen,  wie  sie  sich  in  den  letzten  Jahrzehriten  in  Forderungen 
nach  freier  Liebe  und  offener  Besprechung  der  Sexualfragen  geäußert 
haben.  Aber  wenn  nicht  alle  Zeichen  trügen,  ist  der  Wellenberg  der 
sexuellen  Freiheit  schon  im  Abstieg  und  wandelt  sich  zum  Wellentale. 
Vorkämpfer  freier  Sexualbetätigung  treten  für  Monogamie  ein,  die  Frage 
der  Fruchtbarkeit  dürfte  nach  dem  Weltkriege  einer  Erlösung  der  Homo- 
sexuellen von  der  sozialen  und  gesetzlichen  Ächtung  nicht  günstig  sein. 
Im  Gegenteil!  Wir  dürfen  uns  bald  auf  schärfere  Bestimmungen  gegen 
die  Homosexualität  gefaßt  machen,  da  wir  ja  wieder  auf  den  alttesta- 
mentarischen Standpunkt  der  Fruchtbarkeit  um  jeden  Preis  zurück- 
kommen werden. 

Man  sollte  annehmen,  daß  die  drückende  Wohnungsnot  und  die 
noch  immer  zunehmende  Arbeitslosigkeit  zu  einer  Beschränkung  der 
Kinderzahl  auffordern  würden.  Statt  dessen  sehen  wir  überall  die 
„nationalen  Kräfte"  an  der  Arbeit,  welche  eine  Vermehrung  der  Volks- 
zahl fordern.  Die  erwähnte  Arbeit  von  Kraepelin  war  der  erste  Vor- 
stoß der  Wissenschaft  gegen  die  Homosexualität  und  Onanie  als  be- 
völkerungseinschränkende Tendenzen.  Weitere  Arbeiten  werden  folgen, 
obwohl  man  froh  sein  sollte,  daß  die  Auto-Erotiker  und  Homosexuellen 
sich  freiwillig  von  der  Fortpflanzung  ausschließen. 

Ich  habe  schon  aufmerksam  gemacht,  daß  sich  die  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmale durch  die  Kultur  mehr  ausgeprägt  haben.  Das  vor- 
historische Stadium  mag  wahrscheinlich  ein  indifferenziertes  Ge- 
schlechtsgefühl, wie  es  Dessoir1)  der  Vorpubertät  zuschreibt,  aufge- 
wiesen haben.  Die  polare  Spannung  zwischen  Mann 
und  Weib  ist  gewachsen!  Das  erklärt  uns  den  Unterschied 
zwischen  der  griechischen  Homosexualität  und  der  modernen.  Der 
Grieche  war  bisexuell.  Er  konnte  neben  dem  Knaben  noch  den  Freund 
und  die  Frau  und  Sklavin  lieben.  Der  moderne  Homosexuelle,  der  die 
bisexuellen  Instinkte  der  archaistischen  Zeit  in  sich  trägt,  findet  ein 
anderes  Geschlecht  vor.  Er  wird  sozusagen  vor  die  Wahl  gestellt  und 
sucht  dann  immer  den  Typus,  dem  er  selbst  angehört,  den  Mann,  der  ein 
Weib  ist,  oder  das  Weib,  das  ein  Mann  ist.  Ausnahmen  beweisen  nichts 
gegen  die  Regel.  In  dem  Maße  aber,  als  die  polare  Geschlechtsspannung 
zugenommen  hat,  ist  auch  der  Haß  zwischen  Mann  und  Weib  stärker 

')  Zur  Psychologie  der  Vita  sexualie.  Allg.  Zeitschr.  f.  Psych.,  1894. 


Rückblick  und  Ausblick. 


489 


geworden.  Wie  wir  gesehen  haben  -  besonders  die  letzten  Fälle  waren 
ja  außerordentlich  beweisend  — ,  nimmt  der  Homosexuelle,  der  scheinbar 
abseits  von  diesem  Kampfe  zu  stehen  scheint,  in  seinem  Innern  die 
feindlichste  Stellung  ein.  Er  haßt  das  Weib  mit  so  grimmiger  Leiden- 
schaft, daß  er  aus  Angst  vor  dieser  Leidenschaft  das  Weib  fliehen  muß. 
Sein  Haß  ist  der  Wille  zur  Vernichtung!  Aber  diesem  Hasse  entspricht 
auch  das  polare  Gegenstück:  Die  Liebe  bis  zur  eigenen  Vernichtung. 
Der  absolute  Wille  zur  Unterwerfung.  Der  Kranke  Nr.  86  hat  uns  dieses 
Kräftespiel  in  vollkommener  Klarheit  gezeigt. 

Die  moderne  monosexuelle  Homosexualität  ist  also  eine  Form,  in 
der  sich  der  Kampf  der  Geschlechter  ausdrückt.  Die  Fülle  angeborenen 
Hasses  gestattet  es  dem  Homosexuellen  nicht,  diesen  Haß  als  Resonanz 
der  Liebe  nach  Belieben  umzugestalten;  er  muß  ihn  dem  entgegen- 
.  gesetzten  Geschlechte  zuwenden.  Dadurch  wird  allen  Homosexuellen 
der  Stolz  auf  das  gleiche  Geschlecht  eigen.  Sie  nennen  sich  die 
„Eigenen",  sie  blicken  mit  Verachtung  auf  die  Frauenknechte  und 
„weibisch'-'  gilt  manchen  männlichen  Homosexuellen  als  Schmähung, 
ausgenommen  die  Typen,  die  Frauenkleider  tragen  oder  sich  als  männ- 
liche Weiber  gebärden.  Den  gleichen  Haß  können  wir  bei  den  weiblichen 
Homosexuellen  finden.  Die  Suffragettenbewegung  hat  uns  genug  der 
Beweise  geliefert. 

Es  ist  aber  klar,  daß  die  Zahl  der  Homosexuellen  nicht  abnehmen 
wird.  Im  Gegenteil!  Ich  bin  der  Ansicht,  daß  die  Tat- 
sache der  extremen  polaren  Spannung  zwischen 
Mann  und  Weib  unter  bestimmten  Umständen 
immer  gewisse  Individuen  mit  entsprechender 
bisexuellerAnlage  in  die  Homosexualität  treiben 
und  daß  die  Zahl  der  Homosexuellen  zunehmen 
wird.  Da  ach  die  Homosexualität  als  eine  Neurose  -  wenn  man  also 
will,  als  einen  krankhaften  Zustand  auffasse,  so  muß  ich  mich  mit  aller 
Entschiedenheit  gegen  eine  Bestrafung  der  Homosexuellen,  gegen  die  ver- 
schiedenen berüchtigten  Paragraphen  aussprechen,  die  die  Ursache  von 
namenlosem  Elend  geworden  sind.  Es  fällt  auf,  daß  in  Frankreich  und 
Italien  die  Homosexualität  eine  geringere  Rolle  spielt  als  z  B  in 
Deutschland,  obwohl  sie  in  diesen  Ländern  nicht  bestraft  wird.  Oft  ent- 
falten Gefahren  und  Verbote  die  größte  Anziehungskraft  und  gerade 
der  Neurotlker  neigt  dazu,  eich  zum  Märtyrer  zu  machen.  Homosexuelle 
Beziehungen  und  Akte,  die  unter  gegenseitiger  Zustimmung  vor  sich 
gehen,  sollten  außerhalb  jedes  Gesetzes  stehen,  wie  es  der  Code 
Napoleon  auch' verfügt  hat.  Er  kennt  nur  Strafen  für  ein  öffentliches 
Ärgernis  (outrage  ä  la  pudeur) ,  d.  h.  wenn  die  Handlung  an  einem  öffent- 
lichen Orte  oder  vor  Zeugen  vor  sich  gegangen  ist;   er  bestraft  die  An- 


AnQ  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

wendung  von  Gewalt  und  schützt  die  Minderjährigen  und  Geistes- 
schwachen. 

Mit  diesen  Einschränkungen  ist  aber  auch  Allem  Genüge  getan, 
was  die  moderne  Ethik  erfordert.  Ich  begreife  es  nicht,  daß  der  Staat 
die  Homosexuellen  zur  Fortpflanzung  zwingen  will.  Wenn  ich  auch 
nicht  wie  Tarnowsky  auf  dem  Standpunkte  stehe,  daß  ihre  Nachkommen- 
schaft degeneriert  ist,  weil  die  Erfahrung  mir  oft  das  Gegenteil  bewiesen 
hat  — ,  so  sehe  ich  doch  in  dem  Entstehen  der  homosexuellen  Neurose 
eine  Art  sozialen  Instinktes.  Der  Homosexuelle  hat  die  endopsychische 
Erkenntnis  seiner  asozialen  Triebe.  Er  fühlt  sich  als  außerhalb  der 
Gesellschaft.  Er  sträubt  sich  gegen  die  Fortpflanzung  vielleicht  im 
Dienste  der  Gesellschaft.  Bedenken  wir  die  Stärke  seiner  sadistischen' 
Triebe,  so  werden  wir  begreifen,  daß  er  unter  Umständen  der  Gesell- 
schaft durch  die  freiwillige  Sterilisierung  einen  großen  Dienst  erweist. 

Es  wirft  sich  die  Frage  auf,  ob  wir  gut  daran  tun,  durch  eine 
Analyse  dem  Homosexuellen  den  Weg  zum  Weibe  zu  eröffnen.  Das  führt 
uns  zu  der  wichtigen  Frage,  ob  es  eine  Therapie  der  Homosexualität 
überhaupt  gibt. 

Wie  meine  Erfahrungen  beweisen,  kann  die  Analyse  hier  und  da 
zum  Erfolg  führen.  Allerdings  nur  unter  gewissen  Bedingungen.  Der 
Homosexuelle  muß  den  Willen  zur  Gesundheit  haben.  Er  muß  eine 
Änderung  seiner  Einstellung  wirklich  anstreben. 

Und  da  zeigt  unsere  Erfahrung,  daß  dieser  Wille  zur  Gesundheit 
nur  bei  den  leichteren  Formen  der  Homosexualität  vorkommt,  in  denen 
der  latente  Sadismus  nicht  das  Krankheitsbild  beherrscht.1)  Daß  eine 
solche  Heilung  des  Homosexuellen  in  gewissem  Sinne  möglich  ist,  möchte 
ich  nach  meinen  letzten   Erfahrungen  betonen.    Die  Heilung  kann 


*)  Ich  kann  die  Behauptung  von  Ferenczi  („Zur  Nosologie  der  männlichen 
Homosexualität"  (Homoerotik),  Int.  Zeitschr.  f.  ärztl.  Psychoanalyse,  2.  Bd.,  1914)  nicht 
bestätigen,  der  zwei  Arten  von  Homosexualität  annimmt:  1.  den  pas  si  ven  „Subjekt- 
Homocrotiker",  der  einen  angeborenen  Zustand  repräsentiere,  eine  Zwischenstufe  im 
Sinne  von  Ilirschfeld  darstelle  und  unheilbar  sei,  und  2.  den  aktiven  „Objekt-Homo- 
erotiker",  den  er  als  eine  besondere  Form  der  Zwangsneurose  bezeichnet.  Der  passive 
wende  sich  nie  an  den  Arzt,  er  sei  eben  ein  „echter"  Homosexueller;  der  aktive  eei 
über  seinen  Zustand  unglücklich,  er  zeige  die  typische  Reihenbildung.  Beiden  sei  es 
eigen,  daß  ihnen   das  gleiche  Genitale  zeitlebens  Liebesbedingung  bleibe. 

Ich  habe  viele  Homosexuelle  gesehen,  die  sich  abwechselnd  aktiv  oder  passiv 
betätigen.  Andrerseits  sah  ich  „Aktiv-Homosexuelle",  die  über  ihren  Zustand  sehr 
unglücklich  waren,  und  „Passiv-Homosexuelle",  die  geheilt  werden  wollten.  Nur  nebenbei 
möchte  ich  erwähnen,  daß  Ferenczi  Gedanken  meines  Aufsatzes  „Masken  der  Homo- 
sexualität" (Zentralbl.  f.  Psychoanalyse,  1912)  benützt,  ohne  die  Quelle  zu  nennen.  Seit 
mich  Freud  mit  dem  großen  Banne  belegt  hat,  betrachtet  die  engere  Freud-Schule 
meine  Erkenntnisse  als  Strandgut,  über  daB  man  nach  Belieben  verfügen  kann 


Rückblick  und  Ausblick.  491 

spontan  erfolgen,  sie  kann  aber  durch  eine  psychotherapeutische  Be- 
handlung angebahnt  und  ausgebaut  werden. 

Gerade  im  letzten  Jahre  gelang  es  mir,  einige  schwere  Fälle  voll- 
kommen zu  heilen. 

Diese  psychotherapeutische  Behandlung  kann  niemals  die  Hyp- 
nose sein.  Was  soll  auch  die  Hypnose  nützen,  wenn  der  Homosexuelle 
nicht  selbst  klaren  Geistes  seine  falschen  Positionen  erkennt,  wenn  er 
nicht  lernt,  all  das  Verdrängte  offen  zu  sehen,  was  er  so  lange  nicht 
sehen  wollte?  Im  Gegensatz  zu  Krafft-Ebing,  Schrenck-N  otzing  und 
Alfred  Fuchs  habe  ich  von  einer  hypnotischen  Behandlung  der  Homo- 
sexualität nie  einen  dauernden  Erfolg  gesehen.  Wir  müssen  auch  jenen 
Homosexuellen  gegenüber  vorsichtig  sein,  welche  uns  bestätigen,  daß 
sie  durch  uns  geheilt  worden  sind.  Der  erste  Fall  im  neunten  Kapitel 
zeigt  uns  ja,  daß  manche  Homosexuelle,  um  dem  Arzte  einen  Gefallen 
zu  erweisen  und  mit  Ehren  aus  der  Behandlung  zu  kommen,  schließlich 
behaupten,  sie  wären  gesund,  ohne  dabei  ihre  eingewurzelten  Ein- 
stellungen im  geringsten  zu  verändern.  Auch  der  A  s  s  o  z  i  a  t  io  n  s- 
t  h  e  r  a  p  i  e  von  Moll  kann  ich  nicht  das  Wort  reden.  Diese  Be- 
handlung besteht  in  einer  methodischen  Ausbildung  der  normalen  und 
in  der  methodischen  Unterdrückung  der  perversen  Assoziationen.  Moll, 
der  diese  Therapie  vorgeschlagen  und  ihr  den  Namen  gegeben  hat, 
läßt  die  Homosexuellen  fleißig  in  weiblicher  Gesellschaft  verkehren, 
damit  der  spezifische  Reiz  des  Weibes  ausgiebig  wirken  kann,  er 
regelt  die  Lektüre  des  Kranken,  er  bekämpft  die  homosexuellen 
Fhantasien.  Der  Patient  muß  sich  selbst  vor  dem  Einschlafen  „normale 
Bilder"  vorstellen,  um  auf  diese  Weise  auch  sein  Traumleben  zu  beein- 
flussen.1) Allerdings  darf  man  sich  nicht  wie  Moll  vorstellen,  daß  die 
heterosexuellen  Traumbilder  durch  die  Assoziationstherapie  hervorge- 
rufen werden.  Sie  werden  nur  bewußtseinsfähig  gemacht.  Sie  waren 
immer  vorhanden.  Dem  Kranken  fehlte  vorher  der  Mut,  sich  dazu 
zu  bekennen. 

Ich  will  den  relativen  Wert  der  Assoziationsmethode  nicht  be- 
streiten. Sicher  ist  es  für  den  Homosexuellen,  der  genesen  will,  nicht, 
von  Vorteil,  wenn  er  sich  in  homosexuellen  Zirkeln  bewegt,  dort  immer 
wieder  hören  muß,  daß  der  Zustand  angeboren  und  ein  Fatum  sei.  Ich 
habe  ja  auf  Beispiele  hingewiesen,  die  uns  zeigen,  wie  die  latente  Homo- 
sexualität durch  das  Beispiel  und  den  Verkehr  mit  den  Homosexuellen 
manifest  wurde  und  der  heterosexuelle  Stromanteil  verödete.  Damit 
wollte  ich  nicht  irgend  welchen  Zwangsmaßregeln  das  Wort  reden  und 
den  Homosexuellen  ihre  Bewegungs-  und  Versammlungsfreiheit  rauben. 


l)  Handbuch  der  Sexualwissenschaften,  S.  664. 


492 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Ich  habe  mich  schon  einmal  gegen  alle  Einschränkungen  und  Bestra- 
fungen erklärt.  Man  tut  aber  gut.  seinen  Kranken,  welche  eine  Änderung 
ihres  Zustandes  anstreben,  zuerst  jeden  Verkehr  mit  Homosexuellen  zu 
verbieten. 

Ich  möchte  aber  bezweifeln,  ob  die  Assoziationstherapie  allein 
imstande  ist,  einen  vollen  Erfolg  zu  erzielen.  Der  Kranke  muß  sich 
selbst  erst  erkennen  und  genau  sehen,  wo  der  Feind  sitzt,  den  er  zu  be- 
kämpfen hat.  Denken  wir  an  die  vielen  Kranken  zurück,  bei  denen  ein 
verdrängter  Sadismus  die  Ursache  der  Angst  vor  dem  Weibe  war.  Diese 
Menschen  müssen  doch  erst  diesen  Sadismus  bewußt  überwinden,  müssen 
einsehen,  daß  die  Angst  eine  überflüssige  Sicherung  gegen  Triebe  ist, 
welche  unter  normalen  Verhältnissen  nie  durchbrechen. 

Zur  Heilung  einer  Homosexualität  gehört  in 
erster  Linie  volle  Selbsterkenntnis.  Diese  kann  aber 
nur  durch  eine  längere  Analyse  gewonnen  werden. x)  Der  Arzt  muß 
sich  einige  Monate  eingehend  mit  dem  Patienten  beschäftigen,  bis  alle 
jene  bei  Seite  geschobenen  Einstellungen  in  das  Blickfeld  des  Bewußt- 
seins treten  und  scharf  erkannt  werden,  welche  der  Kranke  beharrlich 
übersehen  hat.  Diese  Erziehung  zum  Sehen  von  Tatsachen,  die  der 
Kranke  nicht  sehen  wollte,  ist  die  heilpädagogische  Aufgabe  des  Arztes. 
Der  Kranice  gleicht  einem  Menschen  mit  Torticolliß,  der  konstant  in 
eine  bestimmte  Richtung  sieht  und  den  Blick  in  die  andere  Richtung 
meidet,  weil  er  sofort  Unlustempfindungen  erleidet.  Dieser  seelische 
Torticollis  muß  überwunden  werden.  Der  Homosexuelle  muß  —  will 
er  genesen  —  seinen  ganzen  geistigen  Horizont  ungehindert  über- 
blicken können. 

Diese  Aufgabe  ist  keineswegs  eine  leichte.  Sie  fordert  die  ganze 
ärztliche  Kunst,  Scharfsinn,  Energie,  Diplomatie,  Zartgefühl,  Freund- 
schaft und  Ausdauer.  Zu  dieser  Aufgabe  sind  nur  wenige  Ärzte  berufen. 
Vielleicht  wäre  die  Gegnerschaft  gegen  die  Psychanalyse  viel  geringer 
gewesen,  wenn  sie  nur  von  sehr  guten  Psychotherapeuten  und  gewiegten 
Menschenkennern  mit  künstlerischem  Einschlag  geübt  worden  wäre. 
Denn  wenn  schon  die  Medizin  eine  Kunst  und  kein  Handwerk  ist,  so  ist 
die  Psychotherapie,  welche  mit  der  Analyse  arbeitet,  die  schwerste  aller 
Künste.  Der  Arzt  gleicht  dann  dem  Bildhauer,  der  aus  sprödem  Material 
eine  bestimmte  Form  schaffen  muß. 

Leider  muß  ich  es  an  dieser  Stelle  betonen,  daß  die  von  Freud 
inaugurierte  Psychanalyse  in  Gefahr  ist,  durch  leichtsinnige  Anwendung 
in  Mißkredit  zu  geraten.  Einerseits  haben  die  maßlosen  Übertreibungen 
des  Meisters  und  seiner  Anhänger  viele  Ärzte  kopfscheu  gemacht,  andrer- 


*)  Der  Fall  Nr.  88  ist  eine  Ausnahme! 


Rückblick  und  Ausblick.  493 

1 
seits  sind  viele  geheilte  Patienten  selbst  Analytiker  geworden,  ohne 
tatsächlich  vollkommen  gesund  zu  sein.  Was  würde  man  von  einem 
Badearzte,  der  in  seinem  internen  Fache  sein*  tüchtig  ist,  sagen,  wenn  er 
sich  plötzlich  unterfängt,  eine  schwierige  Laparotomie  zu  machen?  Eine 
Analyse  ist  einer  komplizierten  Operation  zu  vergleichen,  in  der  das 
Messer  von  sicheren,  gewandten  und  künstlerischen  Händen  geführt 
werden  muß.  In  der  Analyse  kann  man  nicht  wie  in  der  Hypnose  dilet- 
tieren.  Nur  an  der  Hand  eines  erfahrenen  Meisters  kann  man  die 
schwierige  Kunst  lernen  und  selbst  zum  Meister  werden. 

Wahrscheinlich  wird  die  Analyse,  die  wir  heute  betreiben,  in  der 
Zukunft  als  rohes  Anfängertum  bespöttelt  werden.  Die  verschiedenen 
Feinheiten  und  Abstufungen  werden  erst  von  einer  künftigen  Generation 
festgestellt  werden  können. 

Noch  ist  der  analytische  Besitzstand  nicht  gesichert. 
Wie  fest  war  ich  von  allen  Freudschen  Mechanismen  überzeugt, 
so  lange  die  verführerische  Nähe  des  großen  Entdeckers  meinen  klaren 
Blick  verwirrte!  Wie  viel  mußte  ich  umlernen,  korrigieren,  besänftigen, 
unterstreichen,  überwinden,  vergessen,  mit  anderen  Augen  ansehen,  um 
zu  erkennen,  daß  wir  erst  im  Beginne  der  Erkenntnis  sind  und  daß  wir 
unsere  Wahrheiten  nur  als  Sprungbretter  benützen  dürfen,  um  über  sie 
hinwegzukommen!  Schließlich  bildet  sich  jeder  Psychotherapeut  seine 
Technik  selbst.  Die  wichtigste  aller  Voraussetzungen 
für  die  Analyse  — und  für  jede  Forschung  — ist  es, 
keine  Voraussetzungen  zu  haben,  jeden  Kranken 
als  ein  Novum  zu  betrachten  und  sich  darauf  ge- 
faßt zu  machen,  daß  er  in  eines  unserer  fertigen 
Schemen  nicht  hineinpaßt,  irgend  eines  unserer 
Ergebnisse  über  den  Haufen  wirft.  Denn  von  der 
Vielgestaltigkeit  der  Neurose  wird  selbst  der 
Arzt  verblüfft,  der  sich  Jahrzehnte  mit  ihrer  Er- 
forschung befaßt. 

Aber  trotz  dieser  Buntheit  der  Bilder,  dieser  verwirrenden  Fülle 
der  Ursachen,  die  zu  einer  Krankheit  führen,  bleibt  ein  Sicheres  und 
Unerschütterliches  :  Das  Nichtsehenwollen  der  Neurotiker,  jene  Er- 
scheinung, die  Freud  die  „Verdrängung"  genannt  hat  -  und  der 
„psychische  Konflikt".  Verstehen  wir  erst,  daß  der  Kranke  an  der  Un- 
löslichkeit eines  Konfliktes  gescheitert  ist  und  daß  seine  Neurose  ein 
Notverband  ist,  bestimmt,  ihm  schlecht  und  recht  über  die  Schwierig- 
keiten hinwegzuhelfen,  wobei  er  einerseits  die  Wunde  lindernd  verbirgt, 
andrerseits  aller  Welt  die  Krankheit  verrät,  so  lernen  wir  schon  lang- 
sam die  feine  Fertigkeit,  diesen  Verband  leise  zu  lösen  und  die  Wunde 
freizulegen.    Dann  kommt  die  viel  schwierigere  Aufgabe.    Wir  sehen 


494 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


die  Wunde,  aber  der  Kranke  will,  er  kann  sie  nicht  sehen.  Er  kann  so 
weit  gehen,  daß  er  behauptet,  er  hätte  keine  Wunde  und  wäre  gesund. 
Er  wäre  schon  mit  dem  Verband  oder  mit  der  Wunde  auf  die  Welt 

gekommen. 

Diese  Schwierigkeiten  sind  bei  keiner  Neurose  so  große  wie  bei  der 
Homosexualität.  Wir  haben  ja  ausgesprochen:    Die  homosexuelle  Neu- 
rose ist  die  Flucht  in  das  gleiche  Geschlecht,  hervorgerufen  durch  die 
sadistische    Einstellung    zum    entgegengesetzten.     Die    Aufgabe    der 
Analyse  ist  es,  erst  den  Seelenkonflikt  herauszufinden,  der  in  dieser  Ein- 
seitigkeit seinen  Ausdruck  gefunden  hat  ...  und  den  Kranken  zur  Er- 
kenntnis dieser  Grausamkeit  zu  bringen,  die  er  aus  der  Kinderzeit  der 
Menschheit  über  die  eigene  Kindheit  in  sein  Leben  übernommen  hat. 
Sieht    der    Homosexuelle    seine    Bisexualität     und 
die  Ursachen  seiner  Monosexualität  ein,  so  haben 
wir    die    notwendige    Erziehungsarbeit    geleistet. 
Den    letzten     Rest     der     Arbeit    muß     der     Kranke 
selbst  leisten.     Hat    er    den   Willen    zur    Genesung, 
so   wird    er    diese    Aufgabe   vollbringen,    ohne    daß 
wir    ihn    dazu    drängen.    Fehlt    dieser    innere    An- 
trieb, so  bleiben  wir  trotz   der  Analyse  machtlos. 
Ich  bin  aus  diesem  Grunde  gegen  die  praktische  Therapie  der 
Homosexualität,    wie  sie  viele  Ärzte  und  besonders  manche  Psych- 
analytiker betreiben.   Sie  treiben  den  Homosexuellen  an,  sich  hetero- 
sexuell zu  betätigen,  und  betrachten  ihn  als  geheilt,  weil  ihm  einmal 
oder  mehrere  Male  ein  Koitus  gelungen  ist.  Leider  sieht  man  oft  nach 
solchen  Augenbückserfolgen,  wie  sie  auch  die  Überredung  und  die 
Hypnose    zustandebringen,    eine    schlimme    Reaktion    eintreten.     Der 
Homosexuelle   gibt  alle  weiteren  Versuche   auf   und  zieht  seine  ur- 
sprüngliche monosexuelle  Einstellung  vor. 

Wir  dürfen  erst  von  einer  Heilung  sprechen,  wenn  der  Behandelte 
sich  in  eine  Person  des  anderen  Geschlechtes  verliebt.  Mit  der  Potentia 
coeundi  ist  nur  ein  kleiner  Erfolg  erzielt  worden.  Er  muß  die  Teilung 
des  Gefühlskomplexes  Haß-Liebe  auf  beide  Geschlechter  aufgeben 
können  und  die  bipolare  Einstellung  „Haß  und  Liebe"  zum  entgegen- 
gesetzten Geschlechte  erlangen.  Dieses  Wunder  kann  nur  die  Liebe  voll- 
bringen   Die  Erfahrung  zeigt,  daß  der  Homosexuelle  vor  der  hetero- 
sexuellen Liebe  geflohen  ist.   Sie  ist  ihm  zum  Machtproblem  geworden, 
in  dem  er  den  Sieger  darstellen  will,  selbst  um  den  Preis  der  Vernichtung 
seines  heterosexuellen  Partners.  Er  muß  die  Unterwerfung  unter  das 
WTeib  lernen  und   einsehen,   daß  in  der   wahren  Liebe  beide  Teile 
herrschen  und  beide   sich  unterwerfen.     Er   muß    auch  Erotik   und 
Sexualität  zu  einem  Ganzen  zusammenfügen.    Erst  wenn  der  Homo- 


Rückblick  und  Ausblick.  495 

sexuelle  die  Möglichkeit  hat,  Erotik  und  Sexualität  auf  ein  Individuum 
des  entgegengesetzten  Geschlechtes  zu  fixieren,  mit  einem  Worte,  im 
Sinne  des  Kulturmenschen  zu  lieben,  haben  wir  das  Recht,  von  Heilung 
zu  sprechen.  Dann  allerdings  trägt  der  größte  Heilkünstler  aller  Zeiten, 
„die  Liebe",  einen  leichten  Sieg  davon  und  der  Geheilte  wird  wie  alle 
Neurotiker  seine  Heilung  dem  Umstände  zuschreiben,  daß  ihm  der  Zu- 
fall ein  Ideal  zugeführt  hat.  Zu  diesem  Behufe  müssen  die  Fixierungen 
an  die  Familie,  durch  die  der  Homosexuelle  seine  erotische  Bewegungs- 
freiheit verloren  hat  —  mitunter  auch  die  sexuelle  —  getrennt  werden. 
Ich  habe  eingehend  begründet,  daß  wir  den  Homosexuellen  eigentlich 
bisexuell  machen  müßten,  um  ihn  zu  heilen.  Die  praktische  Erfahrung 
spricht  nicht  zugunsten  der  Bisexualität.  Wir  müssen  uns  damit  ab- 
finden, daß  wir  in  einer  monosexuellen  Zeit  leben.  Der  Homosexuelle 
muß  seine  gesamte  Sexualität  transponieren  und. sich  bemühen,  seine 
gleichgeschlechtlichen  Kräfte  zu  sublimieren  oder  offen  zu  überwinden. 

Diese  Erziehungsarbeit  erfordert  eine  lange  Spanne  Zeit.  Die  Be- 
handung der  Homosexualität  stellt  daher  an  Arzt  und  Patienten  große 
Ansprüche.  Das  endgültige  Urteil  über  die  Dauer  dieser  Erfolge  kann 
erst  nach  vielen  Jahren  gefällt  werden. 

Ich  habe  mich  bemüht,  in  den  einzelnen  Krankengeschichten  die 
Technik  der  Analyse  wiederzugeben.  Aus  den  einzelnen  Angaben  kann 
sich  der  Leser  ungefähr  ein  Bild  von  den  Schwierigkeiten  machen.  Eine 
zusammenhängende  Darstellung  der  Technik  würde  ein  Buch  für  sich 
erfordern.  Vielleicht  werde  ich  nach  Vollendung  der  „Störungen  des 
Trieb-  und  Affektlebens"  dieses  Buch  schreiben,  um  meine  Erfahrungen 
allen  jenen  Ärzten  zu  übergeben,  welche  den  gleichen  schwierigen  Weg 
beschreiten  wollen. 

Eine  neue  Generation  von  Ärzten,  die  nicht  in  den  Vorurteilen 
aufgewachsen  ist  wie  die  alte,  dürfte  die  psychologische  Erforschung 
der  Neurosen'  fortsetzen. 

Freilich  wird  die  Hochschule  ihre  Stellung  zur  Sexualforschung 
ändern  müssen.  Lehrkanzeln  für  Sexualogie  und  Psychotherapie  sind 
notwendig,  um  dem  jungen  Mediziner  die  notwendigsten  Kenntnisse 
über  das  Geschlechtsleben  und  seine  krankhaften  Verirrungen  beizu- 
bringen und  um  ihn  in  der  Kunst  zu  unterweisen,  diese  Leiden,  denen 
man  bisher  wie  einem  Fatum  gegenüber  machtlos  dagestanden  ist,  zu 
heilen.  Die  nächsten  Bände  dieses  Werkes  werden  den  Beweis  er- 
bringen, wie  wenig  von  den  Paraphilien  angeboren  und  wieviel  davon 
anerzogen  und  konstruiert  ist.  Was  aber  anerzogen  ist,  kann  trotzdem 
durch  Erziehung  überwunden  werden,  auch  wenn  die  Macht  des  In- 
fantilen schier  unüberwindlich  scheint. 


496  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ich  habe  die  Paraphilien  den  „Kampf  des  Rückenmarkes 
mit  dem  Gehirn"  genannt.  Sie  sind  noch  mehr:  „Der  Kampf 
des  Kindes  mit  dem  Erwachsene n"1)  Denn  im  Grunde 
genommen  handelt  es  sich  in  diesen  Neurosen  um  Infantilismen,  die  ihre 
Existenz  verteidigen.  Der  Erwachsene  kämpft  gegen  das  Kind,  die 
erwachsene,  zur  Monosexualität  reife  Menschheit  gegen  ihre  Kindheit, 
die  sich  in  der  Bisexualität  und  im  Sadismus  äußert.  Der  Arzt  kann 
dazu  beitragen,  daß  dieser  Kampf  in  humaner  Weise  vor  sich  geht  und 
mit  Mitteln,  die  der  Zivilisation  würdig  sind.  Er  kann  den  versteckten 
Kampf  in  einen  offenen  verwandeln.  Verdrängungen  frei  machen,  heißt 
nicht  dem  Laster  die  Wege  ebnen.  Es  heißt,  das  Laster  —  oder  die 
Erscheinung,  welche  die  Moralisten  Laster  nennen  —  durch  die  volle 
Erkenntnis  überwinden. 

Wer  noch  mehr  als  einige  Worte  über  die  Prophylaxe  der  Homo- 
sexualität und  Onanie  erwartet,  der  wird  kaum  auf  seine  Rechnung 
kommen.  Ich  glaube,  wir  tun  am  besten,  wenn  wir  uns  um  beide  Aus- 
drucksformen des  Geschlechtslebens  nur  kümmern,  wenn  wir  als  Ärzte 
in  Frage  kommen.  Ich  rate  allen  Eltern  und  Erziehern,  nicht  darauf  zu 
achten,  ob  ein  Kind  onaniert  oder  nicht.  Es  hört  selbst  auf,  wenn  der 
Drang  andere  Wege  gefunden  hat.  Und  daß  die  Verhütung  einer  Homo- 
sexualität schier  unmöglich  ist,  haben  uns  unsere  Analysen  zur  Genüge 
gezeigt.  Welches  Unheil  in  der  Seele  des  Kindes  die  Teilnahme  an 
ehelichen  Zwistigkeiten,  das  Auffangen  von  affektativen  Werturteilen 
über  Frauen  und  Männer,  die  Art,  wie  Eltern  ihre  Konflikte  auf  das 
Kind  abreagieren,  die  verderbliche  Unsitte,  Kinder  zu  schlagen,  sie 
zu  demütigen,  anrichten  können,  das  erzählen  die  mitgeteilten  Lebens- 
geschichten der  Homosexuellen  jedem,  der.  es  sehen  will,  mit  aller 
Deutlichkeit.  Noch  immer  ist  es  uns  nicht  ganz  klar,  wie  vorsichtig 
wir  im  Umgange  mit  Kindern  sein  müssen.  Noch  immer  geschehen  die 
größten  Fehler  von  Seiten  der  Erzieher,  welche  ihre  Aufgabe  darin 
erblicken,  durch  Angst  die  kindliche  Seele  zum  Guten  zu  lenken.  Es 
gibt  aber  nur  zwei  Erziehungsprinzipien:  das  eigene  Beispiel  und  die 
Liebe.  Aus  glücklichen  Ehen  kommen  die  gesündesten  Kinder.  Die 
Liebe  ist  es,  die  darüber  entscheidet,  ob  eine  Ehe  glücklich  wird  und 
ob  die  Nachkommenschaft  gesund  oder  krank  ist.  Der  unbewußte  Ge- 
schlechtsinstinkt, der  sich  in  der  Liebe  äußert,  ist  der  Wegweiser  zur 
Regeneration    der    Menschheit. 2)     Soziale    Verhältnisse,    die    Ehe- 


l)  Otto  Groß  nennt  sie  den  Kampf  des  Eigenen  gegen  das  Fremde.  (Drei 
Aufsätze  zum  inneren  Konflikt,  1919.) 

s)  Eine  Neuorientierung  der  sexuellen  Moral  scheint  sich  trotz  aller  Gegen- 
strömungen anzubahnen.  Ich  verweise  auf  die  treffliche  Schrift  von  Eulenburg  „Moral 
und  Sexualität"  (Verlag  von  Marcus   &  Webster,  Bonn  1916). 


Rückblick  uiid  Ausblick.'  497 

Schließungen  aus  Liebe  in  jungen  Jahren  begünstigen  und  „Eltern- 
schulen"  wären  meiner  Ansicht  nach  die  beiden  wirksamen  prophylak- 
tischen Maßnahmen,  von  denen  ich  mir  Erfolg  verspreche. 

In  den  Elternschulen  müßten  die  Eltern  die  notwendige  Er- 
ziehung für  ihren  Beruf  erhalten.  Wie  schwer  wird  in  der  Kinderstube 
gesündigt!    Knaben  werden  lange  Jahre  in  Mädchenkleidern  gehalten, 
tragen  schöne  Locken,  so  daß  alle  Welt  ausruft:    Ist  das  ein  schönes 
Mädel!  —  nur  um  der  Eitelkeit  der  Mutter  Genüge  zu  leisten.    Solche 
Knaben   neigen    leicht    zur    Homosexualität.    Auch   das    überflüssige 
Klistieren  der  kleinen  Kinder,  die  von  überängstlichen  Müttern  täglich 
immer   wieder    vorgenommene    Aftermessung    der    Temperatur,    Maß- 
nahmen, die  einen  Reizzustand  der  analen  Zonen  veranlassen  —  wie 
er  auch  durch  Oxyuren  zustande  kommt  — ,  wären  zu  vermeiden.    In 
der  Elternschule  müßte  der  Unterricht  von  einem  erfalirenen  Sexuo- 
logen und  Kinderarzt  erteilt  werden. 

Den  Eltern  muß  es  einmal  klar  werden,  daß  sie  mit  der  Zeugung 
eines  Kindes  eine  wichtige  Verantwortung  übernommen  haben.  Leider 
sind  die  Kinder  in  den  meisten  Fällen  nur  das  schuldlose  Objekt, 
an  dem  die  Erzieher  aus  rationalistischen  Motiven  ihren  „Willen  zur 
Macht"  üben,  wobei  der  Vorwand  der  Erziehung  die  brutalen  Instinkte 
verbergen  muß.  Wie  viel  üble  Laune  und  eigenes  Unglück  wird  bei 
den  Kindern  abreagiert!  Die  Erziehung  der  Menschheit  zu  Glück  und 
Seelenfrieden  muß  in  der  Schule  beginnen,  die  eigentlich  die  Aufgabe 
hat,  Eltern  und  Kinder  heranzubilden.  In  dieser  Hinsicht  muß  sich 
der' Arzt  als  Erzieher  bewähren.  Er  hat  die  Möglichkeit,  die  Eltern 
auf  Fehler  aufmerksam  zu  machen  und  aus  den -ersten  par apathischen 
Erscheinungen  der  Kinder  den  Keim  des  kommenden  Leidens  zu  er- 
kennen. Zu  diesem  Behufe  ist  es  notwendig,  die  Ärzte  heranzubilden. 
Die  wichtigste  Aufgabe  der  ärztlichen  Schule  ist  der  Unterricht  in 
der  menschlichen  Psychologie.  Nur  ein  guter  Menschenkenner  kann 
ein  guter  Arzt  sein. 


Stekel,  Störungen  des  Trieb-  und  Affoktlebens.  II.  2.  Aufl. 


32 


XVI. 

Depression  und  Homosexualität. 

(Depressionen,  ihr  Wesen  und  ihre  Behandlung. *) 

Was  ist  Tugend?    Ein  schöner  Name 
für  das  einfachste  Ding:   Gesundheit. 

Hebbel. 

Die  Depression  ist  eine  der  häufigsten  Parapathien,  die  der 
praktische  Arzt  zu  Gesicht  bekommt.  Er  sieht  sie  in  den  ersten  Stadien, 
in  denen  eine  rationelle  Therapie  noch  viel  leisten  kann.  Je  länger 
die  Depression  besteht,  desto  schwieriger  wird  ihre  Behandlung.  Die 
physikalischen  und  medikamentösen  Mittel  versagen  vollkommen.  Es 
gibt  nur  eine  Methode  der  Wahl:  die  Psychotherapie.  Eine  Seelen- 
krankheit —  und  das  ist  eine  jede  Depression  —  kann  nur  seelisch 
behandelt  werden. 

Um  aber  ein  solches  Leiden  behandeln  zu  können,  muß  man  es 
verstehen.  Gerade  die  Depression  fordert  den  ganzen  Scharfsinn  und 
die  überlegene  Kunst  des  Seelenarztes  heraus.  Denn  die  Kranken  ge- 
hören zu  jener  Art  von  Menschen,  die  nicht  wissen,  warum  sie  traurig 
sind.  Sie  erzählen  meist  in  den  ersten  Stunden,  daß  sie  keinen  Grund 
für  ihre  Trauer  wüßten. 

Es  gibt  jedoch  keine  grundlose  Depression!  Die  Aufgabe  des 
Psychotherapeuten  ist  es,  den  versteckten  Grund  der  Trauer  ausfindig 
zu  machen. 

Den  Übergang  zu  den  schweren  Fällen  von  Depressionen,  als 
deren  Endglied  schon  eine  Psychose,  die  Melancholie,  gelten  kann,  bilden 
die  leichten  Formen  von  vorübergehender  Depression,  die  flüchtigen 
Verstimmungen,  welche  manchen  Menschen  scheinbar  grundlos  beim 
besten  Wohlbefinden  überfallen.  Die  Diagnose  der  Depression  ist 
leicht  zu  stellen:  Der  Kranke  ist  verstimmt  und  kann  keinen  Grund 
dafür  angeben.  Eine  motivierte  Trauer  ist  keine  Depression  im  neu- 
rotischen Sinne.  Allerdings  werden  oft  Motive  vorgeschoben,  deren 
Zweck  als  „Ersatzvorstellung"  leicht  erkannt  werden  kann.  Wenn  im 

*)  Erschienen  in  der  „Therapie  der  Gegenwart",  1920. 





Depression  uud  Homosexualität.  499 

Krieg  ein  mehrfacher  Millionär  an  der  Angst  vor  Verarmung  erkrankte 
und  seine  Depressionen  auf  diese  Angst  zurückführte,  konnte  auch  der 
Anfänger  in  der  Seelenheilkunde  feststellen,  daß  diese  Angst  und  Ver- 
stimmung unberechtigt  waren. 

Das  Charakteristische  einer  jeden  Depression  ißt  der  Umstand, 
daß  der  wahre  Grund  der  Trauer  dem  Kranken  nicht  bemißt  ist.  Er 
drückt  sich  um  eine  Wahrheit  herum.  Er  will  etwas  nicht  sehen  und 
nationalisiert"  seine  Trauer,  oder  er  will  nicht  wissen,  warum  er 
traurig  ist.   Das  gilt  auch  für  die  schwersten  Fälle  von  Melancholie. 

Den  Übergang  zu  diesen  schweren  Zuständen  liefern  uns  die  grund- 
losen Verstimmungen  des  Normalmenschen  und  der  Neuro  tiker.  In 
solchen  Fällen  gelingt  es  der  Analyse  leicht,  eine  Assoziation  nach- 
zuweisen, durch  die  sich  die  Verstimmung  motivieren  läßt. 

Fall  Nr.  89.  Ein  Beamter  klagt  darüber,  daß  er  an  bestimmten  Tagen 
an  einer  schweren  Depression  erkrankt,  für  die  er  keine  Motivierung  finden 
könne    Ich  ersuche  ihn  an  einem  solchen  Tage  zu  mir  zu  kommen.  Der  sonst 
lebensfrohe  Mensch  bietet  ein  jammervolles  Bild,  als  er  sich  an  einem  solchen 
kritischen  Tage  bei  mir  meldet.   Sein  Gesicht,  sonst  glatt  und  strahlend,  hat 
einen  tiefernsten  Ausdruck  und  zeigt  viele  Falten.   Wie  lange  die  Depression 
schon  andauert?  Seit  dem  Erwachen.   Ob  er  gestern  noch  guter  Laune  war.-' 
Ja'    Bei  bester  Laune.   Nun  beginne  ich  nachzuforschen.   Es  ergibt  sich  kein 
aktueller  Anlaß.  In  solchen  Fällen  tut  man  gut,  sich  der  Tatsache  zu  erinnern, 
daß  Neurotiker  einen  „geheimen  Kalender"  haben  und  ihre  Trauer  und  Buß- 
tage durch  Depressionen  feiern,  ohne  sich  über  die  Motive  Rechenschaft  zu 
geben     Ich  bücke  auf  den  Kalender.    Wir  zählten  den  17.  Mai.  Ich  erkundige 
mich  ob  der  Tag  für  ihn  eine  besondere  Beziehung  habe.  Erst  verneint  er,  dann 
schlägt  er  sich  auf  die  Stirne.   Natürlich!   Es  ist  der  Todestag  seines  Vaters, 
der  ihm  angeblich  ganz  entschwunden  war.   Dieser  Tag  bedeutet  für  ihn  eine 
peinliche  Erinnerung.  Er  war  elf  Jahre  alt,  als  der  Vater  starb.   Er  erinnert 
eich,  daß  er  nicht  geweint  hat  und  laut  lärmte  und  sogar  auf  dem  Klavier 
klimperte,  so  daß  ihm  das  Fräulein  bemerkte,  sie  habe  einen  so  herzlosen 
Knaben  noch  nicht  gesehen. 

Seine  Depressiori  erklärt  sich  als  das  oft  vorkommende  Phänomen  der 
„nachträglichen  Trauer". 

Es  zeigte  6ich,  daß  die  anderen  Tage  seiner  „unmotivierten"  Depres- 
sionen sich  gleichfalls  auf  einen  geheimen  Kalender  zurückführen  ließen. 
Er  trauerte  am  Todestage  seiner  Mutter  und  seiner  Geschwister,  von  denen 
er  sieben  verloren  hatte.  Diese  Todesfälle  hatten  ihn  zum  Erben  eines  großen 
Vermögens  gemacht.  Er  hatte  allen  Grund,  seine  geheime  Schadenfreude  und 
Genugtuung  über  den  Tod  der  Brüder  durch  Bußtage  zu  kompensieren,  in 
denen  die  Kraft  seines  bösen  Gewissens  zutage  trat. 

Ähnlich  lassen  sich  andere  temporäre  Tagesdepressionen  moti- 
vieren   Dr.  Ferenczi  hat  in  einem  Artikel  „Sonntagsneurosen"  (Intern. 
Zschr.  f.  Psychoanal,  1919,  Nr.  1)    diese  Neurosen  auf  sexuelle  Er- 
•    innerungsbilder  zurückgeführt.  Ein  jüdischer  Patient  habe  jeden  Sonn- 

32* 


9 


H 


500 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


abend  den  Koitus  seiner  Eltern  belauscht.  Die  Erinnerung  daran 
hätten  den  Sonntag  zu  einem  unangenehmen  Tag  gemacht.  Ein  anderer 
wäre  am  Sonntag  von  seiner  Mutter  verzärtelt  worden.  Ich  habe  in 
der  Zschr.  f.  Sexualwissenschaft,  1919,  Nr.  5,  bei  Besprechung  der  Aus- 
führungen von  Ferenczi  die  Sonntagsneurosen  auf  mangelnde  Be- 
schäftigung zurückgeführt. 

„Nervös  sein,  heißt:    etwas  nicht  sehen  wollen.    Nervosität    ist  Ein- 
schränkung des  geistigen  Blickfeldes!   Alle  Neurotiker  benutzen  die  Arbeit 
als  Ablenkung.   Wo  die  Arbeit  fehlt,  werden  neurotische  Symptome  zur  Ab- 
lenkung  benutzt,   werden   Aufregungen  geschaffen,   Konflikte   herbeigeführt. 
(So  benützten  unzählige  Neurotiker  den  Krieg  als  Mittel  zur  Ablenkung  und 
stürzten  sich  auf  die  Kriegsberichte  in  fieberhafter  Spannung;  anderen  dienen 
die  Politik,  die  Kunst  oder  die  Liebe  diesem  Zwecke.)  Selbst  Zwangsvorstel- 
lungen,  Zweifel,  Angstzustände  verdecken  das  „Nichtsehenwollen",  schaffen 
aktuelle  Schwierigkeiten,  heben  über  die  leeren  Stunden  hinweg.   Der  größte 
Segen  aber  ist  die  Arbeit.    Arbeitsfanatiker  sind  häufig  Neurotiker,  die  sich 
fortwährend  mit  Aufgaben  belasten,  um  keine  freie  Minute  zum  Nachdenken  zu 
haben.    Sie  arbeiten  auf  der  Elektrischen,  sie  arbeiten  bis  in  die  späte  Nacht 
hinein,  sie  werden  nie  fertig,  sie  bürden  sich  trotzdem  stets  neue  Lasten  auf. 
Vom  normalen  Menschen  unterscheidet  diese  Arbeitsfanatiker  der  Sonntag  und 
der  Urlaub.  Der  Gesunde  wird  Sonntag  ausspannen,  wird  allein  sein  können, 
wird  sich  Rechenschaft  geben  über  die  Fragen  der  "Woche,  er  wird  auch  nichts 
tun  können,  sich  seiner  Faulheit  freuen,  die  er  sich  so  schwer  errungen  hat.  Der 
neurotische  Arbeitsfanatiker  wird  die  Sonntagsruhe  als  eine  neue  Form  der 
Arbeit  betreiben.  Er  wird  Riesentouren  machen,  wobei  er  fortwährend  mit  dem 
Fahrplan   oder  der  Karte  beschäftigt  ist.    Er  braucht   immer  Gesellschaft, 
immer  Ablenkung  vom  Ich,  wird  sich  immer  eine  solche  Leistung  aufbiirden, 
daß  es  am  Schlüsse  zu  einer  Hetzjagd  kommt.   Die  vielen  Unbefriedigten,  Un- 
glücklichen, Enttäuschten,  Erbitterten,  Empörten,  die  im  Innern  noch  nicht 
auf  ihre  weiten  Ziele  und  großen  Pläne  verzichtet  haben,  die  Liebessucher,  die 
noch  immer  nicht  ihre  Ergänzung  gefunden  oder  sieh  falsch  gebunden  haben 
—  wohlgemerkt  alle  ohne  es  sich  eingestehen  zu  wollen!  —  sie  alle  werden 
an  ihren  Sonn-  und  Festtagen,  an  ihren  Urlauben,  bei  jeder  Pause  ihrer  Arbeit 
und  des  Lebens  sich  unglücklich,  müde,  abgespannt  fühlen  und  einen  heftigen 
Kampf  gegen  die   „begrabenen  Wünsche"   führen,   die  sich  ins  Bewußtsein 
drängen  wollen.   Der  Kopfschmerz  ist  immer  eine  Folge  solcher  Vergewalti- 
gung des  eigenen  Denkens.    Dazu  kommt  der  lange  Schlaf  am  Sonntag,  der 
unsere  Traumgedanken  übermäßig  lang  ausspinnt,  ihnen  zu  viel  Raum  zur 
Entfaltung  bietet,  so  daß  sie  in  die  Wachgedanken  eindringen  und  die  Stim- 
mung des  Tages  beeinflussen." 

Am  Sonntag  quälen  den  Neurotiker  viele  Schuldgefühle,  er  er- 
innert sich  an  seine  geheimen  Sünden. 

In  allen  Fällen  von  temporären  Depressionen  ist  nach  dem  „ge- 
heimen Kalender"  zu  fahnden. 


*)  Vgl.  meine    Ausführungen   über    Melancholie    in    „Nervöse    Angstzustände    und 
ihre  Behandlung".  III.  Auflage. 


Depression  und  Homosexualität.  501 

Oft  sind  es  andere  Assoziationen.  Der  angeblich  grundlos  Ver- 
stimmte hat  die  erste  Frau  gesehen,  von  der  er  sich  hat  scheiden  lassen. 
Ein  Büchertitel  („Briefe,  die  ihn  nicht  erreichten")  erinnerte  sein  Un- 
bewußtes, daß  ihm  vor  einigen  Wochen  eine  angebetete  Frau  die  letzten 
Briefe  uneröffnet  zurückgeschickt  hat.  Oder:  Eine  sehr  elegante  Dame 
hatte  durch  eine  gewisse  Ähnlichkeit  die  Assoziation  zu  seinem 
traurigen  Roman,  den  er  vor  vielen  Jahren  erlebt  hatte,  geweckt.  Em 
eigentümliches  Parfüm  kann  gewisse  verdrängte  Bilder  ms  Vorbewußte 
heben,  Gerüche  wecken  leicht  Assoziationen1)  (ein  Student  wurde  m 
der  heitersten  Stimmung  deprimiert,  wenn  Geruch  von  Kiefernadelol 
die  Erinnerung  an  Föhrenwälder  brachte,  nach  denen  er  sich  aus  dem 
Lärm  der  Stadt  sehnte) .  <■  . 

Musik  ist  die  wichtigste  Quelle  der  Depressionen.  Das  ist  ja 
vielen  Menschen  bewußt.  Ein  Lied  weckt  Erinnerungen  und  Seimsucht 
nach  Unerfülltem.  Oft  werden  Melodien  gehört,  die  Menschen  geben 
sich  keine  Rechenschaft  über  den  Text,  der  zur  Melodie  gehört,  ja  sie 
kennen  diesen  Text  gar  nicht,  sie  kennen  nur  die  Melodie  und  werden 
tief  verstimmt.  Eine  sich  nach  Liebe  seimende  Dame  hörte  die  Melodie 
des  Liedes  „War  es  auch  nur  ein  Traum  von  Glück"  und  wurde  ver- 
stimmt. Den  Text  wußte  sie  angeblich  nicht.  Sie  konnte  nur  die 
Melodie  vor  sich  hinsummen.  Sie  mußte  mir  aber  dann  gestehen,  daß 
sie  das  Lied  oft  gehört  und  den  Text  auch  mitgesungen  hatte. 

Immer  wieder  bestätigt  die  Analyse  den  Grundsatz:  Es  gibt 
keine  unmotivierten  Verstimmungen.  Das  gilt  für  die  kleinen  De- 
pressionen des  Normalmenschen  bis  zu  der  selbstmörderischen  \er- 
zweiflung  des  Melancholikers. 

Der  Wechsel  von  Melancholie  und  Manie,  von  Trauer  und  Fröh- 
lichkeit, von  Verzweiflung  und  Übermut,  von  Verstimmung  und  Froh- 
sinn mußte  viele  Ärzte  auf  den  Gedanken  bringen,  beide  Bilder  zu 
einer  Einheit  zu  vereinen.  So  entstanden  die  Krankheitsbilder  des 
„manisch-depressiven  Irreseins"  und  der  „Cyclothymie"  als  ihrer 
milderen  Ausdrucksform.  In  der  Praxis  kann  man  den  Satz  nicht  be- 
stätigen, daß  jede  Melancholie  das  depressive  Stadium  eines  manisch- 
depressiven Irreseins  wäre.  Der  Praktiker  sieht  oft  genug  reine  Me- 
lancholien ohne  die  manische  Reaktion  und  manische  Bilder  ohne  das 
depressive  Stadium. 

Trotzdem  läßt  es  sich  nicht  bestreiten,  daß  die  depressiven 
Krankheitsbilder  einen,  gewissen  periodischen  Verlauf  zeigen.  Es  gibt 
Verstimmungen,  die  in  regelmäßigen  Intervallen  wiederkehren.  Frauen 


J)  Eine    solche    Pßychogenese    der    Depression    beschreibt    Grillparzer    in    seinen 
Tagebüchern. 


i 


502 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


erkranken  oft  vor  und  nach  der  Menstruation  an  Depressionen.  Schon 
die  sogenannte  Tagesdepression  zeigt  deutlich  den  periodischen 
Charakter.  So  gibt  es  Menschen,  die  nach  dem  Erwachen  einige  Stunden 
deprimiert  sind.  Ein  Kranker  schildert  den  Zustand:  „Am  Morgen 
ist  es  mir,  als  wenn  man  einen  Sack  über  meinen  Kopf  geworfen  hätte. 
Das  dauert  bis  zehn  Uhr,  dann  wird  es  besser,  der  Sack  wird  langsam 
zurückgezogen.  Abends  bin  ich  dann  ganz  gesund  und  kein  Mensch 
würde  in  mir  einen  Depressionisten  erkennen." 

Diese  Morgendepression  erklärt  sich  als  Nachwirkung  des  Traumes. 
Forscht  man  nach  den  Träumen,  so  erkennt  man  bald,  daß  sich  der 
Kranke  in  seinen  Traumbildern  in  eine  Welt  der  Illusionen  und  Er- 
füllungen flüchtet,  aus  der  ihn  das  Erwachen  grausam  reißt,  so  daß 
ihm  das  Differenzgefühl  zwischen  Phantasie  (Traum)  und  Realität  die 
Unertraghehkeit    der     Realität     vor    Augen    führt.      Diese     Traum- 
menschen, welche  auch  am  Tage  gern  ihren  Wachträumen  erliegen  und 
gern  am   Morgen  im  Bett   im  Halbschlaf   duseln    (das  heißt   immer: 
Phantasieren) ,  zeichnen  sich  alle  durch  die  Morgendepression  aus.    Es 
gibt  aber  Menschen,  die  um  zehn  Uhr  vormittags,  am  Nachmittag, 
gegen  Abend  ihre  tägliche  Depression  durchmachen.    Reiche  Frauen 
pflegen  sich  um  diese  bestimmte  Stunde  in  ihr  Zimmer  einzusperren 
und  sind  nicht  zu  sprechen,  bis  die  böse  Zeit  vorüber  ist.   Die  Mehr- 
zahl der  Fälle  zeigt  folgendes  Verhalten:    Am  Morgen  ist  die  Ver- 
stimmung am  schlimmsten.    Die   Stimmung  bessert  sich  während  des 
Tages  und  erst  des  Abends  und  des  Nachts  fühlen  sich  die  Kranken 
wohler.    Diese  Menschen  neigen  dazu,  bis  spät  in  die  Nacht  aufzu- 
bleiben, um  den  bösen  Vormittag  zu  verschlafen.  Sie  gehen  lange  nicht 
zu  Bett,  lesen  und  plaudern  bis  zwei  oder  drei  Uhr,  schlafen  dann  spät 
in  den  Vormittag  hinein,  um  über  die  böse  Zeit  zu  schlafen.    Das  ist 
eine    Selbsttäuschung,    denn   die    Depression   bleibt    gewöhnlich   nicht 
aus,  auch  wenn  sie  um  zwölf  Uhr  vormittags  erwachen.  Sie  haben  nur 
den  Rhythmus  der  Depression  verändert. 

Sehr  häufig  hört  man,  daß  die  Depression  jeden  zweiten  Tag 
einsetzt.  Einem  guten  Tag  folgt  ein  schlechter,  wie  das  Amen  dem 
Gebete.  Die  Kranken  lassen  sich  diese  Einstellung  nicht  ausreden. 
Haben  sie  heute  einen  guten  Tag,  so  wissen  sie  bestimmt,  daß  morgen 
ein  schlechter  Tag  folgen  wird.  Bei  dieser  Neurose  spielt  das  Schuld- 
gefühl eine  große  Rolle.  Die  Autosuggestion  erzeugt  scrion  den 
schlechten  Tag  dadurch,  daß  man  ihn  erwartet.  Hinter  dieser  Erwar- 
tung verbirgt  sich  ein  böses  Gewissen.  Man  verdient  es  nicht,  daß  es 
einem  gut  geht.  Man  steht  unter  der  Herrschaft  von  „Versündigungs- 
ideen", die  meistens  unbewußt  sind,  nur  in  seltenen  Fällen  offen  zu- 
tage liegen. 


Depression  und  Homosexualität.  503 

Fall  Nr.  90.  Ein  31jähriger  Mann  konsultierte  mich  wegen  einer  De- 
pression, die  jeden  zweiten  Tag  mit  mathematischer  Präzision  auftrat.  An 
dem  freien  Tage  war  er  sehr  erotisch  und  konnte  seiner  Paraphilie  nicht  wider- 
stehen Diese  Paraphilie  bestand  in  einer  Neigung  zu  Mädchen  zwischen  zehn 
und  dreizehn  Jahren,  die  gut  entwickelt  waren  und  schöne  Waden  sehen  ließen 
Er  suchte  an  solchen  Tagen  im  Sommer  einen  Kinderpark  auf  und  ließ  sich 
mit  den  Kindern  und  ihren  Bonnen  in  ein  Gespräch  ein  und  verteilte  Naschereien 
(alle  Kinderfreunde,  die  immer  Zuckerln  bei  sich  tragen  und  an  Kinder  ver- 
teilen sind  auf  Pädophilie  verdächtig.  Man  hüte  die  Kinder  vor  auffälligen 
Kinderfreunden,  auch  wenn  sie  alte  Herren  sind.  Gerade  im  Alter  meldet  sich 
als  eine  Regression  auf  das  Infantile  bei  vielen  Menschen  eine  pathologische 
Pädophilie).  An  gesunden  Tagen  pflegte  er  auch  mit  Mädchen  ein  Hotel  auf- 
zusuchen. Er  weidete  sich  an  der  Entkleidung,  die  ihm  einen  großen  Reiz  er- 
regte ließ  es  aber  nie  zu  einem  Koitus  kommen.  Es  handelte  sich  immer  um 
sogenannte  „anständige  Mädchen",  denen  er  versprochen  hatte,  sie  nicht  der 
Virginität  zu  berauben.  Diese  moralische  Zurückhaltung  war  nur  die  Ratio- 
nalisierung seiner  Paraphilie. 

Wie  er  mir  gestand,  konnte  er  auch  bei  Dirnen  trotz  heftiger  Erektion 
we°-en  eines  inneren  Widerstandes  niemals  einen  Kongressus  ausführen.  Er 
begnügte  sich  mit  der  Entkleidung  und  der  Reizung  des  äußeren  Genitales. 
Run  schwebte  immer  ein  Kind  vor  und  er  benahm  sich  mit  den  Erwachsenen, 
die  er  mit  infantilem  Typus  wählte,  immer  so,  als  ob  er  ein  Kind  vor  sich 
haben  würde.  Die  Depression  am  zweiten  Tage  war  die  Strafe  für  die  Liber- 
tinage  am  vorhergehenden.  Zugleich  aber  die  Verzweiflung  darüber,  daß  er 
seine  krankhaften  Triebe  nie  werde  ausleben  können. 

Jede  Depression  ist  die  moralische  Reaktion 
auf  unmoralische  Regungen  und  dokumentiert 
die  Aussichtslosigkeit  der  geheimen  sexuellen 
Zielbestrebungen. 

Diesen  Wechsel  zwischen  erotischer  Erregung  und  sexueller 
Apathie  können  wir  in  allen  Fällen  von  periodischer  Depression,  bei 
allen  Cyclothymien  nachweisen.  Er  spielt  wahrscheinlich  in  der  Psycho- 
genese  neben  einem  zweiten  Faktor,  den  ich  später  erwähnen  werde, 
eine  große  Rolle. 

Fall  Nr.  91.  Ein  Mädchen  erkrankt  alle  paar  Monate  an  einer  schweren 
Depression.  Während  ihrer  glücklichen  Zeit  ist  sie  erotomanisch.  Sie  spricht 
nur  von  Liebe,  onaniert  mehrere  Male  täglich,  kokettiert  mit  allen  Männern. 
In  den  Zeiten  der  Depression  ist  sie  vollkommen  anerotisch.   Sie  zeigt  Ekel 
vor  allen  sexuellen  Dingen,  wird  fromm  und  heilig,  geht  in  die  Kirche,  kasteit 
sich,  bemüht  6ich  geduldig  zu  sein,  was  ihr  nicht  immer  gelingt.  Zeitweise 
kommt  es  zu  bösen  Wutanfällen,  in  denen  sie   die  Umgebung,  besonders   die 
Mutter  bedroht.  Die  Mutter  ist  angeblich  schuldig  an  ihrem  Unglück.  Diese 
periodischen  Depressionen  schlössen  sich  an  eine  Liebesenttäuschung  an,  die 
sie  angeblich  sehr  gut  vertragen  hatte.  Sie  war  verlobt  und  liebte  ihren  Bräu- 
tigam über  alles.  Es  kam  auch  zu  allerlei  Intimitäten.  Sie  ließ  es  zwar  nicht 
zum  Koitus  kommen.   Aber   sie  wurde  in   der  Verlobung  eine  ausgebildete 
,Halbjungfrau".  Plötzlich  verlangte  der  Bräutigam  die  Verdoppelung  der  Mit- 


504 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


AT  *  Verlobung   als  die  Eltern  empört  diese  Zumutung  zurück- 

;  i;euWa'  alS/nlZlgeS  Xmd  Erbin  eines  g»'oßen  Vermögens  und  sollte 

SJ^SSJ^f1^  Dcr  ?rautigam  hatte  aber  eine  noch  reich 

F  fern  Wt      g  ^^  ^  Z°f  T  dieSer  Tatsache  seine  Konsequenzen.  Die 

?2ÄS  ^ h*  f  ^^f'  ?  Sie  die  Verlobung  aufiösten>  ^  er  sich 
als  em  so  nabgxeriger  und  egoistischer  Mensch  erwies,  der  ihr  Kind  nur  des 

Geldes  wegen  heimführen  wollte.  Sie  aber  grollte  den  Eltern.  Ihre  Sexualität 
war  furchtbar  gereizt,  sie  war  der  Ansicht,  daß  sie  keinem  anderen  Mann  at- 
gehoren  konnte  sie  fühlte  sich  nicht  mehr  als  reines,  unberührtes  Wesen  wie 
benahm  sie  sich  nach  der  Auflösung?  Sie  war  angeblich  überglücldich  lachte 
#elfaZl«ag'ging-  die  f°lgenden  W0C,ien  in  alle  Geschäften,  so  daß  aile 
SstrSr  2?  T  eiQem  ,A1P?UCk  erlÖSt  Ihre  Fröhlichkeit  hatte 
halben  Jahre  n;ii1S1t  *  "?i  Die  DePression  ^  erst  nach  einem 
&tÄ„rh  emer  Inör Za-  SiG  War  ZU  ßtolz>  um  ihre  gfoße 
sShSSÄfeS!^  ZUt  ZT^  Sie  Vßrbarg  Sie  hinter  einer  gesteigerten 
nrifedkriri iS  r  fetteiie;. In  de'  DePression  rationalisierte  sie  ihre  Trauer 

2d  häßl  ch  t * T  M0tTn-  .Si6  T*  ZU  dick  g6Worden-  Sie  ^i  plump 
Nonne  !  t  1?  "?  heirate^ 7Sie  ™»e  ins  Kloster  gehen  und  eine 
Sl  mittin?  f^1'*!  ^g^Wochen,  dann  trat  wieder  das  manische 
btadmm  mit  semer  gesteigerten  Erotik  auf.  Die  Hoffnungslosigkeit  ihrer  Liebe 

ÄSSr  jhrRin  t  Derssion  in  2*Ä 

Am^hFvInn       DepresS'on  bieß:  »Niemals,  niemals  werde  ich  ihn  erreichen!" 

atlten  WeTT Z  ^  'T*  eine Depression  undWutenfälie 
auslosen.  Wenn  sie  in  der  Zeitung  den  Namen  eines  seiner  Regiments- 
kameraden las,  kam  sicher  die  Depression  hervor.  Auch  die  Heirat  2Ze- 
treuen  Mannes  war  -  allerdings  nach  drei  Monaten  Schauspielerin  -  von  einer 
schweren  Depression  gefolgt,  die  viele  Monate  dauerte,  nachdem  eine  Sana- 
toriumbehandlung  das  Leiden  bedeutend  verschlimmert  hatte.  Es  folgten  zwei 
belDstmordversuche,  worauf  sie  in  meine  Behandlung  kam.  Die  pädagogische 
Psychanalyse  hatte  einen  vollen  Erfolg.  Nach  viermonatlieher  Behandlung 
kam  sie  genesen  nach  Hause,  heiratete  bald  und  ist  jetzt  glückliche  und  ge- 
sunde Mutter  von  zwei  Kindern.  Das  Puerperium  wurde  anstandslos  ertragen 
uie  Heilung  ist  vollkommen,  Sie  hat  einen  sehr  guten  und  sehr  potenten  Mann 
gefunden,  der  sie  vergöttert.  Ihre  Befürchtungen,  sie  werde  keinem  Manne 
T  ü,  können,  sie  benötige  ein  halbes  Dutzend  Männer,  haben  eich 

als  grundlos  erwiesen.  Diese  Zwangsbefürchtungen  waren  nur  die  Reaktion 
auf  die  furchtbare  Enttäuschung  und  eine  Flucht  vor  der  seelischen  Liebe  in 
den  körperlichen  Rausch. 

Doch  kehren  wir  zum  Thema  der  Periodizität  der  Depressionen 
zurück.  Es  gibt  Depressionen  von  monatlichem  Typus,  die  sich  auf 
bestimmte  Monate  beziehen.  Mancher  wird  im  Frühjahr  verstimmt, 
andere  im  Herbst.  Goethe  litt  bekanntlich  am  Ende  des  Herbstes  und 
im  Beginne  des  Winters  an  ziemlich  schweren  Depressionen. 

Möbius  berichtet  daß  Goethe  bis  zum  kürzesten  Tage  einige  Wochen 
hindurch  sehr  deprimiert  war.  Möbius  konnte  auch  eine  siebenjährige  Periode 
im  Liebesleben  Goethes  nachweisen,  in  der  Depressionen  sich  an  eine  neue 
Liebe  und  an  eine  neue  Schaffensperiode  anschlössen.  Es  kam  zuerst  ein 
Liebesrausch,  währenddem  die  Schaffenskraft  stieg,  so  daß  alle  großen  Werke 


Depression  und  Homosexualität.  505 

in  diesem  manischen  Stadium  geschrieben  wurden.  Dieses  Schaffen  zahlte  er 
dann  mit  einer  mehr  oder  minder  schweren  Depression.  Sein  Hausarzt  Doktor 
Vogel  berichtet:  „Kühmte  Goethe  seine  Produktivität,  so  machte  mich  das 
ßtets  besorgt,  weil  die  vermehrte  Produktivität  seines  Geistes  gewöhnlich  mit 
einer  krankhaften  Affektion  seiner  produktiven  Organe  endete.  Das  war  ßo 
sehr  in  der  Ordnung,  daß  mich  schon  im  Anfange  meiner  Bekanntschaft  mit 
Goethe  dessen  Sohn  darauf  aufmerksam  machte,  wie,  soweit  6eine  Erinnerung 
reiche,  sein  Vater  nach  längerem  geistigen  Produzieren  noch  jedesmal  eine 
bedeutende  Krankheit  davongetragen  habe."  Goethe  selbst  nannte  diesen  Zu- 
stand seine  wiederholtePubertät  und  erkannte  die  sexuelle  Grundlage 
dieser  Zeiten.  Er  äußerte  sich  zu  Eckermann:  „Solche  Männer  und  ihres- 
gleichen sind  geniale  Naturen,  mit  denen  es  eine  eigene  Bewandtnis  hat;  sie 
erleben  eine  wiederholte  Pubertät,  während  andere  Leute  nur  einmal  jung 
sind." 

Einen  sehr  interessanten  schweren  Typus  zeigt  der  folgende  Fall 
eigenen  Beobachtens. 

Fall  Nr.  92.  Ein  Mädchen  von  32  Jahren  leidet  seit  drei  Jahren  an  einer 
im  Frühjahr  einsetzenden  Depression,  die  mit  Appetitverlust  und  starker  Ab- 
magerung vor  sich  geht.  Während  der  ganzen  Zeit  der  Trauer  ist  sie  keines- 
wegs schweigsam  und  negativistisch.  Im  Gegenteil!  Es  bemächtigt  sich  ihrer 
eine  leichte  manische  Unruhe.  Ihr  Schlaf  wird  gestört,  sie  muß  viel  herum- 
laufen, kann  nirgends  lange  bleiben,  ist  ruhelos,  sucht  bald  die  einen,  bald  die 
anderen  Verwandten  auf,  ißt  den  ganzen  Tag  fast  gar  nichts,  hat  vor  Fleisch 
einen  Abscheu  und  nährt  sich  nur  vegetarisch.  Ein  längerer  Aufenthalt  in 
einem  Sanatorium,  Luftveränderung,  Mastkur  bringen  keine  Besserung. 

Die  psychologische  Erforschung  des  Falles  ergibt  eine  merkwürdige 
Genese.  Vor  3  Jahren  hatte  sie  ihren  Schwager  auf  dem  Lande  besucht  und 
war  dort  längere  Zeit  zu  Gaste.  Sie  fuhren  dann  mit  seinem  achtjährigen 
Kinde  nach  Wien.  In  Wien  fanden  sie  nach  langem  Suchen  in  einem  Hotel  nur 
ein  Zimmer  mit  zwei  nebeneianderstehenden  Betten.  Sie  scherzte  noch  über 
dies  Ehebett  und  legte  sich  schlafen.  Daß  achtjährige  Kind  lag  zwischen  ihr 
und  dem  Schwager.  Sie  war  angeblich  vollkommen  unaufgeklärt  und  wußte 
noch  gar  nicht,  was  sich  zwischen  Mann  und  Frau  zutragen  kann,  glaubte,  die 
Kinder  kämen  durch  eine  äußere  Berührung  zustande.  So  ihre  Aussage.  Sie 
war  in  jener  kritischen  Nacht  schlaflos.  Gegen  Morgen  fragte  sie  der  Schwager 
—  es  mochte  gegen  vier  Uhr  gewesen  6ein  — ,  warum  sie  nicht  schlafe.  Er 
kam  zu  ihr  ins  Bett  und  begann  ein  Gespräch  über  geschlechtliche  Aufklärung, 
dem  sie  anfangs  gern  und  neugierig  folgte.  Er  gab  ihr  auch  den  Phallus  in 
die  Hand,  was  sie  sehr  erregte.  Dann  meinte  er,  er  werde  ihr  den  Verkehr 
•zeigen,  ohne  ihr  etwas  zu  machen.  Es  kam  zu  einem  regelrechten  Koitus,  bei 
dem  sie  defloriert  wurde.  Am  nächsten  Tage  war  sie  verzweifelt.  Es  bedurfte 
der  ganzen  Überredungskunst  des  Schwagers,  um  sie  abzuhalten,  die  ganze 
Geschichte  ihren  Eltern  mitzuteilen.  Er  heuchelte  ihr  eine  Liebe  vor,  die 
gar  nicht  vorhanden  war,  wie  es  sich  später  herausstellte  (das  Mädchen  war 
weder  liebreizend  noch  begehrenswert,  eher  häßlich,  mager,  unfreundlich).  Sie 
hatte  sich  nun  in  den  Kopf  gesetzt,  daß  der  Schwager  sich  von  der  Schwester 
scheiden  und  sie  heiraten  werde.  Sie  dachte  es  sich  aus,  was  geschehen  würde, 
wenn  die  Schwester  sterben  würde. 

Es  bildeten  sich  in  der  Phantasie  Todeswünsche  gegen  die  Schwester. 


506 


Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 


Die  Todeswünsche  spielen  in  der  Psychogenese  der  Depression 
eine  große  Rolle  und  erklären  das  tiefe  Schuldbewußtsein,  an  dem  viele 
Depressionisten  leiden.  Sie  klagen  sich  leidenschaftlich  verschiedener 
Verbrechen  an,  die  alle  nur  Gedankensünden  sind. 

Sie  erlebte  ihre  erste  Depression  im  Anschluß  an  das  traumatische  Er- 
lebnis und  die  Depression  kehrt  mathematisch  mit  dem  Tage  wieder,  an  dem 
sie  defloriert  wurde.  Sie  zählt  die  Tage  bis  zu  dem  Moment,  da  der  Schwager 
vor  sie  hintreten  und  sie  rehabilitieren  werde.  Aber  sie  wird  mit  jedem  Tage 
älter.  Diese  Tatsache  annulliert  sie  durch  eine  forcierte  Jugend  während  der 
Depression.  Sie  trägt  kurze  Kleider,  einen  Backfischzopf,  spricht  kindisch 
und  benimmt  sich  kindisch. 

^Mirdfem  Eintritfc  des  Winters  überwindet  sie  ihre  Depression  und  hofft 
5 ...  T?  Lrfü.llung  ihrer  geheimen  Wünsche  im  nächsten  Frühling.  Um  diese 
Zeit  längt  sie  wieder  zu  onanieren  an. 

Wir  können  immer  wieder  sehen,  wie  das  Aufhören  der  Onanie 
eine  Depression  einleitet.  Kranke,  die  onanieren,  sind  enorm  selten. 
Das  Aufgeben  der  Onanie  verstärkt  die  Depression.  Abstinenz  von 
Onanie  ist  eine  häufige  Ursache  der  Depressionen.  Dann  wird  die  De- 
pression als  Folge  der  Onanie  statt  als  Folge  der  Abstinenz  aufgefaßt. 

Bei  unserer  Kranken  kommt  noch  die  verlorene  Virginität  in  Be- 
tracht. „Du  kannst  keinen  mehr  heiraten  außer  deinen  Schwager!"  — 
Dieser  Imperativ  läßt  ihre  Lage  so  hoffnungslos  erscheinen,  daß  die 
Depression  eintreten. muß. 

Eine  Depression  bedeutet  Hoffnungslosigkeit  und  Verzicht  auf 
Erfüllung  der  geheimen  sexuellen  Ziele  und  Wünsche. 

Diese  sexuelle  Hoffnungslosigkeit  verbündet  sich  mit  einem  ge- 
kränkten Ehrgeiz,  mit  einer  empfindlichen  Herabsetzung  des  Persön- 
lichkeitsgefühles. Deshalb  sieht  man  Depressionen  sehr  häufig  bei 
Beamten  auftreten,  die  im  Amt  übergangen  wurden,  oder  bei  hohen 
Beamten,  die  plötzlich  pensioniert  wurden.  Ein  Professor,  der  eine 
Berufung  erwartet,  und  übergangen  wird,  ein  Offizier,  der  nach  einem 
mißlungenen  Manöver  mit  dem  blauen  Bogen  heimgeschickt  wird,  sie 
alle  können  an  Depressionen  erkranken,  wobei  jedoch  das  Motiv  der 
Depression  verschleiert  wird,  weil  das  Persönlichkeitsgefühl  sich  sträubt, 
die  Kränkung  zuzugeben.  Sie  stellen  es  schließlich  so  dar,  daß  sie 
mit  dem  Ausgange  zufrieden  seien.  Jetzt  hätten  sie  die  erwünschte 
Ruhe,  es  wäre  schon  längst  ihr  Wunsch  gewesen. 

Sie  lassen  sich  eine  Latenzperiode  bis  zum  Ausbruche  der  mani- 
festen Depression,  die  dann  auf  andere  Ursachen  geschoben  wird  oder 
als   grundlose  Verstimmung   aufgefaßt  wird. 

Selten  wird  aber  ein  Mensch  an  einer  so  schweren  Depression 
erkranken,  wenn  nicht  zugleich  die  Aussichtslosigkeit  seiner  sexuellen 
Wünsche  die  Umwertung  von  Ehrgeiz  in  Liebe  verhindert. 


Depression  und  Homosexualität,  507 

Ein  gutes  Beispiel  bietet  der  nächste  Fall,  der  uns  zugleich  tiefer 
in  das  Wesen  der  Depression  einführt. 

Fall  Nr.  93.  Ein  59jähriger  Mann  in  hervorragender  leitender  Stellung 
leidet  schon  seit  zwei  Jahren  an  Depressionen.  Er  nimmt  täglich  Schlafmittel 
und  Abführmittel,  wagt  es  nicht  auszugehen,  da  er  ein  „schwaches  Herz"  habe. 
Er  leidet  an  Arteriosklerose.  Überdies  ist  er  sicher,  daß  bei  ihm  bald  die 
Paralyse  ausbrechen  wird.  Eigentlich  ist  er  schon  paralytisch.  Er  hat  das 
Gedächtnis  verloren,  kann  nicht  lesen,  hat  kein  Interesse  für  alle  Vorgänge 
der  Umwelt  (Lues  vor  15  Jahren,  Wassermann  stets  negativ!). 

Die  Behandlung  eines  solchen  Kranken  ist  außerordentlich  schwer. 
Die  Kranken  lassen  sich  nicht  gern  in  die  Karten  blicken  und  sind 
psychisch  sehr  schwer  zugänglich.  Sie  jammern  immer  wieder,  sprechen 
von  ihren  namenlosen  Qualen.  Kein  Mensch  ist  so  schwer  krank  wie 
sie.  Es  sei  nicht  möglich,  das  Leben  zu  ertragen.  Wenn  sie  nicht  so 
feige  wären,  hätten  sie  sich  längst  das  Leben  genommen.  Das  beste 
wäre  es,  wenn  der  Arzt  ihnen  eine  tüchtige  Dosis  Gift  geben  möchte. 
Viele  ersuchen  direkt  um  Gift,  sind  dem  Arzte  böse,  daß  er  sie  nicht 
erlösen  will. 

Alle  betonen  das  Hoffnungslose  und  Aussichtslose  ihres  Leidens. 
Alle  haben  die  Hoffnung  verloren!  Alle  lächeln  überlegen,  wenn  der 
Arzt  ihnen  Heilung  verspricht. 

Sie  haben  den  ausgesprochensten  „Willen  zur  Krank- 
heit". Das  heißt:  Sie  wollen  nicht  gesund  werden.  Sie  sind  aus- 
gesprochen Zerrissene,  welche  aus  zwei  oder  drei  Persönlichkeiten 
bestehen.  Der  eine  möchte  gesund  werden,  hängt  an  dem  Leben,  lauert 
auf  jedes  Wort  des  Arztes,  beobachtet  ängstlich  seine  Miene,  ob  er 
ihm  widerspricht  und  wie  er  ihm  widerspricht,  wenn  er  von  der  Hoff- 
nungslosigkeit des  Leidens  spricht.  Der  andere  aber  will  nicht  gesund 
werden.    Er  leidet  an  einem  schweren  Schuldgefühl. 

Das  Schuldgefühl  steht  im  Mittelpunkte  der  ganzen  Neurose  und 
der  melancholischen  Psychosen.  Dieses  Schuldgefühl  stammt  aus  einem 
geheimen  Schuldbewußtsein.  Daher  machen  sich  alle  Depressionisten 
Vorwürfe.  Diese  Vorwürfe  enthalten  aber  die  Schuld  nur  in  versteckter 
Form.  Erst  die  Analyse  deckt  die  tieferen  Motive  deß  Schuldbewußt- 
seins auf  und  zeigt,  an  welchen  Vorwürfen  das  Bewußtsein  vorbeigeht, 
um  andere  zu  erblicken  und  aufzugreifen,  die  einen  gewissen  Ersatz 
bieten  können.  Man  kann  daher  in  diesen  Fällen  von  „Ersatzschuld'1 
und  „Ersatzvorwürfen"  sprechen. 

Kehren  wir  zu  unserem  Kranken  zurück.  Seine  Vorwürfe  gehen  auf 
wiederholte  Untreue  in  der  Ehe  zurück,  die  ihm  eine  Lues  einbrachte,  als 
deren  Folge  er  eine  Paralyse  fürchtet.  Seine  Frau  ist  leidend,  launisch  —  kurz 
er  hat  mit  ihr  keine  seelischen  Beziehungen.  Die  körperlichen  sind  wegen 
eines  Frauenleidens  längst  aufgegeben.    Er  hat  deutliche  Beseitigungsideen 


508  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

und  Todeswünsche,  welche  allein  die  Ursache  einer  Depression  und  eines 
Schuldbewußtseins  werden  können,  überdies  kam  ihm  seine  Frau  auf  eine 
J^iebesaffare  mit  einer  Nichte,  die  bis  knapp  vor  Ausbruch  der  Depression 
spielte.  Den  Anlaß  zum  Ausbruche  gab  eine  Zurücksetzung  in  der  Stellung 
und  die  Kränkung  durch  einen  Vorgesetzten.  Er  hörte  auf  ins  Amt  zu  gehen 
das  ihm  soviel  Ablenkung  geboten  hatte.  Aber  diese  Ablenkung  gestattete  ihm 
die  Uberdeckung  und  Sublimierung  seiner  sexuellen  Triebkräfte.  Nun  wurde 
alles  m  ihm  frei. 

Was  tat  er  aber?  Er  löste  die  Beziehungen  zur  Nichte  und  begann  ab- 
stinent zu  leben,  weil  er  einen  Herzschlag  während  der  Eohabitation  fürchtete. 
Er  fürchtete  die  Strafe  Gottes  für  die  sündigen  Beziehungen.  Er  wollte  eich 
bessern  und  sich  seiner  Familie  widmen. 

Unter  seinen  Kindern  war  es  die  älteste  Tochter,  die  ihm  ans  Herz  ge- 
TO^sea  war   C die  Nichte  war  die   Tochter-Image !).    Dieses   Mädchen   ver- 

fXJ  IT  den  Vater'  der  alle  Körungen  auf  sie  gesetzt  hatte,  auf- 

fallend zu  vernachlässigen.  Sie  hatte  von  dem  Verhältnis  zur  Nichte  erfahren, 
war  eifersuchtig  und  wendete  sich  nun  vom  Vater  ab.    Mit  dieser  Verlobung 

SrLTon  ein         immimgen  ^  kimPP  V°P  ihr6r  Heirat  Setzte  die  Schwe™ 

oii    tjP1%  Analyse  brachte  verhältnismäßig  rasche  Heilung.   Zuerst  wurden 

ohne  aSSSu  r6686^'  ?6r Jfnke  hatte  bald  »  StuH  konnte 
ÄS^^VT26^6*  SCWafen'  WUrde  aUSgiebig  beschäftigt,  lernte 
taglich  mehrere  Stunden  Bewegung  machen,  faßte  wieder  Interesse  für  Lek- 

fatt  dnr tate"  *"  ™**  BeSChäftigUng'  die  *"  *****  Selbstendig- 

Todeswünsche  gegen  teure  Angehörige  kommen  in  der  Psycho- 
genese  der  Depression  häufig  vor,  weil  sie  die  Folge  einer  unglücklichen 
Liebe  sind.  Ich  könnte  einige  Dutzend  solcher  Fälle  aus  meiner  Er- 
fahrung anführen.  Ein  älterer  Herr  verliebt  sich  in  seinem  Bureau  in 
eine  Typmamsell.  Diese  Liebe  gesteht  er  sich  nicht.  Es  bleibt  eine 
unbewußte  Liebe.  Er  erkrankt  an  Herzschmerzen.1)  Zugleich  treten 
Befürchtungen  auf,  seine  Frau  könnte  überfahren  werden,  sie  sei  so 
leichtsinnig  usw.  Hinter  dieser  neurotischen  Angst  verbergen  sich  dio 
verbrecherischen  Wünsche.  Er  erkrankt  an  einer  schweren  Depression. 
Die  Analyse  läßt  die  verdrängte  Liebe  zum  Vorschein  kommen. 

Auch  Inzestgedanken,  die  vom  Bewußtsein  abgedrängt  werden, 
lassen  sich  sehr  häufig  konstatieren.  Oft  übernimmt,  wie  in  dem  vor- 
erwähnten Fall,  ein  anderes  Objekt  die  Wertung  des  Inzestobjektes. 
Oft  flieht  der  Kranke  vor  dem  Inzest  in  eine  neue  Liebe.  Diese  Inzest- 
wünsche brechen  in  schweren  Psychosen  offen  durch.  Die  Kranken  be- 
zichtigen sich  dann  des  Verkehrs  mit  den  Angehörigen  und  verlangen 
strenge  Bestrafung.  Oder  sie  projizieren  den  eigenen  Wunsch  nach 
außen  und  behaupten,  man  hätte  sie  zu  einem  Inzest  verleiten  wollen, 
sie  beginnen  ein  Familienmitglied  heftig  zu  hassen,  es  dürfen  bestimmte 

l)  Vgl.  meine  Broschüre  „Das  nervöse  Herz"  (Verlag  Paul  Kneplör,  Wien). 


Depression  und  Homosexualität.  509 

Familienmitglieder  nicht  im  ihre   Nähe  kommen.    Mitunter  wird  die 
ganze  Familie  in  den  Haß  einbezogen. 

Eine  der  Hauptlirsachen  der  Depression  ist  die  Zerstörung  einer 
geheimen  inzestuösen  Hoffnung.  Mütter  erkranken,  wenn  ihre  Töchter 
oder  Söhne  heiraten,  Vätern  ergeht  es  ebenso.  Aber  auch  die  Töchter 
können  vor  der  Ehe  mit  dem  geliebten  Manne  an  Depressionen  er- 
kranken, wenn  sie  ihren  Vater  oder  Bruder,  ihre  Mutter  oder  Schwester 
verlassen  sollen,  an  die  sie  fixiert  sind. 

Der  Abbruch  einer  inzestuösen  (unbewußten)  Beiziehung  findet 
sich  fast  in  jeder  Depression.  Meistens  hat  sich  der  Gegenstand  der 
Liebe  anderweitig  durch  eine  neue  Liebe  gebunden.  Diese  Liebe  wird 
dann  als  Treulosigkeit  gewertet. 

Oft  kämpfen  die  Eltern  gegen  die  Neigung  ihrer  Kinder  und!  finden 
allerlei  an  den  Haaren  herbeigezogene  Motive  für  die  Ablehnung.  Meist 
klagen  sie  dann  über  Vernachlässigung  und  finden,  das  Kind  habe  sie 
nicht  mehr  lieb.  Oft  sieht  man  nach  Hochzeiten  bei  den  Nahverwandten 
leichte  manische  Zustände  auftreten,  welche  eine  Flucht  in  eine  gewollte 
Fröhlichkeit  und  übertriebene  Tätigkeit  darstellen  und  denen  dann  ge- 
wöhnlich eine  Depression  folgt,  was  fälschlich  zur  Diagnose  einer 
Cyclo  thymie  führen  könnte. 

In  dem  letzten  Falle  klagte  der  Patient,  daß  die  Tochter  für  die 
Schwere  seines  Leidens  kein  Verständnis  habe.  Sie  lache  ihn  aus  und 
berufe  sich  auf  die  Ärzte,  die  gesagt  hätten,  an  einer  Depression  sterbe 
man  nicht.  Er  will  wie  alle  diese  Kranken  ihre  Liebe  in  Form  von  Mit- 
leid erpressen!  Er  wird  Egoist  und  liebt  nicht  mehr,  er  kann  nicht 
mehr  lieben. 

Er  liebt  nicht .  sich  selbst,  wie  es  Freud  behauptet,  der  in  der 
Melancholie  eine  „narzißtische  Psychose"  erblickt,  ein  Rückströmen  der 
Libido  auf  das  eigene  Ich.   Man  muß  viel  eher  in  der  Melancholie  und 
in  der  Depression  Umkehrungsphänomene  sehen.  Die  ganze  „Liebes- 
bereitschaft" ist  in  „Haßbereitschaft"  verwandelt.    Der  Kranke  kann 
nur  hassen  und  haßt  sich  selbst.  Dieser  Haß  gegen  sich  selbst  steigert 
sich  zum  Taedium  vitae.  Er  verstümmelt  sich,  quält  sich,  legt  Hand  an 
sieh.  Meistens  wird  geklagt,  daß  jedes  Gefühl  erstorben  sei,  daß  ein 
Stein  im  Herzen  liege  usw.  Das  verbirgt  nur  die  Tatsache,  daß  der  Haß 
den  Kranken  vollkommen  beherrscht.  Er  kann  nicht  lieben,  weil  er  sich 
und  die  ganze  Welt  haßt.    Deshalb  quält  er  die  Umgebung,  weckt  sie 
des  Nachts,  tyrannisiert  sie,  läßt  sie  nicht  zur  Ruhe  kommen.  Seine  Ent- 
fernung in  eine  Heilanstalt  betrachtet  er  als  tiefe  Kränkung,  weil  er  die 
Familie  nicht  mellT  quälen  kann.  Er  ist  von  Neid  gegen  die  ganze  Welt 
erfüllt.  Er  beneidet  jeden  Menschen,  der  lachen  kann,  der  sich  guten 
Appetits  erfreut,  er  beneidet  jeden  Glücklichen. 


■ 


510  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Die  Depression  ist  eine  Haßneu  rose.  Die  Kran- 
ken glauben  oft,  daß  sie  deprimiert  sind,  weil  sie  hassen.  Sie  ver- 
wechseln die  Tatsachen.  Sie  hassen,  weil  sie  deprimiert  sind'.  Man  sieht 
Mutter,  die  in  tiefe  Depression  verfallen,  weil  sie  ihre  Kinder  hassen- 
man  sieht  Frauen,  die  ihre  Depression  auf  Haßregungen  gegen  den  Mann 
zurückführen.  In  allen  Fällen  beginnt  das  Leiden  mit  einer  Liebes- 
S,  rSn  Je  WGlter  die  DePressi°n  fortschreitet,  desto  deutlicher  wird 
die  Haßemstellung  gegen  die  Umgebung,  die  sich  sogar  in  Tätlichkeiten 
äußern  kann.  Mit  dem  Haß  meldet  sich  der  verdrängte  Sadismus,  der 
sich  sowohl  nach  außen  als  nach  innen  richtet.  Daß  dieser  Haß  auf 
andere  Ursachen  zurückgeht,  werden  uns  weitere  Beispiele  zeigen 

Im  psychischen  Gefüge  der  Depression  gibt  es  immer  einen  Kern 
den  ich  als  treibenden  Wunsch   oder  als  „unerfüllten  Wunsch"  be- 
zeichnen möchte.  Jeder  Wunsch  und  jede  Phantasie  hat  einen  gewissen 
Anspruch  auf  Realität  (auf  Verwirklichung).    Ich  nenne  diesen  An- 
spruch „Realitätskoeffizienten».    Wenn  der  Realitätskoef- 
hzient  auf  den  Nullpunkt  heruntersinkt,  so  daß  die  Hoffnung  auf  Er- 
füllung der  unerfüllten  Sehnsucht  auf  Null  gesunken  ist,  so  ist  der 
psychologische  Moment  für  das  Zustandekommen  der  Depression  ge- 
kommen.   Da  dieser  „unerfüllte  Wunsch"  meist  unbewußt  ist,  so  ist 
dann  che  Ursache  der  Depression  gleichfalls  dem  geistigen  Blickfelde 
des  Bewußtseins  entzogen.  Die  Depression  stellt  also  den 
endgültigen    Sieg    der    Realität    über    die    Phanta- 
sien dar.  Sie  ist  der  vollkommene  Bankerott  der  Phantasiewelt.  Der 
Neurotiker  arbeitet  mit  zwei  Währungen:    mit  dem  Lustprinzip  und 
dem  Realitäteprinzip  (Freud).  In  der  Depression  ist  die  Lustwährung 
ganz  außer  Kurs  gesetzt.  Aber  auch  die  Realitätswährung  leidet  unter 
der  Entwertung.  Der  Kranke  entwertet  die  ganze  Welt,  seinen  ganzen 
Besitz,  aUes  verliert  seinen  Wert.   Das  heißt:    Nichts  kann  ihm  mehr 
Freude  machen! 

Mit  dem  Bankerott  der  Phantasien  und  der  bitteren  Erkenntnis 
von  der  Unerfüllbarkeit  der  unbewußten  Zielvorstellungen  kommt  es 
zu  einer  Einschränkung  der  Interessen.    Das  Interesse  und  die  Auf- 
merksamkeit sind  ein  Problem  der  Affektivität  (Bleuler).   Die  ganze 
Affektivität  des  Kranken  ist  in  Haß  verwandelt.   Damit  schränkt  sich 
sein  geistiger  Horizont  auf  alle  Haßobjekte  (die  nächste  Umgebung) 
ein.  Der  Kranke  hat  schließlich  nur  ein  Objekt,  das  ihn  interessiert: 
das  eigene  Ich  und  das  eigene  Unglück.  Die  alte  Erfahrung,  daß  jedes 
Unglück  egoistisch  macht,  bestätigt  sich  aufs  neue.   Freud  meint,  die 
Libido  ströme  ganz  auf  das  Ich  zurück.  Nur  im  gewissen  Sinne  wäre 
diese  Annahme,  mit  einer  Einschränkung  richtig.   Es  wäre  nur  zu  be- 
weisen, daß  es  sich  um  eine  Libidostörung  handelt,  daß  die  verhinderte 


Depression  und  Homosexualität.  511 

Objektsbesetzung  zu  einer  Fixierung  an  das  Ich,  also  zu  einer  Rück- 
bildung im  infantilen  Sinne  führt. 

Sicher  ist  nur,  daß  die  Einschränkung  des  Interessenkreises  das 
sichere  Charakteristikum  bildet.  Fängt  der  Kranke  sich  für  die  Um- 
gebung und  für  die  Ereignisse  der  Welt  zu  interessieren  an,  so  ist  der 
erste  Fortschritt  gegeben.  Ebenso  wenn  er  über  vollkommene  Gleich- 
gültigkeit klagt.  Er  muß  eben  nach  der  Periode  des  Hasses  eine  in- 
differente Zone  der  Gleichgültigkeit  durchschreiten,  ehe  er  wieder  lieben 
kann.  Geheilt  ist  er,  wenn  er  wieder  liebt! 

Allen  Beobachtern  ist  die  starke  Neigung  der  Kranken  zum 
Jammern  aufgefallen.  In  leichteren  Stadien  reden  sie  unaufhörlich  und 
beschäftigen  sich  mit  'ihren  Leiden.  Erst  in  schweren  Stadien  treten 
die  Vorwürfe  offen  zutage.  Es  gibt  aber  keine  Depression, 
in  der  sich  der  Kranke  nicht  Vorwürfe  machen 
würde.  Wenn  er  verstummt  und  nicht  mehr  klagt,  so  denkt  er  über 
seine  Fehler  nach.  Die  ganze  Vergangenheit  wird  durchforscht,  um 
die  Sünden  zu  finden,  als  deren  Folge  er  die  Krankheit  empfindet.  Die 
Krankheit  wird  dann  als  gerechte  Strafe  des  Himmels  aufgefaßt.  Die 
Kranken  werden  oft  fromm  oder  geben  ihre  frühere  Frömmigkeit  auf, 
„weil  es  angeblich  keinen  Gott  gibt",  — sonst  könnte  er  sie  nicht  so  leiden 
leiden  lassen".  Im  Innern  sind  sie  alle  fromm,  selbst  wenn  es  sich  um 
Freigeister  und  Atheisten  handelt.  Sie  gestehen,  daß  sie  vergeblich 
versuchen  zu  beten.  Sie  haben  zu  Gott  auch  die  Haßeinstellung,  die 
sie  gegen  die  ganze  Welt  beherrscht.  Oft  setzt  das  Leiden  mit  einer 
Blasphemie  oder  einer  Empörung  gegen  Gott  ein.  Depressionen,  die 
sich  im  Kriege  an  den  Verlust  eines  teuren  Wesens  schlössen,  zeigten 
oft  diese  Empörung  gegen  die  göttliche  Allgewalt. 

Fall  Nr.  94.   Eine  Patientin  kam  in  meine  Behandlung,  die  schon  drei 
Jahre  an  schwerer  Melancholie  litt.   Ich  hörte  im  Laufe  der  psychischen  Be- 
handlung, daß  sie  vorher  fromm  war  und  jetzt  den  Glauben  ganz  verloren 
habe.  Sie  besuchte  seit  der  Melancholie  keine  Kirche  mehr,  während  sie  vorher 
sehr  fleißig  in  die  Kirche  gegangen  war  und  jeden  Monat  gebeichtet  hatte. 
Gründe  für  diesen  Abfall  hat  sie  gleich  bei  der  Hand:  Weil  ßie  so  unglücklich 
sei  wegen  ihrer  Krankheit,  die  sie  grundlos  befallen  hätte.  Die  Analyse  ergab, 
daß  sie  sich  in  einen  Vetter  verliebt  und  diese  Liebe  tapfer  überwunden  hatte. 
Sie  bat  den  Vetter,  ihr  Haus  zu  verlassen,  sie  wolle  ihrem  guten  Manne  (der 
sie  weder  seelisch  noch  körperlich  befriedigen  konnte)  nicht  die  Treue  brechen. 
Nach  seiner  Abreise  ging  sie  in  die  Kirche.  Während  des  Gebets  passierte  es 
ihr,  daß  sich  ein  Flatus  einstellte,  den  sie  mit  einem  Fluche  gegen  die  Gottheit 
herausließ.  Nun  traute  sie  sich  nie  mehr  in  die  Kirche,  weil  sie  sich  als  schwere 
Süiuteröl  betrachtete.  Auch  fürchtete  sie  die  Beichte.  Ich  empfahl  sie  einem 
von  mir  unterrichtaleü  BßÄater,  der  sie  absolvierte.   Rasche  Genesung. 


512  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

Ich  habe  erwähnt,  daß  alle  Kranken  die  Neigung  zum  Jammern 
haben.  Sie  erpressen  die  Liebe  der  Umgebung  in  Form  von  Mitleid  und 
werden  wütend,  wenn  man  ihnen  ihre  Beschwerden  und  Qualen  nicht 
glaubt.  Lachen  sie  über  einen  Witz  oder  in  einem  Theater,  so  erklären 
sie  gleich:  es  wäre  kein  rechtes  Lachen  gewesen.  Sie  hätten  nur  me- 
chanisch gelacht.   Und  sofort  setzt  das  Jammern  wieder  ein. 

Die  bisherigen  Ausführungen  haben  uns  dem  Verständnis  vieler 
Symptome  näher  gebracht.  Die  Vorwürfe,  die  die  Kranken  sich  machen, 
sind  berechtigt.  Ihr  böses  Gewissen  läßt  ihnen  keine  Ruhe.  Ihr  Leiden 
ist  eine  selbstdiktierte  Strafe.  Deshalb  glauben  sie  nicht  an  ihre 
Genesung.  Sie  wollen  nicht  gesund  werden!  Sie  lächeln 
daher  überlegen,  wenn  der  Arzt  von  ihrer  Heilung  spricht.  Sie  wissen 
es  besser.  Sie  sind  unheilbar.  Ihr  Selbstmord  ist  dann  die  Strafe  für 
die  Beseitigungsideen.  Ich  habe  einmal  den  Satz  geprägt:  Niemand 
tötet  sich  selbst,  der  nicht  einen  anderen  töten 
wollte!  Das  gilt  auch  für  den  so  oft  eine  Depression  abschließenden 
Selbstmord. 

Freud  hat  in  einem  interessanten  Aufsatze:  „Melancholie  und 
Trauer"  die  Behauptung  aufgestellt,  daß  die  Vorwürfe  ursprünglich 
einer  geliebten  Person  gelten  und  dann  erst  sekundär  auf  das  eigene 
Ich  verschoben  werden.  —  Diese  Behauptung  ist  nach  meiner  Erfahrung 
nicht  für  alle  Fälle  richtig.  Sie  trifft  nur  für  einen  bestimmten  Tjrpus  zu. 
Ganz  falsch  ist  es  aber,  in  der  Ablehnung  der  Nahrung  etwas  anderes 
zu  sehen  als  einen  „chronischen  Selbstmord".  Freud  unterstreicht  die 
Behauptung  von  Abraham,  daß  die  Ablehnung  der  Nahrung  eine  Folge 
der  „Regression  auf  die  kannibalistische  Phase  der  Libidoentwicklung" 
sei.  Diesen  Verstiegenheiten  und  Spitzfindigkeiten  kann  ich  keinen 
Geschmack  abgewinnen.  Sie  verwirren  das  Krankheitebild  anstatt  es 
aufzuhellen.  .  .  . 

Die  Kranken  sind  liebesarm  geworden.  Die  Angst  zu  verarmen 
bedeutet  die  Angst,  an  Liebe  zu  verarmen.  Geld  ist  in  der  Sprache  der 
Depression  Liebe  .Sie  wollen  auch  kein  Geld  ausgeben,  sich  nichts 
anschaffen,  es  sei  ja  alles  vergeblich,  es  hätte  keinen  Wert  usw.  .  .  Sie 
finden  die  Umgebung  und  den  Arzt  herzlos.  Niemand  leide  so  wie  sie. 
Ob  der  Arzt  schon  so  einen  schweren  Fall  geheilt  habe?  Ob  er  auch 
fühlen  könne,  wie  schwer  sie  leiden?  Sie  lauern  auf  jedes  Wort  des 
Arztes  und  entwickeln  eine  Genialität,  seine  Worte  'zu  verdrehen  und 
sie  zu  ihren  Ungunsten  zu  deuten.  Sie  sind  sehr  empfindlich  und  be- 
merken mit  unheimlicher  Beobachtungsgabe  jede  Geste,  jeden  Tonfall 
des  Arztes  und  der  Umgebung.  Sie  haben  das  Interesse  für  die  Umwelt 
verloren,  aber  sie  sind  scharfsichtiger  geworden  in  allen  Beziehungen 
zu  ihrem  Ich. 


_ 


Depression  und  Homosexualität.  52 g 

Im  ganzen  Krankheitsbilde  tritt  eine  deutliche  masochistische 
Tendenz  hervor.  Der  Haß  richtet  sich  gegen  das  eigene  Ich  und  aus 
der  Selbstquälerei  strömt  ihnen  geheime  Lust. 

Das  merkt  man  besonders  in  jenen  Fällen  von  Depressionen,  die 
sich  dem  hypochondrischen  Krankheitsbilde  nähern.  Die  Hypochondrie 
befällt  immer  eine  „erogene"  Zone.  Diese  Zonen  zeigen  sich  bei  ober- 
flächlicher Betrachtung  als  Angstakkumulatoren,  während 
sie  m  Wahrheit  Lustakkumulatoren   sind. 

Ich  komme  nun  zum  wichtigsten  Teil  meiner  Ausführungen. 
Männer  machen  in  diesem  Leiden  einen  weibischen  Eindruck,  so  daß 
Mendl1)  mit  Recht  von  einem  Klimakterium  virile  sprechen  konnte.  Es 
handelt  sich  wie  beim  weiblichen  kritischen  Alter  der  Frau  um  einen 
Bankerott  aller  erotischen  Hoffnungen.  Der  Mann  ist  alt,  fühlt  sich  alt 
und  klagt  darüber,  daß  er  nun  sterben  soll,  ohne  sich  ausgelebt  zu  haben 
In  jedem  Menschen  lebt  ein  heimlicher  „sexueller  Imperativ"  der  ihn 
drängt,  seine  Erfüllung  zu  suchen.  Ohne  diese  Erfüllung  können  die 
Menschen  nicht  sterben,  oder  sie  sterben  mit  dem  Ausrufe  daß  sie 
eigentlich  nicht  gelebt  hätten. 

Im  Klimakterium  des  Mannes  tritt  aber  seine  Verweiblichung  sehr 
deutlich  hervor.  Er  verliert  alle  -Energie,  wird  entschlußunfähig  (  wie 
ein  altes  Weib"),  jammert  und  klagt  direkt,  er  habe  seine  Männlichkeit 
verloren. 2) 

Es  ist  eine  sichere  Tatsache,  die  ich  immer 
wieder. beobachten  konnte,  daß  die  Depressionen 
mit  einer  Verstärkung  der  gleichgeschlechtlichen 
Komponente  einsetzen.  Die  Männer  werden  weib- 
lich und  die  Frauen  männlich. 

Ich  kann  nicht  entscheiden,  wie  weit  dabei  organische  Störungen 
der  inneren  Sekretion  eine  Rolle  spielen.  Der  Erfolg  der  Psychotherapie 
spricht  gegen  die  rein  organische  Grundlage.  Wahrscheinlich  erfolgt 
wegen  der  heterosexuellen  Enttäuschung  eine  Flucht  in  die  Homo- 
sexualität. 

Frauen,  die  an  Depressionen  erkranken,  die 'bei  ihnen  fast  immer 
das  typische  Bild  der  Melancholie  bieten,  zeigen  plötzlich  eine  Neigung 
zu  männlichen  Beschäftigungen.  Sie  beginnen  zu  rauchen,  weil  die 
Zigarette  sie  wie  ein  Narkoticüm  beruhigt.  Sie  tragen  Männerblusen 
mit   Kragen.     Manche   lassen    sich    scheinbar   unmotiviert    das    Haar 

*)  Die  Wechseljahre  des  Mannes.  (Neurol.  ZW.,  1910.) 

s)  Siehe  auch  Löwenfeld:  „Sexualleben    oder  Nervenleiden",  4.  Aufl.,  Wiesbaden 
1914.  Kapitel:  Klimakterium  virile. 

Stekol,  Störungen  des  Trieb-  und  Affelttlobens.  II.  ü.Aufl.  dq 


514  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität. 

schneiden.    Sie  suchen  die  Ruhe  der  Natur  in  Ausflügen  und   ziehen 
Männerhosen  an. 

Mitunter  läßt  sich  sogar  eine  stärkere  Behaarung  im  Gesicht 
nachweisen,  die  während  der  Depression  auftritt.  Die  Menses  werden 
spärlicher  oder  bleiben  ganz  aus.  Die  Schilddrüse  schwillt  an, -es  zeigen 
sich  Störungen  der  inneren  Sekretion.  Der  Organismus  beteiligt  sich 
an  der  ganzen  Umstimmung  in  das  Gegengeschlechtliche. 

Bei  den  periodischen  Depressionen  läßt  sich  dieser  Wechsel 
zwischen  heterosexueller  und  homosexueller  Einstellung  sehr  deutlich 
nachweisen.  Eugen  Steinach  hat  in  seiner  hochinteressanten  und 
fundamentalen  Arbeit  „Pubertätsdrüsen  und  Zwitterbildung"  (Arch. 
f.  Entwicklungsmechanik,  Bd.  13,  3.  Heft)  beobachtet,  daß  bei  seinen 
künstlichen  Zwittern  männliche  und  weibliche  Perioden  wechselten. 

Ich  bringe  diese  Stelle  wegen  ihrer  Wichtigkeit  wörtlich  wieder: 

„Bei  der  Entwicklung  des  Geschlechtstriebes  macht  sich  zunächst 
männliche  Art  geltend.  Das  Tier  ist  mutig,  stellt  sich  einem  fremden 
gleichaltrigen  Männchen  zum  Kampf  und  läßt  dabei  den  gurgelnden  Laut 
vernehmen,  welcher  beim  Weibchen  und  beim  männlichen  Frühkastraten 
fehlt,  der  beim  normalen  Bock  jede  Aktion  einleitet  oder  begleitet,  sei 
es  Kampf  oder  Werbung.  Auch  normalen  Weibchen  gegenüber  gebärdet 
es  sich  als  Männchen.  Es  findet  sofort  ein  brünstiges  Weibchen  heraus, 
verfolgt  unaufhörlich  und  bespringt.  Würde  man  sich  mit  einigen 
Prüfungen  in  der  ersten  Zeit  der  Reife  begnügen,  so  würde  man  schließen, 
der  Zwitter  sei  in  männlicher  Richtung  erotisiert. 

Bei  regelmäßig  wiederkehrenden  Ermittlungen  kommt  man  aber  zu 
einem  Zeitpunkte,  wo  das  Tier  ganz  veränderten  Charakter  zeigt.  Das 
Tier  ist  mehr  scheu  und  furchtsam.  Bringt  man  ein  fremdes  Männchen 
in  sein  Abteil,  so  stellt  er  sich  nicht  mehr,  sträubt  nicht  mehr  die  Haare, 
sondern  bleibt  stumm  und  läuft  davon.  Bringt  man  ein  oder  das  andere 
Weibchen  in  sein  Abteil,  so  verhält  es  sich  nach  dem  ersten  Beschnuppern 
ruhig  und  vollkommen  gleichgültig,  auch  wenn  das  Weibchen  brünstig 
ist.   Der  männliche  Trieb  scheint  wie  erloschen. 

Im  Gegenteil,  das  Tier  hat  weiblichen  Reiz  gewonnen.  Dasselbe 
normale  Männchen,  welches  in  ihm  bisher  ein  Kampfobjekt  erblickt  hat, 
findet  in  ihm  ein  Objekt  der  Werbung.  Der  Zwitter  wird  nun  fort  und  fort 
verfolgt,  berochen  und  besprungen,  und  wehrt  sich  oft  vor  heftigem  Auf- 
sprung durch  Heben  des  Hinterfußes,  wie  ein  normales  Weibchen  —  kurz 
es  ist  beim  Zwitter  eine  Periode  weiblicher  Erotisierung  eingetreten. 

Diese  Periode  dauert  etwa  zwei  bis  vier  Wochen.  Bei  den  Exem- 
plaren, bei  welchen  die  Mammahyperplasie  bis  zur  Milehsekretion  ge- 
diehen ist.  fällt  sie  zusammen  mit  der  Periode  derMilchsekretion  und  kehrt 
wieder,  sobald  neuerdings  Milch  drüsenschwellung  und  Milchsekretion  ent- 
steht. In  diesen  zwei-  bis  dreimonatelangen  Zwischenpausen  benimmt  sich 
das  Tier  zunächst  indifferent,  dann  wieder  ausgesprochen  männlich.  Die 
Übergänge  von  der  weiblichen  zur  männlichen  Erotisierung  nehmen  bei 
den  einzelnen  Perioden  verschiedene  Zeiten  in  Anspruch; 


-  ,i 


Depression  und  Homosexualität.  •  515 

Die  Koinzidenz  Yon  weiblicher  Sexualstimmung  und  Milchsekretion 
hat  mich  veranlaßt,  eben  einen  solchen  Zwitter  zur  histologischen  Unter- 
suchung der  Transplantate  zu  opfern.  Der  gesunde  beträchtliche  Hodenrest 
bietet  das  Bild  der  gewucherten  männlichen  Pubertätsdrüse.  Mächtige 
Lager  oder  Stränge  Leydigscher  Zellen  umgeben  die  atrophischen  oder 
schon  zerfallenen  Samenkanälchen.  Das  Ovarium  ist  noch  ganz  in  alter 
Form  erhalten  und  zeigt  eine  massenhafte  Oblitierung  der  Follikel,  die 
von  luteinzellartigen  Elementen  gefüllt  sind  und  die  in  ihrer  Zahl  und 
Üppigkeit    eine  besonders    reich    entwickelte    weibliche  Pubertätsdrüse 

darstellen. 

Durch  diesen  Befund  wird  die  Periode  der  weiblichen  Erotisierung 
tatsächlich  aufgeklärt.  Sie  wird  hervorgerufen  durch  periodisch  ausgelöste 
Höchstleistung  der  weiblichen  Pubertätsdrüse,  welche  in  diesen  Zeit- 
läuften soviel  weibliches  Sexualhormon  produziert,  daß  einerseits  die 
weiblichen  Geschlechtsmerkmale  ihre  höchste  Entfaltung  erfahren,  was 
in  der  Mammahyperplasie  und  Milchsekretion  zum  Ausdruck  kommt,  und 
daß  andererseits  die  zentrale  Nervensubstanz  so  reichlich  mit  diesem 
Hormon  durchspült  wird,  daß  die  psycho  sexuelle  Stimmung  und  das  von 
ihr  beherrschte  funktionelle  Verhalten  vollständig  nach  der  weiblichen 
Richtung  umschlägt. 

Wird  das  ovariale  Transplantat  innerhalb  der  Periode  männlicher 
Sexualstimmung  exstirpiert,  so  fällt  die  Periode  der  Mammahyperplasie 
und  der  weiblichen  Erotisierung  ein  für  allemal  aus,  ein  Kontrollversuch, 
welcher  den  Zusammenhang  zwischen  dem  psychischen  Gesehlechts- 
eharakter  und  der  spezifischen  Wirksamkeit  der  Sexualhormone  wieder  in 
zwingender  Weise  erhärtet. 

Daß  die  Pubertätsdrüse  des  transplantierten  Ovariums  in  bezug 
auf  Ausbreitung  und  Tätigkeit  starkem  Wechsel  unterliegt,  war  mir  aus 
der  bis  in  die  Gegenwart  fortgesetzten  Beobachtungen  an  feministischen 
Männchen  geläufig;  bei  denselben  haften,  wie  schon  eben  mitgeteilt,  die 
in  frühester  Jugend  eingepflanzten  Ovarien  jahrelang,  ja  bis  zum  Lebens- 
ende, und  sind  imstande,    durch    die  von  Zeit    zu  Zeit  wiederkehrende, 
histologisch  nachweisbare  Steigerung  der  Follikelobliteration  beziehungs- 
weise  Pubertätsdrüsenwucherung,    jene   periodisch  erfolgenden   Erschei- 
nungen, der  weiblichen  Brunst,  der  Mammahyperplasie  und  Milchsekretion 
auszulösen.    Neu  aber  und    von  Bedeutung  ist    die  durch    vorliegende 
Experimente  ermittelte  Tatsache,  daß  das  zentrale  Nervensystem  auf  die 
Schwankungen  im  Zuflüsse  der  beiden  Sexualhormone  so  scharf  reagiert 
und  daß  es  wiederholt  im  Laufe  des  individuellen  Lebens  je  nach  der 
Speicherung  des  spezifischen  Hormons  bald  in  männlicher,  bald  in  weib- 
licher Richtung  erotisiert  werden  kann." 
Steinach  weist  auf  die  Forschungen  von  Moll  hin,  der  als  der  erste 
die  Periodizität  im  Auftreten  homosexueller   Neigungen  konstatiert 
hat    (Die  konträre  Sexualempfindung,  Berlin  1891).    Aber  auch  bei 
Krafft-Ebing,  bei  Tarnowsky,  bei  Magnus  Hirschfeld  und  bei  Bloch 
finden  sich  deutliche  Hinweise  auf  diese  Tatsache. 

Krafft-Ebing  beschreibt  im  Jahrb.  f.  sex.  Zwischenstufen  Bd.  3, 
S.  27,  einen  Fall  von  periodischer  Bisexualität,  der  den  von  mir  oft  beob- 
achteten Verlauf  nimmt.  In  der  Depression,  derentwegen  ein  Sanatorium  auf  - 

33* 


516  •  Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität, 


gesucht  wird,  homosexuelle  Neigungen.  Im  Sanatorium  regelmäßig  Liebes- 
regungen zu  den  Ärzten,  die  sich  bis  zum  Verliebtsein  steigern,  so  daß  es 
zu  Heirategedanken  kommt  Mit  der  Besserung  der  Neurose  tritt  das 
heterosexuelle  Fühlen  wieder  in  den  Vordergrund.  Krafft-Ebing  beob- 
achtete einen  Anfall  (hysterische  Psychose),  in  dem  beide  Tendenzen  mit- 
einander  rangen,  und  behauptet,  die  Kranke  durch  eine  suggestive  Kur 
dauernd  geheilt  zu  haben. 

m^ATmAHirSChiit  GrW?hnt  in  seinem  Buche  »Die  Homosexualität" 
i«  i  Ü  '  iß  YCUS)  emen  FaU  Von  P^iodischcr  Bisexualität,  der 
mit  cydothymen  Symptomen  einherging.    Er  sagt:  „Er  betrifft  einen  an 

manisch-depressiven  Stimmungsschwankungen  leidenden  Gymnasialpro" 
fessor,  der  m  einer  Heilanstalt  Morphinist  geworden  ist.  Er  fühlt  im  De- 
pressionszustande  homosexuell,  im  Exaltationszustand  und  im  Morphium- 

StU-n^SeXUe11  V  Df  S rkWÜrdige  aber  ist>  daß  in  homosex'u  S 
STXfe  t*  ^  iS\°ft  UmSChlägt'  aöch  6eine  Bewegungsart 
Ä       rlWarnd  f  m  h^rosexue11^  Zeiten  viel  tiefer  spricht 
und  auch  m  Gang  und  Gesten  viel  viriler  wirkt"  (S.  212).1) 

Eine  ähnliche  Beobachtung  habe  ich  in  allen  meinen  Fällen  ge- 
macht. Mit,  dem  Durchbruch  der  gleichgeschlechtlichen  Regungen  setzte 
die  Depression  ein. 

den  F^r^f!,6118?6?  T^eaden,  alle  meine  Erfahrungen  über 
IS!         6n,Fa    schildert  Max  Marcuse  in  der  Mschr  f.  Psych. 
Bd  41    FrfrT    Pen,0dlSr]c,;:alte!;nierender   ^ro-Homosexualität,    1917, 
SrhriLS      °a  l nddt  Slch!um4inen  31iährigen,  erblich  belasteten 

bcü nlteteller,    der  sich  nur  in  der  Homosexuellenperiode  richtig    wohl 
lulilt  und  nur  in  ihr  schriftstellerisch  und  produktiv  ist,  dagegen  zur 
£eit  des  normalen  Empfindens  dauernd  unter  einer  gewissen  Depression 
leidet  und  nichts  schaffen  kann.  Körperlich  zeigt  er  keine  Zeichen  einer 
betonten  Bisexualität.   Seine  Perioden  schilderte  Marcus  folgendermaßen- 
In  der  homosexuellen  Periode  lebt  er  als  der  maskuline  Teil  jeweilig 
mit  einem,  jungen  Freunde  zusammen,  ist  in  seinem  Glücksgefühl  nur  durch 
flW  V01'a ememJKonJflikte  ™&  Polizei  und  Gericht  beeinträchtigt,  dies 
allerdmgs  dauernd  und  erheblich,  und  er  befindet  sich  zurzeit  offenbar  in 
tZTt-        J  in  Adif Sem  Zeitabschaitte  schreibt  und  veröffentlicht  er 
be  eite  t^r    en  ^r^it6Jn-    Fa8t  Über  Nacht'  aber  doch  im™r  nach 
iZ££  voll! tahf  ■  &&*&**    daß   d6r   "Umsehwung"   bald    eintreten 
Elf*8?  daniJ  die  Änderung  mit  ihm:  aus  froher,  schaffender 
PaE   LT       TrauTri?eit    Und  Arbeitsunlust;    nicht    selten    kämpft 
demnächst  ZZT n  LebeDsübe^uß;    und  er  fürchtet,  diesem  Kampfe 
üemnachst  einmal  zu  erliegen.    Er  kann  in  solcher  Zeit  nicht  begreifen 
H      r  J6",     f*  homosexuen  ™  betätigen  imstande  sei,  da  ihm  s  hon 
der  Gedanke  daran  Ekel  bereite;  er  flieht  seine  homosexuelln  Freunde 
und  das  ganze  Milieu,  meist  indem  er  auf  Reisen  geht,  bei  denen  er  fast 
niemals  ein  bestimmtes  Ziel  hat,  sondern  sich  vom   Zufall  und  einem 
dumpfen  Drange  leiten  läßt.  Er  sehnt  sich  nach  den  Umarmungen    S 
_Weibes,  ist  leicht  von  den  Reizen  eines  solchen  entflammt  und  verbebt 

_        ■)  Auch   L^enfM   0.  c.S  431)   schildert  eine   periodische   homosexuelle   Zwangs- 
neigung  mit  Wechsel   der  Stimmlage.  fe 


Depression  und  Homosexualität.  ,-^17 

sich  fast  in  jede  üppige  Frau.  Der  Koitus  als  solcher  reizt  ihn  wenig  und 
befriedigt  ihn  noch  weniger.   Er  ist  in  dieser  Periode  liederlich  und  völlig 

S^S?1    ' weil  doch  "alles  unnütz" sei  und  lebt  -** 

Aus  dieser  Schilderung  ergibt  sich,  daß  er  auch  in  den  homo- 
sexuellen Perioden  leidet.  Er  fühlt  sich  dauernd  und  erheblich  durch 
den  Konflikt  mit  Gericht  und  Polizei  beeinträchtigt  und  scheint  Er- 
pressern ausgeliefert.  Es  ist  ja  möglich,  daß  der  starke  Wille  zur  Homo- 
sexualität, den  ich  in  allen  Fällen  von  Homosexualität  konstatieren 
konnte,  den  Typus  der  Depression  verändert  hat.  Ich  habe  in  den 
früheren  Kapiteln  auf  die  wichtigen  Zusammenhänge  zwischen  Sadis- 
mus und  Homosexualität  aufmerksam  gemacht.  Der  Homosexuelle  ist 
zum  Weibe  mit  Haß  eingestellt  und. flüchtet  vor  seinem  verbrecherischen 
.Sadismus  in  die  gleichgeschlechtliche  Liebe.  Besonders  instruktiv  ist 
ein  Fall  m  den t  sich  tiefe  Depressionen  einstellten,  derentwegen  sich  der 
kranke  keine  Rechenschaft  geben  konnte.    Aber  in  den  Depressionen 

17-m  ™A    SGgtn  dle  ganZe  Welt  Und  beS0nders  BW*  seine  Mutter 
erfüllt,  so  daß  er  sich  vor  sich  selber  fürchtete. 

Viele  Menschen  greifen  zum  Morphium  und  zu  anderen  Narkotieis 
um  dem  Sadismus  zu  entfliehen.  Ein  Opiomane,  der  20  bis  30  g  Opium 
täglich  einnehmen  mußte,  gestand  mir,  er  müsse  das  Opium  täglich  ein- 
nehmen, um  „gut  zu  sein".    Er  karikierte  die  Nächstenliebe,  so  daß 
deutlich  zu  erkennen  war,    daß   es  sich  um  einen  überkompensierten 
Sadismus  handelte.  Er  machte  nur  eine  Ausnahme.  Er  haßte  die  Homo- 
sexuellen, obwohl  seine  Weltanschauung  sonst  eine  vollkommen  anar- 
chistische war.     Homosexuelle  könnte  ich  ruhig  insgesamt  verbrennen 
oder  aufhangen  lassen",  pflegte  er  sich  zu  äußern.   Es  war  klar,  daß  or 
auch  seine  homosexuelle  Komponente  im  Opium  ertränken  wollte.  Diese 
Erscheinung   erklärt  sich   durch   die   Tatsache,    daß    die   periodische 
Dipsomanie    (Quartalssäuferei)    auf    eine    periodisch    wiederkehrende 
homosexuelle  Periode  zurückzuführen  ist,  wie  meine  Analysen  beweisen 
Bei  einem  homosexuellen  Quartalssäufer  war  offenkundig  zu  konsta- 
tieren, daß  der  Durchbrach  der  heterosexuellen  Neigungen  im  Alkohol 
zur  Inaktivität  verurteilt  wurde.     (Andererseits  sehen  wir  bei  soge- 
nannten Normalen  im  Rausche  plötzlich  homosexuelle  Regungen  auf- 
treten.) 

Es  gibt  aber  Krankheitsfälle,  welche  deutlich  die  Kombination 
von  Homosexualität  und  Sadismus  klarlegen.  Ich  verweise  auf  die 
nächste  Beobachtung. 

Fall  Nr.  95.  Eine  34jährige  Arztensgattin  wird  mir  von  Prof.  Eppinger 
zur  psychanalytischen  Behandlung  zugewiesen.  Sie  stammt  aus  gesunder 
*  amilie,  zeigt  aber  infantilen  Typus  und  zeichnet  sich  durch  einen  auffallend 
starken  Bartwuchs    im  Gesicht  aus,    der  ihr  das  Profil  eines    interessanten 


518 


Zweiter  Teil.  L>ie  Homosexualität. 


blassen  Jünglings  verleiht.  Menses  regelmäßig.  Sie  leidet  seit  der  Ehe  an 
regelmäßig  wiederkehrenden  schweren  Depressionen,  die  zwei  bis  drei  Monate 
dauern.  Sonst  sanft  und  milde  und  ihrem  Manne  sehr  ergeben,  wird  sie  in  den 
Depressionszuständen  wild  und  jähzornig.  Sie  läßt  sich  immer  wieder  trotz 
guter  Vorsätze  hinreißen,  ihren  Mann  zu  schlagen.  Sie  ist  eine  frigide  Frau, 
die  nicht  zum  Orgasmus  kommt.  In  den  Depressionszuständen  wird  sie  geradezu 
nymphomanisch.  Sie  verlangt  immer  wieder  von  ihrem  Manne  den  Koitus, 
gerät  in  hochgradige  Aufregung,  ohne  zum  Orgasmus  zu  gelangen.  Sie  wirft 
ihm  vor,  er  habe  vor  der  Ehe  zuviel  gelebt.  Sie  hat  sich  alle  seine  Erlebnisse 
vor  der  Ehe  genau  berichten  lassen  und  hat  jene  verderbliche  „Eifersucht  auf 
die  Vergangenheit",  welche  jede  Ehe  zur  Hölle  macht. 

Auf  diese  Zusammenhänge  zwischen  Eifersucht,  Sadismus  und 
Homosexualität  habe  ich  ja  meine  Theorie  der  Homosexualität  be- 
gründet. Ich  will  mich  hier  nicht  wiederholen  und  nur  aufmerksam 
machen,  daß  die  homosexuelle  Wurzel  der  Eifersucht  immer  nachzu- 
weisen ist.  Man  ist  nur  (pathologisch)  eifersüchtig, 
wenn  man  das  Objekt;  der  Eifersucht  begehrens- 
wert findet.  Dazu  ist  aber  die  homosexuelle  Einfühlung  unbedingt 
notwendig.  Die  Eifersucht  ist  auch  ein  Vorwand  für  den  Haß,  der  auf 
diese  Weise  rationalisiert  wird.  Die  Depression  wird  vom  Haß,  der  die 
treibende  Kraft  des  Sadismus  darstellt,  beherrscht.  Sie  ist  eine  aus- 
gesprochene Haßneurose. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Beziehungen  der  Depression 
und  des  Wahnes  überhaupt  zum  Hermaphroditismus.  Der  erste  Fall, 
den  ich  beobachten  konnte,  war  merkwürdig  genug. 

Fall  Nr.  96.  Es  handelte  sich  um  eine  42jährige  Bäuerin,  die  auf  der 
urologischen  Station  als  Mann  erkannt  wurde.  Es  wurde  ihm  durch  eine 
Operation  ein  sehr  gelungener  Penis  geschaffen,  durch  den  er  tadellos  uri- 
nieren konnte.  Auch  erhielt  er  Männerkleider  (er  war  bisher  als  Magd  auf 
einem  Bauernhof  tätig  gewesen).  An  die  Operation  schloß  sich  eine  schwere 
Depression  an,  die  drei   Monate  währte. 

Die  Vorstellung  „Du  bist  kein  Weib  mehr!"  war  offenbar  die  aus- 
lösende Ursache  der  Depression,  welche  ja  nach  meiner  Ansicht  die 
Reaktion  auf  ein  aussichtsloses  sexuelles  Begehren  darstellt. 

Wie  wir  in  vorhergehenden  Kapiteln  gesehen  haben,  läßt  sich  die 
Entstehung  der  Paranoia  auf  eine  verdrängte  Homosexualität  zurück- 
führen. Es  kommt  aber  auch  zu  Wahnvorstellungen,  bei  denen  der 
Kranke  sich  einbildet,  ein  „Zwitter"  zu  sein.  Wir  müssen  diese  Wahn- 
bildung als  einen  Heilungsversuch,  als  ein  Kompromiß  aus  dem  un- 
löslichen Konflikt:  „Mann  oder  Weib?"  ansehen. 

Sehr  interessant  ist  ein  diesbezüglicher  Fall,  den  Kielholz  in  seiner 
Broschüre:  „Jakob  Boehme"  (Ein  pathologischer  Beitrag  zur  Psychologie 
der  Mystik.  Schriften  zur  angewandten  Seelenkunde,  17.  Heft,  Leipzig  und 
Wien  1919,  Franz  Deuticke)  publiziert.  Es  handelt  sich  um  ein  wegen 
Muttermord  (!)  interniertes  Mädchen,  dessen  Erkrankung  einen  zirkulären 
Verlauf  zeigte.  Sie  schildert  ihren  Zustand  mit  folgenden  Worten : 


Depression  und  Homosexualität.  519 

Ich   hatte   verschiedene  Stadien   durchzumachen,   nämlich   ein  be- 
stimmtes, das  keinen  Zweifel  zuließ,    und  ein    unbestimmtes  Neutrum- 
stadium, wo  die  Zweifel  ob  der  Richtigkeit  dieses  Seins  sich  einstellten. 
Ich  erinnere  mich  des  Moments,  da  die  Entwicklung  vor  sich  ging.  Ich  litt 
an  der  Täuschung,  Mann  geworden  zu  sein.   Die  körperlichen  Bewegungen 
wurden  freier,  die  Muskel  gewannen  an  Spannkraft,  kräftig  rollte  das  Blut 
durch  die  Adern,  die  Geistes-  und  Körpertätigkeit  mächtig  fördernd.  Das 
Allgemeinbefinden  war  ein  leichtes,  wohliges,  die  Denkungsart  eine  unge- 
hemmtere, kühnere,  die  Fähigkeiten  waren  verschärft  und  die  Tatkraft 
fühlte  ich  sich    verdoppeln.    Ein    freudiges  Selbstbewußtsein    hob    das 
seelische  Empfinden  und  trat  an  die  Stelle  des  Sichkleinfühlens.   Ich  hätte 
mich  in  allen  diesen  Vorteilen    sehr  glücklich  geschätzt,    wenn  ich  nicht 
unter   den    (vermeintlichen)    Anspielungen    der   Wärterinnen  sowie   der 
Insassen    des  Männerpavillons  gelitten    hätte.    Ich  machte    aus  diesem 
Grunde  einen  Selbstmordversuch.  Es  folgte  das  Stadium  des  unbestimmten 
Wesens  bei  zunehmender  Besserung  des  Allgemeinbefindens,  das  mich  ob 
des  Bestehens  der  physischen  Veränderungen  im  Zweifel  und  beängstigen- 
der Ungewißheit  ließ.    Mi,t  der  langsam  fortschreitenden  Besserung  ver- 
schwanden auch  diese  Ideen  wie  auch  die  Empfindung   allmählich,  bis 
sie  schließlich  ganz  weggeblieben. 

Wir  sehen  in  diesem  Falle  die  sadistische  Komponente  (Mutter- 
mord!), welche  sich  in  eine  ausgesprochen  altruistische  umwandelte. 
Sie  wollte  als  Hermaphrodit  alle  Kranken  heilen  und  fühlte  die  Kraft 
dazu  in  sich.  „Christus  ist  Hermaphrodit  .  .  .",  was  die  deutlichen  An- 
sätze zur  „Christusneurose"  und  zur  „großen  historischen  Mission" 
zeigen,  die  ich  an  anderer  Stelle  beschrieben  habe. 

Auffallend  ist,  wie  oft  die  Wahnkranken  über  Kastrationen  be- 
richten. So  berichtet  Kielfeld  von  einem  Fabrikarbeiter,  der  sich  von 
seinen  Arbeitgebern  verfolgt  fühlte.  Sie  hätten  ihn  veranlassen  wollen, 
Kellnerin  zu  werden.  Er  sollte  kastriert  werden,  ihm  sollte  die  Gebär- 
mutter eines  Affen  eingesetzt  werden. 

Ich  habe  einen  Fall  von  manisch-depressivem  Irresein  beob- 
achtet, in  dessen  Verlauf  sich  während  der  Depressionen  immer  wieder 
Kastrationstendenzen  zeigten.  Er  wolle  sich  das  Glied  abschneiden, 
dann  werde  es  besser  werden.  Vielleicht  geht  die  Kastrationsmanie 
der  Skopzen  auf  solche  homosexuelle  Regungen  zurück,  wie  sie  im  Kli- 
makterium und  Senium  des  Mannes  regelmäßig  auftreten. 

Durch  diese  Tatsachen  erklärt  sich  das  Rätsel  der  Cyclothymie 
und  aller  periodischer  Psychosen.  Sie  hängen  mit  dem  periodischen 
Wechsel  von  heterosexueller  und  homosexueller  Einstellung  zusammen. 
Die  starke  Bisexualität  würde  dann  die  Disposition  zu  diesem  Leiden 

abgeben. 

In  dem  erwähnten  Falle  der  Arztensgattin  zeigte  sich  in  der  De- 
pression ein  geradezu  nymphomanischer  Drang.  Man  lasse  sich  nicht 
von  dieser  oft  beobachteten  Tatsache  irre  machen.  Wie  ich  nach- 
gewiesen habe,  ist  die  Nymphomanin  ebenso  wie  der  an  Satyriasis 


520 


Zweitor  TeH.  Die  Homosexualität. 


\ 


leidende  Mann  eigentlich  latent-homosexuell.  Weil  der  normale  Akt 
keine  Befriedigung  bringen  kann,  wird  die  Wiederholung  verlangt. 
Auch  der  Don  Juan  ist  ein  Latent-Homosexueller.  Auch  die  Messalina1) 
erweist  sich  als  eine  ausgesprochene  Bisexuelle,  mit  starker  Neigung 
zur  offen  bekannten  Homosexualität.  Deshalb  werden  wir  oft  im  Be- 
ginne der  Depressionszustände,  sofern  der  Geschlechtstrieb  nicht  ganz 
erlischt,  eine  Neigung  zum  Objektwechsel  beobachten  können.  Frauen 
begehen  ihre  Treubrüche,  Männer  laufen  in  die  Bordelle.  Es  sind 
krampfhafte  Heilunge  versuche,  aus  der  Homo- 
sexualität in  die  Heterosexualität  zu  gelangen. 
Auch  das  plötzliche  Verlieben  der  Männer  im  hohen  Alter  kann 
eine  Flucht  vor  der  Homosexualität  bedeuten.  Je  pathologischer  und 
unwahrscheinlicher  diese  Liebe  erscheint,  desto  größer  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  es  sich  um  den  Versuch  einer  Heilung,  um  eine 
Iransponierung  der  Homosexualität  auf  ein  heterosexuelles  Objekt 
handelt.  •  J 

Vr  «55  %9\Jm  ßliätap*  Mann  verliebte  sich  in  ein  Bureaufräulein. 
PrnRvil  Bem\F™ihe>hf  s[ch  scheiden,  obgleich  er  schon  mehrfacher 
Großvater  war.  In  der  Ehe  brach  eine  Depression  aus.  In  der  Analyse  kam 
zutage,  daß  er  sich  m  den  Bruder  der  Frau  verliebt  hatte  und  diese  Neigung 
auf  das  Madchen  übertragen  hatte.  *    * 

Es  fragt  sich,  ob  wir  diese  Funde  therapeutisch  verwerten  können. 
Ich  möchte  vorweg  betonen :  DieBehandlungmitHormonen 
hat  mich  glatt  im  Stich  gelassen.  Ob  eine  Operation  im 
Sinne  Steinachs,  welche  die  heterosexuellen  endokrinen  Triebkräfte 
verstärken  würde  (Einpflanzung  einer  gleichgeschlechtlichen  Pubertäts- 
drüse) von  Erfolg  sein  werden,  das  muß  erst  die  Zukunft  lehren.  Viel- 
leicht ergibt  sich  eine  operative  Therapie  der  Psychosen,  der  Dipso- 
manie, des  manisch-depressiven  Irreseins  und  der  Paranoia. 

Die  seelische  Behandlung  gibt  gute  Resultate,  wobei  sich  die 
Patientinnen  stürmisch  in  den  Arzt  verlieben2),  das  heißt  ihre  homo- 
sexuellen Neigungen  zurückdrängen  und  sich  eine  aktuelle  hetero- 
sexuelle Leidenschaft  arrangieren.  Die  Zurückweisung  dieser  oft  un- 
bändigen Leidenschaft  ruft  eine  tiefe  Depression  hervor. 

Es  bedarf  großer  psychotherapeutischer  Kunst,  um  einer  De- 
pression Herr  zu  werden.  Die  Kranken  jammern  unaufhörlich  und  ver- 
stecken ihre  unbewußten  Motive.  Sie  wollen  nicht  von  den  tieferen 
Motiven  sprechen,  die  zur  Erkrankung  geführt  haben.  Oft  muß  man 
sich  auf  reine  Persuasion  und  liebevolles  Zusprechen  beschränken. 
Aber  m  manchen  Fällen  kommt  man  mit  der  Psychanalyse  rasch  vor- 
wärts, man  öffnet  dem  Kranken  die  Augen,  man  entlastet  ihn  von  dem 

J)  Vgl.  Bd.  IV,  die  „Analyse  einer  Messalina". 
2)  Vgl.  den  erwähnten  Fall  Krajft-Ebing. 


Depression  und  Homosexualität.  521 

drückenden  Schuldbewußtsein,  das  infolge  seiner  Haßgedanken  und 
Beseitigungsideen  unaufhörlich  an  seiner  Seele  nagt.  In  einem  größeren 
Werke,  zu  dem  diese  Studie  ein  Vorläufer  sein  soll,  will  ich  die  Psycho- 
therapie und  Genese  der  Depression  ausführlich  besprechen. 

Ich  möchte  aber  ganz  besonders  auf  die  Gefahren  der  Behand- 
lung mit  Narkoticis  aufmerksam  machen.  Man  erzeugt  unzählige  Opio- 
manen,  Veronal-  und  Adalinisten;  die  vielen  Toximanen  sind  zum  Teil 
Kunstprodukte  einer  falschen  Therapie.  Für  die  schwersten  Fälle, 
welche  unter  ständiger  Selbstmorddrohung  stehen,  bei  denen  die  Angst- 
entwicklung zu  einem  Raptus  melancholicus  führen  kann,  greife  ich  zur 
Opiumbehandlung,  welche  eine  vorübergehende  Beruhigung  erzwingt. 

Diese  Fälle  werden  immer  seltener.  Ich  habe  gelernt,  ohne  nar- 
kotische Mittel  auszukommen.  Ich  wende  weder  Veronal,  noch  Adalin, 
Bromural,  Luminal,  Brom  usw.  an.  Die  Kranken  sind  am  nächsten  Tage 
noch  apathischer  und  mürrischer,  ihre  Abulie  verstärkt  sich.  Ich  nehme 
von  allen  diesen  Mitteln  Abstand. 

Ich  fürchte  die  Schlaflosigkeit  der  Depressionisten  nicht  mehr. 
Ich  habe  gelernt,  daß  in  der  Schlaflosigkeit  eine  Art  Heilungstendenz 
und  Schutzvorrichtung  steckt.  Die  Kranken  fürchten  ihren  Schlaf, 
weil  sie  nicht  in  ihre  pathologischen  Komplexe  verfallen  wollen.1)  Viele 
zeigen  die  merkwürdige  Schlafstörung,  sofort  nach  einigen  Minuten 
Schlaf  mit  einem  Schrei  oder  mit  Herzklopfen  aufzuwachen,  mit  der 
Empfindung,  daß  sie  in  einen  Abgrund  hinunterstürzen.  Es  ist  der 
Sturz  in  die  Tiefe  ihrer  Verbrechernatur,  in  die  Abgründe  ihrer  ge- 
heimen Wünsche.  .  .  In  der  Analyse  bessert  sich  erst  die  Schlafstörung. 
Die  offene  Besprechung  ihrer  Konflikte,  deren  Reichhaltigkeit  ich  in 
diesem  Aufsatz  •  eben  noch  andeuten  konnte,  führt  eine  seelische  Ent- 
lastung herbei  und  verringert  die  Angst  vor  dem  Schlaf  und  die  Furcht 
vor  den  verbotenen  Träumen.2) 

Eine  wertvolle  Unterstützung  leistet  die  Hydrotherapie.  Man 
hat  ja  die  Aufgabe,  den  Kranken  den  ganzen  Tag  zu  beschäftigen,  ihn 
von  seinen  Grübeleien  abzulenken.  Auch  will  er  auf  die  seelischen 
Wurzeln  nicht  eingehen  und  das  Gefühl  haben,  daß  „etwas  Verderb- 
liches zu  seiner  Heilung  geschieht".  Feuchte  Einpackungen,  die  bis  zu 
einer  Stunde  ausgedehnt  werden,  denen  sich  ein  nicht  allzu  warmes 
Halbbad  anschließen  soll  (um  eine  kräftige  Hautreaktion  zu  erzeugen) , 
werden  sehr  gut  vertragen.  Die  Temperatur  der  Einpackung  sei  mög- 
lichst kalt,  etwa  14—16°.    Das  Halbbad  womöglich  von  18  auf  16°. 

')  Vgl.  meine  Broschüre  „Der  Wille  zum  Schlaf".  Verlag  J.  F.  Bergmann. 

J)  Schilder  und  Herschmann  haben  nachgewiesen,  daß  die  Melancholischen  auch 
auffallend  häufig  lustbetonte,  euphorische  Träume  berichten.  Möglicherweise  hängt  die 
Schlaflosigkeit  auch  mit  der  Trotzeinstellung  der  Kranken  gegen  die  Freuden  der  Welt 
zusammen.  Sie  wollen  nicht  glücklich  sein,  sie  wollen  nicht  sehen,  daß  es  ein  Glück 
gibt,   sie  wollen   nicht   aus   der   Trotzeinstellung  gegen  die   Welt  gerissen   werden. 


522        Zweiter  Teil.  Die  Homosexualität.  —  Depression  und  Homosexualität. 


Wenn  der  Kranke  sich  in  der  Einpackung  nicht  erwärmt,  ist  er  vorher 
abzureiben  oder  es  sind  Wärmeflaschen,  elektrische  Bettwärmer  zu  den 
Füßen  zu  applizieren. 

Man  trachte  immer  wieder,  die  Kranken  zur  Arbeit  zu  bewegen. 
Beamte  müssen  ins  Amt  gehen,  so  sehr  sie  sich  auch  sträuben  und 
ihre  Unfähigkeit  zur  Arbeit  betonen,  Kaufleute  müssen  in  ihr  Bureau 
oder  in  ihren  Laden,  die  Hausfrauen  in  die  Küche.  Es  ist  falsch,  ihnen 
die  Sorgen  um  den  Haushalt  abzunehmen.  Sie  brauchen  die  Arbeit 
als  Heilmittel.  Für  leichte,  anregende  Lektüre  ist  zu  sorgen,  der  Be- 
such heiterer,  harmloser  Theaterstücke  ist  zu  empfehlen  (das  Kino 
wirkt  immer  schlecht,  nur  die  wissenschaftlichen  Uraniavorstellungen 
werden  gut  vertragen) .  Kartenspiele  mit  geringem  Einsätze,  Spazier- 
gänge, Müllern,  Gymnastik  sind  in  leichten  Fällen  zu  empfehlen. 

Die  Kunst  des  Arztes  zeigt  sich  in  den  ersten  Stadien  der  De- 
pression. Neben  der  psychologischen  Erforschung  muß  auch  die  Be- 
ruhigung und  die  Anleitung  zur  Arbeit  erfolgen.  Sehr  gefährlich  sind 
Urlaube,  welche  die  Depression  fast  immer  verschlimmern.  Der  Erfolg 
der  Sanatoriumsbehandlung  hängt  von  der  Tüchtigkeit  des  Arztes  ab. 

Ich  kann  diese  Ausführungen  nicht  schließen,  ohne  auf  die 
eminente  Selbstmordgefahr  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  die  bei 
diesen  Kranken  besteht.  Im  Beginne  meiner  psychotherapeutischen 
Praxis  habe  ich  diese  Gefahr  'sehr  gefürchtet.  Die  Erfahrung  hat  mich 
belehrt,  daß  bei  richtiger  psychotherapeutischer  Behandlung,  welche 
dem  Kranken  stets  die  Hoffnung  auf  Genesung  betont  und  sich  von 
seiner  Jammerei  nicht  beirren  läßt,  die  Gefahr  nicht  besteht.  W  ä  h- 
rend  der  Analyse  kommt  ein  Selbstmord  nicht  vor. 
Die  Kranken  drohen,  wenn  sie  aber  an  dem  Arzt  hängen,  so  führen 
sie  die  Drohung  nicht  aus.  Allerdings  ist  es  wichtig,  die  Kranken 
zu  beschäftigen  und  sie  aus  dem  Nichtstun  und  Vorsichhindämmern 
herauszureißen.  Man  lasse  die  Frauen  im  Hause  arbeiten,  die  Männer 
müssen  Gartenarbeit,  Zimmergymnastik  betreiben,  etwas  lernen,  wo- 
möglich ihrem  Berufe  nachgehen,  man  sorge  für  leichte  Anregung, 
harmlose  Theaterstücke  (kein  Kino!),  leichte  Lektüre,  die  anfangs 
verschmäht  und  dann  in  leichteren  Fällen  gern  genommen  wird.  Man 
beginne  die  Kur  mit  einem  Verbote,  das  sehr  segensreich  wirkt.  Die 
Kranken  dürfen  über  ihr  Leiden  zu  keinem  Menschen  aus  der  Um- 
gebung sprechen.  Sie  dürfen  nur  dem  Arzte  klagen.  Damit  beginnt 
die  Schule  der  Selbsterziehung  und  Selbstbeherrschung,  welche  die 
schönsten  Erfolge  zeitigt. 

Die  Behandlung  ist  schwierig  und  sehr  anstrengend,  ermüdend 
und  zeitraubend.  Aber  sie  rettet  viele  Menschen  und  führt  sie  mit 
sanfter  Hand  ins  Leben  zurück. 


523 


Verlag  von  Urban  &  Schwarzenberg,  Berlin  .Wien, 


Störungen 


des 

Trieb-  und  Affektlebens. 

(Die  parapathischen  Erkrankungen.) 

Von 

Dr.  Wilhelm  Stekel, 

Nervenarzt  in  Wien. 

Das  großangelegte  Werk  ist  aus  der  Praxis  für  die  Praxis  geschrieben. 
Es  wendet  sich  vor  allem  an  die  Praktiker  und  bietet  ihnen  einen  sicheren 
Führer  in  das  schwierige  Gebiet  der  Psychotherapie.  Denn  Stekels  Arbeits- 
weise  beschränkt  sich  nicht  auf  die  orthodoxe  Analyse,  wie  sie  Freud  und 
seine  Schüler  üben.  Er  bietet  sozusagen  eine  gereinigte,  von  allen  Übertrei- 
bungen und  Künsteleien  freie  Analyse.  Er  wandelt  meist  eigene  Wege  oder 
nimmt  das  Gute  aus  allen  Schulen.  Der  Arzt  findet  alle  Auffassungen  und 
Feinheiten  der  modernen  Psychotherapie  an  zahlreichen  Beispielen  erörtert 

Stekels  Werke  sind  nicht  theoretische  Betrachtungen,  kühne  Hypothesen, 
gewagte  Schlüsse  aus  vereinzelten  Beobachtungen.  Er  entrollt  erst  eine  Fülle 
von  Beobachtungen,  läßt  zahlreiche  Kranke  an  unserem  Geiste  vorbeiziehen, 
zerfasert  ihre  Leiden,  zeigt  überall  die  seelischen  Konflikte  und  wie  sie  sich 
als  organische  Symptome  äußern,  und  zieht  erst  aus  den  Tatsachen  seine 
Schlüsse.  Seine  Arbeitsweise  ist  eine  deduktive,  wobei  der  Leser  den  Vorteil 
hat,  einen  Blick  in  die  Werkstatt  des  Seelenarztes  zu  werfen  und  seine  Er- 
kenntnisse  zu  kontrollieren. 

Die  analytische  Literatur  ist  so  angewachsen,  daß  es  dem  Anfänger  nicht 
möglich  ist,  sich  durch  eigenes  Studium  die  notwendigen  Kenntnisse  anzueignen. 
Stekels  Bücher  sind  die  beste  Einführung  in  die  Analyse.  Sie  erleichtern  das 
Verständnis  der  Werke  Freuds,  ohne  Auszüge  aus  Freud  zu  sein.  Sie  sind  in 
erster  Linie  didaktisch  gedacht  und  bilden  in  ihrer  Gesamtheit  eine  Schule  der 
modernen  Psychotherapie.  . 

Die  gesammelten  zehn  Bände  bringen  auch  eine  neue  Fundierung  der 
Sexualwissenschaft.  Während  die  Werke  von  Krafft-Ebing  und  anderen  Sexual- 
forschern rein  deskriptiv  waren  und  sich  nur  hie  und  da  psychologische  Ansätze 
zeigen  wird  in  diesen  Büchern  die  Psychogenese  der  verschiedenen  Perver- 
sionen, die  Stekel  Paraphilien  nennt,   klargelegt,  so   daß  sich  der   Therapie 

«ranz  neue  Wege  ebnen.  ' 

Die  Bücher  bilden  in  ihrer  Gesamtheit  eine  wertvolle  Ergänzung  zur 
klinischen  Ausbildung.  So  lange  es  keine  Lehrkanzeln  für  Psychotherapie  und 


524 

Sexualwissenschaft  gibt,  sind  die  Ärzte  darauf  angewiesen,  ihre  Kenntnisse 

ihres  ÄiT  ""  SPeZiaHStCn  ßnden  gCnÜgend  BekhrUng  Und  B-^her«ng 
Bisher  sind  erschienen  : 

Teil  I:  Nervöse   Angstzustände  und    ihre   Behandlung.    Dritte,  ver- 
mehrte Auflage  (im  Druck) M    70.-    geb.  M    90.- 

T   .,  „     _  |  Auslandpreis      M  105.-,      „     M  135.- 

?^#Te    "       £°T?Malitä<-     (Die   *°»««««Ile    Neurose.) 
Ä»f/e.  „ermenr/e  Au/%e  (im  Druck)  .    M    60.-,  geb.  M    80.- 

Auslandpreis  .    M    90.—,  M  120  — 

TeÜ  "I:  w!thrGe,SChreCitSkäIte  dCF  FraU-    (Eine  P^chopathologie  des 
weiblichen  Liebeslebens.)  Zweite,  vermehrte  Auflage  im  Druck 

M  42.—,  geb.  M    60.— 
T  .,  ...    _,    ,  Auslandpreis  .  M  60.-,     „    M    90.- 

nl  rPH°tenc  deS  ManneS'   (Die   P^chis^en    Störungen   der 
männlichen  Sexualfunktion) M  50.-,  geb.  M    68.- 

Auslandpreis  .  M  75.-,     „    M  102.- 

In  Vorbereitung  befinden  sich: 

TeilVu.VI:Psychosexueller    Infantilismus.     (Infantilismus,     Exhibitio. 
nismus,  Fetischismus,  Kleptomanie  usw.) 
Teil  VII:  Masochismus  und  Sadismus. 
Teil  VIII  u.  IX:  Zwangsneurosen. 
Teil  X:  Epilepsie. 

Ein  Ergänzungsband  (Technik  der  Psychotherapie,  Sachregister,  zusanv 
menfassende  Erkenntnisse)  soll  folgen. 

Teile  ta  Werl?eaC,htrg  °nd  VleIfaChe  Würdi*un*'  di*  ^e  bisher  erschienenen 

lf^-t         T    CrfUhren'    ZeigCn  die  auf  den  f°lg^den  Seiten  abgedruckten 
Auszuge  aus  den  in-  und  ausländischen 


Urteilen  der  Fachpresse* 

Teil  I:  Nervdae  Angstzustände  and  Ihre  Behandlung. 

„nH  ™1  "  "  ^  Bwk  "  dietiefen  Abgründe  der  menschliehen  Seele  ist  viel   zu  unbewohnt 

^2\72ZT-  1  "■*,*-"  RiChtUnS  MD  **  Zn  S6hr  -  Heuchele  urch- 
Ab  '  d  Sil  Ahth  daS,V°rbeSende  S°f0rt  anf  freQdi^  Stimmung  stoßen  könnte. 
Aber  der  heftigen  Ablehnung,  die  es  gelegentlich  erfährt,  mjjchie  ich  entgegenhalten  d,ß 
wir  dem  durch  keine  noch  so  leidenschaftliche  Diskussion  aus  der  Welt  TSSL  tI 

sachenmatenal  gegenüber  die  Pflicht  haben,  die  Augen  zu  öffnen 

(„Monatsschrift  für  pbysikal.-diätet.  Heilmethoden.") 
eSsant.*dV  Dk  ^^d^te-    *•    V<*^er   gibt,    sind  als    klinisches  Material   inter- 
Psvcho,        aDgeffebrD  theraPeUÜSchen  «Nahmen  haften  durchaus  nicht  einseitig  an  der 

EÄJ3" weisen  ™flich  ancL  für  die  Pro^e  *  n~  «* 

(^Zeitschrift  für  Psychiatrie.") 


525 

.  .  .  Bisher   hat   uns    die  Kasuistik   der  Freudschcn  Analytik  sehr  gefehlt.   Stekels 

Buch  füllt  diese  Lücke  aus.    Es    ist    sehr  anregend  und  frisch  geschrieben    und  ist  darum 

allen  praktischen  Ärzten,  nicht  nur  den  Spezialisten,  aufs  wärmste  zu  empfehlen,    da    der 

offenen  und  verkappten  Neurosen  Legion  ist  und  darum  jeder  Arzt  mit  ihnen  zu  rechnen  hat. 

(Jung  in  „Medizinische  Klinik".) 

...  Es  kann  nicht  schaden,  wenn  ein  großer  Kreis  ärztlicher  Leser  sich  ein  eigenes 
Urteil  über  die  Methode  bildet,  wozu  gerade  die  Lektüre  dieses  Buches  des  schriftstellerisch 
begabten  Verfassers  besonders  geeignet  ist.  (-„Berliner  klinische  Wochenschrift.") 

.  .  .  Fragen  der  Prophylaxe,  insbesonders  Nutzanwendungen  der  Freudschan  Se- 
xualtheorie auf  die  Pädagogik  der  frühesten  Kindheit  bilden  den  Schluß  dieses  reichhaltigen, 
einem  Gebiete  von  höchster  Wichtigkeit  gewidmeten  Buches.     („Fortschritte  der  Medizin.") 

Dem  Buche  liegt  ein  großes  und  interessantes  kasuistisches  Material  zugrunde.  Die 
Darstellung  des  Verfassers  ist  so  gewandt  und  fesselnd,  daß  man  ihm  bei  seinen  Ausführungen 
gerne  folgt  ....  („Deutsche  mediz.  Wochenschrift.") 

.  .  .  Nell'insieme,  lo  studio  del  dott.  Stekel  rivela  una  conoscenza  perfetta  della 
macchina  „uomo";  e  di  una  evidenza  estrema;  porta  ad  applicazioni  terapeutiche  e  profi- 
lattjche  di  un  valore  indiscutibile ;  ha  il  merito  di  uno  stile  fluido  ed  elegante,  il  quäle 
obbliga  quasi  a  divorare  il  libro  di  un  fiato.  ...  ,u  p0ij0ij  ■     u\ 

Auch  der  praktische  Arzt  findet  in  dem  geistvollen  und  gescheiten  Buche  eine  Menge 
nützlicher  Hinweise.  Wichtig  genug  sind  diese  Zustände  für  den  praktischen  Arzt,  umfassen 
sie  doch  nach  Stekel  zugleich  fast  alle  Krankheitsbilder,  die  bisher  Neurasthenie  bezeichnet 

wurden.  (liohrsoliacJi  im  „Correspondenzblatt  für  Schweizer  Ärzte".) 

Ebensowenig  wie  die  Leistungen  Freuds  sollen  die  Arbeiten  seines  ebenbürtigsten 
Schülers  verkleinert  werden.  Sie  alle  sind  mit  ihren  Vorzügen  und  Fehlern  auf  dem  Wege 
zu  einer  fortschreitenden  Erkenntnis  gelegen.  Wer  mit  kritischem  Geiste  und  ohne  Vorurteil 
den  in  sich  widerspruchsvollen  Arbeiten  Stekels  folgen  will,  wird  immer  Anregung, 
manchmal  Bereicherung  seines  Wissens  erfahren' und  darüber  die  nicht  seltenen  Widersprüche 
geringer  einschätzen.  Deshalb  wird  das  vorliegende  Buch'  dem  erfahrenen  Neuropsychologen 
willkommen  sein.  iAifrtA  Adler  Jn  jiSexnalproblemeuj  Juni  m3  } 

Ich  halte  Stekels  Buch  für  eine  hochwichtige  Erscheinung. 

(Bleuler  in  der  „Münchener  med.  Wochenschrift".) 

Cet  apercu  nous  permet  de  nous  borner  ä  signaler  cet  ouvrage  comme  un  recueil 
interessant  d'observations  de  difförentes  modalites  de  l'angoisse. 

(Jf.  Ternel  in  „Kevne  Nenrologique".) 
All  kinds  of  neurotic    and    hysterical    Symptoms    are    most    ingeniously   traced  by 
analysis,  and  the  results  recorded  testify    to  the  value  of  Freud's  methods.    even  if  one  is 
not  convinced  as  to  tbe  accuracy  of  the  theories  and  interpretations. 

(„New  York  rnedical  Journal.") 
Ich  halte  Stekels  Buch  über  Angstzustände  für  ein  Standard  work,  einen  Markstein 
in  der  psychiatrischen,  speziell  psychotherapeutischen  Literatur. 

(Geheimrat  Dr.  Gerskr  in  „Die  neue  Generation".) 

Teil  II:    Onanie  and  Homosexualität. 

...  Es  wäre  lebhaft  zu  bedauern,  wenn  das  vorliegende  Werk  nicht  die  volle 
Aufmerksamkeit  der  wissenschaftlichen  Welt  fände,  denn  mit  seinem  tiefen  Ernst  und 
seiner  Fülle    von   kasuistischen  Einzelheiten  ist  es    eine  Fundgrube  der  Erkenntnis,    deren 


526 

Bedeutung  wohl  in  erster  Linie  für  den  Arzt,  aber  in  weitgehendem  Maße  auch  für  den 
Erzieher,  den  Lehrer,  den  Geistlichen  und  nicht  zuletzt  für  den  Kriminalogen  gegeben 
ist  .  .  .  Das  geistvolle,  überall  von  dem  Ernste  des  wissenschaftlichen  Forschers  durch- 
drungene Werk,  das  zugleich  eine  feinfühlige  universelle  Bildung  zum  Ausdruck  bringt, 
verdient  auch  für  das  Gebiet  der  Kriminalogie  eine  weitgchonde  Beachtung. 

{Horch  im  „Archiv  für  Kriminalogie".) 

Bin  Werk  eigenartigen,  größtenteils  aus  dem  Bahmen  der  gewohnten  Anschauung  nnd 
Darstellung  tretenden  Inhaltes,  der  nicht  ohne  Widersprüche  bleiben  wird,  aber  nicht  minder 
die  Vorzüge  genußvoller  Belehrung  seitens  eines  vielerfahrenen  Nervenarztes  birgt.  Ein 
näheres  Eingehen  auf  den  speziellen  Inhalt  müssen  wir  uns  bei  der  schier  unerschöpflichen 
Fülle   des   Gebotenen   versagen.  {Färbrlnger  in  der  „Deutschen  modiz.  Wochenschrift".) 

Auch  wem  diese  Dinge  gänzlich  gleichgültig  sind,  der  wird  in  diesem  Buche  eine 
Fülle  von  Beobachtungen  finden,  die  ihm  die  Tiefen  des  menschlichen  Seelenlebens  auf- 
decken, so  daß  wir  auf  jeder  Seite  aufs  neue  gefesselt  werden  durch  das  Filigran  werk  der 

Zusammenhänge,    die   sich    vor   uns    auftun.  (Marcinowski  in  der  „Neuen  Generation".) 

Erfahrungen  wie  die  Stekels  müssen  zur  Kenntnis  genommen  werden.  Jedenfalls 
schreiten  wir  fort.  Dies  zeigt  das  Buch  Stekels  im  Vergleich  zu  klassischen  Werken  über 
Sexualpathologio.  (Raimann  in  „Jahrbücher  für  Psychiatrie".) 

Der  Wert  und  die  Bedeutung  des  Stekelschen  Buches  liegen  aber  weniger  in 
diesen  theoretischen  Auseinandersetzungen,  als  in  den  zahlreichen  mitgeteilten  eigenen 
Beobachtungen  mit  meist  sehr  ausführlicher  und  sorgfältiger  psychoanalytischer  Dar- 
legung. Diese  Krankengeschichten  wird  wohl  jeder,  auch  der  Psychoanalyse  mit  Zurück- 
haltung gegenüberstehende  Arzt  mit  großem  Interesse  lesen. 

(Eulenburg  in  „Mediz.  Klinik".) 


Teil  III :  Die  Geschlcchtskülte  der  Iran. 

Jeder,  der  ein  wahrer  Frauenarzt  ist,  sollte  sich  in  dieses  Buch  vertiefen.  Eine  ge- 
waltige Erfahrung  spricht  aus  Stekels  Buch;  eingehende  Krankenschilderung,  fesselnde  Dar- 
stellung, überlegene  Entwirrung  verwickeltster  und  verfahrenster  Seelenvorgänge  stempeln 
es  zu  einer  bedeutenden  Erscheinung  des  Büchermarktes  und  ziehen  auch  den,  der  nicht 
allen  Folgerungen  des  grundgescheiten ,    belesenen  Autors  folgen    mag,    von  der  ersten  bis 

zur  letzten  Seite  in  den  Bann  der  meisterhaften  Verarbeitung. 

(Krittler  in  der  „Med.  Klinik".) 

Het    belangrijke  van   dit  boek  blijft   dan    ok  het    diep  gaande  inzicht,    dat    Stekel 

ons  geeft  in  het  ontstaan   en  wezen  der  dysparennie   en  het  feit,  dat  hij  ongekende  per- 

spectieven    opent    bij    de    bestrijding    dezer    afwijking.     Dj    het    bijzonder   moeten    deze 

vraagstukken  den  vrouwenartsen  ter  harte  gaan. 

(Van  der  Cliijs  in  „Neederlandsch  Tijschr.  voor  Geneeskundo".) 

Stekels  außergewöhnliches  Verdienst  ist  es,  daß  er  uns  zwingt,  von  einer  er- 
drückenden Fülle  von  Tatsachen  Kenntnis  zu  nehmen,  die  er  uns  mit  leider  noch  immer 
beispiellosem  wissenschaftlichen  Mut  zur  öffentlichen  Beachtung  unterbreitet,  Beobach- 
tungen, die  so  ins  Einzelne  gehen,  so  lebenswahr  sind,  daß  es  oft  eines  besonderen 
Beweises  für  daraus  zn  ziehende  Schlußfolgerungen  nicht  mehr  bedarf. 

(„Die  neue  Generation.") 

Ein  sehr  lesenswertes  und  trotz  mancher  Längen  in  den  Lebensberichten  inter- 
essantes Buch,    das   sicher   zu   den  besten  Büchern   über   die    sexuelle   Seite   der  Frauen- 


527 

psycho  gehört.  Die  modernsten  Fragen  werden  berührt,  neue  Gesichtspunkte  gesucht, 
Übertreibungen  in  Methodik  und  Deutung  der  Psychoanalyse  früherer  Perioden  ver- 
mieden. (Kermauner  in  „Wiener  klinische  Wochenschrift".) 

Alles  in  allem  ist  das  Buch  Stekels  ein  Werk,  dem  ich  -weiteste  Verbreitung 
wünsche,  nicht  nur  in  den  Kreisen  der  Ärzte,  sondern  auch  in  den  Kreisen  der  Joristen 
und  Pädagogen,  der  Natioualökonomen  und  Theologen.  Erst  das  Verständnis  des  Seelen- 
lebens des  Individuums  kann  Verständnis  für  die  Seele  der  Völker  erwecken. 

(Liepmann  i.  ä.  „Zeit6chr.  f.  Soxualwissonsch  ".) 


Von  Dr.  Wilhelm  Stekel  erschien  im  Verlage  von  J.  F.  Bergmann   in  Wiesbaden: 

Dichtung  und  Neurose.  Bausteine  zur  Psychologie  des  Künstlers  und  des  Kunstwerkes. 
Die  Sprache  des  Traumes.  Eine  Darstellung  der  Symbolik  und  Deutung  des  Traumes  in 

ihren  Beziehungen  zur  kranken  und  gesunden  Seele. 
Die  Träume  der  Dichter.  Eine  vergleichende  Untersuchung  der  unbewußten  Triebkräfte 

bei  Dichtern,  Neurotikern  und  Verbrechern. 
Der  Wille  zum  Schlaf.  Altes  und  Neues  über  Schlaf  und  Schlaflosigkeit. 
Äskulap  als  Harlekin.  Humor,  Satire   und  Phantasie  aus  der  ärztlichen  Praxis.  (Unter 

dem  Pseudonym:  Dr.  Serenus.) 

Im  Verlage  von  Paul  Knepler  in  Wien: 

Was  im  Grund  der  Seele  ruht.  II.  und  III.  Auflage. 
Nervöse  Leute.  (Kleine  Federzeichnungen  aus  der  Praxis.) 
Masken  der  Sexualität.  (Der  innere  Mensch.) 

Die  Broschüren:  „Ursachen  der  Nervosität."  —  „Keuschheit  und  Gesundheit."  — 
„Das  nervöse  Herz."  —  „Der  nervöse  Magen." 

Im  Verlage  von  Otto  8 alle,  Berlin: 

Das  liebe  Ich.  Grundrisse  einer  neuen  Diätetik  der  Seele.  H.Auflage. 
Der  Wille  zum  Leben.  (Neue  und  alte  Wege  zum  Glück.) 


Druck  von  Gottlieb  Glstel  &  Cle.,  Wien,  m.,  MünzgaBsc  6. 


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Verlag  von  Urüan  &  Sehwarzenberg  in  Berlin  und  Wien. 


Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten 

für  Studierende  und  praktische  Ärzte 

in  30  Vorlesungen. 

Von  Prof.  Dr.  Robert  Bing-Basel. 

Zweite,    vermehrte  und  vollständig  umgearbeitete  Auflage. 
Mit  162  zum  Teil  mehrfarbigen  Textabbildungen.  Etwa  M  72.—,  geb.  M  90. 


Kompendium  " 

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topischen  Hirn-  und  Rückenmarksdiagnostik. 

Kurzgefaßte  Anleitung  zur  klinischen  Lokalisation  der  Erkrankungen  u.  Verletzungen  der  Nervenzentren. 

Von  Dr.  Robert  Bing, 

Professor  an  der  Universität  Basel. 
Vierte,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage. 

Mit  97  zum  Teil  mehrfarbigen  Abbildungen.  M  30.—,  geb.  M  48.—. 


Diagnose 

der 

Simulation  nervöser  Symptome 

anf  Grand  einer  differentialdiagnostiscüen  Bearbeitung  der  einzelnen  Phänomene. 

Ein  Lehrbuch  für  den  Praktiker. 

Von  Prof.  Dr.  Siegmund  Erben  -  Wien. 

Zweite,  vielfach  ergänzte  und  erweiterte  Auflage. 

Mit  25  Textabbildungen  und  3  Tafeln.  M  38-->  8eb-  M  50_* 





Verlag  von  Man  &  Schwarzenberg,  Berlin  und  Wien. 


Die  Therapie  der  Haut-  und  venerischen  Krankheiten 

•  mit  besonderer  Berücksichtigung:  der  Behandlungstechnik 

für  Ärzte  und  Studierende. 

D  Von.  Prof.  Dr.  J.  Schaeffer-Breslau. 

Vierte,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 
Mit  90  Abbildungen  im  Texte.  \  Geb.  M  36.—. 


Grundzüge  der  Behandlung  von  Haut- 
und  Geschlechtskrankheiten 

dargestellt  von  Dr.  Leopold  Pulvermacher,  Berlin. 

Kart.  M  18.—. 


Syphilis  und  syphilisähnliche 
Erkrankungen  des  Mundes 

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t  o.  Prof.  und  Direktor  der  Universitätsklinik  für  Hautkrankheiten  zu  Köln. 

Zweite,  durchgesehene  Auflage. 

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Urologisches  Praktikum 

mit    besonderer  Berücksichtigung    der   instrumentellen   Technik 

für  Ärzte  und  Studierende. 

Von  Sanitätsrat  Prof.  Dr.  J.  Colin,  Berlin. 

Mit  79  zum  Teil  farbigen  Abbildungen  im  Texte  und  auf  3  Tafeln.  Kart   M  24 


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Druck  von  Göttlich  QiBtel  *  Cie.,  Wien,  in.,  Münzgasse  6.  %