ONANIE
UND
• •
HOMOSEXUALITÄT
(DIE HOMOSEXUELLE NEUROSE.)
VON
DE WILHELM STEKEL
NEBVENABZT IN "WIEN.
Zweite, verbesserte und vermehrte Aullage.
ürban & Sehwarzenberg
BERLIN WIEN
N., FriedrichstraQe 106b. I-> Mahlerstraße 1.
1921.
Verlag von ürban & Schwarzennerg In Berlin und Wien.
Soeben erschien:
PSYCHOLOGIE DER FRAU.
Versuch einer synthetischen, sexualpsychologischen Entwickelungslehre. — In
zehn Vorlesungen, gehalten an der Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin von
W. Liepmann.
Mit einer Tafel und 10 Textabbildungen. H i2~ > ?eb. M 54.—.
VORWORT:
Seitdem ich im Jahre 1909 die klassischen Vorlesungen v. Winckels über L ' .
Frauenkunde gelesen hatte, war in mir stets der Wunsch rege gewesen, eine
ähnliche Vorlesung für Studierende aller Fakultäten hier in Berlin zu halten.
Wissenschaftliche Arbeiten, Berufsgeschäfte und schließlich der Weltkrieg ließen
fast ein Dezennium vergehen, ehe ich diesen Plan zur Ausführung bringen konnte.
Als ich die Vorlesungen begann, war ich über die Zahl von 150 Hörern und Höre
rinnen aller Fakultäten überrascht; als ich sie schloß, waren es mehr als 700.
Dieses rege Interesse für das Problem der Frauenseele un^ die vielfachen Bitten
meiner Hörerschar, das Gehörte auch nachlesen zu können, bestimmten mich,
die Vorlesungen, die nur in kurzen Notizen bestanden, auszuarbeiten und dem
Druck zu übergeben.
So wie sie entstanden, wollen sie genommen werden. Nicht die Erfahrungen
des Frauenarztes,' von dem v. Winckel behauptet, „daß er das Weib in allen und
jeden Beziehungen genau kenne", sollten diesen Vorlesungen zugrunde liegen,
sondern die Genese alles Werdens. So wurden sie zu dem Versuch einer synthe-
tischen, sexualpsychologischen Entwicklungslehre. Manche von den Fragen, die
hier nur angedeutet werden konnten,; JüsJ^en Raum nicht über Gebühr in An-
spruch zu nehmen, habe ich mit deikH£rer*rln>iner sexual-psychologischen semi-
naristischen Übungen sorgsam besprochen. -und diskutiert. Manche ernste An-
fängerarbeit ist in diesen Übungen;;«* W-9Stigefcommen, die anderen Ortes noch
Frucht tragen soll. Sie würden erwfeisen, wie wichtig für das Leben dieses Problem
und seine Behandlung für alle Berührten, geworden ist. Aber eine Frucht meiner
Vorlesungen und Übungen sowohl w^_e meiner volkstümlichen Hochschulkurse
durfte in diesem Buche nicht fehlen : das sind die Bekenntnisse am Schluß unserer
Vorlesungen. Sie reden ohne viel Kommentar eine beredte Sprache, sie sind
Illustrationen des Gesagten. Aber diese Bekenntnisse sind nicht nur Illustration,
sie zeigen auch, was uns not tut: Wir müssen die Natur im Bewußtsein und in
der Erziehung des Einzelnen beleben, vergöttlichen. Sexual-pädagogische Vor-
lesungen sind es, die wir brauchen, die durch die Lehrer den Schülern, durch die
Volkshochschulen den Eltern nutzbar gemacht werden, daß die Heiligkeit alles
Seins statt, der Lüge in die Herzen der neuen Generation einzieht. Auch hier-
für geben unsere Vorlesungen manch einen Fingerzeig, besonders in den Schluß
deduktionen.
VORWORT. Inhaltsverzeichnis im Auszug:
I. Einleitung. Biologische Grundlagen . . ...:...... . s. 1—16
II. Biologische Grundgesetze der psycholog. Geschlechtsdifferenz . S. 17—55
III. Die sekund. Geschlechtscharaktere in ihrer Beziehung zur Psyche S. 56—69
IV. Sexualpsyche und Stammesentwicklung (Phylogenese) . . . . S. 70—100
V. Sexualpsyche und Völkerentwicklung , . S. 101— 134
VI. Sexualpsyche und Individualentwicklung. Tierpsychologische
Einleitung S. 135—157
VII. Die Durchgeistigung der Sexualpsyche nach der Geschlechtsreife . S. 158—174
VIII. Die Ehe als biolog. Einheit und Stufe zu höherem Menschentum . S. 175—194
IX. Die Ursache der Promiskuität und die Psyche der Prostituierten . S. 195—205
X. Die Psychedes Weibes. Vergleiche, Zusammenfassung u. Ergebnis S. 206—243
Anhang: Bekenntnisse und Arbeiten meiner Hörer und Hörerinnen . S. 244 308
Anmerkungen und Hinweise S. 309— 315
STÖRUNGEN
DES
TRIEB- UND AFFEKTLEBENS.
n.
<
STÖRUNGEN
DES
TRIEB- UND AFFEKTLEBENS
(DIE PARAPATHISCHEN ERKRANKUNGEN).
VON
DE WILHELM STEKEL,
NEBVENARZT IN WIEN.
IL
ONANIE UND HOMOSEXUALITÄT.
&
URBAN & SCHWARZENBERG
BERLIN WIEN
N., FRIEDRICHSTRASSE 106b I., MAXIMILIANSTRASSE 4
1921.
ONANIE
UND
• •
HOMOS EXUAL I TAT
(DIB HOMOSEXUELLE NEUROSE.)
VON
DR WILHELM STEKEL,
NERVENARZT IN WIEN.
ZWEITE, VERBESSERTE UND VERMEHRTE AUFLAGE.
-» • *-
u
URBAN & SCHWARZENBERG
BERLIN WIEN
N., FRIEDRICHSTRASSE 105b I., MAXIMILIANSTRASSE 4
1921.
.
Alle Rechte, gleichfalls das Becbt der Übersetzung in die rassische Sprache
vorbehalten.
^
Copyright, 1920, by Urban & Schwarzenberg, Berlin.
V
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die vorliegende Auflage enthält einige wichtige Ergänzungen
und mehrere neue Beobachtungen. Seit der Publikation der ersten
Auflage, die eine so freundliche Aufnahme gefunden hat, hatte ich
Gelegenheit, viele Homosexuelle beiderlei Geschlechtes zu sehen
und zu analysieren. Ich konnte meine Erfahrungen vertiefen, ohne
an meinen Schlußfolgerungen rütteln zu müssen. Ich kann nur
wiederholen, was ich schon in der ersten Auflage gesagt habe :
Die Homosexualität ist eine Seelenkrankheit (Parapathie) und ist
heilbar!
Viele Ärzte aus der Schule Hirschfelds haben mir die Er-
gebnisse der Experimente von Steinach entgegengehalten. Sie
finden in dieser Auflage ihre Antwort.
Ich hoffe in der nächsten Auflage diesem Werke noch eine
Reihe von neuen, überzeugenden Analysen hinzuzufügen. Leider bin
ich durch den Aufbau der neuen Bände zu sehr in Anspruch ge-
nommen, als daß ich schon jetzt diese Pflicht hätte erfüllen können.
Ich bin aber fest überzeugt, daß die Zukunft mir recht geben
wird. Ich hoffe, daß andere Ärzte meine Ergebnisse an ihrem Material
nachprüfen und sich von ihrer Wichtigkeit und Richtigkeit über-
zeugen werden. Bis heute ist es noch nicht der Fall gewesen . . .
Wien, Oktober 1920.
Der Verfasser.
Inhaltsangabe.
Erster Teil: Die Onanie.
Seite
I. Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie . . . 2—29
Über die Sexualität des Kindes. — Coitus im Kindesalter. — Warum
alle Ärzte die Sexualität der Kinder übersehen haben. — Die Asexuali-
sierung und Vergöttlichung des Kindes. — Schilderung der Säuglings-
onanie.— Zwei verschiedene Typen. — Die Friedmannscha Krankheit. —
Onanierende Kinder werden als epileptisch angesehen. — Freuds Ansichten
über die Säuglingsonanie. — Gibt es eine Latenzperiode? — Die Onanie des
talentierten und die Onanie des geisteskranken Kindes. — Paraphilie, Pa-
rapathie und Paralogie. — Neue Ausdrücke für neue Anschauungen. —
Rückständige Ansichten über Onanie. — Versuch einer Definition. — Die
verschiedenen Formen der Onanie. — Verschiedene statistische Angaben
über die Häufigkeit der Onanie. — Alle Menschen onauieren. — Die Neu-
rose eine Folge der Abstinenz, nicht der Onanie. — Gibt es eine Neur-
asthenie als Folge der Onanie? — Analyse eines Falles von sogenannter
Neurasthenie. — Beschreibung eines älteren Kinderfreundes, der sich
durch Onanie vor dem Verbrechen schützt. — Ein onanierender Lust-
mörder. — Die Onanie als sozialer Schutz vor sexuellen Verbrechen.
II. Onanie und Neurose , 30—53
Die Onanie ein Abwehrsymptom. — Geisteskrankheit und Onanie. —
Die Neurose bricht aus, wenn die Onanie aufgegeben wird. — Fall eines
abstinenten Studenten. — Eine Arztensfrau, die in den Büchern ihres
Mannes liest, ihr Kampf gegen die Onanie, ihr Brief vor dem Selbst-
mord. — Selbstmord und Onanie. — Die Onanie die einzig adäquate
Form der Befriedigung für viele Menschen. — Chronischer Selbstmord
durch Onanie. — Onanie und Inzest. — Der stotternde Onanist. —
Analyse eines Schülerselbstmordcs. — Die Bedeutung der spezifischen
Phantasie beim onanistischen Akte. — Ein Fall von Onanie wegen Fi-
xierung einer Phantasie. — Ein Fall von Onauismus. — Schaden des
Onanismus. — Konstitution und Onanie. — Übergang von der Onanie
zum allerotischen Verkehre. — Es gibt keinen Kanon für die normale
Sexualität. — Die verschiedenen kriminellen Phantasien der Onanisten. —
Die Neurotiker als Schauspieler.
VIII Inhaltsangabe.
Saite
III. Sanierte Onanie ." 54—74
Die Pollution als onanistischer Akt. — Der Fall von Folien Ca-
bot. — Ein anderer Fall meiner Beobachtung. — Eine Dame, die an
Pollutionen leidet. — Der Kampf gegen die Pollutionen. — Schlaflosig-
keit und Kopfdruck. — Ein Student, der 4—5 Pollutionen in einer Nacht
hat. — Erforschung der spezifischen Phantasie. — Onanie im hysteri-
schen Anfall. — Die Schädlichkeit der Onanie bedingt durch das Schuld-
bewußtsein, r— Süße Ohnmacht. — Reizung erogener Zonen. — Ver-
längerung der Vorlust auf Kosten der Endlust. — Verschleierter Orgas-
mus. — Dermatosen als Ersatz der Onanie. — Pruritus vulvae. — Sper-
matorrhoe. — Analerotik. — Luthers Leiden. — Tagträume mit geistiger
Onanie. — Ein Fall von Zwangsneurose nach Aufgeben der Onanie;
Heilung nach Wiederaufnahme der Onanie. — Unbefriedigte Menschen
werden Verbrecher.
IV. Andere Formen larvierter Onanie. — Erotische Rei-
zungen als Heilmittel. — Zur Psychogenese des Schuld-
bewußtseins ;\ 75_ioo
Ein Fall von geistiger Onanie, deskriptiv von Krafft-Ebing be-
schrieben. — Mitteilung eines analytisch aufgeklärten Falles von larvierter
Onanie. — Fixierung einer traumatischen Szene durch Onanie. — Neben-
wirkungen der Prostatamassage. — Die Heilkraft des Magnetismus be-
ruht auf Sexualität. — Eine Dame, die sich von einem Magnetiseur be-
handeln läßt. — Wirkung der Massage auf den Eros. — Der Entero-
kleaner. — Gonorrhoe und Neurose. — Ein Fall von Wunderheilung durch
Prostatamassage. — Analyse des Schuldbewußtseins der Onanisten. —
Die Onanie als Symbol jeder Schuld. — Ein Beispiel von Schuldver-
schiebung. — Die aufreizende Wirkung des Verbotes. — Die Gefahr und
die Schuld als Steigerungen der Lust. — Prophylaxe der Kinderonanie. —
Erziehungsfehler. — Onanie und Potenz. — Die Onanie eine Regression
auf das Infantile.
V. Onanie und Religion jqi 117
Die Religion der Wächter der Sexualität. — Onanie und Frucht-
barkeit. — Der alte und der neue Priester. — Ein Fall von Religions-
neurose. — Einfluß eines Pfarrers auf seine Gemeinde. — Glossolalie. —
Dement infolge des Kampfes gegen die Onanie. — Der Onanist selbst
ein Gott. — Die Sexualität durchsetzt die Religion. — Was ein Pfarrer
über den Schaden der Onanie schreibt.— Der Seelsorger der Zukunft. —
Ein Fall moderner Seelsorge. — Die neue Religion von Marcinowshi.
VI. ZwangsliaiKllungenfeines Onanisten. — Askese und Al»-
stinenzbewegung. — Allgemeine Betrachtungen . . . 118—139
Zwangshandlungen eines Philosophen, der die Onanie überwunden
hat. — Sein Zeremoniell im Klosett. — Zeremoniell am Morgen. — Beim
Verlassen der Wohnung. — Im Parke. — Auflösung seiner Zwangs-
handlungen. — Die Psychologie der Askese und der Abstinenz. — Der
Wille zum Rausch. — Die Abstinenzbewegung eine soziale Phobie, —
Verschiebung auf das Kleine und das Große. — Soziale Sicherungen gegen
Inhaltsangabe.
IX
die Onanie. — Die Eltern als sexuelle Wächter ihrer Kinder. — Die
Asexualisierung des Kindes. — Der Onanist sein eigener Gott. — Fi-
xierung der Onanie aus Trotz. — Die Revolte gegen das Teleologische. —
Die Schule des Opfers und der Liebe. — Läßt sich die Onanie aus-
rotten? — Sublimierung der sexuellen JEnergien.
Seite
Zweiter Teil: Die Homosexualität.
I. Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der
Homosexualität 143—166
Krafft-Ebing hält die Onanie für die Ursache der Homosexu-
alität. — Verwechslung von Ursache und Folge. — Kraepelins Ansichten
über Onanie und Homosexualität. — Die Thesen von Krafft-Ebing. —
Die Ansichten von Moll, von Havelock Ellis, Bloch, Magnus Hirschfeld,. —
"Wie wird die Diagnose der Homosexualität begründet? — Über die all-
gemeine Bisexualität aller Menschen. — Zusammenhang von Neurose
und Homosexualität. — Die Familie der Homosexuellen. — Blochs An-
sichten über das Rätsel der Homosexualität. — Die Wirkung der Psyche
auf den Organismus. — Der Wunsch als wichtiger Faktor in der
Psyche. — Meine Theorie der Homosexualität. — Theorien von Kiernan
Chevalier und Lombroso. — Der Neurotiker als Rückschlagserscheinung. —
Frühes Erwachen der Sexualität bei allen Homosexuellen.
II. Latente Homosexualität. — Masken der Homosexua-
lität. — Das kritische Alter. — Don Juan und Ca-
sanova 167—201
Entwicklung der Sexualität. — Das bisexuelle Ideal aller Men-
schen. — Das sexuelle Grundgesetz. — Bedeutung der Homosexualität
für die Neurose. — Weibliche Männer und männliche Frauen. — Geron-
tophilie. — Dirnenliebe. — Die Bedeutung der sexuellen Symbole. —
Verschiedene Masken der Homosexualität. — Transvestiteu. — Ein Fall
von Transvestismus. — Die Bedeutung der Hose als Symbol. — Ein Fall
von Verlieben infolge eines Symbols. — Eine Liebe auf den ersten Blick. —
Das kritische Alter. — Der Wollüstling. — Der Fall eines Mannes, der
das kritische Alter durchgemacht. — Neurotische Zerrbilder der Homo-
sexualität. — Der Don Juan. — Psychoanalyse eines Don Juan. — Eine
heiße Liebe im hohen Alter verdächtig. — Analyse eines Don Juan.
III. Satyriasis und Nymphomanie 302—223
Diagnose der Satyriasis. — . Priapismus. — Ein Fall von Satyriasis.
— Ein zweiter Fall von Satyriasis. — Ein Fall von Nymphomanie. —
Nachweis, daß hinter diesem leidenschaftlichen Drängen der homosexuelle
unbefriedigte Trieb steckt.
IV. Der rudimentäre Don Juan. — Die moderne Messa-
liua 224—253
Schilderung von Don Juan-Typen, die sich mit der Eroberung be-
gnügen und auf den physischen Besitz verzichten. — Ein Pechvogel. — Ein
St ekel, Störungen dos Trieb- und Affoktlebons. II. S. Aufl. b
X Inhaltsangabe.
Seito
Mann, der durch Magenschmerzen in der Liebe gehindert wird. — Eine
Messaliria, welche durch Erbrechen ihre Keuschheit bewahrt. — Einfluß
der Religion auf diese Neurosen.
Y. Homosexualität und Alkohol 254-271
Der Widerstand der Homosexuellen gegen ihre Genesung und ihr
Stolz auf ihren Zustand. — Erworben oder angeboren? — Der "Wahnsinn
und der Alkohol als Verräter des inneren Menschen. — Drei Fälle von
Colla betreffend homosexuelle Handlungen im Rausche. — Erfahrungen
von Nuuia Praetorius. — Der Fall von Hugo Deutsch. — Die Ansichten
von Juliusburg er. — Zwei eigene Beobachtungen. — Ein Fall von Moll.
— Ansichten von Fleischmann und von Nicke. — Eine eigene Beobach-
tung. — Bloch über den Weiberhaß.
VI. Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen
Infektionen. — Einfluß «1er Traumen 272—294
Kanu der Ekel die Ursache der homosexuellen Einstellung sein ?
— Beobachtungen von Krafft-Ebing, Fleischma7in und Ziemcke. — Eigene
Beobachlungiund ein Fall von Bloch. — Ein Trauma in späten Jahren
als Ursache der Homosexualität. — Eigene Beobachtung einer tardiven
Homosexualität. — Zwei Fälle von Bloch. — Weitere Kasuistik. — Ein
Fall von Pjister und einige Traumanalysen.
VII. Das Verhältnis des Homosexuellen »um anderen Ge-
sehleehte. — Angst, Ekel, Haß und Wut. — Homosexua-
lität und Epilepsie. — Die Forschungen Sadgers . . 295—315
Die Thesen von Hirschfeld. — Die Angst vor dem geschlechtlichen
Partner. — Ekel vor dem Weibe. — Sadistische Einstellung. — Epilepsie
und Homosexualität. — Andere Abwehrreaktionen. — Meine ersten Er-
fahrungen. — Die Forschungen Sadgers.
VIII. Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten
zur Mutter 316—350
Erotik und Sexualität. — Das Unerfüllte als treibende Kraft. —
Der männliche Protest. — Das Verhältnis des Homosexuellen zur Mutter.
— Das Grundschema von Hirschfeld. — Infantile Eindrücke. — Der
Einfluß des stärkeren Elternteiles. — Der Brief eines Kenners der Homo-
sexuellen. — Analyse eines Homosexuellen. — Ein Künstler, der für
ordinäre Männer schwärmt. — Der Einfluß des Vaters auf das Schicksal
des Sohnes. — Zwei Fälle von Fe"r(. — Einfluß der inneren Sekretion
auf psychische Vorgänge und umgekehrt. — Die Krankengeschichte eines
akromegalen Riesen, der ein Weib sein will. — Die Arbeiten von Steinach.
IX. Die Bolle des Vaters und der Geschwister. — Der
Kinderhaß 351—378
Der Brief eines Homosexuellen, der sich vor den „prüfenden Blicken"
der Mädchen fürchtet. — Eine Ehe mit dem .Vater. — Eifersucht auf
den Vater. — Ein Homosexueller, der seine Mntter haßt. — Ein geliebter
Knabe als Imago der Schwester. — Ein Fall von Fdri. — Psychologie der
Familienliebe. — Die Angst vor dem Kinde. — Ein Mädchen, das alle
Kinder haßt. — Differenzierung von der Mutter.
Inhaltsangabe.
XI
Seite
X. Homosexualität und Eifersucht 379—399
Psychologie der Eifersucht. — Die Bedeutung des Persönlichkeits-
gefühles. — Ur-Gefühle und Muttergefühle. — Ein Mann, der seine
Frau betrügen will. — Argwohn. — Eifersucht als Projektion der eigenen
Unzulänglichkeiten. — Maskierte Eifersucht. — Eine eifersüchtige Arztens-
frau. — Homosexuelle Wurzel der Eifersucht. — "Warum Frauen die
Dienstmädchen schlagen. — Verschiebung der Eifersucht auf die Um-
gebung. — Eifersucht auf den Vater. — Eifersucht auf die Wohnung.
— Eifersucht auf die Vergangenheit. — Ein Fräulein, das gegen alle
Geräusche überempfindlich ist.
XI. Homosexualität und Paranoia 400—419
Die Eifersucht als Projektion 'der eigenen Unzulänglichkeiten. —
Freuds Forschungen über die Paranoia. — Die Forschungen von Julius-
burger. — Die Eifersucht eines Paranoikers. — Eifersuchtswahn eines
Kaufmannes. — Eifersucht und Aljcoholismus. — Paranoia und Alkoholis-
mus. — Die Entwicklung der Menschheit von der Bisexualität zur Mono-
sexualität. — Metamorphosis sexualis paranoica. — Der Monotheismus
der Sexualität. — Eifersucht und Kriminalität.
XII. Homosexualität und Sadismus 420—435
Ein sadistischer Homosexueller (Beobachtung von Fleischmann).
— Der lesbische Lustmord. (Kratter.) — Die Wiederholung der spezi-
fischen Szene. — Geständnisse eines sadistischen Mediziners. — Ein
psychanalytischer Ahasver. — Schwanken zwischen unterwürfiger Liebe
und tödlichem Hasse. — Der Einfluß der Eltern.
XIII. Analyse eines Homosexuellen 436—463
Die Analyse eines Homosexuellen. — Erste Erinnerungen. — Die
erste Schilderung seiner Einstellung. — Die Angst vor der Tuberkulose.
— Sein Verhältnis zu den Eltern. — Der erste Traum. — Träume von
Pissoirs. — Analerotik. — Koprophagie. — Die Mutter als Tyranuiu. —
Verkleidungstrieb. — Ein wichtiger Traum. — Voyeur und Exhibitionist.
— Andere Träume. — Gedichte an die Mutter. — Mutterleibsträume.
— Sadistische Phantasien. — Ein Spermatozoentraum. — Der Traum
vom wilden Bären. — Zusammenfassung der analytischen Erkenntnisse
dieses Falles. — Die Formel der Homosexualität.
XIV. Ergänzungen 464—477
Der Fall von Freud: Analyse einer weiblichen Homosexuellen.
— Ein Fall von geheilter Homosexualität. — Finten und Schliche der
Homosexuellen. — Wie die Ehe eines Homosexuellen aussieht. — Die
Bedeutung der Schläge im Kindesalter für die Psychogenese der Homo-
sexualität.
XV. Rückblick und Ausblick 478—497
Die Unfähigkeit der Neurotiker zur Liebe. — Der Narzißmus der
Homosexuellen. — Fortschreitende Geschlechtsditferenzierung mit fort-
schreitender Kultur. — Stellung des Homosexuellen im Kampfe der Ge-
b*
XII Inhaltsangabe.
Seite
schlechter. — Die sozialen Ursachen der Homosexualität. — Die Homo-
sexualität bei den Griechen. — Zunahme der polaren Geschlechtsspannung.
— Die verschiedenen therapeutischen "Wege. — Die Hypnose. — Die
Assoziationstherapie von Moll. — Die Psychanalyse. — Der Weg der
Heilung und die Bedingungen der Heilung.
Appendix:
XVI. Depression und Homosexualität 498—521
Gibt es grundlose Depressionen ? — Die Stimmungsschwankungen
des Tages. — Sonntagsneurosen. — Der geheime Kalender. — Ursache
der Morgendepressionen. — Depressionen, die jeden zweiten Tag auf-
treten. — Jahresperioden und ihre Ursache. — Die Aussichtslosigkeit
der Liebe als Ursache der Depression. — Der "Wille zur Krankheit. —
Todeswünsche. — Die Haßbereitschaf t der Kranken. - Der Realitäts-
koeffizient. — Unterschied zwischen Melancholie und Trauer. — Homo-
sexuelle Regungen beim Ausbruch der Depression. — Steinachs Beob-
achtungen an künstlichen Zwittertieren. — Verschiedene Fälle periodischer
Depressionen mit Veränderung der sexuellen Einstellung. — Allgemeine
Psychotherapie der Depressionen.
-ww—
ERSTER TEIL.
Die Onanie.
Unsere höchsten Weisheiten müssen —
und sollen! — wie Torheiten, unter Um-
ständen wie Verbrechen klingen, wenn sie
unerlaubterweise denen zu Ohren kommen,
welche nicht dafür geartet und bestimmt sind.'
Nietzsche.
Stekel, Störungen deE Trieb- nnd Aflektlebent. II. -J. Aufl.
_
Die Onanie,
i.
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie.
Es gibt Bücher, welche für Seele und
Gesundheit einen umgekehrten Wert haben,
je nachdem die niedere Seele, die niedrigere
Lebenskraft oder aber die höhere und ge-
waltigere sich ihrer bedienen. Nietzsche.
Das Geschlechtsleben des Menschen beginnt vom Tage der Geburt
und endet mit seinem Tode. Andere Forscher, die der orthodoxen Freud-
schule angehören, wollen noch weiter gehen und auch dem Fötus eine
gewisse Sexualität zuschreiben. Ich will es nicht bestreiten, aber ich
kann es nicht bestätigen. Dagegen weiß ich aus eigener- langjähriger
Anschauung, daß wir bisher über den Beginn des Geschlechtslebens
falsch unterrichtet wurden. Hieß es doch immer, beim normalen Menschen
erwache die Sexualität erst in der Pubertät. Wo das früher der Fall
sei, da handle es sich um Ausnahmen und um Zeichen psycho'pathischer
Konstitution. Wollte ich die Autoren zitieren, welche noch heute dieser
Ansicht sind, ich würde Bände füllen können. Ich habe mich immer
gewundert, daß die Ärzte so wenig über das Sexualleben der Kinder
wissen, da sie doch Gelegenheit haben, es so gründlich zu beobachten
und da sie nur an die eigene Jugend denken müßten. Ich kannte damals
noch nicht die Phänomene der „geistigen Skotome" und „des Nicht-
sehenwollens". Es hängt zuviel Persönliches an den sexuellen Dingen,
als daß alle Ärzte unbefangen urteilen könnten. So kommt es, daß
sich lächerliche Vorurteile als wissenschaftliches Edelgut durch Jahr-
hunderte behaupten konnten, so kommt es, daß unbefangene Laien und
erfahrene Prostituierte noch heute einen Jünger Äskulaps in der Sexua-
logie unterrichten könnten.
Wie ist es möglich, daß alle Menschen, Mütter, Väter, Ärzte,
Kinderfrauen die ersten sexuellen Regungen des Kindes übersehen?
Hier hört jede Möglichkeit auf, diese Erscheinung rein individuell als
eine zufällige zu erklären. Sie ist ein soziales Phänomen und vielleicht
1*
Erster Teil. Die Onanie.
das bedeutendste Zeichen für die Stellung des Kulturmenschen zu seiner
Sexualität. Denn es handelt sich doch da um ein Nichtsehenwollen. E s
ist kein Übersehen, sondern ein Vorübersehen.
Ich möchte jetzt an dieser Stelle auf einen prinzipiellen Unter-
schied zwischen meiner Darstellung der Störungen der Geschlechtsfunk-
tionen und der bisherigen hinweisen. Die Darstellung dieser Störungen
war eine rein deskriptive oder eine individuelle. Ich bestrebe mich, diese
Störungen als soziale Erscheinungen aufzufassen und immer wieder
auf den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen hinzuweisen.
Das Übersehen der Kindersexualität ist auch eine wichtige soziale Er-
scheinung, welche uns die Menschheit im Kampfe gegen ihre Sexualität
zeigt. Dies Übersehen mußte sich auch auf die Ärzte erstrecken. Sie
können sich dem sozialen Zuge ebensowenig entziehen wie die anderen
Menschen. Das ist der Grund, weshalb die berühmtesten Sexualforscher
von diesen Tatsachen nichts wußten.1)
Selbstverständlich mußte Freud, als er die Sexualität der Kinder
neu entdeckte, auf heftigsten Widerstand stoßen. Das Nichtsehenwollen
bestand auch dem einzigen Forscher gegenüber, der das Phänomen, das
vor aller Welt, die sehen wollte, offen da lag, wieder beschrieb. Daß
Freud dies sehen konnte, mag auch darin begründet sein, daß wir in
einer Zeit leben, die sich als heftige Reaktion gegen das Verhüllen der
sexuellen Frage bezeichnen läßt. Denn unabhängig von Freud begannen
viele Forscher mit der Veröffentlichung sexueller Tatsachen. Die Zeit
war wieder für das Sehen reif geworden. Ich habe wohl als erster —
unbekannt mit den Lehren Freuds — schon im Jahre 1895 auf die
Tatsache kodierender Kinder aufmerksam gemacht. (Über Koitus im
Kindesalter. Eine hygienische Studie. Wiener med. Blätter, XVIII. Jahr-
gang, Nr. 16, 18. April 1895.) Die Ausführungen scheinen mir so wichtig,
daß ich sie hier zum großen Teil wiedergebe.
„Daß der Koitus im frühen Kindesalter ein gar nicht seltener Vorgang
ist, scheint in ärztlichen Kreisen eine wenig bekannte Tatsache zu sein. Einige
der hiesigen Spezialisten, die ich über dieses Thema befragte, gestanden mir,
darüber noch keine Kenntnisse zu haben, und nahmen meine diesbezüglichen
Mitteilungen mit ungläubigem Achselzucken auf. Krafft-Ebing berichtet in
seiner siebenten Auflage der „Psychopathia sexualis" bloß von Masturbation
im frühen Kindesalter und glaubt jedes ohne peripheren Anlaß entstehend«
Geschlechtsleben in diesem Alter einer neuro-psychopathischen Belastung zu-
schreiben zu dürfen, eine Behauptung, die nach der Ansicht des Verfassers
keineswegs für alle Fälle zutrifft. Merk erzählt von einem achtjährigen
Mädchen, das seit dem vierten Jahre masturbierte und mit Knaben von zehn
bis zwölf Jahren Unzucht trieb. Lombroso weiß nur über onanierende Kinder
l) Moll sieht die Erscheinungen des Geschlechtstriebes vor dem siebenten Lebens-
jahre als pathologisch an. Dann freilich bestünde die Welt aus lauter krankhaft ver-
anlagten Individuen und dann wäre Sexualität überhaupt Krankkeit.
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 5
von drei bis sieben Jahren- zu berichten. In einem unlängst erschienenen inhalts-
reichen Aufsatze „Die Anthropologie im Dienste der Pädagogik" („Die Zeit",
1895, Nr. 27) erwähnt er flüchtig des Geschlechtslebens der Kinder. Dort
heißt es: „Auch kann man bei Kindern von drei bis vier Jahren, selbstver-
ständlich in einer durch die unvollkommene Entwicklung beschränkten
Form (?), die ersten Anzeichen der Tendenz zur Unanständigkeit beobachten".
Zambuco beschreibt ein siebenjähriges Mädchen, das Unzucht mit
Knaben trieb und pervers-sexuellen Trieben ergeben war. Für bringer datiert
in seinem jüngst erschienenen Buche „Die Störungen der Geschlechtsfunktionen
des Mannes" die Erektion durchschnittlich vom 15. Lebensjahre, also der er-
wachenden Pubertät, hat aber gleich Curschmann Masturbation bei Kindern
von fünf Jahren und darunter gesehen. Vom Koitus zwischen Kindern wird
in keiner Weise gesprochen.
Henoch erwähnt trotz seiner reichen Erfahrung keinen einzigen Fall.
Dagegen beschreibt er die von ihm. wiederholt beobachteten Wiegebewegungen
des Oberkörpers bei kleinen Kindern, die er als Ausdruck onanistischer
Reizung auffaßt. Ein einziger Fall (Henoch, „Kinderkrankheiten", S. 220)
streift unsere Ausführungen. Es handelt sich um einen siebenjährigen Knaben,
Karl A., der seit seinem fünften Jahre, angeregt durch das lange Zu-
sammenschlafen mit einer Verwandten, welche ihr Spiel mit ihm getrieben
hatte, an Erschlaffung, Enuresis, Schlaflosigkeit erkrankte, vom fünften
Lebensjahre an heftig masturbierte. Leider ist nichts über das Alter der Ver-
wandten angegeben und auch nicht erklärt, ob der Knabe masturbiert oder
zum Koitus gebraucht wurde.
Eigene Erfahrung, klare Erinnerung und Zufall haben mich schon vor
einigen Jahren zu Nachforschungen auf diesem für die Hygiene des Kindes-
alters so wichtigen Gebiete geführt. Fragt man eine größere Anzahl intel-
ligenter Personen über diesen Punkt aus, fordert man sie auf, genau nachzu-
denken, so wird fast jeder Zweite sich an gewisse Vorgänge in seiner Kindheit
erinnern, die ihm früher unverständlich waren, die sich aber bei genauer Be-
trachtung als die ersten Anfänge des Geschlechtstriebes erweisen. Fälle
von wirklichem Koitus sind seltener. Meist kommt es zu einem mit für die
Kinder überraschendem Wollustgefühl verbundenen Betasten von Genitalien.
Oft genügt der bloße Anblick derselben, wie er sich zufällig beim Spiel ergibt,
um bei den Knaben (und nur von solchen ist ja ein gewissenhaftes Geständnis
zu erhalten) plötzlich mit elementarer Gewalt bisher unbekannte Geschlechts-
gefühle hervorzurufen. Im Kindesalter zeigt sich eben klar, wie viel von dem,
■was die Menschen mit Willen und Überlegung zu tun glauben, auf Rechnung
des Instinktes kommt. Das Kindesalter ist die Brücke, die den Homo sapiens
mit dem Tierreiche verbindet. Sieht ja z. B. Lombroso bei jedem Kinde gewisse
Anzeichen zum Verbrecher, weil es, wie der Fötus in den ersten Monaten eine
niedrigere Tierspezies, in den ersten Jahren den niedersten Menschentypus
repräsentiert.
So wird auch der Koitus im Kindesalter meistens von den Kindern
— instinktiv — auf dem Wege des Geschlechtstriebes gefunden. Fälle, wo
Kinder von älteren Personen mißbraucht werden, sind ja allbekannt und ge-
hören nicht in den Rahmen dieser Ausführungen.
Ob bei dem versuchten oder bei dem wiederholt ausgeführten Koitus
auch eine vollständige Immissio penis stattfindet, ist zweifelhaft. Meistenteils
6 Erster Teil. Die Onanie.
spielt sich der Sexualakt in der Vulva ab. Einige meiner Beobachtungen
Schemen jedoch für eine teilweise Immission des Penis in die Vagina zu
sprechen. - Von vornherein ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen
Das u™: \KmderTS £tbehft keinGSWegS der nötiSen ***» KonsMen
Das- Hymen kann rudimentär entwickelt sein oder es kann ja ein sogenanntes
ringförmiges Hymen vorliegen. Es ist mir niemals gelungen S£S
AfeLS. RlT ZU entdeCken °dGr POSitiv verwendbar! fiU
Schmerzen Blutungen usw. zu erhalten. In Huzulendörfern - so teilte mir
ein Student mit - sei der Koitus unter Kindern sehr häufig. Er konnte
iV^^d^^v/Jiar^rVhrnY1^^ ^»^"» I
E» *■ -5 es vielfcht m der Jugend so reich an elastischen Fasern daß es
TT™ ^f.ch, ff^' (T°P°graphi-sche Anatomie) nimmt ja die Stärke des
iSwenf Jahl'en " ^ S0U daSß6lbe bei alten J-gfrauen zlhu^
mPrkW,H Kindei'' d^ *!fn K°ituS instinktiv gefunden haben, wissen aber auch
mSeT dTT' d3ß SiG ^ Er.fiDdung V°r den Eltern ^heim Llten
müssen. Daher kommen so wenige Fälle zur Beobachtung des nrakti^hL
Arztes, der unbekannt mit diesen Tatsachen, die Eltern nSt rettzeft^
auf gewisse Vorsichtsmaßregeln aufmerksam macht. Häufig st der Ä
oder die erwachte Sinnlichkeit die Ursache einer früh begLnenden Onanie
Der Koitus selber scheint für die Gesundheit der Kinder keinen ha
SrbefÄ^76^116" Eln Tf ^^ ^bezüglichen robact
tungen betrifft kraftige, nichts weniger als neuropathische Männer."
Ich breche jetzt die Publikation dieser kleinen Studie ab Ich
erwähne nur, daß ich noch einige Beobachtungen anführe, welche uns
beweisen, daß dies Phänomen bei ganz normalen gesunden Menschen
vorkommt und eine häufige Erscheinung ist, die alle Ärzte bisher einfach
übersehen haben. Der erste Fall, den ich in der erwähnten Studie pu-
blizierte, ein Knabe, der mit vier Jahren mit einer Freundin den Koitus
ausführte, schien den meisten Ärzten eine Ungeheuerlichkeit Aber ich
kenne seit jener Publikation, seit der ja schon 25 Jahre verstrichen sind
die Materie viel besser. Ich habe unzählige Normalmenschen über ihre
sexuellen Erinnerungen ausgefragt und alle meine Erfahrungen bestätigt
gefunden. Ich kenne einige Fälle, in denen der erste Versuch mit 2 bi.
3 Jahren unternommen wurde. Aus diesen Kindern wurden hochintel-
hgente, hochkulturelle, feinsinnige Menschen.
Und trotzdem haben alle anderen Ärzte die Kindersexualität nicht
sehen wollen. Wo liegen die Gründe?
Zuerst wohl in dem Umstände, daß alle Menschen sich bemühen
mre eigene sexuelle Vergangenheit, soweit sie der Kindheit angehört,'
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 7
zu vergessen. Wir alle haben das latente Bestreben der Entschul-
dung. Wir haben die Tendenz, das individuelle Schuldbewußtsein zu
verringern. Wir betonen gerne die Erziehungsfehler, die Sünden der
Jugend, die an uns begangen wurden, um die Verantwortung von uns
abzuwälzen. Wir wollen nicht an unsere Jugend denken, in der alle
Urtriebe der Menschheit in uns lebendig waren. Wir dürfen diese
Erscheinungen an den Kindern nicht sehen, weil sie
uns an unsere eigene Jugend erinnern würden.
Die Verdrängung der eigenen infantilen Sexualität führt auch
zur Nichtbeachtung der Sexualität der eigenen und der fremden Kinder.
Wir benehmen uns wie der Bauer, der im Tiergarten von Schönbrunn
vor einem Rhinozeros staunend steht und schließlich ausruft: „Zu blöd!
Ein solches Tier gibt's ja gar nicht!"
Nein! Es gibt für die meisten Ärzte keine infantile Sexualität,
weil sie mit ihr nichts anzufangen wissen. Wohin sollen dann alle
Schlagworte vom reinem Kinde, von der richtigen Erziehung, die das
reine Kind bewahrt, kommen? Soll man auch immer daran erinnert
werden, wie deutlich unsere Zusammenhänge mit der Natur, dem Tiere
und dem Verbrecher sein können?
Eine andere Begründung findet dieses Phänomen in dem Verhalten
des Menschen zum Problem der Schuld. Die Gründung sozialer Ver-
bände war nur möglich, wenn das Selbstbewußtsein des Einzelnen zu-
gunsten des Ganzen verstärkt wurde. Die Religion machte den Starken
schwach, indem sie ihn mit Schuld belastete. Das Symbol dieser Schuld,
das Sinnbild der Sünde schlechtweg, wurde die Sexualität. Der Mensch
lebte im Paradies asexuell, bis die Schlange Adam verführte und er
vom Baume der Erkenntnis kostete. Rasch vertrieb ihn die Gottheit
aus dem Paradies, ehe er vom Baume des Lebens kosten konnte. Er
wäre dann unsterblich und ein Gott geworden. Das heißt, er hätte dann
die sexuelle Lust genießen können, ohne sie als Schuld zu werten. . . .
Die ganze Disziplin und das Gemeingefühl des Kulturmenschen bauen
sich auf diesem Schuldgefühl und auf der Angst vor der Strafe auf. Der
Mensch fühlt sich als schwacher Sünder.
Das Kind soll uns über uns hinaus entwickeln. Das Kind soll alle
Stufen erreichen, die wir nicht erreichen konnten, weil unsere Kräfte
versagt haben. Es soll den Traum unserer „großenhistorischen
Mission" erfüllen, es soll unseren brennenden Ehrgeiz stillen. Können
wir selbst nicht Götter sein, so wollen wir Götter zu Kindern haben.
Das Kind soll die Reinheit zeigen, die uns gefehlt hat. Das Kind soll
uns entschulden und entsühnen. Sündige Eltern pflegen oft ihre Kinder
dem geistlichen Stande zu widmen. Es ist dies der primitive Ausdruck
eines uns allen innewohnenden Wunsches, das Kind heilig zu machen.
8
Erster Teil. Die Onanie.
So kommt es, daß der Glaube der Eltern an die Reinheit ihrer Kinder
die lächerlichsten Grade annimmt. Ich habe es erlebt, daß Mütter die
Ärzte tätlich angegriffen haben, weil sie ihnen von einer unerwarteten
Gravidität der ledigen Tochter Mitteilung machten; ich habe beobachtet,
daß kluge Mütter einen Eid geleistet haben, ihre erwachsenen Söhne
. wären ganz unschuldig und hätten keine Ahnung von solchen
„schmutzigen Dingen", während die Söhne schon eine reiche Erfahrung
hinter sich hatten. Die offenkundigen Regungen der Sexualität werden
als Zufall, als unsinnige Spielerei, als ein fremder Instinkt aufgefaßt.
Das Kind hat etwas Heiliges, Reines, Erhabenes für die Mütter. Jede
Mutter fühlt sich als Maria, die den Heiland geboren hat. Schließlich
gibt sie zu, daß andere Kinder schon so früh verdorben sind, aber ihr
Kind mache bestimmt eine rühmliche Ausnahme.
Und in Wahrheit sind alle Kinder einander gleich. Nur die
Formen, in denen sich die Sexualität äußert, sind verschieden.
Es ist also falsch, daß unser Geschlechtsleben erst in der Pubertät
beginnt. Es ist falsch, daß die Kinder nur durch Verführung und durch
fremdes Beispiel mit den Regungen der Sexualität bekannt werden, und
daß es nur von der Erziehung abhänge, ob das Kind frühreif oder 'spät-
reif werde.
Die Kinder beginnen mit der Onanie gleich in den ersten Tagen
nach der Geburt. Bei den meisten bemerkt man leichte Wiegebewegungen
rhythmischen Charakters, welche uns die ersten Zusammenhänge
zwischen Rhythmus und Sexualität verraten. Bald aber wird die Hand
suchend nach unten gestreckt und findet die Genitalien. Kaum geborene
Säuglinge zeigen oft Erektionen. Jede erfahrene Hebamme wird diese
Tatsache bestätigen können. Ich habe Erektionen schon einige Stunden
nach der Geburt beobachten können. Die Säuglinge betreiben die Onanie
auf verschiedene Weise. Manche haben ihre Hand, sobald sie frei ist,
sofort unten an den Genitalien und reiben dieselben, Knaben an dem
Penis, Mädchen an der Klitoris.
Außer den Genitalien dienen noch alle anderen erogenen Zonen
des Körpers der Gewinnung der autoerotischen Lust. „Der ganze
Körper", sagt Marcus in seiner ausgezeichneten Studie „Über ver-
schiedene Formen der Lustgewinnung am eigenen Leibe"1) , "„kann als
Lustquelle dienen und diese Art der Lustgewinnung ist die aller-.
häufigste. Das Kind kann durch Saugen (das bekannte Lutschen) , durch
allerlei Muskelspiele, durch Reizung der Haut, der Harnröhre, des
Afters, mit Hilfe aller Nerven autoerotische Lust gewinnen. Trotzdem
*) Zentralbl. f. Psychoanalyse, III. Bd., S. 225.
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie.
halte ich dafür, daß wohl am häufigsten die Onanie an den Genital-
zonen schon in frühester Kindheit vorkommt."
Nicht in allen Fällen kann man deutlich das Eintreten des Orgas-
mus beobachten. Es scheint mir, daß es zweierlei Typen gibt: Kinder,
welche eine Art permanenter Lu6t [die Vorlust Freuds1)] empfinden
und Kinder, welche zeitweise onanieren und dann zum Orgasmus ge-
langen. Viele rätselhafte Anfälle der Kinder und besonders der Säug-
linge, das bekannte „Wegbleiben", sind nur Erscheinungen infantiler
Onanie. Da die Kinder oft eingebunden sind und ihre Hände nicht an
den Genitalien sein können, so erkennen die Eltern und Pflegepersonen
nicht, daß es sich bei den rhythmischen Bewegungen um Onanie handelt.
Der onanistische Anfall beginnt meist mit lebhafter Bewegung des
Kindes im Becken; die Beine bewegen sich auf und nieder; oder die ■
Muskeln werden mit aller Kraft angespannt, die Oberschenkel fest zu-
sammengepreßt; die Atmung wird rascher; der Blick scheint in die
Ferne gerichtet und wie glasig; die Wangen röten sich; unter allerlei
Zuckungen, oder unter Stöhnen und Seufzen, unter Keuchen und zeit-
weisem Aussetzen des Atems, in dem die Kinder ganz blau werden
können, geht der Orgasmus vorüber. Die Eltern sind sich über die
Natur dieser Anfälle niemals im klaren und protestieren meist sehr
ungläubig, wenn man sie aufklärt, daß es sich um Onanie handelt. Die
Ärzte erscheinen meist nach den Anfällen, haben selten Gelegenheit,
sie zu beobachten und denken auch nicht immer daran, daß es sich um
verschiedene Formen autoerotischer Orgasmen handelt.
Der Mannheimer Neurologe Friedmann hat als erster auf die
häufigen Absenzen der Kinder aufmerksam gemacht; daher machte
Bleuler den Vorschlag, dieses Leiden die „F r i e d m a n n s c h e K r a n k-
h e i t" zu bezeichnen. Schröder2) nennt sie „Pyknolepsie". Die
einzelnen Anfälle sind „kurze, etwa 10 Sekunden dauernde Unter-
brechungen der Fälligkeiten, zu denken, zu ßprechen, sich willkürlich
zu bewegen, aber nicht des Bewußtseins überhaupt und der auto-
') „Es scheint mir nicht unberechtigt, diesen Unterschied in dem Wesen der
Lust durch Erregung erogener Zonen und der anderen bei Entleerung der Sexualstoft'e
durch eine Namengebung zu fixieren. Die erstere kann passend als Yorlust bezeichnet
werden im Gegensatz zur Endlust oder Befriedigungslust der Sexualtätigkeit. Die Vor-
lust ist daun dasselbe, was bereits der infantile Sexualtrieb, wenngleich in verjüngtem
Maße, ergeben konnte; die Endlust ist neu, also wahrscheinlich an Bedingungen ge-
knüpft, die erst mit der Pubertät eingetreten sind. Die Formel für die neue Funktion
der erogenen Zonen lautete nun: Sie werden dazu verwendet, um mittelst der von
ihnen wie im infantilen Leben zu gewinnenden Vorlust die Herbeiführung der größeren
Befriedigungslust zu ermöglichen."
2) Prof. P. Schröder: „Die Bedeutung kleiner Anfälle (AbBenzen, petit mal) bei
Kindern und Jugendlichen." (Med. Klinik, 1917, Nr. 17.)
■
10
Erster Te'l. Die Onanie.
matischen Bewegungen. Die Kinder erstarren einfach,
stets mit aufwärts gedrehten Augen, mit Zittern der
Lider, Arme und Beine erschlaffen, bald wenig, bald etwas mehr, die
Anfälle brechen meist plötzlich aus, kommen zwischen 6mal bis lOOmal
täglich, stören im übrigen weder das Befinden noch die geistige und
körperliche Entwicklung. So dauert der Zustand jahrelang, um schließ-
lich vollkommen zu verschwinden."
Friedmann bezeichnet die kleinen (pyknoleptisehen) Anfälle als
erstaunlich einförmig und gleichmäßig; stets hätten sie den gleichen
Typus des einfachen Vorganges der höheren Denk- und Willensfunk-
tionen. Für einen großen Teil der Fälle trifft das sicherlich zu; die An-
fälle erscheinen lediglich als Zustände von momentaner Geistesabwesen-
heit, ohne alle gröberen Symptome. „Die Kranken starren einen Moment
gerade aus,* bekommen nur für einen Augenblick einen anderen Ausdruck
im Gesicht und fahren dann sofort in ihrer Beschäftigung weiter, als
sei nichts gewesen; Gegenstände, die sie gerade in der Hand haben,
lassen sie nicht fallen, sie sinken auch nicht zusammen, fällen z. B. auch
nicht, wenn sie gerade auf einem Baum herumklettern. Das unterscheide
sie wesentlich von Kranken mit epileptischen Absenzen, die zumindest
sehr häufig zusammensinken und in gefährdeten Stellungen herab-
stürzen. Oft melden die Kinder selber den Anfall mit „jetzt war
es wieder" — „jetzt habe ich es wieder gehabt" usw.,
oder sie können jedenfalls auf Befragen angeben, daß ein Anfall dage-
wesen sei. Als ganz leichte „motorische" Erscheinungen sind auch in
diesen typischen Fällen häufig ein Drehen des Kopfes zur Seite, Lid-
fiimmern, Herabsinken der Lider und des Kopfes, sowie ein Ver-
drehen der Augen nach obe n."
„Von diesem Typus aber entfernen sich die Anfälle durchaus nicht
selten mit einzelnen ihrer Erscheinungen. Vor allem kommt es vor daß
etwas stärkere Reiz- und Lähmungssymptome auftreten: Wackeln
des Kopfes, Zucken der Augen, steifes Ausstrecken
der Arme, Spreizen der Finger, Taumeln, auch vorübergehend mehr
allgemeine Starrheitund Steifheit oder aber auch plötz-
liches Reißen an den Haaren, Drehen mit den Fingern, Schmatz-
bewegungen, Murmeln einiger Worte, Fallenlassen eines
Gegenstandes; in einem Fall wendete sich die Kranke in ihren sehr
vielen Anfallen jedesmal dem Licht zu, sie lief rasch nach dem Fenster
hin. Fälle mit noch gröberen motorischen Symptomen müssen zunächst
fraglich bleiben bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur Pyknolepsie. Die
Regel ist, daß Anfälle mit etwas gröberen, über die einfache momentane
Geistesabwesenheit hinausgehenden Erscheinungen erst im späteren
Verlauf des Leidens auftreten, wenn die einfachen kleinen Anfälle bereits
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onauie. ±\
jahrelang bestanden haben, und daß sie dann auch wieder verschwinden
und in die einfachen übergehen. Auch die Bewußtseinsstörung kann
manchmal tiefer sein, derart, daß die Kranken tatsächlich Amnesie
für den Anfall haben, daß sie in die Knie sinken, zu Boden fallen; doch
ist dies stets nur ganz selten der Fall, ganz vereinzelt einmal im Ver-
lauf von vielen Jahren nebst sonst typischen massenhaften pyknolep-
tischen Anfällen. Auch die Dauer des Anfalles kann gelegentlich etwas
größer sein. Ebenso wird in gar nicht ganz seltenen Fällen, aber jedes-
mal auch nur wieder ganz vereinzelt, unwillkürlicher Urinabgang er-
wähnt, der sonst als charakteristisch für Epilepsie gilt. Zungenbisse
sind nie beobachtet worden, wohl aber wiederum gelegentlich Pupillen-
starre."
Ich habe diese Ausführungen von Friedmann und Schröder wört-
lich wiedergegeben, weil schon die Kenntnis der gesperrt gedruckten
Stellen, die, von mir hervorgehoben, im Originale im gleichen Drucke
dastehen, dem guten Kenner der Sexualität verraten, daß es sich bei
der Friedmannechen Krankheit oder der „Pyknolepsie" um autoerotische
Akte handelt, wie sie bei Kindern und selbst bei Säuglingen sehr häufig
und gerade in diesem Alter in gehäufter Form auftreten. Die Schil-
derung eines Orgasmus im Kindesalter ist uns schon von verschiedenen
Kinderärzten gegeben worden x) , aber sie ist noch immer nur einigen
Auserwählten bekannt und wird von ernsten Forschern, die das sexuelle
Leben des Kindes nicht sehen wollen, beharrlich ignoriert und übersehen.
Der veränderte Ausdruck im Gesicht, das Drehen der Augen nach oben,
das Strecken der Extremitäten, das Murmeln einzelner Worte ent-
sprechen dem Eintritt des Orgasmus, der nach allerlei onanistischen
Manipulationen, Wetzen, Reiben, Aneinanderpressen der Beine (die
einfachste und häufigste Form, die beim weiblichen Geschlecht auch im
späteren Alter persistiert) zustande kommt. Darum hat die Kinder-
epilepsie oft keine Folgen. Verschiedene Ärzte haben darauf hin-
gewiesen, daß so oft im Kindesalter Epilepsie diagnostiziert wird, die
dann später vollkommen verschwindet. Eine Rundfrage unter den Eltern
vieler epileptischer ' Kinder hat nach zehn Jahren die überraschende
Tatsache ergeben, daß die meisten geheilt waren.2)
Verschiedene Krampfanfälle der Kinder, welche für epileptisch
gehalten werden, sind auch nur Äquivalente der Onanie. Immer werden
wir die zwei Formen beobachten können: Lawinenartig anschwellenden
>) Vergl. besonders die Arbeiten des Freudschülers Friedjung: „Erfahrungen über
kindliche Onanie", Zeitschr. f. Kinderheilkunde, 1912 und „Erlebte Kinderheilkunde",
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1919.
') Zappert: Zur Prognose der Epilepsie im Kindesalter. Med. Klinik. 1912. Kr. 6.
12 Erster Teil. Die Onanie.
Orgasmus und dann Abklingen oder einen leichter betonten, aber fast
permanenten Orgasmus.
Freud ist auch der Ansicht, daß alle Kinder onanieren und seine
berühmten „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" haben diesen Stand-
punkt deutlich genug vertreten. Freud sieht in der Kinderonanie die
erste Onanieperiode, die nicht lange dauert und auf die dann eine Latenz-
zeit folgt, in der die Onanie ganz aufgegeben wird. Wir sehen in der
Tat, daß die Säuglingsonanie bald aufhört. Die Mädchen hören auf
die Hand hinunterzugehen und in der Schamspalte zu halten, die Knaben
reiben nicht mehr an den Genitalien. Fraglich ist' mir aber, ob die
Onanie wirklich aufhört. Die Kinder stehen schon unter dem Einflüsse
der Erziehung Die Wärterin nimmt die Hand weg und schreit: „Pfui!
Hier darfst du die Hand nicht halten!" Dem Knaben wird ein Klaps auf
die Hand gegeben. Es beginnt das Verstecken der Kinder vor den Eltern.
Die Kinder geben die Onanie an den Genitalien auf und benützen zur
Lustgewinnung die erogenen Zonen. Die offene Onanie wird zu einer
larvierten.
Ich glaube also nicht an die Latenzperiode, die uns Freud be-
schreibt. Ich glaube an das permanente Fortbestehen der Onanie mit
zeitweiligen Pausen. Ich möchte aber sagen: Beim Neurotiker tritt die
scheinbare Latenzperiode deutlicher zutage als bei dem Normal-
menschen.
Eine Reihe sehr gut beobachteter Fälle liefert mir den Beweis,
daß die Onanie ein ganzes Leben bestehen kann — ohne irgend eine
Latenzperiode. Wo diese Latenzperiode eintritt, ist sie ein Produkt
der Verdrängung und eigentlich schon der Beginn der Neurose. Wir
werden später bei der Besprechung der therapeutischen Maßnahmen
sehen, welch unheilvollen Einfluß die Abwehrmaßregeln der Umgebung
auf das Kind haben.
Freud äußert sich über die Latenzperiode nach der Säuglings-
onanie mit einer gewissen Reserve und gibt zu, daß Abweichungen vor-
handen sind :
„Unter den erogenen Zonen des kindlichen Körpers befindet sich
eine die gewiß nicht die erste Rolle spielt, auch nicht die Trägerin der
ältesten sexuellen Regungen sein kann, die aber zu großen Dingen in
der Zukunft bestimmt. Sie ist beim männlichen wie beim weiblichen Kind
m Beziehung zur Harnentleerung gebracht (Eichel, Klitoris) und beim
ersteren m einen Schleimhautsack einbezogen, wahrscheinlich damit
es ihr an Reizungen durch Sekrete, welche die sexuelle Erregung früh-
zeitig anfachen können, nicht fehle. Die sexuellen Betätigungen dieser
erogenen Zone, die den wirklichen Geschlechtsteilen angehört, sind ia
der Beginn des später „normalen" Geschlechtslebens."
i
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 13
„Durch die anatomische Lage, die Überströmung mit Sekreten,
durch die Waschungen und Reibungen der Körperpflege und durch gewisse
akzidentelle Erregungen (wie die Wanderungen von Eingeweidewürmern
bei Mädchen) ist dafür gesorgt, daß die Lusterapfindung, welche diess
Körperstelle zu ergeben fähig ist, sich dem Kinde schon im Säuglingsalter
bemerkbar maehe und ein Bedürfnis nach ihrer Wiederholung erwecke.
Überblickt man die Summe der vorliegenden Einrichtungen und bedenkt,
daß die Maßregeln zur Reinhaltung kaum anders wirken können als die
Verunreinigung, so kann man schwerlich die Absicht der Natur ver-
kennen, durch die Säuglingsonanie, der kaum ein Individuum entgeht,
das künftige Primat dieser erogenen Zonen für die Gesehlechtstätigkeit
festzulegen. Die den Reiz beseitigende und die Befriedigung auslösende
Aktion besteht in einer reibenden Berührung mit der Hand oder in einem
gewiß reflektorisch vorgebildeten Druck durch die zusammenschließenden
Oberschenkel. Letztere Vornahme scheint die ursprünglichere zu sein
und ist die beim Mädchen weitaus häufigere. Beim Knaben weist die
Bevorzugung der Hand bereits darauf hin, welchen wichtigen Beitrag
zur männlichen Sexualtätigkeit der Bemächtigungstrieb einst leisten
wird."
„Die Säuglingsonanie scheint mit dem Einsetzen
der Latenzperiode zu schwinden, doch kann mit der
ununterbrochenen Fortsetzung derselben bis zur
PubertätbereitsdieerstegroßeAbweichungvonder
für den Kulturmenschen anzustrebenden Entwick-
lung gegeben sein. Irgend einmal in den Kinderjahren nach der
Säuglingszeit pflegt der Sexualtrieb dieser Genitalzone wieder zu er-
wachen °und dann wiederum eine Zeitlang bis zu einer neuen Unter-
drückung anzuhalten oder sich ohne Unterbrechung fortzusetzen. Die
möglichen Verhältnisse sind sehr mannigfaltig und können nur durch
genauere Zergliederung einzelner Fälle erläutert werden. Aber alle
Einzelheiten dieser zweiten infantilen Sexualbetätigung hinterlassen die
tiefsten Eindrucksspuren im (unbewußten) Gedächtnis der Person, be-
stimmen die Entwicklung ihres Charakters, wenn sie gesund bleibt und
die Symptomatik ihrer Neurose, wenn sie nach der Pubertät erkrankt.
Im letzteren Falle findet man diese Sexualperiode
vergessen, die für sie zeugenden bewußten Erinne-
rungen verschoben; ich habe 'schon erwähnt, daß ich auch die
normale infantile Amnesie mit dieser infantilen Sexualbetätigung in Zu-
sammenhang bringen möchte. Durch psychoanalytische Erforschung ge-
lingt es, das Vergessene bewußt zu machen und damit einen Zwang zu
beseitigen, der vom unbewußten psychischen Material ausgeht." („Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie", S. 42— 43.)
Es gibt also kein asexuelles Kind! Ich sagte, sein Geschlechtsleben
erwache schon in den ersten Lebenstagen. Es zeigt sich als Onanie und
als Freude an jeder erotischen Lust. Das Saugen an der Mutterbrust
ist gewiß ein erotischer Akt und in gewissem Sinne auch das Ludein, das
mitunter bis zum Orgasmus führen kann. Alle Ludelbewegungen möchte
ich aber nicht als Onanie ansprechen. Das Kind hat noch die unbefangene
14
Erster Teil. Die Onanie.
Freude an allen Reizzuständen des Körpers. Von allen Seiten strömt
ihm die Libido zu. Es befindet sich in einem förmlichen ständigen
Libidorausche. Von den Genitalien, von dem Munde, aus dem Anus, von
der ganzen Haut sammeln sich lustvolle Innervationen, die noch nicht
als verboten und Sünde gelten. Es ist eine Lustorgie, die der Erwachsene
nicht vergessen kann. Deshalb treffen wir unter den Neurotikern so
viele Menschen, welche die Säuglingszeit nicht überwinden können sich
nach ihr sehnen und den Säugling imitieren. Ich habe sie „ewige Säug-
linge" genannt.
Nun kommt die Erziehung und beginnt mit der traurigen Lehre,
daß das Leben keine Folge von Lustmomenten, sondern eine Kette von
Pflichten bedeutet. Es beginnt die Arbeit der Verdrängung, da alle lust-
betonten kulturwidrigen Regungen des Kindes, wie z. B. seine Myso-
phihe, von der Umgebung nicht geduldet werden. Es setzt der uner-
müdliche Kampf zwischen dem Egoismus und den sozialen Verpflich-
tungen ein, die in der Kinderstube beginnen.
Ich möchte hier nochmals betonen: Frühes Erwachendes
Geschlechtstriebes ist nicht die Ausnahme, sondern
die Regel. Koitus und Onanie im Kindesalter sind
nicht Zeichen von Degeneration und Entartung,
sondern im Gegenteil häufig die ersten Symptome
eines regen Geistes, einer starken Begabung, deren
erste Anfänge immer ein gesundes, urkräftiges
Triebleben darstellen.
Es ist dies der Trost, den ich allen Eltern sage, wenn sie zu mir
kommen und klagen, daß sie entdeckt hätten, ihr Kind sei schon so früh
sexuell erregt und onaniere: „Das kann das Zeichen sein, daß Ihr Kind
außerordentlich begabt ist und daß sich in ihm schon frühzeitig starke
Kräfte regen."
So teilt mir ein genialer Student der Medizin folgende eigene Er-
fahrungen mit: „Schon als kleines Baby von einigen Monaten sqll ich
angefangen haben zu onanieren. Ich hielt die Hände immer in der Scham-
gegend. Mein Penis soll vom ewigen Spielen immer gerötet gewesen
sein. Trotzdem man meine Hände unzählige Male von unten entfernte
gab ich sie immer wieder hin. Das weiß ich aus Mitteilungen meiner
Mutter. Des Nachfolgenden erinnere ich mich genau. Als vierjähriger
Knabe wurde ich von einem Sechsjährigen angeleitet zu onanieren. Ich
gewöhnte mich daran und onanierte 4-6mal in der Woche. Ich unter-
richtete alle meine Spielkameraden in der neuen Kunst. Im neunten
Jahre hörte ich, daß die Onanie schädlich wäre. Auch meine Mutter
warnte mich in sehr vorsichtiger Weise, ohne die Schäden zu übertreiben.
Tch gab ihr das Versprechen aufzuhören, konnte aber dies Versprechen
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie.
15
nicht halten. Im 11. Jahre gab ich das Onanieren auf, weil meine Freunde
es aufgegeben hatten und ich nicht schwächer sein wollte als sie. Mein
Ehrgeiz war stärker als mein Sexualtrieb. Ich war nur ein Jahr bis
auf einen einzigen Rückfall abstinent. Vom zwölften Jahre onanierte
ich wieder fast täglich, mitunter sogar 5— 6mal an einem Tage. Im
17. Jahre ging ich zu einer Dirne. Ich koitierte mit guter Potenz und
normalem Orgasmus. Aus Mangel an Geld und aus Angst, von den
Professoren bemerkt zu werden, zog ich die Onanie vor. Jetzt — ich
bin 21 Jahre alt — onaniere ich nur, wenn ich keine Frauen zur Ver-
fügung habe. Mein blühendes Aussehen beweist, daß die Onanie mir
nicht geschadet hat. Ich bin sehr kräftig, habe eine starke Muskulatur
und eine enorme Ausdauer in verschiedenen Sportsarten." Geistig er-
scheint dieser Mediziner weit über seine Jahre entwickelt. Er hat eine
enorme Belesenheit und große Bildung, spricht viele Sprachen und ver-
spricht, ein großer Gelehrter zu werden. Als Schüler war er immer faul,
war aber trotzdem infolge seiner glänzenden Anlagen immer einer der
Besten in der Klasse.
Es handelt sich um einen hochbegabten Menschen, dessen Trieb-
leben mit großer Entschiedenheit sehr früh einsetzte und eine Parallel-
erscheinung zu seiner Begabung bedeutet.
Ich will nicht vergessen, darauf hinzuweisen, daß auch das Gegen-
teil gar nicht selten ist. Daß auch abnorme Kinder, welche den Keim
einer schweren Geisteskrankheit in sich tragen, auffallend früh stark
zu onanieren anfangen. Dann wird später die Geisteskrankheit als
Folge der Onanie aufgefaßt, während das hemmungslose Trieblcben
bereits das erste Symptom der Krankheit gewesen ist. Aber bei diesen
Kindern findet man auch andere Zeichen der Degeneration, eine v e r-
spätete geistige Entwicklung, während die nicht psycho-
pathischen onanierenden Kinder oft eine auffallende Frühreife zeigen.
Manchmal ist die Diagnose jedoch schwer zu stellen und erst die
späteren Jahre belehren uns über den wahren Tatbestand. Wie wir uns
in solchen Fällen zu benehmen haben, das will ich später ausführen.
Ich möchte nur betonen, daß die Onanie bei starkem Widerstand der
Umgebung heimlich fortgesetzt wird, sich aber meistens in Formen
äußert, die ich als larvierte Onanie beschrieben habe.1)
Doch ich spreche immer von der Onanie als einer normalen Er-
scheinung und dies Buch soll die krankhaften Verirrungen des
Geschlechtstriebes beschreiben. Wenn man nur wüßte, wo das Kranke
anfängt und das Normale aufhört! Perversionen gelten als krankhaft
und sind bei allen Naturvölkern verbreitet, also im Grunde genommen
| >) Über larvierte Onanie. Sexualprobleme. 9. Jahrg., 2. EL, Februar 1913.
16
Erster Teil. Die Onauio.
naturlich. Sie werden aber von unserer Zeit als krankhaft empfunden
*ie ist das Normale in größerer Wertung gestanden als jetzt und nie
wurde im Dienste des Normalen mehr Abnormes, d. h. Naturwidriges
verbrochen. Ich habe eine zu tiefe Bewunderung für die Natur, als daß
ich mir herausnehmen wollte, sie zu korrigieren und üire Äußerungen
als krankhaft hinzustellen. Es wird meine Aufgabe sein, nachzuweisen
wie vieles von dem natürlich ist, was wir als krankhaft bezeichnen, und
wie viel Krankheit in unserem Bestreben steckt, die Natur zu verge-
waltigen. <
• m\Wmf -T ln die8em Buche den Glichen Ausdruck Perver-
sion (Naturwidrigkeit) nicht gebrauchen und mich eines anderen be-
dienen, den /. S. Kraus, vorgeschlagen hat : P a r a p h i 1 i e. Dieser
Ausdruck paßt in mein System besser hinein. Ich sehe nämlich in allen
sogenannten Perversionen „Parapathien", d. h. Störungen des Affekt-
lebens. Die Paraphihe ist also nur eine besondere Form der Parapathien
Psychosen werden von mir als Paralogien bezeichnet. Dies betone ich
nur zur Information des Lesers, der sich sonst an den neuen Ausdrücken
Paraphihe, Parapathie, Paralogie stoßen wird. Eine neue Auffassung
verlangt auch eine neue Nomenklatur, die etwas von dem Odium zer-
stört, das den Verirrungen des Sexuallebens anhaftet. Die sogenannten
Verirrungen und Laster" sind meist nW Variationen eines und
desselben Triebes! Und meine Werke sind eine Schilderung der Zu-
stande, welche die Moralisten insgesamt als „Laster" und , Folgen der
Laster" bezeichnet haben.
Und da wüßte ich mir kein besseres Beispiel als die Besprechung
der Onanie! Was für rückständige Ansichten herrschen über die Onanie
in Ärztekreisen, die leider in sexualibus nicht viel mehr wissen als ge-
bildete Laien, die ihren Krafit-Ebing, Block und Forel gelesen haben.
Und selbst berühmte Sexualforscher, die ihre ganze Lebensarbeit dem
Erkennen der Sexualprobleme widmen, wie z. B. Rohleder, sprechen von
der Onanie immer als dem „Laster" und können sich gar nicht genug
tun in dem Bestreben, die zahllosen Schäden der Onanie aufzuzählen
und die zahllosen nutzlosen prophylaktischen und therapeutischen Be-
helfe vorzuführen, welche das Laster „ein für allemal" ausrotten sollen.
Über die angeblichen Schäden der Onanie äußert sich Kraepelin
in ungemein temperamentvoller Weise. Es handelt sich freilich um
eugenische Bestrebungen und um Schaffung neuen Menschenmaterials.
Unter den „Arbeiten der vom Ärztlichen Verein München eingesetzten
Kommission zur Beratung von Fragen der Erhaltung und Mehrung der
Volkskraft" findet sich im Artikel Kraepelins „Geschlechtliche Ver-
irrungen und Volksvermehrung" (M. m. W. 1918, Nr. 5) folgende be-
zeichnende Stelle:
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie.
17
„Auch die Onanie ist trotz ihrer außerordentlichen Häufigkeit nur
ausnahmsweise ein dauerndes und unbedingtes Hindernis der Fort-
pflanzung. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle bleibt sie eine
vorübergehende Verirrung der Jugend- und Entwicklungsjahre, und auch
dort, wo sie beim Erwachsenen fortbesteht, braucht sie, die natürliche Ge-
schlechtsbetätigung nicht aufzuheben. Wo das dennoch geschieht, handelt
es sich ausnahmslos um psychopathische oder sonstwie krankhafte Ver-
anlagung, namentlich um die Anfänge der Dementia praecox. Begünstigt
wird eine solche Entwicklung in ersterem Falle durch den Eintritt
psychischer Impotenz, in letzterem durch die dem Leiden eigentümliche
„autistische" Abschließung von der Umgebung, die eine geschlechtliche
Annäherung wesentlich erschwert oder unmöglich macht. Ein Umstand,
der hier selbstverständlich nur als erwünscht bezeichnet werden kann.
Dagegen erscheint das Einwurzeln der Onanie bei Psychopathen auch
noch insoferne bedenklich, als sie bei diesen bestimmbaren Persönlich-
keiten eine dauernde Verschiebung des Geschlechtszieles begünstigen und
damit einer Reihe anderer geschlechtlicher Verirrungen die Bahn frei
machen kann. Weiterhin aber verbreitet sich die Onanie erfahrungsgemäß
sehr leicht durch Verführung, besonders jugendlicher Personen, so daß,
wo der Boden dafür empfänglich ist, die erwähnten Folgen sich auch
auf mehr oder weniger zahlreiche weitere Personen ausdehnen und da-
durch zu einer Gefahr für die Volksvermehrung werden können. Wenn wir
daher auch heute an die ehemals befürchteten schrecklichen Folgen der
Onanie für die persönliche Gesundheit nicht mehr glauben, so werden
wir darüber doch nicht im Zweifel sein, daß es dringend notwendig ist,
ihre Entstehung und ihre Verbreitung mit allen Mitteln zu bekämpfen."
Diese argen Übertreibungen und falsche Darstellung leistet sich
der Münehener berühmte Psyehiater im Dienste der Menschenver-
mehrung, als ob die Unterdrückung der Onanie die Fortpflanzung be-
günstigen würde. Wenn es sich aber nach Kraepelin um so furchtbare
Psychopathen handelt, die das „Laster" durch das ganze Leben schlep-
pen, so müßte man ihnen eigentlich dankbar 6ein, daß sie auf die Fort-
pflanzung verzichten und ihr asozialer Akt wird eine eugenischc
Maßregel.
Ich wünschte mir, mit Keulenschlägen in den ganzen Wust drein-
hauen zu können, um Platz für eine vernünftige, von Vorurteilen nicht
getrübte Auffassung zu schaffen. Ich glaube, daß mein Bestreben ver-
geblich ist und daß ich eher Spott und Hohn ernten werde als Aner-
kennung und Nachprüfung. Aber ich erfülle meine Pflicht als ehrlicher
Forscher und weiß, daß es nie eine größere und wichtigere Pflicht ge-
geben hat.
Da ich von den psychischen Störungen der Sexualfunktion sprechen
will, so hätte ich eigentlich kein Recht, mit der Onanie anzufangen.
Denn sie soll ja eine unendliche Reihe von physischen Störungen im Ge-
folge haben Und erst durch diese Schädigungen auf die Psyche wirken.
Stekel, Störungen doa Trieb- und Affektlobens. II. 2. AuB. 2
18
Erster Teil. Die Onanie.
Ich behaupte aber: Alle Schädigungen, die man der
Onanie zuschreibt, existieren nur in der Phantasie
der Arzte! Alle Schädigungen sind Kunstprodukte
der Arzte und der herrschenden Moral, welche seit
zwei Jahrtausenden einen erbitterten Kampf gegen
die Sexualität und alle Lebensfreude führt
• a ,Dfi°Ch+da7I0in Siäter! Jeder Weiß' was 0nanie ^ und doch
wird definiert und klassifiziert, eingereiht und eingeschachtelt, erst dann
gibt sich die Wissenschaft zufrieden. Rohleder >) definiert: „Unter
Onanie versteht man diejenige Betätigung des Geschlechtstriebes, bei
welcher die äußeren Schamteile nicht wie beim Koitus durch Vereinigung
und Friktion der männlichen und weiblichen Genitalien, sondern durch
Manipulierung mit den Händen bis zur Ejakulation, zur Ausspritzung
SÄT £eim weiblichen Geschlecht bis zum höchsten GiPfel g-
schlechtlicher Erregung gereizt werden, entweder allein durch die Hände
oder " durch irgendwelche Instrumente." Diese Definition ist weder'
richtig noch erschöpfend. - Sie berücksichtigt nicht die so verbreiteten
* ormen der psychischen Onanie, bei der es nie zur Berührung der Geni-
talien kommt sie vernachlässigt die Onanie an den erogenen Zonen
(z. B die mechanische Reizung des Afters), sie nennt jeden Lusterwerb
am geschlechtlichen Partner (durch gegenseitige Reizung) Onanie
Ich halte dafür, daß der Ausdruck von Havelock Ellis Auto
erotismus dem veralteten und mißbräuchlich angewendeten Onanie"
vorzuziehen wäre. Denn Onanie ist für mich im strengsten Sinne des
Wortes nur Autoerotismus. Die Onanie ist ein asozialer Geschlechts-
akt. Das ist ihr wesentliches Merkmal. Es gibt für Männer keine
Onanie beim Weibe, wenn sie ohne besondere Libido kohabitieren wie
viele Autoren annehmen. Es gibt für mich auch keine mutuelle Onanie
zwischen zwei Männern oder Frauen. Meine Definition lautet also-
Jeder sexuelle Akt, der ohne Mithilfe eines Anderen
vollzogen wird, ist Onanie.
Dabei kommen die Vorgänge der Phantasie nicht in Betracht
Denn in der Phantasie gibt es eigentlich sehr selten einen „auto-
erotischen Akt weil man ja dabei meistens eine oder mehrere Personen
als Objekte der Befriedigung zur Verfügung hat. Die selteneren Fälle
ausgenommen, in denen der eigene Körper zum Sexualobjekt wird, die
auf den Narzissmus (das Verliebtsein in sich selbst, die sogenannte
„Ichliebe , den „erotischen Egoismus") zurückgehen. Eigentlich ist
jeder onamstische Akt ein Symptom des Narzissmus. Denn die Lust
wird am eigenen Körper gewonnen, überdies zeigt eine genauere psycho-
') Die Masturbation. III. verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin, W 35
Fischers medizm. Buchhandlung H. Kornfeld, 1912.
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 19
logische Untersuchung der Liebesbeziehungen, daß jeder Mensch sein
Ich in der nächsten, sein Ich spiegelnden, Umgebung sucht und daß jede
Liebe im gewissen Sinne eine „Ichliebe" ist. Wir lieben u n s in Anderen
und hassen u n s in Anderen.
Wir bleiben also beim historischen Ausdrucke „Onanie", aber wir
verstehen darunter immer nur den „Autoerotismus". Wie weit käme
man, wollte man die verschiedenen Variationen des Liebesverkehres
zwischen Mann und Weib oder zwischen zwei Männern Onanie nennen!
Nach meinen Erfahrungen ißt der Koitus zwischen Eheleuten absolut
nicht die Regel. Zahllos sind die mir bekannten Fälle, in denen zwischen
Ehe und Liebesleuten statt des Koitus nur die gegenseitige Frictio
genitalium stattfindet. Die Motive sind verschieden. Teils aus Angst
vor Kindersegen, teils aber, weil der Orgasmus für beide Teile so stärker
ist. Auch geht es nicht an, zu sagen, zwei Homosexuelle hätten mit-
einander Onanie getrieben. Das ist eben keine Onanie mehr. Das sind
keine asozialen Akte, das sind schon Liebesbeziehungen zwischen zwei
Personen.
Merkwürdigerweise empfinden die wenigsten dieser Menschen diese
Akte als Onanie. Das Odium, das der Onanie anhängt, klebt vielmehr
am autoerotischen Akte. Das hat eine tiefe Begründung. Die seelischen
Vorgänge bei der solitären Onanie sind ganz andere, als die bei der Be-
friedigung durch einen anderen. Wir werden später beim Eingehen auf
die Psychologie der Onanie noch darauf zurückkommen müssen.
Wir kommen jetzt zur Beantwortung der wichtigen Frage: Ist
diese autberotische Betätigung schädlich oder nicht? In dieser allge-
meinen Fassung ließe sich die Frage kaum beantworten. Wir könnten
ebenso fragen: Ist. die Sexualität schädlich oder nicht?
Jeder „normale" Akt kann unter bestimmten Umständen und in
bestimmter Ausführung eine Schädlichkeit werden. Ein Übermaß von
Essen, Trinken, Schlafen und vieler anderer physiologischer Funktionen
kann durch falsche Anwendungsweise und durch Übermaß schädlich
werden. Meiner Erfahrung nach steht die Onanie an Schädlichkeit (wenn
wir von den sekundären seelischen Begleiterscheinungen absehen) in
gleicher Linie wie der sogenannte „normale" Akt. Es gibt verschiedene
Variationen des autoerotischen Aktes, die zu einer Reizung der Ge-
schlechtsdrüsen und zu Störungen der inneren Sekretion führen. Wir
müssen uns daher einen flüchtigen Überblick über die verschiedenen
Formen der Onanie verschaffen.
Wir können da unterscheiden:
A. Die Onanie ohne mechanische Reizung.
1. Durch die Produktion autochthoner Phantasien.
2. Durch obszöne Reden.
2*
20
Erster Teil. Die Onanie.
3. Durch Lektüre.
4. Durch den Anblick einer bestimmten Situation oder eines
bestimmten Körperteiles.
5. Durch verschiedene Affekte - hauptsächlich durch Angst.
Der fünfte Punkt bedarf einer kleinen Erörterung. Es gibt
Onanisten, die sich in Situationen bringen, in denen sie Angst empfinden
worauf unter großem Lustgefühl eine Ejakulation eintritt. Ein Mann
meiner Beobachtung machte einen kaum angedeuteten exhibitionistischen
Akt. Dieser führte nur eine allgemeine Spannung herbei. Dann kam die
Phantasie, er würde von einem Wachmanne beobachtet werden. Er er-
griff nun die Flucht, wobei es zur Ejakulation kam. Ein anderer
onanierte mit der Vorstellung des „Nicht Erreichens". Er richtete es
so ein daß er z. B. sich zu einem Zugesehr viel Zeit ließ, so daß er sich
im letzten Momente sehr „hetzen" mußte. Dann kam die Vorstellung -
Das wirst du nicht erreichen! Sofort setzte eine Angst
ein die Sich allmählich steigerte, bis es zum Orgasmus mit allen seinen
Begleiterscheinungen kam. Dasselbe konnte er auch durch die Lektüre
eines beliebigen Buches erzielen. Der Leser sagte sich plötzlich- Du
mußt in zehn Minuten mit dem Buche fertig werden. Damit du dich
aber nicht beschwindeln kannst, mußt du -laut lesen und jeden Vokal
genau und deutlich betonen." Er legte die Uhr vor sich hin und bald
hatte er wieder die gesuchte psychische Spannung des „Nicht Erreichend
durchgesetzt, die zum Auslösen des Orgasmus führte. Dieser Mann
konnte durch eine gewöhnliche Friktion kaum einen Orgasmus erzielen
Auch m solchen Fällen mußte die Phantasie des „Nicht Erreichens'" z„
Hilfe genommen werden, um den Orgasmus durchzusetzen.1) Ähnliche
Erscheinungen kann man bei anderen Affekten beobachten (Zorn, Haß
Mitleid, Scham usw.).
Wir können ferner unterscheiden:
B. Onanie mit mechanischer Reizung.
1. Mechanische Reizung ohne Zuhilfenahme der Phantasie. (Diese
Form ist sehr selten, da die Phantasie meist „unbewußt" bleibt
worüber wir noch ausführlich sprechen werden.)
2. Mechanische Prozeduren am Schlüsse der Phantasie.
3. Die Masturbatio prolongata. Die Ejakulation wird durch Auf-
hörender Friktionen oder Einschieben anerotischer Phantasien zurück-
') Hinter diesem Affekt steckt eine ganz bestimmte (verborgene) Phantasie
Auf den Kern reduziert, ließ sieh in dem beschriebenen Falle eine besondere Para-
plnlie« nachweisen, die ihm unerreichbar schien. Da er die Situation so gestaltete daß
er schheßhch den Zug oder das andere Ziel doch erreichte, so konnte die Wunsch-
pl.antas.e auch mit der Erfüllung abschließen, die sich im Orgasmus ausdrückte.
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 21
gehalten. Nach einer Pause kommt es zu neuen Friktionen oder Lust-
produktionen, die aber wieder vor dem Eintreten des Orgasmus einge-
stellt werden, so daß eine Verlängerung des sexuellen Aktes bis zu einer
Stunde und darüber hinaus durchgesetzt werden kann.
4. Eine besondere Form ist auch die von Rohleder zuerst be-
schriebene Masturbatio interrupta. Bei dieser Form wird der Orgasmus
überhaupt nicht herbeigeführt. Der Onanist begnügt sich mit der Vor-
lust und verzichtet aus hygienischen oder ethischen Motiven (Samenver-
lust, Angst vor Schmutz) auf den Orgasmus und die Ejakulation.
C. Endlich haben wir den „Unbewußten Auto-
er o t i s m u s" zu erwähnen. Die verschiedenen Formen der
Spermatorrhoe (z. B. beim Defäzieren) und die Pollutionen x) , manche
rätselhafte Krampfanfälle mit darauffolgender süßer Erschlaffung (bei
Kindern und Erwachsenen), kleinere und längere Absenzen sind ver-
steckte autoerotische Akte. Bei den Pollutionen macht der Träumer ent-
weder Friktionen oder die charakteristischen Bewegungen, welche den
Orgasmus herbeiführen. Auch die Defäkation wird bei solchen Menschen
unter Begleitung unbewußter analerotischer Phantasien ausgeführt.
Die Spermatorrhoe geht unter schwachem Lustgefühl oder leichtem
Kitzelgefühl vor sich. Übrigens ist zu erwähnen, daß es vielen Menschen
gelungen ist, die große Endlust dadurch zu maskieren, daß sie die Vor-
lust in kleinen Libidoteilen genießen. Sie kommt nicht mehr als Libido
zum Bewußtsein.
Solche autoerotische Vorgänge sind sehr häufig und meistens sehr
geschickt maskiert. Die Erwachsenen haben dabei z. B. keine Erektion.
Sie halten den infantilen Typus der Lustgewinnung fest, so daß eine
Urinabsonderung die Ejakulation ersetzt. (Enuresis!) Ähnliche Vor-
gänge sind beim Lutschen und beim Hutschen und bei verschiedenen
Muskelaktionen nachzuweisen. Diese Prozeduren sind in praxi nicht
so scharf geschieden, als ich sie hier geschildert habe. Denn es gibt
unzählige Kombinationen und Übergänge. So kenne ich einen Mann,
cer zuerst ohne Friktion mit phantastischen Vorstellungen einer Orgie
onaniert. Dann spannt er seine Muskeln auf das Äußerste an und setzt
so erst den Orgasmus durch. Andere können beim Turnen, Schwimmen,
Radfahren, Reiten durch Kombinationen mechanischer und seelischer
Reize zur Befriedigung gelangen.
Alle Menschen onanieren. Von dieser Regel gibt es
keine Ausnahmen, wenn man einmal weiß, daß es eine unbewußte Onanie
gibt. Man könnte sie auch die maskierte oder larvierte Onanie nennen.
*) Vgl. die tvett'liehe Schilderung der Pollutionen von Dr. S. A. Tannenbaum im
IV. Bd. (Die Impotenz des Mannes).
22
Erster Teil. Die Ouanie.
Einige dieser Formen habe ich bereits erwähnt. Aber es gibt deren
anzählige. Der Eine hat die Gewohnheit, mit dem Finger in den Anus
zu fahren, angeblich weil er den harten Stuhl herausbringen muß. Denn
die Lustgewinnung auf dem maskiert autoerotischen Wege wird immer
„rationalisiert". Der Zweite fühlt ein heftiges Jucken im Mastdarm
so daß er immer kratzen muß. (Häufig bei Hämorrhoidariern, die auch
die „süßen Lustgefühle" bei diesem Jucken und Kratzen betonen.) Die
Dritte leidet an einem Pruritus vaginae, der sie zum Kratzen zwingt
* ach dem Orgasmus hört das Jucken allmählich auf. Diverse Spiele mit
der Zunge, das Kratzen der Haut, das Nasenbohren, manche Tics ge-
hören in dieses Gebiet. Charakteristisch ist dabei immer, daß der
Charakter der Lust so mitigiert erscheint, daß er dem Beteiligten gar
nicht als „erotisch" zum Bewußtsein kommt. Beim Manne wird die
Phnr'^rT gTanYU8geSchaltet- Die Erektion würde ja den sexuellen
Charakter der Lustgewinnung sofort verraten. Selbst die Ärzte kennen
üon1 ^e tr "TT C1Wakter dleSer Gewinnung Ä
!Z J? S~°rrl>oe wird «* besondere Schwäche des Sexual-
apparates au gefaßt. Dieser Ansicht widerspricht die Tatsache daß
noch immer das beste Mittel gegen Spermatorrhoe regelnder Ge
chlech -erkehr 1S Wenn eben eine andere Form der LustgewTnnung
zur Verfugung steht, ist die Spermatorrhoe überflüssig
,„«* ?f "T1^ ^ TatSaChe der allge^nen Säuglingsonanie
bXeiL SpH16 qUltäre Terbr1tUnS ^ °nanie im «Päterfnllt
bestreiten. Sehen wir einmal von der Säuglines und THn,w u
und versuchen wir iestzueteHen, wie viele UeZZ^tlTZm
dem Autoerotismus huldigen. *-uDertat
stellt gpß 1St diefahl d/rn°nanierenden Menschen? Ernßte Forscher
stellen den Prozentsatz auf 90% und darüber. Selbst Rohteder gibt
eine so hohe Ziffer zu. Dr. Meirowsky (Köln) stellte Rohleder seine
private Statistik, die er einer brieflichen Anfrage bei Ärzten verdankt
zur Verfügung. Von 88 Ärzten hatten 78 masturbiert, was 88 7%
ergibt. Rechnen wir aber die Fälle von larvierter Onanie hinzu über
die wir noch sprechen werden, so können wir ruhig behaupten, daß alle
Menschen onanieren. Die Nicht-Onanisten sind die Ausnahme. Ich habe
einige solcher Exemplare gesehen. Es waren die schwersten Neurotiker
und auch da ergab die genaue analytische Durchforschung, daß sie un-
bewußte Onanie trieben. Eine sexualpädagogische Enquete in Budapest
aber hatte sogar 96% Onanisten ergeben. Ich meine natürlich Menschen
weiche m ihrem Leben überhaupt jemals onaniert haben.
Wie verbreitet die Onanie ist, das beweist die neueste kleine
Statistik von Johannes Duck (Sexualprobleme, 10. Jahrgang Heft 11) •
90.8% seiner Befragten gaben die Onanie zu. Nehmen wir jetzt die
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 23
Fälle von unbewußter Onanie dazu, ferner den Prozentsatz der Lügner,
die es in solchen Fällen immer gibt, und man wird meinen Satz unter-
schreiben müssen : Alle Menschen onanieren! 75% der Be-
antworter sagten aus, daß sie keinen Schaden von der Onanie verspürten.
Über die Zahl der Onanisten äußern sich andere Autoren, wie folgt:
Marcuse 92%, Herrn. Cohn 99% und Oskar Berger (Arch. f. Psychiatrie,'
Bd. 6, 1876) 100%. Wie müßte also das Menschengeschlecht aussehen,
wenn dieses „furchtbare Laster" in der Tat schädlich wäre? . . .
Und doch seilen wir eine Reihe von Schädlichkeiten, die immer
n n. c h onanietischen Akten auftreten. Wir hören, daß die Leute gleich
danach oder am nächsten Tage sich matt und müde fühlen, daß sie über
Kopf- und Kreuzschmerzen klagen und unfähig zur Arbeit scheinen usw.,
eine Erscheinung, die Ferenczi „Eintagsneurasthenie" genannt
hat. Ich kann jedoch den Beweis liefern, daß diese Eintagsneurasthenie
ein psychogenes Gebilde ist. Ich habe viele Menschen gesehen, welche
diese sogenannte Eintagsneurasthenie sofort verloren haben, nachdem
sie von mir belehrt wurden, daß der onanistische Akt als solcher voll-
kommen unschädlich und harmlos ist und daß nur ihre Angst ihnen
einen Schaden vorgetäuscht und dadurch auch erzeugt hat.
Unzählig sind die Kranken, die mir beweisen wollten, daß sie nach
der Onanie die sonderbarsten Schwächezustände erleiden. Der eine kann
nichts arbeiten, der andere fühlt sich wie zerschlagen, der dritte er-
krankt an Migräne, der vierte zeigt eine schwere Depression, der fünfte
ist verstopft, der sechste hat heftige Herzbeschwerden, der siebente
Schmerzen im Hoden oder im Anus, der achte einen schier unerträg-
lichen Kreuzschmerz. Ich sah Hypochonder, welche mir bewiesen haben,
daß sie nach einem onanistischen Akte um ein Kilo an Gewicht ab-
nahmen. Die Gewichtsabnahme war die Folge eine6 pathologischen
Schwitzens infolge der Angst vor den grauenhaften Folgen.1) Alle
diese Beschwerden sind die Folge von mächtigen Autosuggestionen,
welche jene Symptome erzeugen, vor denen sich die Kranken fürchten.
Auch die Besserungen nach dem Aussetzen der Onanie beweisen nichts.
Die Onanisten zählen die Tage, welche sie onaniefrei verbracht haben,
und fühlen einen ungeahnten Kräftezuwachs. Der Zauber dauert nicht
lange. Entweder sie werden wieder rückfällig und sind so unglücklich
über ihre eigene Schwäche, daß sie sogar zu einer Kastration bereit
wären, um Leben und Gesundheit zu retten, oder sie erkranken nach
t
*) Der Kranke zeigte den bekannten Heißhunger der Sexualhypochonder nach
onanistischen Akten. Diese Kranken versuchen die Samenverschwendung durch eine
übermäßige Ernährung wettzumachen. Unser Patient verzehrte nach'einem onanistischen
Akte am nächsten Tage 20 Eier, selbst in der Kriegszeit, in der diese restitutio ad
integrum ihm ein kleines Vermögen kostete.
24
Erster Teil. Die Onanie.
dem kurzen Irühling der Genesung an einer schweren Neurose, die sie
nicht ; als Folge der Abstinenz, sondern als Folge der Onanie auffassen.
Der furchtbare psychische Konflikt ist es, der die Onanisten ihrer
seelischen Energien beraubt und sie schwer schädigt. Ein großer Teil
ihrer seelischen Energie wird im Kampfe gegen die Onanie' aufgezehrt.
a,IRk^T \ Gren Pßychischen Kampf, den die Onanisten
auskämpfen müssen ehe es zum Akte kommt. Sie binden sich mit
ausend Eiden, mit Gebeten, mit Versprechungen usw. Sie haben sich
£ Sril mtr fallen- Dieses Mai eom - d- «*
T$J ? ? a,ier Elde Und Vor8ätze erlie?en si* wieder dem
Tnebe und werden rückfällig.- Dor seelische Katzenjammer der Nieder^
wSlfft1 "" SChWere Depressi0n" °™ ^mmt
jer Einfluß der bekannten Abschreckungsbücher und der wohlgemeinten
Erz ehungsemflusse der Lehrer, Eltern und des Hausarztes ES
mehr Schaden angestiftet, als die Onanie selbst
Alle diese Hemmungen bilden beim Onanisten schwere psychische Kon-'
täuscht, einer Krankheit, die meiner Erfahr ™u
rt t n i c h t e ■ x i . t i e r t und die nur so la„ge Sä»' '*
lange man eich nicht bemüht, hinter ihr die psychT.! " Sh
Angstneuroee Zwangsneurose, Hypochondrie «ÄLT^Ä,
ein eueres Leiden (Schizophrenie - Cyfclothymie - psyeZathi* he
Mmder.er igkeit) herauszuschälen. Klärt man die MeLZ» ■
Harmlosigkeit des autoerotischen Aktes auf oder haben sie diese yer
schiedenen Hemmungen nicht erhalten, so tritt anch keine Depression
nach der Onanie auf, ja, man kann wiederholt hören, daß die Leute sich
nach emem autoerotischen Akte erfrischt fühlen und ihre Angstzustände
und Zwangsyorstelhmgen zurücktreten. «ustanae
Wie wären sonst die folgenden Beobachtungen zu erklären? Ein
dre,undzwanz.gjähriger Jüngling mit allen Zeichen einer schweren
Neurose gibt an daß er seit zwei Jahren die Onanie aufgegeben hat
kann/rT, fV .TV ^ An^tz»««nden und Schlaflosigkeit. B*
Angstn r s 7t ^ ™f™ks™ ■«*», daß Onanisten der
unC el%7 k Venn 8fe dle °nanie aufgeben- Sie "■*• sich
Tdt Arz Tft -V M wMle ? ,eben' DfeSe feine Beobachtung kann
W.h', *? ^'r 6ehen di6 «»ersten Neurosen, wenn die
i-eute die lange geübte Onanie aufgeben. Dann wird infolge
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 25
eines Trugschlusses die Neurose als Folge der
Onanie aufgefaßt. Es ist aber gerade das Gegen-
teil wahr. DieNeurose ist eine Folg e der Abs tinenz.1)
Auch der Jüngling, der die Onanie aufgegeben hat und schwer er-
krankt ist, leidet an der Abstinenz. Wir geben ihm die Onanie frei, da
er nicht dazu zu bringen ist, ein Weib aufzusuchen, und siehe da, der
vorher kranke Mensch wird vollkommen gesund und zeigt gar keine
Zeichen einer Parapathie.
Es ist interessant, daß die gleichen Störungen
bei. Sexual-H y p o chondern auch nach d e n n o r mal e n
Geschlechtsakten auftreten. Der Sexual - Hypochonder
zittert vor den schädlichen Folgen der Samenverschwendung und produ-
ziert die bizarrsten Krankheitssymptome post coitum. Oft genügt
eine einfache Aufklärung über die Harmlosigkeit der Samenverluste,
die sogar ein organisches Stimulans für den Stoffwechsel bilden und
die Vitalität steigern, die Oxydationen anregen, lebensanregend und
lebenserhaltend wirken, und die vermeintlichen Krankheitssymptome
zerstieben in nichts und erweisen sich als Folgen der lächerlichen Auto-
und Heterosuggestion.v
Solcher Beobachtungen könnte. ich Hunderte anführen. Ich wähle
aus meiner Erfahrung nur einige prägnantere Fälle hervor, die uns den
gleichen Zusammenhang zeigen werden. Unbegreiflich ist es mir, daß
ein Forscher wie Freud, der doch auf das Typische der Kinderonanio
hingewiesen hat, zum Trugschlüsse kommen konnte, die Onanie ver-
ursache eine Neurasthenie, und daraus eine „Aktualneurose"2) kon-
struierte. Sehen wir uns einen, solchen Neurastheniker etwas näher
an und erforschen wir, ob seine Symptome auch wirklich die Folge der
Onanie sind.
Fall Nr. 1. Herr T. 0., ein Dozent der Medizin,, aus dem. Auslande zu-
gereist, stellt sich mir als typischer Neurastheniker vor. Er leidet — jetzt
ein 34jähriger Mann — an einem furchtbaren Kopfdruck, der sich meistens
des Morgens einstellt und erst im Laufe des Tages besser wird. Seine Ver-
dauung liegt ganz darnieder. Er ist meist obstipiert, muß Abführmittel
') Da nach Freud die Onanie die Ursache der Neurasthenie ist, das
Aufgeben der Onanie zur Angstueurose führt, so bliebe den armen „Neu-
rasthenikern" nur die bange Wahl zwischen Neurasthenie oder Angst-
neurose, es sei denn, sie hätten sich zu einem ^normalen Geschlechts-
verkehre" entschlossen, welcher Weg, wie wir bald sehen werden, ihnen
meistens versperrt ist.
2) Freud kennt zwei Aktualneuroseu, die ohne psychogenes Moment, uur
durch die physische Schädlichkeit der Sexualität zustande kommen: 1. Die Angst-
neurose (Ursache meist eine frustrane Erregung, wie Coitus interruptus). 2. Die
Neurasthenie.
26
Erster Teil. Die Onanie.
ShZfr a/T rtChten A/Petit' klagfc über eincn faden> Pappigen Ge-
schmack m Munde. Er empfindet keinen rechten Geschmack bXlsen
AK was er ißt, wird ihm zu Stroh und hat den gleichen Geschmack Er
fühlt sich müde, matt und abgeschlagen. Oft fühlt er schon nach !wSL«2
eines Stockwerkes heftige Schmerzen im Rücken HezWonfen IT
Müdigkeit, daß er sich am liebsten niederlegen ShtfÄ £ gln t
seh af rig und muß sich durch Tee und schwarzen Kaffee müS^aXechf
halten. Er mochte immer schlafen und wenn der Abend kommet scWätt
wohl rasch ein, fahrt aber mit einem Angstschrei aus dem Schlafe auf und
kann sehr schwer wieder einseht fW. TT- u ++ \ 7 ,1 t?
5SÄÄW r KtfaF Ar52? - P"
aufgeweckter Ä'ÄSS ST"^ ^ ™d "*
begannt tSÄS Vt^Är f " wäre, und
zu beschränken. Wenn er aber SS e t M,l „' l Tf" deB Abcnde
nicht einschlafen über dioFW, • eme,Mal auslassen wollte, so konnte er
klar. Er onaSe ÄaÄÄÄÄ -' ? <?f f* ga"Z
Bild in den Traum überging. läÄ^Ä« Ut SST*
Ente, nie die Hohe erreicht hätte, wie bef der Onanfe Kr toZte da"
*S ^ Sber trote 'wechiedener Liebschaften, zu denen er bald
gelangte, noch immer des Abends onanieren müssen. Auch der Koitus M.
auf ihn eme einschläfernde Wirkung und er schlafe oft in den Irmen eint
Frau erm Aber es gäbe dann bald ein angstvolles Erwachen, wahrend dt
Vor vier Jahren hatte ihm Prof. X. geraten, die Onanie schrittweise"
aufzugeben und nur mit Frauen zu verkehren. Er habe fem« eile 1
Willensanstrengung durchgeführt. Es sei aber nicht besser geworden im
Gegenteil! Seit dieser Zeit hätten alle nervösen BeschwerdT begönnen
Vorher war er eigentlich gesund, er machte sich nur Gedanken ob die Onon?.
nicht schädlich wäre. Er suchte nun den erwähnten ProTessor tTÄ
MwÄT ?T abzub™hen- Seit damals träten erst die schädlichen
Folgen der Onanie hervor Nun habe er meine Publikation übe, die Onan™
gelesen und es war ihm sofort klar, daß es sich bei ihm auch so verhalte Tch
m?r " u,raSthenlech' sat «* "ie Onanie aufgegeben habe. Doch künnenst
E kl *ng? ""e meme S-™Pt0me damit z™hangen? Ich finde kern
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 27
Ich setzte dem Kollegen nun auseinander, wie der Kopfdruck des soge-
nannten Neurasthenikers entsteht. Er ist nicht toxischer Natur, sondern die
Folge eines beständigen Kampfes im Innern des Kopfes. Im Gehirn tobt die
Schlacht zwischen den rebellischen Gedanken, die deutlich bewußt werden und
sich in Taten verwandeln wollen, und den Hemmungen des Bewußtseins. Dieser
Kampf verstärkt sich bei Nacht. Deshalb das Aufschrecken, wenn die rebel-
lischen Gedanken zu siegen drohen, deshalb am Morgen das Gefühl der Mattig-
keit, weil der Kampf die ganze Nacht nicht ruhte. Und am Morgen ist der
Zustand am schlimmsten, weil die Gedanken in das Bewußtsein brechen wollen
und das Bewußtsein sich mit aller Kraft zur Wehre setzen muß. Aber auch
am Tage geben diese aufrührerischen Wünsche keine Ruhe. Sie wollen wieder
Bewegungsfreiheit und diese haben sie vorläufig nur im Schlafe als Traum-
gestalten. Deshalb die Schläfrigkeit. Das „nebenbewußte" Ich will herrschen.
Man nickt für einige Minuten ein, damit der verdrängte Wunsch doch auch
einige Sekunden im Gehirne ungestört hervortreten kann. So ein Zustand ist
qualvoll und raubt alle geistige Energie. Alles zersplittert sich in inneren
Kämpfen. Solchen Menschen werde die Welt lästig und sie verlieren die
Lebensfreude, und das äußere sich als Appetitlosigkeit und Verstopfung, die
ja die Folge jeder Depression und Verlangsamung des Stoffwechsels sei.
„Welches sind aber meine rebellischen Wünsche? Was läßt mich nicht
schlafen? Wogegen kämpfe ich?"
„Gegen den Wunsch zu onanieren. Das wäre freilich oberflächlich ge-
sprochen. Besser würde ich mich ausdrücken: Sie kämpfen gegen jene Trieb-
richtung, welche Ihnen die Onanie ersetzt hat!"
„Ich kämpfe nicht mehr gegen die Onanie. Ich habe gekämpft, fühle
aber jetzt gar keine Versuchung mehr."
„Das ist nur scheinbar. Der Kampf ist für das Bewußtsein erledigt.
Für die neben- und unbewußten Elemente Ihrer Psyche tobt er jetzt stärker
denn je. Denn Ihr Leiden, die „Neurasthenie", ist das Symptom des Kampfes.
Sie ist das Zeichen eines seelischen Konfliktes! Oder gibt es noch andere
Konflikte, welche Sie mir verschwiegen haben?"
So geht unsere Rede hin und her. Der Patient ist nicht befriedigt von
unseren Auseinandersetzungen. Er fühlt, daß seine jetzige Neurasthenie die
Folge seiner Onanieabstinenz ist, aber er. kann es sich nicht erklären, wie
und warum die Onanie für ihn unersetzlich sein sollte. Er hat mehr Befriedi-
gung an Weibern als alle seine Bekannten. Ich erkläre ihm, daß die Onanie
mit einer anderen Sexualbetätigung zusammenhängen müsse. Er solle einmal
versuchen, sich über die Phantasien klar zu werden, die er beim Onanieren
hatte.
Die Antwort, die man in solchen Fällen zuerst erhält, heißt meistens:
„Ich habe mir immer eine Frau vorgestellt." Erst bei näherer Erforschung
kommt die spezifische, dem betreffenden Menschen eigenartige und unersetz-
liche Phantasie hervor.
So auch bei unserem Patienten. Er beobachtete sich und bemerkte mit
Erstaunen, daß er beim Einschlafen immer einen schönen nackten Knaben vor
sich sah und daß sich aus diesem stereotypen hypnagogen Traumbilde erst
der Traum und Schlaf entwickelte. Die weitere Analyse ergab das Vorhanden-
sein mächtiger homosexueller Triebkräfte, die sich in einer leidenschaftlichen
Knabenliebe äußerten. Dem Kranken waren diese Regungen nicht bewußt
worden. Erst seit er krank war, fühlte er Interesse für schöne Knaben und
28
Erster Teil. Die Onanie.
konnte sich förmlich in sie verlieben. Nie sei ihm der Gedanke gekommen
mit einem Knaben etwas anzufangen. . . . Während er dies spricht, errötet
er und ich merke, daß er sich an eine Szene erinnert. In der Tat' Voriges
Jahr habe er in Ostende mit einem Knaben gebadet, dem konnte er stunden-
lange zusehen und er wollte ihn auch ansprechen. Dann aber habe er die
Mutter des Knaben kennen gelernt und sie sei seine Geliebte geworden
Er hatte eine Transponierung vom homosexuellen Interesse auf das
Heterosexuelle vorgenommen und die Mutter dieses Knaben erwählt, weil an
mSS&X * haftete und er sie mit dem Knaben iden'
Wir sehen daß die Onanie hier einen bestimmten Zweck hat. Sie
ST hn tXt r ? f h0m08exuelle Betätigung, welche offenbar
für ihn lustbetonter ist als die heterosexuelle
Mrr lStsrh AUff bGn/er °nanie i8t die Neurose ausgebrochen, weil
wellr w ^^ nmPf ^^ die Horao^alität eröffnet wurde,
welcher wahrend der Onanieperiode psychisch erledigt war. Wir **
mußte. Bei den Frauen konnte er nur eine Komponente seiner Sexualität
Sl TiT " mfte " ^ ^ PhantaSle d6r Onanie bt»
Seme Traume und sein sonstiges Verhalten zeigen, daß seine aus-
gesprochene Bisexualität die Ursache seiner Neurose ist Daß e krank
:iiS« ss — t und ** h— *&£
Man stelle sich etwa vor, daß dieser Dozent ein Lehrer sei und
SToZn .T ' daß inrlchen Fäl,en die 0nanie ein Sch«
die Gesellschaft sem kann. Ich denke dabei an folgenden Fall:
m der Kindheit zu onanieren begonnen und diese Gewohnheit bis zum 53 Jatl
Ä ■* *X TT9* Jahren suchte er öffentliche Mädchen auf und hatte
schon mit 13 Jahren Verhältnisse mit jungen Dienstmädchen. Trotzdl
mußt, er weiter onanieren und mitunter auch vier- bis sechsmal im Ä
er ruhig war. Er konnte sich manchmal nicht anders beruhigen. Mit 53 Jahren
lt - » A 2?T SÄ WGil 6r gl3Ubte' Bie kÖnnte ihm sch^n. Er verkehrte
aber bis dahin täglich mit seiner Frau und mußte manchmal noch überd 1
ÄEÄ- ¥* ""T,1111* einei' b6Stimmten Phantasie onane
flLÄ- 7 ? u h°b ihnen die Röcke auf und trieb mi* ihnen
allerlei Kindereien, die einer bestimmten Szene seiner Kindheit entsprachen
Solange er onanierte, konnte er der Versuchung, dieTe
Fr£? \aS;n ln-WlrklÄchkei* umzusetzen, widerstehen
Er betont, daß er oft genug Gelegenheit dazu hatte. Es gäbe in jeder großen
Sta «„eformhce Kinderprostitution. Die betreffenden Kinder würden
die alten Herren sofort erkennen, welche auf sie „fliegen" und sich gleich kn
ZT?*\~SJ öei.eS ihm im Wiener Prater P«*«*. daß si<* ibnKinder
angeboten hatten. Er habe aber bisher leicht widerstehen können Er agte
Allgemeines. — Die soziale Funktion der Onanie. 29
s,ie davon und onanierte dann in einem Gebüsche. Jetzt sei er auf dem
Lande gewesen und dort hätten ihn zwei Kinder immer herausgefordert.
Schließlich sei er schwach geworden und habe sich mit ihnen eingelassen.
(Das Gericht fand diese Verführung durch Kinder lächerlich und unwahr-
scheinlich. Ich habe von manchen Frauen, die als Kinder ähnliche Szenen auf-
geführt haben, Geständnisse gehört, die solche schier unglaubliche Vorkomm-
nisse aus eigener Erfahrung bestätigen.) Kurz, er ließ sich mit den Kindern
ein, da er um keinen Preis der Welt wieder onanieren wollte. Nun hatte ihn
die Leidenschaft in den Krallen. Er wurde bei seiner Frau impotent und hatte
jetzt kein anderes Sinnen und Trachten als Kinder, die er sich um jeden
Preis verschaffen wollte und mußte. Schließlich kam er in die Hände der
Justiz und mußte seine Taten durch längere Kerkerhaft büßen.
Für diesen Menschen war die Onanie eine Rettung und ein Schutz.
Zugleich aber auch ein Schutz für die Gesellschaft.
Noch wichtiger scheint mir der nächste Fall zu sein:
Fall Nr. 3. Herr W. V., ein 34j ähriger Mann, onaniert seit dem achten
Lebensjahre mit kurzen Unterbrechungen. Er onaniert immer mit der Phan-
tasie, daß er ein Mädchen vergewaltigt und erwürgt. Mit 14 Jahren wurde
er von einem Kollegen über die Schädlichkeit der Onanie aufgeklärt und
erhielt auch ein Buch, in dem furchtbare Dinge über die Folgen dieses Lasters
standen. Er versuchte sich die Onanie abzugewöhnen. In den Zeiten der
Abstinenz traten die Phantasien so stark auf, daß er sich fürchtete, er könnte
«sich zu einem Verbrechen hinreißen lassen. Er begann wieder zu onanieren
und fühlte sich Yor seinen sadistischen Trieben sicher. Mit 18 Jahren versuchte
er normalen Verkehr mit einer Puella publica, war aber vollkommen impotent.
Mit 21 Jahren ein Suicidversuch, nachdem er drei Monate nicht onaniert hatte.
In diesen Zeiten der Abstinenz ist er furchtbar aufgeregt, wird von sadistischen
Träumen gefoltert und flieht alle Menschen, da er seiner nicht sicher ist.
Schließlich mußte er sich zu regelmäßiger Onanie entschließen. Er fühlt sich
bis auf seine krankhaften Phantasien gesund.
Kann man diesem Menschen die Onanie entziehen, wenn man weiß,
daß man eventuell ein Verbrechen provozieren würde?
Die Onanie hat in diesem Sinne eine wichtige
soziale Bedeutung. Sie ist gewissermaßen ein
Schutz der Gesellschaft, gegen unglückliche
Menschen mit übermächtigen Trieben und allzu
schwachen ethischen Hemmungen. Würde man die
Onanie vollkommen unterdrücken, die Zahl der
Sittlichkeitsdelikte würde ins Unglaubliche
steigen. Andrerseits schützt die Onanie manchen Onanisten vor
dem Verbrechen. Er tobt sich nur in seiner Phantasie aus und ist sozial
ungefährlich. So wird der asoziale Akt des Autoerotis-
muß zu einer sozialen Notwendigkeit.
Die Onanie.
ii.
Onanie und Neurose.
Denken ist nur ein Verhalten der
Triebe zueinander. Nietzsche.
In dem Kampf zwischen Trieb und Hemmung, den die ganze
Menschheit durchführen muß, ist die Onanie der Repräsentant dieses
Streites geworden. Das böse Gewissen des Onanisten entsteht nicht
immer durch die Belehrung der ominösen Rettungsbücher, die insgesamt
behördlich verboten werden sollten. Das böse Gewissen des Onanisten
entsteht autochthon, weil er sich etwas herausgenommen hat, was ihm
mit den ethischen Satzungen der Kultur nicht vereinbar erscheint
Unter Gewissen verstehe ich die Summe aller Hemmungen, die sich
zwischen Trieb und Tat eingeschaltet haben. Das Gewissen ist die endo-
psychische Erkenntnis der Differenz zwischen der individuellen Anlage
und den Forderungen der Kultur. Noch klarer ausgedrückt: Die Span-
nungsdifferenz zwischen dem Urmenschen und dem Kulturmenschen. Der
Kampf gegen alle kriminellen, egoistischen Triebe des Urmenschen ruht
keine Sekunde. Die Onanie wird zum Symbol aller Schuld, weil der
Geschlechtstrieb der Repräsentant aller Triebe wird. Die Verbindun-
zwischen den kriminellen und den sexuellen Trieben tritt sehr früh auf"
weil beide der Region des Verbotenen angehören.
Der Analytiker schaudert, wenn er den Urmenschen im Kultur-
menschen entdeckt. Er merkt mit Grauen, wie viel Geheimes Ver-
brecherisches, Grausames in allen Neurotikern schlummert. Und wie
häufig kann er konstatieren, daß beim Neurotiker alle verbotene Lust
sich m den onanistischen Akten entladen muß, wenn er sein seelisches
Gleichgewicht nicht verlieren will! Wie viele Lustmorde wurden - um
nur ein Beispiel anzuführen - nicht ausgeführt, weil die Onanie es
den Sadisten ermöglichte, ihre Instinkte in der Welt der Phantasien
auszuleben !
Die Onanie wird auf diese Weise eine Sicherung
der Gesellschaft gegen ihre Vergangenheit. Sie
Onanie und Neurose. 31
erfüllt eine bedeutsame soziale Funktion. Sie
schütztdasIndividuumgegendiestrengenStrafen
der Gesellschaft, sie behütet es vor dem „bürger-
liehen Tode" und bewahrt die Gesellschaft vor
seinen asozialen Trieben.
Ich betone diesen Umstand nicht ohne zwingenden Grund. Die
Autoren der modernen Schule machen einen strengen Unterschied
zwischen Onanie und Onanismus. Die Onanie, das ist der mäßig be-
triebene Autoerotismus, wäre harmlos und unschädlich. Das geben jetzt
fast alle ernsten Forscher zu. Aber der Onanismus, die schrankenlos
betriebene Onanie, wäre sehr schädlich und gefährlich. Wo liegt die
Grenze zwischen Onanie und Onanismus ? Bloch *) sagt in seinem vor-
züglichen, rühmlichst bekannten Werke:
' „Eine Grenze, wo die ungefährliche Onanie aufhört und der ver-
derbliche Onanismus anfängt, läßt sich generell nicht bestimmen. Die
Verschiedenheit der Individuen gestaltet auch die Reaktionen verschieden.
So erwähnt Curschmann einen geistvollen Schriftsteller, der, trotzdem
er seit 11 Jahren der Onanie gefröhnt, körperlich und geistig frisch ge-
blieben, und mit bedeutendem Erfolge literarisch tätig war. Gleiches
berichtet Fürbringer von einem Dozenten. Es ist hier mit der Onanie
wie mit dem Geschlechtsverkehr, dessen Wirkungen auch individuell ver-
schieden sind."
Ich bin der gleichen Ansicht. Nur vertrete ich die Anschauung,
daß die Schädlichkeiten von der psychischen Hemmung herrühren und
durch Autosuggestion und Suggestion der Ärzte zustande kommen.
Wir werden in unseren Krankengeschichten noch öfters auf diese Fragen
zurückkommen. Ich möchte hier nur gegen die Behauptung protestieren,
daß die Onanie die Ursache der Perversionen werden könne, eine An-
sicht, die auch Bloch vertritt. Er sagt:
„Die nahe Beziehung zwischen Perversionen und Onanismus liege
auf der Hand. Je häufiger der onanistische Akt wiederholt, je mehr die
normale Sensibilität abgestumpft wird, desto stärkerer und seltsamerer,
vom Gewöhnlichen abweichender Reize bedarf es, um Orgasmus herbei-
zuführen. Der Inhalt der lasziven Vorstellungen muß immer häufiger
variiert werden und wird bald ganz dem Gebiete des Perversen ent-
nommen. Allmählich nisten sich die perversen Ideen ein und werden
schließlich zu vollkommen geschlechtlichen Perversionen."
Und nun wird als Beweis der Fall von Tardieu angeführt, daß
ein Mann, der sieben- bis achtmal täglich onanierte, schließlich seine
Phantasie bis zur Schändung weiblicher Leichen erhitzte und zerrüttete,
endlich auch zur praktischen Ausführung dieser scheußlichen Idee über-
*) Das Sexualleben unserer Zeit. 41. biß 60. Tausend. Luis Marcus' Verlag, Ber-
lin 1909.
3'- v Erster Teil. Die Onanie.
ging, die deutlich sadistischen Charakter angenommen hatte. „Er ver-
schaffte sich den Anblick aufgeschlitzter Tierleiber, tötete Hunde grub
menschliche Leichname aus, alles, um dadurch seiner durch die Onanie
verderbten Phantasie und damit seiner Libido Befriedigung zu schaffen."
Das ist der gleiche Trugschluß, der bei der Beschreibung des
Zusammenhanges zwischen Onanie und Geistesstörung begangen wurde
Die Geisteskranken onanieren, weil ihre Hemmungen weggefallen sind .
Die Onanie ist die Folge der Geisteskrankheit
n i c h t u m g e k e h r t, eine Erkenntnis, die wir noch Griesinger zu ver-
danken haben. Der Kranke Tardieus kam nicht durch die Onanie zur
Perversion, sondern er onanierte, w e i 1 er pervers war, offenbar immer
mit der bestimmten perversen Phantasie, die ihm vielleicht unbewußt
war. Solcher fälle könnte ich eine Menge anführen. Welches Glück
für die Menschheit, daß wir nicht alle Phantasien kennen, welcjhe teils
bewußt teils unbewußt oder nebenbewußt jeden erotischen Akt be-
gleiten! Doch davon später. Kehren wir zum Thema der Schädlichkeit
der Onanie zurück und lassen wir uns durch einige Beobachtungen be-
lehren wie das Aufgeben der Onanie die schwersten Neurosen zur
rolge hatte.
Fall Nr. 4. Herr D L stud. med., 26 Jahre alt, sehreibt mir: „Ich habe
vor einiger Zeit Ihren Aufsatz über Onanie in den „Sexual-Problemen" Se-
esen und darin so viel Treffendes gefunden, daß es mich drängt, Ihnen einige
Mitteilungen über mein Sexualleben zu machen. Vielleicht werden sie Ihnen
in irgend einer Art dienlich sein. Ich war in sexueller Hinsicht ein sehr
truhreifes Kind. Ich verwandte die ganze Schlauheit eines aufgeweckten
Kindes dazu, um möglichst häufig die Genitalien meiner Umgebung zu sehen
bah ich einen nackten Mann oder eine, nackte Frau, so wurde ich von wol-
lustigen Schauern geschüttelt. Ich erinnere mich an solche Begebenheiten
die sich in meinem vierten Lebensjahre abspielten. Eine andere Erinnerung
aus meinem fünften Jahre ist für ewig in mein Gehirn gegraben. Ich wurde
unvernünftigerwei'se von meinen Eltern auf einen Ball mitgenommen. Dort ■
erblickte ich eine schöne Dame mit einem roten Rooke, der auf mich einen
unerhörten Eindruck machte. Ich wünschte mir damals, nackt mit ihr in
einem Bette zu liegen. Ich dachte jahrelang an diese Dame. Immer mit
Erektionen, die schon seit frühester Jugend sehr häufig waren Ich war
nicht heiter wie die anderen Kinder. Immer traurig, immer unzufrieden, immer
in Erwartung, immer wie hungrig. Keines der kindlichen Spiele machte mir
Freude.
Mein Bedürfnis nach Liebe war grenzenlos. Schon mit sechs Jahren
verliebte ich mich in ein kleines schönes Mädchen. Während die anderen
Knaben spielten, saß ich still bei meinem Liebchen, streichelte und bewunderte
es. Bis heute kann ich ohne einen Gegenstand der Liebe nicht leben. Ich muß
immer ein Ideal haben, in das ich verliebt bin.
Ich wurde im 12. Jahre von Kollegen zur Onanie verleitet. Ich legte
nur keine Beschränkung auf und onanierte täglich und oft auch mehrere Male
im tage.
Onanie uud Keurose. 33
Ich war 14 ins 15., da erwischte mich mein Vater. Er hielt mir eine
große Strafpredigt, erzählte mir, ich werde mich ganz krank machen, ich
werde einmal blöd werden, wenn ich nicht von der Selbstbefleckung ablasse.
Meine ganze Kraft ginge durch den Verlust des Samens dahin. Ich nahm mich
zusammen und ließ die Onanie ein halbes Jahr.
Nun erkrankte ich an Herzklopfen, Angst zuständen,
w.a r.sehr erregt und schlief sehr schlecht. Bi6 zum Auf-
geben der Onanie war ich ganz gesund und wußte nichts
von anderen Störungen, als von meinem ernsten Te m-
perament. Jetzt bekam ich Angst vor den Schularbeiten und vor lauter
Angst immer Pollutionen. Auch sonst stellten sich so viel nächtliche Samen-
ergüsse ein, daß ich lieber wieder onanierte. Ich war damals sexuell so erregt,
daß ich am liebsten Tag und Nacht onaniert hätte. Dabei war ich ein
glänzender Schüler und gab Proben eines außerordentlichen Gedächtnisses.
Ich brauchte ein drei Seiten langes Gedicht nur einmal durchzulesen und
konnte es schon auswendig, wußte, in welcher Zeile ein bestimmter Vers
stand. Ich konnte die schwersten Kopfrechnungen in unglaublicher Zeit zu-
sammenbringen.
Nun begann aber wieder der Kampf gegen die Onanie. Mit meiner Ge-
sundheit war es bald dahin. Ich begann an Kopfschmerzen und Herzklopfen
zu leiden. Mein Kopf schien mir wie ausgebrannt. In der Nacht wurde ich
von einem schrecklichen Urindrang befallen. Ich mußte jeden Moment auf-
stehen und zu urinieren versuchen. Immer war ich müde und schlechter
Laune und lebensüberdrüssig. In der Onanie legte ich mir die größte Be-
schränkung auf, betrieb sie aber weiter. Mit 16 Jahren hatte ich Gelegenheit,
einem Dienstmädchen bei zuschlafen. Meine Potenz war sehr gut, ich verkehrte
mit ihr viele Male in der einen Nacht.
Der Morgen nach dieser Nacht ist mir ewig unvergeßlich. Ich fühlte
mich als ein neugeborener Mensch. Mein Kopf war rein, mein Gemüt zufrieden,
die ganze Welt erschien mir wie ein Paradies.
Aber leider dauerte das Glück nicht lange. Das Mädchen verschwand
an diesem Tage aus dem Hause und mein Kampf gegen die Onanie fing wieder
an mit allen seinen .furchtbaren Folgen. Ich war 18 Jahre und fühlte mich
matt und schwach wie ein Greis. Ich lief zu Ärzten und klagte mein Leid.
Alle befahlen mir Zurückhaltung von der Onanie. Ich erhielt Brom, Kalt-
wasserkuren, Valeriana und keiner empfahl mir natürlichen Geschlechtsver-
kehr als einziges Mittel zur Heilung. Ich wurde abgeschreckt und hörte ganz
zu onanieren auf. Nun stieg meine Nervosität aufs höchste. Ich wurde direkt
trübsinnig, kämpfte mit Selbstmordgedanken. Nichts gelang mir, was ich
mir vornahm, über alles mußte ich mich ärgern. Ich litt an ewigen Kopf-
schmerzen, war so gereizt, daß man mit mir nicht auskommen konnte. Schon
früh morgens war ich schlechter Laune, die Glieder zitterten mir wie bei
einem alten Manne. Ich konnte meine Gedanken nicht konzentrieren, ich war
ewig zerstreut und geistesabwesend. Ein Gefühl, als ob der ganze Körper,
speziell die Mundhöhle verbrannt und vergiftet wäre. Dazu gesellten sich
ein ewiger Urindrang und ein unstillbares Herzklopfen.
Ich konnte nie im Zimmer bleiben, war immer draußen und immer in
Gesellschaft von Mädchen, die ich ideal liebte. (Aber ein Mädchen, das ich
ideal liebte, konnte ich nie entwürdigen und zu meiner Geliebten machen. Ich
Stekel, Störungen des Trieb- uud Affektlebens. II. 2. Auti. 3
u
Erster Teil. Die Onanie.
war in solchen Fällen impotent. Männerliebe war mir stets ein Ekel und
ich konnte sie nicht begreifen.)
Nun war ich vollkommen abstinent, um die Samenverluste meiner
Kindheit wieder einzubringen. Was half es mir? Manchmal legte ich mich
inä Bett, machte nur eine Wendung und schon kam es zur Ejakulation. Auch
bei Aufregungen kam es zu Pollutionen. Mein Gang wurde unsicher ich
traute mich keinem Menschen ins Antlitz zu sehen. Es flimmerte mir vor den
Augen. Ich hatte vor allem Angst, selbst vor kleinen Kindern. Flimmern
vor den Augen, Diarrhöen.
Ich stand vor der Matura. Da hatte ich wieder Gelegenheit, mit einem
Madchen im Hause durch drei Wochen täglich zu verkehren. Ich legte mir
keine Beschrankung auf. Mein Hirn wurde rein und klar und ich
konnte wieder studieren und spielend meine Prüfung
machen. . • .
Dann aber nahm ich mir vor, keusch in die Ehe zu treten. Ich wurde
,TnH ti,Sw , a^6 Z,uvo£1"nd noch schlimmer. Ich hielt mich für verloren
und glaubte daß nun die Folgen der Onanie aufgetreten seien. Erst Ihr Auf-
satz hat mich belehrt und aus mir einen neuen Menschen gemacht. Ich habe
ZJS ^\T ^f^ Und füMe mich geboren. Ich habe alle hypo-
chondrischen Ideen verloren und bin in jeder Hinsicht leistungsfähiger als
zuvor. Ich sehe ein, daß ich meine ganze Kraft auf einen überflüssigen Kamp
Kj Ä DerpG1fcfhlechtstrieb war doch immer stärker als meine W Ue
Ich hatte zahllose Pollutionen trotz aller Mittel, die ich anwandte. Nun bin
tröbS Zukunft* b6trachte die VerSangenheit nicht mehr als Quelle einer
Der Fall ist in mancher Hinsicht sehr lehrreich. Erstens gelang
dem jungen Manne der Übergang von der Onanie zum Koitus sehr leicht
ein Beweis, daß es sich nur um eine Notonanie handelte; zweitens aber
sehen wir, wie die schweren neurotischen Symptome erst hervortreten,
sobald er abstinent lebt. Es handelt sich um einen Menschen mit sehr
starkem Geschlechtstrieb, der ohne irgend eine Form der sexuellen Be-
tätigung nicht leben kann.
Ebenso lehrreich ist der nächste Fall:
Fall Nr. 5. Frau W. Q., eine Arztensgattin, wird mir überwiesen, weil
sie einmal ein Suicid ausführte und nun seit Monaten in der schwersten De-
pression lebt. Sie starrt stundenlange vor sich hin, spricht kein Wort
verweigert die Nahrung und magert schrecklich ab. Überdies hat sie Zwangs-
vorstellungen, daß ihre Kinder bald sterben werden, daß sie der Erziehung der
Kinder nicht gewachsen sei, daß ihr Mann keine rechte Frau an ihr habe usw.
Sie erzählt, daß das Leiden folgendermaßen entstanden sei. Sie hätte schon
seit dem vierten Lebensjahre onaniert und vielleicht noch früher. Aber an das
vierte Lebensjahr erinnere sie eich ganz genau, weil sie damals diese „Kunst"
einem anderen Mäderl vorzeigte und sie dann jede für sich durch viele Jahre
vor einander onanierten. Sie sei immer ein aufgewecktes Kind gewesen und
wußte die Onanie so zu verbergen, daß man zu Hause davon keine Ahnung
hatte. Das belehrte sie schon ein Instinkt, der ihr sagte, sie dürfe von diesen
Dingen zur Mutter und zur älteren Schwester nicht sprechen. Sie ent-
wickelte sich ausgezeichnet und war immer stärker als
Onanie und Neurose.
35
ihre Mitschülerinnen. Auch ihre Fortschritte in der
Schule waren ausgezeichnete. Sie onanierte mindestens einmal
täglich, manchmal auch mehrere Male.
So wuchs sie heran, wie alle anderen Mädchen, interessierte sich für die
schönen Künste, lernte vorübergehend malen und hatte keine Sehnsucht nach
Liebe, da sie sich durch die Onanie vollkommen befriedigt fühlte. Sie lernte
mit 18 Jahren ihren jetzigen Mann kennen, in den sie sich verliebte. Sie
heirateten nach einer längeren Verlobungszeit, während der es ihr auffiel, daß
sie wohl ein warmes Gefühl für ihren Mann hatte, aber von seinen Kü6sen
nicht sinnlich erhitzt wurde. Sie tröstete sich damit, daß ihre Liebe eine
geistige wäre, während die Onanie für ihre körperlichen Bedürfnisse aufkam.
Nach der Heirat mußte sie weiter onanieren, da sie die Umarmungen des
Mannes kalt ließen. Sie hatte nur ein Wohlgefühl, daß sie ihn besitze, und
freute sich, daß er sie so heiß begehrte, aber es kam nie zu einem Orgasmus.
Als ihr Mann einmal ihre Klitoris durch Friktion erregen wollte, war es ihr
unangenehm, und sie bat ihn, das zu lassen. Sie schämte sich. . . . (Es be-
stätigt sich immer wieder, daß das Schamgefühl sich an
die stärksten erogenen Zonen heftet.) Sie onanierte still für
sich weiter, widmete sich ihren Kindern, welche sie trotz fehlendem Orgasmus
ihrem Manne in der Zahl eines Vierteldutzend schenkte.
Da begann sie in der Bibliothek ihres Mannes herumzustöbern und
fand Geschmack daran, verschiedene Werke zu lesen. Sie las auch ein Buch,
das von der Masturbation handelte. Erst wußte 6ie nicht, wa6 das zu be-
deuten hatte, aber bald merkte sie, daß es sich um die Form von Befriedigung
handelte, welcher sie ihr Leben lang fröhnte. Dort las sie, daß die Onanie
furchtbare Folgen hätte. Besonders erschreckte sie ein Bericht, in dem es
hieß, „es hatte das gräßliche Laster bei diesem zarten Kinde die Gesundheit
arg zerrüttet"'. An anderer Stelle aber stand von den entsetzlichen Folgen
für die Nerven und den Geist, und es hieß: Wo die Folgen sioh nicht
gleich zeigten, da kämen sie später. . . . Nun war es ihr klar,
daß sie verloren war. Bisher war sie heiter und voll Lebenslust gewesen, 6ie
sang wie eine Lerche den ganzen Tag, machte die schwersten Arbeiten. Nun
wandelte sich alles in das Gegenteil. Sie wurde mißmutig, verschlossen, sie
hörte auf zu singen. Bisher wußte sie nichts von körperlichen Besehwerden.
Jetzt begannen Schmerzen in den Beinen, im Rücken und besonders im Kreuze,
die sich bis zur Unerträglichkeit steigerten. Es stand für sie nun fest, daß
sie sich auch innerlich geschädigt haben müsse. Im Buche war ja zu lesen,
daß heftige Schmerzen, Krämpfe, Konvulsionen, Hysterie, selbst Epilepsie
die Folge der Onanie seien. Die Schmerzen traten jetzt im Unterleibe auf
und wurden zur Zeit der Menstruation unerträglich.
Es war ihr nun sichere Gewißheit, daß sie infolge der Onanie so krank
geworden. Sie schwur sich, daß sie nicht mehr onanieren werde und hielt
den Schwur drei Wochen nach der verderblichen Lektüre. Dann überraschte
sie sich, daß sie in einer Art Halbschlummer onanierte. Ihr Entsetzen war
namenlos und sie fürchtete nun einzuschlafen, band sich ein Tuch um die
Schamgegend und fuhr immer mit Schrecken aus dem Schlafe auf. Trotzdem
überwältigte sie das Verlangen, so daß sie rückfällig wurde. Sie war nicht
imstande, sich ihrem Manne zu entdecken. Denn er hatte einen so hohen Be-
griff von der Reinheit der Frau, daß er sie sicher verachten und vielleicht
von sich weisen würde. Sie aber liebte ihn leidenschaftlich und konnte ohne
3*
36
Erster Teil. Die Onanie.
ihn nicht leben. In ihrer Verzweiflung beschloß sie, zu sterben, nahm eine
große Dosis Veronal und schrieb ihrem Manne einen Abschiedsbrief den wir
als erschütterndes Dokument menschlicher Leiden hier publizieren wollen
bie überstand die schwere Vergiftung, nachdem sie 30 Stunden geschlafen
hatte, ohne schädliche Folgen für den Organismus.
Der Brief lautete:
. Mein lieber Otto!
T,h «fiW°L?U tie:euBrief liest' bin ieh nicht meh1' unter den Lebenden.
trLll"! me!ne,Schulkd J* dem Tode, da ich nicht länger ein Leben er-
KÄ1 em'Ch dw schrecklich^en Laster verfallen bin, während
£r foni!? r TT W/S™ mUt So wißse denn: Ich fröhne seit
ne ttd ttl £ ^I d?u0»fatol Es Nami in der frühesten Kind-
ern Z a X m^ /n vr E,le f0rt Da ich merke> daß ich ™ schwach
skh Z m In , " ZeTS™hT? Jfrtig ZU Werden> da ich merke, daß
D ch lh m t " dle f hT kh(Sen FoIgen d^ Esters einstellen und ich
5EÄ ÄJ? kÖ~ * Ä so^l- h
«11p TiprLICnkann ni0ht S° Weiter leben! Habe Dank, Du Guter für
F u teicheer D^'ni^ ^t «"S"*4 hast Ich ^^ ^ir'e n
schenkt- Suoho Di, J^bens Dein Vertrauen und Deine Liebe
intrLn tu LT Z™*' *l Deiner WÜrdig ist! Kto die süßen
rvinaercnen. Von ihnen scheide ich am schwersten.
Verzeihe mir! Ich kann doch nichts dafür!
Meine letzten Seufzer gehören Dir.
Deine
. Dei tief erschütterte Mann versprach, ihr zu helfen und in dem schweren
Kampfe beizustehen. Sie versprach, ihm von jedem onanistischen Akte
sofort Mitteilung zu machen. Dies Versprechen, das ihr heilig war schilt
sie vor weiterer Onanie Aber wie böse entwickelte sich ihr Seelenleiden t
Sie onanierte nicht mehr, aber sie war schlaflos, hatte Weinkrämnfe mar-ht«
sich endlose Vorwürfe, kam physisch sehr herunter, so daß sie in ein Sann
tonum gebracht werden mußte. Als ihr der Arzt, nachdem er alle Mittel
vergeblich versucht, raten mußte, wieder zu onanieren und sie zu überzeugen
suchte daß die Onanie nicht die Krankheit hervorgerufen, sondern das Auf-
geben der Onanie verlor sie das Vertrauen zu ihm. Sie rief ihm zu: „Selbst
wenn ich wußte, daß ich gesund werde, ich könnte nicht mehr onariSen*
Ich habe viel zu viel mitgemacht, ich bin viel zu stolz darauf, daß ich jetzt
nicht mehr onaniere/- Ihr Mann aber, dem sie den Rat des Arztes mitteilte
oL a^ U 6t oU\dm ?anatori™ ™d machte dem einsichtigen Kollegen
in hl IT,!?? dJann ZU mir und erzählte mir alle Vorgänge, die
ich ber geschildert habe In der Analyse traten dann verschiedene Fixierungen
mit^aßZn $*rl?*/ie Gnm,?age der 0nanie gebildet hatten- E* t5at
unter großen Widerstanden eine die Onanie begleitende Phantasie hervor
welche immer wieder eine Szene enthielt:
Onanie und Neurose. 37
Sie war noch ein kleines Kind. Da kam ein großer Bub und hob ihr
das Kleidchen auf und begann sie an der Scheide zu kitzeln. Diese Phantasie
erwies sich als die Wiederholung einer infantilen Szene, in der ihr um sechs
Jahre älterer Bruder, eine Rolle spielte. Es ergaben sich Fixierungen an die
Familie und ausgesprochene homosexuelle Tendenzen. Nach der Analyse eine
große Besserung. Allerdings gelang es mir, die sonderbare Ablehnung auf-
zulösen, die sie gegen die Frictio clitoridis von Seite ihres Mannes an den
Tag legte. Es war das Erinnerungsbild an die pathogene Szene ihrer Ver-
führung, das sich aufdrängte. Etwa ein unbewußter Gedanke, der lautete:
„Wenn dein Mann wüßte, daß dein Bruder das mit dir getan hat und daß du
nicht unschuldig warst, al6 er dich heiratete!" Sie hatte eine Differenzierung
zwischen Mann und Bruder vollzogen. Für den Koitus war sie Virgo intacta,
für die Frictio nicht.
Eine weitere Determination ihres Selbstmordversuches ergibt der Um-
stand, daß der Bruder um diese Zeit geheiratet hatte und sie nicht zur
Hochzeit des Bruders fahren konnte, weil ihr Mann und ihr Bruder sich schon
lange entzweit hatten. Nach der Analyse jedoch konnte sie die Frictio clitori-
dis vertragen und kam dabei zu starkem Orgasmus. Sie hatte wieder ihre Be-
friedigung und das war wohl der große Fortschritt, dem sie ihre endgültige
Genesung verdankte. Sie gelangte auch zu einer anderen Auffassung der
Onanie und lernte es bald, daß sie sich alle Leiden als Folgen der Onanie ein-
gebildet hatte.
Zwei wichtige Gesichtspunkte haben wir bei der Betrachtung des
Falles neu gewonnen: Der erste, daß Selbstmordideen eine Beziehung
zur Onanie haben. Ich habe mit aller Schärfe schon vor Jahren auf
diese Beziehungen hingewiesen.1) Zweitens die Wichtigkeit der den
onanistischen Akt begleitenden Phantasien.
Der Selbstmord stellt nur die extremste Folge der Onanieabstinenz
dar. Es läßt sich eigentlich eine Skala konstruieren, die lauten würde:
Angstneurose, Hypochondrie, Verstimmungen, Depressionen, Melan-
cholie, Selbstmord. Mit dem Aufgeben der Onanie verliert für diese
Menschen das Leben jeden Wert.
Der Unerfahrene kann ja die Frage aufwerfen: Warum verschaffen
sich diese Menschen nicht ihre Befriedigung auf dem allerotischen Wege?
Warum suchen sie nicht die Libido im normalen Geschlechtsverkehre
oder in perversen Akten mit anderen Personen? Das rührt eben daher,
daß die Onanie für sie die e inz i g mö gliche adäquate Form
direr Befriedigung darstellt. Ich betonte schon: Würde man alle Phan-
tasien der Onanisten kennen, man wäre entsetzt über die unerfüllbaren
Forderungen ihres Triebes. Da gibt es Onanisten, welche mit krimi-
nellen Phantasien onanieren, andere, welche perverse Akte vollbringen,
die dritten feiern Orgien, deren Erfüllung die Macht eines Nero ver-
langen würde, die vierten spielen eine bestimmte Szene ihrer Kindheit
*) Siehe meinen Beitrag in den Diskussionen „Über den Selbstmord",
insbesondere den Schülerselbßtmord. Verlag J.F.Bergmann, Wiesbaden.
B8
Erster Teil. Die Onanie.
und eine Unzahl anderer schwelgt in Inzestphantasien, welche ihnen
nicht bewußt sind. Vor dem onanistischen Akte gibt es
eine Art Rausch oder Ekstase, in der die Gegenwart
ganz versinkt und die verbotene Phantasie allein
herrscht. Nur einige Minuten oder Sekunden, und dann fällt der
Vorhang über dem Geheimnis und das Licht des Bewußtseins vermag
nicht durch diesen Vorhang zu dringen. Diese Onanisten spielen vor
sich und mit sich; das Spiel gelingt meistens; sie haben wirklich eine
Zweiteilung der Persönlichkeit, welche es der einen gestattet, mit einer
Phantasie zu onanieren, welche die andere nicht kennt, nicht kennen
will oder nicht kennen darf. \
Wir haben gesehen, wie die Neurose ausbricht, sobald die Onanie
aufgegeben wird, und wie die Folgen der Onanieabstinenz dann als
Folgen der Onanie aufgefaßt werden. Ebenso konnte man behaupten,
die Onanie zerrütte die Nerven so, daß die Onanisten zu Selbstmördern
werden Die nächsten Fälle beweisen das Gegenteil. Sie beweisen uns
alle, daß viele Menschen unfähig sind, ohne die Onanie zu leben und
daß sie lieber auf das ganze Leben verzichten, als ohne die gewohnte
Befriedigung zu verschmachten.
Es gibt unter den Onanisten auch viele, welche gewarnt wurden
und die Abschreckungsbücher gelesen haben. Sie onanieren dann mit
dem Stolze des Menschen, der über sein Leben selbst verfügen und
sich auf diese lustbetonte "Weise ums Leben bringen will Der Selbst-
mordversuch durch den Abusus der Onanie ist gar nicht so selten
und kommt besonders in Gefängnissen vor. Es ist eine Form der
Selbstvernichtung, die ich als „chronischen Selbstmord" be-
zeichnet habe.
Es ist wenig bekannt, daß die Onanie auch als Strafe und Buße,
als ein Mittel, sich das Leben zu verkürzen, angewendet wird. Die
Verknüpfung von Luet und Strafe ist uns ja nichts Unbekanntes. Wir
brauchen nur an den Flagellantismus und die Askesen wunderlicher
Heiliger zu denken. Wir werden bald ersehen, welch gewaltige Rolle
der Onanie beim Zustandekommen eines Selbstmordes zukommt. Ich
möchte aber schon jetzt betonen, daß die Drohungen der Eltern, welche
Kindern die Onanie dadurch abgewöhnen wollen, daß sie ihnen die
furchtbarsten Folgen für Leben und Gesundheit bei Fortsetzung des
Lasters prophezeien, oft den entgegengesetzten Effekt erzielen: gerade
um das Leben zu verkürzen, setzen manche störrische Kinder die Onanie
fort: für die geheime Lust büßen sie dadurch, daß sie einen Teil ihrer
Lebenskraft zu opfern wähnen. Das Verbotene und das gruselige Spiel
mit dem Tode erhöhen den Reiz des Lustgewinnes. Vom chro-
nischen Selbstmord bis zu dem akuten führt eine gerade Linie.
Onanie und Neurose. 39
Der antisexuelle Instinkt ist eigentlich der lebensfein d-
liehe Instinkt.
Es gibt Menschen, die den Mut zur Liebe verloren, denen Hem-
mungsvorstellungen, Imperative der Eltern und der Gesellschaft den
Genuß der Liebe geraubt haben, die unfähig sind, Libido ohne Schuld-
bewußtsein zu empfinden. Ich denke hier an ein Mädchen, das von
glühender Liebeslust erfüllt war, das alle Instinkte dazu drängten, sich
sexuell auszuleben, das jedoch eine übermoralische Erziehung mit so
vielen Verboten und Hemmungen umgeben hatte,- daß es schließlich
keinen anderen Ausweg wußte, als aus dem Leben zu gehen. Die Angst
vor der Liebe war fast 60 groß, als da6 Verlangen nach ihr. Sie war zu
schwach ihre sexuellen Instinkte auszuleben; zu moralisch, zu schwer
mit bürgerlich hausbackener Moral belastet. Andrerseits war das
Leben ohne Ausleben der erotischen Instinkte für sie nicht lebenswert
und so wollte sie den unlöslichen Konflikt dadurch lösen, daß sie zu
sterben beschloß.
Allerdings beweist uns dieser Fall auch die Wahrheit der von
Freud . vorgebrachten Beobachtungen, daß Selbstmorde sehr häufig
mit Inzestgedanken zu tun haben, die oft die Quelle des tiefsten Schuld-
bewußtseins darstellen. Auch dieses Mädchen hatte ein inzestiöses
"Trauma in der Kindheit erlebt. Auch ein Trauma mit dem Bruder ! Und
vielleicht war ihre Unfähigkeit zu lieben darauf gegründet. Sie war zu
fest bei der Familie verankert. Außer den moralischen
Hemmungsvorstellungen kam noch das geheime Band in Betracht, das
sie an den Bruder knüpfte. Sie kannte nur eine wahre Liebe: die zu
ihrem Bruder, ihrem ersten Geliebten, den man doch nie vergessen
kann. Aus diesem Dilemma wählte sie dann den Ausweg des Selbst-
mordes. Aber noch einen neuen Gesichtspunkt lernen wir bei der
Analyse dieses Falles, einen Gesichtspunkt, den ich eigentlich bisher
in keinem der von mir beobachteten Fälle von Selbstmord oder Selbst-
mordabsichten vermißt habe. Die Selbstmordideen traten bei dieser
Patientin erst zu einer Zeit auf, nachdem sie die Onanie auf-
gegeben hatte. Die strenge Abstinenz war mit eine der Ursachen
des Selbstmordes. Wir wissen schon, daß für solche Personen die
Onanie deshalb so wertvoll ist und sogar durch den sexuellen Akt
nicht ersetzt werden kann, weil sie mit verschiedenen Phantasien einher-
geht. Die Vorwürfe, die sich die Patienten wegen der Onanie machen,
richten sich eigentlich gegen die Phantasien. So war es auch in diesem
Falle. Die Patientin verband mit dem Autoeroti6mus die Phantasie
an das Erlebnis mit ihrem Bruder. Das Aufgeben der Onanie verlangte
zugleich das Aufgeben der Inzestphantasie. Den Selbstmord, der zum
Glücke nur ein Selbstmordversuch war, vollzog sie, nachdem sie sich
40
Erster Teil. Die Onanie.
aus dem Elternhause entfernt und eine Stelle in der Fremde gefunden
hatte. Sie verschaffte sich Morphium und Veronal, welche Mischung sie
jedoch gleich erbrach. Der Lebenstrieb wehrte sich gegen den Selbst-
mord. In ihr schrie eine Stimme: „Du kannst noch glücklich werden!''
Diese Stimme behielt recht. Sie fand nach einigen Jahren einen Mann,
der sie glücklich machte. Es war ein Vetter, der ihrem Bruder in vielen
Stücken glich.
Noch beweisender scheint mir ein anderer Fall zu sein, der Selbst-
mordversuch eines hochbegabten Künstlers, der sich von einem Freunde
eine größere Dosis Zyankali geben ließ, sie rasch austrank in der
sicheren Gewißheit, in den Tod zu gehen. Es hatte sich aber nur um
eine gehörige Dosis Bromkali gehandelt, denn der Ärmste erwachte nach
einem etwas längeren Schlaf mit einem dumpfen Kopf und war dem
Leben wiedergegeben. Auch dieser Patient litt ebenso wie unter Zwangs-
vorstellungen und Selbstmordimpulsen unter den Vorwürfen/die er sich
wegen der bis ins hohe Alter hinein betriebenen Onanie machte. Seine
schwerste Zwangsvorstellung lautete: Es könnte ihm jemand entgegen-
kommen und an ihm ein Attentat verüben. Eigentlich eine homosexuelle
Reminiszenz aus seinem 9. Lebensjahre. Die Angst entsprach hier dem
brennenden Wunsche, jene einzige Art der Befriedigung zu finden die
die höchste Libido erzielt hatte, weil auch aus homosexuellen Trieb-
quellen Lust zuströmte. Auch dieser Patient hatte ein schweres Inzest-
trauma hinter eich (mit der Schwester!) und auch bei diesem Kranken
erwies sich das Aufgeben der Onanie verknüpft mit dem schweren
Schuldbewußtsein als wichtigste Triebfeder des Selbstmordimpulses.
Die Angst, es könnte ihm jemand „entgegenkommen", entsprach dem
Wunsche, seine Schwester sollte ihm entgegenkommen. Sein höchster
Wunsch, der ja seine tiefste Angst werden mußte.
Noch von einem dritten Patienten möchte ich erzählen, der bis zum
34. Lebensjahre onanierte. Mit dem Aufgeben der autoerotischen Be-
friedigung traten die Selbstmordimpulse auf. Auch hier bewies die
Analyse in klarer Weise die Verknüpfung des autoerotischen Aktes mit
Inzestphantasien. Er hatte in der Kindheit an Blasenstörungen gelitten.
Die den Penis sanft streichelnde Hand der Mutter konnte die Anurie
leicht beheben. Bei den onanistischen Akten imitierte er diesen Vor-
gang. Ist doch jede Onanie eine Rückkehr zur infantilen Form der Be-
friedigung, zu den ersten Lustquellen. Auch seine Potenz war
launisch und die Erektion konnte in manchen Fällen nur durch denselben
Griff zustande kommen. Noch ein zweites Moment ist bei diesem wie
bei allen anderen Fällen in Betracht zu ziehen. Handelt es sich doch bei
allen onanistischen Akten- (siehe den vorigen Fall) um ein Kompromiß
aus homo- und heterosexuellen Regungen! Speziell in diesem Falle war
Onanie und Neurose.
41
es ganz deutlich, daß die Onanie neben der Inzestphantasie auch einen
homosexuellen Akt darstellte.
Alle diese Menschen waren unfähig, ein Leben
ohne Onanie zu ertragen. Für sie war die Onanie
nicht, wie ich es früher erwähnt habe, Strafe und
Buße, sondern geheime Lust, an die sich ein tiefes
Schuldbewußtsein knüpfte. Dieses Schuldbewußtsein kann
eich, wie Beobachtungen anderer Ärzte zeigen, so steigern, daß der
Selbstmord direkt nach einem onanistischen Akt ausgeführt wird. Hier
gpielt neben der Onanie der Ekel eine große Rolle. Solche Auto-
erotisten betrachten ihre Selbstbefriedigung als einen „ekelhaften",
erniedrigenden Akt. Der Ekel vor der eigenen Person steigert sich zum
Ekel vor dem Leben, zum Weltekel. Das Leben, das stets sexuell ge-
wertet wird, verliert jeden Wert. Es steht im Affekte der Ablehnung.
So führt die Onanie auch in ihren Verdrängungsformen zum Selbstmord.
Besonders Onanisten, die lange Zeit hindurch abstinent waren und
denen es gelungen war, die Onanie wirksam zu bekämpfen, neigen nach
einem Rückfall, der sie ihrer stolzen Hoffnungen auf Genesung beraubt,
leicht dazu, „Hand an sich zu legen" und mit dem letzten onanistischen
Akt, das ist mit dem Selbstmorde, die letzte große Strafe an sich zu
vollziehen. .
Ich möchte hier noch die Analyse eines Knaben erwähnen, bei dem
Selbstmordideen eine große Rolle spielten, dessen Krankengeschichte
ich in meiner Arbeit: Zwangszustände, ihre psychischen Wurzeln und
ihre Heilung" (Medizinische Klinik, 1910, Nr. 5—7) beschrieben habe.
Ich erlaube mir, das eine uns interessierende Stück dieser Krankenge-
schichte hier mitzuteilen:
Fall Nr. 6. „In meinem Buche „Nervöse Angstzustände" habe ich auf
die psychischen Wurzeln des Stotterns hingewiesen. Ein stotternder Knabe,
den ich im letzten Jahre behandelte, teilte mir mit, daß er nicht stottere,
wenn er die Hand auf die Nase lege. Er drückte den rechten Zeigefinger auf
den Nasenrücken und konnte sofort fließend und deutlich sprechen. Dieser
Knabe war ein arger Onanist. Seine heimliche Angst bestand darin, man
könne ihn vielleicht entlarven, man könnte vielleicht erkennen, daß er
onaniere. Sein Vater hatte ihm einmal aufgetragen, die Hände im Bette
immer auf der Decke ruhen zu lassen. Also schien sein Vater Onanie zu be-
fürchten. Was drückte er nun durch diese symbolische Handlung aus? Wenn
er die Hand in der Tasche hatte, so konnte er onanieren. Dadurch, daß er
die Hand auf die Nase legte, demonstrierte er aller Welt: Seht nur her, ich
onaniere nicht, ich habe Ja nicht die Hand in der Tasche, sie liegt auf meiner
Nase. Dabei war ihm die Nase das Symbol des Gliedes und er drückte durch
diese Zwangshandlung dem Kundigen gerade so viel von seinem Geheimnis
aus, als er verbergen wollte. Derselbe Knabe litt eine Zeitlang auch an
Zwangslügen. Eines Tages erzählte er mir eine lange Geschichte, der ich
42
Erster Teil. Die Ouauie.
sofort anmerkte sie wäre erlogen. Ich fragte ihn sofort, warum er mich
S und fl^^^ ** e^Te nJChtS dafür' »eß komme Such über
ihn und dann müsse er lugen". Gestern habe er den Vater angelogen ohne
Als e'rrTÄrT ^J* L?hw erkrankte Und sie bekamen" ch^YeT
we 1 dZt&SSt n ' tag,tö €5f?m Vater' Sie hatten ßchuIfrei bekommen,
weil das schadhafte Dach der Schule ausgebessert werden müsse. Für diese
Luge wisse er keinen Grund anzugeben. Ob er sich sehr darüber gefreu habe
daß sie einen schulfreien Tag gehabt hätten? „Ja sehr!" '
gewordflst^^attm^ih^Äf^ ^ff gefreut' daß der Lehrer krank
Schuld gehört« * m Mlüeid ZU haben' Wie eß eich für einen braven
kranken1 möibune[r; " S?tte Sich "ao °ft gewünscht, daß der Lehrer er-
äxtä rar uredRTg, vor seinem
^Ä Ä ~ SeT^L" * Va^ertr ^gr £
daß er onSier^dÄ rÄÜSJt St »
übergeben worden war, und er Xitaa^Ä^^^^^^S^
sah ihm prüfend ins Gesicht und sagte Du onan faS? n ? **"* Y^
das Schlechteste, was er tun konnte D 5 "d toSib. St T T^
Angst, alle Welt bemerke, daß er onaniere Gerade Inlolee dW I l
war er verlegen und stotterte in Gesellschaft, vo seine r Ä„ T &t
Vater - kurz vor aller Welt, während er/ wlTÄr T
Stotterer fließend sprechen konnte. Nun wu de e ^ durch d? fertJS 6
der Meinung bestärkt, man könne sein heimliches Stt« Ätf™
Blick erkennen. Er demonstrierte dann durch die ZwaLshandS, S"
Hand auf der Nase) aller Welt, daß er nicht onaniere. DtoÄS
von ihm. Weshalb hatte er mich nun belogen? So wie er In mit dei LüS
die Allwissenheit seines Vaters zu Schanden machen wollte, o log e auch
mich an, um mich zu „prüfen" und sich zu überzeugen, ob ich wirklich luZ
SI2 weil ?^a so viele Dinge von semem^Ä*^
zahlt, die keiner vor mir bei ihm vermutet hatte. Dieses Lügen geschah 1
Sffi »?«*»«*" Motiven und war deshalb voTÄC
In diesem Falle sehen wir das ganze geheime Räderwerk- Das frliriM
bevv-ußtsein dem Vater und dem Lehrer gegenüber, denen er den Tod gewünscht
hatte; die Hemmungen, mit denen er belastet wurde. Wir begreifen daß (mit
treten mußtn ^ ^^ auf8ngebeb' Selbstmordimpulse folgerichtfg aTf-
•*■ KZUmo ,vChluß di6Ser Außführun8en über den Zusammenhang
nmtm Selbstmord und Onanie wil! ich die Analyse eine« Schüler
Onanie und Neurose.
u
Selbstmordes mitteilen, welche mir geeignet erscheint, die hier vorge-
brachten Ansichten in unwiderstehlicher Weise zu bestätigen.
Fall Nr. 7. Es handelt sich um einen 18jährigen Handelsschüler, der
noch des Vormittags in die Schule ging, am Unterrichte sehr aufmerksam teil-
nahm und sich eine Stunde später eine Revolverkugel in den Kopf 6choß. Die
Ursachen dieses Selbstmordes waren scheinbar leicht zu ergründen. Das Motiv
hieß : „Unglückliche Liebe." Er hatte seit 2 Monaten ein Liebesverhältnis mit
einem gleichaltrigen Mädchen und teilte seinen Eltern den Entschluß mit,
sich mit diesem Mädchen zu verloben. Weil die Eltern ihm die Einwilligung
nicht gegeben hatten und er sich unfähig fühlte, ohne Unterstützung der
Eltern weiter zu leben, wollte er sich, so lautete seine erste Aussage, das Leben
nehmen. Nach mehrwöchentlichem Krankenlager konnte er, vollkommen ge-
nesen, seine Studien fortsetzen. Die durch die Tat erschreckten Eltern gaben
ihm die Einwilligung zur Verlobung; allein schon während des Kranken-
lagers hatte er bemerkt, daß seine Geliebte für ihn den Wert verloren hatte,
und so war es ihm ein Leichtes und gar kein Opfer mehr, nach mehreren
Monaten das Verhältnis vollständig aufzugeben.
Er gibt zu, daß die gegen die Eltern gerichteten Rachephantasien bei
der Tat den Ausschlag gegeben haben. Er hatte sich als verlorenen Menschen
betrachtet, der nicht mehr denken könne, dem der Wahnsimi bevorstehe. Zeit-
lebens hatte er ein großes Bedürfnis nach Zärtlichkeiten und diese wurden
ihm auch von einer älteren Schwester zuteil. Wir erfahren, daß in dem Ab-
sagebrief der Eltern sich auch ein Schreiben seiner Schwester befand, die
ebenfalls mit sehr energischen Worten auf die Aussichtslosigkeit
seiner Liebe hinwies. Kurze Zeit nach Erhalt des Schreibene führte er
den Selbstmord aus.
Sein Geschlechtsleben zeigt bei erster Erforschung keine besonders auf-
fälligen Abweichungen von den normalen Linien. Von Kollegen verführt Suchte
er mit 15 Jahren eine Prostituierte auf und versagte die ersten Male voll-
kommen. In der siebenten Gymnasialklasse begann er zu onanieren, wobei
er eine Libido empfand, die ihm bisher unbekannt gewesen. Er las jedoch ver-
schiedene Bücher, die ihn über die Schädlichkeiten der Onanie belehrten, so
daß er sie aus Angst, sich das Leben zu verkürzen, aufgab. 'Er hatte dann
spärlichen sexuellen Verkehr mit Dirnen und Dienstmädchen. In der achten
Gymnasialklasse onanierte er bloß 3mal im Jahre. Er gab aber zu, daß
die Höhe der Libido beider Onanie niemals von dem
normalen Akt erreicht wurde. Und nun erfahren wir, daß die
Onanie bei ihm tatsächlich mit Inzestphantasien verknüpft war. Es war
ihm beim ersten onanietischen Akte plötzlich eingefallen, ob er nicht eine
alte Frau besitzen könne. Plötzlich tauchte zu seinem Entsetzen vor seinen
Augen die Mutter auf. Wir begreifen jetzt, warum er die Onanie aufgegeben
hat. Es war die Inzestphantasie, die ihn als hochmoralischen Menschen an
der Fortsetzung dieser Art von Befriedigung hinderte. Er erinnerte sich
auch an verschiedene Vorkommnisse, die eine Inzestneigung zur Mutter be-
stätigen. Tief im Gebirge traf er auf einer Wanderung eine alte, häßliche
Bäuerin; da tauchten ihm „böse Gedanken" auf, die er voll Ekel sofort ver-
drängte. Verschiedene Träume handelten von seiner Mutter und von seiner
Schwester. Jetzt erfahren wir auch, daß das Verhältnis mit dem Mädchen
eigentlich ein sehr intimes gewesen und wahrscheinlich zu den letzten Kon-
44
Erster (Teil. Die Onanie.
Sr'T f fÜhrt MWe' wenn er nicht ei" hemmende Kraft in sich «fühlt
zu eriSen '°l ^ ,A"»**™* seiner bebten hinderte, von ihr Bes ttfe
. s» ä asrsa *s sä» i-
M h De™1kku"dl8eJn Psychotherapeuten wird es sofort klar, daß es sich
d sXel? ^ 7,eine "P°ena taIionis" Setad* hat Ein Brte
**-e' M""6"-. ^r von der Aussichtslosigkeit der Lieh
auf dT Peliit h • ™n 6r Mutter' der Schwc8ter U»<1 dem Bruder
sfl§tii§5§
tiefes Schuldbewußtsein - die TfL
seiner seelischen Konflikte u nd' di e^nflhi ^
die Onanie als Ersatz der Inz es t n h » n+ • i
homosexuellen Akte wei t er llToltVsT ' '" ™?
Wir hören ferner, daß der erste onanistische Akt direkt nach
einem Besuche bei einer Prostituierten - wohl gemerkt nach
erfolgreichen - ausgeführt wnrde. Das beweist "ns daß die Wirk! cT
tat ,hm „.cht die Befriedigung geben konnte, wie sie der m^der InZ t"
Phantas,e verknüpfte autoerotische Akt zn gewähren vermochte
Die Bedeutung der spezifischen Phant»»i-
beim onan.Lti.ehe» Akte kann gar nicht hoch »
eingeschätzt werden. Das Schuldgefühl, daV
an die Onanie knüpft, hängt damit zusammen ,h '
auch d Hähe des Lustgefühles Erst ««.aber
tische Phantasie gibt dem onan i s ti sehen Tkte
seine besondere Färbung, seine hoho LustquaHtä
und seine Unersetzlichkeit. «"antat
Es gibt Beobachtungen, welche solche Zusammenhänge förmlich
ra Reinkultur bringen. Eine solche mag jetzt an dieser Stelle folgen
Fr „,/"" Nr'8' Herr B-,M- konsultiert mich wegen folgender Erschein™»,
d« ihm sehr gnt gefiel. «Mit Ä^- *«3Ä
Onanie und Neurose.
45
plauderte mit ihr besser als mit jeder anderen. Schließlich machte er ihr
den Antrag, mit ihm eine Reise zu machen. Sie ging darauf ein und sie
machten eine sehr schöne Reise, die 6 Wochen dauerte. Allein seine Hoffnungen
auf den Besitz des Mädchens gingen nicht in Erfüllung. Sie legte sich mit
ihm ins Bett; wenn er sie jedoch berühren wollte, so wehrte sie sich und er
konnte nichts erreichen. Sie schrie, er wolle sie unglücklich machen. Er hoffte,
mit Geduld und durch Erregung des Mädchens zu seinem Ziele zu gelangen.
Vergebens. Alle Bemühungen scheiterten an dem Widerstände der Geliebten,
so daß er genötigt war, in dem Bette an ihrer Seite zu onanieren.
Nach der Reise versuchte er vergebens bei anderen Mädchen seine Glut
zu kühlen. Er war impotent und konnte weder Erektion noch Orgasmus er-
zielen. Aber er mußte täglich onanieren und stellte sich
immer das Mädchen vor. Auf meine Frage, warum er sie nicht ge-
heiratet habe, erwidert er:
„Das geht nicht. Der soziale Unterschied ist zu groß. Sie war Er-
zieherin, also ein besseres Dienstmädchen, und ich bin akademisch gebildet,
bin Advokat. Dann habe ich eine Mutter, die das nie zugegeben hätte. . ."
„Sind Sie der einzige Sohn?"
„Jawohl . . . und ich lebe mit meiner Mutter so harmonisch, so schön
und so friedlich, daß ich eine Ehe nicht benötige. Ich habe mir vorgenommen,
nie zu heiraten. Aber die Leidenschaft für das Mädchen wurde so groß, daß
ich fürchtete, sie heiraten zu müssen. Ich kam auf die Idee, ihr zuzureden,
nach Amerika zu fahren, und gab ihr auch das Geld für die Reise. Jetzt ist
sie in Amerika. . . . Trotzdem sie so weit ist, kann ich sie nicht vergessen.
Ihre Briefe werden immer kühler, ich aber liebe sie wie vorher und liebe sie
täglich mehr."
Er führt einen erbitterten Kampf gegen die Onanie und muß sich be-
schämt eingestehen, daß er immer wieder erliegt. Obwohl er sich in diesen
vier Jahren physisch ganz außerordentlich erholt hat, fürchtete er, daß ihm
die Onanie doch schade. Er fürchte für sein Rückenmark und für sein Ge-
dächtnis. Er möchte die Liebe vergessen und wieder andere Mädchen besitzen
können.
In diesem Falle sehen wir die Macht eines unerfüllten Wunsches der
immer wieder auf Erfüllung dringt. Solche unerfüllte Wünsche sterben nicht
Hatte er das Mädchen geheiratet, so wäre die Entwertung durch den Besitz
eingetreten. ... Der große Orgasmus bei der Onanie rührt hier daher daß
er sich immer wieder das Mädchen vorstellt und ihren Besitz phantasiert.
Hier bringt die Phantasie die Erfüllung und die einzige Erfüllung, die er
Die einzige? Das müßte erst eine sehr genaue Analyse lehren. Es ist
sehr wahrscheinlich, daß hinter dem Mädchen die Fixierung an die Mutter
steckt. Das Mädchen und die Mutter haben viel Gemeinsames. Sie sind beide
unerreichbar, beide dem sexuellen Wunsche gegenüber negativistisch.
Oer Mutter halber hat er das Mädchen nicht geheiratet, weil er die Mutter
hätte verlassen müssen. Das beweist, daß die Mutter die stärkere ist und
daß wir in seiner Onanie auch eine Regression auf die Lustquellen der Kind-
heit erblicken müssen. Er arrangierte auch das Verhältnis so, daß sie ihm
fern und unerreichbar wurde. Er wandte auch keine Gewalt an, weil er
hoffte, das Mädchen werde sich freiwillig ergeben. Frauen wollen aber ge-
46
Erster Teil. Die Onanie.
nommen sein, um sich vor den selbst mit der vis major entschuldigen zu
WesenT g ' ebenS° m d6r °na^e m der Seite eines begehrten
Der M^S^w^ ZU Zlehen> er6cheint "* überflüssig.
JJei Fall ist deshalb so instruktiv, weil er uns die Bedeutung der die Onanie
begleitenden Phantasie wie kein zweiter vor Augen führt
uab ganze naus nabe unter seiner Nervosität oaiiU**. v t v ,
Nachts Erregungszustände gehabt, wÄe S^^Ä5S*fi
sie um den Hausarzt schickte. Der aber riet ihm ! 1^7 u!' ,
Die Onanie ersetzte ihm das für ewig verlorene Marien n„. m-j u
aber „ „ ein Symbol der Mutter. Da! «ÄÄVSÄ^
^ " bei anton l^^ÄÄ^
Er war aber fernerhin bei anderen Mädchen impotent. Allein er könnt*
nicht mehr einschlafen und wurde von einem nervösen Zittern befallen Wann
er sich ins Bett legte, begann sein ganzer Körper zu zittern und zu' bebT
Es arbeitete in ihm wie in einer Maschine. Er sprang auf und lief wie «in
Verrückter im Zimmer umher. Schließlich sagte er sich: Jetzt onanierst 7„
auch wenn dein Leben dabei zugrunde geht. Dann beruhigte er sieh ™S
konnte wieder schlafen. Nachdem er eine mäßige Onanie wieder aufgenommen
hatte, besserte sich sein Zustand, er wurde wieder arbeitsfähig und war all!«
seinen schweren Aufgaben vollkommen gewachsen. '"' "
Ich könnte Hunderte von ähnlichen Fällen anführen. Nur einige
die mir gerade einfallen, seien noch kurz erwähnt: Eine Frau die bis
zum Aufgeben der Onanie vollkommen gesund war und dann an
Melancholie erkrankte, als sie auf den Rat eines Arztes abstinent wurde
(Sie hatte ihn wegen eines unschuldigen Fluor konsultiert.) Ein Arzt
der bis zum 35. Jahre onaniert hatte und dann nach Lektüre eines
medizinischen Werkes die Onanie aufgab. Nach einigen Wochen traten
Zwangsvorstellungen bei ihm auf, er werde ßeine Frau ermorden. Ein
mtessor, der bis zum vierzigsten Jahre täglich onanierte, verhältnis-
mäßig gesund war und aus eigenem Antriebe die Onanie aufgab. Nach
Onanie und Neurose. An
einigen Monaten traten Schwindel, Platzangst, Unfähigkeit zu essen
und andere neurotische Symptome auf.
Das ist eine Beobachtung, die wir immer wieder
machen können. Die Neurose bricht erst aus, wenn
die Menschen die Onanie aufgeben. Die Krankheit
wird dann fälschlich als eine Folge der Onanie und
nicht als eine Folge des Aufgebens der Onanie auf-
gefaßt. Man nehme sich die Mühe, die Anamnesen schwerer Fälle
Ton Neurosen durchzusehen. Man wird häufig genug finden, daß die
Kranken die Onanie aufgegeben haben, und daß dann danach die Neu-
rose ausgebrochen ist. In meinem Buche „Nervöse Angstzustände und
ihre Behandlung" findet sich eine ganze Menge hierher gehörender Fälle.
Dagegen kenne ich Menschen, die Jahrzehnte täglich onanieren und
gar keine Spur eines Schadens zeigen. Ein 54jähriger Mann gestand
mir, daß er seit seiner frühesten Jugend täglich onaniere. Manche Tage
mehrere Male. Er ist verheiratet und übt überdies noch täglich den
Verkehr mit der Frau aus. Seine Potenz ist vorzüglich und er zeigt
keinerlei Zeichen, die man gebräuchlicherweise als neurasthenische
Stigmata bezeichnet. Ein anderer Fall meiner Beobachtung betrifft
einen Künstler, der seit seinem vierten Lebensjahre bis zum 16. Jahre
onaniert hatte. Nachher litt er an täglichen Pollutionen, die ihn fast
zur Verzweiflung brachten, bis ihm ein Arzt den Rat gab, die Pollu-
tionen durch häufigen Geschlechtsverkehr zu heilen. Solange er nur
einmal in der Woche verkehrte, half das Mittel gar nichts. Erst als er
das Glück hatte, eine Geliebte zu finden, die an ihn große Ansprüche
stellte, verschwanden die Pollutionen, um nie wiederzukehren. Dieser
Mann zeigt keinerlei Schaden an Leib und Seele und erreichte eine hohe
Stelle auf der sozialen Stufenleiter. Auch seine Potenz hatte nicht ge-
litten und gestattete ihm die Rolle eines bekannten Don Juans.
Hier möchte ich auf die Lebensgeschichte eines 41jährigen Advo-
katen hinweisen, die ich im „Zentralblatt für Psychoanalyse" (III. Bd.,
S. 250) zum Teile publiziert habe.1)
Fall Nr 9. „Ich leide an abnormaler Geschlechtsempfindung, welche
durch Onanie befriedigt wird. Im 16. Lebensjahre onanierte ein Schulkollege
vor mir. Einige Wochen später erweckte in mir der Anblick, als ein Herr
einer Dame ehrerbietig die Hand küßte, ein noch nie empfundenes wollüstiges
Gefühl. Abends im Bette reproduzierte ich in meiner Phantasie die gesehene
Handkußszene, erinnerte mich an den onanisti'schen Akt meines Schulkollegen
und onanierte das erstemal. Von da an onanierte ich täglich einmal, später
auch öfter, sogar auch sechsmal des Tages. Die begleitende Phan-
J) In den Krankenberichten, Briefen, Träumen sind der Stil und die Ortho-
graphie der Patienten fast gar nicht geändert. Eb handelt sich oft um Ausländer,
welche die deutsche Sprache nicht beherrschen. Diese Bemerkung ein- für allemal!
48
Erster Teil. Die Ouanie.
tasie war immer ein Handkuß, den ich oder ein anderer einer Dame gab. Wenn
ich jemand die Hand einer Dame küssen sah, oder wenn ich selbst hierzu Ge-
legenheit hatte, oder wenn ich einer solchen Episode in einer Lektüre oder
auf einem Bilde begegnete, so empfand ich heftige Libido, welche sodann durch
Onanie befriedigt wurde. Je mehr Devotion, Erniedrigung sich
im Handkusse äußerte, um so gröller war dieLibido Da
ich fast immer Gelegenheit hatte, Handküsse zu sehen, oder selbst auszu-
üben, so hatte meine Geschlechtsempfindung immer neue Nahrung, was immer
wieder zu onamstischen Akten führte. Als ich in meinen Universitätsiahren
zur Kenntnis gelangte, daß meine Geschlechtsempfindung eine abnormale und
deren Befriedigung eine schadhafte sei, da war in mir der perverse Trieb schon
derart emgewurzelt, daß ich das Laster nicht mehr bekämpfen konnte. Trotz
h in<W Tmlr i? Vei'hel.|ch bei™ geringsten Reize wieder der Onanie. Dies
c hm IT' PZe; WGlllg an dei" BeendiSung '»"ner Studien, denn wenn
n ZLti Pl'llf';ng vorbereitete, so hatte mich die hierzu notwendige
Einsamkeit tomer zu häufiger Onanie veranlaßt. Statt zu studieren hing
Ko^Lf^^-^^^ nach" Zweimal versuchte deinen
•fbe r <üe Ä tS * "?£ Die Puella rdzte mich zwa<"- Nachdem
St k , g$am VÜI* 81Ch gmg' fin« die Puella ^ ungeduldig und
spottisch zu werden, was sodann die Stimmung ganz verdarb Ein scUes
oaZZGeSUd ß'ic mlCh aVnd,fVich -en Reiz aus, und ich ha^
beledigen konnte "" Geschleehtstrieb in ^rmaler Art und Weise
Hohe AÄF vef kam meine8 WiSSenS k6ine gGi8tige 0d- **»**£
Als körperliche Folgeerscheinungen kann ich nur
etwas Mattigkeit und öf te r s Re i ßen In den Gliedern
besonders in den Füßen anführen. Geistig bin ich ganz'
normal bekunde sogar einen Scharf einn, und entfalte
als Leiter einer großen Adv o katu rekanzlei re«e
geistige Tätigkeit." ege
So der Bericht eines Onanisten. Er gesteht mir, daß er in de»
letzten zehn Jahren niemals weniger als dreimal tü„
lieh onaniert hat. g"
Und wie sieht der Mann aus? Wir sehen einen blühenden, gut genährten
Menschen vor uns, der kein graues Haar zeigt. Die Muskelkraft normal die
Reflexe leicht gesteigert, sonst keinerlei pathologischer Befund.
Also ein sogenannter „Onanisraus" durch 25 Jahre und keinerlei
Zeichen einer Neurasthenie, wie sie Freud1) in einem Aufsatze als charak-
teristisch für die Onanie anspricht. Kein Kopfdruck, keine leichte Ermüd-
barkeit (höchstens etwas Mattigkeit), keine Dyspepsie, keine Stuhlverstopfun-*
und keine Spinalirritation!
J) Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. Sammlun-
kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Erster Band. (Franz Deuticke, 1906, Leipzig und
Wien.) Dort heißt es wörtlich: „Die Neurasthenie läßt sich jedesmal auf
einen Zustand des Nervensystems zurückführen, wie er durck
exzessive Masturbation erworben wird." (S. 187.) Jetzt möchte Freud diese
Behauptung abschwächen.
. ',
Ouauie und Xeurose.
49
Die Symptome Mattigkeit und Reißen in den Gliedein machen doch
keine „Krankheit" aus! Das Reißen ist ausgesprochen rheumatischer Natur.
Auf die Psychologie dieses Falles will ich nicht eingehen. Hier stammt die
Libido aus einem Gefühl der Unterwerfung unter das Weib, mit dem er mög-
licherweise seine Schwäche geschickt maskiert. Denn die Episode bei der
Merctrix beweist, daß er in der Phantasie auf eine Demütigung eingestellt
ist, sie aber in der Realität nicht vertragen kann. Aber allen Sexologen sei
dieser Fall zur Beachtung empfohlen, wenn sie von den Schäden der Onanie
sprechen. Ich verweise auf einen anderen Fall, den ich in den „Diskussionen"
erwähnt habe. Ein hoher Vierziger, der täglich onanierte und außerdem noch
täglich einen Kongressus mit seiner Frau ausführte, dabei über eine ausge-
zeichnete Potenz verfügte, wofür ich das Zeugnis seiner Frau anführen kann,
die er während eines Kongressus mehrmals zum Orgasmus brachte.
Ich kenne sehr viele Männer und Frauen, welche gegen sich ge-
wütet haben, in der Absicht, sich auf diese süße Weise umzubringen.
Ähnlich gesteht ja auch Goethe, daß er in Leipzig gegen seine physische
Natur gewütet habe. So kenne ich eine Frau, welche sehr lange Zeit
bis zu sechs Malen in der Nacht masturbierte. Sie las von Japanerinnen,
die sich durch Einführen von kleinen Silberkugeln, die durch Schaukeln
zur Vibration gebracht werden, erregen und schaffte sich einen Vibrator
an, den sie angeblich gegen Schmerzen verwenden mußte. Sie benützte
den Vibrator zur Erregung der Klitoris, mitunter auch zur inneren Er-
regung, so daß sie einen außerordentlichen Orgasmus erzielte. Während
der Zeit der Onanie, die in der Tat ein ausgesprochener Onanismus war.
blühte sie auf und nahm um acht Kilo an Gewicht zu. Erst der Kampf
gegen den Vibrator begann eine Neurose auszulösen, die bald ver-
schwand, als sie zu ihrer Befriedigung zurückkehrte. Sie wollte von
mir nur wissen, ob sie wirklich rückenmarksleidend werden müßte,
wenn sie die Onanie nicht aufgeben würde. Versuche einer analytischen
Erforschung ihres Sexuallebens wurden zurückgewiesen. Es wären
Dinge, über die sie mit keinem Menschen in der Welt sprechen könne.
Ich sah sie nach einigen Jahren zufällig auf der Straße. Sie sah blühend
aus und behauptete, vollkommen gesund zu sein. Über die Art der
weiteren Befriedigung war nichts zu eruieren.
Also auch das Übermaß der Onanie, der furchtbare „Onanismus",
zu dem die Onanie führen kann, scheint mir nicht so gefährlich zu sein,
wie wlr es lesen und hören. Die Krankengeschichten erzählen uns immer
nur von Menschen, die im Kampfe mit der Onanie stehen und infolge des
Katzenjammers erkranken oder die nach der Abstinenz und infolge der
t nanieabstinenz erkranken. Immer sind es die Reue, das Gewissen, der
Kampf, die die Onanisten krank machen. Ich kenne einen Jüngling, der
durch viele Monate in geradezu exzessiver Weise onaniert hatte. Er
onanierte jede Nacht mehrere Stunden hintereinander, wobei er fünf-
Stekel, StörunRun ,dos Trinb- und Affoktlabens. II. 2. Ana. 4.
50
Erster Teil. Die Onanie.
bis sechsmal ejakulierte. Er sah gar nicht schlecht aus und zeigte sehr
unbedeutende somatische und geistige Störungen. Es war ein frischer
und munterer Junge, der sich auch hervorragend künstlerisch betätigte.
Er gab die Onanie auf meinen Rat auf und wurde ein Frauenjäger. Er
war ein sexueller Athlet und hatte großes Glück bei Frauen und das
Unglück, ein Mädchen zu verführen, das er heiraten muße. Er stellte
sich mir dieser Tage als Familienvater vor. Obwohl er seit früher
Jugend und, wie gesagt, in den erwähnten Monaten exzessiv onaniert
hatte, konnte ich keinerlei Folgen der exzessiven Onanie konstatieren.
Man kann ja behaupten, dieser Jüngling habe eine außerordentlich
kräftige Sexualkonstitution aufzuweisen. Sicherlich!
Diese Konstitution hat ihn ja eben zur exzes-
siven B e t ät i gung g etr i eb en. Die Onanie soll leicht zur Un-
maßigkeit führen. Ich habe das nie beobachtet. Der Geschlechtstrieb
aßt sich nie unterdrücken. Aber er läßt sich auch nicht so leicht
künstlich steigern, als man gemeiniglich annimmt. Wenn die Libido
abgeführt wird, so entfällt der Anreiz zur Onanie. Mensehen, di e
sehr oft onanieren, haben ein sehr großes Bedürf-
nis. Wie lächerlich ist es, nach Martin Luther den Menschen Regeln
vorzuschreiben! Unsere nach ärztlichen Imperativen hungernde Zeit
verlangt durchaus Vorschriften für die Häufigkeit des Verkehres Es
gibt auch da keine Vorschriften. Alles richtet sich nach dem Bedürfnis.
Ich kenne Ehemänner, die durch viele Jahrzehnte den Koitus täglich
ausgeführt haben, andere, die sehr wenig Bedürfnis haben. Ich habe
auch nie beobachten können, daß häufiger Geschlechtsgenuß die
Lebensdauer abkürzt.1) Ein starker Trieb verlangt eine stärkere Be-
tätigung. Ich habe immer wieder gefunden, daß die
Mensehen erkranken, wenn sie ihrer inneren Natur
und ihren Bedürfnissen aus den verschiedensten
Motiven Gewalt antun.2)
*) Ausführliches darüber in meiner Broschüre: „Keuschheit und Gesundheit"
0 erlag Paul Knepler, Wien) und in Band IV: „Die Impotenz des Mannes".
2) Es kommt vor, daß Onanisten einen onanistischen Akt erzwingen wollen
obgle.ch keine Erektion vorhanden ist. (Auch Frauen versuchen oft ohne Libido einen
Orgasmus zu erzwingen.) Mitunter gelingt es, die Libido aufzupeitschen. Aber das ist
nur der Fall, wenn irgend eine tiefverborgene Komponente der Sexualität (Kannibalismus-
Vampinsmus-Nekrophilie), die einem strengen Veto unterliegt, vordringen will Dann
steht der „Wille zur Lust" gegen den „Willen zur Macht über sich selbst". In solchen
Fällen handelt es sich immer um schwere seelische Konflikte, deren Lösung nur durch
eine eindringliche Analyse möglich ist. Auch Menschen, die unter unsäglichen Kämpfen
und Qualen die Onanie aufgegeben haben, scheinen später unfähig zu sein, auf diesem
autoerotischen Wege -Orgasmus zu erzielen. Die Hemmungen sind zu groß
Onanie und Neurose. 51
Und es gibt eben viele Menschen, welche ohne die Onanie nicht
leben können. Nimmt man ihnen die Onanie, so verliert das Leben für
sie jeden Reiz, wie ich es in meinen Ausführungen über den Selbstmord
nachgewiesen habe.
Die Onanie ist für viele Menschen deshalb un-
ersetzlich, weil sie für sie die einzig adäquate
Form der Befriedigung darstellt.
Die „spezifischen" Phantasien machen die Onanie dem Individuum,
das sich an sie gewöhnt hat, unentbehrlich. Sie können in den seltensten
Fällen von der Wirklichkeit erreicht und durch eine nur einigermaßen
befriedigende Realität abgelöst werden. So wird die Onanie zur einzigen
adäquaten Form der Befriedigung für viele Menschen. Am klarsten
sehen wir das an der Homosexualität. Von der großen Bedeutung der
Homosexualiät für die Neurosen und unsere ganze Kultur läßt sich die
Schulweisheit noch lange nichts träumen, obwohl die Arbeiten unserer
Schule aller Welt hätten die Augen öffnen können. Wie viele
Homosexuelle gibt es, die es selbst nicht Avissen!
Deren ganze Neurose eine Flucht vor den homo-
sexuellen Regungen darstellt! Für alle diese
Menschen, ebenso für die bewußt Homosexuellen,
die sich vor einem homosexuellen Akte aus ver-
schiedenen Gründen scheuen, ist die Onanie das
einzige Surrogat, das ihnen ein gewisses Ausleben
der Triebe gestattet. (Es ist ja eigentlich jede Onanie ein
homosexueller Akt und dient auch beim sogenannten Normalen zur Be-
friedigung der nie fehlenden homosexuellen Komponente.)
Aber wie viele andere verbotene Regungen können durch die
Onanie einen Ausdruck und eine Abfuhr finden! Soll ich die ver-
schiedenen Formen des Fetischismus, des Sadismus, des Masochismus '
die kriminellen Regungen erwähnen? Nimmt man diesen Menschen die
Onanie, so werden sie unglücklich und sterben daran. Es ist eine
billige Phrase, solchen Kr anken zu säg en- Gehen
Sie zum Weibe oder: Suchen Sie sich einen Mann.
Wie viele alte Jungfern, keusche Witwen, einsame Hagestolze machen
sich das Leben nur durch die Onanie erträglich, die sie wenigstens keinen
sozialen Gefahren aussetzt! Ich habe zahlreichen jungen Leuten und
auch älteren den Rat gegeben, den normalen Geschlechtsverkehr aufzu-
suchen. In vielen Fällen ist das unmöglich, weil die Onanisten bei dem
Weibe impotent, die Frauen beim Verkehre anästhetisch sind. Aber nicht
weil die Onanie sie impotent und anästhetisch gemacht hat. Nein! Weil
sie gar nicht das Weib (respektive den Mann) suchen. Emanzi-
pieren wir uns einmal in sexuellen Dingen von
4*
52
Erster Teil. Die Onanie.
dem Kanon des Normalen, der in Wirklichkeit
nicht existiert! Der Homosexuelle kann heiraten und Kinder
zeugen und trotzdem unbefriedigt sein, weil er die ihm adäquate Form
der Sexualbefriedigung nicht findet. Er erkrankt unter Umständen an
einer Angstneurose, die er verliert, wenn er sich durch eine mäßig be-
triebene Onanie einen Ersatz verschafft.
Würde man die Onanie ganz unterdrücken können, die Zahl der
Sexualverbrechen würde ins Unermeßliche steigen. Auch die Kriminali-
tät würde sich rapid verbreiten. Ich will liier nur ein einziges Beispiel
anführen. Ich konnte bei einem Onanisten nachweisen, daß er mit der
Phantasie onaniert, seinen Vater zu erschlagen, wohlgemerkt mit der
unbewußten Phantasie. Der Penis (der Gebärvater) wurde ihm zum
Symbol des Vaters, die Ejakulation war ein Blutstrom, der dem Leben
des „Erzeugers" ein rasches Ende mächte. Das Kollabieren des Phallus
symbolisierte das Sterben.1) Doch diese Phantasie ist nur eine der
Phantasien aus den unzähligen, die diesem Kranken zu Gebote standen.
Er spielte in der Onanie alle Rollen, ähnlich wie es der geniale Ent-
deckerblick Freuds für den hysterischen Anfall nachgewiesen "hat. Er
war Weib und Mann zugleich (bisexuelle Tendenzen) , also aktiv und
passiv beteiligt. Je nach der Lage konnte er die eine oder die andere
Rolle spielen, meistens beide zugleich. Erst die Analyse konnte ihn
von diesen wilden Phantasien befreien, indem sie alle ans Licht des
Tages zog und ihm so den Weg zum Weibe frei machte.
Ärzten, welche die Schleichwege neurotischer Phantasien nicht
kennen, mag diese Schilderung lächerlich und phantastisch vorkommen.
Psychotherapeuten kommen bald darauf, daß ihre Kranken bestimmte
Rollen spielen und bestimmte Theaterstücke aufführen. Der eine ist
Christus, der andere Judas, der dritte Ahasver. Es gibt unter ihnen
einen Faust, einen fliegenden Holländer, einen Napoleon, ein Gretchen.
eine Ophelia, ein Lottchen und eine Messalina. Je stärker die Tätigkeit
der Phantasie ist, desto hartnäckiger wird die Fiktion festgehalten.2)
Ich kenne Patienten, welche den verlorenen Sohn spielen und alles so
inszenieren, daß die Tatsachen des Lebens sich mit ihren Phantasien
decken. In der Onanie wird Jede Phantasie reichlich ausgenützt. Ich '
kenne eine Dame, welche die Desdemona posiert, immer mit der
1) Sein tiefes Schuldbewußtsein stammte aus dieser Quelle. Er gab die Onanie
auf und erkrankte an einer schweren Zwangsneurose. jEs gelang ihm, die Sexualität
so zu unterdrücken, daß er keine Erektion mehr hatte. Er wurde keusch — aber
vollkommen lebensunfähig.
2) Vergleiche „Schauspieler des Lebens" in „Nervöse Leute" (Wien
1911) und „Der Neuro tiker als Schauspieler" (Zentralbl. f. Psvchoanalv,*
I. Bd., 1911).
Onanie ,uud Neurose.
53
Phantasie onaniert, daß sie ein schwarzer Mann erwürgt. Im Momente
des Erwürgens tritt der Orgasmus auf.
Eine andere Patientin onanierte mit der Phantasie, ihre Mutter
zu ermorden. Sie machte sich später heftige Vorwürfe. Sie habe durch
die Onanie ihre Gebärmutter ruiniert. Sie habe sich etwas „innerlich"
zerrissen. Sie habe deshalb keine Kinder und sei deshalb in der Ehe
frigid. Das sei die gerechte Strafe für die schwere Sünde der Onanie.
Wir sehen aber, daß diese Vorwürfe sich eigentlich nicht auf den
onanistischen Akt als solchen, sondern auf die den Akt begleitenden
Phantasien beziehen. Das verraten uns die hypochrondischen, nach dem
Prinzipe der Talion aufgebauten Befürchtungen, sie habe ihre „G e-
bärmutte r" ruiniert usw. Wir sehen, wie kompliziert die Frage des
Schuldbewußtseins bei der Onanie ist.
Bevor wir aber zur Analyse des Schuldbewußtseins bei der Onanie
schreiten und die für unsere Ausführungen wichtigen Schlußfolgerungen
ziehen, müssen wir uns noch mit der Analyse einzelner Fälle und be-
sonders mit den Formen der larvierten Onanie eingehend beschäftigen.
Das Verständnis der Onanie wird uns das Verständnis aller Paraphilien
vermitteln. Die meisten Paraphilien sind mit onanistischen Akten ver-
bunden, d. h., sie spielen sich nur in der Phantasie des Autoerotisten
ab. Sie sind oft nur Umwege und Schleichwege der Onanie.
Halten wir die wichtigsten Errungenschaften fest:
1. Die Onanie ist nicht die Ursache der Neu-
rosen. Die Neurose bricht aus, wenn die Onanie
aufgegeben wird.
2. Die Onanie bezieht ihre psychische Wertig-
keit aus der sie begleitenden spezifischen Phan-
tasie.
3. Bei vielen Individuen erlischt die Lebens-
freude, wenn sie die Onanie aufgeben.
4. Die psychischen und organischen Schädi-
gungen der Onanie und des Onanismus existieren
nur in der Phantasie der Ärzte.
Die Onanie.
in.
Larvierte Onauie.
Es gibt nur eine Art Liebe, aber tau-
send verschiedene Nachahmungen.
Im Rochefoucauld.
Kampf und Spiel sind die Lebenselemente . des Menschen. In der
Neurose richten sich Kampftrieb und Spieltrieb nach innen. Man
kämpft mit sich selbst und spielt mit und vor sich selbst.
Auch in der Onanie muß sich der Trieb der Selbstbefriedigung als
eine Form des Kampfeß und als eine Art von Spiel äußern. Uns inter-
essieren jetzt besonders die Formen, in denen der Kampf zum Spiele
wird. Es gibt unzählige Menschen, die sich brüsten, sie hätten die
Onanie sehr leicht überwunden. Die nähere Erforschung des Falles
zeigt aber, daß sie eine bewußte Onanie in eine spielerische halbbewußte
oder unbewußte verwandelt haben. Daß so viele Menschen das Auf-
geben der Onanie leicht vertragen, hängt von zwei Momenten ab.
Erstens war die Onanie für sie nur eine Notonanie und konnte von dem
Geschlechtsakt abgelöst werden. Die spezifische begleitende Phantasie
war eben nur der Geschlechtsakt ohne Komplikation, ohne Paraphilie,
ohne erschwerende, nicht realisierbare Begleitumstände. Zweitens aber
onanieren diese Individuen im Schlafe weiter. Man nennt diese Form
der Onanie Pollution. Es gibt aber viele Menschen, die gar nicht wissen,
ob und daß sie eine Pollution gehabt haben, und dann stolz verkünden,
daß sie sehr lange Zeit abstinent leben können. Wir werden bald eine
ganze Serie von Formen larvierter Onanie kennen lernen. Sie ist nach
meinen Erfahrungen häufiger als die bewußte Onanie.1) Ich zitiere nach
Rohleder einen sehr charakteristischen Fall von Folien Cabot.
Fall Nr. 10. Ein geistig und körperlich gesunder, auch auf sexuellem
Gebiete normaler Student von 22 Jahren träumte, daß er ohne Gefahr für
seine Gesundheit masturbieren könne, ja diese Art der sexuellen Befriedigung
') Rohleder s.chätzt auf hundert bewußte Onanisten einen unbewußten !
.1
Larvierte Onanie.
55
für ihn die beste sei. Post ejaculationem erwachte er, hochgradig deprimiert,
unwillig, sich selbst zum Ekel. Die Folge war Verlust des eigenen Selbst-
vertrauens und Furcht vor geistiger Erkrankung. Alle Anstrengung zur
Heilung, Brom, Regulierung der Diät, der körperlichen und geistigen Betäti-
gung, selbst Festbinden der Hände und ein Verband um die Genitalien sind
erfolglos. Lederhandschuhe, die angelegt wurden (im Handgelenk mit einem
Schlüssel verschlossen!), wurden trotzdem des Nachts im Traume geöffnet,
nachdem Patient im bewußtlosen somnambulen Zustand den in einer" Vase
verborgenen Schlüssel gefunden hatte. Nach dem Erwachen vollständige
Amnesie. Heilung durch eine Ehe. . . .
Wie anders waren doch die Alten! Sie hätten die Stimme des
Traumes als göttliche Eingebung aufgefaßt, wie wir solche Aufforde-
rungen zur Onanie häufig bei Geisteskranken bemerken können. Sie
berufen sich auf himmlische Stimmen, die von ihnen das Onanieren ver-
langen. Ich behandelte einmal einen etwas exaltierten Studenten, der
mir nach langem Zögern mitteilte, er allein habe das Mittel gefunden,
das Leben zu verlängern, ja vielleicht unsterblich zu werden. Dies Mittel
war die Onanie und er erstaunte später nicht wenig, als er hörte, dieses
Mittel wäre nach den Behauptungen so vieler Ärzte so schädlich,
während eine innere Stimme das Gegenteil behauptet hätte. Solche
Fälle von Onanie im Schlafe und Traume, wie der oben zitierte, habe
ich häufig beobachtet. Ich habe diesen nur referiert, um zu zeigen, wie
barbarisch in der modernen Zeit der Geschlechtsinstinkt mißhandelt
wird. Die Heilung durch Ehe beweist, daß es sich nur um N eine Not-
onanie gehandelt hat und daß dem jungen Manne nichts fehlte. als eine
entsprechende Ergänzung. Statt dessen erhielt er Lederhandschuhe und
Keuschheitsschlösser, die an das graueste Mittelalter erinnern!
Gleich der nächste Fall wird u-ns zeigen, wie ein Mann seine Pollu-
tionen sehr richtig als „unbewußte Masturbation" auffaßte.
Fall Nr. 11. Ich erhalte von einem Kranken folgenden Brief:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Ich versuche es, Ihnen meinen gegenwärtigen trostlosen Zustand sowie
die Entwicklung meines Leidens zu schildern.
Ich bin gegenwärtig 23 Jahre alt. In der Elementarschule war ich ein
sehr lebhafter' und talentierter Junge, doch habe ich damals an periodischem
Kopfschmerz und Bettnässen gelitten, sonst war ich nie ernstlich krank.
Im 13. Lebensjahre lernte ich von einem meiner Schulkameraden die
Onanie kennen, ich betrieb sie fast täglich und dachte dabei immer an den
normalen Koitus; erst später bin ich davon abgekommen und habe unter dem
Eindrucke der Angst masturbiert.
Bei jeder Schularbeit habe ich gefürchtet, ich könnte zur rechten Zeit
nicht fertig werden, sofort bekam ich eine große- Angst, die sich
rasch steigerte und mit der Ejakulation endete, wobei es
aber zu keiner vollständigen Erektion gekommen war.
56 Erster Teil. Die Onanie.
Anfangs habe ich mir gar kein Gewissen daraus gemacht, doch höchstens
einmal täglich das Laster betrieben und fühlte mich ganz gesund. Später aber
liel mir ein Buch in die Hand, das die schrecklichen Folgen der Selbstbe-
fleckung schilderte. Von dem Zeitpunkte habe ich immer einen schweren
seelischen Kampf auskämpfen müssen, ehe ich nachgab. Ich habe mir immer
fest vorgenommen, es nie mehr zu wiederholen, doch alle Vorsätze halfen
nicht, ich wurde immer rückfällig. Die Folge war wieder eine schwere De-
pression.
Aus diesen Kämpfen kam ich nie heraus, ich wurde traurig, zog mich
zurück, wurde zerstreut, vergeßlich, kam mit meinen Studien nicht recht
vorwärts und bedurfte im Obergymnasium ständiger Nachhilfe, obwohl ich
in den ersten zwei Klassen Vorzugschüler gewesen war.
In der Sexta verliebte ich mich in die 14jährige Tochter meines neuen
Kostgebers. Es war meine erste Liebe, die auch erwidert wurde. Rein plato-
nisch. Nie habe ich Erektionen bei der Anwesenheit des Mädchens gehabt,
obwohl wir oft längere Zeit beisammen waren und uns viel geküßt und um-
armt hatten. Diese innige Freundschaft dauerte so ein ganzes Jahr, ich wurde
dem Müßiggang und den Grübeleien über mein Leiden entzogen und kämpfte
auch mit mehr Erfolg gegen dasselbe, ich brachte es sogar zustande, 1 bis
2 Wochen lang nicht zu masturbieren und war mit mir zufrieden. Doch bald
wurde ich auf die Pollutionen aufmerksam, die ich bis dahin nicht gekannt
hatte. Ich hielt sie für unbewußte Masturbation und wußte
nun, daß es für mich keine Rettung mehr gab, denn sobald ich mit der Onanie
aufhörte, kamen die Pollutionen, die, wie ich gelesen hatte, ebenfalls Irr-
sinn und Impotenz zur Folge haben ; ich onanierte lieber bewußt und
hatte nicht mehr unter den Pollutionen zu leiden.
Gelegentlich versuchte icli einmal mit einem Bauernmädchen den Koitus
auszuführen, der infolge unvollständiger Erektion mißlang. Ich hielt mich
also für impotent und wagte einen letzten Versuch, indem ich mich an einen
Spezialisten wandte; der erteilte mir jedoch den Rat, mich zur Kur in seine
Heilanstalt zu begeben, wobei er mir allerdings vollständige Heilung ver-
sprach, doch konnte ich teils aus materiellen Gründen, teils aus Furcht, mein
Leiden könnte allen meinen Bekannten verraten werden, den Rat nicht
befolgen.
Ich gab jede Hoffnung auf Rettung auf, wechselte das Kosthaus, um
mit dem Mädchen nicht zusammen zu kommen, das mich an ein nie zu er-
reichendes Glück erinnerte.
Ich mied jede Gesellschaft, fühlte mich tief unglücklich und habe oft
an Selbstmord gedacht.
In der Schule machten mir die einfachsten Sachen Schwierigkeiten, mein
Gedächtnis wurde geschwächt und ich absolvierte mühsam das Gymnasium.
Nach der Matura setzte ich mir ein anderes Ziel. Ich beschloß, auf
alle Freuden der Welt zu verzichten und mich ganz der
Wissenschaft zu widmen.
Das erste Universitätsjahr habe ich auch wie eine Maschine gelebt, mit
niemandem verkehrt und fort studiert, so daß ich am Ende des zweiten
Semesters die ersten drei Prüfungen mit Auszeichnung bestehen konnte. Doch
diese Erfolge brachten mir keine Ruhe und Zufriedenheit, ich bin immer
traurig und unglücklich, besonders wenn ich sehe, wie meine Kollegen lustig
leben und immer voll Witz und. Humor sind.
Larvierte Onanie. q"j
Mein Leben ist für mich eine ständige Qual, bei der geringsten Ver-
anlassung habe ich eine große Angst, das Herz schlägt dann sehr heftig und
ich bin dann ganz krank. Mein Gedächtnis ist sehr geschwächt und ich habe
keine Lust zu irgend einer Beschäftigung. Ich habe nur wenig Hoffnung, daß
mir noch Heilung zuteil werden kann, da ich fürchte, daß mein Leiden schon
zu weit vorgesehritten ist, doch bitte ich Sie, Herr Doktor, wenn irgendwie
möglich, mich der körperlichen und geistigen Vernichtung zu entreißen, der
ich sonst ganz sicher entgegensehe. . . . stud. med. G. H.
Der Fall zeigt uns die bekannte Form der Onanie mit Ausnützung
von Affekten. Er onaniert mit Hilfe der Angst. Ferner sehen wir, wie
schon durch die Angst, die Onanie erzeuge Impotenz, der Jüngling bei
seinen Versuchen impotent ist, ja impotent sein muß. Auch das Schreck-
bild des Irrsinns erscheint an der Bildfläche. Wir sehen ferner die oft
betonte Askese; er will auf alle Freuden der Welt verzichten und sich
der Wissenschaft widmen. Die Onanie mit Hilfe der Angst gibt schlechte
Aussichten für eine Überleitung des sexuellen Bedürfnisses auf das
Weib, weil er in dieser Situation immer Angst produzieren wird und
bestenfalls mit einer Ejaculatio praecox reüssiert, außer es gelänge
einer analytischen Behandlung, ein „redressement psychique" zu er-
zielen.
Die Einsicht in das Wesen der Pollution macht dem angehenden
Arzte alle Ehre, sie wird von vielen seiner fertigen, erfahrenen Kollegen
nicht gekannt.
Viel tiefer in alle unsere Probleme führt uns der nächste Fall:
Fall Nr. 12. Im Sommer dieses Jahres konsultierte mich eine Frau
wegen Schlaflosigkeit. Die Form der Schlaflosigkeit war eine solche, wie
man sie bei der Angstneurose sehr häufig beobachtet. Die Dame schläft bald
ein, wacht aber plötzlich mit Herzklopfen und einem heftigen Angstgefühle
auf, wälzt sich stundenlang auf dem Lager und kann nicht wieder einschlafen.
Durch den Kopf gehen ihr allerlei wirre Gedanken, über die sie keine Aus-
kunft geben könne. Das Leiden sei wahrscheinlich durch die Onanie ent-
standen, welche sie seit ihrer Jugend bis vor einigen Monaten betrieben habe.
Sie wisse von Ärzten und aus Büchern, daß sie sich die Nerven durch das
Laster vollkommen ruiniert habe. Sie mache sich die heftigsten Vorwürfe.
Ihr Mann wisse von der Schlaflosigkeit gar nichts, sie fürchte sich, ihm die
Krankheit einzugestehen, weil er sich denken werde: Aha — sie hat sicher
onaniert! Jetzt sei zu der Schlaflosigkeit noch eine quälende Grübelsucht
gekommen. Sie müsse immer denken, wie glücklieh sie sein könnte, wenn sie
nicht onaniert hätte. Sie mache im Geiste der Mutter die heftigsten Vor-
würfe, weil sie sie nicht entsprechend belehrt und vom Laster abgehalten
hätte. Sie kämpfe mit Selbstmordgedanken und wolle nicht länger leben,
wenn ich ihr keinen tiefen Schlaf verschaffen würde.
Dieser Fall ist typisch. Unsere Kranke war so lange gesund, als sie
onanierte. Einige Wochen nach der Abstinenz setzte die Schlaflosigkeit und
bald darauf die Grübelsucht ein. Diese Beobachtung können wir immer wieder
58
Erster Teil. Die Oaauie.
machen. Auch unsere Patientin dachte an Selbstmord. Nun gibt es ein
wichtiges Gesetz im psychischen Leben, das der Talion, der W^defvergeTtune
Keiner tötet sich selbst, der nicht einen anderen töten wollte I S2
sieht verlangt unser Fall noch nähere Erklärungen
Koitus verbiete, le fügte S d™ ^J ^"Ä ^ lhm einen häufi§en
es zu Pausen von ÄtlT?1 ^ ^ ArZte8> W°bei
mädchen zu ihr und kündigte ihr?iP TS" Eme\+Tagee kam das Stubefl-
„gnäd.ge Herr" lasse ihr keL Ruhe | SS** im *?U8e "*«. der
und sie habe kein anderes MtJ „™ £ ?t lg! ?e Schon seit Monaten
kündigen. Die Wirkung die! r ^Ä£\ Unschuld zu wahren, als zu
fürchterlichen Szenen. Si T^Zl iTÄ ^SL^Sf ** *& VOn
reuigen Mann jede Gunstbezeigung. Was Bt a™ ?JS ^ Jf7?i"rto dem
Vergangenheit. Sie war eine schöne S^£,fi S8tea krankte' War ihre
nachgestellt hatten und ATöÄfet'1*^
Gedanke war, sich zu revanchieren AIl2J5X*ff k ^ Ihp erster
Und sollte sie jetzt mit 40 Jahren anWen schlecht? erWachsenLKinder-
bisher konsequent den Pfad der TugJ^^i? ""S naChdem *
so dumm gewesen? Wenn sie die Macht hätte 31 V ~ t *?rum War Ble
zu machen und die ewig Vtal^gÄ1*^
Gedanken der Revanche näherzutreten. Aber der M^S il S? de?
und eifersüchtig und suchte nach Gelegenheiten, um i der UntZ ^k *
uhren und so quitt zu sein. Sie konnte auch nicht ,, o schS?^ f6?
wenn sie es wollte. Sie war zu moralisch erzogen. Solange der Mann' |2?
2e «yhn nicht betrügen! Dieser Gedanke blitzte ihr durch d '
W?n' als.def -Mann «*nmal fiebernd nach Hause kam. Und JLtiuLw
Wenn dem Mann jetzt stirbt, so bist du frei und kannst machen t
du wülst Der Mann wurde gesund, das Haus noch ungemTt hZ'r IT
bi her. Bald setzten weitere Beseitigungsideen ein, die sTch 1 v£
giftungsphantasien verdichteten, aUe im Dienste der RachetendenZen dTI
£n*fl !TVareVCuh0n ^ÄteateilB unbewußt. Jetzt war der p^ch^Z
S8ÄS^ da eiü T6il der Motive und *** *^ss
Und jetzt erst hörte sie zu onanieren auf. Sie hatte eigentlich beim
,1,1 FmeLKne JmBfeiB? gfhabt Sie ™ in^n anästhetisch, so daß T
Ko iL Pi- ;°r ^^tom/betnebpe Onanie ihr mehr bedeutete 5? der
A-oitus. Plötzlich aber kam ihr der Gedank« «io >„k0 «-.t. a v 7- A
Larvierte Onanie. 59
Schuldgefühle, die aus anderen Quellen stammen, aber nicht bewußt werden
dürfen und können. Die Onanie ist der Repräsentant aller Schuld.
So war es in diesem Falle. Diese Frau machte sich Vorwürfe über die
Todeswünsche und kriminellen Phantasien. Diese Affekte verschoben sich auf
die Onanie. Jetzt verstehen wir erst ihre Selbstmordtendenzen. Sie waren die
Strafe für ihre Vergiftungsideen. Auch das Aufgeben der Onanie entstammte
einem Verdikte des inneren Richters. Sie hatte sich für schuldig gefunden und
strafte sich mit der Entziehung der höchsten Lust, die sie kannte, der Onanie.
Sie war aber unfähig, ein Leben ohne Onanie zu tragen. . . Sie war schlaflos,
weil die wichtigste Wurzel der Schlaflosigkeit die mangelnde sexuelle Befriedi-
gung ist, wie ich an anderer Stelle in meinem Buche „Nervöse Angstzu-
stände"1) ausführlich dargestellt habe. Ihre Schlaflosigkeit hatte aber den
merkwürdigen Typus, daß sie erst ruhig einschlief und dann aus wirren
Träumen plötzlich mit Schrecken erwachte. Was für Träume konnten das
sein? Sie teilte mir einige davon mit. Es handelte sich um Liebesszenen mit
fremden Männern. Sie wachte knapp vor dem Orgasmus oder während des
Orgasmus auf und fand ihre Hand regelmäßig an ihrem Genitale. Sie onanierte
also im Schlafe weiter.
Auch hier sehen wir die häufigste Form der unbewußten Onanie:
die Pollutionen.2) Alle Neurotiker haben ein wichtiges Prinzip, ohne
dessen Kenntnis sich viele ihrer Handlungen nicht erklären lassen. Es
lautet: Lust ohne Schuld. Die Pollution ist eine Form der Onanie, für
die man nichts kann. Die Vorwürfe können sich nicht mehr an die
eigene Adresse wenden. Aber unsere Patientin übernahm auch die Ver-
antwortung für ihre Träume. Sie wollte auch im Traume nicht fallen
und wollte keinen Orgasmus mit der Phantasie einer Sünde. Sie wollte
keusch bleiben. Es war das die geheime Strafe, die sie sich unbewußt
auferlegt hatte. Es setzte dann bei ihr eine Angst vor der Nacht ein,
die eigentlich nur eine Angst vor den bösen Gedanken der Nacht war."
Sie schlief nicht ein, weil sie sich bewachen mußte, um nicht im Schlafe
zu onanieren.
Ich will nun diesen Fall zu Ende referieren. Die Aufklärung der
Beseitigungsideeh, die offene Aussprache der Patientin hatten einen
ziemlich guten Erfolg. Die Kranke konnte mit einem halben Gramm
Adalin fünf Stunden schlafen. Aber sie wachte in der Nacht auf und
nahm aus Angst, sie könnte schlaflos- bleiben, wieder ein halbes
Gramm U6w. Nun ist eine solche Kranke nicht geheilt, wenn sie nicht
ohne Schlafmittel schlafen kann und ßie nicht die Angst vor der Nacht
verliert. Diese Angst wollte nicht weichen. Eines Tages jedoch kam sie
glückstrahlend zu mir. Sie habe die ganze Nacht ruhig geschlafen. Sie
war geheilt. Nach Wochen gestand sie mir, daß sie er6t schlafen konnte,
als ßie wieder .zu onanieren anfing. Ihr Aussehen veränderte sich auf-
/) Vgl. Bd. I, 3. Aufl., das Kapitel „Schlaflosigkeit".
s) Vgl. das Kapitel „Pollutionen" in Bd. IV.
60
Erster Teil. Die Onanie.
fallend. Sie wurde wieder lebensfreudig, konnte lachen, eich unterhalten
kurz, sie fühlte sich als Gesunde und war es auch.
Wo sind also in diesem Falle die schädlichen' Folgen der Onanie»
■ jJSüT , rr,rUhig TT""1 NutZe" 6prechen- ohTO «™ ^<*te8
n müssen, als Onanieadvokaten" verschrien zu werden. Denn meiner
tXl^'t" diet°riead™kat- -*■«* weniger Schaden
f* a! d,e,.<>na';leJ8ta^a™älte- ■ ■ Wir ersehen aber aus diesem
Tet VI seZ 7 W *?» ** ^Bewußtseins bei der Onanie
Onante aus^lr ;lne0n,'rtnäCkigen Kami'f gegm die ™be<™«te
Unanie aus Gründen der Selbstbestrafung
Ich kennehZwae„^nhtUnfeJ1 *T **" unbefa"«ene Beobachter machen.
W kenne Zwangsneurotiker, die vollkommen gesund wurden, an Ge-
wicht zunahmen leistungsfähiger wurden, wenn man ihnen ein Gewisses
mir heTr Sfer!,edigUn8 he^ AU» P^^otlierapeuen Verden
Zw !ff ' dle 6ChWerSten PäIk TOn N««» Jen" sind die an
geblich vollkommen abstinent sind und nie onaniert haben
4„„n a"" »k ,'Ch eingangS an«eführt, daß alle Menschen onanieren
Au h diese Abstinenten müssen onaniert haben. Und das Hab n ie
auch und meistens in ausreichendem Maße. Daß sie es „ Li, Jssen
nicht einmal ahnen, zeigt uns die Größe der Verdrtanin* Z «L!T '
der Spaltung ihrer Psyche, zeigt uns die K^tÄt^Ä
wußtsein und Unterbewußtsein dehnt. Deshalb sind diese *S so
»chwere, weil es große Mülle kostet, die infantile und larvierte Onan c
zu entdecken und bewußt zu machen. Denn alle diese scheinbar Ab
stinenten betreiben irgendeine Form der unbewußten (larvierten)
Die häufigste ist - wie schon erwähnt - die Pollution Viele
Menschen nehmen sehr energisch Stellung gegen die Pollutionen und
fuhren gegen sie einen schweren erbitterten Kampf. Der Gesunde nimmt
nie Pollution als ein Fatum, ja sogar in manchen Fällen als eine will
koramene Erleichterung auf. Er hat sieb mit dieser Art der Onanie
ohne „Schuld des Bewußtseins" abgefunden und freut sich dieses harn,
osen Betruges. Der Neurotiker, dessen die Onanie begleitenden Pham
tas.en immer ins Verbotene münden, kämpft gegen die Onanie, weil sie
mit Inzestphan asien kriminellen Regungen, „Paraphilien" verknüpft
K Lf F r6Ur St ei"eJ Strenge Diat' hartes La«<*. Medikamente
Kuh senden, Erschöpfung durch physische Arbeit, Hypnose usw. de
Pollutionen Herr zu werden. Jede P„llution erfüllt ihn mit Sorge, Angs
m d,e Gesundheit und Verzweiflung. Meistens treten diese Pollutionen
WarnZl- n6 7 T' ^^ durCh eines der preislichen
Süonen v ^ •V""' *" 0"anieren «*»*«- Ma" «ieht die
P ollutmnen verschwinden, wenn sie wieder zu onanieren anfangen Wir
Larrierte Onanie. öl
wissen es schon : Der normale Geschlechtsverkehr ist
nicht immer ein Heilmittel gegen die Pollutionen.
Man sieht manche Männer, deren Pollutionen vollkommen aufhören,
wenn der normale Verkehr aufgenommen und häufig genug ausgeübt
wird. Andere jedoch gehen zu einem Weibe und bekommen noch nachher
eine Pollution oder müssen nachher onanieren. Woher kommt das?
Das rührt daher, daß diese Menschen beim Weibe nicht ihre
adäquate Form der Sexualbefriedigung gefunden haben, oder daß nur
eine Komponente ihrer Erotik bei dem Akte in Aktion trat, die anderen,
wie alle hungrigen Triebe, auf Erfüllung lauern. So gibt es heimliche
Homosexuelle, die selbst nicht wissen, daß sie- homosexuell begehren,
welche immer nach einem Akte bei einer Meretrix onanieren müssen.
Also die verschiedenen Formen der Pollutionen sind nichts als
eine mehr oder minder geschickt larvierte Onanie. Manche Patienten
geben das direkt an. Sie überraschen sich dabei, daß sie im Schlafe die
Hände bei den Genitalien halten, wehren sich dagegen und versuchen,
durch allerlei Manipulationen die Hände außerhalb der Decke zu fixieren.
Denn der Kampf gegen die Pollutionen kann ebenso erbittert ge-
führt werden wie gegen die bewußte Onanie. Ich kenne viele Menschen,
die an Schlaflosigkeit leiden x) , weil sie sich vor den Pollutionen und
vor dem die Pollution einleitenden Traum fürchten. Häufig wird der
anstößige Traum vergessen. Ein „wüster Kopfschmerz" am Morgen
oder ein arger Kopfdruck (der bekannte eiserne Reifen Um den Kopf,
lange Zeit ein Stigma der „Neurasthenie") verraten dem Psychothera-
peuten, daß die Kranken nach dem Erwachen große Anstrengungen
gemacht haben, um den Traum der Nacht zu „verdrängen".
Besonders tragisch nehmen Jünglinge die gehäuften Pollutionen.
Es sind wahre Orgien des Unbewußten, die in wirren wechselnden Traum-
bildern gefeiert werden. Zu dem Schuldbewußtsein wegen der den Traum
begleitenden Traumbilder treten noch die hypochondrischen Vorstel-
lungen. Die erschreckten Pollutionisten wähnen, daß ihre Gesundheit
vollkommen ruiniert sei, sie fürchten, daß sie sich nie mehr im Leben
erholen und rückenmarksleidend oder wahnsinnig werden könnten. Sie
laufen zitternd von Arzt zu Arzt und flehen um Hilfe. Aber alle inneren
Mittel (Brom, Kampfer, Lupulin), alle diätetischen Maßnahmen er-
weisen sich als machtlos und selbst die Psychotherapie kann vollkommen
versagen, wenn die Kranken nicht den Mut zur Aufrichtigkeit finden.
Mitunter gelingt es, durch freundlichen Zuspruch, durch Be-
lehrung, durch offene Aussprache die Patienten zu beruhigen und ihnen
1) Vgl. „Der Wille zum Schlaf!" Ein Vortrag. (Verlag von J. F. Bergmann,
Wiesbaden 1915.)
62
Erster Teil. Die Onanie.
Ruhe und Heilung zu verschaffen. In dem Falle, den ich jetzt referieren
werde, ist das leider nicht gelungen. Der Fall ist auch deshalb von Be-
deutung, weil der Kranke bald zur Einsicht kam, daß die Pollutionen
nur Onanie wären. Diese Einsicht wurde ihm nicht von mir aufgedrängt
Er fand sie selbst. Immer werden wir unter den Patienten, die uns
wegen nächtlicher Pollutionen konsultieren, einige finden, für die der
Ausdruck Pollutionen ein Euphemismus für „Onanie" bedeutet. Es ist
die Art, wie sie dem Arzt die Onanie gestehen. Besonders ältere
Menschen schämen sich,, zuzugeben, daß sie gezwungen sind, zu
ÄÄ*T ÜW Pollutionen' die wider tan **- * der
tioJi^^Ä^ *5* daß er iede Nacht 4-5Pollu-
muS, Si£S^^äSt% Äi^^
a ä « s™^^
seien * SftSÄÄ*? fc ■** ^ Pollutionen Entlieh Onanie
w L Sem Zustande besinnungslos, wie in einem Traum und
wisse nicht, was er mache. Er sei am nächsten Tage nach den p2«I
(oder eigentlich nach der Onanie, denn er berühre mit der Hand da S
ganz zerbrochen und zu jeder geistigen Arbeit unfähig. Trägt sich mit Selbst-
mordgedanken fürchtet wahnsinnig zu werden. Ordination 3 p SeTobÄ
Abends. Empfehle ihm nach Ablehnung einer Psychanalyse Jbk Sanatorium
welchen Vorschlag er mangels von Mitteln nicht annimmt. (Wie es sTch 2
herausstellte, wollte er nicht in ein Sanatorium gehen!) * SPater
Trotz Sedobrol der gleiche Zustand. Onanie „unzählige" Male Er
könne gar nicht angeben, wie oft er onaniert habe. Ich erfahre endlich' daß
die Pollutionen eingesetzt haben, seit er mit dem Bruder und dem Freund
in einem Zimmer schläft. Der Bruder wird von dem Kranken furchtbar
tyrannisiert. Er will nicht allein ausgehen, er fühlt sich zu schwach Er
benotigt den ganzen Tag die Hilfe des Bruders. Ich rate, er möge in einem
eigenen Zimmer schlafen, und motiviere, daß er frische Luft brauche
Hat den Rat nicht befolgt. Er kann nicht ohne den Bruder allein im
Zimmer bleiben. Er fürchtet, daß er sterben werde. Er kann nicht allein sein
&r beschuldigt den Bruder, daß er an seinem Leiden schuld sei. Der Bruder
ÄÄ r™^? ^^verkehr, weil er ihm sage, daß er
Frauen T ^ ™*1 Der Brud<* Bei gegen jeden Verkehr mit
Tauen. Imraer deutlicher wird es, daß er mit homo-
Larvierte Onanie. 63
sexuellen Phantasien onaniert. Die Phantasien beim Onanieren
kennt der Kranke nicht. Er will nicht wissen, was er während der Onanie
denkt, und behauptet: (rar nichts.
Der Versuch, die Libido auf ein Mädchen abzuleiten, wurde wieder unter-
nommen und hatte folgendes Kesultat: Er erzielte keinen Orgasmus. Die
Erektion hielt stundenlang an, aber es erfolgte keine Ejakulation, die sonst
während der Berührung mit der eigenen Hand sofort eintrat. Er wehrt sich
noch immer mit allen Kräften gegen meinen Vorschlag, allein zu schlafen,
will auch keine Anstalt aufsuchen. Ob der Bruder nicht nebenan in einem
Zimmer schlafen könnte? Er motiviert die Angst vor dem Alleinsein mit
Krankheit, Schwäche, Angst. Er gesteht, daß er trotz der Anwesenheit des
Mädchens onaniert habe.
„Woran denken Sie, wenn Sie onanieren?"
„Ich weiß es nicht."
„Sie wollen es nicht wissen."
„Sie haben recht. Ich will es nicht wissen. Mir fällt immer etwas
Dummes ein. Das werde ich Ihnen nie erzählen" . . .
„Warum nicht?"
„Weil ich mich schäme. Oder ich kann es Ihnen andeuten. Es ist eine
Szene aus der Kindheit. Dummheiten, wie sie die Kinder untereinander machen.
An diese Dummheiten denke ich immer. Sagen Sie mir, gibt es keine Hilfe
gegen diese Gedanken? Warum verfolgen sie mich die ganze Nacht? Ich schlafe
immer ruhig ein, um 7»1 oder 1 Uhr erwache ich und fange mit den Pollu-
tionen an. Ich erwache schon mit der Pollution."
„Das heißt, Sie onanieren . . ."
„Ja, ich kann mir nicht helfen. Ich onaniere."
Nach zwei Tagen wird mir berichtet, daß er sich erschossen habe. Ein
Beitrag zum Thema: Selbstmord und Onanie. Er nahm das Geheimnis seines
Leidens mit ins Grab. Es ist anzunehmen, daß er sich mit aller Kraft gegen
homosexuelle Phantasien wehrte. Die Frauen hatten für ihn jeden Wert ver-
loren. Der Bruder und der Freund waren sein einziger Umgang. Er nahm sie
ganz für sich in Anspruch und verhinderte es, daß sie mit anderen verkehren
konnten. Er hatte nur ein einziges Mal in den letzten zwei Monaten einen
Orgasmus, als er mit der Geliebten des Freundes verkehrte. Wir werden bei
der Besprechung der Homosexualität diese Tatsache eingehender würdigen.
l)ie Gehebte des Freundes war der Umweg, wie er den Freund besitzen
Konnte eine „Maske der Homosexualität". Nachdem er sich überzeugt hatte,
üaü er bei anderen Frauen keinen Orgasmus erzielen konnte, wurde er traurig
und verstimmt. Kein Weib konnte ihm den Orgasmus der Onanie ersetzen.
1 In i°r mcht Weiter onanieren un<* schied lieber aus dem Leben,
als lau er sich seine homosexuellen Phantasien eingestehen wollte. Der Durch-
bruch dieser Phantasien in das Bewußtsein stand drohend vor seinem geistigen
Auge Lr drohte ihm, so daß sich sein armer Kopf verwirrte und er an
„Angst vor dem Wahnsinn" erkrankte. Damit motivierte er seinen Selbst-
mord. Diesen vollzog er in der Wohnung des geliebten Bruders. Er zog sich
in den Abort zurück, nachdem der Bruder ihm einen kleinen Wunsch ab-
schlagen mußte, und jagte sich eine Kugel durch den Kopf.
Zur Erforschung der spezifischen Phantasie
sind die die Pollutionen begleit enden Träume von
64
Erster Teil. Die Onanie.
aller grüßt er Bedeutung. (Wir werden solche Beispiele noch
kennen lernen, wie ja überhaupt die späteren Ausführungen häufig die
Bestätigungen dieser Ausführungen bringen werden.) Läßt man sich
den Pollutionstraum erzählen, so hört man oft, daß die Patienten ihn
vergessen haben oder daß sie sich das Gesicht des Sexualobjektes nicht
gemerkt haben. Andere sprechen ihre Verwunderung über die ver-
schiedenen Paraphilien aus, die sie im Traum ausführen, und versichern
komischerweise, daß ihnen so eine Handlung „selbst nicht im Traum"
einfallen würde.
Für die Therapie der Pollutionen ergeben sich aus diesen Be-
trachtungen die wichtigsten Anhaltspunkte. Oft müssen die Verhält-
nisse erforscht werden, in denen die Patienten leben. Man kann durch
einlache Maßregeln, wie durch eine veränderte Umgebung, die wunder-
barsten Heilungen erzielen. So kommt es, daß manche Menschen in
Wien an Pollutionen leiden und in Salzburg davon verschont bleiben.
Sie pflegen das auf die Luft zu schieben. Es hängt aber mit den Assozia-
tionen zusammen, welche aus der betreffenden Gegend zuströmen, es
hangt von den Reizen des Milieus ab. So empfahl ich dem letzten
Patienten die Abreise aus Wien. Ich bin überzeugt, daß sich der Zu-
stand des hoffnungsvollen Menschen in anderer Umgebung rasch ge-
bessert hätte, daß ein Aufenthalt in einer Anstalt das kostbare Leben
des hochtalentierten Menschen hätte retten können.
Eine weitere Form unbewußter Onanie ist die Onanie in hyste-
rischen Anfällen, die in allen möglichen Abstufungen vom großen
hysterischen Anfalle mit Are de cercle bis zur vorübergehenden Absence
von einer Sekunde vorkommen. In allen diesen Vorgängen, in denen
das Bewußtsein ausgeschaltet ist, gehen verbotene Handlungen vor sich
Eine dieser Handlungen, und zwar die häufigste, ist die Onanie. Die
Onanie ist mit verschiedenen Phantasien verbunden, mit kriminellen x)
und perversen Vorstellungen. Droht der Durchbruch einer dieser Phan-
tasien ins Bewußtsein, so wird durch einen hysterischen Anfall der
onanistische Akt im Unbewußten erledigt. Die charakteristischen Be-
wegungen mancher Hysterischen lassen ja darüber gar keinen Zweifel
ebenso kann man auch direkte Onanie, Bettnässen, Samenabgang bei
diesen Anfällen beobachten. Nach dem Anfall fühlen die Kranken ent-
weder ein tiefes Schuldbewußtsein, quälende Reue, oder sie geben an,
daß sie sich auffallend leichter (wie ohne Gewichte, als wenn sie Flügel
hätten) vorkommen. Solche Beobachtungen kann man auch nach dem
Koitus oder dem onanistischen Akte machen. Kein Wort ist falscher
*) Vgl. meinen Aufsatz „Die psychische Behandlung der Epilepsie". Zentralblatt
für Psychoanalyse, I. Bd. und „Nervöse Angstzustände", 3. Aufl.
Larvicrte Onanie. . 65
als das bekannte lateinische Post coitum omne animal triste! Die
Stimmung nach dem Akte hängt nur davon ab, ob sich ein Schuldbe-
wußtsein an den Akt knüpft oder nicht.
Die Frage nach der Schädlichkeit der Onanie erledigt sich mir
nur in diesem Sinne. Wer ohne Schuldbewußtsein (ohne Angst) onaniert,
empfindet bei mäßiger Onanie keinerlei Schaden, auch keine schädlichen
Nachwirkungen. Alle gegenteiligen Beobachtungen sind falsche Auf-
fassungen einer psychogenen Depression. Glaubt der Onanist sieh ge-
schädigt zu haben, hat er irgend ein Buch über die Schäden der Onanie
gelesen, oder wurde er vom Arzte oder Erzieher falsch belehrt, so wird
nach jedem Akte das Schuldbewußtsein alle jene Symptome erzeugen,
die man der Onanie zuschreibt. Ich habe noch nie einen
Schaden von der Onanie beobachten können bei
Menschen, die an den Schaden nicht geglaubt haben.
Alle die6e Schäden kommen von autosuggestiven Angstvorstellungen.
Die Ärzte wissen noch immer nicht, daß die Angst die schwersten
Krankheiten hervorrufen kann. Sah ich doch bei einem Arzte, der eine
Lues überstanden hatte, infolge der Angst vor Tabes eine hysterische
Pseudotabes auftreten !
Doch zurück zu unseren larvierten Formen der Onanie. Da gibt
es Frauen, denen plötzlich schlecht wird, sie werden schwach und fühlen
eine süße Ohnmacht.1) Diese süße Ohnmacht ist der Orgasmus nach
einem unbewußten oder nur halbbewußten onanistischen Akte an der
Nähmaschine oder nach einer Phantasie (geistige Onanie) , nach einem
automatischen Spiel, z. B. im Täschchen, das auf- und zugemacht wird,
wobei der Finger hineingesteckt wird. Solche symbolische Formen der
Onanie sind sehr häufig. Hierher zählt das Nasenbohren, gewisse Be-
wegungen mit den Fingern, Spiele mit den Taschen, den Ringen, Reiben
der verschiedenen Öffnungen des Körpers, z. B. Ohrmuschel, der Anal-
gegend usw.
Es kommt nur darauf an, daß die Phantasie erregt oder eine ero-
gene Zone gereizt wird. Diese erogene Zone kann die Haut oder eine
Schleimhaut sein, es können aber alle Stellen des Körpers dazu ver-
wendet werden. Ieh habe an dieser Stelle keineswegs alle Möglichkeiten
der larvierten Onanie erschöpfend geschildert. Das ist fast unmöglich.
Ich wollte nur zeigen, daß es Onanieformen gibt, welche von den Ona-
msten nicht als Onanie erkannt und gewertet werden. Ich kenne eine
Dame, die durch Immissio et frictio digitis in anum onaniert. Sie weiß
aber, daß sie onaniert, und erzielt auf diese Weise vollen Orgasmus
•Uas ist offene Onanie. Eine andere Dame aber behauptet, sie müsse
') Vgl. „Nervöse Angstzustände", 3. Aufl., S. 000.
Steköl, Störungen des Trieb- und Affektlebens. II. 2. Aufl. 5
66
Erster Teil. Die Onanie.
TnL b*- a "T^ÜT' WaS S6hr ßchmerzha^ und unangenehm wäre
sonst könne der Stuhl nicht passieren. Sie öffnet sich den Anus vor'
jedem Stuhlgang. Das ist larvierte Onanie. Wieso kommt es aber Z
kälned^naSmUS mCht ^ daß WeSen dieser Prozed- bBleh^tT Oder
kann der Orgasmus ganz ausbleiben?
In allen diesen Fällen von Onanie in maskierter Form kommt es
....... ...... ::.d::.^"-.r,.'~ :„ ; »<•;
können auch auf einem an eren Wege SJtf'Ä °TT"
erzeugt werden u vm«„ • r, . auf dem autoerotischen
Laien ausgeführt wurde und in Jeder ÄÄ^ Sen
Ptel Li' mda T' BreCh,rel2 rd ^ R6ihe and-r nemsVst-
K™L u rff ™a*w*«Kg« Krampfzustände, in denen Ter
Kranken alle Glieder „steif" wurden. Dabei klaate sin 8U p . T
und heftige Magenschmerzen. Am Schluß ÄL« ^ 5£*?
Masse Gesicht und es trat eine angenehme Erschlag £ MudigkeH
ein. Diese Krämpfe waren die unbewußte Wiederholung rt«, m™
Dm Steifheit der Glieder entsprach einem *ÄftSÄ
Hohe des Orgasmus und hatte ihr Analogen in dem bekannten Ar, dl
-rele der Hysterischen und der an Erotomanie IdLdtTrlüen L,
kenne Turner, die mit Hilfe ihrer Muskeln onanieren Sie smnnl In
Muskeln des Körpers aufs stärkste an und erzielen so den O^L o
In ahDl'cher Weis* «<**" ™le Formen larvierter Onanie voHch >')
") Vgl. den schon erwähnten instruktiven Artikel ,on Ermt K™„ m.
Larvierte Onanie.
67
Alle diese Menschen wissen angeblich nicht, daß sie einen Orgas-
mus empfunden haben. Im Gegenteil! Sie klagen über Schmerzen. So
auch die erwähnte Dame, die jedesmal vor der Massage versicherte, es
wäre ihr eine Tortur und sie wäre glücklich, wenn die Martere! vorüber
wäre. Aber sie ging immer wieder zur Massage und protestierte lebhaft,
als ihr Mann die Kur abbrechen wollte, weil er merkte, daß in ihr eine
sonderbare Veränderung vorging. Sie motivierte, man müsse eine be-
gonnene Behandlung zu Ende führen und1 die „kleinen Unannehmlich-
keiten" ertragen. Sie wollte auf ihren Orgasmus nicht verzichten. Hätte
man sie über den Charakter der Schmerzen aufgeklärt, sie hätte ent-
rüstet protestiert. So wollen sich die Menschen selten dazu bekennen,
daß sie in versteckter, heuchlerischer Form weiter onanieren. Soll
doch diese Form dazu dienen, das Gewissen zu beruhigen und sich die
lästigen Vorwürfe zu ersparen, die sich an den auto erotischen Akt
knüpfen!
Noch häufiger sind die Formen der larvierten Onanie, die sich
in Hautjucken äußern. Z. B. eine siebzigjährige Frau, die an Pruritus
vulvae leidet und nicht einschläft, ehe sie sich „ordentlich" gekratzt
hat. Das Kratzen ersetzt die Onanie und wird bis zum mitigierten
Orgasmus fortgesetzt. Eine fünfzigjährige Frau produziert jeden Abend
ein heftiges, unerträgliches Jucken am ganzen Körper; die ganze
Familie, der Mann, die Tochter, der Sohn müssen sie kratzen. Zuletzt
kratzt die Dame selbst überall, wie gesagt, wo es sie am heftigsten
beißt, fühlt plötzlich einen heftigen Urindrang, womit die Szene be-
endet erscheint und sie einschlafen kann. Jeden Abend wiederholt sie
das Manöver. Viele rätselhafte, jeder Therapie trotzende Fälle von
Urtikaria und anderen Neurodermatosen, die mit heftigem Jucken ein-
hergehen, sind nur larvierte Formen der Onanie.
Eine häufige Form der Onanie, die Spermatorrhoe der Männer,
habe ich schon als typisches Leiden der Sexualabstinenten erwähnt'
Bei Menschen die häufigen Geschlechtsverkehr pflegen, habe ich sie nie
beobachtet Die Spermatorrhoe geht manchmal mit einer leisen oder
komln1^, l kel LustemPfind™S **«. Solche Lustopfindnngen
ro37 ^StUhlgang V°r ^ Ve™ten> daß d^ Anus eine
72TI l ? ^ Gben dn Irrtum' daß <*« Onanie nur an Geni-
Z£ V1 a g *' JGde er°gene Zone kan» ™ Onanie benützt
werden. Der Anus ist eine erogene Zone ersten Ranges. Daher gibt
aLT JT161186 ?° F0men Werter Onanie an dieser Stelle.
Manche bohren mit dem Finger wegen Jucken, ein anderer, ein Stuhl-
hypochonder - man entschuldige das unappetitliche Thema -, um
sich den Stuhl, der angeblich nicht herauskommen will, mit dem Finger
zu entfernen, ein dritter, um seine Hämorrhoiden zu untersuchen nnd
5*
68
Erster Teil. Die Onanie.
zu reponieren, die erwähnte Dame, um den Anus zu erweitern. Es
werden immer organische Unlustempfindungen benützt, imi sich den un-
entbehrlichen Orgasmus zu verschaffen.
Viele Analerotiker leiden an Obstipation. Sie benützen das Leiden
dazu, um mit Hilfe des Stuhles zu onanieren. Schon die kleinen Kinder
halten den Stuhl gern zurück, weil sie beim Durchpressen des harten
Stuhles Libido empfinden. Deshalb klagen die an Spermatorrhoe
Lernenden meist über Verstopfung und geben an, daß mit dem Stuhle
Sperma abgeht. Sie gestehen ungern, daß sie dabei einen mehr oder
minder stark ausgeprägten Orgasmus empfinden. Andere Analerotiker
haben eine anregende Spielerei mit dem Irrigator und fühlen sich nach
einer ausgiebigen Stuhlentleerung erfrischt, wie neugeboren, geben zu.
daß das Defäzieren die größte Wonne ihres Lebens ist. Ihr ganzer
geistiger Horizont ist von analerotischen Vorstellungen erfüllt. Auch
Hämorrhoiden, Analfissuren, die unter Umständen große Beschwerden
machen, sind oft artifiziell erzeugt, die Folge der zahllosen Manipula-
tionen m der Analgegend.
Der Irrigator ist oft nur ein Objekt der Lustgewinnung und dient
bei Mannten und • Weiblein zu mechanischen Reizungen unter dein
Deckmantel hygienischer Maßnahmen. Vielen Menschen ersetzt der
Irrigator ein Liebesobjekt, so daß es mich nicht Wunder nimmt, daß
er m den Phantasien der Onanisten und Fetischisten eine so über-
ragende Rolle spielt.1)
Mit großer Offenheit schildert Luther seine analen Beschwerden
5° r i \*S m *inem Briefe an Melanchthon: „Der Herr schlug mich
durch heftigen Schmerz in den Posterioribus; mein Stuhl ist so hart, daß
ich gezwungen werde, ihn unter großem Schmerz herauszupressen, bis
mir der Schweiß herabrinnt; uud je länger ich es aufschiebe, um so härter
ist der Stuhl. Gestern ging ich seit vier Tagen wieder einmal, und des-
halb schlief ich die ganze Nacht nicht, noch habe ich jetzt Ruhe. Dies
Leiden wird unerträglich, wenn es fortschreitet, wie es begonnen hat"
Das Leiden wird so arg, daß er auf alle Heilmittel verzichten will
„Indes — berichtet Ebstein*) — war das Fleisch noch immer verletzt
und wund durch die alten Einrisse, obgleich er ausgiebig sich der
Laxantien bediente. Trotz aller Abführmittel habe er nicht weniger
Schmerzen im After verspürt, sei es durch die gewaltsame Wirkung der
Pillen, sei es durch irgend einen anderen Zufall."
Solche Schmerzen sind Surrogate der Libido. Natürlich nicht immer
aber in vielen Fällen. Luthers Obstipation wird auf der Wartburg-
besser, aber sein Gemütsleiden viel schlimmer. Mitunter vergleicht er
sich mit einer aufgerissenen, verletzten blutigen Wöchnerin. Seine
*) Interessante Beispiele finden sich im 3. Bande „Die Geschlechtskälte der Frau"
v t ])®r-Wilheln Ehstein: Dr- Martin Luthers Krankheiten. Stuttgart, Ferdinand
i'.nii!'. iyUö.
Larvierte Onanie.
69
Hämorrhoidalblutungen nennt er „Molimina excretoria". Ein Steinleiden
quält ihn überdies, von dem er sagt, daß es als der Satan in ihm wüte.
1528 schreibt er über seine Blutungen an Justus Jonas : „Meine Krankheit
war eine solche, daß mit dem Stuhlgange zugleich eine angeschwollene
L i p p e des Afters hervortrat. Darauf saß eine kleine juckende Erhaben-
heit. Dieselbe machte um so mehr Beschwerden, je weicher der Stuhl
war. Ging geronnenes Blut ab, so befand ich mich um so
wohler und angenehmer, ja mit Vergnügen ver-
bunden war der Akt der Stuhlentleerung. Je mehr
Blutgerinnsel abgingen, um so mehr Vergnügen
hatte ich, so daß diese angenehme Empfindung
mich mehrmals täglich veranlaßt e, zu Stuhle zu
gehen. Drückte ich mit dem Finger, so juckte das
äußerst angenehm und es floß Blut. Deshalb durfte
nach meiner Ansicht dieser Blutstuhl durchaus
nicht gestillt oder vermindert werde n."
Deutlicher kann man die Libido beim Stuhlgang und die Lust-
erapiindungen durch Kratzen wohl nicht beschreiben. Später litt er
auch an Diarrhöen und Tenesmus. Der Abort ist für ihn immer ein
kritischer Aufenthalt. 1546 entging er glücklich der Lebensgefahr, indem
ein „sehr großer Stein, der von der Decke sein Haupt bedrohte",
kurz nachher herunterfiel, „nachdem Luther sein natürliches Geschäft
verrichtet hatte". Bald nachher hatte er ein Phantasma: Ihm gegenüber
saß der Teufel am Röhrtroge und kehrte ihm seinen Hintern zu.
Von seinem Kampfe gegen die Sexualität in der Jugend erzählt
Ebstein; „Er wurde erst von geschlechtlichen Erregungen nicht sehr
gepeinigt, je mehr er sich aber kasteite, um so mehr traten auch diese
Reizungen hervor. Dabei bewahrte er aber seine Keuschheit. Er legte
sich durch seine übermäßige Enthaltsamkeit allerlei schwere Ent-
behrungen auf, ferner brachte er die Nächte auf möglichst hartem Lager
mit unzureichender Bedeckung zu, andrerseits lief er in der heißen Jahres-
zeit mit entblößtem, von den Sonnenstrahlen gequältem Haupt herum.
Er magerte ab und nennt sich selbst ausgemergelt und ausgedörrt. In
diesem Zustande körperlicher und geistiger Erschöpfung stellten sich
einmal heftige geistige Erregungszustände und ein anderes Mal exzen-
trische Gemütsverstimmungen ein, welche seine Klostergenossen zu dem
Glauben verführten, daß er ein Epileptiker oder ein von Dämonen Be-
sessener sei.
Ich habe den Fall nur erwähnt, weil er uns eine ausgezeichnete
Schilderung der analerotischen Spielereien gibt.
Zu ähnlichen Spielen wird natürlich auch jede andere Schleimhaut,
der Mund und besonders die Zunge benützt. Die verschiedenen Formen
des Wonnesaugens (Ludeins) gehören hierher, die bekannten Spiele
mit der Zunge, die im Munde gerollt wird, an der gesogen wird, usw.
Noch häufiger sind die Formen der larvierten geistigen Onanie,
bei denen keinerlei Manipulation vorgenommen wird. Die Betreffenden
versinken in ihre Träumereien, die mit Ekstasen enden. Sie wissen nie,
woran Sie gedacht haben, wenn man sie aus den Träumen herausreißt.
70
Erster Teil. Die Onanie.
Manche kleine Symbolhandlung verrät den Inhalt der Phantasien So
üatte ein Mann meiner Beobachtung die Gewohnheit, bei den Tas-
traumen deren Inhalt ihm unbekannt war, den Penis in der Hand zu
halten. Er hatte sich deshalb ein Loch in die Hose gemacht. Im Leben
war er Mitglied eines Vereines zur Bekämpfung der Schmutzliteratur
ein Apostel der Reinheit und brachte halbe Tage mit den larvierten
Formen der Onanie zu. Seine Träume brachten mir dann den Zugang
zu seinen Tagesphantasien. Ja gerade die negative Beschäftigung mit
der Erotik in Form von Ekel, Abscheu, Entrüstung ist eine FW der
geistigen Onanie, die in unserer Zeit der Heuchelei und Priiderei unge-
mein verbreitet ist Es gibt Menschen, die sich eine artige Sammlung
eZr^lT\ vren- naCkten L™^™> Ansichtskarten an
Zu Hüflttn /l 61 ?* *• KünStler hetzen' den Staatsanwalt
zu Hüte rufen, und d*e sich doch nur mit diesen Dingen beschäftigen
weil sie ihnen eine Reihe erotischer Anregungen gewähren. Esl M
eben eine larvierte Form der Onanie, die sich in negativer Form als
Abwehr der erotischen Reize äußert. In diese Gruppe genören aut
Weltverbesserer, Schwärmer für die sexuelle Aufklärung Es Ist "2
eine Ar , wie che rohen erotischen Triebe sublimiert und in den Dienst
der Kultur gesteht werden. So kenne ich einen Mann, der an 2er 71
unbewußten Pa^aphahe, der Neigung zu Kindern leidet, 7e e"
Dertat 7*5*;* ** die ßich als "ha-lose" Kinderliebe äußert
der kZ N ^ "f ff legentliCl1 mlt der sexueUen Aufklärung
der Kinder. Nun wäre es töricht, schon diese Form der Sexualbetätigung
Onanie zu nennen. Aber gerade bei solchen Keuschheitsfanatikern, ffitt-
hchkeitsaposteln, Asketen, Abstinenten aus Überzeugung kann man
die schönsten Formen der larvierten Onanie beobachten. Die Natur läßt
71 7? !n? ht vergewaltiSen' ™d wenn dter Geschlechtstrieb das
Feld des Bewußtsems räumen muß, so schleicht er sich über Umweße
ms Unbewußte und setzt sich gegen den Willen des Kämpfers durch
So streichelt der Kinderfreund die Kinder, wobei ihm ein
warmer Strom über den Körper rieselt, er ganz heiß
wird, was er als die Manifestation der idealen Liebe auffaßt
Es ist mir gelungen, in einer Reihe von Zwangsvorstellungen den
Eisatz der Onanie zu finden. Freud hat bekanntlich darauf hingewiesen
daß viele Zwangsvorstellungen - er meinte seinerzeit sogar alle -
\orwurfe über eine mit Lust begangene sexuelle Aktion der Jugend
darstellen. Diese Erklärung steht noch heute für viele Zwangsvorstel-
lungen zu Recht, wenn sie auch nicht den Reichtum der Zwangsvor-
stellungen, die vielfach determiniert erscheinen, erschöpft 'jede
häTtTf 7® wg iSt/in Kompromiß aus ^eb und Hemmung und ent-
halt auf dem Wege des neurotischen Kompromisses in einem Symptom
Larvierte Onanie. ^i
beide Strömungen. Man kann nun viele Zwangshandlungen beobachten,
welche eine Darstellung der Onanie bezwecken und auch eine Art von
larvierter Onanie darstellen.
Unter den Menschen, die an Zwangsneurose leiden, findet man
sehr häufig solche, welche angeblich nie onaniert haben oder die Onanie
„überwunden" haben. Ihre Zwangshandlungen zeigen aber, daß sie
sich immer mit der Onanie beschäftigen, von ihr nicht loskommen,
ferner findet man die schönsten Formen larvierter Onanie unter diesen
Überwindern.
Besonders häufig treten solche Zwangshandlungen auf, wenn die
Neurotiker die Onanie aus ethischen oder hygienischen Motiven auf-
geben. Ein solcher Fall soll diese Ausführungen illustrieren.
Fall Nr. 14. Es handelt sich um einen 26jährigen Angestellten, der in
seinem Geschäfte solche Unsicherheit zeigte, daß er in Gefahr war, seinen
Posten zu verlieren. Er mußte alles mehrere Male zählen und war dann noch
immer im Zweifel, ob er sich nicht geirrt habe. Solche Erscheinungen der
Arithmomanie sind bei Onanisten sehr häufig. Zählen sie doch im Kampfe
gegen die Onanie die Tage, da sie keusch sind. Manche sind glücklich, wenn sie
acht Tage widerstehen können, und fallen regelmäßig in bestimmten Inter-
vallen. Andere können länger widerstehen, haben größere Intervalle, die
allerdings von mehreren Tagen unterbrochen werden, in denen sie stürmisch
onanieren. Alle diese Onanisten führen ein genaues Tagebuch über ihre Onanie
(natürlich meistens nur im Geiste). Wenn sie die Onanie dann aufgeben,
setzt sich das Zählen fort, kommt aber durch die larvierte Onanie und durch
die Pollutionen ins Schwanken. Unser Patient wußte nicht, wieviel Geld ihm
der Chef übergeben hatte (ein Symbol seiner Schuld!), er konnte nicht fest-
stellen, vor wieviel Tagen sich ein V.orfall abgespielt hatte, er zählte die ihm
übergebenen Briefe oder Pakete bi6 zur Erschöpfung durch, ohne deren Zahl
bestimmt feststellen zu können. Diese Erscheinungen, die sich mit vielen
hypochondrischen kombinierten, waren in dieser Stärke seit den zwei Jahren
aufgetreten, seit er nicht mehr onanierte. Natürlich führte jeder Medikus
BeiJxe ' »»Neurasthenie", so nannten die meisten Ärzte seine Zwangsneurose,
auf die Onanie zurück, was seine vorgefaßte Meinung bestätigte. Dieser
Patient kam jede Woche für ein halbes Stündchen zu mir und ließ sich von
mir über seine Krankheit belehren. Er war ein sehr gelehriger Schüler und
einer meiner schönsten Erfolge. Ich kann nicht genug staunen über die Ver-
änderung zum Guten, die sich mit dem Kranken vollzogen hat. Er hat jeden
Zweifel verloren zählt nicht mehr, ist vollkommen sicher, fühlt sich frisch
und gesund, sieht blühend aus und hat in den ersten Monaten, seit er wieder
onaniert, um- 3 Kilo zugenommen. Der vorher unruhige Schlaf ist tief und
ruhig. Die Pollutionen haben aufgehört. Wie in aller Welt kann man hier
von einem Schaden der Onanie sprechen? Warum wollen die Ärzte
nicht sehen, daß es auch einen Nutzen der Onanie
gibt, daß der Autoer otismus zahllosen Witwen, alten
Jungfern, Hagestolzen die einzig mögliche, sozial
mögliche Form der Sexualbetätigung darstellt? Ich
lasse die von dem erwähnten Patienten nach zwei Jahren der Genesung ver-
12
Erster Teil. Die Onauie.
faßte Krankengeschichte in ihrer naiven stilistischen Fassung ungeändert
fillTÜf fT/p ^iebene" L°bPreisun^ ^ Krauken nST
Last zu legen Diese Publikation wäre geschmacklos, wenn sie nicht einen
tiefen Einblick m die dankbare Psyche des Wiederhergestellten gestatt"
'JJk "Von7glli.cklJichen und dankbaren Gefühlen erfüllt, will ich kurz meine
seelischen Zustande vor und nach meiner Kur niederschreiben.
Vor allem muß ich bemerken, daß ich meine Heilung lediglich durch
folgende angewendete Mittel erreicht habe: Giguen duicn
wußteeinttLhfwr^1'"118? ^mpfindungen und Gedanken zu klarem Be-
^ÄÄ^h"* ^V1^ He™^^hlen infolge Auf-
mm verschiedenen ÄÄ 1Ch mir *™ freiere Weltanschauung
mC&mm^M ^^ Gewissensbisse verflüchtigten sich und
.2. Durch Regelung des Geschlechtslebens, nämlich durch die Onanie.
treten AundSmußtfPinPla:rei,S ^% JCh $* GeSetze der Kirche ■*** '*&•
Sir4rdS SteS?» Ä^S abstinentes Leben führen. Ich
gonnT hafen wäh S t™ ^"^tellungen im 19. Lebensjahr be-
onanierte fasT'täS nh V^a, ägli°heS Nach»et verrichtete. Ich
^ückdrängem Dadu,h wurde ich wirr^ethÄm' ^ ^ £
Worte, dieselben Absätze unzählige Male. Zur selben Zeit fing ich auch an
unsicher zu arbeiten. Eines Tages wurde mir die falsche Thf orie über 2
verheerende Wirkung der Onanie mitgeteilt. ' '
atäÄ-^ k lChte tT? .mÜ" Vonvürfe> gesündigt und meinen Körper be-
schädigt zu haben. Ich habe mich mit aller Energie gegen einen RücfhlHn
die alte Gewohnheit gewehrt, zählte die Wochen* Monate? ja auch Jah? s
waren sogar vier, meiner mir zur Pflicht gemachten Keuschheit, indem 'ich
eine robuste Gesundheit und Wohlbefinden als natürliche Folge meiner Fnt.
haltsamkeit erhoffte. Ich erfuhr das Gegenteil. Bei der Arbeit wurde ich
immer zerstreuter, unsicherer, besonders beim Rechnen. Ich glaubte stets
falsch gerechnet zu haben, mehr Ware ausgefolgt zu haben, ich glaubte stets
daß ich meinen Chef betrüge, glaubte jeden Menschen benachteiligt zu haben'
Eines Tages flog mir der Gedanke durch den Kopf, ich wäre ein Mörder Als
namheh mein Vater vor mehreren Jahren im Sterben lag, legte ich ihm meinen
Finger m den Mund. Nun, nach einigen Jahren erinnerte ich mich an die
Situation und redete mir ein, ich hätte den Vater dadurch erdrosselt Bald
darauf peinigten mich neue und neue Mordbeschuldigungen, selbst wenn ich die
Leute vor mir sah, die ich ermordet zu haben mir einredete. Ich konnte nichts
unternehmen, denn ich hatte stets Angst, daß dies schreckliche unglückliche
Larvierte Onanie. 73
Konsequenzen nach sich ziehen könnte, die mich zum Verbrecher machen
würden. Zeitweise wurde ich melancholisch, schlaflos, gereizt und sehr
empfindlich gegen Geräusche. Natürlich wurde ich täglich energieloser, verlor
alles Selbstvertrauen und wurde mir dieses Leben nur zur Qual. Nach fast
vierjähriger Selbstqüälerei, von der ich durch Brom, kalte Waschungen,
Tropfen etc. befreit werden sollte, entschloß ich mich zum letzten Versuche,
nämlich zur psychotherapeutischen Behandlung.
Durch sie wurde mir eine neue Welt geöffnet. Ich wurde einer ana-
lytischen Behandlung unterzogen. Vor allem wurde mir klar gemacht, daß
ich ein geregeltes Geschlechtsleben führen muß, entweder durch den Koitus
oder durch Onanie. Ich entschloß mich vorläufig für das letztere. Mein Zustand
besserte sich täglich. Die Behandlung eröffnete mir neue Gesichtspunkte. Ich
lernte mein Inneres und seine rohen Triebe kennen. Verdrängte Gedanken
wurden mir zum Bewußtsein gebracht. Allerlei traumatische Erlebnisse aus
der Kindheit kamen mir in Erinnerung. Es wurde mir klar gezeigt, seit wann
diese oder jene nervösen, Erscheinungen datieren, es wurde die Wurzel der ver-
schiedenen Chaosgedanken aufgesucht und mir gezeigt. So wurde mir deut-
lich gezeigt, welche unangenehme, unsichere, melancholische und energielose
Zustände das Zurückdrängen des Geschlechtstriebes bewirkt. Natürlich hatte
mich im Anfange das Aufwühlen der unbewußten Gedanken auch sehr auf-
geregt, doch als ich später mich mehr in die Anschauungen meines Arztes
vertiefte, lernte ich mit offenem Auge auf den schmutzigen Untergrund
des Menschen schauen, ihn anders beurteilen. Ich lernte, mich über vieles
Kleinliche, welches so oft das Leben des Menschen trübt, hinwegzusetzen. Wie
atmete ich nach jeder Ordination, in der ich gebeichtet und mein Gewissen
erleichtert habe, auf! Wie lebensfroh wurde ich, nachdem ich jedesmal so viel
Schönes, Neues, Fesselndes zugelernt habe! Mein Selbstvertrauen und mein
Lebensmut steigerten sich nach jeder Aussprache. Und nun bin ich über-
zeugt, daß Aussprache, das furchtlose Überlegen jedes Gedankens, geregeltes
Geschlechtsleben resp. richtige Ausnutzung der überschüssige^ Energien die
sichersten Mittel zur Heilung der Kranken und zur Erhaltung der gesunden
Psyche sind. Beim Eückblicke und der Übersicht über meine Krankheits-
geschichte sehe ich erst, wieviel ich gelitten, deshalb weiß ich die Heilung
um so mehr zu schätzen und um so stärker ist mein Dankgefühl."
Bei diesem Kranken zeigte es sich, daß eine innerliche Frömmig-
keit ihm verbot, vor der Ehe zu einem Weibe zu gehen. Er stand auf
einer ziemlich hohen ethischen Stufe. Nun möchte ich noch nachtragen,
daß dieser Mann seither — ich beobachte den Fall schon acht Jahre —
geheiratet hat und außerordentlich potent ist.
Solche Fälle sind gar nicht so selten. Viele Menschen tragen eine
latente Neurose mit sich herum, die erst ausbricht, wenn das Leben
sie ihrer Lustquellen beraubt. Mit dem Aufgeben der Onanie sinken die
Lebensfreude und. der Lebensmut. Unbefriedigte Menschen sind immer
unglückliche Menschen. Tritt aber einmal der Sexualhunger ein, so löst
er verborgene Kräfte und auch die anderen gebändigten Triebe rütteln
an ihren Ketten. So macht ein Rebell die ganze Gemeinde rebellisch.
In dieser Hinsicht ist die psychologische Erforschung der Verbrechen
74
Erster Teil. Die Onanie. Larvierte Onanie.
von allergrößter Bedeutimg. Auch bei diesem Kranken traten Mordim-
pulse in negativer Form (Abwehr des Gedankens, Selbstbeschuldiguxig)
erst auf, als er ganz abstinent und unglücklich wurde. Ich habe bei
vielen Verbrechern konstatieren können, daß sie erst nach einer großen
Liebesenttäuschung hemmungslos wurden. Es ist eine alte
Erfahrung, daß eine glückliche Liebe gut macht,
wahrend eine unglückliche die ganzeBüchse der
rand'ora öffnet. . . .
Die Onanie.
IV.
Andere Formen larvierter Onanie. — Erotische Reizungen als
[Heilmittel. — Zur Psychogenese des Schuldbewußtseins.
Man wird am besten für seine Tugenden
bestraft. Nietzsche.
Klärt man die Patienten über die Gefahrlosigkeit der Onanie auf,
so bemerkt man häufig, daß sie ungläubig den Kopf schütteln und die
neue Lehre nicht glauben wollen. Sie können das Spiel mit der Gefahr
nicht entbehren. Oder sie fürchten die Onanie, weil sie bei ihnen mit
den oft erwähnten Phantasien verknüpft ist. Die Onanie gestattet
nämlich eine Verschiebung, welche oft die interessantesten Konflikte
verbirgt. Dabei ist nicht immer die manuell betriebene Onanie die
Quelle des Schuldbewußtseins. Daß auch psychische Onanie dieselben
Erscheinungen zeitigen kann, beweist der nächste Fall. Der Kampf
gegen die psychische Onanie ist noch schwerer als der gegen die
physische, weil sich ja die lasziven Vorstellungen immer wieder auf-
drängen und sich nicht so leicht durch allerlei Hemmungen des All-
tags abweisen lassen. Auch sehen wir in der nächsten Beobachtung
deutlich die Pollution als Onanieersatz, resp. die unbewußte Onanie an
Stelle der bewußten treten. Krafft-Ebing1) teilt folgenden charak-
teristischen Fall mit:
Fall Nr. 15. Frl. X., 30 Jahre, aus belasteter Familie, von Kindes-
beinen auf neuropathisch, versichert, daß schon in ihrem 6. Jahre bei ihr
lüsterne Bilder auftraten, denen sie sich immer mehr überließ. Es kam
mit der Zeit zu förmlicher psychischer Onanie und in den letzten Jahren
•stellten sich Beschwerden im Sinne einer Neurasthenia sexualis ein.
Patientin ahnte den Zusammenhang zwischen Leiden und schädlicher
Gewohnheit. Das populäre Buch von Bock schaffte ihr die gewünschte
Aufklärung unter heftigen Gemütsbewegungen. Diese wurden noch ver-
mehrt durch Schicksalsschläge, welche die Familie trafen. Patientin
ließ nun ab von ihrer schlechten Gewohnheit, aber
gleichwohl verschlimmerte sich von nun an ihr
Befinden zusehends. Sie wurde nervös, sehr erregt, dysthymisch.
l) P6ychopathia sexualis. 14. Auflage. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1912.
76
Erster Teil. Die Onanie.
litt an schlechtem, unerquicklichem, von lasziven Träumen gestörtem
öchlate, Spinalirritation, Anämie, schwachen und schmerzhaften Menses
Die von jeher schwache Neigung zum männlichen Geschlechte und zum
Eingehen einer Ehe sank auf ein Minimum, dagegen wurde Patientin
trotz allen Widerstrebens immer mehr das Opfer eines dem Priapismus
des Mannes ähnlichen, an und für sich nicht wollüstigen, oft geradezu
peinlichen genitalen Orgasmus. Es gesellten sich nächtliche Pollutionen
hinzu, insofern Patientin anläßlich lasziver Traumsituationen mit einem
Wolluetgefuhl erwachte und eine Nässe in den äußeren Genitalien ver-
spürte. Nach solchen Pollutionen fühlte sie sich tagelang ganz
^^S^^^^^ Und VOn heftiger Spinalirritation
heimgesucht. Die nächtlichen Pollutionen wurden mit der Zeit auch
eszu?nX^eften/aSZiVeJ\TräUme aU8gelöst und -hließlich kam
ltT£ Zustanden auch bei Tage. Patientin entschließt sich mit
ÄÄ? Konfidenzen dem Arzt zu machen. Sie ist blut-
säl mSSSa T*°$ Jv'f hrt- Die Lenden- u»d Nackenwirbel-
ich ^^h; druckempfindlich. Patientin schläft wenig und unerquick-
lich, fühlt sich matt und elend, klagt über Ziehen und paraWhe
IraSi' in dfuiC^et..Ruucke"raa^sleiden und findet den Grund ihrer
Lkttt von ßnl langiahr!gei; Panischen Onanie. Erst durch die
ftft n l T £ S1Ch lhres Unrechts bewußt geworden Mastur-
Äe und SÄSf^ Jft »Hauptklage ist eine fast kontinulr 1
Unruhe und Aufregung m den Genitalien. Es sei wie beim Magen wenn
er hungrig werde. In den Genitalien (objektiver Befund n2) Jpüre
e em qualvolles Brennen, Hitze, Pulsieren, Unruhe, wT wenn ön
Uhrwerk drinnen los wäre. Nur höchst selten verband^ aicTJa^t
v^llustige Gedanken Diese sexuale Neurose wirke enteetzlich deprim -
rend auf sie. Sie habe nur vorübergehend Ruhe, wenn der Zustand hfa
zur Pollution ausarte, und diese vermehre dann wieder Ihre „eur"
patinschen Beschwerden. Zur menstrualen Zeit leide sie am heftigsten
Halbbäder von 23—19° R, Suppositorien von Camphor. monobrom 0 fi
mit Extr. belladonn. 0,04, Bromnatrium 3 bis 4,0 abends Pulver 'ni
Camphora 0,1, Lupulin 0,5, Extr. secal. 0,08, zweimal täglich, brachten
der Kranken große Erleichterung und tageweise völlige Ruhe. Damit
kehrte auch das schwer erschütterte Vertrauen in die Zukunft und Hip
Ruhe des Gemütes wieder."
Auch in diesem Falle sehen wir eine bedeutende Verschlimmerung
auftreten, sobald die Patientin den Kampf gegen ihre psychische Onanie
eröffnet, welche ihr ja doch nur eine halbe Befriedigung gewährte. Sie
hilft sich schließlich mit den Pollutionen. Sie ersetzt die bewußte psy-
chische Onanie durch die unbewußte.
Wie gering sind eigentlich diese Erkenntnisse, welche uns solche
rem deskriptiv berichtete Fälle bringen! Die verschiedenen Formen
„unbewußter Onanie" kann man nur durch genaue Nachforschung
im analytischen Sinne kennen lernen. Diese Erforschung ist aber kein
einfaches Ausfragen. Sie erfordert Kenntnis der Tech-
nik und Erfahrung. Deshalb besteht zwischen den
Andere Formen larvierter Onanie usw. 77
wirklichen Analytikern und den Ärzten, welche
ohne Kenntnis der Technik die Resultate der Ana-
lytiker nachprüfen wollen, eine unüberbrückbare
Kluft.
Interessant ist, daß auch Schmerzen eine larvierte Onanie ver-
bergen können. Nicht immer ist die Erkenntnis, daß es sich um Orgasmen
handelt, so leicht zu erwerben, und auch dem Analytiker kommen Fälle
unter, in denen er zweifelt. Und ich wiederhole es: Erst die den
onanistischen Akt begleitende Phantasie kann uns volle Aufklärung ,
über seine Bedeutung bringen.
Der nun folgende Fall ist in mancher Hinsicht von großem
Interesse.
Fall Nr. 16. Eine zweiundvierzigjährige Frau wird mir von einem
Landarzte wegen nervöser Bauchschmerzen zugeschickt. Diese Schmerzen
quälen die Frau schon seit neun Jahren. Es handelt sich um eine merk-
würdige Neuralgie in der Gegend des Appendix, gegen die Blase und den
Kücken ausstrahlend. Der Mac Burneysche Punkt ist nicht druckempfindlich.
Dagegen wächst die Druckempfindlichkeit, je näher man der Medianlinie
kommt. Die Patientin wurde verschiedentlich behandelt. In Wien führte
man die Schmerzen auf eine Retrofiexio uteri zurück. Schließlich schlug
ihr ein berühmter Gynäkologe die Exstirpation des Uterus vor. Sie willigte
mit Freuden ein, um endlich von den Schmerzen ganz erlöst zu werden.
Zuerst war die Wirkung ausgezeichnet. Aber schon drei Wochen nach der
Operation meldete sich der Schmerz in alter Intensität und noch stärker
wieder. Nun kamen die Ärzte darauf, daß der Schmerz ein nervöser sei, und
begannen sie mit Brom, Valeriana, Elektrizität zu behandeln. Alles ohne
Erfolg. Dr. H., ein Arzt, der mein Buch „Nervöse Angstzustände" gelesen
hatte, sandte mir die Patientin mit der Bemerkung zu, der Fall habe sicher
eine psychogene Wurzel. Er sei außerstande, sie aufzufinden.
Die analytische Durchforschung des Falles ergab gleich in der ersten
Stunde ein wichtiges Resultat. Ein halbes Jahr vor dem Beginn der Schmerz-
anfälle trat ein Lusttraum auf (der sich später wiederholte), worauf sie
das erste Mal in ihrem Leben einen Orgasmus gefühlt habe. Während ihrer
Ehe war sie immer anästhetisch. Sie hatte mit 23 Jahren geheiratet. Und
erst mit 33 Jahren begann sie im Anschluß an einen Traum zu „empfinden".
Sie fragte — trotz des Lustgefühles — sehr besorgt und erregt ihre
Freundinnen, was das wäre, und beruhigte sich, als sie hörte, es sei normal,
jede Frau müsse das empfinden. Das erlebte sie im Alter von 33 Jahren!
Und nun erzählte sie, daß ein Zusammenhang zwischen dem Schmerz und
der Lustempfindung existiert. Sie habe gefunden, daß der
Schmerz immer heftiger auftrete, wenn sie einen
„süßen" Traum gehabt hatte. (Es hat den Anschein, als ob der
Schmerz die Strafe für eine verbotene Lust wäre.)
Des Inhaltes der süßen Träume kann sie sich nicht erinnern. Sie glaubt,
sie träume, daß ihr Mann mit ihr verkehre. Manchmal, daß sie an seiner
Brust liege und sauge. Manchmal etwas anderes, an das sie
sich nicht erinnern kann. Sie habe auch jetzt bei ihrem Manne
keinen Orgasmus, empfinde nur ein „leeres Hin und Her".
»*;
78 Erster Teil. Die Onanie.
Schließlich l macht sie noch eine merkwürdige Mitteilung: Wenn der
Schmerz sehr stark sei, so müsse sie sich massieren
fZ t refd-uSch:erZ nach> aber si* empfinde ei„
N« h, Lust^fnuhl »nd wisse dann sicher, daß in dieser
Nacht ein süßer Traum kommen werde
*~ n +6r näCMEtenv. SAtZung erzählt öi« mir Yon ihrer Enttäuschung nach
tnn P,n ^ Mf hattr,e ihr 6Tzmt> daß eie kein* ^au mehr sdn werde
wenn alles entfernt sei Darum ging sie mit Freuden auf den Vorschlag eS
gtn ^ÄaSfc t/t T, 6ntfrepn ZU laSS6n- Denn "^
SErJ fi -o „ und strebte nach Reinheit. Drei Wochen war sie
f 5ÄJS SDeer SS kam; ^^ hStte ßie drd ÄXuSe
am Ssten Ta^it ?tzte ZUgleich mit einer tiefen ^Pression
W mlZ et ZZmderer' ia mit n°ch 8tärkerer Inten8ltät ™-
« , .. ^h.8eh* in ein Zuckerlgeschäft, um mir Zuckerl zu kaufen Die
Verkäuferin gibt mir statt der Zuckerln Tinte. Ich mache mich ganz
schmutzig. Dann nehme ich einige Bäder, um mich rein zu waschen
Ich mache die Patientin, der gar nichts zu diesem Traume einfallen
will, aufmerksam, daß sie etwas erlebt haben müsse, wodurch sie sich befleckt
fühle. Sie suche sich nun reinzuwaschen. . . Das sei der Sinn des Traumes
Sie gibt ihre stereotype Antwort: Sie habe nichts erlebt, sie wisse sich an
nichts zu erinnern. Dann frage ich, ob sie etwas in einem Zuckerlgeschäft
erlebt habe. Darauf erzählte sie: „In einem Zuckerlgeschäft nicht Aber
jetzt fallt mir plötzlich etwas Wichtiges ein, das ich ganz vergessen habe
Ich war sieben Jahre alt; da lockte mich ein Geselle, der bei meinem Vater
in Diensten stand, mit Zuckerln in eine Scheune. Dort sagte er, er werde
mir etwas Süßes zeigen. Er hob mir das Kleid auf und vollführte mit mir
einen Verkehr.
„Haben Sie den Eltern etwas davon erzählt9"
„Nein, ich schämte mich zu sehr. Aber ich bat den Vater, den Gesellen
wegzugeben, ich konnte ihn nicht leiden. Ich wich ihm aus und floh immer
seine Nahe, wenn er mit mir wieder allein war. Ich war aber schon 'siebzehn
Janre alt, als er wegging.
„Haben Sie ihn dann wiedergesehen?"
„Ja, aber da war ich schon lange verheiratet."
Andere Formen larvierter Onanie usw. 79
„Wie alt waren Sie da?"
„Es war gerade im Jahre nach meinem Abortus, also mit 33 Jahren."
„In demselben Jahre, als Ihre Pollutionen und Schmerzen anfingen?"
„Ja — in demselben Jahre. Von meiner Heimat ging ich dann nach
Wien."
Hier muß ich eine kleine Einschaltung machen. Wir nennen einen
solchen Vorfall ein „Trauma". Die Bedeutung dieser Traumen ist von der
Freudschule in ihren ersten Publikationen entschieden überschätzt worden.
Allein man muß sich davor hüten, die dauernde Wirkung eines so furcht-
baren Erlebnisses zu unterschätzen. Es sind mehrere Wirkungen möglich.
Das Trauma wird glänzend vertragen und das Individuum überwindet den
Shock. Oder der Mensch wird später neurotisch und benützt das Trauma
nachträglich in der Dynamik der Neurose. Das Erlebnis kann ebenso ein
Anreiz zum Leichtsinn wie die Ursache einer pathologischen Hypermoralität
werden. Es kann als Aufforderung zur Wiederholung
oder als Warnung vor der Wiederholung wirken. Im
letzteren Falle werden die Kinder durch das Schreckliche des Vorganges,
durch die Brutalität des Erlebnisses dem antisexuellen Instinkte ausgeliefert
und zur Keuschheit getrieben. Der Drang nach Wiederholung wird durch
das Bestreben, der Wiederholung auszuweichen, überwunden. Ein Trauma
dieser Art hat schon aus manchem Mädchen eine Nonne gemacht. Ich kenne
einige Fälle, die im Kloster endeten. Oder es wird eine Keuschheit betont,
welche unnatürlich ist. So war es auch in diesem Falle. Das kleine Mädchen
wurde übertrieben schamhaft, scheu und fromm. Im Herzen hatte es die
stille Hoffnung, der Bursche werde seine Sünde durch eine Heirat wieder
gut machen. Denn es liebte den Gesellen und konnte ihn nie mehr vergessen.
Es betrachtete sich als seine Frau und heiratete erst nach langem Zögern mit
23 Jahren. Aber der Bursch war noch ledig. Sie konnte die Hoffnung einer
alles reinwaschenden Ehe noch aufrecht erhalten. In ihrer Heimat sah sie
den Burschen zum ersten Male als Ehemann, sie erfuhr, daß er verheiratet
sei. Sie reiste nach Hause und ein starker „Fluß" zwang sie, nach Wien
zu fahren. Dieser Fluor war schon ein Zeichen ihrer übergroßen Erregbar-
keit. Die lange zurückgestaute angesammelte Libido wollte durchbrechen.
In den nächsten Sitzungen erfuhr ich erst, daß sie in Wien massiert"
wurde. Die Patientin gab an, daß der Schmerz vorne und hinten "eigentlich
innen aufgetreten sei. Ich dachte sofort an eine bimanuelle Untersuchung
die sie aber leugnete. Sie habe bei der Untersuchung nie Schmerzen oder
Lustgefühle gehabt. Am nächsten Tag erinnert sie eich schon an die
SÄÄ Sie Sei naCbher fmer ganZ hin gßwesen. we™ der
große starke Doktor m ihr herumgearbeitet habe. Man habe bei ihr eine
Kuckwartsknickung der Gebärmutter konstatiert und ihr Massage verordnet.
Sie habe blaue Flecken gehabt und die Nacht danach vor Aufregung nicht
geschlafen Vor der Massage habe sie immer gezittert, wie vor etwas
Fürchterlichem. . .
Kurz, ich erfahre, daß die Massage im höchBten Grade auf 'sie erregend
gewirkt und nach langer Zeit wieder deutliche Lustgefühle vermittelt habe,
Lustgefühle, die mit Schmerzen kombiniert waren.
Der Fall wird nun klar. Das Kind hatte beim ersten Koitus neben
den Schmerzen ein starkes Lustgefühl empfunden. Das Mißverhältnis zwischen
großem Phallus und der infantilen Vagina war zu groß. Als sie nun heiratete,
80 Erster Teil. Die Üuanie.
enttäuschte sie schon in der Brautnacht die (natürlich nur relative!) Klein-
heit des Membrum virile. Sie blieb anästhetisch. Die Erinnerung an den
großen Phallus der Kindheit störte den .' Eindruck der Gegenwart Der
Anblick des verheirateten Geliebten weckte die alte begrabene Erinnerung
zu neuem Leben. Die Massage aber brachte die alte traumatische Szene
in veränderter Form. Einen großen Gegenstand (die Hand des riesengroße»
Masseurs, der in ihrem Innern herumwühlte, wohl auch Erinnerungen an
die gänzlich vergessene Kinderonanie. Nun war die Sperrung, der ihre
Sexualität unterlegen war, wieder aufgehoben. Sie hatte häufig Träume
welche diese Massage wiederholten.
Jetzt verstehen wir, warum der Schmerz aufhört, wenn
PnllVA« massiert: und warum sie dann sicher eine
„ »f\Pi "8rt Die eigene Mas8a«e weckte die Erinnerung
^ . Hand L f^ T* dff Kindert™a- ™d im Schlafe vollendete
ihre Hand den autoerotischen Akt.
zu maeh^T™ **" W^* Über iie unbewußt« Onanie keine Vorwürfe
SchSdSßfe Sn 1St 3a ^'an SChuldl0S- Und doch hat ™ «in tiefes
und deri!-zt S1G beWigt ihren Mann mit dera ersten Geliebte»
In diese Phantasien mischen sich auch Todesgedanken, die alle Hinder-
nisse zwischen ihr und der ersten Liebe hinwegräumen
t a ?Ä die,Erklärung dieses Schmerzes. Wir sehen, wie recht der
Landarzt hatte, als er eine psychogene Wurzel annahm. Und wir merk*
mit Grauen, wie viele Operationen Überflüssigerweiße gemacht werdeT
• Wieder stoßen wir auf eine pathogene Szene, welche durch die
Onanie festgehalten wird.*) Es ist, als ob sich alle Fähigkeit zur Libido
auf diese Szene konzentrieren würde. Bei der Besprechung der An-
ästhesie der Frau werden wir auf ähnliche FäUe zu sprechen kommen
(Bd. III) . Die Analyse wirkt auf diese kalten, verzauberten Frauen da-
durch erlösend, daß sie die traumatische Szene bewußt macht und es
ermöglicht, die an sie fixierte Libido auf die anderen Formen des Sexual-
verkehrs überströmen zu lassen. Es sollte mich nicht wundern, wenn
diese Frau bald auch bei ihrem Manne einen Orgasmus empfinden würde.
Ich habe keine weitere Nachricht von ihr erhalten.
In dieser Krankengeschichte erfahren wir wieder etwas von der
erotischen Wirkung ärztlicher Behandlungen.
Jedem erfahrenen Arzte ist es bekannt, daß gewisse medizinische
Prozeduren als erotische Reizungen auf die Patienten wirken. Schon
die Art und Weise, wie sich die Frauen bei einer genauen Untersuchung
benehmen, verrät sofort, wie sie den Arzt werten. Für viele Kranke
bleibt er eben immer nur ein Mann. Sie produzieren teils bewußt, teils
mit geheimer Absicht allerlei Widerstände, betonen ihre Schamhaftig-
keit, meinen, der Arzt solle sich umdrehen und wegschauen, er solle
*) Die Onanie ist das Fixativ, durch das leicht hingeworfene Pastellbilder un-
zerstörbar werden oder dank dem sie zumindest dem Einflüsse der Zeit widerstehen.
Andere Formen iarvierter Onanie usw. gj^
nur einen bestimmten Teil des Körpers untersuchen, fragen, ob sie
das Hemd „unbedingt" ablegen müssen. Je unbefangener sich eine Dame
entkleidet, desto weniger denkt sie daran, die Untersuchung als ero-
tischen Akt aufzufassen. Daß sich viele Frauen nur aus erotischen
Motiven untersuchen lassen, kann ich aus der Zeit, da ich noch prak-
tischer Arzt war, bestätigen. Ja, eine ältere, sehr zurückhaltende Dame
sagte mir einmal: „Wenn ich Ihnen einen Rat für Ihre Praxis geben
sollte, ich müßte Ihnen sagen: Untersuchen Sie die Frauen immer
so genau als möglich und bleiben Sie dabei immer der Arzt. Die
Frauen verlangen das und sind beleidigt, wenn man es nicht tut. Ich
habe immer die Ärzte tadeln gehört, die aus Gründen der Zurück-
haltung oder aus Zeitmangel oberflächlich untersucht haben. Ich
glaube, die Frauen haben ihre geheime Lust an diesen Dingen und
gestehen es sich nicht ein."
Die Dame hat wirklich recht. Alle diese Reizungen liegen auf
der Linie „Lust ohne Schuld". Doch von diesen alltäglichen Vorgängen
will ich gar nicht sprechen. Viel wichtiger scheint mir aber der Um-
stand zu sein, daß der Frauenarzt — ohne es zu wissen — erotische
Reizungen ausübt. Scheint mir schon die Untersuchung für manche
Frauen eine Art Trauma, das ihre Phantasie immer wieder beschäftigt,
so ist die bimanuelle Massage oft nur eine Form der allerotischen Be-
tätigung, wie wir sie früher Onanie genannt haben. Das wissen die
erfahrenen Frauenärzte und wenden allerlei Vorsichtsmaßregeln an.
Die Frauen aber, die sich an die Massage gewöhnen, sind manchmal
unglücklich, wenn sie aussetzen müssen. Aus meiner Praxis erinnere
ich mich an eine Dame, die ich wegen eines Exsudats vorsichtig
massierte. Ich bemerkte deutlich die reizende Wirkung und riet der
Frau, die einen ordentlichen Orgasmus produzierte, von der Fort-
setzung der Behandlung ab. Sie bestand aber hartnäckig darauf, es
wäre da6 einzige, was ihr helfen könnte und .... suchte einen anderen
Arzt auf. Manche Damen verbergen ihren Orgasmus unter allerlei
Schmerzensäußerungen, sie werden vor Schmerzen rot im Gesicht, be-
tonen, es wäre äußerst schmerzhaft und unangenehm. Beim Orgasmus
winden sie sich „vor Schmerzen", um den Charakter der Lust zu
maskieren.
Alle diese Formen der sexuellen Betätigung sind von manchen
Kranken hochgeschätzt. So erzählte mir ein Frauenarzt, er habe in
seiner Klientel mehrere alte Jungfern, die jeden Monat einmal oder
einige Male zur Untersuchung kämen. Diese Untersuchung scheine
ihrer Phantasie einen Stützpunkt zu geben. Sie ist offenbar der be-
rühmte „Fetzen der Realität", welchen der Neurotiker als „Flagge"
seiner Phantasien benötigt. Deshalb werden von vielen Hysterischen
Steksl, Störungen de6 Trieb- und AfTiiktlebens. n. 2. Autl. g
82 Erster Teil. Die Onanie.
■
die bekannten Erfindungen vorgebracht, der Arzt hätte bei ihnen ein
sexuelles Attentat versucht oder ausgeführt, Beschuldigungen, die sich
in den seltensten Fällen als wahr erwiesen haben. Die Betreffenden
sind schon mit der Erwartung eines Attentates zum Arzte gekommen.
Oft ist die phantastische Erzählung die Strafe für das anständige Be-
nehmen des Arztes, das manche Frauen direkt als Beleidigung auf-
fassen. Jede Frau wertet den Umstand, daß man sie begehrt, als eine
Huldigung. Wenn die Form keine rohe ist, so wird sie diese An-
erkennung ihrer Reize immer dankbar quittieren. Manche anständige
Frau hat den Arzt schon innerlich zornig verlassen, weil er sie nicht
als Weib berücksichtigt hat, d. h. ihr gezeigt hat, daß ihre Reize ihm
ganz gleichgültig sind.
In der Analyse treten diese Erscheinungen sehr deutlich zutage.
Die Kranken werben um die Liebe des Arztes und ihre Träume bringen
immer wieder Situationen, in denen der Arzt sie untersucht. Die
Kranken wenden, großes Raffinement auf, um den Arzt zu bewegen
seine Regel aufzugeben, die da lautet: Patienten, die man analytisch
behandelt, untersucht man nicht! Aber die Kranken wollen den Arzt
zur Untersuchung zwingen. Sie zeigen irgend eine Effloreszenz am
Unterarm oder am Sternum, weil sie wegen „einer solchen Kleinigkeit"
nicht zu einem andern Arzte gehen wollen. Sie behaupten, das nervöse
Magenleiden wäre bestimmt organisch. Der Arzt solle doch einmal
untersuchen, dann werde er sich schon überzeugen. Sie hätten bestimmt
eine Geschwulst, es bilde sich eine Kugel, der Magen stelle sich auf
und derlei Monstrositäten mehr, nur um den Arzt aus seiner Reserve
zu locken. Ja, es sind mir schon viele Fälle vorgekommen, daß die
Frauen am Schlüsse der Behandlung gesagt haben: „Jetzt sind Sie
mit der Analyse fertig, jetzt können Sie mich ja innerlich behandeln."
Ganz am Anfang meiner analytischen Praxis kam eine Dame nach dem
Schlüsse der seelischen Behandlung und bat dringend, ich möge sie
gynäkologisch untersuchen. Sie habe nur zu mir Vertrauen und werde
sich von keinem andern Arzte anrühren lassen. Sie fürchte aber, sie
hätte einen Krebs. ... Ich war damals noch praktischer Arzt und
kannte nicht die Fallen und Finten der Kranken. Ich untersuchte sie,
konnte sie wegen des Krebses beruhigen, sah sie aber niemals wieder.
Sie hatte offenbar gehofft, daß der Anblick ihrer versteckten Reize
mich überwältigen und zu ihrem Sklaven machen werde. Sie hätte mich
vielleicht zurückgewiesen, wenn ich um sie geworben hätte, weil sie
mich als Siegerin verlassen wollte. So ging sie nach ihrer Auffassung
als Besiegte davon und ließ sich nicht mehr blicken. Einen ähnlichen
Ausgang nahm ein anderer Fall. Eine Dame wollte mich zu ihrem
Hausarzte machen und begann mit der Forderung einer gynäkologischen
Andere Formen larvierter Onanie usw. g3
Untersuchung! Was sie von mir erwartet hatte, ahnte ich nicht. Aber
sie kehrte niemals wieder. Später äußerte sie sich zu einer Freundin,
ich wäre kein Mann.
Daß Gespräche über erotische Themen als sexueller Reiz wirken,
müssen sich die Analytiker immer wieder vor Augen halten. Ich weiß, daß
viele Ärzte mit ihren , Kranken ziemlich offen sprechen und sich dabei des
gebräuchlichen sexuellen Jargons bedienen. Ich betrachte es als einen be-
sonderen Vorzug, daß ich bei Besprechung dieser heiklen Themen über alles
sprechen kann, ohne verletzend zu wirken.
Sehr viel hängt von der Art und Weise ab, wie man mit den Kranken
spricht. Prinzipiell vermeide ich alles peinliche Ausfragen, die Form, wie
sich Hoche und Näcke die Analyse vorstellen. Ich trage nichts in den
Kranken hinein und lasse ihm das Wort. Ich erleichtere ihm die Geständnisse
und weiß mich immer wieder zu verständigen, so daß der Kranke oder
die Kranke sich nicht verletzt fühlen. Ich möchte aber nicht unterlassen,
zu betonen, daß viele Patienten sich von der Analyse die Vorstellung
machen, man müsse nur über seine geheimen sexuellen Gedanken sprechen,
alles andere sei Nebensache. Nun beginnen sie eine Unmenge erotischer
Phantasien zu produzieren, die sich immer wieder erneuern, so daß man
leicht verleitet werden könnte zu glauben, man habe nur diese Phantasien
zu analysieren. Manchmal ist diese erotische Massenproduktion eine Form
des Widerstandes und ein Versuch, die Analyse ad absurdum zu führen.
So kam eine außerordentlich feinsinnige Dame wegen Zwangsvorstellungen
in meine Behandlung. Sie setzte sofort damit ein, daß sie mir ihre Gedanken
nicht sagen könnte. Sie bezögen sieh auf meine Sexualität. Sie wollte so
die Kur unmöglich machen. Sie hatte von einer Freundin gehört: „Du wirst
fürchterliche Sachen hören und sprechen müssen. Denke, du mußt alles sagen,
was du dir denkst . . ." Ich hörte mir diese Phantasien einige Tage an und
dann sagte ich: „Sie sind von heute an der Regel enthoben, alle Gedanken
zu sagen. Das heißt, Sie sprechen jetzt die Gedanken, die meine Person
betreffen, nicht aus. Ich will überhaupt nicht' alles hören. 'Sie können
sprechen und auslassen, was Sie wollen." Von diesem Tage an verschwanden
die Vorstellungen, die meine Person betrafen, vollkommen. Sie hatte auf
T k aUg der Analyße mit einem Zwang geantwortet, der diesen Zwang
ad absurdum führen sollte. Die Analyse ging flott vorwärts und es gelang
mir, einen großen Erfolg zu erzielen. Es trat dann jene Reduktion auf das
Natürliche ein, welche die notwendige Besprechung der sexuellen Themen
ermöglichte.
Ich will zu meinem Thema zurückkehren. Manche wunderbare
Heilwirkung eines Heilmittels geht auf erotische Reizungen zurück.
So habe ich schon „Neurasthenien" nach länger dauernden Massagen
der Prostata verschwinden gesehen.
Es ist erfahrenen Urologen aufgefallen, daß Patienten, die 'eine
Prostatamassage mitmachen, schwer loszuwerden sind. Sie kommen
sehr gerne und lassen sich willig quälen. Sie betonen beständig, wie
schmerzhaft Ulld peinlich ihnen die Massage wäre, aber sie hielten es
gerne aus wenn der Erfolg nicht ausbleiben werde . . . Und sie kommen
immer wieder und begehren die unentbehrliche Massage.
6*
84
Erster Teil. Die Onanie.
Auch die Gonorrhoe-Behandlung mit Sonden kann' bei manchen
Patienten, die an „Ure t hr a 1-E r o tik" (Sadger) leiden — bei
denen also die Urethra eine erogene Zone ist — zu erotischen Reizungen
fuhren. Das erklärt uns die Fixation mancher chronischer Gonorrhoiker
an ihre Gonorrhoe und ihren Arzt. Onanie durch Einführung von
Gegenständen in die Urethra ist gar nicht so selten. Jeder erfahrene
Urologe kennt diese Fälle, welche oft zu schwierigen Operationen
führen.1)
In ähnlicher Weise wirken verschiedene andere Massagen, Strei-
chungen, Reibungen, manche Bäder. Daß Sonnenbäder ein Tummelplatz
von Menschen sind, welche Exhibitionisten oder bewußt oder unbewußt
homosexuell sind, brauche ich nicht zu betonen. Weniger bekannt ist
dies von den Wasserprozeduren, deren erquickende Wirkung in manchen
Fallen aus den erotischen Anregungen stammt. Ich will hier nicht von
dem famosen Reibesitzbad von Kühne sprechen, welche Prozedur offen
eine erotische Reizung bezweckt und einen onanistischen Akt unter der
Maske einer ärztlichen Verordnung darstellt. Aber die Menschen sind
glucklich, wenn man ihnen gestattet, sich und die Mitwelt zu belügen
Es handelt sich ihnen nur darum, das Gewissen zu beruhigen und nach
dem Prinzipe „Lust ohne Schuld" zu genießen.
Betrachten wir als Beispiel einer unbewußten erotischen Reizung
eine Beschreibung der magnetischen Heilungen, wie sie uns Kollege
Meissner in den „Therapeutischen Monatsberichten" gegeben hat.
„Wie der Patient — erklärt der Autor — es selber merkt, wenn
die Elektroden seinen Körper berühren, so wird der „empfängliche
Patient", der magnetisiert werden soll, nicht mit magnetischen Appa-
raten, nein, durch den Lebensmagnetismus der streichelnden Hände sehr
bald in seinem Körper ein ihm fremdes Etwas bemerken, fühlen, ver-
spüren. Aber man glaube natürlich nicht, daß dieses „Etwas" sich
ebenso aufdringlich im Körper bemerkbar machen wird wie die Elektri-
zität, die dem Körper künstlich mit Apparaten zugeführt wird. Es
zeigt seine Gegenwart vielmehr meist in viel zarterer, milderer Weise
an, sei es wie ein sanfter Luftzug, ein leiser Wind, der den betreffenden
Körperteil leise umfächelt, oder wie ein Kribbeln, ein leises Eiii-
geschlafensein, wie ein Zuströmen von Blut, z.B. unter die Fingernägel,
und dann wie ein sanfter, warmer, lauer oder auch kühler Strom durch
einzelne Körperglieder oder durch den ganzen Körper der Gesamtlänge,
-breite oder -tiefe hindurch, je nachdem die „magnetischen Luftstriche"
*) Vgl. Schäfer: Ein interessanter Fall von masturbatorischer Handlung. (M. m. W.,
Bd. 63, 1916,' Nr. 52.) — Es ist mir in diesem Werke, das die Psychologie der Onanie
behandelt, unmöglich, den ganzen Reichtum masturbatorischer Handlungen auszubreiten.
Die Kombinationen sind so unendlich und so abenteuerlich, daß sie ein besonderes
Werk füllen würden. Übrigens werden 'die nächsten Bände dieses Werkes zahlreiche
Beispiele bringen.
Andere Formen larvierter Onanie usw.
85
oder die einzelnen Arten des Handauflegens geschehen. Fast immer sind
die Gefühle Empfindungen eines hindurchgehenden, meist recht schwachen
elektrischen Stromes, mit dem Auftreten eines außerordentlichen Wohl-
gefühls verbunden. Schon manchmal haben wir selbst zur Winterszeit,
wo oft kaum 13° R Wärme im Zimmer waren, Leute, die vorher vor
Fieberfrost froren, als ich Sie, wenn dafür empfänglich, selbst bis auf
Zimmerlänge von mir ab, am halbentblößten Körper magnetisierte, be-
wundernd gesagt, daß sie wie Sommerwärme in ihren
Körper eindringen fühlten; andere kranke Personen, die
über lästige Körperhitze klagten, empfanden beim Magnetisieren an-
genehmes Gefühl leichter Kühlung. Und nicht zu selten ist es
mir vorgekommen, daß die Kranken, meist waren es nur speziell Kranken-
kassenpatienten, denn bei Privatpatienten, die selber zahlen sollen,
wagte ich aus Furcht vor übler Nachrede meist das Magnetisieren nicht,
also solche für den magnetischen Körperstrom leicht und schnell emp-
fängliche Kranke, bei welchen manchmal kaum ein paar Sekunden nach
Beginn der Strom, von dem ich ihnen nichts sagte (ich erklärte ihnen
nur ich wollte einmal ihr Hautgefühl prüfen!), schon von ihnen als
durch den ganzen Körper gegangen konstatiert bzw. nur signalisiert
wurde plötzlich mit der Erklärung hervortraten, wie merkwürdig es sei,
daß ihre vorher kalt gewesenen Füße schon ganz warm würden."
Nun, diese Wunder des Magnetismus sind die Wunder der Liebe
und der Erotik! Kalte Füße werden auch warm, wenn die fröstelnde
Frau von ihrem Geliebten umarmt wird. Sie fühlt es dann wie ein
heißer Strom durch den ganzen Körper rieselt. Die Sexualität kann
alles! Alle diese scheinbar übernatürlichen Wirkungen kommen durch
erotische Reizungen zustande. Daß die Sexualität in jeder Form die
Menschen belebt, wer wollte das bezweifeln? Andrerseits können auch
derartige Reizungen sehr schädlich wirken, wenn sie Wünsche wecken
die unerfüllbar sind und die Prozedur nicht zu dem erlösenden Orgasmus
fuhrt. ^ Ein äußerst lehrreicher Fall meiner Beobachtung zeigt uns
diese Zusammenhänge in besonders klarer Weise.
. ,, Jül\Nr; 17; Eine 37jährige Dame, Frau R. S., sucht mich wegen
Schlaflosigkeit auf. Sie wünscht hypnotisiert zu werden. Sie schlafe schon
seit einigen Wochen nicht. Das Schlafbedürfnis sei außerordentlich groß
Wie sie sym aber ins Bett lege, beginne sie der Gedanke zu quälen: Du
wirst nicht einschlafen und morgen sehr schlecht aussehen. Wie dieser Ge-
danke komme, sei es um ihre Ruhe geschehen. Sie werde furchtbar auf-
geregt und erzwinge schließlich den Schlaf mit einem Gramm Adalin oder
einem halben Gramm Veronal. „Meine Schlaflosigkeit - erzählt 'sie - begann
erst, als ich mich an einen Magnetiseur wandte. Ich litt vor 2 Jahren an
nervösen Magenschmerzen und suchte damals über den Rat einer Freundin
den Magnetiseur Dr. B. auf. Er magnetisierte mir den ganzen Bauch und ich
fühlte sofort eine ungeheuer beruhigende Wirkung. Nach 2 Wochen waren die
Magenschmerzen ganz verschwunden. Ich glaube an den Magnetismus. Demi
bei Dr. B. ging mir vom Magen aus ein heißer Strom durch den ganzen
Körper. Ich suchte vor 3 Wochen Dr. B. wieder auf, weil ich an einem
86
Erster Teil. Die Onanie.
Zittern im ganzen Körper und an Herzklopfen litt. Der Arme war schon ge-
storben. So ging ich zu einem anderen Magnetiseur, Dr. X., der mir ver-
sprach, mich in einigen Tagen vollkommen zu heilen. Ich war schon furcht-
bar aufgeregt, wie ich ihn aufsuchte. Ich zitterte am ganzen Körper. Er
setzte mich in einen Sessel und streichelte mir den ganzen Körper. Er' war
magnetisch viel stärker als Dr. B. Sofort fühlte ich einen heißen Strom,
der den ganzen Körper durchrieselte. Es wurde mir heiß und kalt. Dr. X.'
betonte: „Sie sind für den Magnetismus außerordentlich empfindlich. Sie
sind ein ausgezeichnetes Medium." Schon am zweiten Tage befahl er mir
ihm nachzugehen und seine Bewegung nachzumachen. Ich stand unter seinem
magnetischen Einfluß. Ich tanzte durch das ganze Zimmer, wie es Dr X
wollte. Aber ich schlief die ganze Nacht nicht. Dr. X. sagte: ,;Das ist die
Krise. Sie werden jetzt bald gesund werden." Aber meine Aufregung wurde
immer großer und ich war einmal bei Dr. X. so erregt, daß er die magne-
tischen Streichungen nicht fortsetzen konnte. Er meinte: „Sie sind heute
für den Magnetismus zu aufgeregt. Ich werde mit Ihnen ins Kino gehen."
Wir fuhren dann in ein Kino. Ich saß neben Dr. X. und fühlte so stark den
magnetischen Strom, daß ich von der Vorstellung nichts wahrnahm."
Die Vorgeschichte dieser nervösen Erkrankung ist folgende. Frau R. S.
war schon als kleines Kind sexuell aufgeklärt. Sie onanierte seit den Kinder-
tagen und onanierte auch mit Freundinnen gemeinsam. Als sie 13 Jahre alt
war hatte sie ein Verhältnis mit einer Freundin, die ihr den KunnilinguS
machte. Sie war außerordentlich kokett und hatte keine anderen Gedanken,
äl^aTi 1P7arTaPhll,e?" V ■; Sle kS mit Leidenschaft pornographische
Bucher. Mit 17 Jahren lernte sie einen Mann kennen, der sie deflorierte und
sie heiraten wollte. Orgasmus hatte sie nur selten bei ihm, aber das störte
öie nicht weil sie immer durch Onanie post coitum den Orgasmus erzielte.
Mit 19 Jahren lernte sie einen andern Mann kennen, der ihr seelisch viel
besser gefiel. Er machte ihr einen Heiratsantrag. Da er aber Offizier war
konnten sie nicht heiraten, weil sie nicht die Kaution hatten. Sie lebten
zufrieden in sehr glücklicher freier Ehe. Sie liebte ihn, weil er ein lieber
feiner Mann war und sie in jeder Weise verwöhnte. Sie wußte es, daß er
ihr treu -war und sie sicher heiraten werde, sobald es die Verhältnisse be-
statten würden. Nun war in ihrem Wesen eine große Wandlung vorgegangen.
Sie wurde ernst und begann sich mit Kunst und Literatur zu beschäftigend
Auch freute es sie, daß in letzter Zeit der Orgasmus beim Koitus häufiger
auftrat als früher.
Infolge dessen gelobte sie, die Onanie aufzugeben. Dies Versprechen
hielt sie auch. Es sind schon zwei Jahre, daß sie nicht onanierte. Nach"
der Onanieabstinenz trat der nervöse Magenschmerz auf, der bald verschwand
und einer allgemeinen Nervosität Platz machte.
Das Leiden hängt mit den Verhältnissen des Krieges zusammen. Ihr
Geliebter stand im Felde. Sie war die ganze Zeit allein mit ihrer Schwester
und lebte abstinent. Die Versuchung zur Onanie war sehr groß. Sie wider-
stand aber sehr tapfer.
Nun war sie aber durch die Lehren des Magnetiseurs Dr. X. in einen
großen Konflikt gekommen. Dr. X. hatte ihr nach einer Woche gesagt:
„Ihnen fehlt eigentlich nur ein Mann. Das Nervenleiden kommt von Ihrer
Enthaltsamkeit." Das hatte sie furchtbar aufgeregt. „Ich wollte — erzählte
sie mir — nicht wieder onanieren. Um keinen Preis der Welt. Ich war
Andere Formen larvierter Onanie usw.
87
glücklich, daß ich mir das Laster abgewöhnt hatte. Die Worte des Magne-
tiseurs wirkten auf mich ungeheuer erregend. Die Streichungen beruhigten
mich nur einen Moment, dann wurde es ärger. Ich lief auf die Gasse und
es hätte nicht viel gefehlt, ich hätte mich einem fremden Manne hingegeben.
Ich war rasend vor Aufregung und vor Verlangen. Nun sind alle meine
Nerven zerrüttet, mein Schlaf ist hin. . . . Helfen Sie mir! . . . Ich kann
meinem Geliebten nicht untreu sein. Ich nehme mir lieber das Leben. Wenn
Sie seine Briefe vom Kriegsschauplatz lesen würden. Er will mich sofort
heiraten, wie er zurückkommt. Und ich soll mir hier einen Geliebten nehmen
und ihn betrügen!"
Es gibt wohl keinen schlechteren Rat und der Arzt ist nie berechtigt,
ihn, zu geben. Denn wäre die Dame nicht im Kampfe mit ihrer Sexualität,
wäre sie nicht so „moralisch" und neurotisch, sie hätte sich schon den
entsprechenden Rat selbst gewußt. Hier würde ein Schritt vom Wege den
inneren Konflikt verschärfen und aus der nervösen Frau eine ganz ge-
brochene machen. . . . Sie ist fromm, geht täglich in die Kirche, beichtet.
Sie betrachtet ihr Verhältnis als eine Ehe, was es ja im besten Sinne des
Wortes ist. . .
Sie berichtet von jhren schlaflosen Nächten. Sie erzählt dann, daß sie
ihre Schwester weckt, welche sich an ihr Bett setzt und sie streicheln muß.
Wir erfahren, daß sie für den Magnetismus besonders disponiert erscheint,
denn die Haut ist ihre erogene Zone. Der Geliebte erzielt nur dadurch
Orgasmus, daß sie von ihm vorher lange gestreichelt wird ... Es ist
eine typische infantile Einstellung.
Nach einigen Stunden kann ich mir ein Bild von der Entstehung der
Neurose machen. Es wirkten hier viele Momente zusammen, um das schwere
Krankheitsbild zu erzeugen. Sie hatte von ihrem ersten Geliebten noch
immer Nachrichten. Schon bei der Trennung hatte er ihr gesagt, daß er
immer auf sie warten und nicht heiraten werde. Sie hatte ihm den zweiten
vorgezogen, weil er materiell besser gestellt war und einen sanfteren Charakter
hatte. Der erste war jähzornig, spielte, trank hie und da und konnte sehr
unverträglich werden. Der zweite war sanft und milde. Der Intellekt sprach
für den zweiten, das Herz für den ersten. Man sieht es häufig, daß rohe
Männer die Frauen besser an sich binden, sie 'stärker fesseln als die sanften.
Sie wecken viel mehr die Vorstellung, daß de ein „wahrer Mann" sind.
Der zweite hatte etwas Weibliches an sich, obwohl er Offizier war. Und
das spielte in der Neurose eine große Rolle. Ihr psychischer Konflikt war
momentan, daß sie einen Gedanken verdrängte, der so 'lautete: Wenn dein
Geliebter im Felde fällt, so bist du frei und kannst den ersten heiraten,
der ja noch immer auf dich wartet. Doch bist du noch jung und schön, um
ihm zu gefallen? Der Spiegel sagte ihr täglich: Ja! Sie fürchtete sich
vor dem Altwerden, vor den Runzeln, vor der Häßlichkeit. Sie hatte deshalb
nicht auf die Ehe gedrängt, um sich die' Hoffnung auf den anderen noch
immer zu erhalten. Mit der Ehe wäre dann die Fiktion endgültig zerstört.
Sie brauchte dieses Stück Realität, um ihre Phantasien daran zu knüpfen.
An diese Dinge, an den Todeswunsch wollte sie nicht denken. Deshalb trat
dann die ] Vorstellung auf: Du mußt schlafen und diese Dinge ganz ver-
gessen. Du solltest den ganzen Krieg verschlafen. Ihr Begehren steigerte
sich, weil die Abstinenz alle Triebe entfesselte. Nun kam die Suggestion
des Doktors, der ihr sagte, sie brauche einen Mann. Da ihr Geliebter im
88
Erster Teil. Die Onanie.
Felde stehe, müsse sie sich einen anderen suchen. Sofort fiel es ihr ein:
Wer sollte der andere sein, wenn nicht der erste Geliebte, den sie nie ver-
gessen hatte, weil ja kein Weib den Mann vergißt, der ihre Jungfräulichkeit
genossen und sie in die Liebe eingeführt hat?!
Da trat die Zwangsvorstellung auf: Du wirst nicht schlafen können
und morgen schlecht aussehen. Du wirst alt aussehen! Sie mußte sich ja
für den anderen jung erhalten. ... Sie klammerte sich an diese Zwangs-
vorstellung, sie hatte nun den ganzen Tag keinen anderen Gedanken als:
Schlafen. . . Schlafen hieß: den ganzen Konflikt vergessen.
Ein zweiter Antrieb kam aus dem Infantilen und aus der Homo-
sexualität. Unvergeßlich war ihr die Zeit, da sie von der Freundin durch den
Kunmlingus befriedigt wurde. Das Zusammenwohnen mit der Schwester
mußte sie auf den Wunsch bringen, von der Schwester befriedigt zu werden.
Spontan sagte sie mir: „Ich glaube, es ist nicht gut, daß ich mit der
Schwester zusammen wohne. Wir streiten den ganzen Tag und nachts rufe
ich sie, damit sie mich wie ein Kind streichelt und beruhigt. Ich kann aber
nicht allem sein. Ich brauche immer einen Menschen, der bei mir ist. Woher
Hatte ich einen solchen Menschen nehmen können?"
Ich habe keine weiteren Erfahrungen über das Schicksal' der Patientin
Ich glaube aber annehmen zu können, daß sie zu dem Magnetiseur zurück-
gegangen ist, da sie mir in der letzten Stunde versicherte, der Magnetiseur
habe ihr doch gut getan. Wenn der Doktor nicht von dem Mangel an
Befriedigung gesprochen hätte, so wäre sie dort gesund geworden. Ich ver-
mutete gleich, daß die Neigung zu Dr. X. sie wieder in seine Hände treiben
werde Denn sie erzählte mir unglaubliche Dinge über seine Stärke und seine
Macht Was sie aber nicht sehen will, ist, daß sie den Tod des Geliebten
wünscht und den Anderen liebt, Sie zittert, wenn ein Brief kommt Sie
zittert, wenn sie die Verlustlisten liest. Man könnte sagen aus Liebe und
Angst um den Geliebten. Das ist ja die Komödie, die sie sich vorspielt
Sie braucht einen energischen Mann, weil sie fürchtet, der Liebe zum Weibe
zu erliegen.
Läßt man sich "von dieser Patientin die Einwirkung des Magne-
tiseurs schildern, so erkennt man sofort, daß seine Streichungen die
im Zustande libidinöser Erwartung befindliche und durch eine besonders
erogene Haut ausgezeichnete Dame in besondere Erregung versetzten.
Durch die Abstinenz und das Aufgeben der Onanie war ihr eine regel-
mäßig zuströmende Lustquelle entzogen worden. Sie hatte es ver-
standen, die Libido fast ganz auf den heterosexuellen Verkehr 2u über-
tragen. Nun stellte sie die Abstinenz vor neue schwere Aufgaben. Sie
sollte auf Onanie und Koitus verzichten. Die streichelnde Hand des
Magnetiseurs weckte so viele heiße Wünsche, daß sie schlaflos wurde.
Dazu kamen noch die Aufklärungen und Andeutungen auf Heilungs-
möglichkeiten durch den Verkehr mit anderen Männern, so daß die
ohnedies übererotische Frau vollkommen aus dem Gleichgewichte ge-
bracht wurde. Die Vorlust des heißen Stromes, den die erotische
Reizung des Magnetiseurs erzeugte, genügte ihr nicht mehr. Sie ver-
langte nach mehr. Diese Dame war eine fanatische Anhängerin der
Andere Formen larvierter Onanie usw. $9
Massage. Sie hatte sich schon die verschiedensten Schmerzen „weg-
massieren" ■ lassen. Masseusen wirkten auftsie sehr erregend, sie war
dann wie im Fieber.
Wie viele Massagen mögen auf diese wunderbare Weise wirken?
Ich möchte noch die erotisierenden Streichungen bei der Hypnose
und die sexuelle Wirkung der Wachsuggestion erwähnen, welche bei
masochistisch veranlagten Personen sogar zu Orgasmen führen können.
Die Hypnose wirkt als Unterwerfung unter den Partner auf dem Wege
der Faszination (Ferenczi) und wird oft von gewissenlosen Hyp-
notiseuren in sexueller Absicht mißbraucht. Freilich sind die Schilde-
rungen hysterischer Damen, die behaupten, sie wären in der Hypnose
„vergewaltigt" worden, nur mit großer Vorsicht aufzunehmen. Sie
ersetzen oft ihre Erwartungen und Phantasiebilder durch erdichtete
Realitäten, um sich an dem Hypnotiseur zu rächen, der ihren Er-
wartungen nicht entgegengekommen ist. Es läßt sich aber nicht be-
streiten, daß hypnotische und sogar spiritistische Seancen als erotische
Reizung wirken können.1)
Eine große Rolle spielt die erotische Reizung bei einem neuen
Apparate, der glänzende Erfolge erzielen soll, bei dem sogenannten Entcro-
kleaner. Es handelt • sich um ein in einem Bade verabreichtes Klysma, bei
dem große Wassermengen zur Verwendung gelangen. Es werden 15— 20 Liter
Wasser und darüber hinaus durchgespült. Die Wirkung bei Obstipation und
bei anderen Erkrankungen des Darmes soll außerordentlich günstig sein.
Bei dieser therapeutischen Wirkung spielen aber auch erotische Reizungen
eine große Rolle, wie ich dem Buche des Privatdozenten Dr. Anton Drosch
„Das subäquale Innenbad", II. Auflage, Franz Deuticke, Leipzig und Wien
1912,. entnehme.
So schildert Brosch die Wirkung seines Enterokleaners folgendermaßen :
.„Auf der Anal- und Rektalschleimhaut kommt nur die höchst
angenehme, leicht prickelnde Empfindung einer Massage durch einen
Flüssigkeitsstrom zur Geltung, in ähnlicher Weise, wie wir dies auf
der äußeren Hautoberfläche beim Anprall eines Wasserstromes emp-
finden. Augenscheinlich besitzt die Rektal- und Analschleimhaut be-"
6onders sensible Nerven, welche uns dieses ausgesprochene Lustgefühl
besonders intensiv empfinden lassen. Hervorgehoben werden muß, daß
diese Lustempfindung ganz verschieden ist von einer Erregung ge-
schlechtlicher Natur. Bei Anwendung von kühlem und kaltem Innen-
badewasser macht sich sogar im Gegenteil auf die Geschlechtsorgane
eine ungemein beruhigende Wirkung geltend."
„Das kühle subäquale Innenbad ahmt gewissermaßen künstlich
die Orgasmusmechanik nach; es verschafft uns alle physischen und
psychischen Vorteilendes Orgasmus ohne die Nachteile des Koitus."
„Dieser künstliche Orgasmus sine usu genitalium gibt uns auch
flen Schlüssel in die Hand zum Verständnis der so überaus erquickenden,
') Vgl. „Der Psychographißmus und seine Polgen". (Med. Klinik, 1919, Nr. 47.)
90 Erster Teil. Die Onanie.
erfrischenden und stärkenden physischen und psychischen Wirkung de6
subäqualen Innenbades."
„Wenn es für Zweifler noch eines Beweises bedürfte, daß dieser
künstliche Orgasmus fast identisch ist mit dem natürlichen Orgasmus,
so kann dieser Beweis sofort erbracht werden durch zwei dem natür-
lichen und künstlichen Orgasmus in gleicher Weise zukommende Eigen-
schaften, nämlich erstens das köstlichste Wohlgefühl und zweitens den
völligen Libidomangel nach der Prozedur."
Ich konstatiere mit Befriedigung, daß der Autor den Mut gefunden hat,
für die Heilwirkung der Sexualität einzutreten. Jede Ehrlichkeit ist ein
Fortschritt. Und ich kann es mir lebhaft denken, daß der Arzt oft in die
Lage kommen wird, ein solches Bad zu verordnen, mit der bewußten Ab-
sicht, einem armen gequälten Menschen zu -einem Orgasmus zu verhelfen,
ohne sich die Tatsache zu verschleiern. Denken wir nun an das Heer von
Stuhlhypochondern, denen der Anus tatsächlich der „Mittelpunkt der Welt"
bedeutet. Aber man wird sich wohl hüten müssen, dem Kranken diese
erotischen Reizungen zu versprechen. Sie müssen ihm heimlich gegen seinen
Willen zugeführt werden.
Ich kann aber nicht verschweigen, daß diese Reizungen auch eine
gewisse Gefahr in sich bergen. Es wird gewiß viele Menschen geben, die
sich nach solchen Orgasmen schlechter fühlen werden, in denen eine mächtige
Übermoralitat selbst gegen diese „subcutanen" Lustempfindungen, revol-
tieren wird. Wie in allen Fällen, so mag erst bei einem so mächtigen Heil-
mittel der Satz gelten: Eines schickt sich nicht für Alle! Eine viel größere
Gefahr besteht aber in der Gewöhnung. Bekanntlich brechen die schweren
Iseurosen erst aus, wenn uns eine Lustquelle entzogen wird. Brosch sieht
jetzt die Wunder der sexuellen Befriedigung. Er wird bald die Schrecken
der Abstinenz 'sehen. . . . Denn solche Prozeduren erzeugen doch keine
Dauerwirkung! Er erzielt vorübergehend glänzende Erfolge. Zugegeben.
Aber was geschieht mit den armen Patienten, wenn diese Orgasmen aufhören?
Jede Lust verlangt nach Wiederholung und sogar nach Steigerung. Die
Patienten werden sich an den Enterokleaner gewöhnen, sie werden Sklaven
des Enterokleaners werden.
Über das Kapitel erotische Reizungen als Heilfaktor wäre noch
sehr viel zu sagen. Wie viele Erfolge kommen in Sanatorien und in
der Praxis durch Übertragung zustande? Doch dies Kapitel wäre
endlos, wollte man versuchen, es zu erschöpfen. Ich habe in diesen
Ausführungen nur- einige Beispiele geben wollen. Ich halte es für
würdiger und richtiger, wenn die Ärzte sich darüber klar sind, daß
sexuelle Reizungen Heilmittel sein können, als daß sie sich ebenso
wie den Kranken täuschen. Sie sollten wenigstens verstehen, wie die
schönsten Heilerfolge zustande kommen.
Diese Frage interessiert mich auch von einem anderen Standpunkte.
Ich trete immer wieder für die Unschädlichkeit der Onanie ein. Diese
Prozeduren werden meistens als onanistische bezeichnet. Wenn man
auch alle onanistischen Akte als autoerotische auffaßt, Massagen aber
Andere Formeu larvierter Onanie usw. gj
schon nicht mehr autoerotisch sind, so hat man sich schon gewöhnt,
bei diesen Vorgängen von Onanie zu sprechen. Wir sehen hier die
Onanie als Heilfaktor. An der Onanie hängt das Odium von Jahr-
tausenden. Eine medizinische Prozedur umgeht dieses Odium. Sie
macht aus dem gleichen Reize einen Heilfaktor und erspart dem Kranken
die Vorwürfe und die Belastung durch das Schuldbewußtsein. Hat der
Enterokleaner diese wunderbaren Erfolge, so ist nicht einzusehen,
weshalb eine onanistische Prozedur nicht den gleichen Effekt haben
sollte. Der Kranke könnte ja die Analschleimhaut auf eine andere
Weise reizen. . .
In der Tat, derartige Fälle sind nicht selten. Wenn ich aus der .
Fülle meiner Erfahrung einen einzigen herausgreife, so geschieht das,
weil er in das Kapitel der unbewußten Onanie gehört und weil er einen
interessanten Beitrag zur Frage „Wie kommen die therapeutischen
Erfolge zustande?" liefert.
Ich kannte einen Spezialarzt, der immer darauf verwies, wie häufig
die Neurasthenie eine Folgeerscheinung der chronischen Gonorrhöe sei.
Man treffe unter den Neurasthenikern immer einen großen Prozentsatz
von Menschen, die eine schwere Gonorrhöe überstanden haben oder
noch daran laborieren. Speziell chronische Prostatitis sei so häufig in
der Anamnese und im Befund der Neurotiker, daß er sich nicht
wundere, daß viele Spezialärzte an diesen Zusammenhang- glauben und
eine toxische Theorie der Neurasthenie aufgestellt hätten.1)
Dieser Kollege erzählte mir von wunderbaren Heilungen, welche
bei Neurasthenikern nach einer lange fortgesetzten Prostatamassage
zu beobachten wären. Nun habe ich schon die Erfahrung erwähnt, daß
Menschen mit unterdrückter Homosexualität mit ihrem Tripper nie
fertig werden und immer wieder zum Arzte laufen. Gar nicht so selten
wird aus Anlaß der gonorrhoischen Infektion das Weib mit Ekel belegt
und die bisher latente Homosexualität wird manifest.
Ich hätte also gerne diese Erfolge kontrolliert, da ich a priori
die Ansicht hatte, es müßten auch erotische Einflüsse den Erfolg
zeitigen. Nun führte mir der Zufäll einen Expatienten des Kollegen
zu, der mich wegen Platzangst in seine Wohnung bitten ließ.
Fall Nr. 18. * Herr Adam leidet seit einem Jahre an Platzangst und
kann das Zimmer nicht verlassen. Er erzählt eine lange Krankengeschichte,
in der anale Beschwerden, Obstipation, Analkrämpfe, Analfissuren neben
einer Neurasthenie und einer Gonorrhöe besonders betont werden. Er hat
mich bitten lassen, weil er hörte, ich wäre ein geschickter Hypnotiseur und
*) Über den Zusammenhang von Prostatitis und Neurasthenie vgl. „Nervüse
Ang6tzustände", S. 45, 3. Aufl., und Max Marcuse: „Über atonische Prostatitis." Med.
Klinik, 1912.
92
Erster Teil. Die Onanie.
könnte ihm seine Platzangst „wegsuggerieren". Er wäre schon bei einigen
berühmten Hypnotiseuren gewesen, habe aber gleich gemerkt, daß er es mit
Schwindlern zu tun hätte (denn er hätte „alle Bücher über Hypnose" gelesen).
„Wie haben Sie das erkannt?"
„Sehr einfach. Im Vorzimmer sind schon einige Leute hypnotisiert
gelegen und haben geschlafen. Ich bin ja nicht so dumm. . . Ich bin gleich
davongerannt."
Der erfahrene Analytiker merkt sofort, daß der Patient Angst vor
der Hypnose hat und sich vor dem Hypnotiseur fürchtet. Er stellt sich nur
so, als ob er sich hypnotisieren lassen wollte, wird aber immer ein Motiv
finden, sich mit dem Hypnotiseur nicht einzulassen.
Ich mache dem Menschen klar, daß er sich wahrscheinlich gar nicht
werde hypnotisieren lassen. Er habe jetzt schon alle Werke über Hypnose
gelesen, aber nicht um sich zu informieren, sondern um sich gegen Jen
Hypnotiseur zu schützen.
„Das sage ich Ihnen gleich! . . ." ruft der Kranke aus. „Mir werden
Sie nie etwas suggerieren können, was mir nicht paßt. Das ist meine ein-
zige Furcht. Sie könnten mir etwas suggerieren, was mir unangenehm oder
gefährlich werden kann." •
„Und was wäre das?"
„Zum Beispiel einen sexuellen Akt, der mir nicht paßt . . . ."
„Was für einen sexuellen Akt? Drücken Sie sich näher aus!"
„Einen homosexuellen Akt."
.... Jetzt wußte ich, warum der Kranke die Hypnose suchte und
fürchtete. Er sehnte sich nach einem homosexuellen Akt. Aber dieser sollte
in der Hypnose nach dem Prinzip'e „Lust ohne Schuld" vor sich gehen.
Andrerseits fürchtete er sich davor. Er stand unter der Herrschaft von
zwei widerstrebenden Seelenströmungen.
Nun zu seiner Krankengeschichte. Er war immer ein Stuhlhypochonder.
Schon diese Beschäftigung mit der analen Zone beweist, daß der Anus mit
seiner Erogenität intime Beziehungen hatte. Er hatte lange onaniert. Der
Anfang nicht erinnerlich. Mit 24 Jahren begann er zu Frauen zu gehen
und mit 40 Jahren hatte er das Unglück, sich eine Gonorrhöe zu holen
die nicht heilen wollte. Das Wort: „Die Gonorrhöe ist ein Prüfstein der
schwachen Gehirne" bewahrheitete sich bei ihm. Er wurde schwer krank
und bekam alle möglichen Angstzustände. Er sah immer Komplikationen,
lief immer wieder zum Arzte und verlangte, daß etwas gemacht werde.
Die Gonorrhöe heilte schließlich, aber die nervösen Beschwerden, besonders
Angstzustände unbestimmter Natur, Herzklopfen, Schlaflosigkeit blieben. Da
wurde ihm ein berühmter Spezialist empfohlen, der eine Entzündung der
Prostata konstatierte und ihn durch drei Monate massierte.
Während dieser Zeit ging es ihm glänzend. Er verlor alle Beschwerden
und blühte auf. Er verlor alle Angstgefühle und konnte seinen Wunder-
arzt nicht genug preisen. Er hätte am liebsten die Behandlung ewig fort-
gesetzt. Doch eines Tages erklärte ihm der Doktor, er wäre jetzt genesen,
man dürfe nicht mehr massieren. Er war -darüber sonderbarerweise nicht
sehr erfreut. Und schon nach einiger Zeit traten neue Beschwerden auf und
er suchte den Spezialisten wieder auf. Dieser jedoch untersuchte ihn und
meinte, die Prostata wäre jetzt vollkommen geheilt, die Beschwerden wären
rein nervöser Natur und verwies ihn an einen Nervenspezialisten. Dieser
v
Andere Formen larvierter Onanie usw. 93
war ihm sehr unsympathisch und er blieb lieber ohne jede Behandlung. Aber
bald, nach einigen Wochen, trat die Platzangst auf und er konnte nicht
mehr sein Haus verlassen, es sei denn, daß er von seinen Freunden geführt
wurde, wie zu dem berühmten Hypnotiseur.
Die Entstehung der Platzangst war folgendermaßen zu erklären.
Durch die Prostatamassage war eine vorübergehende Befriedigung seiner
analerotischen Triebkräfte zustande gekommen, welche die Besserung seines
Zustandes herbeiführte. Die plötzlich einsetzende Abstinenz erzeugte wieder
eine Verschlimmerung. Seine Angst vor der Straße war die Angst vor der
homosexuellen Gefahr, welche zugleich sein Verlangen war. Die Angst war
al60 eine Sicherung gegen die homosexuellen Triebkräfte.
Zu ergänzen ist, daß der Kranke immer die anale Onanie durch Ein-
führen eines geölten Glasstabes ausgeführt hatte. Beim Koitus hatte er nur
sehr geringen Orgasmus, während der Orgasmus bei der analen Onanie sehr
stark war.
Die Prostatamassage war also die Wiederholung seiner überwundenen
Onanieperiode und mußte wieder das Verlangen nach der infantilen Form der
Befriedigung wecken. Er .war ein Mensch, der ohne den Irrigator nicht leben
konnte. Wenn die Beschwerden zu arg waren, so machte er sich immer eine
Irrigation. Es war dies die larvierte Form seiner Onanie. Nachher fühlte er
sich immer angenehm entspannt und erleichtert.
Die Hypnose sollte seinen Widerstand gegen einen homosexuellen Akt
brechen. Von ihr erhoffte er, das nochmals zu erleben, was er durch die
Prostatamassage empfunden hatte. Der Arzt sollte auch der Arzt seiner
sexuellen Not sein . . . ;
Er erzählte einen typischen Traum:
Ich bin auf der Straße. Da merke ich, daß mir jemand von. hinten
nachgeht. Ich laufe vor lauter Angst davon. Es könnte ja ein Räuber
sein. Da fühle ich, wie ein heißes scharfes Schwert mich hinten berührt
und erwache mit Schrecken.
Eine Analyse dieses Traumes ist überflüssig. Das Schwert ist als ein
phallisches Symbol aufzufassen.
Ich. habe schon betont, daß die erotische Reizung des Arztes das
Schuldgefühl umgeht, das sich sonst an den autoerotischen Akt knüpft.
Die Frage der Onanie ist nicht zu verstehen, wenn wir nicht die Genese
dieses Schuldgefühles kennen.
Bevor wir zur Analyse des Schuldbewußtseins des Onanisten über-
gehen, müssen wir noch ein wichtiges Moment hervorheben. Die Onanie
ist immer eine Regression (Freud) auf infantile Lustquellen. Sie ersetzt
sogar die erste und stärkste Lust des Menschen: die Säuglingslust. Ich
habe wiederholt bei den Onanisten Phantasien konstatieren können,
daß der Penis die Amme sei, die gemelkt werde. Der onanistische Akt
bei Männern wird häufig als ein Melken bezeichnet. In meinem Buche
„Die Sprache des Traumes" finden sich bei den Ammen- und den Onanie-
träumen genügend Bestätigungen für diese Behauptung.
94
Erster Teil. Die Onanie.
Wir können schon aus diesen Ausführungen ersehen, daß es
Menschen geben wird, denen die Abgewöhnung von der Onanie unmög-
lich ist. Bei anderen geht diese Entwöhnung leicht vor sich. Diese
Menschen haben schon mit Phantasien aus dem normalen Geschlechts-
leben — wenn ich mich zum Verständnis so ausdrücken darf — onaniert
Die Onanie war für sie nur ein Surrogat des Erreichbaren, aber damals
noch nicht Erreichten. ;
Diese Menschen haben auch für gewöhnlich wenig Schuldbewußt-
sein, das ja sonst im Leben der Onanisten eine so große Rolle spielt
Wir erleben da merkwürdige Überraschungen. Es kommen Kranke
zu uns, die sich wegen der Onanie die heftigsten Vorwürfe machen. Man
klart sie auf und sagt ihnen: Eine mäßig betriebene Onanie ist un-
™t. ^ber Sie bleiben "ÄnWg und machen sich weiterhin Vor-
wurfe. Wir begreifen diesen Vorgang, wenn wir wissen, daß sich diese
Vorwurfe auf die begleitenden Phantasien beziehen. Wir decken alle
diese Phantasien in der Analyse auf und merken, daß die Vorwürfe noch
immer nicht weichen wollen. Endlich merken wir, daß eine Affektver-
schiebung stattgefunden hat. Die Onanie hat eine Reihe
von Vorwürfen übernommen, die bewußtseins-
remd sind, weil sie viel p ei nlich e r si n d, als die
Vorwürfe wegen der Onanie. Die Onanie ist ein
Nährboden für alle Vorwürfe. Sie ist das Schuld
reservoir für alle Schuld. Sie ist gewissermaßen
das Symbol der Schuld.-
Daß die Onanie von dem einen glänzend vertragen wird, von dem
anderen nicht, das hängt nur davon ab, ob sich mit ihr ein Schuldbe-
wußtsein verbindet oder nicht. Wo sich Schuld an die Onanie hängt,
da treten alle jene Erscheinungen auf, die wir als Folgen der Onanie
beschrieben bekommen. Wo die Schuld fehlt, bleiben diese Symptome
der Neurose aus. Es ist von großer Bedeutung, dies Phänomen der
Schuldverschiebung zu kennen. Wir können ja die Erfahrung fast täg-
lich in unserer Sprechstunde machen. Die Patienten geben die Onanie
zu. Aber das letzte Mal vor drej Jahren u. dgl. Später erfährt man, daß
der letzte autoerotische Akt vor einem Tage stattgefunden hat. Ähn-
lich verfahren die Kranken bei einer Gonorrhöe. Sie haben die Tendenz,
den schuldigen Koitus zurückzudatieren.
Dies Prinzip der Verschiebung in die Vergangenheit spielt eine
große Rolle bei den Zwangsvorstellungen. Ein Beispiel für viele. Eine
Dame machte sich Vorwürfe, sie hätte vor 20 Jahren' einen Abortus
ausführen lassen. Zwanzig Jahre lebte sie in Ruhe und Frieden und
plötzlich taucht der alte Vorfall auf und macht sie schlaflos. Notabene
hatte sie damals den Abortus auf den Rat ihres Hausarztes durchführen
•1
Andere Formen larvierter Onanie usw. 95
lassen. Die Analyse ergab, daß sie nach einer Krankheit ihres Mannes
erkrankt war. Man möchte nun glauben, das sei die Folge der auf-
opfernden Pflege und der Sorgen. Im Gegenteil! Sie hatte während der
Krankheit des ungeliebten Mannes den verbrecherischen Wunsch:
„0, möchte er sterben, daß ich nun frei über sein Vermögen verfügen
könnte," Dieser Wunsch war verdrängt worden! Der Affekt jedoch
suchte einen Punkt, wo er sich im Bewußtsein festsetzen konnte. Die
Schuld ließ sich nicht betäuben. Sie durchforschte die Vergangenheit.
Hatte sie nicht einmal einen Mord begangen? War ein Abortus nicht
ein Kindermord ? Und waren die Todeswünsche gegen den Gatten nicht
ein Äquivalent eines Mordes? Mord für Mord. So knüpfte sich das
Schuldbewußtsein, das aktuellen Anlässen entsprang, an einen fast ver-
gessenen Vorfall und füllte ihn mit frischen Affekten.
Ähnlich geht es den Menschen mit der Onanie. Sie suchen in der
Vergangenheit nach einem Vorfall, der ihnen gestattet, ihr Schuldbe-
wußtsein zu fixieren. Dazu ist die Onanie besonders geeignet. Denn
kein zweiter Vorgang führt uns den Kampf
zwischen Trieb und Hemmung so deutlich vor
Augen. Die Onanie ist das Symbol für den Kampf
zwischen Trieb undHemmun g.1) Sie wird zum
Verbotenen und Sündhaften schlechtweg. Deshalb
) Die Kranken gestehen un6 diese Verhältnisse, wenn wir ihre geheime Sprache
genau verstehen. So sagte mir eine an Zwangsneurose leidende Dame, die an der
Vorstellung litt, sie werde ihren Vater oder ihre Mutter umbringen, nach einem auto-
erotischen Akte folgende Worte: „Ich habe gestern nach zehn Jahren
das erste Mal wieder onaniert. Jetzt habe ich eine entsetz-
liche Angst. Ich denke mir, daß ich jetzt auch den Mord-
impulsen nachgeben werde, weil ich mich bei der Onanie auch
nicht beherrschen konnte."
Diese Kranke war vor der Analyse arbeite- und lebensunfähig. Der ganze Tag
verging im Kampfe gegen die Mordimpulss. Sie konnte das Zimmer nicht mehr ver-
lassen und ging nie allein über die Straße. Jetzt ist sie selbständig in einem Büro
tätig, wo sie tagelang allein arbeiten muß. Wie die Analyse ihrer Träume nachweisen
konnte, hatte sie die ganze Zeit über bei Nacht onaniert. Aber sie wußte von der
Onanie nichts und brauchte sich keinerlei Vorwürfe darüber zu machen. Sobald sie
gesund wurde, fing sie an, hie und da bei Tage zu onanieren. Es war eben ein Teil
ihrer Phantasien dem Bewußtsein wieder zugänglich. — Ich kümmerte mich bei der
Analyse um die Onanie gar nicht. Ich erklärte ihr nur, daß die Onanie unschädlich
sei und daß ihr Schuldbewußtsein anderen Motiven entspringe. Diese Kranke hatte
6ich in der Beherrschung der Onanie eine gewisse Beruhigung geholt. Wenn du
-nicht onanieren mußt, so wirst du auch nicht töten. Als sie in-
folge der Analyse ihre Mordgedanken als ein harmloses Spiel ihrer überhitzten Phantasie
durchschaute und sich nicht mehr vor ßich selbßt fürchtete, konnte sie wieder „bewußt"
•nanieren.
r
96
Erster Teil. Die Onanie.
buchten die Belehrungen über die Schadlosigkeit autoerotischer Vor-
gange gar nicht. Die Vorwürfe entstammen ja anderen Quellen und
können nur an diesen Quellen gefaßt und in das richtige Strombett
geleitet werden.
Die Menschen haben ja alle einen Denkfehler, der sich nie ganz
ausmerzen laß . Es * dies das teleologische Denken. Die Religion hat
den Geschlechteak in den Dienst der Menschheit gestellt. Der lust-
FoTlT a7't f ?"*■ Wem CT nicht dem höhe™ Zwecke der
Ä^T " Sem teleoIo«isohen Si™ « die Onanie eine
seh chtTakl S25* ™n :ertV0,len, Material- Dcr achtbare Ge-
Ona^e aber NT T6mf eM *" """»tf«* «Aeiligten Akt. Die
dTZ den F „ w Und,belastet das 0**«« *s Kulturmenschen.
Da, wäre die tZf fTtä We6hal°? "**' ^kommen kann.
Uas wäre dle teleologische Quelle des Schuldbewußteeins
Andrerseits erfüllt das Schuldbewußtsein eine wichtige Funktion
SÄaS?'*^* fede Lust hat das ihr '— t
Wed fioZt cot™ Tf r VeTrIa',8Gn- Nun Verliert ^ ^* «urch
tu, /de, V , ! lhl'eS Lusteharakters. Sie strebt in die Rich-
r„"lt °" °dei' Ver'angt nach einer Steigerung der Reiz
Diese Stagepmg wäre aber bei der Onanie schwer möglich RaTZ
LS r^ St"f e "Der KÜn6tkr" (im Ve^ ™n Heller Vi „
zuerst ausgesprochen, „daß wir uns die Lust dim* sm,„# •
Widerstände erhöhen wollen". Alles, ^g ^E
können, ist uns keine Lust mehr. Wir alle suchen dZ^S-Ö
Wr sind eigentlich alle Kämpfernaturen, denen der C*&
XTlt ' T. KU!tUr m$ ni°ht Gel6genhdt z™ Kamp nach
außen gibt so wendet sich der Kampf nach innen. Wir schaffen I
künstliche Widerstände, um sie überwinden zu können u„d sofe Be
deutung des Sieges zu vergrößern. Dadurch, daß die Onanie
$;$)■ 'St' "hSlt "« ^ •*»'>.%. Lust«*
So wird das Schuldbewußtsein bei der Onanie
zu einem stimulierenden Faktor. Wir können
auch hier die Bipolarität aller seelischen Phä
R^zTnd d?r RChten- D ' * = ""'""" Wird »»
Re'Z U"d d" Eeiz zur Hemmung. Jeder onanistische
Man Im ^rt*'*™^ ■** Waffen, Lust ohne Hemmung Zu vertrag»
bcnaaen, weil sie den Sexualverkehr zur Sund« monht* m r ,;, ., " B
Andere Formen larvierter Onanie usw. q7
Akt wird zu einem Kampf spiel mit einem hohen Einsatz. Es ist der
Entwertung durch allzuhäufige Wiederholung eine Schranke gesetzt.
Das Schuldbewußtsein funktioniert dann automatisch; es steigert die
Lust und schützt gegen das Übermaß.
Wenn wir aber diese komplizierten Verhältnisse überdenken, die
Onanie als Schulreservoir und die Schuld als stimulierenden Paktor, so
wird es uns klar, daß bloße Belehrung über die Unschädlichkeit der
Onanie den an Angst vor den Folgen der Onanie Erkrankten keine
Ruhe bringen kann. Oder nur eine vorübergehende Ruhe, wie sie der
Hypochonder genießt, wenn der Arzt ihm versichert, er wäre voll-
kommen gesund. Nach einigen Stunden oder Tagen kommt das Schuld-
bewußtsein wieder, und der Kranke beginnt neuerdings zu zweifeln
und zu fürchten: Die Onanie müsse doch schädlich sein. Es stehe ia
in den Büchern. Sein eigener Verstand sage es ihm usw
Man kann nämlich sehr häufig beobachten, daß Menschen zu
onanieren aufhören, ohne daß sie von fremder Seite vor den Folgen der
Onanie gewarnt wurden. Eine innere Stimme sagt ihnen plötzlich:
..Mache das nicht; es ist eine Sünde und sehr gefährlich!" Manchmal
sind ehalte infantile Imperative, welche sich wieder melden und als
neue Überlegungen imponieren. Manchmal jedoch ist es die Angst vor
der Lust, die den modernen Kulturmenschen nie verläßt. Auch hier
klammert sich ein aus anderen Triebkräften stammendes Schuldbewußt-
sein an die Onanie. Eine Stimme, die auch bedeutet: „Du bist all die
Lust nicht wert!" Eine geheime. Strafe des inneren
Kichters trifft den Menschen dort am schwersten
wo seiner die höchste Lust harrt*: Bei der Onanie
«MW i ° dleSe kranken Menschen kann nur die ^alyse oder eine tiefe
Surol IT"18 V n-*? drückenden Schuldbewußtsein und von der
Neurose befreien. Die Onanie ist nur der Boden, auf dem sich der
sÄzt vtanstem' Begehrtem und «ÄS SÄ
bie rührt dem Menschen immer wieder seine Schwäche vor Augen und
zwingt ihn zu Abwehraktionen und Schutzmaßregelungen Zu Sperr"
gen und Sicherungen. Sie ist aber seine beste Sicheinmg gegen I
Aktivierung der Paraphilien. So lange er onaniert, kann er auf di
Ausfuhrungen seiner Phantasien verzichten
... A™alhr\ "*5J Ausführungen geht also hervor, daß ein an und
für sich harmloser Akt teils Ursache einer Neurose werden, teils in
der Dynamik der Neurose eine große Rolle spielen kann.
Ich möchte auch einige Worte über die Behandlung und Pro-
phylaxe der Onanie sprechen. Die Kinderonanie hört von selbst auf und
erfordert gar kein Einschreiten von Seite der Eltern. Lächerlich ist
es, mit Abschneiden des Gliedes, Schlägen, mit Krankheit zu drohen
Stekel, Störungen den Trieb- und Affektlebens. n. 2. Aufl. 17
98
Erster Teil. Die Onanie.
und das empfindliche Kinderherz mit Angst zu erschüttern.- Man sorge
dafür, daß das Kind nicht zu vielen Reizungen bei der Kinderpflege
ausgesetzt wird, obwohl ich im Gegensatz zu Sadger nicht der Ansicht
bin, die Kinderpflege sei die alleinige Ursache der Onanie. Bekanntlich
onanieren auch Hunde und Affen und manche andere Tiere, bei denen
diese Momente nicht in Frage kommen. Wir sorgen also dafür, daß
das Kind keinen erotischen Reizungen ausgesetzt wird, beschäftigen
es intensiv durch anregende Spiele und übersehen wissentlich die ver-
schiedenen autoerotischen Handlungen
Die Onanl^M ^ T? **" ** *"*» SP°ntan ZU *»*— "*
*tt hattTdt ?;e7ffenbar eine ^Wtee Funktion In der Säuglings-
zeit hatte das Kind eine unerschöpfhehe Quelle der Lustgefühle im
IZskZZ^ ^S- Die Entwöhnung ist ein schwe- Tra-
Nach Z Fntw"! hem^gslos seine L^> wo es sie eben findet.
Nach der Entwöhnung wird die autoerotische Tätigkeit stärker betont.
KamprTea dtt ^- ^^ Wie v*ngnisvolI der
.Kampf gegen die Onanie, den die Erzieher mit den ungeschickteste
Mitteln dui^hführen, auf die Psyche des Menschen whtafaS t fe
Dynamik der Neurose hat das Onanieverbot als Repräsentant de
Verbotenen eine große Bedeutung. Viele schwere Neurosen ge ien au
die Drohungen der Eltern zurück. Man erstaunt immer wieder übe
die absonderlichen Ideen, auf welche Erzieher verfallen, um den Kindern
die Onanie abzugewöhnen! Ein Vater läßt seinen Sohn ..bei seinem
Leben schworen, daß er nicht mehr onanieren werde; der Sohn erlieft
bald der Versuchung und fühlt sich dann als Vatermörder. ZaS
Vater droht mit Kastration, wenn er den Sünder noch einmal erwischen
werde! Der dritte schildert seinem Sohn die furchtbaren Folgen in so
schrecklichen Bildern, daß jede Onanie durch die Assoziation zu diesen
Bildern (Verblödung, Paralyse, Rückenmarksleiden, Impotenz Aus-
zehrung, frühes Altern usw.) zu einem gefährlichen Akte wird Und
nicht immer wirkt diese Schilderung der Gefahren abschreckend Ich
habe schon darauf hingewiesen, daß die Onanie als chronischer Selbst-
mord angewendet wird, um das Leben zu zerstören. Verbote haben
noch nie erzieherisch gewirkt. Du sollst nicht! - wie oft wirkt dies
gerade als Anreiz!
Erzieher sollten auch berücksichtigen, daß das Verbotene die
Kinder ganz besonders reizt. Das Verbot wirkt als Lusterhöhung. Da-
gegen kann man viel leichter zum Ziele kommen, wenn man eine mäßige
Onanie gestattet. Ich glaube überhaupt, daß die Onanie,
wenn sie gestattet wäre, den größten Reiz ver-
lieren würde.1)
l) Wir sehen ja z. B., daß die Homosexualität in Italien, wo sie nicht bestraft
wird, eine geringere Rolle spielt als in Deutschland. In Italien ist die homosexuelle
Andere Formen larvierter Onanie usw.
99
In ganz ähnlicher Weise verfahre ich mit den Erwachsenen. Ich
kläre sie über die Ungefährlichkeit des auto erotischen Aktes auf und
überlasse es ihrer Entscheidung, was sie weiter machen. Ich versuche
immer, wo es nur angeht, die mir anvertrauten Kranken auf den „nor-
malen" Weg zu bringen. Aber ohne Zwang. Manchmal gelingt es. Aber
nicht immer. Man bedenke, welche Hemmungen Jünglinge haben, welche
eine Infektion (Lues, Gonorrhöe und ihre Polgen) fürchten. Andere sind
fromm und sehen jeden außerehelichen Koitus als schwere Sünde an.
Für diese Menschen ist die Onanie das Hilfsmittel, das sie bis zur Ehe
lebensfähig und arbeitsfreudig erhält.
Manche Autoren glauben, sie verringere die Potenz und sei die
Ursache einer Ejaculatio praecox. Aber man macht sonderbare Be-
obachtungen bei den an Ejaculatio praecox leidenden Männern. Sie
kommen eines Tages zu einer Frau, bei der sie außerordentlich potent
sind. Oder sie probieren irgend eine Variante, welche verdrängte
Libidoteile freimacht und siehe da, sie sind überraschend potent. Alle
diese Menschen sind ausgesprochen Bisexuelle oder Perverse, welche
an dieser Schwäche leiden, weil sie nur mit einem Teile ihrer Sexualität
arbeiten. x)
Ich will hier nur ein Beispiel erwähnen. Ich gab einem Manne, der
über Ejaculatio praecox klagte und bei dem man deutliche Zeichen
einer homosexuellen Einstellung konstatieren konnte, den Rat, den
Koitus inversus zu machen und die Frau zu spielen oder es mit' einer
anderen Position zu versuchen. Der Mann kam ganz glückstrahlend
zu mir. Die Potenz wäre so ausgezeichnet gewesen, daß seine Frau
zweimal zum Orgasmus gekommen sei. Die Kenntnis der „ars amandi"
ist ein mächtiges Hilfsmittel in der Hand des diskreten Arztes' Oft
hZl,!T nmder Wlrnen- Lelder nlCht immer! Da gerade die Onaiüsten
förX l6 ^°n+10SexUfle ™d einer anderen Paraphilie verfallen sind,
ZXm K°ltusJmcht die ihnen adä(lliate Form der Sexualbefriedigung
darrt eilt, so wird man naturgemäß unter ihnen viele finden, die an
Ejaculatio praecox oder an einer psychischen Impotenz leiden »)
^s ist die höchste Zeit, daß die weitver-
breitete Legende von der Schädlichkeit der
Onanie gründlich zerstört wird. Die Ärzte
können in dieser Frage kaum klar sehen, weil
Sie achter und Partei zugleich sind. Das Schuld-
Prostitution hauptsächlich für die Fremden da und ein blühender Erwerb, zu dem die
Ausländer am meisten beitragen.
*) Vgl. das Kapitel „Psychologie der Ejaculatio praecox" in Band rV.
2) Über den Zusammenhang zwischen „Onanie und Potenz" findet sich eine aus-
führliche Abhandlung in Band IV.
7*
10Ü
Erster Teil. Die Onanie. Andere Formen larvierter Onanie usw.
bewußtsein, das sich an jede Onanie knüpft, be-
einflußt auch die Ärzte, die gleich allen anderen
Menschen auch einmal onaniert haben. Deshalb
werden so viele unwahre und verlogene Ansichten
mit. dem Brustton der vollen Überzeugung vor-
getragen. ' ,
Man kann es aber kaum ermessen, welches grenzenlose Elend
durch diese falschen Ansichten und die sogenannten Warnungsbücher
unter der Menschheit erzeugt wurde. Wer einmal offenen Auges die
schweren Neurosen gesehen hat, die durch die falschen Belehrungen
der Arzte entstanden sind, der muß zur Einsicht kommen, daß die
Onanie das geringere Übel ist, als das Mittel, mit dem sie bekämpft
Wir müssen unsere Ansichten über die Onanie gründlich ändern.
Es gibt keinen normalen Geschlechtsakt. Es gibt nur eine dem Indivi-
duum adäquate Sexualbefriedigung. Und diese ist ihm häufig ver-
schlossen. Durch seine Ethik, durch die Religion, durch die Gesetze
des Landes. Hier gibt es tausend Übergänge, und wer wollte so ver-
messen sein, zu bestimmen, wo das Normale aufhört und das Patho-
logische beginnt?
Die Onanie ist die Rückkehr zur infantilen
Lustgewinnung. Sie ist ein Symptom des psy-
chischen Infantilismus, an dem der Neurotiker
krankt. Wenn wir aus dem Kinde einen Erwach-
senen machen, dann kann er auf die infantilen
Formen verzichten. Das geht aber unmöglich
durch Verbote und Drohungen, sondern nur
durch die Erziehung und Befreiung, wie sie die
Analyse leistet.
Die Onanie.
v.
Onanie und Religion.
Wo nur auf Erden bisher die religiöse
Neurose aufgetreten ist, finden wir sie ver-
knüpft mit drei gefährlichen Diät Verord-
nungen : Einsamkeit, Fasten und geschlecht-
licher Enthaltsamkeit. Nietzsche.
Die schwersten Kämpfe macht der Onanist mit, wenn sich zu
den übrigen Hemmungen die religiösen gesellen. Die aus Schriften uud
mündlicher Belehrung stammende Befürchtung, sich die Gesundheit zu
ruinieren, ein Rückenmarksleiden, Impotenz, frühes Siechtum oder ver-
minderte Geisteskraft zu erleiden, erhält eine ebenso gewichtige
ethische Verstärkung. Der Onanist ist einem „Laster" verfallen er
hat nicht das Repht, sich zu den „reinen Menschen" zu zählen und
begeht eine Sünde. Die Hemmungen der Religion machen den Kampf
viel bedeutender, schwerer und erbitterter. Denn es handelt sich nicht
nur um das Wohlergehen auf Erden, es steht die ewige Seligkeit auf
dem Spiele. Der Onanist kämpft also dann auch für sein künftiges
Leben nach dem Tode. Jeder einzelne Akt, der ihm eine flüchtige
momentane Lust zuführt, bringt ihn um die Freuden der Ewigkeit und
lietert ihn der Verdammnis aus. Ist es doch merkwürdig, daß alle
Religionen einen heftigen, unnachsichtlichen Kampf gegen die Onanie
geiunrt naben, die griechische ausgenommen, welche uns die gesündesten
Menschen bescherte. Jede Religion ist der Wächter der Sexualität.
M ist eine Zeremonie von allergrößter Bedeutung, daß die Hochzeiten
in einem Gotteshause gefeiert werden. Die Religion gestattet dem
Menschen nicht, über seine Lust frei zu verfügen. Er muß sie als
Geschenk Gottes aus der Hand des Priesters annehmen. Die freie
Liebe war immer die Religion der Atheisten oder der Ethiker, die sich
abseits jeder Religionsgemeinschaft stellten.
Die Onanie aber entzieht dem Priester die Kontrolle über die
Sexualität seiner Schutzbefohlenen. Sie macht sie selbstherrlich und
frei und emanzipiert sie von jeder sozialen Verpflichtung. Sie stellt
aber auch den Sexualtrieb über jede teleologische Verpflichtung. Der
102
Erster Teil. Die Ouauie.
UrtlV.BIBL,
BERLm.
Geschlechtstrieb ist den anerkannten Religionen nur das Mittel zur
Fortpflanzung. „Du sollst dich mehren wie der Sand im Meere und
darfst deshalb deinen Samen nicht unnütz vergeuden!" Diese Lehre
stammt noch aus der Zeit des Nomadentums, in der der volksreichere
Stamm der stärkere war. Es lag im Interesse der Priester, ihre Völker
zur größten Fruchtbarkeit anzuspornen. Man sieht auch noch heute
daß die frommen Juden in Rußland und Galizien alle Mittel zur Ver-
hinderung der Konzeption als schwere Sünde verabscheuen und selbst
im schlimmsten Elend die sozialen Folgen der reichen Fruchtbarkeit
gerne auf sich nehmen. Die Onanie und die Homosexualität standen
dem Staatsinteresse hindernd im Wege. Sie mußten in der Erkenntnis
bekämpft werden, daß die Vermehrung eines Stammes sein wichtigstes
Interesse ist. Die Zeiten haben sich geändert. Der Mensch ist nicht
mehr das kos barste Kapital des Staates. Aber er war es sicher einmal.
Und da wir leider stets die Religion der Vergangenheit besitzen und
die der Zukunft uns noch nichts zu sagen und zu befehlen hat, so
schleppen wir für immer eine Menge Dogmen mit uns, welche für die
Vergangenheit von größter sozialer Bedeutung waren, für die Gegen-
wart .jedoch überflüssig und zum Teil auch schädlich sind
Übrigens erleben wir jetzt eine Neuauflage dieser Sehnsucht nach
dem Menschenmaterial. Der männermordende Krieg führte zu einem
Kampfe der um die Rekrutenanzahl besorgten Gelehrten gegen alle
1 raventivmaßregeln, gegen Onanie und Homosexualität, da jedes ein-
zelne Spermatozoon in den Dienst der Nation gestellt werden soll
Speziell der Kampf gegen die Onanie wurde von Kräpelin in leiden-
schaftlicher Weise eröffnet. Die Hygiene übernimmt die alten Forde-
rungen der Religion.
Wenn ich sagte, die Religion habe keine Kontrolle über die
Onanie, so muß ich eine Religion ausnehmen: die katholische. Wir
werden später eine Reihe von Fällen besprechen, die uns zeigen, welchen
Einfluß die Ermahnungen der Beichtväter auf den Verlauf der Onanie-
neurose genommen haben. Auch die evangelischen Priester verstehen
es, ohne Beichte ihre Schutzbefohlenen zu beeinflussen und sie zu einer
freien Beichte zu bringen. Es fehlt mir nicht an Beispielen zur Be-
gründung dieser Behauptung. Freudig zu begrüßen ist es, daß die
Priester jetzt beginnen, sich mit der Psychologie und besonders mit
der Analyse zu beschäftigen.1) Der Segen, den sie stiften können, ist
*) Es wäre ungerecht, würden wir hier nicht des wackeren Dr. Oskar Pfister in
Zürich erwähnen, des ersten Pfarrers, der den Mut hatte, sich offen mit der Paych-
analyse zu beschäftigen. Sein großes Werk „Die psychanalytieche (er sagt
sprachlich richtig Psychanalyse und nicht Psychoanalyse!) Methode" (Verlag Julius
Khnkhardt in Leipzig und Berlin, 1913) ist einer der wertvollsten Beiträge, welche
Onanie und Religion. \0'A
noch größer als der Schaden, den manche voreilige Äußerungen an-
richten können und angerichtet haben.
Vor allem ist es notwendig, daß sie beginnen, die Allmacht des
Geschlechtstriebes und seine Äußerungen kennen zu lernen und ilin
durch die verschiedenen Masken zu erkennen.
Der nächste Fall, über den ich hier referieren will, führt uns in
eine der größten Städte Deutsclüands. Er versetzt uns aber auch ins
finstere Mittelalter und läßt Bilder vor unseren Augen erstehen, die
wir nicht für „zeitgemäß" halten können. Der antisexuelle Instinkt
— und einen solchen muß es unbedingt geben, sonst wären solche Er-
eignisse nicht möglich — entspricht dem Höhendrange des Menschen
und seinem Unabhängigkeitsbedürfnis. Er will sich über alles Irdische
und Triebhafte hinausentwickeln und will, sich nicht gehorchen müssen.
Er will Herr sein auch über seine Triebe. Daß dies ohne schwere Opfer
nicht möglich ist, weiß niemand besser als der Analytiker, der immer
die Schwerverwundeten und fürs Leben Verstümmelten zu sehen
bekommt.
Fall Nr. 19 Fräulein 0. Z., eine 28jährige Lehrerin, hat seit ihrer
Kindheit onaniert und sich dabei immer sehr wohl befunden. Sie war stets
ein kluges, kraftiges Kind und eine sehr gute Schülerin. Sie machte ihre
*2 Ä anBta"dslT0ß und h^nn schon sehr früh dem schweren Berufe
einer Bildnerin der Jugend zu leben. Sie war stets im Kreise ihrer Eltern
und erfreute diese durch ihr lebhaftes Temperament und ihren gesunden
SS ü Syhm^r\me Gedai?ken Über die 0nanie> wel<*e sie übrigens
meist taglich betrieb. Sie war sehr aufgeklärt und dachte: „Ich weiß ia
zu Ä« £ heiraten ™<*e. Wer nimmt heutzutage eine arme Lehrerin
ZZJifil f War, u1 °ht sonderllch anziehend, sehr schlank und mager
52 1 aus Z M-^ hatVinfle\häßliChen Teint Sie machte «ch nfcht
Mrfflft *szKär der nach der fr-^s
„Qw :l°tZhf ka,m Sie nach Wien zurUck- Ihre Mutter holte sie weil sie
taÄÄr S b6gann P/Ötzlich an Anfällen zu Vden u,
Ihr zu wecken 2?T J?llkom?n?11Verlor Und für die keine Erinnerung in
im zu wecken war In diesen Anfällen onanierte sie ohne iede Scheu und
^itSff'^^ die Umgebung M^d2
Zi£ wirlrTÄÄ" keUSCheS ^^ bekamt War- D°ch
AT,föi."ICh^ill/hnen auf™htie und wahrheitsgetreu schildern, wie meine
Anfalle entstanden sind Ich war immer ein kerngesundes Mädel, hie und
da ein bißchen verträumt und romantisch, ein kleiner Hang zur Schwärmerei,
für die Erweiterung und Verbreitung der Analyse geleistet wurde. Das Buch wendet
eich, an alle Pädagogen und besondere an die Seelsorger. Es ist aber auch allen Ärzten,
welche die Psychanalyse nicht kennen, als ausgezeichnete Einführung zu empfehlen!
104
Erster Teil. Die Onanie.
aber sonst immer tatkräftig und energisch. Sie wissen, daß ich seit der
Kindheit onaniert habe. Ich will Ihnen nun schildern, wie sich mein Kampf
gegen die Onanie abgespielt hat und welche schreckliche Folgen er für
mich hatte.
Vor längerer Zeit kam ich in ein größeres Damenpensionat. Es herrschte
dort ein streng kirchlich^christlicher Geist, besonders getragen durch eine
Mitpensionärm und gestützt durch das nahe Freundschaftsverhältnis des
Hauses zu einem evangelisch-lutherischen Geistlichen. Mir war diese Atmo-
sphäre völlig neu und fremd. Weder im Elternhause noch im Freundeskreise
sonst waren mir je Menschen begegnet, wie ich sie jetzt täglich um mich
salr Ich freundete m.ch mit zwei jungen Damen - beide älter als ich -
bald an und wir gewannen uns herzlich lieb. Der an mich gerichteten Auf-
forderung, ,n die Predigten und Bibelstunden des Geistlichen zu kommen,
indteh1v«haMa+ngS-teil6JaUS HöfIichkeit> teiI* ™ch aus Neugierde Folge
und ich verhehlte niemand meinen ganz anderen, freien Standpunkt, Bald
aber fesselten mich nicht nur die Worte dieses Geistlichen, sondern die ganze
Religion erschien mir in ein anderes Licht gerückt. Leidenschaftlich gab
iS ?Z TT GefÜh,e,n nhin\ DaS SchÖnG> ****** «er christlichen
Religion zog mich so an, daß ich nur den einen Wunsch hatte, auch so
glauben zu können und so rein und keusch zu sein wie meine Freundinnen
Ich gab mir das Gelübde, die Onanie aufzugeben. Dies tat ich im geh™
Vor meinen Freundinnen sprach ich nur von der Wandlung, die sich in
religiöser Hinsicht m mir vollzogen. Meine Freundinnen und der Geistliche
unterstutzten mich und suchten mir meine Zweifel zu nehmen. Immer und
immer wieder versuchte man, mich von einer mehr in meiner Natur liegenden
mJ£\T^Z HlT ?e ^ t- Rdigi0n ZU einera napkten GlaXn zu
bnngen. Ich fühlte mich lange Zeit in dieser Umgebung äußerst wohl -
Bemerken muß ich daß ich zu einer Zeit in diese Umgebung kam, wo' ich
besonders empfänglich war für neue Eindrücke, die ablenkend und ich möchte
sagen beruhigend auf mich wirkten. Ich hatte - von einer Freundin in
der Kindheit verführt - die Onanie kennen gelernt, Ich onanierte fast iede
Nacht vor dem Einschlafen. Nun gab ich unter dem Einflüsse der frommen
Umgebung das Laster nach langem, hartem Kampfe auf. Die Frömmigkeit
war mir ein reicher Ersatz, das Gefühl, ein „reines" Wesen zu sein, erhob
mich. Ich schlief schlecht und lebte eigentlich immer in Ekstase. Es war
dieser Zustand wohl nicht unnatürlich, aber doch oft quälend, da er auf
meine Sinne erregend wirkte. Eine Zeitlang gelang es mi> ja, die Erinne-
rungen an die Onanie und die erotischen Phantasien zu bannen, aber nicht
lange. Körperliche Arbeit, die mir gesunde Müdigkeit gebracht hätte, hatte
ich nicht, nur geistige Arbeit, und die verscheuchte den Schlaf, statt ihn
zu fordern. Ich war oft nervös, gereizt und unruhig. Meine Freundin, die
mich liebevoll beobachtete, fragte nach dem Grunde meiner Erregung und
Unruhe. Ich hielt es zunächst nicht für nötig, anderen (und sei es auch
dieser mir besonders nabestehenden Freundin) von meinen schweren Kämpfen
und ^sinnlichen Versuchungen zu reden, in der Überzeugung, daß man damit
am besten allem fertig wird. Sie drang jedoch wieder und wieder in mich
sagte auch, daß sie mir sicher helfen könnte. Ich war durch anstrengende
geistige Arbeit schon nervös erregt, nun wuchs die Erregung noch, ich wurde
angstlicher und ängstlicher, glaubte aus Andeutungen meiner Freundin zu
hören, daß sie doch alles erriet und verdammte — und ich vertraute mich
Onanie und Religion.
105
ihr rückhaltslo's an, d.h., sie stellte Fragen und ich antwortete, durch diese
Fragen mich 6elbst freilich in mancher Hinsicht anders beurteilend, als ich
es ohne ihr Dazutun getan haben würde. Nun stellte sie mir meine Unruhe
als sündhafte Erregung dar, gegen die ich mit geistlichen Waffen kämpfen
müßte. Sie drang mit aller Entschiedenheit darauf, daß ich alles meide,
was mich ablenken könne von dem Wege, auf dem allein sie für mich Ruhe
für möglich hielt. Sie wünschte, daß ich den Verkehr mit einer Jugendfreundin
völlig abbreche, da mich diese in ganz entgegengesetzter Weise beeinflußte
wie sie. Es war dies eine junge Künstlerin, ein sehr intelligentes Mädchen,
dessen freiere Denkungsweise mich bisher durchaus nicht unsympathisch
berührt hatte und die mir vor allem nie schlecht und sündig erschienen
war. Ich war grenzenlos erregt, alles das als sündig hingestellt zu sehen.
Ich konnte die Notwendigkeit eines Bruches mit der mir lieben Jugend-
freundin nicht einsehen. Mit allen Erinnerungen sollte ich Schluß machen,
auch äußerliche Andenken an meine Jugendzeit vernichten, gegen jede sinn-
liche Erregung mit geistlichen Waffen kämpfen — es gelang mir eben nicht!
Und das alles wurde mir von einem Menschen gesagt, der mit seiner ruhigen
Sicherheit, seiner ernsten Güte und Liebe zu mir, einen gewaltigen Einfluß
auf mich ausübte und sich dieses Einflusses auch wohl bewußt war. Ich
war überzeugt, daß 6ie alles aus bester Absicht tat — aber ich konnte
nicht einsehen, daß all das Sünde sei! Ich sollte nicht nur brechen, sondern
freudig brechen — Christus fordere freudigen Gehorsam — „das Opfer des
Liebsten ist die Pforte zum Reiche Gottes!" Ja, das konnte ich nun mal
nicht! Und immer und immer wieder dies schreckliche: Du mußt! Dieses:
Entweder — Oder! Christus oder Satan! Ganz mit allem, allem brechen
— sonst nützt es nicht! — In dieser Zeit mußte ich ein Examen in zwei
fremden Sprachen machen. Diese Aufregungen kamen noch dazu. Meine
Freundin unterstützte mich in den Tagen in jeder nur möglichen Weise
— aber auch während der Zeit hielt sie mir wieder und wieder vor, daß
mein Glaubensleben durch Bezwingen meiner Neigungen stetig wachsen müsse,
daß alles andere Nebensache sei. Ich wurde 60 hochgradig erregt, daß ich
wiederholt Schwindel und Ohnmachtsanfälle bekam, daß ich mich kaum die
Examenstage aufrecht halten konnte. Ich war nahezu verzweifelt und glaubte
nun wirklich, daß meine Gedanken und Gefühle, meine Neigungen so durch-
aus sündhaft seien. Ich kämpfte mit heller Verzweiflung dagegen an! Ich
hatte ja nur den einen Wunsch: Ruhe! Und das versprach man mir ja
davon! Aber anstatt ruhiger zu werden, wurde ich immer erregter. Ich
redete nun mit meiner alten Freundin in dem Sinne, daß ich sie bat, den
Verkehr zu lassen - aber als ich das getan hatte, quälte mich das wieder.
Und nun wieder die Angst und Erregung, daß mir es als Sünde hingestellt
wurde, daß ich nicht rasch und freudig bräche mit den alten Beziehungen.
Und das ging nicht! Meine Freundin suchte mich zu beruhigen und in der
Tat gelang es ihr, mir über manche bange Stunde fortzuhelfen, durch ruhiges
Zusprechen, durch gemeinsames Beten. Aber wenn ich allein war, besonders
in der Nacht, dann packte mich die Verzweiflung: was soll aus dir werden?
Und dabei redete ich mir fortwährend ein, daß es so das Rechte für mich
sei, daß dieser Kampf gut sei und endlich zum Siege führen müsse. Ich
war grenzenlos erregt und dabei doch so müde! Ich war soweit zu Ende
mit meinen — physischen und psychischen — Kräften, daß es zu einem
Schluß kommen mußte. Ich mußte Ruhe haben und man verhieß sie mir
106
Erster Teil. Die Onanie.
davon. Sie kannte aUes in meiner Ä^ÄMS
mehr. llSaTZSäS^V^ ^ .T* ich nichts G«
Punkt. Ich soll mTcl wie ™fl!TS ? Lden Nächten ihren Höhe-
mich im Bette uXgZiK» ifabeTnS ^ ^ gGSChrien' ^ufen>
haben, was mich woS^moÄan^ «"2 "^ V°m HerZen geredet
hatte an all da« keine Erinnerung n^ ^ IL flSS?? *W ^ Ich
von einem unnennbaren Etwas ir rJrif ! ? *5 ' aS lch damals hatte:
eben reden ohne und £i ViU^t af i c w7l ^ "V'
weiß ich nicht. Man holte dm Ar!?' aIles B*?H
Herrn - und der gab dn m u ~ ?**" *** gänzlich fremden
wurde gerufen, der fuf mdne 5^- * T*^! Auch der Gliche
meine Freundin geraten un? J^S? gI*°ßen EMuß hatte" Alles' **
- wenn auch (glaube ich) ohn! *?**&** ganZ im Sinne des Warrors
hielt e, nun fürnotwendtg fl£ ' ' ff , geSchehen- Mei™ Freundin
-einem Ringen, meinen Zweien. * h fiÄ ^ J^ ^ K«
nie zu meinem Vertrauten gemacht wenT iot 1 Geistlichen m den Sachen
Eigenschaften als Mensch jSsS^t^^ * T? VOrZüglichen
er jetzt alles und nahm die ganze sfchP Z H *St'TV*tet* Nun erfuhr
erst späte, - Nachdem Ä£*# Df h Ja- -fuhr ich
ruhig; es war eine vollkommene S „ ft J^ 1Ch PUhig' ganz
vorbei und war so froh über das bißchen F^iedt , , f ° -mir *"• nun sei es
m die Bibelstunde, wo der Geist che Z S h ^ mit den äderen
gesinnt sein ist der Tod, ■ÄfÄ3^^T25- * »Fleischlich
ganze Rede, ein tiefernste BußpredJ gal m f £?* Und F™d*-" Die
wahrend es Fremden verborgen bleiben mußte Mrfn te daS genau-
gekämpft Erregung began nieder, 2 S £# RffÜfe1**":
Freundinnen y„ mich nta nl^T t' ** ""f PlÖMidh meine W*-
schaft für Dich stad an« V T k ^ ""^ VertraM1. <™ere Freund-
Du hast in H«, >F w haben auch gar kein Mitleid mohr mit Dir'
DU bSt dur" ^Z^T*?*1* ¥* ,*" ^^*W
ergeben. DTbtaTfiu toÄ t *" ^f'^ten Leidenschaften
zurückzugewinnen,™ Sfe^SÄ !erSUCh6 *?* mS
Ein Zusammenleben mit Dir ist für ,?„ - ? I « 0der Wlr zleh611 aus-
nichts mehr zu sagen " _ iS '"a""1 unmo«1'cl>- .So, nun haben wir Dir
gar nicht so sehr Sin. £ Et «3?£m'T* & V°^ TZ"
Onanie und Religion. ^(yj
meine Anfälle war ich doch, nicht verantwortlich zu machen?! Ich wußte
ja nicht, was ich in diesen schrecklichen Zuständen gesprochen hatte und
weiß es heute noch nicht. Kein Mensch kann sich meine Verzweiflung
vorstellen.
Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Tage verbrachte, ich weiß nur,
daß alles so wund und weh war, und dann immer das verzweifelte: Warum?
Sie waren doch sonst gut zu dir!. Du hast doch nichts getan! — Meine
Eltern, von anderen über meinen Zustand verständigt, riefen mich schnell
heim. Meine Freundinnen verweigerten mir jede Aussprache. Ich ging noch
einmal zu dem Geistlichen. Er hielt mir meine ganze Schlechtigkeit vor,
nannte mein Verhalten in der Nacht „satanisch" und schüchterte und ängstigte
mich dergestalt ein, daß ich mich nicht verteidigen komite. Ich war fast
überzeugt, daß ich wirklich so schlecht sei, daß ich all das verdiente —
ich glaube, ich hätte mich aller Verbrechen damals schuldig bekannt, die
ich nie vorher gekannt — nur um doch einen Entschuldigungsgrund für das
harte, lieblose Verhalten meiner Freundinnen zu haben, von denen ich so
hoch dachte. Der Geistliche versprach mir seine Hilfe für später. Ich
dankte ihm für alles und glaubte ihm alles! — Man sagte mir, daß man
noch für mich beten wollte — wie lange man das könnte, wüßte man nicht!
Aber helfen könnte man mir nicht mehr: „Wir fühlen uns nicht mehr be-
rufen, Ihr Heiland zu sein!" Also ausgestoßen, fortgeschickt! In hellster
Verzweiflung, mit dem ewigen „Warum?" in mir, reiste ich heim! Die ersten
Wochen daheim waren vielleicht die schlimmste Zeit; da nun alle äußeren
Erregungen aufhörten, quälte ich mich innerlich ab. Ich hatte für nichts
Sinn und Interesse. Hatte nur den einen Gedanken: „Wenn du so schlecht
bist, was soll dann werden?" Und dann wieder: „Warum tat man dir da3?"
Meine Eltern waren ganz ratlos. Und endlich kam auf wiederholte dring-
liche. Anfragen, Bitten um Aufklärung von Seite meiner Eltern die Wahr-
heit! In einem Briefe schrieb der Pastor, daß er es gewesen sei, der die
jungen Damen zum Bruche mit mir veranlaßt hat. Und der Grund? Er
hätte gefühlt, daß meine Liebe zu meiner Freundin perverser Natur sei'
Gestützt auf die Worte des Arztes: „Nicht anrühren", gestützt auf die
Erzählung meiner Freundin, daß ich, als sie mich liebevoll in die Arme
nahm, ruhiger geworden sei, schleuderte er diesen Verdacht gegen mich'
Meine Freundin selbst hatte nie dergleichen unnatürliche Gefühle an mir
gemerkt Sie waren auch (was die zweite Freundin damit zu tun hat ist
mir noch unklar) durchaus nicht gleich von Herrn Pastors Meinung über-
zeugt - aber schließlich doch. Ohne jedweden triftigen Grund sahen sie
sich veranlaßt, mir obenangeführte Worte zu sagen, mich aus dem Hause
zu weisen - mich in Zweifel und Angst heimreisen zu lassen! Ohne mir
die Wahrheit zu sagen! Ich bat um Beweise; meine Eltern baten den
Geistlichen um Angaben von auch nur einem triftigen Grund für seinen
Verdacht, der so folgenschwer für mich werden sollte! Keine Antwort! —
Und in dem Brief war außerdem noch die Drohung enthalten, mich den
Schulbehörden anzuzeigen, wenn meine Eltern seine
Stellung zu untergraben versuchten! — Mein Zustand
wurde nicht besser, nachdem ich den Inhalt dieses Briefes erfahren hatte.
Das war wieder etwas ganz Neues, wovon ich nie gehört hatte; was man
mir jetzt vorwarf! Zu allen Selbstvorwürfen kamen Vorwürfe gegen die
anderen. Und dann doch immer wieder dies Nichtverstehenkönnen und dies
108
Erster Teil. Die Onanie.
halfen - UÄÄ^ttl d- ^Iß°rger
. J^Ä W^IS älÄ romem "^T^ »i?dete~n
der Satan treibt ÄJ^ÄÄSSTSÄ ** ^ ««
^.ÄaTÄÄ* &Ä -f Sie « h vor-
her. Sie sprach imverstäSÄSS» 7cL f .9**™**** hin und
und da einzelne Ausdrücke wie Geliebte'^ W " ^ 85 denen man hie
horte. Dann steckte sie den Finger 7n £, ' A l ^ ' »E"tzücke»" heraus-
bohrende Bewegungen, die SäSTÜ ^ Or«Rtdfffla^fcur?e' heftige"
einen ekstatisch verklärten Ausdruck bot %t u8ten' ,n dem ihr Gesicht
der einer Prau a posteriori beTwohnte **** SCheinbar *» Mann,
schemungen verschwanden. Belffi'Ä^iS alle krankhaften Er-
alle meh, Noch jetzt - aht Jahre ÄÄf S* U* keine An"
hie und da einen Brief von ihr. Sie i« vollen™ ehandIung - erhalte ich
Ln h\mit der ersten' freisinnig ftÄtS ^ ^ hat den
hatte schon vorher in halbbewußten iSSSSjE^ aufgen01™- Sie
Phantasien onaniert. Aber sie wußte nicMs von H ° mit hom°sexuellen
geb lic nicht daß es solche BeSt^ÄT*' ahnte an"
Erst durch den Pfarrer und durch meine Aufkl? FraU6n geben kö™*-
ihrer Freundschaftsbeziehungen kC L i 'f U"gen Wurde ** die Art
feeb richten kennen unTSnn^ie wLÄS ^ Menschli^ «—
auch, daß sie wieder in größeren Z^Jt- emndeiL Sie schrieb mir
danach innner e^chtert^d ^5?SS T ^^ daß sie ^h
£** Und/€ß nichts ™*r von sich h^ren ÄTftÄS**?8 Sie> Wurd*
«d^ - er
ÄSSÄ «ÄÄ^Ä ÄS
Religiöse Strömten VoZ lUa]lt> " TT ^^ ZU ■***
ihre Liebe zu den Preundinn! Z 7 ?otuu*** rammen. Denn
■ • - auch von fl££fc» T * h™UelIe ***
langten sie die Opferung deT^T^ 7 Tu^ EiferSUCht Ver'
alle in der Verehrung feil , ***** **?«* fand** ■»
- g IUr den Seelsorger, einer Verehrung, die ihren
^ seJr MÄÄ^ ,"« 6lbt ^ °Sk- *~
automatischen Kryptographie « (Thrb„c M t ^ WUSiÖßeD G1°8S°la,ie Und der
Verlag P. Deuticke ^en und B^ltt m^&lyÜSche F—hUngen. EH. Band.
Onanie und Religion. jnn
erotischen Ursprung auch nicht verleugnen konnte. Die rasche Heilung
ist ebenso ' bemerkenswert wie die Überwindung der frommen Periode,
welche eigentlich eine Regression auf eine infantile Einstellung
bedeutete.
Viel einfachere Aspekte bietet der nächste Fall, der aber thera-
peutisch eine schwerere Aufgabe darstellt.
Fall Nr. 20. Herr T. L, ein 24jähriger Jurist, ist in seinen Studien
stecken geblieben und leidet an schweren Depressionen. Er sitzt meistens
zu Hause und starrt in Wachträumen vor sich hin, beteiligt sich kaum am
Gespräch und benimmt sich fast wie ein dementes Individuum. Er schläft
•sehr viel und sehr tief-, liegt sehr lange des Morgens im Bette, fühlt sich
müde und zerschlagen und quält seine Familie, der er immer wieder in
Beinen redseligen Momenten auseinandersetzt, daß er nicht lange leben werde
Er ist schwer zu behandeln, da er fast kaum zum Sprechen zu bringen ist!
Schließlich überwinde "ich seine Hemmungen und erfahre folgende Lebens-
geschichte. Er war immer ein stilles Kind, aber trotzig, jähzornig und ver-
schlagen. Mit sechs Jahren begann er zu onanieren, ohne daß er verführt
Zntw 'S e fr r°?nie Selbst und fröhntc ihr in der Kindheit ohne
Hemmung. Bis zum 16. Lebensjahre onanierte er ohne Störung weiter, war
ein guter Schuler und entwickelte sich physisch ganz ausgezeichnet Da
aber begann die Belehrung von Seite seiner Mitschüler. Er hörte viel von
Onanie reden nnd wußte nicht, was darunter gemeint sei. Er hörte, wie
gefährlich das wäre, daß man davon blöd und rückenmarksleidend werden
müsse. Er erkundigte sich genauer, was denn Onanie wäre, und hörte mit
Schrecken daß « der Akt der Selbstbefriedigung wäre, den er schon so lange
ausgeführt hatte. Lr versuchte sich zurückzuhalten, es ging aber nur sehr
schwer. Das Einzige, was er erzielen konnte, war, daß er etwas seltener als
Diener onanierte. Er war immer ein sehr frommes Kind und hatte sich seinen
Glauben auch im Gymnasium in alter Stärke unvermindert erhalten Er
Deichtete also das Laster und hörte jetzt, daß es eine gefährliche Sünde
wäre. &r dürfe sich nicht „unkeusch berühren"! Er gab dem Priester das
versprechen, nicht mehr zu onanieren. Dies Versprechen hielt er drei Monate
Degangen hatte, die er büßen müßte, sollte er nicht um die ewige Seliekeit
^™ten SbGSChV ?' ZU1; Buße dn MönCh ZU W6rden und - ein KU
nicht d F'JZ- Va£Vber wollte davon nicht* wiesen und erteilte ihm
wl? Erlaubnis. Er begann also auf eine andere Weise Buße zu tun Er
kasteite s.ch mit Fasten, entzog sich alle irdischen Vergnügen und gab
werde^TmSv"', ^ ? kT? * Herr Seines Sexualtriebes
Z ' Bnh V°n der 0nanie ZU heilen und ^ine Gesundheit zu retten,
Ä"pWv D;me,\ZU **»• Er wcar "hr erschrocken, als er wieder in
tlnl™ v Gr "\ a^er0Sünder und vom Regen in die Traufe
gekommen sei. Er müsse nach den Satzungen der Religion keusch bleiben.
Lr wurde nur. ganz abstinent und versuchte durch eminenten Fleiß alle
sinnlichen Gedanken zurückzudrängen.
Er hörte in der Tat auf, an sexuelle Dinge zu denken und wurde auch
SL?6^ ?n Versuchungen belästigt. Aber wie hatte sich sein Wesen ge-
w il SrMk°nn?te ni°lht 8*udleren und seine Gedanken nicht konzentrieren
Welcher Schluß lag näher als der, daß er sich durch die Onanie ruiniert habe
110
Erster Teil. Die Onanie.
ange es noch dauern würde, bis er in das Irrenhaus käme. Wozu S Z
Geisteskranken Tspi Ä^fS^S SEf^J8' begann also den
ein veraSi^ÄÄ? ff £ Sc^kenteinpo vor sich. Er ist
Solche Kranke können stundenlang bat TSTT"' ^.^ zu 8a*eD-
sie sprechen sollen. Sie vezTantn 7^1^ T* WMT nicht' Was
nicht, ihre Einfälle frei aneinandelreThen "* ****' Sie Wag8n eS
Onanie^Ä Bemrchtungen. Die Folgen der
gehen. Dann gesteh er daR P t>? mU8B? ^tin™t *» ein Irrenhaus
unternommen h?be Wir Lmen ia die SSJSP'S T fl*hB«
und Onanie. Dieser MteK^^r4 Beziehungen von Selbstmord
Fenster h^u-il^SfB^w^^ 5"S! W°llt6 * ^ ™
konnte ihn noch rechtzeitig retten VirLK , q T™*, anwesend ™d
nehmung. Es war mehr ein SpS 'mit dem ^tt ^elerische dieser Unter-
er einen ernstlichen ÄSÄÄr^ Den Mtte
nicht vor den Augen des BnrfJÄTSÄSS^ "**• - ?a
Gegenwart seines Schwagers vor sich Dieser Sfaf *» eidversuch SmS in
Einfluß auf ihn genommen, als er ihn e n 'inl L rÄ?! f*"
Depression befragte, ob er onaniere. Als er bejahte SÄÄ^
vor den schädlichen Polgen dieser Befriedigung u^d Am f? ff WageF
gehen Vor ihm wollte er sich den Schädel X«KiS£Ä£ «2?°? ZU
Versuch wurde verhindert. Es ist bemerkenswert daß all'e V» I /""Ü
hinausgehen, das Gehirn zu zertrümmern. Dort sfttn die r.T t ^
Versuchung und dort lauert die Angst vor dem Wahn nn Er will? T ^
gleich mit dem Leben vernichten. ^r will den Feind
Zwei Träume der ersten Tage sind bemerkenswert. Der erste lautet-
Mein Freund K. ist im Theater, wo ein mir unbekannte <?+« i"
gespielt wird. Er macht sich über den Autor lustig und vTräßtW
räsonierend das Theater venaut laut
der öÄTSui? aUm i6d0Ch bFingt UnS d6m Verstä^nisse der Neurose und
Ich träume daß ich im Bette auf dem Bauche liege und von
einem Unbekannten mit einem Stock geprügelt werde. Es tut nicht
besonders weh, was mich sehr wundert.
Onanie und Religion. jii
Ein dummer Traum, der gar keinen Sinn hat! . . . kritisiert der Ana-
lysand seinen Traum. Diese Kritik enthält einen Widerstand und versucht,
wichtiges Material zu entwerten, wozu ja Spott am besten geeignet ist.
Wir können uns aber auf masochistische Einstellungen gefaßt machen.
Patient erzählt nun, daß er von seinem Vater in der Kindheit oft verprügelt
wurde. Schon wegen Kleinigkeiten, denn Papa war sehr streng. Einmal bekam
er Schläge, weil er kein Vorzugszeugnis nach Hause brachte . . . Die Schläge
waren angeblich nie lustbetont. Er will von masochistischen Phantasien und
einer masochistischen Einstellung nichts wissen.
Wer nie einen Patienten analysiert hat, der sich vorgenommen hat, etwas
Wichtiges nicht zu sagen, der kann sich von den Schwierigkeiten der Analyse
keine VorsteDung machen. Der Kranke kommt jeden Tag, setzt sich hin und
wartet, daß man ihn ausfragt. Diese kindische Vorstellung von der Analyse
haben ja viele Ärzte. Sie sprechen immer wieder von einem peinlichen Kreuz-
verhör, das man mit dem Kranken anstellt. Derartige Verhöre und das hoch-
notpeinliche Ausfragen haben gar keinen Sinn. Was der Kranke nicht spontan
sagt, hat meistens keinen Wert, selbst wenn es .ihm erpreßt wird und
wenn es von Bedeutung wäre. Er muß verstehen, daß es sich um einen
Läuterungsprozeß seiner Seele handelt und daß er sich schadet, wenn er den
Arzt belügt und ihm wichtige Tatsachen verschweigt . . .
So geht es auch mit diesem Kranken. Man merkt ihm einen furchtbaren
Kampf an. und er gesteht, daß es Dinge gibt, die er nicht sagen kann obwohl
er sie sagen möchte . . .
Er erzählt von sonderbaren schädlichen Szenen, wie ich sie in meinen
„Nervösen Angstzuständen" eingehend geschildert habe. Er leidet an Angst
vor einem Herzschlag. Fast jede Nacht hat er einen Anfall, der das ganze
Haus alarmiert. Er beginnt zu stöhnen und nach seinem Herzen zu greifen
Dann aber erscheint zuerst der Vater und beginnt ihm freundlich zuzureden
was ihn ein Wenig beruhigt. Später kommt auch die verheiratete Schwester
und streichelt ihn wie ein kleines Kind und macht ihm Umschläge auf das
erregte Herz. Dann erst wird er ruhig wie ein kleines Kind und schläft ein
Wir kennen die Psychogenese solcher nächtlicher Anfälle aus den
Analysen neurotischer Kinder. Es sind Sehnsucht und das Verlangen nach
Liebe, die sich in solchen nächtlichen Anfällen äußern. Die Schwester erscheint
Er ÄÄ tYatTl d" ^^ iSt dGr ^ittelpunkfdTrÄTe'
Lr ruft die Objekte herbei, welche seine geheimen Gedanken mit- allerlei Phan-
tasien umspinnen. Welcher Art diese Phantasien sind, das können wir mur
ahnen aber wir werden es erst wissen, bis der Kranke seinen inneren
Widerstand gebrochen hat und uns weitere Mitteilungen macht. Daueret
wird uns der Kampf gegen die Onanie und das Schuldbewußtsein verständlich
werden.
Langsam entrollt sich das Bild. Die Einstellung zum Vater erhält neue
Ueiiexe. Erst war sie eitel Liebe und Ergebenheit, jetzt meldet sich der Haß
und schickt seine Vorposten zögernd in das analytische Gefecht. Der Vater ist
sehr strenge gewesen. Er war sicherlich sehr gut, viel zu gut, aber er konnte
auch strenge sein und dann war er unbarmherzig. Wegen eines minder guten
Ausweises wurde er geschlagen. Der Vater verlangte von ihm immer die
besten Noten. Wenn er sie einmal nicht erreichte, so gab es Schläge. Er war
schon 16 Jahre alt und erhielt Schläge, weil er ohne Erlaubnis des Vaters
einen größeren Ausflug unternommen hatte. Er lief damals davon und war
112
Erster Teil. Die Onanie.
zwei Tage nicht zu finden. Endlich wurde er im Walde entdeckt und nach
Mause gebracht. Der Vater sprach dann einen ganzen Monat zu ihm kein
W ort. Das war die empfindlichste Strafe seines Vaters. Wenn er den Kindern
zurate, horte er auf, mit ihnen zu sprechen. Der Kranke kann auch in der
Analyse durch lange Zeit nicht sprechen. Ein ungeheurer Trotz beseelt ihn
und macht ihm das Reden unmöglich. Er kopiert den Vater, der ihn so
bestrafte und an dem er sich jetzt durch seine Krankheit rächt. Denn in
seiner Verstimmung schweigt er auch im Hause durch lange Wochen, sitzt
stumm brütend in einem Winkel und wird ganz verschlossen. Seine Depression
I er mm h L h? t^ ^u^f ^ ^ 8t^Q * die Schlä^ des'vaters,
fst es „tdii Sr n°Ch ??* rrgeSSeQ hat Noch nicht zu entscheiden
Hwt'^nf' PSFV?* lustbet0Qt ™« ™d ob er die Wiederholung
dieser Szenen erwartet. Er hat wiederholt Träume, in denen er geschlagen wird
MasocMstLTnT °n Widerständen ««teht er eines Tages, daß er
vorkommt wL V" "ZTST****** ********* *TOr eine Prügelszene
echsten Bande hTu hlmtf™*™ ^^ **t, das werden wir erst im
nm lt Rh BesPrefhung des Masochismus erfahren. Ich will hier
nui die Beziehungen zur Onanie feststellen. Es zeigte sich ferner daß er
an die Familie fixiert ist. Er liebt den Vater, den Bruder und dTsdiwaUr
vLef Schi eXnt11 Pf gelSZenen bd 86inen «"Ä£ ££&
m erden. Schließlich tritt noch eine inzestuöse Einstellung zur Schwester
zutage. Das Schuldbewußtsein des Kranken bezieht seine stärk ten Affekte
""diesen Quellen. Nicht wegen der Onanie macht er sich dfe VorwU fe
sondern wegen seiner Inzestphantasien. Wie alle Menschen aZ 1 Atl p '
fixiert sind, läuft er davon und macht stets vergebHche \tR^h. t
der Familie frei zu machen. Immer tiefer verstrickt ihn «TS ' S1 T
Netz der FamiHenliebe, immer unfähiger Ältta?^
schließ ich ein Kind wird, das von der Gnade seines Vaters 1 ot Mt , ™
zeitweilig überwundenen Infantilismus treten die Seilen B™
wieder hervor. Mordphantasien sind keine Seltenheit so daß "es * Hern
Wege der Talion zu Selbstmordimpulsen kommt. dem
Was er von der Religion erwartete, das konnte nicht eintreten- Er-
lösung von seinen krankhaften Trieben und vollkommene Befreiung Er
erwartete von Gott, was er selbst nicht leisten konnte. Er stellte sich dann
vorübergehend zur Religion mit Trotz ein, hatte eine Periode, in der er
Blasphemien aussprach und ein atheistisches Tagebuch führte, in das er
täglich Bewe.se von der Nichtexistenz Gottes eintrug. Die Beweise mußten
ihn wenig überzeugt haben, denn er fiel bald wieder in die infantile Form
der Frömmigkeit zurück, sagte seine Kindergebete auf, machte freiwillige
Gelübde und legte sich strenge Kasteiungen auf.
. Das größte Opfer jedoch, das er sich auferlegte, war das Aufgeben der
Onanie Wohl traten nach dem Verzichte auf diese bewußte Form der auto-
erotischen Betätigung Pollutionen auf. Allein er empfand sie nicht als
Sunde. Er hatte sich nicht unkeusch berührt. Denn er war wieder fromm
und nahe daran ein Frömmling zu werden. Er lief in der Dämmerung in
die Kirche kniete inbrünstig nieder und bat um Erlösung und Vergebung
tur seine Sünden. Er konnte in der Nacht unzählige Vaterunser aufsagen
um seine Gedanken abzulenken und sich zu beruhigen. Er vertiefte sich in
einen schwärmerischen Marienkult, der verständlicher wird, wenn man weiß
daß seine Schwester auch Maria heißt und daß seine Marienbilder ihre Züge
•
Onanie und Religion. 113
nachbildeten. So vergiftete ihm die Sexualität die reine Quelle seines
Glaubens und mengte sich in seine Gebete. Er wollte um jeden Preis rein
sein und wollte sogar den höchsten Preis einsetzen, sein Leben. Er studierte
nicht und kümmerte sich nicht um die Pflicht des Tages, da ihm ein höheres
Ziel vorschwebte. Er wollte seine Seligkeit nicht verlieren. Er wollte die
Wonnen des Jenseits erobern.
Er lebte in seinen Dämmerzuständen jene seltsame Mischung von
Religiosität und Erotik, die nur die Asketen kennen. Es kam zu Ekstasen,
welche ihn wie Wonneschauer durchzuckten. Kein bewußter Gedanke mahnte
ihn, daß er seine Libido in das Religiöse verschoben hatte und nun doppelt
schuldig war. Allein sein Inneres ahnte und kannte diese Zusammenhänge.
Er wurde immer schwerer krank und fürchtete bald jede Berührung mit der
Umwelt. Er zog sich auf seine Familie und auf das „Kindsein" zurück,
immer in der Phantasie, er könnte das Leben noch einmal beginnen und
ein neuer, wiedergeborener Mensch werden.
Die Analyse wurde vom Kranken plötzlich 'abgebrochen, als sich Er-
innerungen an homosexuelle Spiele mit dem jüngeren Bruder melden wollten.
Dadurch glaubte er .eine schwere Schuld auf sich geladen zu haben. Er konnte
nun wieder studieren und das genügte ihm. Meine Forderung, er möge sich
längere Zeit von seiner Familie trennen, stieß auf hartnäckigen Widerstand.
Soviel war zu erreichen, daß die nächtlichen Anfälle aufhörten und er die
Türe seines Zimmers des Nachts absperrte. Das war die letzte seiner Kon-
zessionen. Dann aber zitterte er davor, seine geliebte Familie verlassen zu
müssen. Er begann so eifrig und mit so gutem Erfolge zu studieren, daß
sein* Vater der Ansicht war, er wäre vollkommen geheilt, und sich, bei mir
in überschwanghchcn Worten bedankte. Der Kranke spielte die Heilung
weil er nicht tiefer in sein Inneres blicken, sich nicht erkennen und weil er
nicht die letzten Konsequenzen ziehen wollte. Ich hörte noch nach drei
Monaten, daß der Erfolg anhaltend war. Er hatte keine Anfälle mehr und
bestand sein Examen.
Ich könnte noch manche Beispiele anführen, die uns von dem
Einflüsse der Seelsorger auf den Kampf ihrer Schutzbefohlenen mit der
Onanie erzählen. Ich widerstehe der Versuchung und will mich nur
auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränken. Ich habe schon
eingangs dieser Ausführungen auf den hartnäckigen Kampf der Religion
gegen den Autoerotismus gesprochen. Der Geistliche des ersten Bei-
spieles hatte mit Recht auf die Bibelstelle hingewiesen: „Fleischlich
gesinnet sein ist der Tod, geistlich gesinnet sein ist Leben und Friede."
Dieser Satz enthält das Programm des Kampfes der Religion gegen
die bexuahtät. Er wäre unverständlich, wüßte man nicht, daß unter
dem lod das Verlieren der Seligkeit und unter „Leben und Friede" die
Belohnung im Jenseits zu verstehen sind. Mit einer bewundernswürdigen
Hartnäckigkeit hat die Kirche das Opfer der sexuellen Lust als Prämie
für die ewige Lust verfochten.
Nie wäre der Sieg einer solchen Lehre, die alle natürlichen Werte
umkehrt, gelungen, wenn nicht die Menschheit selbst das Bestreben
hätte, sich von allem Irdischen zu lösen und sich durch Überwindung
Stekel, Störungen de8 Trieb- und Affektlebens, n. 2. Aufl. g
114
Erster Teil. Die Onanie.
der Triebe vom Tiere zur Gottähnlichkeit zu entwickeln. Der Auto-
erotist zeigt uns diesen Kampf gegen und für sich selbst in seiner
schärfsten Form. So lange er sich die Lust selbstherrlich spendet,
dünkt er sich sein eigener Gott. Einer meiner Patienten, der einen
schweren Kampf gegen die Onanie durchzumachen' hatte, zeigte mir
sein Tagebuch, das er im zwölften Lebensjahre begonnen hatte. Nach
Überwindung einer religiösen Abstinenzperiode fing er wieder zu
onanieren an und schrieb mit großen Lettern auf die erste Seite seines
Tagesbuches das stolze Wort: Auto theo s! Es ist der göttliche
Funke des Empörers Prometheus, der in den Seelen dieser Kämpfer
aufflammt Freilich erlischt der Brand meistens so schnell, wie er ent-
standen. Die stolze freie Selbstherrlichkeit währt nicht lange. Auch
unser Autotheos ist ein jämmerlicher Neurotiker geworden, ein halber
Freigeist und ein halber Frömmling, der schließlich alle seine eigenen
Gesetze dem großen Moralgesetze seine* Religion opferte
Es wäre sehr verlockend, an seinem Beispiele nachzuweisen, wie
die verdrängte Sexualität sich rächte und seine ganze Religiosität
durchsetzte. Das ist die Rache jeder unterdrückten Erotik Sie be-
mächtigt sich der Kraft, die sie verdrängen will, und stellt sie in ihren
Dienst. Das große Beispiel im nächsten Kapitel wird uns das in
seltener Klarheit vor Augen führen. Das Verdrängte über
waltigt das Verdrängende. So verliert der Mensch dann
Deides: Semen Glauben und seine Sexualität.
Unsere Beispiele haben uns aber gezeigt, wie wichtig eine Reform
der beelsorge und eine analytische, sexuologische Erziehung der Lehrer
und Priester ist. Wollte man die verschiedenen Schriften der ganzen
und halben Pfarrer über die Onanie zitieren, man bekäme erst einen
Einblick in das furchtbare Treiben, würde erst bemerken, wie unglaub-
lich leichtsinnig hier mit der Gesundheit des Volkes umgegangen wird.
Ich zitiere nach Pfister1) das in der Schweiz weitverbreitete Schriftchen
des Pfarrers Hauri2) :
„Wenn ein junger Mensen heimlich allerlei Dinge treibt, wodurch
er seinen Leib befleckt, dann leidet auch seine Gesundheit schlimmen
Schaden. Er wird müde und schlaff, seine Sinae werden geschwächt, er
verliert alle Spannkraft und Willenskraft. Immer weniger vermag er
der bösen Lust zu widerstehen. Auf Schritt und Tritt verfolgen ihn
seine bösen Gedanken und bringen ihn einmal ums andere Mal zu Fall
Er verliert die Freude an der Arbeit. Er wird im Aussehen
und in der Haltung einem Greis ähnlich, und schließ-
lich rafft ihn vielleicht irgend eine Krankheit, der
*) 1. c. S. 476.
a) Eine Konfirmandenstunde über das 7. Gebot. St. Gallen 1910.
Onanie und Religion. -. ■• -
er sonst leichten Widerstand geleistet hätte, in frühem Jahren
schon weg. Wie mancher Mann ist auf solche Weise
schon in ein frühes Grab gesunken, und andere sind
elend und kränklich geworden, oder schwermütig und
lebensüberdrüs'öi g."
Leider gibt es unzählige solcher Hauris. Will man den großen
Fortschritt ermessen, den wir in dem letzten Jahrzehnt gemacht haben,
so höre man die treffende Antwort, die P fister1) seinem Kollegen gibt:
Wer den Jammer von Masturbanten gesehen hat, die bei heißem
Kampf jhren Sexualtrieb nicht zu beherrschen imstande waren, denkt
mit Grauen an die Verwüstungen, die solche schauerliche Weissagungen
anstiften müssen. Hauris Ausführungen sind um so mehr zu be-
dauern, als nachdem Zeugnis jedes erfahrenen Arztes und Erziehers
die von ihm gegebenen Winke für die meisten Masturbanten . nicht von
ferne ausreichen, um Erlösung vom Laster zu finden. Warnung vor
bösen Gedanken, unsaubern Büchern, schlechter GeseUschaft Müßig-
gang, Nachtschwärmerei, Unmäßigkeit, unwahre BehaupCen überdie
Notwendigkeit der Sexualbetätigung, Aufforderung zu Sw und
frommem Chnstenwandel - mehr als diese BineenwahrLtmÄff^
nicht anzugeben - helfen nur einem kleinen Teil der ÄdSm D Z
übrigen, die sich gegen den Feind nicht zu helfen wissen t^tt H
mit entsetzlichen Todesdrohungen, die sich J ?JZ$}£*F S
kehrter ausnehmen, als nach den Versicherungen der Sw * T
über 90% aller Jünglinge Masturbation Sin ha W ^t s^
daß sehr oft eine Neurose ausbricht, wenn Onanie abgelegt wurde fe
wir sollen uns mit brutalen Drohun^n a„f Ai* * Sl ™*e< Und
Madien stürzen? Ein ÄSÄ^rfSK*1*. T*
■ SchcrgendKnsten nicht hergeben, wie sie Hauri aus ünwLenhe't Irden '
Pßeter betont dann, daß man die Onanie nicht mit einem all-
HiZT Wf T Uni,f°rmen Sa^*ü°™, »* Ausspielet von
ammcl und Holle bekämpfen könne. Er untersucht jeden FaU und
»oge nun 35 W'e ^ ^^ ****»' ^ *** vorgeht,
Gewohnt ist eW^zw 1 Ö m?£* W 8e8Chlagen' D"
an Errätunmmrlit^mJV i. i. ünSrfa1"' ebensolange laboriert er
durch iriletterL ^f^^rzm. Ausgelost wurde die Onanie
dör Juni wäS E^Vf Tu™tunfcI) Einige Wochen später rieb
_JIer^Junge wahrend der Schulpause unter der Bank masturbatorisch die
') 1. c. S. 476.
"1 P/irter, l.c.S.478.
3) Ein außerordentlich häufiges Vorkommnis.
116 Erster Teil. Die Onanie.
Beine aneinander, als neben ihm ein Knabe aufs Gesäß geschlagen wurde.
Alsbald setzte die obsedierende Vorstellung ein. Natürlich belebte das
Schulerlebnis frühere Episoden. Als früheste fand sich folgendes im
vierten oder fünften Jahr spielende Erlebnis: Im Hausgang war durch
unbekannten Täter eine Wand mit Bleistift verkritzelt worden. Die
Nachbarin bezichtigt die Schwester unseres Analysanden der Urheber-
schaft. Letzterer aber nimmt die Schuld auf sich, jedoch keineswegs,
um die Schwester zu retten. Da kein anderer Grund ersichtlich, vermute
ich, er habe einer masochistischen Anwandlung nachgegeben. Bald
reute ihn die falsche Selbstanklage. Die Schwester klagt den Bruder
an, findet aber keinen Glauben und bekommt Schläge aufs Gesäß, wobei
der Bruder, wie er sich deutlich erinnert, Wollust fühlt, während er
sonst ohne sexuelle Empfindungen der Züchtigung zugesehen hatte;
auch Schuldgefühl stellt sich ein. Vorher hatte er sexuelle Erregungen
empfunden, wenn er selbst auf die Nates geschlagen wurde. In späteren
Jahren traf das sadistische Gefühl nur dann ein, wenn einer seiner
Kameraden Prügel bekam, weil er ihm ein Unrecht zugefügt hatte.
Die sadistische Komponente wurde somit zu bewußten Gefühls-
äußerungen erst dann angestachelt, wenn Haß im Spiele war. Der Haß
einerseits tritt in unserem Fall offenbar als verdrängte Inzestliebe auf
In ihr liegt auch die Triebkraft zur Obsession und Masturbation. Die
pädanalytische Beeinflussung gelang leicht. Als angenehme Kom-
pensation stellte sich neben gesteigerter Lebens- und Arbeitsfreude ein
günstiges Verhältnis zur Schwester an Stelle des bisherigen Kriegs-
zustandes ein."
So der Bericht des Pfarrers. Wie anders wirkt dies Zeichen auf
mich ein! Es sind Wege der Zukunft, die P fister kühnen Mutes be-
schreitet. Wege, welche zur Befreiung der Moralsklaven und in eine
neue Zeit führen. An Stelle des strafenden Gottes tritt der verstehende
an Stelle der äußeren Moral die innere! Die Analyse soll eine neue
Moral anbahnen.
Zeigt uns einerseits dies Beispiel von P fister, wie sich allmählich
eine Reform der religiös-moralischen Anschauungen anbahnt, wie der
Sexualität wieder Raum und Berechtigung zugestanden wird, so finden
wir auch andrerseits Beispiele, daß Analytiker es versuchen, ihren
Kranken eine neue freiere Weltanschauung zu geben. Ich weiß, daß
sich viele Analytiker bemühen, ihre Kranken aus den Banden einer
veralteten Moralanschauung zu befreien, manche sogar, ihn areligiös
und atheistisch zu machen. Ich halte das nicht für richtig, da sich
der Glaube der Neurotiker als zu gut fundiert erweist und wir den
Kranken durch so ein Vorgehen oft in neue Konflikte versetzen. Unsere
Aufgabe beschränkt sich nur darauf, den geheimen Kampf in einen
offenen zu verwandeln und den Neurotiker von dem individuellen
Schuldbewußtsein zu befreien.
Viele Kollegen gehen weiter, predigen eine neue Form der Religion
und werden dadurch selbst zum Priester.
Onanie und Religion. ii|
Am schönsten hat dies Marcinowski in seinem prächtigen Buche
'„Der Mut zu sich selbst!"1) ausgesprochen:
„Uneern Vätern galt der Gehorsam gegen Moralgebote doch auch
nur als ein Gehorsam gegen Gott. Thronte der aber im Zeitalter
dualistischer Religionsformen außerhalb der lebendigen Welt, und hielt
er ihr von dort aus seine lebensfeindlichen und lebeneinengenden Gesetze
entgegen, so wohnt unsenn jungen Geschlecht die Gottheit im Lebendigen
selbst. Sie -ist uns der immanente Gehalt des "Weltalls an Geist, an
Kraft und Zielstrebigkeit, Sie wohnt in uns, wie unser Leben in ihr
wurzelt. Wir haben keinen Gott mehr, der uns gegenübertrete, in die
engen Grenzen einer menschenähnlichen Persönlichkeit gebannt. Wir
sind zu einer anderen, viel echteren Gottinnigkeit gelangt Wir ver-
nehmen seine Stimme nicht mehr draußen vom Sinai her auf uns her-
untergrollen; aber wir spüren sie deutlich in der Tiefe des eigenen
Herzens; und das so laut und so vernehmlich, daß wir ihr gehorchen
müssen rücksichtslos gegen die äußeren Folgen, die das für uns und
andere haben könnte. Darum ist uns eine neue, natürliche Moral viel-
leicht noch vielmehr Gehorsam gegen Gott, als unseren Vätern die alte,
denn sie fußt auf einem viel stärkeren Bewußtsein innerster, konflikt-
losester Übereinstimmung unseres Lebens und seines Lebenswillens. Sie
n W!,\1Cnel nannte' auf bewußter Gottinnigkeit, und das alte Wort:
„uu soi st Gott mehr gehorchen als den Menschen!" gilt für uns auch
TZ ,u \7° V" ™* den Waffen g^chichtlichen Wissens die Gesetze
der alten Moral in Trümmer schlagen."
Es ist eine schwere Aufgabe, die sich Marcinowski gestellt hat.
Alle Neurotiker sind Gottsucher, aber alle wollen ihn auf eigenen
Wegen suchen, wollen selbst ihre Erlöser werden. Es ist fraglich, ob
sie unsere Wege gehen können. Ich versuche niemals, die Patienten
zu m e i n e n Anschauungen zu bekehren. Wenn wir den Autoerotisten
von dem Zwange seiner die Onanie begleitenden Phantasie erlösen
wenn wir ihn der Einsamkeit entreißen, wenn wir ihn sozial umgestalten'
dem Leben wiedergeben, ihn lebens- und arbeitsfreudig machen dann
bndet er selbst seinen „inneren Gott", dessen Stimme er falsch ver-
standen oder überhört hat.
') Verlag von Otto Salle, Berlin 1912.
Die Onanie.
vi.
Zwangshandlungen eines Onanisten. - Askese und Abstinenz-
bewegung. Allgemeine Betrachtungen.
Der Unterleib ist der Grund dafür,
daß der Mensch sich nicht so leicht für
einen Gott hält. Nietzsche.
Wer Gelegenheit hatte, eine schwere Zwangsneurose zu ana-
lysieren, der wird immer wieder konstatieren können, daß sich alle
Symptome dieses Leidens um die Onanie gruppieren. Ich möchte aus
einer größeren Analyse hier nur ein Stück publizieren, das die Be-
ziehungen von Onanie und Beichte illustriert.
PhilnJnhL*!/''22' ES hSdS* Sich Um einen 28iäh"gen Studenten der
Philosophie, denn seinen Studien stecken blieb und seine Familie durch eine
Keine schwerer Zwangshandlungen in Angst versetzte. Zuerst wurde er ein
80 strenger Vegetarianer, daß er nicht einmal Milch und Eier essen wollte
weil sie Tierprodukte wären. Er nährte sich von Früchten und kam s9
herunter, daß er einen erschreckenden Anblick bot. Er klagte über die un-
angenehmsten Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen. So litt er ent-
setzlich unter der Angst, etwas zu verlieren. Er zählte fortwährend alle
seine Gegenstände, die er in den Taschen mit sich herumführte, um zu kon-
statieren daß er nichts verloren hatte. Zahlte er irgendwo irgend eine
bumme Geldes, so mußte er noch hundertmal seine Barschaft nachzählen
um sich zu überzeugen, daß er dabei nichts verloren hatte. Doch dies war
nur eine seiner unzähligen Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen Der
ganze Tag, vom Morgen bis zum Abend, war erfüllt mit Zwangshandlungen.
Ich führe an dieser Stelle nur einige an, besonders das Zeremoniell in dem
Aborte. Ich möchte noch vorher erwähnen, daß er schon seit zwei Jahren
keine geschlechtliche Regung mehr zeigte. Bis vor vier Jahren hatte er
sehr heftig onaniert. Dann litt er an Pollutionen, die ihn ebenso betrübten,
als wenn er onaniert hätte. Später aber war er allmählich asexuell geworden
Er wäre damit sehr zufrieden, wenn die Zwangshandlungen ihn nicht gequält
hatten Doch sie verbitterten ihm sein Dasein und machten es zur „Hölle"
Lassen wir dem Kranken, der als Russe die deutsche Sprache nicht
vollkommen beherrscht, das Wort:
Verschiedene meiner Zwangshandlungen.
,. Das Zeremoniell im Klosett. „Im Zimmer noch prüfe ich
die Taschen der Hosen, ob sich in ihnen nichts befindet, obgleich ich in ihnen
Zwangshandlungen eines Onanisten usw.
119
nichts halte. Ich mache es meistens so, daß ich mit den beiden Händen
gleichzeitig in die Hosentaschen fahre und dieselben untersuche. Dies tue
ich so, daß ich den Finger von dem inneren Winkel der Tasche bis zum
äußeren Winkel gleichsam promenieren lasse in ganz kleinen Schritten, damit
ja keine Stelle der Tasche unberücksichtigt bleibe. Ich betaste oder besser
gesagt stoße mit ziemlich großer Kraft in die einzelnen Stellen der Tasche,
dabei zähle ich: 1, 2, 3, 4, 5, 6 usw., bis ich zur Außenseite gelange. Die
Höhe der Ziffer ist verschieden, je nachdem wie groß die Abstände sind
bei der Untersuchung. Meistens ist es die Zahl 11, welche ich erreiche, doch
gibts hier keine Regel, auch verschiedene kleinere Ziffern kommen heraus.
Das zweite und dritte Mal untersuche ich es nicht mehr mit derselben
Genauigkeit, ich betaste mit allen Fingern zugleich, wobei meistens die
Zahl 4 herauskommt. Ich wiederhole die Prozedur mehrere Male. Die
rechte Tasche untersuche ich oft auf diese Weise, daß ich gleichzeitig,
während ich die Prozedur drinnen vornehme, mit der linken Hand von außen
die Tasche festhalte, um mir die Untersuchung zu erleichtern. Schneller geht
es schon mit der hinteren Hosentasche, in welcher ich ebenfalls gar nichts
halte. Hier begnüge ich mich meistens damit, daß ich dieselbe von außen
em paarmal untersuche, während ich mir gleichzeitig vorsage: in dieser
Tasche halte ich grundsätzlich gar nichts. Oft jedoch
bin ich genötigt, auch diese Tasche genau zu untersuchen, wobei ich sie
gleichzeitig von der äußeren Seite mit der linken Hand festhalte. Diese
Maßregel dient sonst dem Zwecke der Genauigkeit der Untersuchung, wie
auch als Vorbeugungsmittel, damit beim Herausziehen der Hand nicht 'auch
die Tasche mitherausgezogen wird. Aus demselben Grunde geschieht es auch,
daß ich bei Untersuchung der rechten Hosentasche dieselbe mit der linken
Hand festhalte. Ausgerüstet mit Klosettpapier, welches ich immer in der-
selben oberen Rocktasche halte, gehe ich ins Klosett. Ich schiebe den Riegel
zurück und schlage nun mit aller Kraft in denselben meistens fünfmal, ich
zähle immer, das letztemal drücke ich obendrein mit aller Kraft zu,' um
festzustellen, daß die Türe gut zugemacht ist. Dann werfe ich
einen ängstlichen Blick in den Garten, ob mich niemand im Klosett sieht.
Dann schlage ich meine Hosen auf, damit dieselben, während ich am Brette
stehe, dasselbe nicht berühren. Wenn das Brett aufgehoben ist, nehme ich
von der Wand ein Stück Papier und lasse mit Hilfe desselben das Brett
herunter, ebenfalls, um dasselbe nicht mit der Hand zu berühren. Dann steige
ich aufs Brett hinauf, wobei ich einen ängstlichen Blick werfe, ob mich
niemand dabei gesehen. In dieser stehenden Position1) verrichte
ich meine Notdurft, während ich mit der linken Hand meinen Rock in der
Weise festhalte, daß derselbe das Brett nicht berühre. Das Abwischen er-
folgt in der sorgfältigsten Weise. Beim Verlassen des Klosetts untersuche
ich zunächst das Brett in einer ganz bestimmten Art und Weise. Zunächst
prüfe ich denjenigen Teil der Bretter, welcher sich unmittelbar unter der
Wand befindet, einmal aus Angst, ich könnte da einen Gegenstand zurück-
lassen, andrerseits aus Angst, ob ich ihn nicht mit Kot beschmiert habe. Das
letztere ist für diesen Teil des Brettes gar nicht möglich. Die Untersuchung
selbst geschieht in der Weise, daß ich das Brett ideell teile,
meistens in 4 Teile, und so jeden einzelnen Teil untersuche. Dabei
1) Eigentlich ist es ein Kauern in halb gebückter Haltung!
120
Erster Teil. Die Onanie.'
zähle ich wieder: 1, 2, 3, 4 oder hier mehr usw. Dabei mache ich entsprechende
Bewegungen mit der rechten Hand, was mir die Feststellung der Teile, die
sich auf dem Brette gar nicht belinden, erleichtert. Ich sage dabei: Hier
ist nichts! Hier ist nichts! und sage das so oft, als ich die Untersuchung
vornehme. Am schwersten ist die Untersuchung des eigentlichen Brettes.
Hier ist maßgebend nur die Angst, ob nicht Kot auf demselben liege. Zu-
nächst ein rascher, ' flüchtiger Blick auf den äußeren und inneren Rand des
Brettes. Dann setzt die systematische Untersuchung ein. Ich beuge mich
ein bißchen über das Brett und prüfe zunächst meistens den inneren Rand.
Ich folge auf das Genaueste mit dem Blick jedem Teilchen im Kreise herum.
Dabei mache ich die entsprechende kreisförmige Bewegung mit dem Finger
in der Luft und sage mir wieder: Hier ist nichts! usw. Dio Prozedur dauert
sehr lange — ich muß mehrere Male konstatieren. Besonders genau und
peinlich ist die Untersuchung derjenigen Teile des Brettes, wo die Möglich-
keit des Beschmierens mit Kot -tatsächlich vorhanden ist. Die Untersuchung
geht hier ähnlich vor wie bei den Hosentaschen. Immer ist sie verbunden
mit Zählen. Dieselbe Prozedur bei dem äußeren Rande des Brettes. Sodann
widme ich besondere Aufmerksamkeit den einzelnen Flächen, welche sich
auf dem Brette belinden, oder wenn ein Tropfen Wasser bei Abspülung auf
dasselbe gefallen ist. Ich muß dieselben lange betrachten, bis ich festgestellt
habe, daß dort kein Kot vorhanden ist. Viel rascher erfolgt nachher die
Untersuchung des Fußbodens, sie geschieht nur aus Angst, ob ich nicht
etwas verloren habe. Zunächst Untersuchung des linken Winkels, dann des
rechten mit Teilung und Zählen, dann der einen Hälfte. Nachher gehe ich
hinüber auf die schon untersuchte Seite und untersuche die andere Hälfte.
Wieder langwierig ist die Untersuchung des Fensters aus Angst zu ver-
lieren. Vor dem Fenster ist eine schräge Fläche, eine beinahe steil nach
unten laufende Wand. Jeder Gegenstand müßte von derselben tatsächlich
herunterfallen. Diese .Wand untersuche ich sehr langwierig in der gewohnten
Weise mit Teilung und Zählen. Dann fixiere ich die einzelnen Flecke lange,
um zu konstatieren, daß sie rein sind. Dann kommt der Zug an der Wasser-
spülung. Nach Abspülung Untersuchung, ob nicht ein Stück Kot im Reservoir
geblieben ist. Endlich werfe ich noch einmal einen schnellen Blick auf Brett,
Fußboden und Fenster und verlasse das Klosett. Noch drinnen müßte ich
die Hose wieder herunterziehen, damit niemand auf den Verdacht komme,
daß ich mit den Schuhen auf das Brett trete. Während ich noch nach allen
Seiten ängstlich schaue, ob mich niemand beim Verlassen des Aborts gesehen,
gelange ich in mein Zimmer. Nachdem ich meine Zimmertür geschlossen
habe, prüfe ich, ob sie zu ist. Ich tue es so, daß ich zunächst meistens
fünfmal fest in die Türe stoße — dann an der Klinke ziehe. Sodann wasche
ich mir sehr sorgfältig die Hände, auch in einer bestimmten Fasson. In
Wien habe ich alte Schuhe, welche ich -mir anziehe, wenn ich ins Klosett
gehe. Diese Schuhe haben keine scharfen Nägel an den Absätzen und ich
würde sie nie auf der Straße tragen. In anderen Schuhen habe ich Angst,
auf dem Brette Ritzer zu machen oder es mit Straßenstaub zu beschmutzen,
so daß man darauf kommen könnte, daß ich mit den Stiefeln auf das Brett
steige. Vor dem Gehen in das Klosett nehme ich also diese Schuhe, wobei
ich die Bänder in der Weise binde, daß sie das Brett nicht berühren können.
Wenn ich zurückkomme, wechsle ich die Schuhe und prüfe die abgelegten
auf Absatz und Sohle genau, ob kein Kot darauf ist, wieder mit Teilung
und Zählen, wobei ich sage: Hier ist nichts! Hier ist nichts!
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. 121
Das Zeremoniell am Morgen: Die ersten Dinge nach dem
Erwachen sind: Wieviel Stunden habe ich geschlafen? Zu diesem Behelfe muß
ich mir vor Augen halten, um wieviel Uhr ich mich abends niederlegte; dann
kommt die Frage: wie lange kann es gewährt haben, bis ich eingeschlafen?
Ich nehme eine spätere Stunde an als die wahrscheinliche — berechne dann
die Zahl der Stunden bis zum Erwachen, dann wird der Teil, welchen ich beim
Aufwachen in der Nacht aller Wahrscheinlichkeit nach verloren habe, sub-
trahiert. Das Ergebnis ist schwer festzustellen. Das Minimalmaß ist 7 Stunden.
Habe ich das festgehalten, dann sage ich mir: „Septem horas dormire satis
est, sagen die Römer" und bin in diesem Punkte beruhigt. Nach dem Auf-
stehen hänge ich meinen Mantel, mit dem ich mich bedecke, an die Türe in
der Weise, daß das Schlüsselloch verdeckt ist, damit mich niemand beim
Waschen sehe.
Die hauptsächlichsten Zwangserscheinungen setzen ein beim Ver-
lassen der Wohnung: Alles aus Angst zu verlieren. Zunächst wende
ich mich dem Kasten zu. Hier prüfe ich drei Schubladen, ob sie geschlossen
sind. Vorher schon habe ich sie geschlossen. Am längsten prüfe ich die erste
Schublade, von der ich mich überzeugt habe, daß sie trotz Schließens aufgeht.
Ich probiere an den Klinken, ob sie zu ist, indem ich die Schublade ziemlich
an mich ziehe. Dabei zähle ich, je .nachdem .verschieden, manchmal bis 30 und
noch mehr. Viel leichter geht es mit zwei anderen Schubladen, hier mache ich
es bloß fünfmal. Dann prüfe ich den Schrank, ob er zu ist, auf ähnliche Weise.
Dann kommt das Sofa dran. Ich stelle mich immer in eine gewisse Entfernung
vor demselben und untersuche dann, ob nichts auf demselben geblieben ist.
Ich beginne mit dem Polster. Dieser ist mit einer Serviette bedeckt. Zunächst
prüfe ich den linken Rand des Polsters, welcher von der Serviette frei ist.
Ich prüfe in der gewohnten Weise jedes kleinste Teilchen, verbunden mit
Zählen von oben nach unten gehend. Dann die Serviette in drei ideelle Teile
geteilt. Die Untersuchung des rechten Randes geht schnell vor sich. Folgt
Untersuchung des Sofas in drei geteilt. Jetzt folgt der Tisch. Zunächst fasse
ich hier die einzelnen Gegenstände ins Auge. Es sind immer dieselben Gegen-
stände und sie müssen immer in derselben Ordnung aufgestellt sein. Ich
fixiere die einzelnen Gegenstände und sage mir vor: „Hier ist das Blumen-
sträußchen — hier das Löschpapier — auf demselben Karten — einige be-
schrieben — andere unbeschrieben. Zwischen dem Sträußchen und dem Lösch-
papier befindet sich gar nichts." Längere Untersuchung! (Zweifel.) Weiter.
Hier ist der Umschlag vom Kalodont (welchen wegzuwerfen ich mich nicht
traue), hier ist die Lampe, hier das Tintenfaß, hier die Tasse. Ich schaue,
ob unter der Tasse und unter dem Löschpapier gar nichts steht. Dann zerlege
ich den Tisch in 3 oder 4 ideelle Teile und untersuche jeden einzelnen Teil
besonders. Dabei versuche ich jeden einzelnen Teil auf einmal zu überblicken
Es gelingt erst nach einer gewissen Frist, dazu ist eine große Konzentration
erforderlich. Endlich ziehe ich mit einer energischen Geste eine Luftlinie über
den bestimmten Teil und sage mir vor: Hier ist nichts! So bei jedem einzelnen
Teile. Jetzt wende ich mich wieder dem Toilettekasten zu. Auf ihm liegt eine
Serviette. Auf derselben steht auf einer Tasse ein Wasserkrug und ein Glas.
Die Überprüfung dieser Serviette ist am schwierigsten. Die Serviette war
zusammengelegt, davon sind Falten entstanden, welche dieselbe in 4 teilen.
Die Vierteilung benütze ich bei meiner Untersuchung. Überhaupt suche ich
immer nach irgendwelchen natürlichen Zeichen, welche mir die Teilung und
122
Erster Teil. Die Onanie.
somit auch die Untersuchung erleichtern. Außerdem befindet sich auf der
berviette eine bestimmte Zeichnung. Diese Zeichnung läßt mich wieder jeden
einzelnen Teil in mehrere Stücke zerlegen und jedes besonders überprüfen. Soli
ich zur letzten Untersuchung schreiten, so stelle ich zunächst den Wasser-
krug auf die linke Seite des Kastens neben der Wand. Er steht dann auf dem
ersten der 4 Teile der Serviette, die anderen 3 Teile bleiben frei. Mit diesen
3 Teilen verfahre ich in der gewöhnlichen Weise, also mit Zählen, doch nimmt
es nicht lange Zeit in Anspruch. Sehr schwer ist die Prüfung des ersten
Teiles, auf welchem die Tasse steht, welchen ich immer zuletzt untersuche.
Die lasse wird zunächst weggenommen und dieser Platz untersucht, dann
setze ich die Tasse auf diese Stelle und beginne mit dem Rest des Teiles. Der
Teil wird zunächst wieder in einzelnen kleinen Stücken untersucht, und zwar
ZZTl ?T? peitf- Endlich gÜt es' ihn auf einmaI zu überschauen. Es
ist de peinlichste Punkt im ganzen Zeremoniell. Wieder ist eine lange Zeit
«forderlich und eine große Konzentration. Zuletzt werden noch alle 4 Teile
ZZ I ■ i gG ^T ht JetZt Wende ich mich dem Bette ™- I«h unter-
suche, ob ich nichts unter dem Polster zurückgelassen habe. Teilung in 3
mit d^r V™ w nn? ?r ******* ~ wied<* langwierig. Der Leuchter
mit der Keize wird fortgenommen, die den Nachtkasten bedeckende Serviette
Leuchte ei'nCht' na1?liChe uTf ^ " 4 ZUgmnde ^ Dann P-fe ich den
Leuchter. Hier sind gewöhnlich 2 oder 3 abgebrannte Zündholzer Jede*
wZ TJ ßXTrt .(Zr1M)- Dann nehme ich ein Stück Klosettpapier
welches auf dem Tische liegt, mit welchem ich mir am vorigen Tage abend
nach Anwendung der Zinkpasta welche ich gegen ein Ekzem verwende, die
Hand abgewischt habe. Ich habe stets Angst, daß es eine
Banknote ist, untersuche es langwierig, bis ich es
in den büß werfe. Nun betaste ich noch 3 Taschen, um mich zu über-
zeugen, daß ich mein Portemonnaie, meine Uhr und Schlüssel in Ordnung habe
endlich stelle ich mich in die Mitte des Zimmers, um noch einmal zu kon-
statieren, daß ich alles in Ordnung geprüft habe. Dabei zeige ich mit vorge-
strecktem Pinger auf jeden einzelnen Gegenstand und sage mir gleichzeitig
vor: Das ist untersucht worden! Es muß hier wieder eine ganz präzise
Ordnung eingehalten werden und es darf nicht unterbrochen werden, sonst
muß ich von neuem anfangen. Schließlich verlasse ich das Zimmer ' sperre
die Tur hinter mir sorgfältig ab, hänge den Schlüssel auf. Jetzt stoße ich noch
einige Male fest in die Türe und prüfe an der Klinke, ob sie zu ist und berühre
paarmal den Schlüssel, um mich zu überzeugen, daß er hängt. - Ich komme
m den Park, prüfe die Bank, wo ich mich hinsetzen will, ob sie nicht be-
schmutzt ist, und lege hier meinen Mantel, Schirm und Hut nieder Sodann
gehe ich in der Allee auf und ab. Bevor ich mich aber irgend einer Arbeit zu-
wenden kann muß ich noch die Untersuchung der Taschen erledigen Es
handelt sich darum, ob ich die 3 Gegenstände, Börse, Uhr und Schlüssel bei
mir habe. Diese Untersuchung ist höchst peinlich und langwierig. Ich beginne
mit den Schlüsseln. Diese trage ich in der unteren linken Tasche des Rockes
samt Klosettpapier und Spiegel. Ich ergreife nun diese Schlüssel durch den
Rock, aber von außen — die Schlüssel sind zusammengebunden — zunächst
den einen und sage mir vor: Also der eine Schlüssel ist da. Jetzt nehme ich
den zweiten Schlüssel und sage: Der eine Schlüssel ist da und der andere ist
auch da. Dabei drücke ich mit aller Kraft die Schlüssel,
um mich von deren Vorhandensein zu überzeugen. Dann
Zwangshandlungen eines Onanisten usw.
123
schlage ich mit der Hand in die Tasche, damit ich die Schlüssel klirren höre.
Jetzt wende ich mich der Börse zu. Diese steckt in der oberen linken Rock-
tasche. Ich stecke die Hand in die Tasche und lasse da die Börse einige Male
fallen, damit mich der Laut beim Herunterfallen von der Existenz der Börse
überzeugt. Dann nehme ich meistens die Börse heraus und drücke sie mit
aller Kraft zu, um mich zu überzeugen, daß sie geschlossen ist. Das mache
ich gewöhnlich fünfmal, das letzte Mal am längsten und am stärksten und
viel anhaltender als vorher. Dann schaue ich in die Tasche hinein, um mich
durch den Gesichtssinn zu überzeugen, einmal, daß die Börse vorhanden ist,
andrerseits, ob sie geschlossen ist. Ich betrachte sie so sehr lange Zeit auch
in einer ganz bestimmten Weise, indem ich die einzelnen Teile derselben
fixiere. Dann fange ich wieder mit dem Werfen an, wobei ich zähle, endlich
betaste ich sie noch einige Male von der Außenseite des Rockes. In ähnlicher
Weise verfahre ich mit der Uhr, doch etwas kürzer. Dann überprüfe ich alle
3 Gegenstände noch mehrere Male. Eine Zeitlang im Sommer trug ich einen
Lüsterrock — damals trug ich die Schlüssel in der linken, die Börse in der
rechten Hosentasche. Ich versuche nun häufig, mich zu beruhigen, indem ich
mir vorsage: „In der linken Hosentasche waren die Schlüssel, diese sind nun
im Rock, in der rechten war die Börse, diese ist jetzt da, folglich alles in
Ordnung! In der hinteren Hosentasche trage ich ja
prinzipiell nichts!" (Untersuchung), also: Schlüssel, Börse,
Uhr — jedes einzelne Wort betone ich sehr scharf — 3 Gegenstände — die
Dreieinigkeit ist da — also alles in Ordnung.
Weitere Zwangshandlungen im Parke: Habe ich mich auf eine
Bank niedergesetzt, so erfaßt mich die Unruhe, ob die Lehne nicht be-
schmutzt ist. Ich drehe mich um und prüfe dieselbe mit Teilung und Zählen.
Gehe ich auf und nieder und denke über ein Problem nach, so stellt sich die
Angst zu verlieren in folgender Form ein: Mein Blick fällt auf ein auf dem
Boden liegendes Blatt — ich kann nicht feststellen, was das ist. Ich fixiere
das Blatt, dann trete ich auf dasselbe, stampfe paarmal mit dem Fuße, wobei
ich zähle, oder ich zerdrücke es mit dem Fuße. Dann beuge ich mich über
das Blatt und betrachte genau jedes einzelne Teilchen desselben, wobei ich
zähle, meistens bis 5. Nach einem Moment beunruhigt mich ein anderes Blatt
— ich fixiere alle möglichen Blätter unter Bezweiflung ihrer Identität und
zähle sie alle. Ab und zu werde ich von der Angst erfaßt, ob alle Gegen-
stände, die ich auf der Bank niederlegte, vorhanden sind. Geht ein Mensch
vorbei, so muß ich schon stehen bleiben und genau zuschauen, denn ich habe
Angst, er könnte einen Gegenstand entwenden. Oder ich fürchte, daß der
Wind einen Gegenstand fortreißen könnte auch bei
ruhigster Luft. Es ist meistens der Mantel und der Hut — dazu
gesellt sich mitunter als Angstobjekt der Schirm. Ich wende mich dann der
Bank zu und sage mir vor, während ich gleichzeitig auf jeden Gegenstand
zeige oder wenigstens im Gedanken eine Geste mit der Hand ausführe: Also
der Mantel ist da, der Hut ist da, der Schirm ist da. Also es sind drei Ob-
jekte da. Ich überzeuge mich mehrere Male. Oft stellt sich der Zweifel
ein, ob ich nicht mehrere Gegenstände mitgenommen habe. Ich pflege daher
meistens schon beim Verlassen der Wohnung festzustellen, wieviel Stücke
ich zu tragen habe. AlßO : Mantel, Schirm, Buch — also 3 und fixiere schon
die Zahl 3. Stellt sich der Zweifel ein, so berufe ich mich dann darauf, daß
eben 3 Gegenstände waren. Die Angst stellt sich ferner immer ein, wenn ich
124 Erster Teil. Die Onanie.
ein Sacktuch herausnehme. Dann prüfe ich in der gewohnten Weise nicht
nur die Stelle am Coden, wo das geschehen konnte, sondern die ganze Stelle
in beiden Richtungen — soweit ich auf und niedergehe. Sehr peinliche Proze-
dur erfolgt beim Verlassen der Bank. Ich fürchte, etwas zurückzulassen. Zu
diesem Zwecke prüfe ich zunächst sehr lange den Sitz in gewohnter Weise,
dann die Lehne, dann besonders die beiden Ausläufer der Bank — dann den
Boden vor der Bank, manchmal auch unter der Bank. Sind in der Nähe andere
Bänke oder ein Tisch, so untersuche ich dieselben auch, doch viel rascher ; des-
wegen ist mir jede Änderung, jede Übersiedlung von einer Bank auf die andere
sehr unangenehm, weil sie stets mit dieser Untersuchung verbunden ist. Un-
angenehm ist mir, wenn in der Nähe Personen sitzen. Ihre Anwesenheit wirkt
auf mich störend. Ich will nicht, daß sie meine Zwangshandlungen sehen
und bin demnach gezwungen, dieselben ohne alle äußere Manifestierung, näm-
lich ohne die Handbewegungen vorzunehmen, was mir die Untersuchung er-
schwert. Ich wende mich dann der Bank zu und fixiere sie längere Zeit —
scheinbar in Gedanken versunken, ebenso ist es, wenn ich irgendwo in einem
Geschäfte meiner Börse Geld entnehme. Ich habe stets Angst, Geld auf dem
Pulte zurückzulassen, und muß die Überprüfung mit Teilung vornehmen —
doch manövriere ich immer so, daß es der Kaufmann nicht bemerkt. Ferner
bekomme ich Angst, daß in den Taschen des Mantels etwas Fremdes enthalten
ist. Ich muß wieder untersuchen. Meistens plage ich mich aber mit den
Taschenklappen. Ich fürchte, ob die Klappe nicht drinnen in der Tasche ist,
was das Herausfallen eines Gegenstandes erleichtern könnte, und das führt
zu einer Zwangshandlung, daß ich die Klappen auf eine ganz besondere Art,
verbunden mit Zählen streichle. Habe ich meinen Schirm und meinen Hut
auf einen Tisch gelegt, dann habe ich Angst, daß sie herunterfallen könnten.
Ich fixiere dann den Schirm und sage mir folgendes vor: „Der Schirm ist
ja da — 1, 2, 3, 4, 5. Er liegt ja in der Mitte des Tisches. Es ist unmöglich,
daß er herunterfällt. Es ist ja vom Rande eine Distanz von wenigstens 20 cm.
Von dieser Seite auch, von jener auch!" Ich nähere mein Gesicht dem Tische,
um die Distanz zu prüfen, wobei ich sie wieder mit Teilung und Zählen be-
rechne. Genau so, wenn ich im Zimmer am Tische sitze, fürchte ich, daß die
einzelnen Gegenstände herunterfallen könnten, und verfahre in ähnlicher
Weise. Sehe ich ein Blatt am Boden, dessen Identität ich bezweifle, dann
halte ich mir folgendes vor, um mich zu beruhigen: „Schau — hier ist doch
die Hauptader und hier sind die einzelnen Adern, 1, 2, 3, 4, 5 usw.!" Besonders
häufig beunruhigt mich oft eine weggeworfene Zigarette oder ein Zündholz.
Wenn ich beim Weggehen die Bänke untersuche, beunruhigt mich besonders
jeder Fleck von Vogelkot oder ein Blatt. Dieses muß ich dann prüfen und
herunterwerfen. Charakteristisch für meinen Zustand ist das zwangsmäßige
Ausspucken. Ich spucke häufig stundenlang ununterbrochen, um mich von
dem Schleim zu befreien."
Noch viel komplizierter sind die Zwangshandlungen beim Einschlafen,
welche auch eine Teilung und Untersuchung des ganzen Zimmers enthalten,
ein sehr kompliziertes Zeremoniell des Auskleidens und schließlich eine Reihe
von scheinbar sinnlosen Handlungen, welche aber alle nach Kenntnis ihrer
Bedeutung einen tiefen Sinn verraten.
Wir wollen aber nicht alle seine Zwangshandlungen analysieren, nur
einen Teil, der mit unserem Thema direkte Verbindungen hat. Wer öfters
Zwangshandlungen eines ünanisteu usw.
125
mit Zwangsneurotikern zu tun hat, der weiß schon, daß der e r s t e Z w an g,
dem sie ausgesetzt waren, die Onanie war, und daß ihr ganzes. Leben dann
ein fortgesetzter Kampf gegen die Onanie ist. Ein Moment mag schon dem
nicht analytisch Geschulten bei der Lektüre der Zwangshandlungen aullallen:
der Kranke ist ein vielgeplagter Mann, den seine Zwangshandlungen den
ganzen Tag beschäftigen und der sicherlich zu keiner Lebensfreude kommen
kann. Man versteht es, wenn er behauptet, er habe keine Zeit zum Studieren,
selbst wenn er das Gelesene auffassen könnte. Aber sein Kopf behält gar
nichts. Es geht nichts hinein. Den ganzen Tag beschäftigen ihn die Zwangs-
vorstellungen, so daß der Tag in rasender Eile vergeht und ihm keine Zeit
zu irgend einer Beschäftigung bleibt. Man sieht, diese Zwangsvorstellungen
und Zwangshandlungen haben eine doppelte Aufgabe: Sie sind eine empfind-
liche Strafe für den Kranken, eine Bußhandlung für irgend eine schwere Sünde,
und sie füllen sein Hirn so aus, daß sie keinen neuen sündigen Gedanken
aufkommen lassen.
In der Tat! Der Kranke ist ein vollkommener Asket. Er hat seit
zwei Jahren überhaupt keinen Geschlechtstrieb! Er
kennt keine sinnlichen Erregungen und' Versuchungen, er hat nie eine Erektion,
kennt keine Pollutionen. Sein Geschlechtsleben ist für ihn tot und erledigt.
Für einen Menschen, der noch nicht 30 Jahre alt ist, eine merkwürdige Tat-
sache. Aber an ihrem Bestehen ist nicht zu zweifeln, der Kranke zeichnet sich
durch eine seltene Wahrheitsliebe aus, die schon beinahe fanatisch
ist. (Das Zeichen eines Onanisten, der aller Welt eine Tatsache [seine Onanie!]
verschwiegen hat und diese Lüge durch Wahrheitsfanatismus überkompen-
siert.) Er zeigt noch andere asketische Tendenzen. Alle Zwangshandlungen
enthalten eine Buße, eine Strafe für Sünden der Vergangenheit. Wofür aber
etraft sich der Kranke? Welches schwere Vergehen bedrückt sein Gemüt?
Er ist ein Freigeist, der sich bis vor seiner Erkrankung mit Philosophie
befaßt hat und noch heute am liebsten in den freien Stunden seinen Nietzsche
liest. Er ist seit dem 16. Jahre ein überzeugter Atheist und hat den Versuch
gemacht, atheistische Schriften in philosophischen Fachblättern zu publizieren.
Nichtsdestoweniger schließt die Zwangshandlung am Abend mit einem Gebete
ab. Diese Tatsache gesteht er sehr ungern und unter Widerstreben; es sei
eine unglaubliche Kinderei, aber er tue es, um besser einzuschlafen, er habe
keine rechte Ruhe, ehe er sein Gebet gesagt habe, es sei eine Gewohnheit
aus den Kindertagen, er tue es nur rein mechanisch aus Gewohnheit usw. . . .
Hinter diesen Ausflüchten steckt die Tatsache, daß er fromm ist und diese
Frömmigkeit nicht sehen will. Alle Zwangsneurotiker sind fromm und ihr
Konflikt ist eben der Kampf zwischen der uneingestandenen Frömmigkeit und
den eingestandenen oder auch verborgenen Trieben. Wir hören auch, daß
er als Kind enorm fromm war und die feste Absicht hatte, in ein Kloster
zu gehen und Mönch zu werden.
Ich übergehe den langen und mühevollen Weg, den ich zurückgelegt
habe, um den Schlüssel dieser wirren Zwangehandlungen zu finden. Aber ich
lernte eineß Tages mit Hilfe eines Traumes *) seine „Angst vor dem Verlieren"
verstehen EßWäie Angst, die ewige Seligkeit zu ver-
lieren -' Der Kranke spielte nur äußerlich den Freigeist und war inner-
lich fromm." Er lebte in der ständigen Angst vor der Sünde und dieses
>) Mitgeteilt in „Nervöse Angstzustände", 2. Auflage, S.377.
126 Erster Teil. Die Onanie.
zeremoniell mußte uns die Aufklärung geben, was eigentlich die Sünde des
Kranken war und welcher Art dieses Vergehen war. Diese Aufklärung gelang
mir o h n e H i 1 f e des Kranken, der aber später alle Auflösungen durch Mit-
teilung der nachfolgenden Tatsachen bestätigen mußte
Seine Sünde war: Er hatte onaniert, solange er sich
w ?tnT t ■ a 0S^«te. .ohne viel darüber nachzudenken, und erhielt
!iL V P m derfBe/cI^ die F^, ob er sich unkeusch berühre. Er ver-
stand diese Frage sofort. Er hatte schon in den früheren Beichten die Onanie
wissentlich verschwiegen. Diesmal wurde er direkt darum gefragt und stell te
sich so als ob er nicht verstehen würde. Schon vorher war er von dem Beicht-
G?^tLTsVr7o^crh lm GymnaSiT W^ Grmahnt W°rden> «S Ä
^ e w i s s e n s e r t o r s c h u n g vorzunehmen, und hatte mit sich eekänrnft
Zi^JuZ iftft ^ 7"g- -Ute. Er dacTte SSTfi
St und In ™ ?f ?de !f Ä rede gar nichts davon- Nun wurde er
£ BewiafTi ^ BeWU1ßteein- weil »ein Beichtvater sein Lehrer
Nun hatte er aber eine Todsünde begangen und die ewige Seliekeit für
eme scüwere Buße. Sein ganzes Leben seit dem 18. Lebensjahre war darum
eine permanente Askese und Buße. Die Zustände wurden aber m?t den Jahren
nicht besser sondern viel schlimmer, weil die fortgesetzte Abstinent ein
mch meh «, Hi 1*1 \ ,' W16^ir1wisßen. bald seinen Glauben und woTlte
wa ^ kränkte sth £Sfc U ,T B?Chte-f hen" Seine Mutter' di* sehr fromm
SÄS darUb6/ ™d bfSchw0r lhn' doch hie ™* da zu beichten und
IZlZ l Z S 'S dl\Kirche1T Zu ^en. Er hatte nur Spott und kühle
die ST/."1* n ^mUtUng- 7ori!bergehend schien es, daß er sich durch
könnte Fr ? 1 fenkeüS KaUS **?, Krall6n der Versündigungsideen retten
St mit A T beg\™ Mädche» aufzusuchen, machte seine erste
rrulung mit Auszeichnung. Unter dem Einflüsse homosexueller Trieb-
regungen jedoch die ihm nie ganz bewußt waren, kam es zu e nem neuen
Kampe gegen die Sexualität und er beschloß, in Keuschheit Z Jeben, Z
SELSt hS?m/ff Da"jt War der KaraPf ^en *>™ bewußte
otn tslr^nen Zustande^ " ^^^ "*"■ ™ *» *-■*
Wir sehen also: Sein schweres Trauma ist die Beichte
und der Umstand, daß er den Beichtvater bei der Ge
OneaSneineServf0rS\hUng bel°geD hatte" Er. hatte dU
verachwieV/« Wl-6ige- 1"'?, offenbar wohlweislich
teils mit h„™ ?Je t5il8 mit Inzestphantasien,
teils mit homosexuellen Phantasien verbunden war
ni,K* S! W-r'J daß S6ine Zwangshandlungen
nichts anderes sind als eine Wiederholung der
Beichte, als ein ewiges Gutmachen der einen Sünde,
die ihn um die Seligkeit und Ruhe gebracht hatte!
Er wiederholt immer die Beichte und die Gewissenserforschung und
konstatiert, daß er nichts vergessen habe. Nun analysieren wir diese merk-
würdigen Zwangshandlungen und versuchen wir, sie als einen Reueakt dar-
zustellen, als eine tägliche Warnung und Wiederholung.
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. 127
Was war seine Sünde? Daß er die Gewissenserforschung nicht exakt
vollzogen hatte und daß er den Schmutz (Kot!) der Onanie nicht beichten
wollte. Der Aufenthalt am Klosett wird für seine
spielerische Phantasie eine Beichte und der Akt der
Defäkation wird zur Reinigung der Seele. Selbstredend
erweist schon die Wahl des symbolischen Vorganges eine starke bipolare Be-
tonung dieser Reue. Seine alten Blasphemien, deren er sich als Jüngling
schuldig gemacht hatte, als seine erste atheistische Periode begonnen hatte,
setzen sich in dem symbolischen Akte ebenso durch, wie das Verlangen nach
tätiger Reue. Er wiederholt täglich die Beichte, täglich unzählige Male die
Gewissenserforschung und kommt immer zu dem nur vorübergehend tröst-
lichen und beruhigenden Resultate: Da ist nichts! Da ist nichts! Du hast
alles gebeichtet und nichts vergessen.
Er beginnt mit der Untersuchung der Taschen und zählt bis 11. Um
dieses Jahr hatte sich ja die falsche Beichte, seine Todsünde, ereignet. Die
Tasche wird ihm ein Symbol seiner Seele und er forscht nach, ob sich irgend
ein Gegenstand in der Tasche befindet, den er zu der Beichte mitnehmen darf.
Hier mengen sich die erotischen Beziehungen mit den religiösen. Er wieder-
holt es in bezug auf die hintere Tasche: In dieser Tasche halte ich prinzipiell
nichts! Das heißt mit anderen Worten: Wenn auch der Anus für mich als
erogene Zone eine große Bedeutung hat, so stecke ich prinzipiell in diese
Tasche nichts hinein. Er teilt alles beim Untersuchen in vier Teile. Er teilt
sein Leben in vier Teile. 28 Jahre ist er alt; jeder Teil besteht dann aus
6ieben Jahren. Die Gewissenserforschung erstreckt sich dann auf alle 28 Jahre
und umfaßt immer eine siebenjährige Periode. Eigentlich trat nach seiner An-
sicht alle sieben Jahre immer eine Änderung ein. Mit 7 Jahren erinnert er
sich an die ersten Szenen der Onanie; mit 14 Jahren begann er sich gegen
die Frömmigkeit zu empören und mit 21 Jahren setzte die schwere Neurose
ein. Jetzt, mit 28 Jahren, begab er sich in die analytische Behandlung, was
schon seinen Willen beweist, sich wieder zu ändern und eine neue Metamor-
phose durchzumachen.
Doch eine andere Frage: Ist er sich bewußt, daß er innerlich fromm
i6t und immer wieder die neue Beichte spielt? Daß er die alte, falsche Beichte
rückgängig macht und sich beweist, wie man das als reifer Mensch machen
müßte? Er hat keine Ahnung, daß diese Zwangshandlungen einen religiösen
Charakter haben und daß sie Gebete ersetzen. Er will auch keine Ahnung
davon haben. Er hat seine Persönlichkeit in zwei Teile geteilt, wobei der eine
Teil von dem andern nichts wissen darf. Deshalb spielt das gute Versperren
aller Türen und Kästen eine große Rolle. So muß seine Seele versperrt sein,
einerseits gegen die bösen Versucher, andrerseits gegen die bewußten Ge-
danken, welche nichts von den inneren Strömungen erfahren sollen. Er
fürchtet auch das Gesehenwerden. Er wirft aus dem Klosett ängstliche Blicke
in den Garten, ob er nicht bei der Defäkation gesehen werden könnte. Das
geht noch auf eine infantile Angst -zurück : Gott sieht alles und hört alles.
Gott ist allwissend. Er hat auch seine falsche Beichte gesehen und ihn dafür
mit Blödheit und Blindheit gestraft. Denn er, der ehrgeizigste Mensch, den
ich je kennen lernte, bleibt trotz seiner reichen Anlagen im Studium stecken
und kommt nicht weiter.
Eine weitere Auflösung. Woher kommt diese unangenehme stehende
Position bei der Defäkation? Er wird oft so müde, daß seine Beine zu zittern
128 Erster Teil. Die Onanie.
anfangen, und würde sich um keinen Preis der Welt trauen, sich auf das Brett
zu setzen. Dafür gibt uns der Kranke eine ausreichende Erklärung. Er habe
in jener kritischen Beichte sich nicht getraut, sich niederzusetzen. Er wäre
auch zu klein gewesen. Stehend war er für die Öffnung zu groß. Also nahm
er eine Stellung in einer halben Kniebeuge ein. Diese gleiche Stellung muß
er bei der Wiederholung der Beichte unbedingt einhalten. Die anderen
Symbolismen, z. B. daß er sich zu beschmutzen fürchtet, daß er eigene Schuhe
hat, um ins Klosett zu gehen, Schuhe, auf denen nicht ein Stäubchen vom ge-
meinen Straßenstaub haften darf, sind durchsichtig. Diese Schuhe sind ein
Symbol seiner Neurose, seiner geheimen Frömmigkeit, es sind seine Büßer-
schuhe, die ihn in das Land der Ewigkeit bringen werden. Er steht unter dem
Eindrucke einer Phantasie. Er lebt in einer Welt des Scheines. Er anul-
liert die Tatsache der falschen Beichte und setzt an
ihre Stelle eine aufrichtige. Die Szene besagt : Er ist kein
Sünder. Er hat noch einmal gebeichtet, er hat sich geprüft und kann ruhig
sagen: Hier ist nichts! Denn er onaniert nicht mehr, er hat mit grausamer,
übermenschlicher Kraft die ganze Sinnlichkeit aus seinem Leben herausge-
rissen und ist ein Asket geworden, der sein ganzes Dasein in büßenden Gebeten
verbringt. Er handelt so, als ob er die Sünde nicht begangen hätte. Als wäre
er noch ein Kind und stünde vor der Beichte. Seine ganze Krankheit ist
tätige Reue. Er trachtet gut zu machen, was er verbrochen. Er spielt immer
wieder die Szene der Beichte und hält sich vor, wie er hätte beichten sollen.
Sein ganzes Leben geht in dieser Szene auf. Sein Leiden ist eine ewige Beichte.
So wiederholt er täglich im Klosett das Trauma seines Lebens, so deter-
miniert die Onanie alle seine Handlungen, raubt ihm die Möglichkeit zur Be-
tätigung und die Fähigkeit, andere Gedanken zu denken, ausgenommen die
der Reue und Buße.
Beim Verlassen der Wohnung aber spielt er seinen Tod, seine letzte
Reise und macht noch einmal die große Prüfung seiner Seele durch. Er wird
vor dem Tod einen Priester rufen lassen, wird ihm alles beichten, und er und
Gott müssen ihm verzeihen, wenn sie merken, was er gelitten und gebüßt hat.
Alles wird ihm zum Symbol seines Daseins : die Serviette, der Krug, der Kasten,
das Sträußchen. Und diese fürchterliche Angst, etwas zu verlieren! Hat er
nicht die ewige Seligkeit verloren? Er kann kein Stückchen Papier wegwerfen,
es könnte vielleicht eine Banknote, ein Schatz sein. Hat er nicht den schönen,
sicheren Kinderglauben weggeworfen und gewähnt, er wäre wertlos, und er
war mehr als alles irdische Geld und Gut?
Wenn er aber nur wüßte, ob es wirklich einen Gott gibt, ob es wahr
ist, daß er alles sieht und weiß! Er ist ja ein Zweifler und weiß, daß das
Ding an sich etwas anderes ist als das Ding, das man zu sehen glaubt. Er
beginnt an der Identität aller Dinge zu zweifeln. Ist der Schlüssel auch wirk-
lich ein Schlüssel? Hat er nicht ein Recht, daran zu zweifeln, da alle Dinge
für ihn Symbole von viel höheren Werten sind? Die Tasche, der Kasten, das
versperrte Zimmer werden Sinnbilder seiner Seele. Er ist selbst ein Blatt,
das fahl zur Erde fällt und vergehen muß. Der Schlüssel öffnet die Pforten
des Paradieses. Alles wird Symbol und nichts ist in dem Spiele wirklich. Er
muß an der Echtheit der Dinge zweifeln, weil sie für ihn nie in ihrer nackten
Realität existieren. Er steht unter der Herrschaft der Symbolismen.
Er fürchtet, ein Wind könnte auch bei ruhiger Luft seine Schätze fort-
tragen. Was ist der Wind? Ein Symbol seiner seelischen Regungen. Er fürchtet,
-
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. 129
eine neue Regung der Seele könnte ihn um die Früchte seines mühevollen
Kampfes bringen. Wie die Tasche durch die herabfallenden Taschenklappen
geschützt ist, so möchte er sich gegen jedes Eindringen von außen schützen,
so möchte er seine geheime Religion behalten. Allen Schmutz möchte er aus
seiner Seele entfernen. Er besorgt das symbolisch durch ewiges Ausspucken.
Durch alle Zwangshandlungen zieht sich die Erinnerung an die Onanie,
an die einzige Zeit, in der er unbeschränkt Lust genossen hat. Seine Hosen-
tasche war immer zerrissen, so daß die Hand an den Penis fahren und ihn
halten und reizen konnte. Damals hat er verschiedene Gegenstände verloren,
weil die Taschen ja immer zerrissen waren. Jetzt aber kann er hineingreifen
und konstatieren, daß er keine Erektionen mehr hat. Da ist nichts!
Grenzenlos ist neben diesen religiösen Erscheinungen seine Hypo-
chondrie, seine Angst, infolge der Onanie früher zu sterben. Er hat sein Leben
durch das Laster verkürzt, er muß jetzt alles tun, um durch eine naturgemäße
Lebensweise sein Leben zu verlängern und seine erschütterte Gesundheit zu
stärken. Er zeigt jenen Gesundheitsfanatismus, den wir so oft bei Onanisten
finden. Er ist Vegetarier und Naturmensch in jeder Hinsicht. Er zittert, daß
eine halbe Stunde verlorenen Schlafes ihn ein halbes Jahr seines Lebens kosten
könnte. Er schiebt ja dadurch auch die letzte große Abrechnung vor Gott
hinaus, und jedes Jahr der Buße, das er länger lebt, macht seine Schuld
geringer. Er berechnet ängstlich jeden Tag, wie lange er spazieren gegangen
ist. Er trägt nur hygienische Wäsche und kann sich nicht genug tun in
Hygiene und naturgemäßer Lebensweise. Er trat für diese seine Anschauungen
auch öffentlich ein. Er konnte nicht genug gegen die Ärzte wettern, welche
keinen Sinn für die Gebote der Natur hatten. Dabei versündigte er sich gegen
das wichtigste Gebot der Natur: Triebe sind zur Betätigung vorhanden!
So hatte der Kampf gegen die Onanie seine ganze Existenz gefährdet
und seine reiche Intelligenz untergraben. Daß er sich eine Weltanschauung
konstruierte, welche für die Sexualität keinen Raum übrig ließ, ist ja selbst-
verständlich.
Interessant ist es, zu konstatieren, wie seine Heilung vor sich ging. Er
fing eines Tages wieder maßlos zu onanieren an. Es war, als wollte er das
Versäumte nachholen. Er trieb Mißbrauch mit der neuen sexuellen Freiheit.
Dann fing er an, Fleisch zu essen und bald hatte er eine Geliebte, so daß er die
Onanie ganz aufgeben konnte. Die Zwangshandlungen verschwanden, er
machte sein Examen und widmete sich einem bürgerlichen Berufe. Von seiner
ganzen Askese blieb nur die Abstinenz vom Alkohol.
Einmal versuchte er nach langer Zeit, auch wieder Alkohol zu sich zu
nehmen. Da zeigte es sich, daß er trotz heterosexuellen Verkehres an diesem
Tage onanieren mußte. Er merkte, daß der Alkohol in ihm Hemmungen frei
machte, welchen er nur bei Besitz aller bewußten Kräfte gewachsen war. Er
blieb dann dauernd Alkoholabstinent. Es war die einzige Abstinenz, 'die ihm
von allen seinen asketischen Abstinenzen geblieben war. Und diese Abstinenz
hielt er nicht ohne Berechtigung.
Unter den Alkoholabstinenten habe ich auffallend1 viele Onanisten
gefunden, welche nach harten Kämpfen die Onanie aufgegeben haben.
Sie gestanden mir meist, daß sie nach kleinen Alkoholdosen rückfällig
werden und daß die Abstinenz sie gegen diese Rückfälle schützt. Das
Stekel, Störungen dos Trieb- nnd AfMitlebHis. II. 2. Aufl. 9
130
Erster Teil. Die Onanie.
zeigt uns die tieferen Motive der Antialkoholbewegung, die sich meist
als hygienische Maßregel maskiert.
Für viele Neurologen ist das Verhalten des Menschen gegen Al-
kohol ein Symptom, das wichtige Rückschlüsse gestattet. Belastete kön-
nen sehr wenig Alkohol vertragen und werden leicht berauscht. Bei
solchen Menschen lösen schon kleine Alkoholdosen unheilvolle Trieb-
handlungen aus. An diesen Tatsachen ist nicht zu zweifeln. Ich wül nun
einige Beobachtungen mitteilen, welche beweisen, daß bei der Alkohol-
toleranz auch psychologische Motive neben der organischen Disposition
eine Rolle spielen können. Es verhält sich mit dem Rausch ähnlich wie
mit dem Schlaf. Wir schlafen nicht nur, weil wir müde
sind, sondern weil das Unbewußte herrsch en will.
So gibt es auch einen Willen zum Rausch. Dagegen könnte sprechen,
daß manche Neurotiker sich einen Rausch antrinken wollen und nicht
berauscht werden. Das beweist natürlich nichts als die Existenz eines
Nebenwillens. Dieser Nebenwille sträubt sich gegen den Rausch und
sagt: „Du darfst das Bewußtsein nicht verlieren! Denn sonst . . ."
Wir werden im Buche über den Fetischismus einen Mann kennen
lernen, der sich eine sehr komplizierte Paraphilie, eine wunderliche Art
von Fetischismus zurechtgezimmert hat. Es drängt ihn immer wieder,
seinen Trieben nachzugeben und irgend einem Fetisch nachzulaufen,
ihn anzusprechen usw. ... In seiner Verzweiflung beginnt er sich Mut
zuzutrinken. Allein nach einigen Gläsern tritt ein Ekel ein, der es ihm
unmöglich macht, weiter zu trinken. Als ob eine Stimme in seinem
Innern, eine Stimme, die er aber nicht vernimmt, sagen würde: „Jetzt
hast du genug getrunken, jetzt könnte es gefährlich werden!" Versucht
er weiter zu trinken, so muß er Sofort erbrechen. Wir sehen hier den
Ekel, wie in vielen anderen Fällen, als Schutzwall gegen die Triebe.
Er steht direkt im Dienste einer moralischen Tendenz, um da6 In-
dividuum gegen sich selbst zu schützen. Ein anderes Mal trinkt der
Kranke sehr viel und wird trotzdem nicht trunken. Das heißt, sein
Bewußtsein hält scharfe Wache und duldet keinen Rausch.
Das Gegenstück ist ein Mann, der seine Urolagnie immer unter
der Wirkung kleiner Alkoholdosen ausführt. Aber er verübt seine
Paraphilie auch ohne Alkohol und er kennt auch den Rausch ohne
Alkohol. Er leidet direkt an Rauschzuständen, ohne einen Tropfen
getrunken zu haben. Er will berauscht sein. Hier dient der Alkohol als
Entschuldigung. In der nachfolgenden Periode des moralischen
Katzenjammers entschuldigt er sich selbst durch den Umstand, daß er
getrunken habe. Am stärksten ist der Katzenjammer, wenn er nichts
getrunken und doch einen urolagnistischen Akt ausgeführt hat. Dann
fehlt dies Motiv der Entschuldigung und er macht sich die schwersten
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. io-i
Vorwürfe. Das Leitmotiv aller Neurotiker, auf das ich immer wieder
hinweise, „Lust ohne Schuld", dringt in dieser Handlung durch. Es gibt
ja verschiedene Variationen dieses Motivs, unter denen die Verringerung
der Schuld eine große Rolle spielt, Hier wird dem Alkohol diese Rolle
des Prügelknaben zugeteilt.
Die Abstinenzbew.egung entschleiert sich
von diesem Gesichtspunkt aus als eine soziale
Phobie. Die Menschen trinken nicht, weil sie
Angst vor sich und ihren Trieben haben. Sie schützen
sich dadurch, daß sie diese Erkenntnis auf die Allgemeinheit übertragen.
Der Neurotiker zeigt eben diese beiden bipolaren Bestrebungen: Die
Verschiebung auf das Kleine und Kleinste (Freud) und die Verschie-
bung auf das Große und Größte. So behandle ich einen Neurotiker, der
sich gern der Idee hingibt, die Vagina habe im Laufe der Jahrtausende
viel von ihrer Vollkommenheit verloren. Eine Vagina der Etruskerinnnen
und Ägypterinnen müsse ein Ideal gewesen sein, das wir jetzt nicht
finden können. Dieser Neurotiker zeigt auch eine ausgesprochene
Gerontophilie. Aber er verschiebt seinen peinlichen Konflikt auf das
Historische. Der von ihm verurteilte Gedanke an alte Frauen, an
dekrepide Greisinnen, der auch offen ins Bewußtsein brach, wurde zum
Gedanken an die Etrusker und Ägypter. Die ursprüngliche Formel „die
Vagina alter Frauen" und besonders „die Vagina einer alten Frau"
wurde vergrößert und als die „Vagina der Alten" wieder
bewußtseinsfähig gemacht. Das ist die Verschiebung auf das Größte.
Diese Verschiebung macht aus dem Vater die Gottheit und erhebt die
persönlichen Konflikte zu religiösen.
Die Abstinenzbewegung ist auch eine Verschiebung auf das Große
und Soziale, um die eigenen Komplexe leichter zu bewältigen.
Furtmüller hat in seiner gedankenreichen Arbeit „Ethik und Psycho-
analyse" (Verlag von Reinhardt in München, 1912) nachgewiesen, daß
der Neurotiker die Vorschriften und Hemmungen der Autoritäten zu
seinen Vorschriften gemacht. Er gehorcht nicht fremden Imperativen,
er gehorcht nur sich. Er ist sein eigener Herr. In diesem
Falle aber bemerken wir den verkehrten Mechanismus. Der Pro-
pagandist der Abstinenzbewegung überträgt seine Hemmungen, um
sie leichter zu ertragen, auf eine große Gemeinschaft, auf die All-
gemeinheit. So schützt er sich durch Flucht in die Öffentlichkeit,
durch öffentliche Bindung dadurch, daß er sich der allgemeinen
Kontrolle unterwirft. Ähnlich hat sich der bekannte Philosoph
Weininger gegen das Weib geschützt. Sein bekanntes Werk „Geschlecht
und Charakter" sollte eine Mauer zwischen ihm und dem Weibe auf-
richten und seine Keuschheit für alle Zeiten sichern. Als er einsah, daß
9*
.
132 Erster Teil. Die Onanie.
es nicht möglich war, nach den öffentlich preisgegebenen Grundsätzen
ruhmlos zu leben, zog er es vor, ruhmvoll zu sterben . . .
Soziale Bewegungen entstehen gewiß aus sozialen Ursachen. Daß
aber der einzelne sich durch individuelle Motive treiben läßt, erscheint
mir ziemlich sieh er. Ich kannte einen Arzt, der ein feuriger Apostel der
Abstinenzbewegung in sexueller Hinsicht war. Er gründete in der
Provinz eine solche Gesellschaft und erzielte mit einer großen Rede,
welche die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten durch Abstinenz
behandelte, einen kolossalen Erfolg. Dieser Arzt war psychisch impotent
und versagte bei der Dirne vollkommen. Was lag ihm also näher, als
die Dirne überhaupt aus dem Kreise der Möglichkeiten auszuschalten?
Er übertrug seinen Konflikt auf das Soziale. Das Nachspiel seiner Rede
ist sehr heiter. An dem Abend der Gründung des Vereines zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erzielte er mit seiner Rede
gegen die Prostitution einen so kolossalen Erfolg, daß er umjubelt und
stürmisch gefeiert wurde. Sein geheimer Gedanke war: Heute wärest
du vielleicht auch bei der Dirne potent. Er fühlte sich als ganzer Mann.
Gedacht — getan! Nach der Versammlung fuhr er in ein Lupanar. Ein
Gefühl der Minderwertigkeit hatte ihn impotent gemacht. Das
gesteigerte Selbstbewußtsein machte ihn wieder potent. Nach dem
gelungenen Koitus war seine Weltanschauung eine andere und er fand
den Verein überflüssig und lächerlich.
Ziehen wir die Nutzanwendung dieser Ausführungen für unser
Thema, für die Onanie. Es sind so viele Bücher über Onanie geschrieben
worden und es gibt so viele Forscher, die gegen die Onanie kämpfen.
Sind das nicht auch Sicherungen der eigenen Individualität, Ver-
schiebungen der Probleme vom Individuellen auf das Soziale? Ich führte
es schon wiederholt an dieser Stelle aus: alle Menschen onanieren. Jeder
hat einen mehr oder minder heftigen Kampf gehabt, um mit seiner
Onanie fertig zu werden. Er braucht Verstärkungen seiner Hemmungen,
er braucht Warnungstafeln und er möchte sich immer wieder zurufen:
Onaniere nicht, denn du verkürzest dein Leben. Deshalb sind die zahl-
losen Bücher über dieses Thema immer wieder nur subjektive Bücher
und nie objektive Feststellungen von Tatsachen. Auch ist zu bedenken,
daß sich der Einzelne — ob er will oder nicht— in den Dienst sozialer
Kräfte stellt. Die Entwicklung der Menschheit verlangt immer neue und
immer größere Opfer. Die Ansprüche ah den Menschen werden immer
größer, sein Anteil an der Lebenslust, an der göttlichen Freude immer
geringer. Das Leben darf kein Fest sein, es darf kein Tanz von lust-
betonten Stunden sein. Das Leben ist köstlich, wenn es Mühe und Arbeit
gewesen.
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. i a o
So sehen wir, daß auch die Ärzte von der asketischen Tendenz
ganz durchsetzt werden und daß sie dem Menschen das Recht streitig
machen, über seine Lust selbstherrlich zu verfügen. Die Ärzte benehmen
sich dabei genau wie die Eltern ihren Kindern gegenüber. Da alle
Menschen onanieren, haben auch alle Ärzte einmal onaniert.
Aber auch alle Eltern waren in der Jugend Onanisten. Wie kommt
es, daß sie so furchtbar gegen die Onanie wüten? Ich kenne Mütter, die
es als die wichtigste Aufgabe der Erziehung betrachten, das Kind vor
der Onanie zu bewahren. Wer hat in seiner Ordinationsstunde nicht die
verzweifelten Väter gesehen, die irgend einen jungen Knaben bringen,
der onaniert, und den sie mit Gewalt von seinem Laster heilen wollen!
Da werden Medikamente zur Beseitigung der „aufgeregten Nerven"
eingegeben, die Kinder werden strenge bewacht, es werden ihnen die .
abenteuerlichsten und lächerlichsten Bandagen angelegt der Vater ist
verzweifelt, die Mutter sieht das Kind schon als Blödling in einer
Irrenanstalt. Andere Väter lassen sich jeden Morgen von ihrem Knaben
beichten, ob er onaniert hat, und halten dem rückfälligen Sünder eine
Strafpredigt oder prügeln ihn, so daß sie ihn noch zum Flagellanten
machen.
Es ist dies die Rache der Väter dafür, daß ihnen die Lust der
Onanie geraubt wurde. Sie greifen jetzt in das Leben der Kinder, wie
man in das ihre gegriffen hatte. Die merkwürdige Amnesie der Eltern
für ihre eigene Jugend tritt besonders in bezug auf die Sexualität in den
lächerlichsten Formen auf. Die Eltern gebärden sich so, als wären sie
selbst alle Catones in der Jugend gewesen, und wissen für die Kinder
gewöhnlich kein anderes glorreicheres Beispiel als die eigene Person.
Das Kind soll schaudernd den Abgrund ermessen, der sich zwischen
seiner eigenen Lasterhaftigkeit und der Engelsreinheit der Erzieher
dehnt. Muß es nicht zur Erkenntnis kommen, es sei ganz verworfen und
lasterhaft wie der arme Jüngling, dessen Zwangsvorstellungen uns
soeben beschäftigt haben?
Es ist eine psychologisch sehr bemerkenswerte Tatsache, daß alle
Eltern den Kindern das Recht der freien Sexualität bestreiten wollen, sie
darum vielleicht beneiden, sich jedenfalls das Recht der sexuellen Bevor-
mundung bis in das späteste Alter zu bewahren versuchen.
Alle Eltern haben die Tendenz, die sexuelle Betätigung ihrer
Kinder möglichst lange hinauszuschieben. Mütter zittern schon beim
Anblick ihrer Säuglinge, wenn sie bedenken, daß sie als Erwachsene
„Fremde" lieben und sexuellen Gefahren ausgesetzt sein werden; ich
habe unzählige Mütter und Väter bei ähnlichen Gedankengängen ertappt.
Ich kannte einen auffallend schönen Knaben. Ich war gewöhnt, daß alle
Menschen seiner Mutter sagten: „Auf den werden Sie gut aufpassen
134
Erster Teil. Die Onanie.
müssen! Dem werden alle Weiber nachlaufen!" Immer war die Aufgabe
der sexuellen Behütung betont. Eltern sind aber nicht die Hüter der
Sexualität ihrer Kinder, es sei denn, daß sie sie von den Verführungs-
künsten der Erzieher und Erzieherinnen, der Ammen und Dienstboten
bewahren müssen. Sie haben zur richtigen Zeit für die richtige Auf-
klärung zu sorgen. (Doch davon noch später in den letzten Kapiteln,
die von der Prophylaxe handeln. Ich will hier nur das Thema so weit
besprechen, als es in diesem Zusammenhange nötig ist.) Eltern vergessen
ihre eigene Jugend und haben die Tendenz, die sexuelle Betätigung
ihrer Kinder möglichst lange hinauszuschieben. Ich kenne eine Mutter,
die mir sagte, als ich ihr riet, den 24;jährigen (reichen) Sohn heiraten
zu lassen: „Ich fürchte, er wird beim Geschlechtsakt zusammenfallen.
1 Ich kann mir nicht denken, daß mein Kind als Mann wie andere Männer
eine Frau umarmt."
Nun hat dieser Ausspruch auch eine tiefere psychologische
Bedeutung. Die Eltern wollen ihrem Kinde nicht das Recht des freien
Lusterwerbes lassen. Sie wollen bestimmen, wann das Kind eine Freude
empfinden soll und wann nicht. So war es in der frühen Kindheit und so
soll es bleiben. Alle Freude und alle Lust sollen von Gnaden der Eltern
kommen. Das gleiche Recht maßt sich dann der Staat an. Alle Gesetze
dienen dazu, den freien Lusterwerb aufzuheben. Die Eltern fühlen sich
so lange der Gott ihrer Kinder, so lange sie über Lust und Unlust
entscheiden können. Dann sinken sie in das Nichts ihrer menschlichen
Existenz zurück. Sie beherrschen das Kind, wenn es sein muß, mit einer
Lüge aber sie geben die Herrschaft über die Sexualität nicht
aus der Hand. Sie benehmen sich wie der alttestamentarische Gott der
Bibel. Auch er droht dem Adam: „Aber von dem ■ Baume der
Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welchen
Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben!"
Aber Adam ließ sich nicht um die Erkenntnis von Gut und Böse
betrügen und aß von dem Baume der Erkenntnis. Da überkam dem
Lenker der Welten ein Bangen an und er sprach: „Siehe, Adam ist
worden als unser einer und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er
nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baume des Lebens
und esse und lebe ewiglich." Und nur deshalb trieb ihn der Cherub mit
flammendem Schwert aus dem Eden. Ist diese Schöpfungsgeschichte
nicht die Geschichte eines jeden Menschen? Benehmen sich die Eltern
anders? Sie verwirren die Begriffe des Kindes über Gut und Böse und
drohen mit den Schrecken des Todes. Sie jagen das Kind aus dem
Paradiese, in dem es sich die Genüsse holte, wann es ihrer bedurfte.
Sie hindern es daran, göttlich zu werden und vom Baume des Lebens
zu essen.
Zwangshandlungen eines Onanisten usvr. 135
Onanismus und Atheismus hängen innig zusammen. Jeder Onanist
ist der Autotheos, denn er anerkennt keinen Herrn über seine Lust.
Die Eltern wollen aber die Götter der Kinder bleiben. Sie haben nicht
das Bestreben, sich ihnen als Menschen zu zeigen. Deshalb werden die
eigenen Streiche der Jugend vergessen und dem sündigen Kinde immer
wieder vorgehalten, was für ein unerreichtes Muster Seine Heiligkeit der
Vater und Ihre Heiligkeit die Mutter gewesen. Die Tendenz zur
Vergöttlichung der Eltern tritt besonders im Mutterkultus deutlich
zutage. Mir erscheint es als das Schönste, Menschen mit allen ihren
menschlichen Fehlern zu lieben und über ihren Vorzügen ihre Fehler
zu vergessen.
Ich habe von der Tendenz der Eltern gesprochen, ihren Kindern
die Libido zuzuteilen wie einen Bissen Brot. Man sieht das immer
wieder: Mütter sind nicht eifersüchtig, wenn die Söhne die Frauen ihrer
Wahl heimführen. Väter wollen auch den Schwiegersohn wählen und
es gibt nicht wenige, welche ihrem Sohne die Braut bestimmen, und ich
kenne sogar solche, die so geschmacklos waren, ihre Söhne in ein Bordell
zu führen. Immer wieder zeigt sich die Tendenz, den Kindern der Gott
zu sein, der ihnen alle Lust zuteilt. Deshalb wird auch der Kampf
gegen die Onanie mit besonderer Erbitterung geführt. Die Onanie
befreit den Menschen von den sozialen Verpflichtungen der Dankbarkeit.
Der Onanist verdankt sich alle Lust. Wir sollen aber alle Lust höheren
Mächten verdanken. So kommt es, daß die Onanie das Zeichen der
Trotzeinstellung gegen die Eltern wird. Kinder, um deren Onanie sich
die Eltern nicht kümmern, hören selbst zu onanieren auf. Die
stärkste Fixierung erhält der Trieb zur Onanie,
wenn das Kind fühlt, daß es seinen Eltern damit
zuwider handelt und nun aus neurotischeim Trotz
weiter onaniert. Ich kenne viele solcher Kinder, die immer
onaniert haben, wenn sie die Eltern bestrafen wollten.
Ich habe eingangs meiner Ausführungen über die Onanie betont,
daß die Eltern sich bestreben, im Kinde jene Reinheit zu erreichen, die
ihnen selbst versagt blieb. So kommt es zur Vergöttlichung des Kindes.
Denn alles Streben der Menschheit geht dahin hinaus, sich der Gottheit
zu nähern, gottähnlich zu werden. Das beweisen mir die zahllosen Fälle
von Christus- und Marienneurosen, die ich zu analysieren Gelegenheit
hatte. Im Kinde wollen die Eltern die Gottheit erreichen. Nun merkt
das Kind diese Absicht und will ein Mensch werden. Je reiner die Eltern
das Kind erhalten wollen, desto größer werden die Tendenzen des
Kindes, sich dem Tierischen zu nähern. Du sollst dich bis zur äußersten
Grenze der Menschlichkeit entwickeln! . . . lautet der Imperativ der
Kultur. Der Sinn deines Daseins ist eben die Entwicklung, sagen die
136
Erster Teil. Die Onanie.
Theologen. Dein Geschlechtstrieb hat nur einen Sinn, wenn er der Fort-
pflanzung dient. Die Lust ist nur eine zufällige Prämie dieser Pflicht.
Die Liebe ist kein Vergnügen, sondern eine Aufgabe. Nicht ohne Grund
spricht unsere Zeit von ..ehelichen Pflichten". Pflicht ist Zwang,
Zweckmäßigkeit eine Form der Bevormundung.
Es liegt in der Onanie auch die Revolte des Menschen gegen das
Teleologische. Zweck und Sinn des Lebens liegen im Leben selbst.
Wenn Menschen fragen: Wozu lebe ich denn? — dann sind sie sexuell
nicht befriedigt. AVer glücklich liebt und befriedigt ist, fragt nicht nach
dem Sinn des Lebens. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist durch
die Tatsache des Glückes erledigt. Unglückliche Menschen finden das
Sinnlose ihrer Existenz und flüchten aus dem Leben. Diese Revolte
gegen das Zweckmäßige der Liebe treibt aber das Individuum auch zur
Homosexualität. Hier ist nicht zwischen Trieb und Lust der Imperativ
der Fortpflanzung eingeschoben. Die Liebe hat keinen anderen Sinn
als den des Lusterwerbes.
Wenn wir aber den Kampf der Menschheit gegen die Onanie
überblicken, so merken wir eine ungeheure Menge von Opfern. Unwill-
kürlich fragen wir uns nach dem tieferen Sinn dieses Kampfes. Denn die
Bewegung, welche die Onanie unterdrückt, liegt auf der Linie der
Fortentwicklung des Menschengeschlechtes.
So kämpft auch das Individuum diese Kämpfe, weil es von sozialen
Kräften dazu gedrängt wird. Alle Liebe, die sich einst auf das eigene
Ich wandte, die sich mit dem Egoismus deckte, wandelt sich im Laufe
der Jahrtausende und wird sozial. Erst liebte der Mensch nur sich
selbst, er war Narzisst und Autoerotist (im eigentlichen Sinne des
Wortes!). Diese Kräfte sind noch heute in ihm vorhanden. Dann
begann er die Liebe auf die nächste Umgebung auszustrahlen. Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst! Und geht der Fortschritt nicht in eine
weitere Richtung: Liebe deine Nächsten mehr als dich selbst!?
Die Entwicklung der Menschheit läßt sich auf die Grundformel
zurückführen : Der Mensch lernt immer mehr lieben
und immer mehr geben. Wenn wir auf versunkene Zeiten
zurückblicken, ersteht vor unserem geistigen Auge der Urmensch, ein
halbes Tier, egoistisch, nur für sich bedacht, alles hassend, was sich
den eigenen Wünschen in den Weg stellt. Hunderte Millionen von
Jahren mußten verstreichen, ehe der Mensch das Lieben lernte. Die
Schule und das sichtbare Zeichen dieser Liebe war das „Opfer". Die
ersten Götter wurden gefürchtet. Ehrfurcht ist das Rudiment der
einst grenzenlosen primitiven Furcht vor der Gottheit. Aus Angst
vor den strafenden, rächenden Gewalten wurden die ersten Opfer ge-
bracht. Ungern trennte sich der Urmensch von den Gaben, die der
4
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. 137
Altar verzehrte. Noch kannte der Mensch das höchste Opfer nicht,
das Opfer aus Freude am Geben. Selbst die Griechen, vor deren Kultur
sich Jahrtausende gebeugt haben, opfern nur aus Angst und aus Be-
rechnung. In den Stunden der Not malmen die Helden des Homer die
Götter an ihre Opfer. Zeus wird erinnert, wie viele Hekatomben ihm
zu Ehren zum Himmel geraucht haben, Pallas Athene wird als un-
dankbar gescholten, wenn sie den Helden im Stiche läßt, der ihr fett©'
Lendenstücke geopfert hat. Das griechische Opfer ist ein Geschäft
auf Gegenseitigkeit. Wehe dem Schiffer, der das Meer durchsegelt und
Poseidon vergessen hat! Eifersüchtig und kleinlich wartet der grie-
chische Gott auf sein Opfer, unversöhnlich und rachsüchtig verfolgt er
die Helden, die an ihn vergessen haben.
Doch schon keimt die allmächtige Saat der Liebe einer neuen
Zeit entgegen. Der Grieche liebt seine Heimat mit allen Fasern seines
Herzens und opfert sein Leben, wenn es gilt, sie zu verteidigen. Das
Vaterland ist die Gesamtheit, ist das Soziale im Gegensatz zum In- •
dividuellen, ist die Liebe über das Leben hinaus. Man stirbt für die
andern, auch wenn man für sich gelebt hat. Aber noch steht hinter
diesem Opfer die Aussicht auf Belohnungen im Jenseits. In allen
Religionen steht das Opfer im Dienste des Jenseits. Allah gibt seinen
Gläubigen, die für ihn sterben, alle irdischen Wonnen vervierzehnfacht,
sich immer erneuernd; Wotan sammelt die gefallenen, Helden in Wal-
halla zu ewigen Kämpfen und ewigem Ruhme; Rhadamantis wägt die
Seelen, die über den Styx kommen, und scheidet die Helden von den
Feiglingen. Auch Christus, der die höchsten Opfer fordert, verspricht
als Lohn die ewige Seligkeit, die tiefe Ewigkeit der höchsten Lust. . . .
Jede Religion fordert Opfer des Trieblebens für geistige Werte;
sie tauscht Realitäten gegen irreale Werte. Besonders Hunger und
Liebe sind das Substrat der religiösen Beschränkung. Fasten und
sexuelle Beschränkung sind Inhalt der Gebote, sind Strafe, sind Ein-
satz, um das Irdische überwindend zum Himmlischen zu gelangen.
Wir haben aus zahlreichen Krankengeschichten sehen können,
wie dieser Handel um die ewige Lust vor sich geht. Die Onanie wird
als Opfer für eine höhere Lust aufgegeben. Die Lust der Askese kann
die Lust der sexuellen Betätigung überwinden.
Ist es aber immer nur ein Handel um die Lust der Ewigkeit?
Ißt 68 HÄ Wlmehr ein Fortentwickeln einer fernen Zukunft, einem
Ziele zu, das uns schier unerreichbar dünkt? Einer Zeit der Opfer
aus Freude am Opfer, einer Zeit des seligen Sichselbstverschenkens
aus der Wonne des Gebens heraus?
Die Onanie repräsentiert die Ursexualität des Menschen. In sie
münden alle unterdrückten und asozialen Strömungen der Sexualität,
138
Erster Teil. Die Onanie.
in ihr tobt sich der sexuelle Urmensch aus, der sich seine Lust raubte,
wo und wie er wollte, ohne auf den anderen Rücksicht zu nehmen.
Seine Lust war sein einzigstes und wichtigstes Gebot. Heute hat der
Mensch nur e i n e n Körper, der ihm willenlos ausgeliefert ist, seinen
eigenen. An dem kann er sich noch die Lust rauben wie in der
Zeit des Urmenschen.
•
Es ist klar, daß das Bedürfnis nach der Onanie wachsen muß,,
je höher die kulturellen ethischen Forderungen werden, je verfeinerter
unser Liebesleben wird. Das Verlangen nach Onanie steigt, je schwerer
es wird, die Libido an die Umgebung abzuführen. Wir können uns
eine Zeit vorstellen, in der die Onanie eine sehr geringe Rolle gespielt
hat. Der Urmensch kannte keine Schranke und holte sich die allerotische
Lust, die auf seinem Wege lag. Mit der Entwicklung der ethischen
Imperative „Du darfst nicht!" mußte die Libido autoerotisch gesucht
v. erden.
Ich glaube also, daß die Onanie mit der fort-
schreitenden Kultur immer zunimmt. Damit muß
auch die Reaktion gegen diese Art des Lust-
erwerbes zunehmen. Der Kampf gegen die Onanie
muß wachsen, weil das Bedürfnis nach ihr größer
wird. Jede Kraft trägt in sich die Reaktion der entgegengesetzten.
Druck erzeugt Gegendruck. Der Kampf gegen die Onanie ist zugleich
ein Kampf gegen die Vergangenheit der Menschheit, ein Kampf gegen
die kulturwidrigen Urinstinkte. Immer wieder wird von dem Individuum
das „Opfer der Onanie" verlangt werden.
Wir sehen die Berechtigung dieses Kampfes ein — wie eigentlich
alles, was ist, seine Berechtigung hat und soziale Strömungen Kom-
promisse aus vielen Notwendigkeiten darstellen. Trotzdem müssen wir
als Ärzte jedem einzelnen seine sexuelle Freiheit und die Möglichkeit
der Genesung wiedergeben. Wir merken, daß die Menschheit im Kampfe
gegen ihre Vergangenheit ein übriges getan hat, daß die notwendige
Drosselung der wilden Urkraft Sexualität zu stark vorgenommen wurde.
Ich fühle mich auch nur als einen Teil der großen sozialen Welle,
welche jetzt ungestüm die größere sexuelle Freiheit fordert. Aber ich
täusche mich nicht und glaube nicht, daß jetzt die Ära eines un-
gehinderten, freien Sexuallebens anbricht. Die Entwicklung der Mensch-
heit geht in eine andere Richtung und verlangt immer neue Opfer
des Trieblebens. Wir Ärzte sehen blutenden Herzens die Opfer dieser
furchtbaren Kämpfe. und müssen trachten, die Wunden der Gefallenen
zu verbinden. Wir sind nur Samariter. Mag unsere Tätigkeit noch so
viele Individuen retten — der Kampf wird deshalb nicht aufhören.
Zwangshandlungen eines Onanisten usw. 139
Für so viel verlorene Lust, wie sie das Aufgeben der autoero-
tischen Triebe verlangt, mußte Ersatz geschaffen werden. Ohne Libido
geht der Mensch zugrunde. Die Energien der Sexualität sublimieren
sich und wandeln sich um. Im Genüsse des Schönen, der Natur, der
Kunst, in der Freude des Gebens, in der sozialen Betätigung strömen
dem Menschen neue Quellen der Lust. Alle diese Kräfte der Askese
sind nicht verloren gegangen. Die Menschheit wertet sie für ihre Zwecke
um. Alles Große und Erhabene wurzelt in den Tiefen der Sexualität.
Das ist eine alte Weisheit:
OüSeva yap evö-ovciacriAÖv aveu -r5j; spwTtx^;
STCCTvotac cuaßaivs'. Ytveiftai.
Geheimnisvoll wirken unbekannte Kräfte in uns und treiben unß
zu fernen Zielen, die wir nur dunkel ahnen können. Wie verworren
schlingen sich die Fäden, die Vergangenheit und Zukunft verbindend,
ans mit dem Schicksal der Welt verknüpfen! Wie hilflos treiben wir
im Strome des Lebens, getragen, wenn wir zu tragen glauben,
geführt, wenn wir zu führen wähnen, ans Land geworfen, wenn
wir uns brüsten, den sichern Strand gesucht zu haben!
ZWEITER TEIL
Die Homosexualität.
Was aus Liebe getan wird, geschieht
immer jenseits von Gut und Böse.
Nietzsche.
Homosexualität.
i.
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität.
„Leben — ist das nicht gerade ein
Andersseimvollen, als diese Natur ist?"
Nietzsche.
Daß es bedeutende Ärzte gibt, die allen Ernstes die Onanie als
Ursache der Homosexualität ansehen, würde man kaum für möglich
halten. Man könnte die Onanie ebenso als die Ursache der Sexualität
bezeichnen. Wir haben gesehen, daß Onanie die Folge unbefriedigter
homosexueller Triebregungen sein kann. Sie ist unter Umständen der
Ersatz eines homosexuellen Aktes, ebenso wie sie al6 Notonanie der
Ersatz eines heterosexuellen Aktes sein kann. Sie ist der Eratz der
momentan adäquaten Form der Sexualbefriedigung. Ich sage der
„momentanen Form", weil auch das Sexualziel nicht immer das gleiche
bleibt und die sexuellen Leitlinien, um den trefflichen Ausdruck von
Hans Blüher1) zu gebrauchen, häufig verlassen werden. Die falsche
Auffassung, die Onanie erzeuge die Homosexualität, wurde besonders
von Krafft-Ebing vertreten, dessen große Autorität in Fragen der
Psychopathia sexualis noch heute nicht erschüttert ist. Seine Ver-
dienste sind gewiß groß und es ist anzuerkennen, daß er sich schließ-
lich zu der Ansicht von Hirschfeld bekannt hat, daß die Homosexualität
angeboren ist, daß es erworbene und angeborene Homosexualität gibt.2)
Aber in der letzten (14.) Auflage, die 1912 erschienen ist, läßt sein
Herausgeber Alfred Fuchs den Passus über Onanie an der Spitze des
Kapitels stehen und unterstützt und unterstreicht sogar die Aus-
füllungen seines großen Lehrers.
Diese Ansicht von Krafft-Ebing ist keineswegs „veraltet". Sie
wird auch von Stier (Zur Ätiologie des konträren Sexualgefühls.
Monatsschr. f. Psych, u. Neur., 1914, Bd. XXXII) vertreten und an
*) Hans Blüher: Studien über den perversen Charakter. Zentralbl. f. Psychoana-
lyse. Oktober 1913.
2) Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität. Jahrb. f. sexuelle Zwischen-
stufen, Bd. III. Leipzig.
144 Zweitor Teil. Die Homosexualität.
gleicher Stelle von Hirschfeld und Burchard (zu Stiers Artikel usw.)
sehr energisch bekämpft. „Nicht verständlich ist es — sagen die
Autoren — wie Stier der Onanie einen spezifischen Einfluß im Sinne
der Homosexualität zuschreiben kann. Bei ihrer — nach der Ansicht
der meisten Sachverständigen — ubiquitären Verbreitung könnte
man sie mit demselben Recht für jede Art sexueller Entwicklung ver-
antwortlich machen." Nach Stier wirkt eine früh einsetzende
und lange Zeit fortgesetzte (besonders mutuelle) Onanie schädigend,
„weil sie das auch dem unverdorbenen Erwachsenen noch anhaftende
Schamgefühl gegenüber den eigenen Genitalien und der Beschäftigung
damit beseitigt". Auch Fleischmann (Beiträge zur Lehre der konträren
Sexualempfindung, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., 7. Bd., 1911)
findet unter 60 Invertierten 33 exzessive Onanisten und schließt, „daß
die Onanie gleich dem Alkohol einen Einfluß auf die Entwicklung der
Perversion haben muß". — Viele seiner Patienten setzen die Onanie
in kausalen Zusammenhang zum Beginn der Homosexualität. Wir wissen
ja, daß alle Schuld von der Onanie übernommen wird. Aber Fleisch-
mann sieht darin einen Beweis. „Der Einfluß" — führt er aus — „der
Onanie auf die Entwicklung der sexuellen Perversion liegt darin, daß
sie mit zunehmender Willensschwäche die geschlechtliche Erregbarkeit
steigert bei immer mehr zunehmender Ablenkbarkeit des Geschlechts-
triebes vom normalen Sexualziel und Sexualobjekt."
Auch Kraepelin (M. m. W., 1918, Nr. 5) sieht einen Zusammen-
hang zwischen Onanie und Homosexualität. Er führt aus:
„Den Anstoß zur Entwicklung der Homosexualität gibt einmal
. die Verschiebung des Geschlechtszieles auf das eigene Geschlecht durch
die Onanie bei geschlechtlicher Frühreife mit späterer psychischer Im-
potenz, ferner die Anknüpfung frühzeitiger lebhafter geschlechtlicher
Regungen an gleichgeschlechtliche Beziehungen, endlich die Verführung.
Begünstigend wirkt der Einfluß des Alkohols. Die Bekämpfung der
geschlechtlichen Verirrungen wird in erster Linie der Onanie, nament-
lich auch der mutuellen, entgegenzuarbeiten haben. Das geschieht durch
, erzieherische Maßregeln, Abhärtung, Stählung des Willens durch Leibes-
übungen, Zurückdämmen vorzeitiger geschlechtlicher Anregungen, Ver-
meidung der Verführung, rechtzeitige und vorsichtige Aufklärung. Der
Eindämmung der Homosexualität dient dann neben Förderung kamerad-
schaftlicher Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern und Begünsti-
gung der Frühehe vor allem die Fernhaltung von jugendlichen Personen
und die Ausrottung der männlichen Prostitution."
Wenn auch die Ausführungen von Kraepelin das psychologische
Moment in der Genese der Homosexualität betonen, so ist doch hervor-
zuheben, daß die Onanie mit der Entwicklung der Homosexualität
nichts zu tun hat. Der Onanist hat sieh der Onanie ergeben, weil ihm
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 145
der Weg zum Weibe versperrt ist. Die Meinung von Kraepelin, daß die
Onanie diesen Weg versperrt, ist falsch! Zugegeben, daß die mutuelle
Onanie zu Homosexualität führen kann (mutuelle Onanie ist eben keine
Onanie mein-, sondern ein homosexueller Akt!), wie will Kraepelin
diese gelegentlichen Ursachen ausschalten? Etwa durch Zwangsmaß-
regeln gegen die männliche Prostitution? Das würde nur zu einer
Verstärkung der geheimen Prostitution und zur Vermehrung des Er-
pressertums führen.
Wir müssen endlich einmal die Psychologie der Homosexualität
kennen lernen und dann zu einer entsprechenden Prophylaxe kommen.
Mein Buch soll zeigen, daß mit der deskriptiven Methode der
Sexualforschung gebrochen werden muß. Die erste Erzählung des
Kranken ist nur die Mitteilung der manifesten Bewußtseinsinhalte
seiner Paraphilie. Es handelt sich aber um die latenten Inhalte, es
handelt sich um die unbewußten und nebenbewußten Kräfte. Die de-
skriptive Form der Sexualforschung muß, der Strömung unserer Zeit
Rechnung tragend, von der psychologischen abgelöst werden. Auf
keinem zweiten Gebiete kann die Analyse so glänzend und überzeugend
ihre Überlegenheit beweisen.
Wie stand es vor der Analyse? Krafft-Ebing sah die Homo-
sexualität ursprünglich als Folge einer erblichen Belastung an, eine
Hypothese, welche die Erfahrung aller Beobachter nicht bestätigen
konnte. Es gibt nämlich — und das macht das Verwirrende dieser
Frage aus — verschiedene Momente, welche das Manifestwerden der
allen Menschen latenten Homosexualität begünstigen. Darunter ist
zweifellos auch das Milieu zu betrachten, das durch „nervöse" und
„psychopathische" Eltern geschaffen wird. Doch davon später. Diese
angeblich hereditäre Belastung soll sieh bei -den Homosexuellen schon
dadurch zeigen, daß ihr Geschlechtstrieb sehr früh erwacht und daß
sie schon in den Kinderjahren zu onanieren anfangen. Wir wissen, daß
die Homosexuellen diese Eigenschaft mit allen Menschen, besonders
aber mit den Neurotikern, teilen. Ein starkes Triebleben ist nicht die
Folge, sondern die Ursache der Neurose. Nach Krafft-Ebing
jedoch ist die Kinderonanie die Ursache der später ausbrechenden
Homosexualität und Pseudo-Homosexualität. „Nichts ist geeigneter —
sagt er — die Quelle edler, idealer Gefühlsregungen, die aus einer
normal sich entwickelnden geschlechtlichen Empfindung ganz von selbst
sich erheben, so zu trüben, ja nach Umständen ganz versiegen zu
machen, als in frühem Alter getriebene Onanie.1) Sie treibt von der
*) Diese Behauptung ist vollkommen unrichtig. Ich habe nie so viele und eo
ausgesprochene Idealisten gefunden als unter den Onanisten. Gerade bei jungen Künst-
Stekol, Störungen dos Trio))- und Affi-ktlebons. II. 2. Aufl. 10
146 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sich entfalten sollenden Knospe Duft und Schönheit und hinterläßt nur
den grobsinnlichen tierischen Trieb nach geschlechtlicher Befriedigung.
Gelangt ein dergestalt verdorbenes Individuum in das zeugungsfähige
Alter, so fehlt ihm der ästhetische, ideale, reine und unbefangene Zug,
der zum anderen Geschlechte hindrängt. Damit ist die Glut der sinn-
lichen Empfindungen erlöscht und die Neigung zum anderen Geschlecht
eine bedeutend abgeschwächte. Dieser Defekt beeinflußt die Moral, die
Ethik, den Charakter, die Phantasie, die Stimmung, das Gefühls- 'und
Triebleben des jugendlichen Masturbanten, sowohl des männlichen als
des weiblichen, in ungünstiger Weise und läßt nach Umständen das
Verlangen nach dem anderen Geschlecht auf den Nullpunkt sinken, so
daß Masturbation jeglicher naturgemäßen Befriedigung vorgezogen
wird."
Man stelle sich die verderbliche Wirkung dieser Zeilen auf den
Jungling vor, der masturbiert. Vollends wenn er liest, daß die Homo-
sexualität am besten dadurch behandelt wird, daß man. die Mastur-
bation bekämpft (S. 336) .
Der große Forscher verwechselt Ursache und Wirkung Die
Masturbanten vermeiden den Weg zum Weibe nicht deshalb weil sie
masturbiert haben. Sondern sie ma s t u r b i er en, weil ihnen
der Weg zum Weibe versperrt ist. Die Masturbation ist
vielen Menschen die einzige mögliche Form der Sexualbefriedigung, die
sie sozial nicht ächtet. Für Menschen, welche eine stark betonte Homo-
sexualität haben, bleibt oft kein anderer Weg frei, besonders wenn
der Weg zum Weibe infolge bestimmter, später zu besprechender
neurotischer Einstellungen verrammelt ist.
Die Onanie ist nie die Ursache der Homosexualität! Sie tritt
nicht, wie Krafft-Ebing glaubt, bei Homosexuellen sehr früh auf, sondern
bei allen Menschen — und zwar ohne Ausnahme. Die Homosexuellen
haben die Erinnerung an die Kinderonanie nicht verloren, weil sie
andere, viel peinlichere Erlebnisse verdrängt und aus dem Gedächtnisse
vertrieben haben. Doch davon später. Viel wichtiger erscheint uns
jetzt die Beantwortung der Frage: Wie kommt die Homosexualität
zustande? Ist sie angeboren oder anerzogen? Ist sie ein unabwend-
bares Fatum oder nur die Folge bestimmter Familienkonstellationen?
Ist sie die Folge einer erblichen Belastung? Während Krafft-Ebing
lern, Dichtern und Musikern habe ich sehr häufig einen unbezwinglichen Hang zur
Onanie konstatiert, was ja mit der ausgesprochenen Bisexualität aller Künstler zu-
sammenhängt, auf die besonders Flicss aufmerksam gemacht hat. Sie sind oft so zart
und empfindsam, daß sie in dem sexuellen Akt nur eine tierische Roheit erblicken und
eich mit ihrer Sexualität vor aller Welt verstecken. Unter den Onanisten trifft man
die Wahrheitsapostel, die Übermoralischen, die Ethiker und die Phantasten
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Plomosexualität. 147
ursprünglich dieser Meinung war und noch die These aufstellen konnte:
„Es ist überhaupt zu bezweifeln, daß bei normal veranlagten Menschen
zu irgend einer Zeit ihres Lebens eine Person des eigenen Geschlechtes
sinnlich eine Attraktion ausüben könne", hat er später seine Ansicht
gründlich geändert und sich zur Ansicht bekannt, daß es eine an-
geborene Homosexualität gebe, freilich nur bei erblich Belasteten.
Er stellte folgende Thesen auf:
„1. Das Geschlechtsleben derartig organisierter Individuen macht
sich in der Regel abnorm früh und in der Folge abnorm stark geltend.
Nicht selten bietet es noch anderweitige perverse Erscheinungen, außer
der an und für sich durch die eigenartige Geschlechtsempfindung be-
dingten abnormen sexuellen Richtung.
2. Die geistige Liebe dieser Menschen ist vielfach eine schwärme-
risch exaltierte, wie auch ihr Geschlechtstrieb sich mit besonderer, selbst
zwingender Stärke in ihrem Bewußtsein geltend macht.
3. Neben dem funktionellen Degenerationszeichen der konträren
Sexualempfindung finden sich oft anderweitige funktionelle, vielfach auch
anatomische Entartungszeichen.
4. Es bestehen Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide Zu-
stände usw.). Fast immer ist temporär oder dauernd Neurasthenie nach-
weisbar. Diese ist in der Regel eine konstitutionelle, in angeborenen
Bedingungen wurzelnde. Geweckt und unterhalten wird sie durch
Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz."1)
Das klingt freilich schon viel milder und es werden die idealen
Regungen der Homosexuellen zugegeben, obgleich sie ja — wie wir
wissen — alle onaniert haben. Krafft-Ebing weiß eben nicht, daß alle
1) Vgl. dagegen die Ausführung von Block: „Daß die konträre Sexualempfindung
an und für sich nicht als psychische Entartung oder gar Krankheit betrachtet
werden kann, geht unter anderem daraus hervor, daß sie sogar mit geistiger
Superiorit, ät vereinbar ißt. — Beweis dafür Männer bei allen Nationen,
deren konträre Sexualität festgesetzt ist und die gleichwohl als Schriftsteller, Dichter,
Künstler, Feldherren, Staatsmänner der Stolz ihre6 Volkes sind. Ein weiterer Beweis
dafür, daß die konträre Sexualempfindung nicht Krankheit, aber auch nicht
lasterhafte Hingabe an das Unsittliche sein kann, liegt darin, daß
6io alle die edlen Regungen des Herzens, welche die heterosexuale Liebe hervorzubringen
vermag, ebenfalls entwickeln kann — in Gestalt von Edelmut, Aufopferung, Menschen-
liebe, Kunstsinn, eigene schöpferische Tätigkeit usw., aber auch die Leidenschaften und
Fehler der Liebe (Eifersucht, Selbstmord, Mord, unglückliche Liebe mit ihrem deletären
Einfluß auf Seele und Körper U6w.)." (Bloch, 1. c. S. 543.) — Im Gegensatz zu Block
schildert Fried in seiner Broschüre „Das männliche TJrningtum in seiner sozialen Be-
deutung" den Homosexuellen als Schädling und Verbrecher und schließt seine \us-
führungen mit dem Ausrufe: „ crasez l'infame!". Hingegen stellt wieder Blüher in
seinem vielbeachteten Buche „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft"
(Eugen Dicderichs, Jena 1917 und 1919) die These auf, die ganze Sozialisierung der
Menschheit lasse sich auf die mann-männliche Liebe zurückführen.
10*
148 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Künstler Neurotiker sind und daß die Neurose einen wichtigen Zu-
sammenhang mit dem Problem des Schaffens aufweist. Er kennt also
auch eine echte und falsche Homosexualität, eine Bisexualität (psy-
chischen Hermaphroditismus) und andere Formen, wie sie Hirschfeld
aufgestellt.1)
Krafft-Ebing merkt, daß ein Zusammenhang zwischen Homo-
sexualität und Neurose besteht. Da er aber noch auf dem Boden der
Belastungstheorie steht, muß er schließlich zugeben, daß Homo-
sexualität auch bei nicht Belasteten vorkommt und somit keine Krank-
heit sein kann.
Ganz anderer Ansicht ist Moll, dem wir das erste große, zu-
sammenfassende Werk über Homosexualität verdanken: „Wenn wir
den Geschlechtstrieb nicht als ein Mittel zum Vergnügen, sondern zur
Fortpflanzung betrachten, so müssen wir die ausschließliche Homo-
sexualität in das Gebiet der Pathologie verweisen." (Die konträre
Sexualempfindung, Berlin 1899, 3. Auflage.) Dieses Argument ist wohl
nicht stichhältig. Denn einen Fortpflanzungstrieb als
solchen gibt es nicht, nur einen Geschlechtstrieb.
*) Freilich wäre es Pflicht des neuen Herausgebers dieses vielgelesenen Werkes
gewesen, auf die letzten Ansichten von Krafft-Ebing zurückzukommen. In seinen „Neuen
Studien auf dem Gebiete der Homosexualität" sagt er: „Der Erkenntnis gegenüber,
daß die konträre Sexualität eine angeborene Anomalie, eine Störung in der Evolution
des Geschlechtslebens monosexualer und der Artung der Geschlechtsdrüsen kongruenter
seelisch-körperlicher Entwicklung darstellt, läßt sich der Begriff der „Krank-
heit" nicht festhalten. Viel eher kann man hier von einer Mißbildung sprechen
und die Anomalie mit körperlichen Mißbildungen, z. B. anatomischen Abweichungen vom
Bildungstypus in Parallele stellen. Damit ist aber der Annahme einer gleichzeitigen
Psychopathie nichts präjudiziert, denn Personen, welche derartige anatomische und
auch funktionelle Abweichungen vom Typus (Stigmata degenerationis) darbieten,
können zeitlebens physisch gesund bleiben, ja selbst über-
wertig sein." „Immerhin wird ein so schwerwiegendes Ausderartschlagen wie die
verkehrte Geschlechtsempfindung eine viel größere Bedeutung für die Psyche haben, als
so manche anatomische oder funktionelle Entartungserscheinung. So erklärt es sich
wohl, daß die Störung in der Entwicklung eines normalen Geschlechtslebens öfters der
Entstehung einer harmonischen psychischen Persönlichkeit abträglich werden kann.
Nicht selten stößt man bei Konträrsexualen auf neuro-
pathisehe und psychopathische Veranlagungen, so z. B. auf kon-
stitutionelle Neurasthenien und Hysterien, auf mildere Formen periodischer Psychose,
auf Entwicklungshemmungen psychischer Energien (Intelligenz, moralischer Sinn), unter
welchen besonders die ethische Minderwertigkeit, namentlich wenn zugleich Hyper-
sexualität vorhanden ist, zu den schwersten Verwirrungen des Geschlechtstriebes führen
kann. Immerhin kann man nachweisen, daß, relativ genommen, die Heterosexualen viel
größere Zyniker zu sein pflegen als die Homosexualen. Auch weitere Entartungs-
erscheinungen auf sexuellem Gebiete in Gestalt von Sadismus, Masochismus, Fetischismus
finden 6ich ungleich häufiger bei den ersteren . . ."
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 149
Die Wissenschaft ist nicht die Lehre der Zweckmäßigkeiten, sondern
die Konstatienmg der Tatsachen. Die Wissenschaft darf und kann
sich nicht in den Dienst der Teleologie stellen. Allerdings scheint Moll
geneigt zu sein, die Homosexualität als Neurose aufzufassen: In
neuerer Zeit sei immer mehr und mehr die Neigung aufgetreten, ein
Grenzgebiet zwischen Geisteskrankheit und Geistesgesundheit auf-
zustellen, „und in dieses Gebiet hat man viele Fälle von psychischen
Entartungen — ich erinnere z. B. an manche Zwangsvorstellungen usw.
— gerechnet. Ich glaube, daß wir gut tun werden, auch die konträre
Sexualempfindung zu diesen Zuständen zu rechnen." S. 435 1. c.) Er
verweist auf Westphal1), der die Homosexualität mit der Moral in-
sanity vergleicht.
Moll gegenüber ist zu erwähnen, daß die meisten modernen
Forscher betonen, sie hätten viele Homosexuelle untersucht, die ganz
normal sind oder sich zumindestens als normal bezeichnen. Sehr
treffend sagen Havelock Ellis und Albert Moll2) in ihrem letzten ge-
meinsamen Werke: „Näcke hat wiederholt behauptet, daß Homosexuelle
vollständig gesund seien und abgesehen von ihrer spezifischen Ab-
weichung in jeder Beziehung normal sein können. Es ist dies stets
mein Standpunkt gewesen, obwohl ich im Gegensatz zu Näcke annehme,
daß die Homosexualität sehr häufig in enger Be-
ziehung zu nervösen Zuständen geringen Grade6
steht. Wir können Hirschfeld zustimmen, daß sich Heredität bei
nicht mehr als 25% Homosexuellen findet und daß, wenn auch eine
neuropathische Grundlage bei der Homosexualität besteht, der de-
generative Faktor sehr gering ist." Diese Autoren finden die Hypo-
these, daß jeder Mensch eine Mischung aus weiblichen und männlichen
Elementen darstelle, kühn und zu hypothetisch. „Aber es ist sicherlich
gerechtfertigt, wenn wir die Homosexualität als eine angeborene
Anomalie ansehen oder, um genauer zu sprechen, als eine Anomalie,
die auf angeborenen Bedingungen beruht, die, wenn sie pathologisch
ist, es nur in Virchows Sinne so weit ist, daß die Pathologie nicht die
Wissenschaft von Krankheiten, sondern die von Anomalien ist, so daß
ein Homosexueller ebenso gesund sein kann wie ein Farbenblinder.
Eine angeborene Homosexualität steht also auf derselben Stufe wie
eine biologische Variation; es ist eine Variation, die vielleicht durch
unvollständige sexuelle Differenzierung veranlaßt ist, nicht aber einen
*) Die konträre Sexualempfindung. Symptom eines neuropatliischen (psycho-
pathischen) Zustandes. Arch. f. Psych, u. Neur., 2. Bd., S. 106. Berlin 1870.
2) Handbuch der Sexualwissenschaften. (Die Punktionsstörungen des Sexuallebens.)
Leipzig, Verlag F. C. W.Vogel, 1912. S. 652
] 50 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
erkennbaren Zusammenhang mit irgend einem Krankheitszustand des
Individuums hat."
Dies möchte ich nun bezweifeln. Welche Beweise haben wir, daß
die Homosexuellen vollkommen gesund sind, wenn wir wirklich einen
Kanon der Gesundheit annehmen wollten, der nicht existiert? Wir
haben nur ihre Aussagen. Sie bezeichnen sich alle als gesund. Wio
oft hören wir das von schweren Psychopathen! Es fehlt ihnen das
Krankheitsgefühl. Das scheint aber speziell für die Homosexuellen
charakteristisch zu sein. Sie wollen ihren Zustand als einen normalen
anerkannt wissen. Sie wollen gesund sein, wünschen in sehr seltenen
Fällen eine Änderung und kommen meist erst zum Arzt, wenn sie mit
dem Strafgesetz in Konflikt geraten sind und ihnen Gefahr droht.
Sehr treffend betonen die beiden Autoren: „Was die Männer anbelangt,
so stellen sich Homosexuelle selbst gern als normal hin und suchen
ihren Standpunkt zu rechtfertigen. Diejenigen, die gegen ihren Trieb
ankämpfen, dauernd ihr Verhalten mißbilligen oder auch nur Zweifel
fühlen, sind eine kleine Minorität, weniger als 20%."
Freilich, die große Zahl homosexueller Ärzte hat immer wieder,
ihre Beobachter zu überzeugen gesucht, daß sie normal seien und sich
sonst in gar nichts von anderen Menschen unterschieden. Alle un-
befangenen Beobachter mußten aber die Fülle neurotischer Züge zu-
geben, die der Homosexuelle zeigt. Ich bin sine ira et studio an die
Prüfung dieser Frage herangetreten und habe zahllose Homosexuelle
gesehen und viele eingehend kennen gelernt. Noch nie habe ich
einen Homosexuellen gefunden, der kein Neuro-
tiker gewesen wäre. Er muß es sein, wie ich später ausführen
werde. Er muß es sein ebenso wie der Heterosexuelle, der ein starkes
Stück Homosexualität zu bewältigen und zu verdrängen hat. So betonen
auch Havelock Ellis und Moll gleich Krajft-Ebing eine Neigung zu
Neurasthenie. Doch wer ist heutzutage nicht neurasthenisch? hört
man oft sagen. So kommt es, daß sich vorurteilslose Forscher wie
Iwan Bloch bekehrt haben und eine angeborene Homosexualität an-
nehmen, die nicht als Krankheit aufzufassen ist. Bloch vertrat lange
Zeit einen anderen Standpunkt, wurde aber durch Hirschfeld und durch
den Verkehr mit Homosexuellen eines Besseren belehrt. Er glaubt jetzt
an die angeborene Homosexualität und ließ sich besonders durch die
Erzählungen der Homosexuellen dazu bestimmen. Wir werden später
beweisen, wie trügerisch diese Erzählungen sind. Allerdings konnte
einem so scharfen Beobachter wie Bloch die auffallende Zahl nervöser
Homosexueller nicht entgehen. Er glaubt aber, sie wären nervös, „weil
die Homosexualität auf sie wie ein psychisches Trauma wirken müsso".
„Nach meinen Untersuchungen und Beobachtungen ist - das Verhält-
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 151
nis von Gesundheit und Krankheit bei Homo-
sexuellen ursprünglich das gleiche wie bei Hetero-
sexuellen und wird im Laufe des Lebens infolge der sozialen und in-
dividuellen Isolierung der Homosexuellen, die wie ein psychisches
Trauma wirkt, zugunsten der Krankheit etwas verschoben; hier
handelt es sich meist um erworbene nervöse Leiden und Beschwerden,
um die Ausbildung eines eigenartigen Typus „homosexueller
Neurasthenie", die bei oberflächlichen Beobachtern sehr wohl
eine Verwechslung des „post hoc" mit dem „propter hoc" hervorrufen
kann." Es ist sicher, daß die Gefahren homosexueller Betätigung die
Entwicklung von Angstzuständen begünstigen. Man sieht aber diese
nervösen Zustände auch in den Fällen, in denen gar keine Veranlassung
zur Angstentwicklung vorhanden ist, und die Angstzustände erweisen
»ich oft gar nicht durch die Homosexualität bedingt.
Für die Homosexualität als normale Erscheinung tritt mit der
ganzen Wucht seiner Erfahrung Magnus Hirschfeld ein. Zahllos sind
seine Arbeiten, die dieses Gebiet betreffen. Nun liegt aber sein großes
Buch über dieses Thema vor: „Die Homosexualität des Mannes und
des Weibes." (Berlin, SW. 61, Verlag Luis Marcus.) Kein Forscher,
der sich mit diesem Thema beschäftigt, kann an diesem gründlichen
und erschöpfenden Werke vorübergehen. Fassen wir die Ansichten
von Hirschfeld zusammen, so können wir definieren: Es gibt eine
echte angeborene Homosexualität, die wir nicht
als Krankheit bezeichnen dürfen. Diese Homosexualität
ist nicht mit der Bisexualität und nicht mit der Pseudohomosexualität
zu verwechseln. Auch Hirschfeld hat eine Wandlung in seinen An-
sichten durchgemacht. Er faßte die Homosexualität als sexuelle
Zwischenstufe zwischen Mann und Weib auf und prägte den bekannten
Ausdruck: Das dritte Geschlecht. Alle Menschen sind ja bekanntlich
bisexuell. Hirschfeld suchte bei Homosexuellen nach den bekannten
körperlichen Zeichen der Bisexualität. Bei den Männern fand er Busen-
andeutung, weibliches Becken, eine zarte Haut usw., bei den Frauen
Andeutung des Bartwuchses, männliche, energische Züge u. dgl. m.
So konnte er in seinem Buche „Der urnische Mensch" noch behaupten:
„Einen Homosexuellen, der sich körperlich und geistig nicht vom Voll-
mann unterscheidet, habe ich unter 1500 nicht gesehen und glaube
daher an sein Vorkommen nicht eher, bis ich ihn persönlich kennen
gelernt habe." In seinem neuesten Werke jedoch heißt es: „Der
androgyne Männer- und der gynandrische Frauentypus sind keineswegs
immer an Homosexualität geknüpft. Es gibt gewisse Typen, die man
als eunuchoide bezeichnet hat, sie machen, ohne verschnitten zu sein,
den Eindruck von Kastraten, besitzen weibliche Körperformen, hohe
152
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Stimme, bartlose Gesichter. Meist besteht Azoospermie, vielfach
Anorchie. Urnen entsprechen Frauen, die körperlich viel Männliches
haben. Diese auffallend weiblichen Männer und männlichen Weiber
werden oft für homosexuell gehalten, sind aber nicht selten völlig
heterosexuell insofern, als sie Ergänzungen ihrer In-
dividualität unter Typen finden, die dem anderen
Ge schlechte angehören. Diese sie fesselnden
Typen sind allerdings auch androgyn."1)
Hirschfeld erkennt in dieser Wahl des androgynen Typus nicht
die Kraft der latenten Homosexualität. Ein Homosexueller, der
nicht manifest homosexuell fühlt, ist für ihn kein Homosexueller.
Grundlage der Diagnose ist nicht- mehr die Körperbildung mit Ein-
schlag des entgegengesetzten Geschlechtes. Maßgebend ist Hirschfeld
nur das Fühlen des Menschen. Fühlt er homosexuell (und
zwar von Kindheit an), so ist er ein Homosexueller.
Die eigenen Worte von Hirschfeld lauten: „Der springende Punkt
bleibt also nach wie vor bei der Diagnose der Homosexualität der
exakte Nachweis der konträren Sexualempfindung selbst; wesent-
lich unterstützt wird diese Diagnose durch das negative Verhalten
gegenüber dem anderen Geschlechte, sowie durch die alterosexuellon
Einschläge, die aber beide für sich allein genommen eine
sichere Diagnose nicht gestatten." Da auch Bloch gesteht,
daß es zahlreiche virile Homosexuelle von durchaus männlichem
Körperbau gibt, so sehen wir, daß uns die organische
Diagnose der Homosexualität ganz im Stiche läßt.
Auch Hans Blüher, ein guter Kenner der Homosexualität, kennt den
reinsten homosexuellen Typus, den er den „Männerhelden" nennt, der
in Charakter und Habitus durchaus männlich bleibt und sich dadurch
vom zweiten Typus, dem „invertierten Weibling", unterscheidet. Der
) Ich finde bei Bloch eine sehr interessante Bemerkung, die weiteste Verbreitung
verdient: „Eine letzte und nicht unwichtige Erscheinungsform der Pseudo-Homosexualität
ist das Z wittert um oder der Hermaphroditismus. Es ist merkwürdig,
daß die Wissenschaft erst in den letzten Jahren eich eingehender mit den herma-
phroditischen Zuständen beschäftigt hat, die bisher, wie auch Blumenreich hervorhebt,
in ihrer sozialen Bedeutung und ihrer Häufigkeit weit unterschätzt wurden. Es ist
das große Verdienst von Neugebauer und Magnus Hirschfeld, die allgemeine Aufmerk-
samkeit auf diese merkwürdigen sexuellen Zwischenstufen gelenkt und ihre eminent
praktische Bedeutung nachgewiesen zu haben, von der niemand vorher eine Ahnung
hatte, wie sich aus dem auffälligen Umstände ergibt, daß das neue
Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich die zivil-
rechtlichen Bestimmungen des alten preußischen Landrechts
über die Zwitter gänzlich beseitigt hat, mit der Begründung,
es gebe keine Personen unbestimmten oder unbestimmbarem
Goschlechtes!"
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 153
dritte Typus wäre der latent Homosexuelle. (Die drei Grundformen
der Homosexualität. Eine sexuologische Studie. Leipzig. Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, Band XIII.)
Wir müssen das Unglaubliche dieser Diagnosenstellung wieder-
holen und unterstreichen. Für die Diagnose der Homosexua-
lität gibt es eigentlich kein objektives Zeichen!
Maßgebend ist, daß der Homosexuelle betont, daß
er immer homosexuell empfunden hat und dem
anderen Geschlechte gegenüber indifferent ist.
Nur der Analytiker kann . die Unhaltbarkeit dieser Diagnostik
in ihrer ganzen Schwäche erkennen. Wir sehen immer wieder Menschen,
die behaupten, sich sein* genau zu kennen; sie hätten sich auf das
gewissenhafteste durchforscht und nach einigen Wochen, oft schon
nach einigen Tagen (Beispiele wird auch dieses Buch in Hülle und
Fülle bringen) muß der Analysierte gestehen, daß er sich nicht
gekannt hat, daß er sich nicht kennen wollte. In sexuellen
Dingen lügen alle Menschen und belügen sich in
erster Linie selbst. Sie spielen alle Vogelstraußpolitik.
Alle Neurotiker fälschen ihre Krankheits-
geschichte oder retuschieren sie zum mindesten.
Sie vergessen einfach die Tatsachen, welche ihnen in ihr System nicht
passen. Denken wir auch an den Ausspruch von Havelock Ellis, daß
die Homosexuellen sich so gerne als normal hinstellen. Ebenso wird
die Kindheitsgeschichte — bewußt oder unbewußt — gefälscht und
es wird eine Lebensgeschichte konstruiert, aus der alle heterosexuellen
Biegungen verschwunden sind.
Die Psychanalyse hat nachgewiesen, daß alle Homosexuellen —
ohne Ausnahme — in der Jugend heterosexuelle Neigungen gehabt
haben. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme. Es gibt keine mono-
sexuellen Menschen! Die heterosexuelle Periode geht oft weit über
die Pubertät hinaus. Alle Menschen sind bisexuell. Es gibt aber
Menschen, die aus bestimmten Motiven und unter dem Eindruck be-
stimmter Verhältnisse entweder die homosexuelle oder die hetero-
sexuelle Komponente unterdrücken müssen und dann scheinbar . als
Monosexuelle gelten. Auch der „Männerheld Blühers" und der „echte
Homosexuelle Hirschfelds" sind nur scheinbar monosexuell. Ein Blick
in die von allen Autoren veröffentlichten Lebensbeichten der Homo-
sexuellen bestätigt schon diese Tatsachen. Betont doch Hirschleid
selbst, es sei ein Verdienst der Psychanalyse, daß sie die flüchtige
heterosexuelle Triebrichtung des Homosexuellen entdeckt habe. Damit
fällt das wichtigste Moment für die Diagnose der Homosexualität in
sich zusammen.
154
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Der Trieb des Homosexuellen ist ursprüng-
lich gar nicht ausschließlich auf das gleiche Ge-
schlecht gerichtet. Auch der Homosexuelle ist
ursprünglich bisexuell. Er verdrängt aber seine Hetero-
sexualität, wie der Heterosexuelle seine Homosexualität verdrängen
muß: Blüher, der eine Pathogenese der Homosexualität für den Typus
des Männerhelden nicht annehmen will, meint, man müßte dann mit
demselben Rechte sagen: Es gibt auch eine Pathogenese der Hetero-
sexualität.
Das ist auch die Wahrheit. Jede Monosexualität ist nicht das
Normale, nicht das Natürliche. Die Natur hat uns bisexuell
gemacht und verlangt auch die bisexuelle Be-
tätigung. Der rein Heterosexuelle ist immer im gewissen Sinne ein
Neurotiker, das heißt, schon die Verdrängung der homosexuellen
Komponente verursacht seine Disposition zur Neurose, ja ist schon
ein Stück Neurose, das ja keinem Normalmenschen fehlt. Die Psycho-
logie der Paranoia, deren Erforschung wir dem Genie Freuds ver-
danken, zeigt uns die Extreme dieser Verdrängungsarbeit nach der
einen Seite, wie sie der Homosexuelle nach der anderen Seite zeigt.
Es gibt auch keinen Homosexuellen, der nicht neurotisch wäre,
und zwar neurotisch durch Verdrängung der Heterosexualität. Diese
Verdrängung ist ein rein psychischer Vorgang und hat mit Degeneration
nichts zu tun. Die Homosexualität ist kein Produkt der Degeneration
im gewöhnlichen Sinne. Sie ist eine Neurose und zeigt die Ätiologie
der Neurose, die wir noch zu besprechen haben. Ich komme wieder auf
Hirschfeld zurück. Er sagt über den Zusammenhang von Neurose und
Homosexualität :
„1. Ausgesprochene körperliche oder geistige Entartungszeichen
sind bei homosexuellen Männern und Frauen verhältnismäßig selten,
jedenfalls finden sie 'sich im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Homo-
sexuellen nicht häufiger als unter Heterosexuellen beiderlei Geschlechtes.
2. Dagegen findet sich häufig und, wie es scheint, nicht nur als
eine Folge der Homosexualität eine stärkere Labilität des
Nervensystems vor (oft mit dem periodischen Charakter endo-
gener Stimmungsschwankungen).
3. In den Familien der Homosexuellen findet sich oft eine größere
Anzahl nervöser, sowie vom normalen Sexualtypus abweichender In-
dividuen." (Iiirschfeld 1. c. S. 338.)
Auch Hirschfeld betont also die Labilität des Nervensystems bei
den Homosexuellen und weist auf die Häufung sexuell abnormer Typen
in den Familien der Homosexuellen hin. Das ist eine unbedingt richtige
Beobachtung. Ihre Erklärung kann sie in zwei Momenten finden: 1. In
dor Heredität. 2. Im gemeinsamen Milieu. Wie diese zwei Faktoren
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 155
zusammenwirken, das kann man nur in jedem einzelnen Falle unter-
scheiden.
Ich kann aus meinen Erfahrungen bestätigen, daß sich unter den
Eltern der Homosexuellen immer abnorme Charaktere finden. Bei den
männlichen Homosexuellen findet man auffallend häufig melancholische,
zu Depression geneigte oder schwer hysterische Mütter. In allen Ab-
stufungen, von dem launischen, herrschsüchtigen Weibe bis
zu der einsamen, schweigsamen Dulderin, die an Melancholie erkrankt
und zeitweise im Irrenhause interniert werden muß. Ebenso häufig ist
bei Urlinden ein pathologischer Vater, ein Haustyrann, Trinker, Mor-
phinist, Wüstling, Frauenheld, Epileptiker und Hysteriker. Wir werden
später zu entscheiden haben, ob die Einflüsse dieser Eltern auch auf
psychischem Wege sich bemerkbar machen können und wie die Kinder
sich zu diesen Eltern stellen. Die genaue Durchsicht der fremden
Krankengeschichten bestätigt diese Tatsache.
Doch wie stellen sich die verschiedenen Autoren das Ent-
stehen der Homosexualität vor ? Wir haben schon erwähnt, daß
Hirschfeld und alle Forscher, die sich von ihm haben überzeugen lassen,
die Theorie der angeborenen Homosexualität verteidigen. Diese Va-
riation ist dann ein Fatum. Das Gesetz der Planeten, nach dem der
Mensch sein Leben angetreten . . .
Bloch aber findet den Zustand trotz aller Erklärungen von Hirsch-
feld noch immer rätselhaft und kommt auf die chemische Theorie von
Hirschfeld (Andrin und Gynäcin) zurück:
„1. Das sogenannte „undifferenzierte" Stadium des Geschlechts-
triebes (Max Dessoir) kann oft ausbleiben, dann, wenn der Geschlechts-
trieb schon v 0 r der Pubertät bei Heterosexuellen oder Homosexuellen
eindeutig auf ein bestimmtes Geschlecht sich richtet. Gerade bei der
Homosexualität zeigt sich oft schon vor der Pubertät die klare und
eindeutige, bestimmte Richtung des Triebes auf das gleiche Geschlecht.
2. Eine kritische Theorie der Homosexualität muß auch die
extremen Fälle erklären, vor allem also die männliche
Sexualität bei völliger Virilität.
3. Die Geschlechtsteile und Keimdrüsen können
nicht das Bestimmende sein, da -bei typisch normalen männ-
lichen Genitalien und Testikeln Homosexualität auftritt; auch das
Gehirn an sich kann bei der echten Homosexualität nicht da's Be-
stimmende sein, da trotz stärkster absichtlicher und
unabsichtlicher heterosexueller Einflüsse auf
Denken und Phantasie doch die Homosexualität
nicht auszurotten ist und sich weiter entwickelt.
4. Da diese Homosexualität als Neigung (nicht als Geschlechts-
trieb) oft schon lange vor der Pubertät und vor der eigentlichen Tätig-
keit der Keimdrüsen auftritt, so liegt die Vermutung nahe, daß irgend
welche zwar mit der „Sexualität", aber nicht direkt mit den Keim-
156 Zweitor Teil. Die Homosexualität.
driisen in Zusammenhang stehende physiologische Erscheinung bei
Homosexuellen eine Veränderung erfährt, die eine Änderung der
Triebrichtung zur Folge hat.
5. Es läge am nächsten, hier an chemische Einflüsse zu
denken, an Änderungen im Chemismus der Sexualspannung, die sicher
eine große Unabhängigkeit von den Keimdrüsen besitzt, da sie
bei Kastraten und Eunuchen erhalten bleiben kann. Das Wesen dieses
Sexualchemismus ist noch völlig dunkel." (Bloch, 1. c. S. 589.)
Ferner später: „Meines Erachtens kann der anatomische Wider-
spruch, die naturwissenschaftliche Ungeheuerlichkeit einer weiblichen
bzw. unmännlich gearteten Psyche in einem typisch männlichen Körper
oder einer weiblich-unmännlichen Sexualpsyche bei normal gebauten und
normal funktionierenden männlichen Genitalien nur auf diese Weise ge-
lost werden, wenn man diesen interkurrenten dritten Faktor zu Hilfe
nimmt. Diesen kann -man aber sehr wohl aus irgend welchen bereits
embryonalen Störungen des Sexualchemismus ableiten. Das
wurde auch erklären, weshalb die Homosexualität so oft in völlig ge-
sunden Familien auftritt als eine vereinzelte Erscheinung, die nichts mit
der Vererbung oder gar. Degeneration zu tun hat. Wenn v. Römer im
(aegenteil die Homosexualität als eine „Regenerations"erscheinung be-
zeichnet, so liegen auch hierfür keine genügend sicheren Anhaltspunkte
vor Hier beginnt das Rätsel der Homosexualität. Wenigstens für
mich ist es ein solches. Meine Theorie soll nur die Tatsache und d°n
wahrscheinlichen physiologischen Zusammenhang der Homosexualität
besser und vor allem naturwissenschaftlich richtiger erklären als die
früheren Theorien. Über die letzte Ursache des relativ
Hufigen Vorkommens der Homosexualität als einer
originären Erscheinung vermag auch sie nichts
auszusage n."
„Ich vermesse mich nicht, in die letzten Gründe alles Seins und
Geschehens eindringen zu können. Es bleibt hier ein Rätsel
z u 1 ö s an. Aber vom Standpunkte der Kultur und der Fortpflanzung
ist die Homosexualität eine sinn- und zwecklose dysteleologische Er"
scheinung, wie manches andere „Naturprodukt", z. B. der menschliche
tfünddarm. Ich habe bereits in einem früheren Kapitel ausgeführt, daß
che Kultur eine immer schärfere sexuelle Differenzierung herbeigeführt
hat, daß die Antithese „Mann" und „Weib" eine immer deutlichere
geworden ist. Die Scheidung der Geschlechter ist mehr eine Kultur-
als eine Naturtatsache. Alle sexuelle Indifferenz, alle geschlechtlichen
„Übergänge sind primitiven Charakters, mit Recht läßt Eduard
o. Mayer die Homosexualität in der Urzeit des Menschengeschlechtes
viel weiter verbreitet sein als heute, ja als der heterosexuellen Liebe
ebenbürtig auftreten. Die Kultur hat mittelst der Vererbung, An-
passung und Differenzierung die gleichgeschlechtlichen Triebe immer
mehr eingeschränkt." (Bloch, 1. c. S. 590.)
Zu dieser neuen Theorie der Homosexualität habe ich zu be-
merken: Es ist nicht rieht ig, '.daß sich bei den Homo-
sexuellen vor der Pubertät die eindeutige klare
bestimmte Richtung auf das eigene Geschlecht
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 157
und nur auf das eigene Geschlecht zeigt. Richtig ist,
daß die Homosexuellen, wie alle Menschen, vor der Pubertät eine bi-
sexuelle Periode (das undifferenzierte Stadium von Max Dessoir) auf-
zuweisen haben. Sie haben aber die heterosexuellen Erlebnisse ver-
gessen. Richtig ist, daß eine kritische Theorie der Homosexualität
auch die extremen .Fälle erklären muß, gerade auch die männliche
Homosexualität bei völliger Virilität und die weibliche Homosexualität
bei vollkommener Weiblichkeit. Diese wird aber durch die Theorie
Hir schfelds und Blochs nicht erklärt. Ebenso richtig ist der dritte
Punkt. Am Gehirn und an den Keimdrüsen kann es nicht liegen. Die
chemischen Einflüsse sind möglich, aber schwer zu beweisen. Auf die
Forschungen Steinachs werde ich noch zu sprechen kommen. Sie be-
weisen, was ich nie geleugnet habe: Die Bedeutung der inneren Se-
kretion. Aber gerade Männer mit normaler männlicher "„Pubertäts-
drüse" fühlen weiblich und umgekehrt.
Nun liegt das Verwirrende des Problems offenbar darin, daß man
versuchte, alle Fälle von Homosexualität nach einem einzigen Schema
zu erklären. Es gibt aber offenbar verschiedene Wege, die zur Homo-
sexualität führen und diese müssen wir alle zu erforschen trachten.
Daß die Keimdrüsen bei der Homosexualität eine Rolle spielen, scheint
mir sehr wahrscheinlich. Wir können aber diese Zusammenhänge nur
vermuten und nicht beweisen. Was ich jedoch an meinem Material be-
weisen kann, das sind die seelischen Zusammenhänge.
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß nicht nur die Physis die
Seele beeinflußt, sondern daß auch das Gegenteil vorkommt: Die
Psyche bildet den Körper nach ihren Einstellungen. Wir merken, daß
der Künstler eine andere Physiognomie erhält als der Handwerker, der
Arzt eine andere als der Advokat. Das Seelische modelliert auch die
Physis. Ein Mann, der sich als Weib fühlt und ein Weib sein möchte,
wird unwillkürlich den Gang der Frauen annehmen und alles Weib-
liche imitieren. Aber im Laufe der Jahre wird er auch weiblich aus-
sehen. Vielleicht — und das ist meine Überzeugung — geht diese
Umformung auf dem Wege der Keimdrüsen vor sich. Das können wir
uns vorstellen, es geht aber wieder in das Gebiet der Hypothese, die
ich vermeiden möchte.
Was alle Autoren vollkommen vernachlässigen, ist die gewaltige
Kraft psychischer Faktoren. Es mag dem Anhänger mechanistischer
Theorien unwahrscheinlich klingen. Aber die plastische, den Organismus
umbildende Kraft der Wünsche wird leider von allen Ärzten unter-
schätzt. Der Wunsch, ein Mann zu sein, kann Knaben männlich machen;
der Wunsch, ein Kind zu bleiben, verhindert die weitere Entwicklung
zum Erwachsenen; der Wunsch, ein Weib zu sein, macht weiblich.
158 > Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Wer die Forschungen Pawlows über den „psychischen Zündsaft" kennt,
muß auch annehmen, daß bestimmte Wünsche irgend einen Einfluß
auf die Keimdrüsen ausüben können. Sicher sind sie imstande, das
Wesen, das Schaffen, die Bewegungen, die Züge des Individuums zu
beeinflussen.
Wenn ein Knabe sich wie ein Mädchen benimmt, so muß es nicht
eine weibliche Anlage sein. Es kann schon die Identifizierung mit der
Mutter oder mit der Schwester bedeuten.
Wie deutlich spricht eine Mitteilung, die ich dem Buche Hirsch-
felds entnehme!
Eine homosexuelle Dame schreibt: „Auf dem Lande geboren, wo
mein Vater einen großen Landbesitz hatte, bin ich bis zu meinem
14. Jahre dort erzogen. Ich war die Jüngste von meinen Geschwistern
Mein ältester Bruder hatte etwas Mädchenhaftes und war mehr der
Liebling meiner Mutter und wenig nach dem Sinn des Vaters, dessen
Liebling wieder meine älteste Schwester war. Ich bin das ganze
Ebenbild meines Vaters in allen Charaktereigenschaften so-
wohl, als in meiner sinnlichen Veranlagung. In späteren Jahren hat
mein Vater oft gesagt: „Bei dir und Ludwig (unserem ältesten Bruder)
hat die Natur sich geirrt. Du hättest ein Junge werden müssen und
Ludwig ein Mädchen." Dabei bin ich gewiß, daß mein Vater von Homo-
sexualität keine Ahnung hatte und daß auch mein Bruder nicht homo-
sexuell war. Bei mir zeigte sich meine Veranlagung schon als Kind,
denn mein sehnsüchtiger Wunsch war es, ein Junge zu
sein. Ich zog mir als zwei- oder dreijähriges Kind die Westen meines
Vaters an, setzte mir dessen Mütze auf, nahm einen Spazierstock und
stolzierte so auf dem Hofe herum." (Hirschfeld, 1. c. S. 43.)
Wir sehen ja, daß dieses Mädchen sich einfach mit ihrem Vater
identifizierte! Sie wollte eben ein Mann wie der Vater sein!
Ebenso kann man die Beobachtungen von Ulrichs1) auffassen:
„Der Urning zeigt als Kind ganz unverkennbaren Hang zu mädchen-
haften Beschäftigungen, zum Umgang mit Mädchen, zum Spielen mit
Madchenspielzeug, namentlich mit Puppen. Wie sehr beklagt ein solches
Kind, daß es- nicht Knabensitte ist, mit Puppen zu spielen, daß der
Weihnachtsmann nicht auch ihm Puppen bringt und daß man ihm mit
den Puppen seiner Schwester zu spielen verbietet! Solches Kind zeigt
Wohlgefallen am Nähen, Stricken, Häkeln, an den weich und sanft
anzufühlenden Kleidern der Mädchen, die es am liebsten selbst tragen
möchte, an farbigen seidenen Bändern und Tüchern, von denen es sich
gern einzelne Stücke aufbewahrt. Den Umgang mit Knaben, deren Be-
schäftigungen, deren Spiele scheut es. Das Steckenpferd ist ihm gleich-
gültig. Am Soldatenspielen, dem liebsten Zeitvertreib der Knaben, hat
') Ulrichs, Inclusa, S.27ff.
,
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. 159
es keinen Gefallen. Es flieht der Knaben Raufereien, deren Schneeball-
werfen. Am Ballspiel findet es wohl Gefallen, aber nur mit Mädchen.
Auch wirft es den Ball mit der zarten und schwächlichen Armstellung
der Mädchen, nicht mit dem kräftigen Armgriff des Knaben. Jeder,
welcher einen Urning als Knaben beobachten konnte und mit einiger
Aufmerksamkeit wirklich beobachtete, wird dies bestätigen oder doch
ganz ähnliches. Sollte das alles Verstellung sein? Die geschilderten
Eigentümlichkeiten habe ich an mir persönlich schon längst nicht nur
gekannt, sondern sie sind mir auch stets auffallend gewesen, ohne daß
ich jedoch gerade etwas Weibliches in ihnen erkannt hätte. Im Jahre 1854
teilte ich dieselben auch einem meiner Verwandten mit, als etwas mir
Auffallendes, was wohl mit meiner geschlechtlichen Natur zusammen-
hängen möge. Weil dieser jedoch mir diesen Gedanken ausredete, so
ließ ich ihn fallen. Erst 1862 habe ich ihn wieder aufgegriffen: weil
mir nämlich Gelegenheit ward, auch andere Urninge zu beobachten und
ich den weiblichen Habitus merkwürdigerweise bei allen sich wiederholen
sah, wenn auch verlierend in den einzelnen Zügen. Auch bei den Weibern
variiert ja der weibliche Habitus in den einzelnen Zügen. Über mich
selbst, als Kind von 10 bis 12 Jahren, folgendes: Wie oft seufzte meine
gute Mutter: „Karl, du bist nicht so, wie andere Jungen!" Wie oft
sagte sie warnend: „Wenn du nicht anders wirst, wirst du ein Sonder-
ling." (Hirschfeld, 1. c. S. 117.)
Was besagen diese feinen Beobachtungen? Wer die spielerischen
Charaktere der Kinder kennt, ihre früh auf ein Ziel gerichtete Psyche,
der muß es sich gestehen: Solches Verhalten kann schon durch einen
Wunsch beeinflußt sein!
Nein — alle diese Beobachtungen beweisen nicht das Angeboren-
sein der konträren Sexualempfindung. Wenn Hirschfeld ausführt —
„Treffend wird in diesen Berichten die mangelnde Eitelkeit urnischer
Mädchen hervorgehoben. Nicht ohne Grund sagt ein feiner Kenner
der urnischen Psyche: „Auf ein junges Mädchen, welches bei einem
Spiegel achtlos, ohne hineinzusehen, vorübergehen kann, wenn es sich
ankleidet, auf einen Knaben, der mit großem Vergnügen immer wieder
zu demselben zurückkehrt, muß man achthaben, denn beide verraten
oft hierdurch frühzeitig ihre urnische Natur." (Hirschfeld, 1. c. S. 119.)
— so sehe ich darin nichts als das Bestreben, sich von den anderen
Genossen zu differenzieren.
Ich komme endlich zu meiner Theorie der Homosexualität, die
ich mir in Anlehnung an die Ergebnisse der Psychanalyse und im
Ausbau der Lehren Freude gebildet habe.
Alle Menschen sind ursprünglich bisexuell
veranlagt. Von dieser Regel gibt es keine Aus-
nahme. Bei dem normalen Menschen zeigt sich
bis zu der Pubertät eine deutliche bisexuelle
Periode. Der Heterosexuelle verdrängt dann seine
160
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
r-
r
Homosexualität. Er sublimiert auch einen Teil
der homosexuellen Kräfte in Freundschaft, Na-
tionalismus, soziale Bestrebungen, Vereinswesen
usw. Mißlingt ihm diese Sublimierung, so wird er
neurotisch. Da jeder Mensch seine Homosexuali-
tät nicht gänzlich bewältigen kann, so trägt er
dadurch schon die Disposition zur Neurose in
sich. Je stärker die Verdrängung ist, desto größer
dann die neurotische Reaktion, die bis zur Para-
noia führen kann. (Freuds Paranoiatheorie.) Wird
aber die H e t er o s exu ali t ä t verdrängt, so entsteht
die Homosexualität. Beim Homosexuellen wirkt
wieder die verdrängte und nicht bewältigte
Heterosexualität als Disposition zur Neurose
Je sicherer die Heterosexualität sublimiert wird,
desto mehr kann der Homosexuelle das Bild eines
normalen gesunden Menschen bieten. Er gleicht
dann dem normalen Heterosexuellen. Aber gerade
wie der Nermal heterosexuelle zeigt der „Manne:
held" eine permanente latente Disposition zu
Neurose.
Bei dem Normal homosexuellen scheint aber
dieser Sublimierungsprozeß schwerer zu sein als
bei den Normalheterosexuellen. Deshalb sind
diese Typen sehr selten und eine genaue Analyse
weist immer typische neurotische Reaktionen
auf. Die neurotischen Reaktionen der Abwehr
(Freud) sind Angst, Scham, Ekel und Haß. Der
Heterosexuelle hat vor homosexuellen Akten Ekel.
Damit beweist er die affektbetonte negative Ein-
stellung. Denn Ekel ist ja nur eine negativ be-
tonte Begierde. Der Homosexuelle hat diesen
Ekel vor dem Weibe, der ihn zum Neurotiker
stempelt. (Oder e.r haßt die Frauen!) Denn dem
Normalhomosexuellen — wenn es einen solchen
geben würde -müßte das Weib indifferent sein.
Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß der
gesunde Mensch sich bisexuell betätigen müßte.
Wir kennen nur ein Volk, bei dem die Bisexualität staatlich an-
erkannt war: die Griechen. Wir müssen aber gestehen, daß dieses
Volk die höchste Stufe künstlerischer und physischer Leistung er-
klommen hat. Wir werden zu untersuchen haben, warum die Homo-
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. \Q\
Sexualität so verpönt wurde und weshalb das Beispiel der Griechen
trotz Anerkennung ihrer ungeheuren Leistungen auf kulturellem und
ethischem Gebiete keine Nachahmung gefunden hat. Davon später.
Wir kommen also zu dem Schlüsse : Es gibt keine ange-
borene Homosexualität und keine angeborene
Heterosexualität. Es gibt nur eine Bisexualitä t.1)
Monosexualität ist schon die Disposition zur
Neurose, in vielen Fällen schon die Neurose selbst.
Diese Theorie ist nicht neu. Neu ist nur ihre Verbindung mit
der Neurose. Das Verdienst, sie zuerst ausgesprochen zu haben, ge-
bührt Kiernan (Medical Standard, 1888) . Kiernan geht von der Tat-
sache aus, daß alle niederen Tiere bisexuell sind, und faßt die Homo-
sexualität als Rückschlagserscheinung in die einstigen
hermaphroditischen Formen des Tierreiches auf. Wir müssen uns die
Theorie merken, weil ich auf sie bei Besprechung der Disposition zur
Neurose noch zurückkommen werde. Auch Chevalier 2) (Inversion
sexuelle, Paris 1893) geht von der ursprünglichen Bisexualität des
Fötus aus. Es wären hier noch zwei Forscher zu erwähnen: Lombroso,
dem das Verdienst gebührt, auf die Rückschlagserschei-
nungen (Atavismus) aufmerksam gemacht zu haben, und Binet, der
die Homosexualität sich so entstanden denkt, daß der ur-
sprünglich undifferenzierte 'Geschlechtstrieb
(also der bisexuelle Trieb) durch ein frühes E r-
1) Daß Homosexualität nichts mit der organischen Bisexualität zu tun hat,
betont üirschfeld: „Eine Wahrnehmung zu konstatieren scheint mir nicht unwesent-
lich: Die stärksten Annäherungen an den entgegengesetzten Geschlechtstypus,
wie beispielsweise beim Weibe Klitorishypertrophie und Vollbart, beim Manne Hypo-
8padia penisscrotalis und Gynäkomastie, sind häufiger mit Heterosexualität als
mit Homosexualität verbunden."
2) Ich habe das Werk von Chevalier nicht auftreiben können. Ich zitiere
Krafft-Ebing: „Auch Chevalier (op. cit. S. 408) geht von der ursprünglichen Bisexualität
im Tierreich und von der im menschlichen Fötus ursprünglich vorhandenen bisexuellen
Veranlagung aus. Die Differenzierung der Geschlechter mit markanten körperlichen
und psychischen Geschlcchtscharakteren ist ihm ein Resultat unendlicher Evolutions-
vorgänge. Die seelisch-körperliche geschlechtliche Differenzierung geht der Höhe evolutiver
Vorgänge parallel. Auch das Einzelwesen hat diese Evolutionsstufen durchzumachen
— es ist ursprünglich bisexuell, aber im Kampf der männlichen und weiblichen Streit-
kräfte wird die eine besiegt und es entwickelt sich, dem Typus der heutigen Evolution
entsprechend, ein monosexuales Individuum. Aber Spuren der unterdrückten Sexualität
erhalten sich. Unter gewissen Umständen können diese „caracteres sexuels latents"
Darwins Bedeutung gewinnen, d. h. Erscheinungen konträrer Sexualität hervorrufen.
Chevalier faßt diese aber mit Recht nicht als Rückschlag (Atavismus) im
Sinne Lombrosos u. a., sondern mit Lacassagne als Störung in der Evolution zur
heutigen Höhe auf" (I.e.).
Stokol, Störungen des Trieb- nnd Affektlebcns. ) f. 2. Aufl. 11
162 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
lebnis in Assoziation zu einer Person des gleichen
Geschlechts gebracht werde. Also die Theorie des in-
fantilen Traumas, das bei Freud eine so große Rolle spielt. Wir
werden einige Fälle kennen lernen, in denen die latente Wirkung in-
fantiler Erlebnisse deutlich sichtbar wird.
Hüten müssen wir uns aber, diese uns berichteten Traumen immer
als wahr anzunehmen. Einige sind in die Lebensgeschichte hinein-
gezeichnet und erst nachträglich zur Bedeutung gelangt. Doch nichts
ist in der Psychologie gefährlicher als Einseitigkeit. Gerade in der
Ätiologie der Homosexualität scheint sich mir die Bedeutung infantiler
traumatischer Erlebnisse hie und da zu bestätigen. Krafft-Ebing meint,
daß die Theorie von Binet einer eingehenden Kritik nicht standhält
und äußert sich sehr geringschätzig über die Bedeutung psychologischer
Zusammenhänge: „Psychologische Kräfte sind zur Erklärung einer
solchen schwer degenerativen Erscheinung nicht ausreichend." Diese
Unterschätzung psychischer Einflüsse war in jener Zeit nicht wunder-
lich, da man alles mit Heredität und Belastung erklären wollte. Ehe
ich versuche, die psychologische Theorie der Homosexualität aus-
einanderzusetzen, muß ich noch die Zusammenhänge zwischen Homo-
sexualität und Neurose besprechen. Wir haben gesehen, daß alle
Forscher zugeben, daß diese Beziehungen in der Tat bestehen. Die
Frage ist nur: Wird der Homosexuelle neurotisch, weil er fürchtet,
mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen, weil er seine unglück-
selige Veranlagung als naturwidrig empfindet (um in seiner Sprache
zu sprechen), also infolge seiner Homosexualität, oder wird er homo-
sexuell, weil er neurotisch ist?
Das führt uns natürlich zur Begriffsbestimmung der Neurose. Was
ist eine Neurose und wen nennen wir neurotisch? Neurotisch nenne ich
den Menschen, welchem die Bewältigung der von ihm als unmoralisch
gewerteten asozialen Triebe nicht gelungen ist. Unter asozialen Trieben
verstehe ich alle Triebe, welche von der Gesellschaft als kulturwidrig
verpönt werden. Das zeigt uns schon, daß die Neurose in allen Ländern
verschieden sein muß. Der eine verdrängt nur die normale Form der
Sexualität, weil ihre Betätigung schon als unmoralisch gewertet wird.
(Beispiel: das Mädchen aus gutem Hause in der guten Gesellschaft, das
keusch bleiben muß.) Der andere kämpft mit Trieben, welche die
Gesellschaft als krankhaft bezeichnet. (Beispiel: die Schauspielerin, die
viele Verhältnisse hat, aber die homosexuellen Triebe verdrängen muß.)
Ebenso können kriminelle Triebe beim Zustandekommen einer Neurose
eine Rolle spielen. Die Neurose ist also entstanden durch den Kampf
zwischen Trieb und Hemmung. Wir sehen daher zwei Wege zur Ent-
stehung der Neurose: Ein starker Trieb, der natürlich immer wieder
I
Allgemeines. — Theoretisches. — Meine Theorie der Homosexualität. Xfig
versuchen wird, die Hemmungen zu überwinden, und starke Hemmungen,
welche selbst bei starken Trieben die Reduktion der Sexualforderung
auf das geringste Maß erzwingen werden.
Die Disposition der Neurose hängt also auf das innigste mit dem
Triebleben zusammen. Die Entwicklung der Menschheit verlangt aber
immer wieder das Opfern gewisser Triebe und jeder Fortschritt der
Ethik und Kultur bedeutet ein Stück Verlust des Trieblebens. Die
Gesetze sind der Schutz der Gesellschaft gegen die Triebe ihrer
Mitglieder. Sie duldet von diesen Trieben nur ein gewisses Maß, das
immer geringer wird, und erklärt alle anderen Triebe als asozial. Die
Entwicklung der Menschheit würde auf dieser Richtlinie einen Zustand
erreichen, auf dem das Triebleben schließlich ganz in den Dienst der
Gesellschaft gestellt wird: die Domestizierung des Trieblebens. Es ist
dies der seit Jahrtausenden tobende Kampf zwischen Gehirn und
Rückenmark. Wir würden das Resultat dieses Kampfes erst beurteilen
können, wenn es uns möglich wäre, einen Urmenschen mit einem Kultur-
menschen vergleichen zu können. Welche gewaltige Fortschritte haben
wir in der Beherrschung des Trieblebens gemacht! Die Gesellschaft
geht aber noch einen Schritt weiter. Sie sorgt dafür, daß sich Menschen
mit einem abnormen Triebleben nicht weiter fortpflanzen können.
Verbrecher werden unschädlich gemacht, der asoziale Mensch findet
keine Lebensbedingung und muß zugrunde gehen.
Aber — wie ich schon in meinem Buche „Die Träume der Dichter"
sagte — die Schöpferkraft der Natur weicht nicht den sozialen For-
derungen der Menschen. Der Kampf zwischen Natur und Kultur tobt
unaufhaltsam weiter und das Resultat ist eben die Neurose. Allt
Paraphilien entstehen als ein Kompromiß zwischen Trieb und Hemmung.
Ich muß hier auf meine Theorie der Neurose zurückkommen, wie
ich sie zum ersten Male in meinem Buche „Die Träume der Dichter"1)
ausgeführt habe. Der Neurotiker ist eine Rückschlags-
erscheinung. Er repräsentiert eigentlich einen überwundenen
Typus Mensch. Er muß an sich den Kampf durchmachen, den die ganze
Menschheit bereits durchgemacht hat. Eine Ontogenese der Kultur!
Immer wenn die Natur etwas Großes, Gewaltiges, Erhabenes schaffen
will, greift sie weit zurück in das Reservoir ihrer Vergangenheit,
Rückschlagserscheinungen zeichnen sich durch ein starkes Triebleben
aus. Das haben der Neurotiker, das Genie und der Verbrecher
gemeinsam. Dem Menschen mit überstarken Trieben (dem Über-
menschen, der eigentlich ein Untermensch ist) eröffnen sich drei Wege:
') Verlag J. F. Bergmann, Wieebaden 1913.
11*
164 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Er sublimiert seinen Zerstörungstrieb, seine kriminellen Anlagen, seine
asoziale Einstellung vergangener Epochen und wird ein Schaffender
(Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker, Prophet, Erfinder usw.); oder er
lebt seine Triebe ungehemmt aus, dann wird er ein Verbrecher; oder ein
Teil der Sublimierung mißlingt, er wird ein Neurotiker.
So berührt sich meine Theorie der Homosexualität mit der von
Lombroso. Der Homosexuelle ist in erster Linie eine Rückschlags-
erschemung. Er zeigt ein früh entwickeltes und in die Kultur nicht
hineinpassendes Triebleben; er steht aber auch der ursprünglich
bisexuellen Anlage des Menschen biologisch näher als der Normal-
mensch, der seine Zeit repräsentiert. Dieser Konflikt äußert sich in
^S0? *° ^ d6r NeUFOtiker dann seiner Zeit voraus-
eilt und Schopf er der Zukunft wird. Ich muß meine Leser bitten, das
Nähere in meinem erwähnten Werke nachzulesen. Was ich für unsere
Untersuchungen brauche, habe ich in Kürze mitgeteilt.
*lCn rfDaSi GTie'A df KÜnStler' dGr Verbrecher ™d der Neurotiker zeigen
also die gleiche Anlage: das überreiche Triebleben. Der Verbrecher lebt
seine Triebe aus, der Künstler erledigt sie in seinen Werken (daß
Shakespeare so viele Mörder dichten konnte, rettete ihn davor ein
i fnlLrr TlV/ • fgt Hebbel) ** dem Neur°tiker werden sie' zum
unlöslichen Konflikte. Er ist Verbrecher ohne den Mut zum Verbrecher
Lr ist der Don Juan der Phantasie, der Marquis de Sade der Tagträume'
der Jack the Ripper, ohne es zu wissen.
Von dieser Voraussetzung ausgehend, werden wir erwarten daß
sich bei Dichtern, Künstlern und Neurotikern das Triebleben und
besonders der Sexualtrieb sehr früh zeigen werden. In der Tat' Von
den Künstlern ist diese Erscheinung bekannt1), bei den Verbrechern
wird sie als typische Erscheinung beschrieben und beim Neurotiker
Haben sie die Analytiker immer wieder aufweisen können.
Nun werden wir verstehen, warum alle Forscher angeben, bei den
Homosexuellen sei der Geschlechtstrieb abnorm früh aufgetreten Man
verstehe mich wohl. Wir verdanken der Analyse die Tatsache, daß bei
allen Menschen der Sexualtrieb schon in der frühesten Kindheit auftritt,
und ich habe noch in meiner vorfreudschen Periode in der Studie-
„Koitus im Kindesalter" auf diese Tatsachen hingewiesen. Doch die
meisten Menschen verdrängen diese infantilen Erinnerungen und wissen
nichte mehr von den Regungen der Kindheit. Der Homosexuelle weiß es
immer und das beweist schon die Tatsache seiner Frühreife. Er wußte
schon als Kind, daß es sich um verbotene sexuelle Dinge handelte. Er
*) Vgl. „Dichtung und Neurose". J. p. Bergmann.
J
Allgemeines. — Theoretisches. - Meine Theorie der Homosexualität. 165
hat einzelne Erlebnisse aus seiner Fülle der Erinnerungen verdrängt.
Die Tatsache seiner Frühreife konnte nicht vergessen werden. Aber alle
in sein System nicht passenden Erinnerungen scheinen ausgelöscht oder
mit blassen Farben eingezeichnet. Und das ist das Entscheidende.
Die sexuelle Frühreife ist eine Tatsache, welche
in allen Krankengeschichten und Lebensbeichten
derHomosexuellenbetontwird. Und diese sexuelle Früh-
reife erklärt uns auch, daß die Vorgänge, welche zur Verdrängung
der Heterosexualität führten, oft weit zurückliegen und sich der Er-
innerung hartnäckig entziehen. So betont Krafft-Ebing : „Das Ge-
schlechtsleben derartig organisierter Individuen
macht in der Regel sich abnorm früh und in der
Folge abnorm stark geltend. Nicht selten bietet es noch
anderweitige perverse Erscheinungen, außer der an und für sich durch
die eigenartige Geschlechtsempfindung bedingten sexuellen Richtung."
Ferner an derselben Stelle: „Es bestehen Neurosen (Hysterie,
Neurasthenie, epileptoide Zustände usw.) . Fast immer ist temporär oder
dauernd Neurasthenie nachweisbar (S. 259) ."
Wir sehen jetzt, daß diese beiden Zustände zusammengehören.
Das Individuum wird neurotisch, weil es die abnorm starken Triebe
nicht bewältigen kann. Auch die Epilepsie dient der Erledigung
abnormer Triebe im Schlafzustande wie die große Hysterie.1) Deshalb
muß auch die Homosexualität Beziehungen zu der Epilepsie haben und
wir werden auf einen solchen Fall noch genauer eingehen können.
Es handelt sich bei diesen Trieben nicht allein um den homo-
sexuellen und heterosexuellen Trieb. Es handelt sich um sadistische
Regungen, um Mysophilie, Koprophilie, Kannibalismus, Nekrophilie,
besonders um Verknüpfungen von sexuellen und kriminellen Trieben.
Alle diese Triebe müssen der Verdrängung anheimfallen. Sie tauchen in
der Neurose in grotesken Verzerrungen, Verkleinerungen, Umkehrungen
und Übertreibungen wieder auf und müssen auch in der homosexuellen
Neurose zu finden sein. Die Beziehungen von Sadismus und Homo-
sexualität sind besonders interessant und werden in den folgenden
Kapiteln ausführlich abgehandelt werden.
"Wir können uns die Entstehung der Homosexualität folgender-
maßen vorstellen: Ein Mensch mit abnorm starkem
Triebleben wird schon in früher Jugend dazu
gebracht, diese Triebe mit Hemmungen zu um-
geben. Er wird aber auch durch das frühe Er-
*) „Nervöse Angstzustände." Die psychische Behandlung der Epilepsie. 3. Aufl.
166 Zweiter Teil. Die Homosexualität. Allgemeines. — Theoretisches usw.
machen des Geschlechtstriebes und durch seine
frühen Äußerungen in Konflikte gebracht. Der
Prozeß derVerdrängung und Sublimierung dieser
Triebkräfte setzt viel früher ein als bei anderen
Menschen. Es kommt aus irgend welchen Ursache»
zur Verdrängung der heterosexuellen Kompo-
nente und zum Ausbau der homosexuellen. Die
heterosexuellen Triebe werden durch Ekel, Haß
und Angst vor der Betätigung geschützt.
Die Homosexualität entsteht also aus einer Bisexualität infolge
bestimmter Einstellungen, die m eist in die früheste Kindheit zurück-
gehen. Aber nicht immer. Es können solche Umbiegungen auch im
späteren Alter vor sich gehen. Warum und aus welchen Motiven?
Darüber wollen wir in den nächsten Kapiteln sprechen.
Die Homosexualität.
IL
Latente Homosexualität. -
kritische Alter.
Masken der Homosexualität. — Das
- Don Juan und Casanova.
Das Christentum gab dem Eros Gift
zu trinken: — er starb zwar nicht
daran, aber er entartete zum Laster.
Nietzsche.
Freud, der mit dem ganzen Gewichte seiner Autorität für die
bisexuelle Anlage der Homosexuellen eingetreten ist, machte darauf
aufmerksam, daß wir uns die Verknüpfung des Sexualtriebes mit dem
Sexualobjekte zu innig vorgestellt haben. Der Geschlechtstrieb sei
ursprünglich unabhängig vom Objekte und verdanke auch nicht den
Reizen dieser Objekte seine Entstehung. Er hat das erste Stadium des
Menschen als ein autoerotisches bezeichnet und die Säuglingsonanie
beschrieben, von der wir in unseren Ausführungen über Onanie
gesprochen baben.
Wir müssen uns die Entwicklung der Sexuaütät so vorstellen: Das
erste Stadium ist ein autoerotisches, aber es fehlen keineswegs die
allerotischen Reize (Saugen an der Mutterbrust, Gestreicheltwerden,
Wiegen usw.). Das Kind ist für alle Reize viel empfänglicher, und alle
vegetativen Vorgänge sind viel lustbetonter als beim Erwachsenen. Das
Sexualleben ist autoerotisch, aber auch bisexuell allerotisch. Das Kind
macht keinen Unterschied bei seinen geliebten Personen. Alt und Jung,
Mann oder Weib — das scheint ihm ziemlich gleich zu sein. Aber der
Autoerotismus beherrscht das Sexualleben. Allmählich aber tritt das
Autoerotische hinter dem Allerotischen zurück. Das Kind sucht die
Objekte seiner Sexualität zuerst in seinem engen Kreise. Wie die erste
autoerotische Periode überwunden werden muß, muß auch die normale
Fixierung an die Familie überwunden werden. (Du sollst Vater und
Mutter lassen und deinem Manne folgen!) Aber schon in den ersten
Lebensjahren sind alle libidinösen Regungen deutlich bisexuell. Diese
Bisexualität hält gewöhnlich bis zu der Pubertät an. Das ist das
168
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
indifferenzierte Stadium, von dem auch Dessoir spricht. Dem gewaltigen
Ansturm der Pubertät jedoch hält die Bisexualität nicht stand. Aus dem
mädchenhaften Knaben wird der Mann, aus dem knabenhaften Mädchen
die Jungfrau. Die sekundären Geschlechtsmerkmale drücken dem
Menschen den Stempel der Monosexualität auf. Hier setzt meistens der
Kampf gegen die homosexuellen Regungen ein und führt bei dem einen
früher, -bei dem anderen später zur vollständigen Verdrängung der-
selben. (Natürlich gibt es da auch Ausnahmen. Bei manchen Menschen
erhält sich die Bisexualität ohne Störung durch das ganze Leben.)
Ich habe noch keinen Menschen analysiert, bei
dem ich nicht die deutlichen Zeichen der Homo-
sexualität in der Jugend konstatieren konnte.
Man kann überhaupt beobachten, daß die Neurotiker sich auch
organisch als Bisexuelle erweisen. Unter den neurotischen Männern
trifft man häufig Bartlose oder Menschen mit geringem Bartwuchs, von
rundlichen weiblichen Körperformen, mit weiblicher Stimme oder
weiblichen weichen Gesichtszügen besonders um Nase und Mund; man
beobachtet bei ihnen kleine Hände, kleine Füße, einen auffallend kleinen
Penis, geringe Behaarung am Mons veneris, Kryptorchismus, Hernien.
Bei den neurotischen Frauen können wir Bartansatz im Gesichte, eine
flache Brust, starke männliche Formen, die mehr eckig sind als bei
normalen Frauen, große plumpe Hände, große Füße, Störungen der
Periode bis zur Amenorrhoe, infantilen Uterus, männlichen Kehlkopf,
tiefe Stimme konstatieren. Ich kann nicht behaupten, daß dies immer der
Fall ist. Ich habe hie und da Ausnahmen gesehen; ich glaube aber, daß
eine genaue Untersuchung die Allgemeinheit dieser Behauptung
besser stützen würde.
Die -Disposition zur Neurose ist eben das
starke Triebleben, das sich bisexuell äußert.
Nun gibt es ein Gesetz, das ich das sexuelle Grundgesetz nennen
möchte. Jedes Individuum trachtet danach, in einem
Liebesakte seine sämtlichen sexuellen Trieb-
richtungen zu befriedigen. Jeder Mensch sucht
nach dem sexuellen Ideal, das imstande ist, alle
seine sexuellen Strömungen aufzunehmen.
Das sexuelle Ideal der Alten war offenbar ein bisexuelles Wesen.
Die Gottheit ist das durch ein Vergrößerungs-
glas gesehene erotische Idealbild. Die ersten Gott-
heiten waren immer bisexuell. Es waren Frauen mit einem Penis und
Männer mit einem Busen. Durch die ganze Menschheit geht die Sehn-
sucht nach diesem bisexuellen Ideal. Plato hat diese Sehnsucht im
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. ^ß9
Gastmahl durch die bekannten Worte des Aristophanes trefflich
ausgedrückt.
Wir fühlen es, daß wir nur mit einem Teile unserer sexuellen
Kraft arbeiten und daß die anderen Teile brach liegen müssen. Oft
halten sich diese verschiedenen sexuellen Energien so die Wage, daß
jede für sich nicht ausreicht, die Mühlen der Sexualität zu treiben. Das
werden dann die Menschen, welche scheinbar einen geringen Ge-
schlechtstrieb zeigen, wie Freud und Havelock Ellis es von manchen
Homosexuellen behaupten. Diese Erscheinung ist trügerisch und hält
den Erfahrungen der Analyse nicht stand. Diese scheinbar Asexuellen
schwanken nur zwischen den verschiedenen sexuellen Zielen hin und her
und kommen nie zu einer Aggression, weil sie nicht imstande sind,
größere sexuelle Energiemengen zusammenzufassen. Ihre Libido zer-
splittert sich in autoerotischen Akten, in denen die Vorlust in kleinsten
Raten ausgegeben wird, wie ich es bei den verschiedenen Formen der
lar vierten Onanie beschrieben habe. ■
Ich wiederhole: Seine ganze Libido auf ein Objekt konzentrieren
zu können, ist das Ideal eines jeden Menschen. Das erklärt uns, warum
der Homosexuelle nicht den Vollmann sucht, wenigstens in den
seltensten Fällen. Freud machte auf diesen Widerspruch aufmerksam.
Viele Homosexuelle und gerade die Typen mit starker Virilität, suchen
nicht den Vollmann als Ideal, sondern das Weib im Manne. Sie bevor-
zugen weibliche Typen, Männer in Frauenkleidern (Transvestiten) ,
Männer mit weiblichem Habitus, aus welchen Umständen die männliche
Prostitution eine weite Nutzanwendung zieht. Immer bestreben sich
die männlichen Prostituierten durch Schminke, Korsett, Frauenkleider,
Bartlosigkeit, durch Bewegung und Sprache ein Weib zu imitieren.
Was der bewußt Homosexuelle offen sucht, das drängt sich dem
latent Homosexuellen, als welchen wir den Neurotiker und in geringerem
Maße jeden Menschen, der sich nur heterosexuell betätigt, bezeichnen,
in Bestrebungen auf, die ihm dunkel bleiben, aber stark genug sind, sich
durchzusetzen. Wir wollen jetzt noch diese versteckten Formen der
Sexualität besprechen, ehe wir daran gehen, den Versuch zu machen,
die Entstehung der manifesten Homosexualität und der ausschließlichen
Homosexualität zu erklären. Den Übergang zu diesen Formen bilden
eben die latent Homosexuellen, welche alle mit dem für sie unerledigten
und nicht bewältigten Problem der Bisexualität kämpfen und das
Kompromiß suchen, das ihnen eine zeitweilige Erledigung bringt.
Die latente Homosexualität ist eine Tatsache, welche die Analyse
nicht entdeckt, deren Kenntnis sie aber gewaltig erweitert hat. Je tiefer
wir in die psychischen Mechanismen der Neurosen und Psychosen
eindringen, desto bedeutsamer erscheint uns die Wirksamkeit homo-
170
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sexueller Triebkräfte Die Unterschiede zwischen meiner analytischen
Erforschung und der gebräuchlichen Anamnese treten nirgends so
scharf zutage, als bei den Angaben der Neurotiker über Homosexualität.
Keine zweite sexueUe Triebkomponente unterliegt in diesem Maße der
Verdrängung und ist so bewußteeinsfremd geworden. Ich bin mir über
die Ursachen dieser Erscheinung noch nicht klar. Ich kenne Menschen
die sich ein großes Maß von Paraphilie freigegeben und trotzdem die
homosexueUe Komponente völlig verdrängt haben. So habe ich eine
Dame analysiert, die eine ziemlich ereignisreiche Dirnenvergangenheit
hinter sich hatte. Sie wurde neurotisch, weil sie die Homosexualität
nicht bewältigen und unterdrücken konnte. Allerdings verstand sie es
wie alle Neurotiker, ihre Homosexualität in geschickter Weise zu
maskieren und bewußtseinsfremd zu machen.
Dem Anfänger wird es daher von großem Nutzen sein, wenn er
alle che Masken kennt, die dazu dienen, die Homosexualität zu ver-
decken. Bekanntlich sind alle neurotischen Symptome Ergebnisse eines
Kompromisses und verbergen einerseits gerade so viel, als sie andrer-
seits enthüllen, über diese Neigung zu Kompromissen, die der Ausdruck
der .Spaltung der Persönlichkeit ist, wäre eine eigene Untersuchung
anzustellen. Die widerstrebendsten Triebkräfte werden berücksichtigt
und zu e i n e m Symptom vereinigt. Diese Neigung zur Kompromiß-
bildung beherrscht das Seelenleben des Neurotikers. Sie kommt im
Traume ebenso zum Ausdruck wie in der politischen Gesinnung der
Kunstanschauung und den neurotischen Symptomen. Gelingt es nicht
die widerstrebenden Kräfte zu einer Äußerung zu bringen, so stellt
sich die bekannte Form der Entschlußlosigkeit, des Schwankens und des
Zweifels ein. Der Zweifel ist die Folge und das Symptom mißlungener
Kompromisse.
Diese oberflächliche Kompromißbildung verrät sich am leichtesten
in der Homosexualität. Es ist das Bestreben der Neurotiker, möglichst
viel Triebrichtungen auf ein Objekt zu vereinigen. Dir Ideal wäre ein
Wesen, das Mann, Weib und Kind (und vielleicht auch Tier und Engel')
zugleich ist. (In Parenthese: Die katholische Kirche ist diesem Ver-
dichtungsbedürfnis der Libido entgegengekommen. Die heilige Familie
ermöglicht alle Fixierungen der Libido durch Sublimierung, wobei alle
Komponenten berücksichtigt sind. Es fehlt auch nicht das Lamm
Gottes!) Wir hören von Neurotikern immer eine Schilderung ihres
Ideals, das dieser polymorphen Tendenz Rechnung trägt. Die Männer
werden für Frauen schwärmen, die einen stark männlichen Einschlag
aufweisen: große derbe Gestalten, flachbusig, mit energischen knochigen
Gesichtern, mit kurzgeschnittenen Haaren, mit tiefer Stimme, einem
Anflug von Bart oder Sehnurbart. So wird das geheime bisexuelle Ideal
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 171
(das Weib mit dem Penis oder der Mann mit der Vagina!) teilweise
erreicht. So werden die verdrängten Triebrichtungen zum Teile für
die Libido freigemacht, mit der heterosexuellen Komponente vereinigt
und in den Dienst der Aggression und des Lusterwerbes gestellt. —
Wo die Natur diesem Bestreben nicht entgegenkommt, da werden
äußere Merkmale, das Kleid und der Schmuck, zu Hilfe genommen.
Das Symbol muß die Realität ersetzen. Männer verlieben sich in
Damen, wenn sie Hosen tragen (denselben Tendenzen dienen Männer-
hüte, Offiziersjacken, Spazierstöcke usw.). Also in Schauspielerinnen,
Fechterinnen, Radfahrerinnen, Bergsteigerinnen, Reiterinnen oder in
Dirnen, die sie in Unterhosen bewundern konnten. Andere verlangen
von ihren Sexualobjekten, daß sie Männersymbole tragen, um ihre
Libido aufzustacheln. Oder das Weib gefällt ihnen am besten in einer
Militärbluse oder mit einem männlichen Hut, in einer männlichen Rolle,
welche der Phantasie einen Schein von Realität verleiht (R e a 1 i-
sierungstendenzen!).
Bei Frauen tritt die parallele Erscheinung
auf. Sie verlieben sich in Mäjnner, die bartlos sind,
Gynäkomastie, starken Panniculus adiposus, ein
großes Becken, grazilen Kehlkopf (weibliche
Stimme) aufweisen — oder die einen langen Rock
oder lange Haare tragen. Ich will hier nur einige Beispiele
anführen. Der Priester, der Arzt im Arbeitskittel, besonders Operateure
mit aufgestülpten Ärmeln, Damenimitatoren, Männer ohne Bart mit
weiblicher Stimme, die sich parfümieren und Armbänder tragen,
Künstler mit langen, wallenden Haaren können außerordentlich stark
erregend wirken.1)
Auch das psychische Wesen kommt in Betracht. Frauen, die
rauchen, reiten, bergsteigen, sehr aggressiv sind, können auf Neurotiker
einen großen Eindruck machen. Ebenso Männer mit spezifisch weib-
lichem Wesen auf die Frauen. Viele Neurotiker wollen „genommen"
werden. (Lust ohne Schuld!) Energische Frauen wirken auf sie
faszinierend, ebenso wie der ängstliche sensible Mann die Hysterische
mächtig anzieht.
Weniger bekannt sind die anderen Masken der Homosexualität,
die ich jetzt erwähnen werde. Hinter der Liebe zu alten Frauen
(Gerontophilie) und der Liebe zu Kindern verbirgt sich häufig eine
homosexuelle Triebrichtung. Alle Menschen, die von der spezifisch
weiblichen oder männlichen Linie abrücken, können in diesem Sinne
l) Vielleicht erklärt die Tatsache, daß alle Künstler ausgesprochene Bisexuelle
sind, am besten ihre große erotische Anziehungskraft.
1 ' * Zweiter Teil. Die Homosexualität.
erregend wirken Das Alter verwischt die sekundären Geschlechts-
merkmale. Im Alter wird der Mann zum alten Weibe und alte Frauen
nelimen exquisit männliche Züge (Schnurrbärtchen alter Frauen') und
mannliche Gewohnheiten an. (So beginnen alte Sennerinnen zu rauchen
usw.) Auch Kinder wirken mangels der sekundären Geschlechtsmerkmale
stark bisexuell.
«™ilW m<fkWUrdi,ge Form. hinter der sich die männliche Homo-
sexual tat verbergen kann, ist die Neigung zu Dirnen. Bei der Dirne
aß dafwlT t6 V°rStellttng (aUf di6 '""* Komponente
daß das We,b vorher von anderen Männern besessen wurde.') Diese;
Vorgang (der Umweg über das fremde Geschlecht!) spielt noch 7n
anderer Hme.cht bei der Homosexualität eine große Bolle Di" Dirne
VowteUung einer männlichen Pereon herbeigeführt worden. Nachher war ich dir,hi
große Anstrengung sehr abgespannt und ich schwur mir, mich e w-ied r u £S£
ztz ,\fühi;e mich damais zu einem ve™dt- ^ -i eige r
der Altere und bei den Weibern Einflußreichere mußte für ihn immer dTe Mädel I
::tzr und e\haben * °ft nacheinander den *» ***** ^ * £-1
achtun g seines heißen Temperaments reizt e mich bis zum äußerstl
und war dann die Ausführung des Verkehres ein leichtes." Ein Hotel^ £ TÜZ
zszrtsjisr berichtnte ganz ähnHch- daß «• ~ -EXs ;z
d 6 ^Ä W^V^1™ "abkÜ6SeD" mÜSSe" D« ^haffte ihm
Bettt ch im NK T mit ^ CF ß° raSCh Wie möelich z« «einer Frau deren
B tt -weh m Nebenzimmer befände, eile.» Ferner die Stelle: „Ich will diese Parad kmX
aus dem Leben mit den Angaben eines Patienten schließen der ^TZ^Z^r
eo,-n9 p„„j„* j • r.A , „ . , löl"",:,' mcnt waör.' faeme Livree schien neu zu
sen? Fandoet du ht daß ]hm etwag eng gaß? ^ ^^
Nu wenn er so che Gespräche mit seiner Frau führte, deren
Ab., cht zu verdecken großes Geschick erforderte, gelang *«
'hm, zu makulieren und - Kinder zu zeugen deren er drPi
besaß." (Hirschfeld, I.e. S. 86.) * * " drei
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. ^73
sehen und Zusehenlassen kann neben anderen Wurzeln (Voyeur) dieses
Motiv aufweisen.
Auch in der spezifisch bevorzugten Art des Sexualverkehrs setzt
sich in vielen Fällen die Homosexualität durch. Die Männer wählen die
untere Position oder betreiben den Coitus a posteriori, oder gar in
anum. Bei Frauen treten ähnliche Bestrebungen zutage. Sie empfinden
nur dann Libido, wenn sie oben sind. Manche Paraphilien (Fellatio,
Kunnilingus !) enthüllen außer dem sexuellen Infantilismus homo-
sexuelle Regungen.
Gewisse äußerliche Zeichen verraten die starke homosexuelle
Komponente oder ihr plötzliches Aufflammen. Männer lassen sich
plötzlich den Bart rasieren oder stutzen. Sie fangen an sich für Sport
zu interessieren, der Gelegenheit gibt, entkleidete Männer zu sehen.
Sie besuchen leidenschaftlich Ringkämpfe, Sonnenbäder, Sportplätze,
beginnen für Nacktkultur zu schwärmen und dergleichen Erscheinungen
mehr. Frauen finden eines Tages, daß ihnen die langen Haare lästig
sind, und lassen sich die Haare schneiden. Manchmal ohne Wissen des
Mannes, der „freudig" überrascht werden soll. Sie wechseln die Mode,
tragen gerne kurze englische Jacken und enganliegende Röcke, Girardi-
hüte und beginnen sich für Frauenemanzipation zu interessieren.
Auf die Maske des gemeinsamen Sterbens sei nur kurz hingewiesen.
Die Menschen, die nicht den Mut haben, gemeinsam zu leben, sterben
gemeinsam. Ein gemeinsamer Selbstmord aus idealen Motiven bei zwei
Freunden oder Freundinnen geht häufig auf unbefriedigte Homosexua-
lität zurück. Ein Leben, das nicht die Erfüllung der adäquaten, von
unbewußten Trieben hartnäckig verlangten, Befriedigung bringen kann,
verliert seinen Wert.1)
Daß Onanisten, die die Onanie nicht aufgeben können, mit den
autoerotischen Akten auch homosexuelle Regungen befriedigen, haben
wir schon in den Kapiteln über Onanie ausführlich besprochen. Das
Schuldgefühl stammt zum Teil (aber nur zum Teil !) aus dieser Quelle.
Je schwerer die Entwöhnung von der Onanie vor sich geht, desto stärker
scheint der homosexuelle Trieb zu sein. Viele dieser Onanisten sind
asoziale Menschen und scheuen die Gesellschaft. Ich kenne aber einige,
die sich außerordentlich stark als „Vereinsmeier" betätigen und in
verschiedenen Vereinen Ehrenstellen bekleiden. Daß besonders Frauen-
rechtlerinnen einen stark homosexuellen Einschlag zeigen, ist bekannt
und wird ja von Witzblättern häufig genug in diesem Sinne ausgenützt.
x) Frenssen sagt: „Wenn einer kein Interesse mehr an Sonne, Mond und Sternen
hat, dem sagen sie auch nichts mehr; und wenn man nicht mehr am Hausstand arbeitet,
verfällt er; das ist mit allem ßo. Die Gleichgültigkeit macht alles tot; die Liehe
macht alles lebendig."
174 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Weniger bekannt dürfte sein, daß manche schrankenlos . dem Auto- .'
erotismus und der Tribadie huldigen, wie ich es bei näherer Bekannt-
schaft konstatieren konnte.
Schließlich wäre noch eine wichtige Form der Maskierung zu er-
wähnen: die künstlerische. Dichter, die mit Vorliebe Frauencharakter«
zeichnen, sind zum Teil homosexuell. Sie leben sich — sie fühlen sich
in Frauen ein, weil sie selber ein Stück Weib in sich herumtragen.
Chamisso konnte so wunderbar die „Frauenliebe" schildern, weil er
selbst, wie schon sein Bild beweist, ein Weib war. Bei Malern kann
der umgekehrte Fall eintreten. Sie zeichnen mit Vorliebe männliche
Akte oder schaffen lieber männliche Statuen. Sie verraten ihre Homo-
sexualität in dem ästhetischen Werturteil. Die einen finden, ein
Mannerkörper sei viel ästhetischer, die anderen finden ihn „ekelhaft"!
In der affektativ gefärbten Ablehnung verrät sich die homosexuelle
Komponente ebenso wie in der affektativ gefärbten Bevorzugung.
Die Wahl eines Pseudonyms kann ebenfalls ein charakteristisches
Symptom sein. Ebenso wie die Transvestiten deutlich ihre homo-
sexuellen Züge verraten, sind Männer, die in anonymen Zuschriften oder
auf Werken ein weiblich klingendes Pseudonym wählen (z. B. La Wara,
Ilona, Madlena usw.), häufig homosexuell. Bei Frauen kann allerdings
das bekannte Motiv mitspielen, daß sie der Meinung sind, man achte
ihre Bücher mehr, wenn sie einem männlichen Autor zugeschrieben
werden. Sie verraten damit jedenfalls den Wunsch, daß sie für viele
Leserinnen ein Mann sein wollen. Eine mir bekannte Schriftstellerin,
die unter männlichem Pseudonym segelte, machte mir als Einwand
gegen diese Auffassung den Umstand geltend, sie wäre geradezu männer-
süchtig. Sie sei eine Messalina. Hinter dieser Unersättlichkeit ver-
birgt sich, wie ich schon ausgeführt habe, die Homosexualität als un-
befriedigter Trieb. Sie suchte mit Vorliebe bekannte Frauenhelden,
typische Casanovas auf. Offenbar spielt auch da die Vorstellung der
vielen eroberten Frauen die Hauptrolle. Diese Männer tragen den Duft
zahlreicher Frauen. Sie sollen angeblich Künstler der Liebe sein und
die Frau erwartet von ihnen besondere Sensationen und vielleicht auch
Baffinements; aber sie versagen meistens, da sie rasch müde werden
und der unbefriedigte Homosexuelle der unbefriedigten Homosexuellen
nichts bieten kann. (So entstehen die unglücklichsten Ehen!) Wieder
fällt der Umstand auf, daß gerade die Homosexualität bei dieser Dame,
die sich ein großes Maß von Sexualfreiheit gewährte, Tabu war.
Ich habe nur einen kleinen Teil der Masken der Homosexualität
angeben können. Manche sind ja so durchsichtig, daß sie selbst dern
analytisch Ungeschulten nicht entgehen können. Man heiratet eine
Schwester, weil man in den Bruder verliebt ist, oder einen Bruder
J
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. i7~
eines homosexuellen Objektes, wie ich es in der Krankengeschichte
Nr. 93 meiner „Angstzustände" an einem sehr lehrreichen Falle aus-
geführt habe.
Ebenso kann die Frau eines Freundes sehr gefährlich werden,
und dieser Weg über eine Dritte war schon oft die Ursache fürchter-
licher Ehedramen. Ich kenne Männer, die sich immer in die Geliebte
ihres Freundes verlieben, natürlich, ohne es zu ahnen, daß sich hinter
dieser Liebe die Liebe zu ihrem Freunde verbirgt.
Zum Schlüsse möchte ich noch eine markante Maske der Homo-
sexualität erwähnen. Es ist dies die psychische Impotenz, die sich
besonders vornehmen Frauen gegenüber äußert. Männer, die bei der
Dirne potent sind und bei der „Anständigen" versagen, sind Homo-
sexuelle, die sich an der Vorstellung, die Dirne sei vor ihnen von
einem anderen Manne besessen worden, entzünden. Selbstverständlich
hat diese Impotenz noch viele Determinierungen. Die hier erwähnte
fehlt niemals.
Erst das Studium dieser larvierten Formen der Homosexualität
wird uns die nicht abzuschätzende Bedeutung der Bisexualität für das
Seelenleben der Kulturmenschen begreiflich machen.
Auf andere Masken der Homosexualität, wie sie sich in Phobien
and Zwangsvorstellungen äußern, will ich nur flüchtig hinweisen. Es
gibt viele Männer, die von schweren Angstzuständen befallen werden,
wenn ein anderer Man hinter ihnen geht, die mit einem Manne aus
rationalisierenden Motiven nicht allein im Zimmer bleiben wollen, die
immer Szenen träumen, in denen ein Mann einen Revolver oder ein
Messer auf sie richtet, die die Sensation haben, ein harter Gegen-
stand, ein Stück zylindrischen Stuhles, stecke in ihrem Rektum. Sie
verraten ihre verdrängte Homosexualität, ebenso wie die Paranoiker,
die sich von Männern verfolgt wähnen. Bei Frauen treten ähnlich«
Phobien auf, besonders Angstvorstellungen, die sich auf die Dienst-
boten richten. Frauen, die immerwährend die Dienstboten wechseln,
Eich bei jeder Gelegenheit über sie ärgern, zanken, sich zu tätlichen
Berührungen (welche eigentlich Sexualakte ersetzen) hinreißen lassen,
sind häufig Homosexuelle. Ebenso kann manche Form des Feti-
schismus die Homosexualität verraten.
Wir können uns mit Recht darauf gefaßt machen, daß die Er-
forschung der homosexuellen Masken die Sexualwissenschaft fördern
wird. Ebenso sieher dürfte der Widerstand weiterer Kreise diesen
neuen Erkenntnissen gegenüber ein ungeheurer sein. Vielleicht Btammt
ein guter Teil aller Widerstände gegen die Analyse aus diesen Quellen.
Was die Menschen am wenigsten einsehen wollen,
ist ihre ausgesprochen bisexuelle Anlage.
176 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich werde diesen allgemeinen Ausführungen noch zahlreiche Be-
obachtungen aus meiner Praxis folgen lassen, welche uns alle beweisen,
welche große Bedeutung die homosexuelle Komponente im Liebesleben
scheinbar normal empfindender Menschen spielt. Man wird jetzt ver-
stehen, warum ich nie den Ausdruck „konträre oder verkehrte Sexual-
empfindung" gebrauche, warum ich nie von Inversion und Perversion
rede, wenn ich die Homosexualität behandle. Zweck dieses Buches ist,
auf das Vorhandensein homosexueller Triebkräfte in jedem Menschen
hinzuweisen und das Normale an dieser Erscheinung klarzustellen.
Denn normal ist alles, was natürlich ist. Und von
Natur aus sind wir nie monosexuell, sondern bi-
sexuell.
Es tut mir sehr leid, daß ich einem so verdienstvollen Forscher
wie Hirschfeld widersprechen muß. Aber ich begreife nicht, wie er
neben den Hetero- und Homosexuellen noch eine dritte Gruppe, die
„Transvestiten"1), aufstellen konnte. Die schönsten Beispiele von
maskierter Homosexualität und angestrebter Bisexualität finden wir
unter den Transvestiten. So nennt Hirschfeld Männer, welche — aus
einem inneren unwiderstehlichen Drange — Frauenkleider tragen
müssen, und Frauen, die aus den gleichen Motiven Männerkleider tragen.
Ich habe in einer eingehenden Kritik2) darauf hingewiesen, daß es nicht
angehe, die Transvestiten als eigene sexuelle Spezies zu betrachten,
daß sie vielmehr nur als Bisexuelle mit stark homosexuellem Einschlag
anzusprechen sind. Hirschfeld legt Wert darauf, daß die Transvestiten
geschlechtlich normal fühlen, aber nur den Drang haben, die Kleider
des anderen Geschlechtes anzulegen. Leider berücksichtigt er nur die
bewußte sexuelle Leitlinie. Er nimmt die ersten Angaben
der Untersuchten als unumstößliche Tatsachen an und vernachlässigt
die wichtigsten Mechanismen der Verdrängung und Verheimlichung,
des Spieles vor sich selbst und mit sich selbst. Erst die genaue Ana-
lyse kann darüber Aufschluß geben, wie die Angaben der Untersuchten
zu werten sind. Da erleben wir freilich die merkwürdigsten Über-
raschungen. Es zeigt sich immer wieder, daß es keine monosexuellen
Menschen gibt und daß die Transvestiten ebenso wie die Homosexuellen
ihre Verdrängungen haben. Der Homosexuelle verdrängt seine Hetero-
sexualität, der Transvestite seine Homosexualität. In der Phantasie
ist er dann ein Weib (für die Frauen gilt das Umgekehrte !) und kann
auf diese Weise die beiden Komponenten seiner Libido vereinigen.
*) Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidung6trieb.
Alfred Pulvermacher, Berlin 1910.
2) Zentralbl. f. Psychoanalyse, Bd. I, S. 55.
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 177
Es heißt den Tatsachen geradezu Gewalt antun,
wenn man die Transvestiten von den Homo-
sexuellen trennen will.
Liest man die von Hirschfeld publizierten Fälle genau durch
und forscht man nach latenter Homosexualität, so wird man sie in
keiner Krankengeschichte vermissen. Der Eine macht in coitu den
Succubus, was ebenfalls ein Symptom latenter Homosexualität dar-
stellt; geht er als Dame aus, so empfindet er Ekel vor den Herren,
die ihm nachsteigen. Der Zweite konnte überhaupt erst nur mit Hilfe
von Alkohol einen heterosexuellen Verkehr erzwingen, kokettiert und
spaßt gerne mit Männern, wenn er in Frauenkleidern ausgeht. Dem
Dritten ist der Gedanke an den homosexuellen Verkehr „zuwider",
er hat Verlangen nach Schwangerschaft, spielt in coitu den Succubus,
empfindet seine Frau als Mann. Den Vierten muß seine Frau pressen,
an sich drücken, in die Ohrläppchen die Nägel eingraben, damit er
die Illusion hat, er werde von einem starken Manne besessen.
Und gar erst der Fall 12! Ein Mann, der nach vier Jahren des
Zusammenlebens mit seiner Frau nur ein einziges Mal den Kongressus
ausgeübt hat! Dieser Kranke macht sogar eine offene Schwenkung
zur Homosexualität durch, die nach Hirschfeld eine scheinbare ist . .
Wie unterscheidet man eine scheinbare von einer wirklichen Schwen-
kung? Offenbar nur, wenn man das Phänomen der Bisexualität über-
sehen will und sich auf den starren Standpunkt der angeboren unver-
rückbaren Homosexualität stellt.
So berichtet dieser Transvestite über seine Homosexualität:
„Über Homosexualität erhielt ich zuerst Aufschluß durch das Buch-
Die Enterbten des Liebesglückes. Hier fesselten mich manche Stellen
außerordentlich, mehr noch als in masochistischen Werken, deren ich
gleichfalls eine ganze Reihe gelesen habe. Da ich auf mein Weibideal
aus obigen Gründen Verzicht leisten mußte, kam ich in Ge-
danken dazu, mir als Komplement meiner Sehn-
sucht einen Mann zu wünschen. Denn auch die stärkste
Frau wird in der Liebe dem Manne stets unterlegen sein wollen.
Ich brauche aber einen Partner, der mich gewisser-
maßen erobert und vergewaltigt. So sagte ich
mir, diese Rolle könne nur einem Manne zufallen.
Vieles, was ich von der Homosexualität in den Büchern las, bestärkte
mich in diesen Vorstellungen."
Wenn das nicht eine fadenscheinige Rationalisierung seiner
Homosexualität ist, — was sollen wir dann als Homosexualität be-
zeichnen?
Stakel, Störungen des Trieb- nnd Affektlebeus. II. 3. Aufl. 12
178 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
. (
Bemerkungen sind eigentlich überflüssig. Die Homosexualität
bricht in der Lebensgeschichte an allen Ecken und Enden durch.
Hirschfeld aber findet, daß die Schwenkung zur Homosexualität nur
eine scheinbare ist und daß die Grundfärbung seiner Libido der Trans-
vestismus ist. Die Homosexualität sei ein zufälliges Akzidens. Es
gibt aber keine solchen Akzidentia im Sexual-
leben! Auch beweist ein Tagtraum, der ebenfalls publiziert wurde,
daß der Wunsch des Herrn M. immer war: Ich möchte ein Weib sein.'
Aber es gibt Stellen in dieser Lebensbeichte, welche uns beweisen,
wie hoch er den Mann stellt und daß dieser Wunsch auf eine bestimmte
infantile Einstellung und auf ein Gefühl der Minderwertigkeit zurück-
gehen muß. Wie sonderbar mutet der Passus an: „Für den echten
Mann, der zu den stolzesten seines Geschlechtes gehört, ist die Be-
friedigung seines Geschlechtstriebes nur ein Gebot der Gesundheits-
erhaltung, eine Körperübung: sein großzügiger schaffender Geist
wandelt sonst in höheren Bahnen . . . usw."
Bei der Besprechung des Masochismus werden wir solche Fälle
wie den eben beschriebenen erst recht verstehen lernen. Er will Weib
und will gedemütigt sein. Er kann auch mit Frauen verkehren, wenn
sie etwas aktiv dabei vorgehen. Er hält immer an der Fiktion fest:
Ich bin ein Weib und bin dazu gezwungen, ein Weib zu sein.
Folgerichtig mußte er zu homosexuellen Betätigungen kommen. Der
Mann in ihm duldet keine Demütigung. Das Weib läßt sich willig
unterwerfen. Die Neurose zeigt sich in der Unterdrückung der männ-
lichen Komponente.
Wer die nachfolgende Krankengeschichte aufmerksam liest, der
wird die homosexuelle Wurzel des Verkleidungstriebes leicht erkennen.1)
Fall Nr. 23. Frau H. S. konsultiert mich wegen vollständiger sexueller
Frigidität in der Ehe. Sie ist jetzt 24 Jahre alt und heiratete mit 19 Jahren
aus Liebe. Sie war immer sehr leidenschaftlich und verliebter Natur, so
daß sie seit dem 14. Lebensjahre kein anderes Sinnen und Trachten hatte
als sexuelle Phantasien. Mit 15 Jahren verliebte sie sich in einen Vetter.
Bei seinen Küssen wurde sie sehr warm und hätte sich ihm am liebsten
ganz hingegeben. Der Vater aber merkte etwas und verbot dem Vetter
das Haus. Sie lebten am Lande und 'sie sah keinen Mann, der ihr gefährlich
werden konnte. Erst mit 19 Jahren lernte sie ihren jetzigen Mann kennen,
in den sie sich blitzschnell verliebte. Sie überwand den Widerstand der
Eltern und heiratete nach einigen Monaten. Schon während der Brautzeit
sagte sie ihrem Manne: „Ich glaube, ich werde nie mit einem Manne genug
haben! Du mußt auf mich gut aufpassen! . . ." Ihr Mann war die ersten
Wochen der Ehe impotent, was sie mit Verzweiflung erfüllte. Dann wurde
sie nach einer ärztlichen Behandlung des Mannes von ihm defloriert und
*) Vgl. auch die „AnalyBe einer Tranevestitin" in Band III, Kapitel XIV.
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. ^79
nach einigen Monaten gravid. Nach der ersten Gravidität gab es eine kurze
Periode, in der sie einen Orgasmus erzielen konnte. Dann aber schwand
das Gefühl für ihren Mann vollkommen und sie wurde tief unglücklich.
Sie änderte sich ganz in ihrem Wesen. Vorher war sie lebenslustig, eitel,
immer heiter. Sie wurde jetzt still, lebte zurückgezogen und mied besonders
alle Männer, weil sie sich vor ihnen fürchtete.
Die tiefere Erforschung des Falles zeigt, daß sie nach dem Tode ihres
Vaters, an dem sie mit leidenschaftlicher Liebe hing, sexuell anästhetisch
wurde. Der Vater war ein sehr ernster, strenger Mann, der seine schöne
Frau vergötterte und ein Muster an Pflichterfüllung und Treue war. Die
Mutter war eine Künstlerin, welche mit dem Tode des Vaters ganz halt-
los wurde. Sie konnte nicht allein bleiben und übersiedelte vom Lande
zu ihrer Tochter in die Großstadt. Ich vermutete, daß die Anwesenheit
der Mutter mit der plötzlich eintretenden Anästhesie in Zusammenhang
stehen müsse. Ob sie zu der Mutter eine besondere Neigung habe?
Sie betont, daß sie ein unaussprechliches Mitleid mit der Mutter hatte,
weil sie jeden Halt verloren hatte. Sie hätte ihr gerne den Vater ersetzt,
wenn es möglich gewesen wäre. Und nun gesteht sie:
„Sie werden kaum begreifen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich mir
damals sehnsüchtig gewünscht habe, ein Mann zu sein. Ich dachte immer
an die Mutter. Sehen Sie — sie ist noch so frisch und schön, so lebensdurstig.
Ich weiß auch, daß sie sehr leidenschaftlich ist. Wie wird sie ohne einen
Mann leben können? Nun muß ich etwas gestehen, was mir auszusprechen
außerordentlich widerstrebt. Sie kennen schon viele meiner Phantasien. Aber
eine habe ich Ihnen bis heute hartnäckig verschwiegen. Ich wollte die
Kleider des Vaters anziehen, von denen ich einige im Besitze hatte, und
des Nachts zur Mutter gehen. Ich habe mir einen solchen .... Apparat
verschafft. Aber es fehlte mir der Mut. Ich blieb in den Kleidern in meinem
Zimmer. Ich stellte mich vor den Spiegel und sah stundenlange hinein."
„Paßten Ihnen die Kleider?"
„Wissen Sie, ich hatte längst einige alte Anzüge von Papa. Ich habe
sie mir unter allerlei Vorwänden ausgebettelt. Ich. schrieb ihm, ich wollte einen
armen Mann unterstützen. Ich ließ sie ungefähr für meine Figur verkleinern
und trug sie sehr gerne, wenn mein Mann nicht zu Hause war. Ich habe
Bchon als kleines Mädchen die Kleider von meinem Bruder getragen. Das
war immer ein Festtag für mich."
„Erinnern Sie sich, was Sie sich vorgestellt haben, wenn Sie die
Kleider des Bruders an hatten?"
„Ach ja! Ich spielte immer, ich wäre der Papa . Ich war eine
Zeitlang recht unglücklich, daß ich ein Mädchen war. Ich beneidete alle
Knaben."
„Auch später, als Sie schon verheiratet waren?"
„Freilich! Sie wissen, ich habe nie den Mut zu einer Untreue aufge-
bracht. Aber ich dachte mir, wenn ich ein Mann wäre, ich könnte nie treu
sein. Ich habe immer die Männer beneidet. Ich fühlte mich seelisch eigentlich
mehr als ein Mann."
„Wie war es während der Zeit, als Sie Ihren Mann liebten?"
„Ich stürzte mich in diese Liebe und vergaß meine Neigung für Männer-
kleider. Ich fühlte mich damals ganz als Weib. Besonders als ich Mutter
wurde. Da war es aus mit meinen Träumen von Männlichkeit."
12*
180 Zweiter Teil. — ^Die Homosexualität.
„Das war auch die einzige Zeit, in der Sie im Verkehre mit Ihrem
Manne empfanden."
„Ich habe nie an diesen Zusammenhang gedacht. Aber Sie haben
recht. Damals war ich kurze Zeit ganz Weib, bis der Vater starb
„Und die Mutter ins Haus kam."
„Ja . . . so ist es . . . Sie meinen, daß ich da wieder ein Mann sein wollte»
Nun, ich kann Ihnen gestehen, daß ich immer den Papa um die Mama beneidet
habe. Ich dachte mir, wenn ich ein Mann wäre, ich müßte auch die Mama
lieben.
MJ* r^u a ?^Se Crgibt einige sehr Pressante Momente. Sie
träumt wiederholt daß sie ein Mann ist und einen Phallus hat. Sie träumt
auch daß sie nach der Art der Männer die Blase entleert. Sie gibt zu, daß sie
tu Ko tlSt°n vu Kmi eidenuschaftlich *W* Sie hatte auch wiederhol!
tZ^hln t Eltem belauscht, einmal direkt durch ein Schlüsselloch
KSt*' H T vhr ent'S6tzt ^ dachte' die Mutter Äse große
5SÄV^r Mr ein großes Vergnügen. Diese infantile
aifS?W männlichen Lust ist ihr bis heute geblieben. Ihr Lieblings-
ÄW? ich nochmals auf die Welt komme, werde ich ein Mann. Die
homosexuelle Einstellung zur Mutter raubte ihr die Libido in der Ehe.
FW io7/mP V Trfnnuag von der Mutter, wa6 Sie entrüstet ablehnte.
?.ft Sn T Sxfh T lhrem MaMe Scheiden lassen- Si* ^hrte auch einige
ä«lÄ ^ ^ S* mit der Mutter gemeinsam- MeS
StTtr 8r°S' au SIe emeS Tages ZU mir in Männerkleidern kam.
bie bat mich um eine Bescheinigung, daß sie abnorm sei und deshalb das
Be'rlin ÄnfSfÄT! *T* ?" "£ ■*■* daß MÄ* '
erhalL hätten arztllchen Zeugnissen diese Erlaubnis von der Polizei
Vorhält di6+ Frage ^Ch ?rem SexuaIleben gibt sie an, daß sie jetzt ein
Jwt Q mit Tm, ^nn hab6' der Sich für die Liebeßszenen Frauenkleider
anziehe. Sie erziele dabei einen sehr großen Orgasmus. Auf die Frage zu den
Beziehungen zur Mutter gibt sie ausweichende Antworten. Aber ich solle ia
nicht denken, daß sie eine „Urlinde" sei. Sie habe vor solchen Personen
geradezu einen Ekel. Ihre Mama sei jetzt nur ihre beste Freundin.
Es ist ganz klar zu ersehen, daß sie ihre homosexuelle Liebe zur
Mutter verdrängt hat und sich mit dem Symbol der Männlichkeit der
Hose begnügt. Der Mann, den sie umarmt, wird durch den Unterrock
zum Weibe. So führen beide Partner eine Komödie auf, in der der
heterosexuelle Akt ein Ersatz des ersehnten homosexuellen wird
Ich kenne eine Reihe von Fällen, in denen die Verkleidung eines
Mannes als Frau oder umgekehrt den Ausbruch einer Liebesraserei
hervorrief, zumindestens das Verlangen enorm steigerte. Immer wird
es sich um eine latente Homosexualität handeln, von der Blühev (1 c)
eine so schlechte Meinung hat. Während er sonst meinen Standpunkt zu
teilen scheint („man kann nämlich heute nicht mehr sagen, die Homo-
sexualität oder Heterosexualität seien angeboren, sondern vielmehr nur:
die Bisexualität ist angeboren, und zwar bei jedem Individuum
mit Prävalenz einer der beiden Richtungen"), unterscheidet er eine
_
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. \Q\
„gesunde Inversion"1) (das Heldentum) und den Durchbrach einer
latenten Homosexualität (die Dekadenz des römischen Kaisertums);
die eine kulturtragend und urwüchsig, die andere aus der „Versenkung
des Unbewußten durch eine Aufhebung der Hemmungen empor-
gestiegen" . . . Auch das heißt den Tatsachen Gewalt antun. Blüher will
gerade wie Hirschfeld die latente Homosexualität als ein „Pseudo", als
etwas unnatürliches ansehen und demgemäß beurteilen. Ich kann nach
den Erfahrungen meiner Praxis diese theoretischen Folgerungen nicht
unterstützen. Ich kenne nur eine Homosexualität und diese ist immer
angeboren. Aber sie ist immer mit der Heterosexualität vergesellschaftet
und trachtet sich unter allen Umständen durchzusetzen. Das
Wissen um seine eigene Homosexualität ist kein
Zeichen, an das wir uns halten können. Schätzt man
die Zahl der bewußt Homosexuellen auf 2%, so können wir ruhig
behaupten, daß 98% der Menschen von ihrer Homosexualität nichts
wissen oder zumindestens nichts wissen wollen.
Wenn wir die Masken der Homosexualität genau kennen, so
werden uns plötzliche homosexuelle und heterosexuelle Leidenschaften
verständlich. Ich verweise nur auf die Bedeutung der „Hose" im
Liebesleben. Wie häufig verlieben sich Männer in Frauen, die sie in
Hosen sehen! Ich erinnere mich, daß wir im Gymnasium eine ganze
Menge Kollegen hatten, die in eine Sängerin verliebt waren, seit sie sie
in einer Hosenrolle gesehen hatten. Grillparzer verliebte sich angeblich
einmal in seinem Leben sehr stürmisch. Es war die Sängerin, der er das
begeisterte Gedicht in einer Art Absence geschickt hatte. Sie war als
Cherubin in einer Hosenrolle aufgetreten. Das Weib in der Hose ist
ein typisches Kompromiß. Durch solche Kompromisse kann auch der
Homosexuelle plötzlich heterosexuell werden. Hirschfeld, der auf diese
Tatsache aufmerksam macht, erzählt, ein in der Berliner Urningwelt
bekannter Kavallerieleutnant habe eines Tages seine Bekannten mit
einer Verlobungsanzeige überrascht und noch mehr durch die Mitteilung,
er sei völlig heterosexuell geworden. Er liebte vorher nur Jünglinge in
Mädchenkleidern und traf offenbar ein Wesen, das dem Jünglingstyp
*) Auch das neue großangelegte Werk von Blüher „Die Rolle der Erotik
in der männlichen Gesellschaft" (Eugen Diederichs, Jena 1917 und 1919)
bringt sehr 6chöne Worte und anregende Gedanken, aber keine Beweise für die Hypo-
these, daß die Homosexualität angeboren ist. Der Homosexuelle, wie ich ihn beschreibe,
ist für Blüher nur der „Typu6 neuroticu6 inversue", von dem er den angeborenen Homo-
sexuellen, den Männerhelden, den Ausbund aller Tugenden, scharf unterscheidet. Ich
bedauere lebhaft, daß ich trotz großer Erfahrung diesem Männerhelden nie begegnet
bin. Alle Homosexuellen, die ich seelisch entkleiden konnte, waren alles andere eher
— als Helden.
182 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
entsprach, so daß er beide Komponenten seiner Libido befriedigen
konnte. Das Symbol kann eben eine ungeheure Kraft entfalten. Die
Hose ist das Symbol der Männlichkeit. Ich erinnere mich an den Sturm
der Entrüstung, der im Volke aufflammte, als die Frauenmode die Hose
usurpieren wollte. Der Rock, die langen Haare sind wieder Symbole der
Weiblichkeit. Das Symbol bildet oft die Brücke, über die sich die sonst
antagonistisch widerstrebenden Triebrichtungen verbinden.
Der folgende Fall gehört zu dieser Gattung.
Fall Nr. 24. Herr E. W. onanierte schon mit fünf Jahren und stellte'
sich dabei immer vor, daß er ein Mädchen betaste. Später ma'sturbierte er mit
Mitschülern zusammen. Sie versuchten auch päderastische Akte, bei denen er
weder Ekel noch besondere Libido empfand. Mit vierzehn Jahren verführte
ihn ein Dienstmadehen, zu der er ein Jahr hindurch jede Nacht ins Bett stieg.
Bis dahin ein schlechter Schüler, wurde er der Beste in der Klase. Bald
wurde er ihrer müde und suchte sich andere Gelegenheiten, die sich immer
wieder fanden. Er behauptet, daß er bis zu seinem zwanzigsten Jahre
sämtliche Madchen besessen hatte, die bei seinen Eltern dienten, nach seiner
Schätzung waren es ungefähr zwanzig. Auffallend war ihm, daß er nicht immer
Orgasmus erzielen konnte. Er war wohl immer sehr potent, oft so potent, daß
die Madchen sich wunderten. Aber er wurde müde und kam nicht zur
Ejakulation. Das passierte ihm oft bei dicken Frauen, die ihn sehr reizten
und trotzdem nicht befriedigen konnten.
Er begann, sich sehr früh mit Malerei zu beschäftigen und sehnte sich
danach, das Cxefühl der Liebe kennen zu lernen. Denn diese kleinen Abenteuer
hatten nichts mit seelischen Empfindungen zu tun. Er wurde immer älter und
alle Frauen waren für ihn bloße Objekte der Lust. Er hatte verschiedene Ge-
liebte und konnte keiner lange treu bleiben und hatte nicht immer Orgasmus.
Erst bis er auf die Idee kam, den Situs inversus zu versuchen, war er immer
imstande, den Orgasmus zu erzwingen. Auch bei dem Coitus a posteriori ge-
langte er leichter zum Ziele als bei der normalen Position. Er war schon dreißi"
Jahre alt, als er in einer Gesellschaft ein Mädchen sah, das in einem lebenden
tfild als Knabe auftrat. Er wurde sofort von einer glühenden Leidenschaft
tur sie erlaßt. Er unterhielt sich den ganzen Abend mit ihr, war begeistert,
endlich in ihr das entsprechende „seelische Komplement" gefunden zu haben
Wach einigen Wochen verlobte er sich mit ihr. Immer schwebte ihm ihr Bild
als Knabe vor. Er heiratete bald, koitierte mit sehr starkem Orgasmus und
war in seiner Ehe außerordentlich glücklich. Nach einigen Jahren jedoch bildete
sich eine Störung der Potenz heraus, die ihn sehr kränkte, weil er seine Frau
sehr liebte und sich schämte, ihr den wahren Sachverhalt mitzuteilen. Er
wurde kalter und es kam vor, daß seine Potenz versagte. Da kam er einmal in
das Schlafzimmer seiner Frau (sie hatten getrennte Schlafzimmer), als sie sich
auskleidete. Sie stand m Unterhosen, in den modernen Reformhosen, in denen
sie wie ein Bub aussah. Sofort fühlte er wieder ein mächtiges Verlangen und
eine sehr kräftige Erektion. Er stürzte sich auf seine Frau, bedeckte sie, die
sehr schamhaft war und gegen sein Benehmen protestierte, mit Küssen. Es war
dies am hellen Tage. Niemals vorher hatte seine Frau einen Koitus am Tage
zugegeben. Diesmal aber nötigte er sie dazu, so daß sie ganz überrascht war
und immer wieder ausrief: Was hast du nur heute! Er gestand ihr den Grund
_
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 183
seiner Erregung nicht ein; er schämte sich von ihr zu verlangen, daß sie sich
das nächste Mal wieder in Hosen zeigen sollte. Er wollte die Erklärung dieses
merkwürdigen Zustandes und die Befreiung von diesem lästigen Zwange. Er
konnte später wieder die Potenz erzielen, stellte sich aber immer vor, seine
Frau trage Männerkleider. Dieser Mann war aus der Fremde und war nur für
einen Tag nach Wien gekommen. Ich konnte nichts von den psychischen
Wurzeln dieser Neigung erfahren. Er weiß sich an keinen infantilen Eindruck
zu erinnern, glaubt aber, daß er schon beim Anblicke seiner Schwester in
Unterhosen sehr erregt gewesen sei. Er interessiere sich sehr für die
weiblichen Unterhosen und könnte leicht Fetischist werden und sich solche
Höschen in den verschiedensten Qualitäten sammeln. Ich rate ihm, sich seiner
Frau anzuvertrauen und sie zu ersuchen, sich ihm in dem verlangten Kostüme
zu zeigen. Das wäre doch eine harmlose Neigung, die er mit vielen anderen
Männern teile. Ich sah ihn nach einigen Jahren wieder. Er hatte meinen Rat
befolgt, und seine Frau, die ihn sehr liebte, war schließlich darauf einge-
gangen, weil er auf keine andere Weise eine Erektion erzielen konnte, und sie
ohne die Erfüllung seiner ehelichen Pflichten nicht leben konnte. Seit sie „die
Laune" ihres Mannes berücksichtigt, kann sie ihn — so oft sie will — zu einem
Koitus anregen. Sie braucht nur die Hosen anzubehalten .... Den größten
Genuß erzielt er nämlich, wenn seine Frau die Hosen anbehält und dabei den
Situs inversus zugibt. Durch solche kleine Kompromisse, durch ein Eingehen
auf die spezifische Phantasie kann manche unglückliche Ehe in eine glückliche
verwandelt werden.
Das ist nicht der einzige Fall, den ich beobachtet habe. Ich kenne
Männer, welche im Lupanar von den Dirnen verlangen, daß sie sich nur
bis zu den Unterhosen ausziehen und dann in diesem Kostüme bleiben.
Andere, welche sogar von den Mädchen verlangen, daß sie Männer-
kleider anziehen. Den Dirnen sind diese latenten Homosexuellen gut
bekannt. Sie bleiben auch meistens passiv und verlangen die Aggression
der Frau. Das beweist, daß sie die Fiktion, sie wären ein Weib, auf-
recht erhalten wollen und sie durch kleine reale Werte zu unterstützen
trachten. Mancher Fall von Liebe auf den ersten Blick hat eine ähnliche
Motivierung.
Fall Nr. 25. Herr Z. I., ein Mann von 48 Jahren, war schon einige Male
leicht verliebt gewesen, war zweimal unglücklieh verheiratet. Seit der zweiten
Scheidung — vor sechs Jahren — zog er sich von den Frauen zurück, weil
er von ihnen eine schlechte Meinung hatte. Er pflegte zu sagen: „Alle Frauen
sind Ludern und keine ist wert, daß man sich ihretwegen ein graues Haar
wachsen läßt". Er war wegen dieses seines Leibspruches in der Tafelrunde
erklärter Frauenfeinde als der „Ludernmann" bekannt. Seine grobsexuellen
Bedürfnisse befriedigte er bei Dirnen oder bei den leichten Eroberungen der
Straße. Sonst aber wich er den Frauen aus und suchte nur die Gesellschaft der
Männer auf. Es war deutlich zu merken, daß er sich von der Hetero Sexualität
abwandte und der geistigen Homosexualität zuneigte. Da kam es, daß er einer
Künstlerin zu einer Büste Modell sitzen mußte. Die Bildhauerin war noch in
184 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
den gewöhnlichen Kleidern und machte keinen besonderen Eindruck auf ihn.
Sie bat ihn einen Moment zu warten, sie müsse noch die Arbeitstoilette machen.
Er wartete einige Minuten und als sie wieder erschien, war er verblüfft. Sie
trug einen langen weißen Kittel, der das Kleid ganz bedeckte, ein kleines
kokettes Barett, um die Haare vor dem Staube zu schützen, und einen Zwicker,
den sie nur bei der Arbeit anlegte. Sie sah so reizend aus, daß er sich in diesem'
Moment in sie blitzartig verliebte. Er machte aus seiner Neigung kein Hehl
und holte im Frauendienste nach, was er die letzten sechs Jahre versäumt .
hatte. Sie ließ sich seine Huldigungen gerne gefallen. Um seine Ruhe war es
geschehen. Er war in sie verliebt, wie er nie zuvor verliebt gewesen. Nach
einigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie höflich ablehnte.
Sie hatte sich vorgenommen, nie zu heiraten. Er gab aber nicht nach und
verfolgte sie mit seinen Aufmerksamkeiten und Zärtlichkeiten. Er ging nicht
mehr m den Klub, nicht mehr zu seinen Freunden. Er war verliebt wie ein
dummer Junge und behauptete, er wisse erst jetzt, was Liebe sei. Da wollte
ihn einer semer Freunde von seiner Leidenschaft kurieren und teilte ihm im
Vertrauen mit, er habe gehört, daß die Bildhauerin homosexuell sei und ein
Verhältnis mit einer Sängerin habe, die immer in Hosenrollen auftrete. Die
ganze Stadt wisse davon. Es sei ein öffentliches Geheimnis. Diese Mitteilung
hatte die entgegengesetzte Wirkung. Seine Leidenschaft erreichte einen Grad,
der ihn das Leben ohne sie als wertlos erachten ließ. Er kämpfte mit Sclbst-
mordideen und teilte sie auch der Auserwählten mit. Das machte auf sie
einen großen Eindruck und sie teilte ihm offen mit: Sie wolle gern seine
Geliebte werden, aber nie seine Frau. Er sträubte sich eine Zeitlang gegen
dieses Kompromiß und wollte nur einen Bund für das Leben. Schließlich kam
es zu dem Verhältnis. Sie war keine Virgo mehr und erzählte ihm, sie wäre
schon die Geliebte ihres Lehrers gewesen. Deshalb wollte sie auch nicht
heiraten. Sie habe aber beim Lehrer nie auf normale Weise einen Orgasmus
erzielen können. Sie blieb auch in seinen Armen anästhetisch. Bloß cum digito
war Befriedigung und Orgasmus zu erzielen. Z. I. blieb ihr jedoch einige Jahre
treu und wollte sie trotz ihres Widerstandes immer wieder zur Ehe bewegen.
Er sah sie immer am liebsten in dem Gewände, das ihn so erregt hatte. Sie
hatten ihre Zusammenkünfte immer in ihrem Atelier und er kam immer erst
wenn sie in Arbeitstoilette war. Schließlich erkaltete seine Liebe und er
kehrte reuig zu seinem frauenfeindlichen Stammtisch zurück. Ein Versuch mit
einem bei ihm angestellten Mädchen mißlang und führte ihn. in meine Be-
handlung. Er glaubte sich impotent. Es war aber nur der in diesem Alter
auftretende homosexuelle Nachschub, der so viele Erscheinungen verursacht
welche die Arzte das Klimakterium des Mannes nennen. Die Analyse ergab'
daß die Künstlerin die Kusine eines seiner Lieblingsschüler war, dem sie
außerordentlich ähnlich war. Dieser Schüler trug in seinem Laboratorium
gleichfalls einen weißen Kittel, wie ihn die Bildhauerin an hatte. Diese
Ähnlichkeit war es, welche seine Libido so entflammt hatte. Der Schüler hatte
sich gerade einige Wochen vorher verlobt. Er war aus verschiedenen Motiven
gegen diese Verlobung. (Ein junger Mann solle sich wegen einer Frau nicht
eeme wissenschaftliche Karriere verderben!) In diesen Schüler war er verliebt,
ohne es zu wissen. Die Ähnlichkeit der Kusine hatte die Transkription der
Neigung in das Heterosexuelle gestattet und das Kostüm es ermöglicht, daß
ein Teil der homosexuellen Triebkräfte in das heterosexuelle Strombett
geleitet wurde.
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. i qfj
An diesen Fall möchte ich einige Worte über das Klimakterium
des Mannes und das kritische Alter der Frau anschließen. Der psycho-
logische Vorgang, soweit er den Abschied von der Jugend bedeutet, ist
ja bekannt und auch wiederholt beschrieben und besprochen worden.1)
Der ganze Liebesinstinkt des Menschen sträubt sieh gegen das Alt-
werden und fordert die Ausnützung der wenigen noch zur Verfügung
stehenden Jahre. Je geringer die sexuelle Ausbeute vergangener Jahre
gewesen, desto größer und stürmischer wird das Verlangen, das Ver-
säumte nachzuholen, „so lange es noch Zeit ist". Was aber die wenigsten
Forscher berücksichtigt haben, das ist die Bedeutung der Homo-
sexualität für diese kritische Zeit. Es kann ja auch sein, daß die In-
volution der Geschlechtsdrüsen dazu beiträgt, das Gegengeschlechtliche
stärker hervortreten zu lassen. Wer sich die Bisexualität chemisch
vorstellt — und es gibt ja manche Stützen für diese Theorie — , kann
dann von einem Siege des Gegengeschlechtlichen im Menschen über das
Gleichgeschlechtliche reden. Hirschfeld würde von einem Manne sagen:
Da er jetzt weniger Andrin produziert, habe das Gynäcin die Oberhand
gewonnen. Vielleicht erklären sich viele Fälle von sogenannter tardiver
Homosexualität (Krafft-Ebing) auf diese Weise. Habe ich doch einen
Mann gesprochen, der bis zum 50. Lebensjahre sich sexuell gar nicht
betätigte und auch keine Ahnung davon hatte, daß er homosexuell war.
Um diese Zeit kam er in die Kreise der Homosexuellen und ist jetzt ein
begeisterter Anhänger des dritten Geschlechtes. Vielleicht hängt auch
der Durchbruch der Homosexualität, der zu Paranoia führt — wir wollen
in den nächsten Kapiteln davon sprechen — , mit Veränderungen der
Sexualdrüsen zusammen, die sich dann psychisch äußern müssen. In dem
Falle Nr. 25 war es die Enttäuschung in der Ehe (beide Frauen hatten
ihn betrogen) , welche das Manifestwerden der homosexuellen Regungen
ermöglichte.
Es ist möglich, daß die schönen Versuche und Operationen von
Steinach diese Frage klären werden. Ich zweifle daran. Was beweisen
die Erfolge von Steinach bei Ratten und Kaninchen? Daß die Puber-
tätsdrüse — wie er das interstitielle Gewebe des Hodens nennt —
einen großen Einfluß auf die sexuelle Gestaltung des Körpers hat. Das
wußten wir schon aus den Versuchen von Halbem, Foges, Tandler u. a.
Die Untersuchungen an Skopzen und Kastraten haben uns das längst
bewiesen. Wir müßten durch Sektionen erst beweisen können, daß die
tardive Homosexualität durch Involution der Pubertätsdrüse ein-
getreten ist; wir müßten nachweisen, daß sie durch Implantierung
') Vgl. meinen Aufsatz „Da6 kritische Alter des Mannes" in „Nervöse Leute".
Verlag Paul Knepler, Wien.
186 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
einer neuen Pubertätsdrüse behoben würde. Tierversuche beweisen
nichts für den Menschen. Wir haben es überall auch mit der Wirkung
seelischer Kräfte zu tun, die sich mit körperlichen Ursachen kom-
binieren. Aber die Möglichkeit, daß die t a r d i v e Homosexualität
durch Involution der Pubertätsdrüse angeregt und gefördert wird, ist
nicht von der Hand zu weisen und würde vielleicht zu einer aktiven
Paranoiatherapie führen können.
Im späten Alter auftretende Leidenschaften entstehen oft im
kritischen Alter durch Flucht vor der Homosexualität, ein Mechanismus,
den wir noch eingehend besprechen müssen. Ich möchte hier nur auf die
merkwürdige homosexuelle Färbung im kritischen Alter aufmerksam
machen. Karin Michaelis, die sich mit dem Romane „Das kritische Alter
der Frau" ein großes Verdienst erworben hat, verabsäumt nicht, diese
Seite der seelischen Revolution entsprechend zu schildern. Das würde nur
beweisen, daß dieser Roman den Wert einer guten Biographie hat. Denn
diese Beobachtung deckt sich durchwegs mit meinen Erfahrungen. In
dem Romane wird die Neigung der Heldin zu einem Stubenmädchen sehr
eingehend geschildert. In diesem kritischen Stadium ist der Mann
besonders bereit, sich in eine homosexuelle Maske zu verlieben .... Ich
gestehe, daß ich mir diese Vorgänge auch ohne den Einfluß der
Geschlechtsdrüsen erklären kann. Denn man sieht Fälle, in denen von
Klimakterium noch keine Rede sein kann. Da ist es die Liebes-
enttäuschung, wie in dem letzten Falle, welche diese neue homosexuelle
Welle in Bewegung bringt. Auch die lange Zurückdrängung der homo-
sexuellen Tendenzen ist zu berücksichtigen.
Typisch ist das Verhalten aller dieser Menschen, die ihre Homo-
sexualität nicht sehen wollen. Sie verlieben sich mit einer derartigen
Intensität, sie stehen unter einem derartigen Willen zur Liebe, daß die
Leidenschaft dann alle vorherigen Leidenschaften übertrifft. Hier
eröffnen sich neue Ausblicke zur Psychologie des Don Juan, des
sogenannten „Wüstlings", und der Messalina . . . Auf der Flucht vor
der Homosexualität stürzt sich das Individuum in eine gesteigerte
Heterosexualität (mit Kompromißbildungen und Benützung von homo-
sexuellen Masken) , die aber selten die Ruhepunkte der Befriedigung
gewährt. Der Wollüstling ist immer der Mensch,
der seine Wollust nicht gefunden hat. Wer sie
gefunden hat, der hat auch immer wieder die Wellentäler der Libido,
die Ruhepausen des Sattseins. Wer sie nur scheinbar gefunden hat,
wird bald wieder von dem nicht gesättigten Triebe gejagt werden, sie
immer wieder zu suchen. So wenig wie eine Zwangshandlung den
Neurotiker dauernd beruhigen kann, weil sie nur eine Symbolhandlung
und ein Ersatz einer anderen Handlung ist, so wenig kann die in die
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. i Q7
Hoterosexualität getragene unerledigte Homosexualität durch einen
heterosexuellen Exzeß zur Ruhe kommen. Der Sexualtrieb ist ja —
wie Freud mit Recht betont — komplexer Natur und kommt selten in
seiner ganzen Stärke und Totalität zur Anwendung. Der ganze Trieb,
ungeteilt, ungehemmt, ist das unerreichte Ideal aller Menschen; der
Zustand des Verliebens ist die Erwartung einer bisher nicht erreichten
Befriedigung.
Im kritischen Alter des Mannes und der Frau brechen oft schwere
Zwangsneurosen aus, die irrtümlicherweise auf Aufregungen, Überan-
strengungen und andere nebensächliche Momente zurückgeführt werden.
Jede dieser Zwangsneurosen ist ein kompliziertes Rätsel, das die Auf-
gabe hat, die treibenden psychischen Kräfte vor sich und der Welt zu
verbergen. Sehr häufig lassen sich hinter den verschiedenen „ver-
rückten" Symptomen die Schutzbauten gegen die Homosexualität nach-
weisen.
Der nächste Fall bietet uns eine interessante Auslese von Sym-
bolismen und Symbolhandlungen, die leicht verständlich werden, wenn
man den Schlüssel gefunden hat.
Fall Nr. 26. Herr Beta erkrankt im Alter von 60 Jahren an einer eigent-
lich akut ausbrechenden Neurose. Plötzlich überfällt ihn die Angst vor der
Tuberkulose. Er ist der festen Überzeugung, daß er tuberkulös ist, und der
Ausspruch berühmter Ärzte kann ihn nur für einige Tage beruhigen. Er liest
alle populären Werke über Tuberkulose und auch die wissenschaftlichen
Bücher von Cornet, Koch und anderen Forschern. Er hat sich ein ganzes
System zurechtgelegt, wie man die Tuberkulose heilen kann. Er glaubt, daß
kalte Luft das beste ist, und macht große Spaziergänge im Freien, will nur bei
offenen Fenstern schlafen, fährt nach Davos und lebt am liebsten in Orten,
wo man Wintersport treibt. Er ist überzeugter Anhänger der Tröpfchen-
infektion und meidet infolgedessen die Nähe von . . . Männern.
„Warum gerade von Männern? Kann man durch Frauen nicht ebenso
infiziert werden?"
„Nein! Frauen expektorieren nicht so kräftig. Die Männer expektorieren
in weitem Strahle, Frauen nur in einem kleinen Umkreis."
„Woher haben Sie diese Kenntnisse?"
„Sehen Sie, das habe ich durch Studium und Nachdenken gewonnen.
Ich dachte mir, Husten und Urinieren sind zwei sehr ähnliche Vorgänge. In
beiden kommen Ausscheidungen des Organismus vom Innern in die Atmo-
sphäre. Eine Frau uriniert auch nur mit kleinem, nicht weit reichendem
Strahle. Männer urinieren sehr kräftig und können einige Meter weit den
Urin entleeren."
Schon dieser Vergleich verriet mir, daß es sich bei dieser Angst vor
Tuberkulose um einen versteckten sexuellen Trieb handeln müsse. Allein
Beta setzt diesen Vergleich noch fort.
„Männer sind auch imstande zu ejakulieren, während Frauen nur ein
kleines Stück Schleim ausstoßen sollen, das in der Scheide bleibt ....
188 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Wie dem auch sei, ich fürchte besonders die Infektion durch einen tuber-
kulösen Mann."
Ich erkundigte mich, wie das Leiden entstanden sei und wie lange es
besteht, und hörte folgende sehr bezeichnende Begebenheit:
„Ich lebte längere Zeit mit einem Neffen zusammen, der bei mir wohnte
und ein eigenes Zimmer hatte. Einmal kam meine verheiratete Tochter zu
uns auf Besuch, weil ihr Kind Keuchhusten hatte und ihr Luftveränderung
empfohlen wurde."
(Es ist charakteristisch, daß er sich vor der Ansteckung mit Keuch-
husten nicht fürchtete, obwohl ihm ein böser Fall bekannt war, daß ein
älterer Herr sich infiziert hatte und viele Monate krank war. Die Angst
vor der Tuberkulose erweist sich dadurch als einzige „überwertige" Idee.)
„Ich mußte — fuhr er fort — mit meinem Neffen in einem Zimmer
schlafen. Er war erst vor einigen Monaten aus Meran zurückgekommen
und galt zwar als geheilt . . . Aber Sie wissen ja, wie diese Heilungen bei
näherer Betrachtung aussehen. In der Nacht war ich schon aufgeregt und
hörte den Neffen ein paar Mal husten. Ich merkte, daß er nicht schlief, und
konnte auch keinen Schlaf finden, weil ich daran dachte, daß ich mich sicher
infizieren würde. Am nächsten Morgen schon lief ich zu meinem Hausarzt,
der mich auslachte, aber auf mein dringendes Befragen mir sagte: „Wenn
Sie solche Angst haben, so schlafen Sie halt in einem anderen Zimmer."
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und übernachtete nun einige Wochen
in einem Hotel. Doch da begann mich der Gedanke zu plagen, daß hier
vielleicht wieder ein Tuberkulöser übernachtet haben konnte, und ich fand
wieder keinen Schlaf. Ich schwitzte bei Nacht und glaubte nun den Ärzten
nicht und war überzeugt, daß dies das erste Stadium der Tuberkulose
wäre . . ."
Wir merken, daß der alte Herr durch die Anwesenheit des Neffen
homosexuell erregt wurde und daß die Homosexualität sich ihm als Bild
der Tuberkulose bewußtseinsfähig machte.
„Ich könnte mir die Haare ausreißen, daß ich diesen Unsinn ge-
macht habe."
„Welchen Unsinn?"
„Nun, mit dem Neffen allein in einem Zimmer zu schlafen. Wenn ich
wenigstens eine spanische Wand vorgestellt hätte. Aber man denkt leider
in seinem Leichtsinn nicht an die Folgen . . ."
Überdies zeigt Beta eine Reihe von Zwangshandlungen, welche sich
leicht durchblicken lassen, wenn man einmal weiß, daß bei ihm „Tuber-
kulose" „Homosexualität" bedeutet. Er geht auf der Gasse und bemerkt aus
der Ferne, daß ihm ein Mann entgegenkommt. Er weicht aus und geht auf
die andere Seite; er reicht keinem Mann, auch seinen Freunden, nicht mehr
die Hand; sie könnte ja Tuberkelbazillen tragen. Alle Stätten, wo Männer
nackt zu sehen sind, Bäder, Sportspiele, sind Verbreitungsherde der
Tuberkulose.
Überdies macht sich in seinem Wesen ein weiblicher Zug bemerkbar.
Er hat sich den Bart rasieren lassen, weil Haare Brutstätten für Tuberkel-
bazillen sind; er ist jetzt rührselig, weinerlich, unentschlossen, weichlich
Latente Homosexualität. — Maske» der Homosexualität usw. 1 ÖQ
geworden. Er findet, daß die Mode der kurzen Röcke nicht kleidsam ist
und trägt einen langen Rock, der fast wie ein Kaftan aussieht.1) Es handelt
Bich um einen vollkommenen Durchbruch der Weiblichkeit, der schon einen
Übergang zu den Paranoiaformen bildet, auf die wir später zu sprechen
kommen werden. Auch erwacht in ihm Eifersucht auf seine Frau und er
findet sich zurückgesetzt, nicht genügend beachtet. Er ist aufgeregt, schlaf-
los, lebensüberdrüssig. Die Analyse wird nach einigen Stunden abgebrochen.
Solche Kranke zittern vor der Wahrheit, eilen von Arzt zu Arzt
und wollen eigentlich nur eines : ihr Geheimnis behalten und die Homo-
sexualität in der maskierten Form weiter pflegen. Einmal entlarvt,
wäre es ihnen nicht so leicht möglich. Sie werden immer unter allerlei
Vorwänden nach einigen Stunden der Behandlung verschwinden, wobei
in Betracht zu ziehen ist, daß sie ja den Arzt auch als Mann betrachten,
ihre homosexuelle Liebe auf ihn übertragen und nun die Gefahr des
Zusammenseins mit dem geliebten Objekte fliehen.
An diesem Falle glaube ich gezeigt zu haben, welche wunderliche
Verkleidung der Durchbruch der Homosexualität herbeiführt. Ähn-
liche Formen sind auch die Angst vor der Syphilis, die Angst vor Blut-
vergiftung, die Angst vor Berührung. Hinter diesem Schreckbilde
Syphilis steckt ein anderes Verbot. Ich glaubte früher, daß es sich bei
der Syphilidophobie nur um den Inzest handelt. Jetzt weiß ich, daß
es sich um die Angst vor „der verbotenen Liebe" handelt.
Die Syphilis wird ein Symbol des Inzestes oder der Homosexualität.
Infiziert werden heißt: mit homosexuellen oder inzestuösen Tendenzen
durchseucht werden. Die Bilder sind der Sprache des Alltags ent-
nommen. Man spricht immer, daß ganz Berlin mit Homosexualität
infiziert sei; die Gegner der Homosexuellen wettern gegen die Seuche,
welche das deutsche Volk verpeste; man bewahrt einen Jungen vor
der Ansteckung der Homosexualität. Ist es also wunderlich, wenn
die krankhaften Ausdrucksformen der Neurose dann die gleichen Bilder
annehmen? Die Entstehung solcher Angstzustände in höherem Alter
ist immer verdächtig auf einen Durchbruch der Homosexualität, gegen
die dann neue Sicherungen errichtet werden müssen. Wollte ich alle
diese Formen hier beschreiben, ich müßte ein neues Werk über Angst-
zustände vollenden. Wir wissen es ja, daß alle Neurosen eine bisexuelle
Analyse verlangen. Ich möchte aber behaupten, daß der Beitrag der
Homosexualität zur Neurose ein viel größerer ist als der aller anderen
verpönten Triebrichtungen.
Ich wende mich zu der Schilderung eines Charakters, bei dem
man am allerwenigsten die Homosexualität als treibende Kraft ver-
muten würde: zum Don Juan. Von der Messalina werden wir später
1) Ähnliche Züge finden sich bei Jean Jacques Rousseau.
190 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
in dem Buche über die sexuelle Anästhesie der Frau sprechen. Aber
der Don Juan erfordert eine gesonderte Abhandlung. Man denke, ein
Mann, der sein Leben in den Dienst der Frauen stellt, der Tag und
Nacht nur an neue Eroberungen denkt, der jede Frau schön findet,
wenn die Stunde es verlangt, für den keine zu alt, keine zu häßlich
ist, wenn er sie für sein Register braucht, dieser Mann sollte an
latenter Homosexualität leiden? Und doch ist es so, und je mehr ich
Gelftgenheit habe, die Psychologie des Frauenjägers kennen zu lernen,
desto fester wird meine Überzeugung, daß hinter dem rastlosen Treiben
die Jagd nach dem Manne steckt. So viele Erklärungen man auch
über den Don Juan, diesem Vorläufer Faustens, gefunden hat, keine
löst restlos sein. Wesen auf. Erst die Heranziehung der latenten
Homosexualität macht uns den Typus verständlich.
Welche Charaktereigenschaften sind für den Don Juan typisch?
Erstens: Seine leichte Entflammbarkeit. Zweitens: Die Wahllosigkeit
seines Geschmackes. Drittens: Das rasche Erkalten. Natürlich gibt
es verschiedene Übergangsformen und Zwischenstufen. Ich wähle nur
den Grundtypus heraus, wie er mir in einigen Beispielen bekannt ist.
Die Trias „rasch entflammt — nicht wählerisch — rasch erkaltet"
gestattet mannigfache Variationen. Besonders die Wahl der Liebes-
objekte wird bei manchen Frauenjägern durch eine bestimmte feti-
schistische Vorliebe (z. B. rotes Haar, Jungfrau, bestimmte Gestalt,
bestimmter Beruf) eingeengt. Es gibt unter den Don Juans Sammler
bestimmter Typen. Ich kannte einen Witwensammler. Die Größe der
Begierde war proportional zur Kürze des Witwenstandes. Nur Frauen
in Trauer zogen ihn an. Aber in dieser Variation war er dann wahllos.
Ob sie jung oder alt, 6chön oder häßlich war, das war ihm gleich,
wenn sie nur eine Witwe war. Sein Stolz waren die Witwen, die am
Tage des Begräbnisses seine Geliebten wurden.
Oskar A. H. Schmitz1) hat einen feinen Unterschied zwischen dem
Typus des Don Juans und dem des Casanova gemacht: „Don Juan ist ein
betrügerischer, listiger Verführer, dem die damit verbundene Besitzergreifung,
die Gefahr, die Betätigung seiner Macht und Herrschaftsgelüste Hauptsache
ist, der aber an sich unerotisch ist, während Casanova der Erotiker par
excellence ist, auch verschlagen und betrügerisch, aber nicht um seine Macht
— sondern um sein sinnliches Liebesbedürfnis angenehm zu befriedigen. Don
Juan kennt nur die Weiber, für Casanova ist jede „das Weib". Don Juan ist
dämonisch, teuflisch, er geht auf das Verderben der von ihm verführten
Weiber aus, er stößt sie absichtlich ins Unglück, Casanova ist menschlich,
sorgt immer für das Glück seiner Geliebten und widmet ihnen ein zärtliches
Andenken. Don Juan verachtet die Weiber, er i6t der Typus des Misogynen,
des satanischen Frauenhassers, Casanova ist typischer Feminist, besitzt ein
J) Don Juan, CaBanova und andere erotische Charaktere. (Stuttgart 190G.)
Latente Homosexualität. — Maskcu der Homosexualität usw.
191
tiefes Verständnis für die Frauenseele, wird durch die Liebe nicht enttäuscht
und braucht die ständige Berührung mit dem weiblichen Wesen für Bein
Lebensglück. Don Juan verführt durch sein dämonisches Wesen, durch die
Anziehungskraft der brutal-wilden Gewalt, Casanova durch die von ihm
ausgehende sinnliche Atmosphäre."
Bloch führt noch einen dritten Typus ein, den Pseudo-Don Juan oder
besser Pseudo-Casanova, den immer enttäuschten Sucher, der am besten durch
Retif de la Bretonne repräsentiert wird. Er sucht die wahre Liebe und
findet sie nie.
Wenn ich auch zugeben muß, daß der Verführer zwischen diesen Typen
schwankt, so möchte ich in allen drei Typen nur die Vertreter einer latenten
Homosexualität sehen. Keiner findet sein Ideal. Retif de la Bretonne ist
der ewig enttäuschte, weil er die wahre Liebe nie finden wird; in seiner
Liebe steckt noch viel Anbetung der Trau. Es ist eine Flucht in die Frau
vor dem Mann. Casanova beweist sich immer aufs neue, was er für ein
Mann und Kerl ist. Das Weib ist ihm Mittel, sein Persönlichkeitsgefühl zu
erhöhen. Er darf das Objekt nicht entwerten, sonst verringert er die Größe
seiner Siege. Der Don Juan liegt schon auf der Linie, die zum berüchtigten
Marquis de Sade führt. Er haßt das Weib, weil es nicht imstande ist, ihm
die große Liebe einzuflößen. Er sucht ewig Erlösung und hat keine Be-
rührungspunkte mit dem fliegenden Holländer, der die Liebe bis in den Tod
sucht. Aber ich kann nicht bestätigen, daß diese Typen so scharf geschieden
sind, wie Schmitz und Bloch es glauben machen. Es finden sich die feinsten
Übergänge und Variationen. Sie wechseln mit den Zeiten den Charakter und
gehen in einen anderen Typus über.
Wir bleiben daher beim Don Juan als Repräsentanten der Gattung
des Verführers. Ist doch allen diesen Typen gemeinsam, daß sie nicht Treue
halten und ihre Liebe nicht monopolisieren können. Und das ist für mich
das Entscheidende.
Die leichte Reizbarkeit, der Haß gegen die Frauen, die latente
Grausamkeit, die ewige Liebesbereitschaft zeigen uns, daß der Don
Juan im Grunde genommen immer unbefriedigt ist. Der wichtigste
Moment ist für ihn die Eroberung der Frau. In dieser Eroberung zeigt
sich etwas vom Haß gegen die Frau, der bei allen Homosexuellen —
latenten und manifesten — eine so große Bedeutung hat. Für den
richtigen Don Juan ist die Eroberung der Frau ein Problem, das seine
Spielerfreude reizt. Wird es auch bei der einen gehen und bei der
anderen und bei der dritten? Jede neue Eroberung überzeugt ihn von
seiner eigenen Unwiderstehlichkeit, von dem Zauber seiner Reize, so
daß er sich sagen kann: Du bist doch ein ganzer Mann! Er muß sich
immer wieder beweisen, daß er ein Mann ist, weil er seine Weiblich-
keit zu stark fühlt; er kann die Frauen mit Hilfe dieser Weiblichkeit
am leichtesten erobern, weil er aus sich heraus weiß und fühlt, was
die Frauen verlangen. Ist er doch selbst eine Frau in Männerkleidern.
Sein Narzissmus (die krankhafte Selbstliebe) verlangt immer wieder
neue Beweise seiner Unwiderstehlichkeit. Dieser Mann aber, der allö
192 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Perversionen an Frauen übt und der auch in der Abwechslung der
Liebesarten sein Suchen nach bestimmten Reizen verrät, wird sich nie
dazu hinreißen lassen, einen homosexuellen Akt zu begehen, obwohl
er sonst nicht wählerisch ist und von allem Bösen und Verbotenen
gekostet hat. Er findet die Homosexuellen ekelhaft und unausstehlich,
er müsse ausspucken, wenn er so einen Kerl sehe, er möchte alle diese
Männer und Frauen einsperren lassen, diese Männer ausrotten wie eine
Seuche. Er ist zu dem Problem der Homosexualität mit einem Affekt
eingestellt, der uns beweist, daß hinter diesen negativen Formen des
Ekels und der neurotischen Abwehr die positiven Triebriehtungen des
Verlangens versteckt werden. Er sucht auch Frauen, die sich dem
männlichen Typus nähern, denen die sekundären Geschlechtsmerkmale
fehlen, ganz magere, ephebenhafte Frauen, Matronen, Mädchen, die
noch Kinder sind, als Übergangsformen zum männlichen Typus.
Manchmal verraten gewisse Abneigungen, wie sie Hirschfeld als Anti-
fetisch beschreibt, den homosexuellen Charakter und die Schutzmaß-
regeln gegen die Homosexualität. Der eine verträgt keine Frauen, die
große Füße haben, der andere keine Frau, die am Körper behaart ist.
Da komme ihm das Brechen an. Der dritte wird durch das Schnurr-
bärtchen abgestoßen, durch eine tiefe Stimme. Es gibt da alle Über-
gangsformen. Der eine sucht den vollendeten Typus Weib, der andere
den Typus, der sich mein- dem Manne nähert, ohne den anderen zu
verschmähen.
Er sucht immer, weil er ja im geheimen nach dem Manne sucht.
Sein Sexualziel ist der Mann. Von jedem Weibe erhofft er die große
Lust, die ihn einmal befriedigt. Von jeder muß er sich enttäuscht ab-
wenden, da er ja nicht befriedigt werden kann. In der Eroberung und
in dem Verlassen der Frau zeigt sich wieder seine niedere Wertung
der Frau. Der Frauenschätzer ist eigentlich kein Don Juan, da er
seine Sexualität meistens auf wenige Frauen verteilt und von der Über-
wertung dieser Frauen seine Schlüsse auf das ganze Geschlecht zieht.
Der Don Juan benimmt sich so, als ob er die Frauen schätzen würde.
In der Geste aber, mit der er sie entläßt, liegt die ganze Verachtung
der Frau. Er schätzt nur die Frauen, die ihm widerstehen und die
er nicht erobern kann. Solcher Widerstand kann auch dazu führen,
daß der Don Juan heiratet, um in einer unglücklichen Ehe das alte
Leben fortzuführen. Denn er hat wieder nicht den Mann gefunden.
Charakteristisch ist bei näherer Untersuchung, daß die Wahl des
zu erobernden Objektes so oft durch homosexuelle Zünder erklärt
werden kann. Der Don Juan, der nach verheirateten Frauen jagt, legt
großen Wert darauf, daß ihm die Männer dieser Frauen gefallen. Das
steigert natürlich sein Selbstbewußtsein, denn es ist schwerer, einem
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. ^93
schönen Manne Hörner aufzusetzen als einem häßlichen. Ein solcher
Don Juan sagte mir einmal: „Ich habe alle möglichen Frauen besessen,
nur nicht die Frau eines dummen Kerls. So einen dummen Menschen
zu betrügen, das würde ich für eine Gemeinheit halten." Dieser Typus
legt offenbar Wert darauf, sich mit einem klugen Rivalen zu messen.
(Wenn du so klug bist, solltest du auf deine Frau besser aufpassen.)
Der Akzent liegt aber auf dem Umstände, daß ihm der Mann gefällt,
daß er den Mann bewundert und ihn als klugen Mann anerkennt. Er
muß erst den Mann lieben, ehe er seine Frau erobert, und er kann nur
kluge Männer lieben. Das ist seine Liebesbedingung. Maupassant
schildert in einer Novelle einen solchen Typus. Der Held kann nur
die Frauen von Männern besitzen, die ihm sympathisch und seine
Freunde sind. Einen extremen Typus dieser Art werden wir in dem
Kapitel „Eifersucht" kennen lernen.
Fall Nr. 27. Herr U. 0. ist jetzt 49 Jahre alt und macht eine schwere
seelische Krise durch. Er erzählt, daß er glücklich verheiratet gewesen, bis
eine Schauspielerin seinen Weg gekreuzt habe. In diese habe er sich so
verliebt, daß er nicht loskommen könne, das Haus vernachlässige, seinem
Berufe nicht nachgehen könne und im Begriffe stand, einen Selbstmord zu
begehen. Er habe sonst die Frauen nicht so lange lieben können und wäre
bald mit einer jeden fertig geworden. Nach einigen Wochen kam eine
andere daran.
„Sagten Sie nicht, daß Sie glücklich verheiratet sind?"
„Ja. Das hat mich nie gestört. Ich kann keiner Frau treu sein. Ich
muß immer Abwechslung haben. Ich bin ein polygamer Mensch. Diese Frau
ist die erste, der ich treu bin. Nicht meiner Frau, die ich schon in der
ersten Woche der Ehe betrogen habe, nein, der Geliebten, die mich ganz
aus dem Gleichgewicht gebracht hat, bin ich treu! Denken Sie: Ich dulde
es, daß sie mit anderen Männern verkehrt, von denen sie sich aushalten läßt.
Wer mir das früher gesagt hätte! — Ich nehme mir auch jedesmal vor,
nicht mehr zu ihr zu gehen und Schluß zu machen. Ich habe es meiner
Frau, die ganz gebrochen ist, auch geschworen. Ich bin immer zu schwach . . .
Retten Sie mich! Befreien Sie mich aus diesen unwürdigen Banden! Geben
Sie mich meiner Familie wieder!"
.... Die Lebensgeschichte dieses Mannes ist die oft gehörte anderer
Neurotiker. Er begann sehr früh sexuell zu verstehen und zu onanieren.
Schon im sechsten Jahre begannen seine ersten onanistischen Akte in der
Schule; er glaubt aber, daß es auch 6chon vorher der Fall gewesen. .Er
hatte allerlei Spielkameraden, mit denen er die „gewöhnlichen kindlichen
Scherze" trieb. Die gewöhnlichen kindlichen Scherze entpuppten sich als:
Fellatio, Päderastie, manuelle Onanie und Zoophilie. Sie richten einen Hund
ab, der ihnen dann durch Lecken den höchsten Orgasmus erzeugte. Die
letzte homosexuelle Liebe hatte er mit 14 Jahren. Es war ein Kollege, mit
dem er gegenseitige Onanie trieb. Eines Tages wurden sie über den Schaden
der Onanie belehrt und gingen zusammen in ein Bordell. Sie übten diese
Stekel, Störungen des Trieb- und Affektlebons. It. 2. Ann. 13
194 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Praxis sehr lange aus, weil es ihnen viel mehr Spaß machte. Oft wechselten
sie dann die Frauen. (Eine nicht so seltene Form, wie Latenthomosexuelle
zu großem Orgasmus kommen und auf Umwegen den Freund benützen. Jn
Lupanaren sehr häufig geübt.) Bald jedoch bildete er sich zum richtige]!
Don Juan aus. Schon mit 16 Jahren war er ein vollendeter Frauenjäger
und brachte es auch dahin, daß die Frau seines Gymnasialprofessors seine
Geliebte wurde. Er begehrte jede Frau, alt oder jung, schön oder häßlich
Er behauptet, seine größten Genüsse alten Frauen zu verdanken und pro-
duziert mir einen Brief von Franklin an junge Leute, der ihnen rät, sich
an die alten Frauen zu halten. Diese leichtbetonte Gerontophilie hinderte
ihn nicht, mit unreifen Mädchen, ja fast noch Kindern zu beginnen. Sein
ganzes Sinnen und Trachten vom Morgen bis zum Abend waren Frauen.
Wie er erwachte, stellte er sich die Frage: Was wirst du heute erleben*
Ist er mit einer Frau allein im Zimmer, so hat er nur einen Gedanken'-
Wie kann ich sie gewinnen? Er betrachtet jede Frau nur als Objekt seiner
Lust und wird ihrer sehr rasch müde. Mit Ausnahme einer älteren Dame
d.e er immer zeitweise besucht, auch jetzt in der Zeit seiner großen Liebe'
.st er keiner langer als einige Wochen treu geblieben. Oft hatte er schon
nach einmaligem Besitz einen Ekel vor dieser Frau und dachte sich: Du
bist auch nicht besser als die anderen. Er hat seit dem 16. Jahre durch die
ganze Zeit fast jeden Tag verkehrt und öfters mehrere Male am Tage.
Mit 32 Jahren lernte er seine Frau kennen. Ihr Vater war sein Bürovorstand,
? *nl An\i tn 6r L.mmer diG gpößte Verehrung hatte!
Tochrl; L MTi :h-?n g„bt V n'cht Viele!") Er Gratete seine
.ftMHM. L q Ua G andei'en FraUGn Stellte' und führte eine sehr
gluckliche Ehe Seine Angst war nur, daß seine Frau von seinen Eskapaden
erfahren konnte. Denn vor ihm war keine Schürze sicher und er hatte schon
?Mennrrt? . ren der Ehe mit der Köchin seines Hauses ein Verhältnis.
Schließlich brachte er sich dazu, im Hause nichts anzufangen und war so
vorsichtig, daß seine Frau ihm nicht auf seine Abwege kam. Er hatte dann
eine Reihe von Frauen und Mädchen, die ihm immer zur Verfügung 'standen
wann er gerade nach ihnen Lust hatte. Da lernte er einen jungen Mann
Kennen, der ihm sehr sympathisch war. Nur eines stieß ihn an ihm ab-
Daß er ein Homosexueller war und noch darauf stolz war. Das konnte er
hfl ^ ^gab 8ich alle Mühe' seinen Freund zur Frauenliebe zu
bekehren. Das mißlang vollkommen, aber sein neuer Freund führte ihn in
homosexuelle Kreise ein, die ihn „nur als Kulturmenschen" interessierten.
Er besuchte ein Caf 6, wo die Homosexuellen zusammenkamen, und merkte,
daß sich auch viele Intellektuelle unter ihnen befanden. Besonders wunderte
ihn, daß das gemeinsame Los die sozialen Unterschiede vollkommen nivellierte.
Em Graf verkehrte mit einem Kellner und einem Postbediensteten, als wären
es seine intimen Freunde. Nach einigen Wochen lernte er die Schwester
seines neuen Freundes kennen und verliebte sich auf den ersten Blick in
sie. Das war seine große Liebe!
Es war klar, daß der Umgang mit den Homosexuellen seine latente
Homosexualität von Hemmungen befreit hatte und daß die homosexuelle
Welle ihn zu ergreifen drohte. Dagegen gab es nur eine Rettung: Die
Flucht in die Liebe. Die Liebe zu seinem Freunde wurde die Liebe zu seiner
Schwester, die ihm außerordentlich ähnlich sah. Beim Koitus mit der neuen
Geliebten kam er bald auf die Idee, den Succubus abzugeben und auch die
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 195
anale Form der Befriedigung zu wählen, wobei er einen ihm vorher un-
geahnten Orgasmus empfand.
Durch anonyme Briefe erfuhr seine Frau bald die ganze Wahrheit.
Auch war er ihr gegenüber bald sehr schwach potent und konnte nur mit
Mühe den ehelichen Pflichten genügen.
In diesem Falle wirkte die Analyse wahre Wunder. Er lernte bald
die Quellen seiner Fixierung begreifen und wunderte sich nur, daß er so
blind gewesen und nicht selbst bemerkt hatte, daß er den Bruder in der
Schwester liebte. Er machte sich von der Schauspielerin auf würdige Weise
los. Er stellte ihr den Antrag, sie möge alle Verhältnisse lösen, dann wolle
er sein Wort halten und sie heiraten. Er liebte sie noch immer, aber er
war sehend geworden. Sie lachte ihm ins Gesicht. Ob er wohl die Kosten
ihrer Toiletten und ihre sonstigen Ansprüche befriedigen könne? Damit
war das Ende dieser Liebe unvermeidlich. Er schämte sich, daß er eine
solche Frau seiner Gattin hatte vorziehen können. Auffallend war ein Traum,
der die völlige Lösung seiner Fixierung brachte.
Ich bin mit Otto — so hieß der junge Freund — in einem Zimmer.
Er kam auf mich zu und sagte: Merkst du denn nicht, daß ich dich
liebe und nach dir verlange. Ich wehrte mich gegen seine Liebkosungen
und zog einen Revolver aus der Tasche. Ich hielt ihn hoch und wollte
auf den Freund schießen. Da verwandelte sich der Freund in meinen
Sohn und die blauen treuherzigen Augen meines Kindes baten flehend:
Schone mich! Da ließ ich die Waffe fallen und lief aus dem Zimmer.
Der junge Freund hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem eigenen
Sohne, dem er sich vor der neuen Liebe gerne gewidmet hatte . . .
Wir können aus diesem Falle lernen, daß es auch eine große
Liebe gibt, die den Verliebten vor sich selbst retten soll. Es gibt
Zeiten, in denen man lieben muß und dann das Liebesobjekt, auch wenn
es nicht den strengen Anforderungen entspricht, überwertet wird, um
in dem Rausche des Verliebtseins (wie in jedem anderen Rausche)
zu vergessen. Jede Liebe, die im späteren Alter auftritt, kann einen
Versuch bedeuten, sich mit allen Kräften in die HeteroSexualität zu
retten. Das Kennzeichen einer solchen Liebe ist das Übertriebene und
Zwangsmäßige. Der Verliebte kann nicht eine Stunde ohne seine Liebe
sein; er möchte sie immer um sich haben; sie soll ihn überall hin-
begleiten; selbst im Schlafe hält er die Hände der Liebsten, daß sie
ihn vor jeder Versuchung schützen solle. Und ich habe Fälle gesehen
— und werde bald über einen solchen berichten — , in denen die Liebe
alle Stürme überdauerte und als ein gelungener Heilungsprozeß zu
bezeichnen ist.
In der Analyse kommt es oft vor, daß diese Patienten auf den
Arzt übertragen, sich in ihn verlieben und in dieser Liebesbereitschaft
dann irgend ein weibliches Wesen finden, das ihnen zufällig in den
Weg läuft, in das sie sich „rasend" verlieben und das nun ihre Rettung
aus der sexuellen Gefahr bedeutet. Die Gefahr ist die Homosexualität.
13*
196 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Don Juan, Casanova, Retif de la Bretonne, sie fliehen alle den
Mann und suchen Erlösung beim Weibe. Retif ist Fußfetischist Die
Wahl dieses Fetisch, der ausgesprochen bisexuell ist, beweist schon
eine latente Homosexualität. Auf der Flucht vor homosexuellen
Regungen geraten die großen Frauenhelden oft in die schwersten
Neurosen Der nächste Fall wird uns die Schilderung eines solchen
neurotischen Schürzenjägers bringen.
Fall Nr. 28. Herr G.K., ein hervorragender Erfinder 32 Jahre alt
dbÄÄMdE ^ ^^f Y°n "rdigen MÄ£
nachsehen TJotIvT^ ftl**kr« muß" Er ™ß *rkä zwanzigmai
S dmch die wln , ^schlössen sind. Dann beginnt eine Wande-
lS'vShLZ Wohnimg und eine hochnotpeinliche Untersuchung, ob denn
SSS?&^.^ WÜ'd " ^»^ Ermüdet v"n d J5
ve .teckt hegt. Bei diesem Rundgange werden alle Fenster und Türen «*
Ärseh 5Ä t f w- :,**, i6t GS SCh°n S*ät nach Mitterna ht Er
andere Tu tLh Be"" .^ P1«** 0* der Zweifel, ob er diese oder die
22? h grundllch zugemacht hätte, . ob der Gasometer bestimmt
!T^ dT\Z' ^f " begimt auf8 neUG mit Sich zu kämpT™ Der VerSd
whlVÄ g6naU nachSesehen> ^ brauchst nicht mehr aufzustehen
aer lag beginnt schon zu dammern. Nun bleibt er im Bette schläft oft
p sfSÄs £iad
kann er sich das erlauben. Auch die Dienstboten werden so hoch entlohn '
daß sie gerne in dem „verrückten Hause» bleiben. Nachmittags arbe et er
in seinem chemischen Laboratorium. Seine Arbeiten haben ihn berühmt
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 197
gemacht. Er ist ein sehr fähiger Chemiker, der geniale Ideen hat und dessen
Patente seinen Reichtum geschaffen haben.
Überdies wird er von einer Zwangsvorstellung verfolgt, die sehr
sonderbar ist. Er will immer wissen, wie seine Frau gefällt und ob man
sie für eine schöne Frau hält. Seine größte Sorgo ist ihre Toilette. Er
verbringt viele Nachmittage mit ihr in Salons bei Schneiderinnen und bei
Modistinnen. Er macht ihr Vorwürfe, sie verstünde sich nicht zu kleiden,
sie lege keine Sorgfalt auf ihre Schönheit. Dabei ist es ihm gleichgültig,
wie sie im Hause herumgeht. Diese Sorge bezieht sich immer auf den Ein-
druck, den die Frau auf andere Männer macht. Es kränkt ihn auch, wenn
andere Frauen seine Frau nicht schön finden, aber lange nicht so, wie wenn
er das von Männern voraussetzt. Da er den Abend fürchtet, geht er gerne
in Gesellschaften. (Natürlich verschiebt sich dann sein Zeremoniell und er
schläft noch später ein.) Da ist es seine Hauptsorge, wie seine Frau gefällt.
Sagt ihm ein Mann: „Ihre Frau sieht heute prachtvoll aus!" Oder sagt
ihm ein fremder Herr: „Wer ist denn jene schöne Frau?" — wie es ihm
schon auf Bällen passiert ist, so ist er überglücklich. Oder er stellt seine
Frau einem Herrn vor und der sagt ihm später: „Ich wußte gar nicht,
daß Sie eine so schöne Frau haben!" — dann ist er selig und seine Frau
hat einen guten Tag. Er kauft ihr am nächsten Tage Schmuck, ist zärtlich,
überhäuft sie mit Schmeicheleien. Merkt er aber, daß seine Frau nicht be-
achtet wird, oder gibt es eine andere schönere Frau im Saale, so ist er
unglücklich. Er macht dann seiner Frau die heftigsten Vorwürfe, sie hätte
sich nicht schön genug gekleidet, er zürnt, er tobt, er wettert, er grollt
mehrere Tage, bis eine neue Episode, in der er merkt, daß seine Frau
Männern und Frauen gefällt, ihn wieder beruhigt. Er kann es nicht ver-
tragen, wenn er hört, daß ein anderer eine schöne Frau hat. Er ruht dann
nicht, bis er die Bekanntschaft dieser schönen Frau gemacht hat, und ist
selig, wenn ihm ein Herr sagt: Ihre Frau ist ja viel schöner! Hört er
aber, daß eine fremde Frau gelobt wird, ohne daß seine Frau erwähnt wird,
so ist er wieder sehr deprimiert und seine Frau hat eine schlechte Zeit zu
erwarten. Seine Vettern — er hat keine Brüder — haben alle sehr schöne
Frauen. Es bildet seine Hauptsorge zu untersuchen, ob seine Frau schöner
ist. Er legt diese Frage oft seinen Bekannten vor — recht unauffällig, denn
von diesen Dingen dürfen sie keine Ahnung haben — und ein Ausspruch eines
ihm sonst gleichgültigen Menschen entscheidet über die Stimmung des Tages.
Er ist daher glücklich, wenn er sieht, daß man seiner Frau den Hof macht.
Er ist nur betrübt, wenn junge Leute da sind und sich um seine Frau nicht
kümmern. Er ist nicht eifersüchtig, da er seine Frau kennt, sich auf sie
verlassen kann und weil seine Frau eigentlich nie allein ist. Sie ist ent-
weder mit ihm oder in Begleitung ihrer Mutter. Deshalb freut es ihn un-
bändig, wenn er sie von Herren umschwärmt sieht. Er führt sie auch an
alle Orte, wo eine Schönheitskonkurrenz stattfindet, und läßt es sich viel
Geld kosten, damit seine Frau den Preis davonträgt. Siegt eine andere, so
ist er wieder unglücklich und beneidet den Mann, der eine 60 schöne Frau
besitzt oder besitzen wird.
Dieser Mann ist überdies ein Don Juan und seiner Frau nie treu ge-
wesen. Er hat eine zweite Wohnung, in der er verschiedene Mädchen und
auch die Frauen seiner Freunde empfängt, die ihm sehr gut gefallen und
die auf seine Vorschläge eingehen. Da er ein sehr stattlicher, hoher, schöner
198 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Mann ist, so hat er großes Glück bei Damen. Überdies empfängt er noch
verschiedene Mädchen in seinem Laboratorium, das auch einen Raum besitzt,
den er für diese Zwecke verwendet. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht
neben seiner Frau eine andere — irgend eine andere — besitzt. Er sieht
sehr gut aus, hie und da etwas blaß, fühlt sich körperlich sehr frisch und
leistungsfällig. Er arbeitet eigentlich nur zwei bis drei Stunden im Tage.
In dieser Zeit leistet er viel mehr als andere Menschen in einem Tage."
Bemerkenswert ist auch die Art seiner sexuellen Befriedigung. Während
er bei seiner Frau immer nur den normalen Koitus ausübt, benützt er seine
Mädchen und Frauen dazu, die Art der Befriedigung zu vollziehen, bei der
er den größten Orgasmus erzielt. Er gibt ihnen seinen Phallus in die Hand
und küßt sie, dum puella membrum erectum tenet et premit. Mitunter voll-
zieht er Koitus, wenn der Partner es verlangt. Dann aber erfolgt interruptio
und wieder die Handmanipulation. Da er sehr potent ist, bringt er es zu-
stande, die Frau zu befriedigen, dann noch vor seiner Ejakulation den Penis
der Geliebten zur manuellen Bearbeitung zu überlassen. Andere perverse
Akte sind vorgekommen. Er hat alles versucht. Die erwähnte Form der
Befriedigung zieht er allen anderen vor. Ein gewisses Schamgefühl hinderte
ihn, sie auch von seiner Frau zu verlangen.
ir _* ,? dne A-namnese ist sehr dürftig. Er erinnert sich nicht an besondere
V ortalle der Kindheit und der ersten Jugend. Er begann sehr früh zu
onanieren und onanierte bis zu seiner Verheiratung jeden Abend vor dem
Einschlafen. Schon vor der Ehe hatte er ähnliche Zustände wie jetzt, aber
er war mit der Untersuchung in einer halben Stunde fertig. Allerdings
onanierte er täglich, auch wenn er mit Frauen verkehrt hatte. In seine
Wohnung nahm er die Frauen nie. Die kamen damals immer in sein Labo-
ratorium. Er hängt sehr an seiner Mutter, die noch heute eine begehrens-
werte Frau ist, und verehrt seinen Vater, der ihn sehr strenge, aber sehr
gerecht aufgezogen hatte und leichte neurotische Züge aufwies. An homo-
sexuelle Episoden kann er sich nicht erinnern. Er onanierte übermäßig und
begann mit 18 Jahren den Verkehr mit Frauen und dann wurde er ein
Frauenjäger mit einem ganz bestimmten Geschmack. Seine Frauen mußten
alle sehr weiß sein, einen blendenden Teint zeigen, schöne, rundliche, echt
weibliche Körperformen haben, aber nicht zu dick und überdies sehr schön
seih. Doch ersetzen der weiße Teint und die Glätte der Haut auch die Schön-
heit. Zu diesem weißen Gesichte fordert er dunkle, feurige Augen. Dieser
Typus scheint sich an das Bild der Mutter zu halten, die eine auffallend
schöne Frau war und noch heute die Spuren ihrer einstigen Schönheit mit
Würde trägt. Dann hat er einige Eigen tümlichkeiten (Antifaschismus).
Wenn er merkt, daß eine Frau am Körper behaart ist, so erlischt seine Libido
sofort. So eine Frau ist ihm wie eine Frau mit einem Schnur rbärtchen
ekelhaft, Ekelhaft sind ihm alle Frauen, welche eckige Formen und keinen
Busen haben und an einen Mann erinnern. „Ein Weib muß ein Weib sein?"
ist sein Ausspruch. Er haßt alle Blaustrümpfe und emanzipierten Frauen-
zimmer und hat seiner Frau den Umgang mit einer Freundin verboten,
weil sie sich allen modernen Frauenbewegungen anschließt.
In der Analyse spricht er erst immer von seiner Frau. Nach seinen
Berichten hat er einen Engel an Geduld geheiratet. Es gehört auch eine
große Liebe dazu, die Schrullen und Launen dieses Mannes zu ertragen.
Aber die Frau liebte diesen Mann und gewöhnte sich an alles, weil sie
Latente Homosexualität. — Masken der Homosexualität usw. 199
merkte, daß er sie liebte und weil sie dachte: Jeder Mann hat seine Eigen-
tümlichkeiten. Sie war glücklich und die Wohnung widerhallte von ihrem
Gesänge. Quälte er sie mit seinen ungerechten Vorwürfen, so hielt die Ver-
stimmung bei ihr nicht lange an. Ja, sie schmeichelte ihm sogar eine Ver-
zeihung und ein Lächeln ab, so daß ihre Ehe als eine Musterehe galt. Er
betont, daß seine Frau ein Ideal sei. Wenn nun in der Analyse jemand
mit einem Lobe anfängt, so kann man sicher sein, daß die zweite Kom-
ponente, der Haß, nachfolgen wird. Erst die Vorzüge — dann die Nachteile.
Nun schien diese Frau wirklich keine schwachen Seiten zu haben. Er wußte
nur Gutes von ihr zu berichten und von seiner Sorge um ihre Schönheit.
Doch bald — nach einigen Wochen — änderte sich der Ton. Er wußte
von einem schweren Trauma zu erzählen, das für ihn von größter Bedeutung
war und seine Ehe eigentlich umgestaltete. Er hatte sich vorgenommen,
seiner Frau treu zu bleiben und das Leben des Don Juan aufzugeben. Er
hatte vor der Hochzeit mit sechs Mädchen zugleich ein Verhältnis und mußte
immer fürchten, daß die eine es von der anderen erfahren werde. Er wollte
ruhig leben und seiner Frau treu sein. Und er schwur sich, mit der Ehe die
Onanie aufzugeben. Das konnte er ja in der Ehe, weil er vor dem Einschlafen
statt zu onanieren mit seiner Frau verkehren wollte. Nun hatte er vor der
Hochzeit die Angst, seine Frau könnte am Busen behaart sein. Das würde
er nicht vertragen. Er wollte schon verlangen, daß seine Frau sich von einem
Arzt untersuchen lassen solle, aber er schämte sich, als geistig hochstehender
Mann, dies von seiner Frau zu verlangen. In der Brautnacht entdeckte er
einige Härchen an der Brust und einen leichten weichen Flaum am Bauche.
Er war so entsetzt, daß er am liebsten seine Frau zurückgeschickt hätte.
Er war viele, viele Monate unglücklich und weinte jede Nacht. War ihm
doch eine Hoffnung gestorben: eine solche Frau zu finden, die ihm alle
anderen Frauen ersetzen könnte.
Diese Vorstellung von den Haaren seiner Frau machte ihn zum un-
glücklichen Menschen und verhinderte seine moralische Resurrektion. Er
wollte ja ein anderer Mensch werden. Aber es zog ihn zu schönen, weißen
Frauen und marmorglatten Leibern, bei denen ihn keine Behaarung an einen
Mann erinnern konnte.
Das ist ja das wesentliche Merkmal und die Ursache dieser Erscheinung,
die ich bisher nicht erklärt habe. Der Mann ist ausgesprochen bisexuell mit
starker Neigung zur Homosexualität. Diese Homosexualität wurde — wie
er betonte — bisher nur durch die Onanie befriedigt. Er suchte Vollweiber,
um den Mann zu vergessen. Er suchte eine schöne Frau, weil er von dieser
Schönheit erhoffte, sie werde alle Gedanken an Männer verdrängen und sein
Begehren ganz auf sich lenken. Er wollte die schönste Frau der Welt
haben: Helena. Gefiel seine Frau den Männern, so stachelte dies seine
homosexuelle Komponente derart, daß er sie mit größerem Genuß besitzen
konnte. Er wollte aber nur den Gedanken an einen Mann verdrängen. Be-
sonders vor dem Einschlafen trat diese Angst vor dem Manne (Dieb, Ein-
brecher), die auch eine Angst vor der Onanie war, deutlich hervor. In seinem
Kopfe, in seinem Hirn lebte dieser Mann und mahnte ihn und verlangte
Erlösung. Diesen Mann wollte er nicht Sehen und dieser Mann ließ ihn
nicht einschlafen. Er aber projizierte diesen Einbrecher in seine Wohnung,
untersuchte Kasten, als wollte er sich sagen: Ich habe keine Spur einer
homosexuellen Neigung.
200
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Dies war auch, was er mir sagte, wenn ich auf die homosexuelle Be-
deutung seiner Zwangshandlungen zurückkam: Ein solcher Don
Juan wie ich! Ich widme meine ganze Kraft dem Kult ufc
der Frau. Der Gedanke an einen Mann ist mir widerlich'
Ich erkläre ihm, daß der Ekel nur verdrängte Begierde wäre Wen»
ihm der Mann gleichgültig wäre, dann wäre das beweisender.
„Also, er ist mir vollkommen gleichgültig."
So sucht er zu beweisen, daß er nicht homosexuell empfindet. Wir ver-
stehen aber, daß die Haare, die er an seiner Frau entdeckte, ihn an die
fatale Homosexualität erinnerten. Er war so unglücklich, daß er ernstlich
den Gedanken einer Scheidung erwog. Was ihn an den Mann erinnerte, war
ihm peinlich. Er stürzte sich in den Frauenkultus, um den Mann zu ver-
gessen. Er gab auch seine Vereine und Männergesellschaften auf, weil er
immer mit seiner Frau zusammen sein wollte.
Ich übergehe die anderweitige Bedeutung dieser Neurose, weil deren
Analyse uns von unserem Thema abbringen würde. Ich will nur ein LS
geben wie wenig den Angaben der Menschen zu trauen ist, die uns einen
Lebensbericht bringen und behaupten, sie erinnern sich an alles. In ZZ
Leben wäre nie das oder jene* vorgekommen. In sexuellen Dingen E
alle Menschen, bewußt, unbewußt und nebenbewußt.
**, P +aCll Q1T\ längeIen' immer weiter vorschreitenden Analyse kommt
der Patient selbst zur Überzeugung, daß er sich gegen die Homo" xuS
wehren müsse. Er versteht jetzt seinen plötzlichen Entschluß zur Ehe nac £
sfoh X™? immer VOrgTen,0mraen hattö' ein geselle « bleiben Er hatte
SSt« Z S V" Labora"ten vei'öchaut' der ein hübscher Junge mit
glatten roten Wangen war. Diesen Menschen beschenkte er reichlich und
dachte schon daran, ihn ausbilden zu lassen, um einen Freund m ihmTi
haben. Damals traten die ersten Zwangshandlungen auf. Er heiratete war
Z BÄ *** 5atte S" dnige Jahre vollkommen ^he. Z hat e
das Bild eines anderen Mannes, der früher im Auslande lebte und ietzt
wieder m seine Heimat zurückgekommen war, seine Ruhe verscheucht Es
war dies einer seiner Vettern.
nichf ««SJiw6!;* II &iC\ WOran er wahl-Hch seit Jahren
fügen - L l hat+te ~ dftnn er wollte mich nicht be-
lügen daß er mit dem Vetter durch ein ganzes Iihr
in Verhältnis hatte. Sie schliefen in einer Pension
1 einem Zimmer. Der Vetter kam immer in sein Bett
Der Vett rhiLUen SlCh immer V°r dera EinVchlafe"
verlangte mZZ^f-T ManiPulationen> ^ er von seinen Geliebten
verlangte. Manuelle Befriedigung. Bei seiner Frau wollte er aber alle Er-'
££££ Abt tTSeXUa:ität tllSf' Sie S°Ute -der'iese Fot der
üeiriedgung üben noch m ihrem Äußeren an einen Mann erinnern Sie
sollte ihn vor dem homosexuellen Teufel, der in der Onanie SflSfSÄ
«itJ M S3T- E]LmnerUng. kam noch eine Pülle homosexueller Züge
£g J k Sie,?ier mcht anführen- Schon von der Kindheit an war
dieser Mann bisexuell eingestellt mit starker Betonung der Ne gung zu
NaTX SüÄSV"* ate Kh$ n?d zeigte viele weibliche »ÄSSi
Nach der Pubertät kam es zur Verdrängung der Homosexualität, die nur
m der Onanie fortlebte Denn der onanistische Akt geht vor dem Einschlafe»
vor sich, m einer Art Halbtraum, in dem der Vetter und andere Männer
Latente Homosexualität, — Masken derjlomosexualität usw. 201
vorkommen. Die latente Homosexualität war die wichtigste Ursache seiner
JNeurose.
Der Erfolg der Analyse war ein glänzender. Patient gab die Zwangs-
handlungen bald auf und konnte ruhig schlafen. Sein Leben regelte sich-
er war bald kern Don Juan mehr. Er ließ seine Frau jene Manipulationen
machen, welche für Seinen Orgasmus und für seine Ruhe unentbehrlich sind.
Ich sehe ihn zeitweise. Er behauptet, noch immer treu zu sein. Die ver^
schiedenen haßlichen Szenen haben aufgehört, seit er ihre Quelle kennt.
Die Homosexualität wird von ihm offen bekämpft, nicht aus moralischen
Gründen, sondern aus Angst vor dem Gesetz und in dem Wunsche, seiner
.trau ein ganzer Mann zu sein.
Alle diese Beobachtungen beweisen uns, daß die Homosexualität
in der Dynamik der „polygamischen Neurose" eine überragende Be-
deutung besitzt. Die Beobachtung, daß jede Liebe eine Ichliebe ist
bestätigt sich aufs neue. Don Juan sucht sich im Weibe und findet
in ihr jenes Stück Weiblichkeit, das ihn eben zum Don Juan macht.')
f i P t\l1&t ^ SChr gefreUt' iD dm erwähnten Buch* von Oskar A.H.Schmitz
folgende Stelle zu finden:
„Casanova wird der Frau alle jene Eigenschaften gönnen, die man aus Un-
verstand „männlich" nennt, so wie ihm selbst viele weibliche Züge anhaften Die Ein-
teilung der Menschen in Männer und Frauen ist bequem. Aber wer versucht,' erotischen
1 roblemen auf den Grund zu kommen, der bedenke, daß es ebenso wenig absolute Männer
und Frauen g,bt als absolut Jähzornige, Gutmütige, Geizige, Germanen, Semiten
Das alles smd, gleich den Charakteren des Theophrast, psychische Elemente, die einen
Namen haben müssen. Aber sie kommen nur in Verbindungen vor, die wir eingangs
den chem.schen verglichen und entgegenstellten. Ich meine, beobachtet zu haben daß
Manner von allzu ausgesprochener Virilität nicht besonders anziehend auf Frauen
wirken, sondern teils erschreckend, teils erheiternd. Umgekehrt hat Verstand und Tapfer-
keit alle großen Verführerinnen ausgezeichnet - manche sind wahre Amazonen gewesen
■ und ^wir sehen mit hoher Genugtuung den „crampon" mit dem Anlehnungsinstinkt
des fcpheus in unserer Zeit aussterben. Auch das Verschwinden Don Juans mag zum
Teil durch seine allzu aufdringliche Männlichkeit mitbedingt sein. Der Erotiker muß
eine Reihe weiblicher Eigenschaften besitzen; ja kleine, mehr weibliche Laster wie
Eitelkeit, Empfindlichkeit, Geschwätzigkeit brauchen keine Hindernisse für seine Erfol-e
zu sein. Am wenigsten sind sie es Frauen gegenüber, die selbst ziemlich frei von de»
Untugenden ihres Geschlechtes sind."
V™° fcke Beobachtung macht dem Autor alle Ehre und zeigt ein Verständnis
für die Fragen der Erotik, das seiner Zeit weit voraus ist.
Die Homosexualität.
in.
Satyriasis und Nymphomanie.
Wenn man die letzten Funken einer
Leidenschaft im Herzen trügt, wird man
sieh eher einer neuen hingeben, als wenn
man gänzlich geheilt ist.
La Rochefoucauld .
Wir haben aus dem letzten Falle gelernt, wie ein verstecktes
Sexualziel den Menschen ruhelos macht und ihn trotz häufiger sexueller
Betätigung immer in sexueller Appetenz, immer hungrig, immer be-
gehrend läßt. Wie ein Motor treibt der hungrige Trieb den Menschen
zu allerlei Symbolhandlungen; er jagt ihn auf jede Lu6t, die nicht
unter der Wirkung der Hemmung steht, und raubt ihm Schlaf und
Ruhe. Alle diese Symbolhandlungen, das Untersuchen der Türen, das
Nachsehen unter dem Bette, entstammen der Furcht des Kranken vor
der Homosexualität. Die Türen seiner Seele müssen fest geschlossen
werden, damit der gefürchteto Feind nicht eindringen kann. Noch eine
Reihe von Handlungen vollzog der Kranke, die sinnreich die Inversion
symbolisieren. Er drehte gewisse Gegenstände, die mehr nach links
standen, mehr nach rechts. Das pflegte ihn zu beruhigen. Warum tat
er das? Weil im Bewußtsein die rechte Seite immer das Erlaubte, die
linke das Verbotene symbolisiert. Er drehte manche Gegenstände um
und stellte sie auf den Kopf, um zu sehen, ob sie sich so halten und
behaupten können. Fielen sie um, so war er sehr beunruhigt, standen
sie fest, so war er zufrieden. Mitunter passierte es ihm, daß eine
Vase auch umgekehrt stehen konnte. War sie nicht zu erschüttern, so
war er auch zufrieden. Seine Phantasien spielten mit der Möglichkeit,
die Sexualität umzukehren. Ging das ohne Gefahr ab, so hieß das
soviel als: Selbst wenn du homosexuell wirst, mußt du noch nicht
fallen und bleibst sicher und unerschüttert. Nach einer solchen Symbol-
handlung trat unerwartet eine Erektion auf und er flüchtete zu seiner
Frau, der er nur deshalb zürnte, weil sie ihn nicht genügend fesseln
Satyriasis und Nymphomanie. «OH
konnte. Solche Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach einer großen
heterosexuellen Leidenschaft, welche sie das Homosexuelle vergessen
macht. Meist kommt ihnen die Psyche zu Hilfe und sie finden Frauen,
welche ihnen so viel Seelisches geben können, daß sie über den Mangel
der physischen Anziehungskraft hinwegkommen. Sie sublimieren ihre
Homosexualität, veredeln die ganze Sexualität, durchsetzen sie mit
geistiger Erotik und helfen sich mit der seelischen Ekstase über die
mangelnde körperliche hinweg.
Wo diese Transkription in künstlerische Ekstasen ausbleibt, wo
die Flamme nur physisch lodern kann, kommt es zu einem permanenten
Liebeshunger, den wir Satyriasis nennen. Dieser Zustand ist wohl
zu trennen von dem Priapismus, der nur organische Ursachen hat und
in einer permanenten Erektion besteht. Der Priapismus wird häufig
durch Erkrankungen der Corpora cavernosa verursacht, durch Diabetes,
durch Rückenmarksläsionen, und ist dem Kranken höchst unangenehm.
Es fehlt eigentlich der Trieb, das gereizte Organ fordert sozusagen
nichts, es fülüt sich nur krank. Der seelische Antrieb fehlt vollkommen.
Die Kranken empfinden die Erektion lästig, sie koitieren nur, um die
Erektion, die schmerzhaft ist, loszuwerden. 'Der an Satyriasis Er-
krankte dagegen wird immerfort von innen heraus zur Befriedigung
getrieben und es passiert ihm oft, daß er zu einem Sexualakt nicht
die Erektion aufbringen kann. Das Drängen ist mehr psychisch. Die
Satyriasis ist der Versuch, durch organische Ableitung einen psychischen
Antrieb zu erschöpfen. Eine Überleitung des Priapismus in das
Seelische, ich meine die Konstruktion einer Neigung auf Grund des
priapistischen Reizzustandes, ist mir nicht bekannt.
Die Satyriasis kann verschiedene Ursachen haben. Wir haben ja
gesehen, daß Menschen mit sadistischen Phantasien, mit nekrophilen
Tendenzen, mit allerlei infantilen mysophilen Vorstellungen onanieren.
In allen diesen Fällen kann, wenn die Onanie aufgegeben wird, ein
Zustand entstehen, der der Satyriasis sehr ähnlich ist. Diese Menschen
versuchen alle eine Ableitung auf das Normale. Immerhin kann ich
nach meinen Erfahrungen sagen, daß die eben erwähnten Momente
hinter der Bedeutung der latenten Homosexualität zurücktreten. Der
wichtigste und stärkste Motor ist die Homosexualität. Aber ich kenne
auch einen Homosexuellen, bei dem die latente Hetero Sexualität eine
ähnliche homosexuell gerichtete Satyriasis hervorgerufen hat.
Wir wollen uns jetzt mit einem Falle beschäftigen, der uns
wichtige Aufschlüsse über diese Zusammenhänge geben wird.
Fall Nr. 29. Herr Alfred V., Privatbeamter, 26 Jahre alt, klagt über
eine ganze Menge von nervösen Beschwerden. In erster Linie steht seine
204
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Unfähigkeit zur Arbeit. Er ist ohne jede Beschäftigung, weil er es in keinem
Büro aushalten kann. Er kann seine Gedanken nicht konzentrieren, weil
er immer an Frauenzimmer denken muß. Er erwacht früh morgens und sein
erster Gedanke ist: Jetzt könnte ich zu einer Dirne gehen. Er überlegt
und findet, daß es noch viel zu früh ist. Dann geht er in das Cafe und
versucht die Zeitung zu lesen. Das gelingt ihm nur mit großer Mühe.
Meistens wird er mit der Zeitung rasch fertig und vertieft sich dann in
die Annoncen, welche von Anfragen, ehrbaren Annäherungsversuchen, offenen
und versteckten Anträgen handeln. So vergehen einige Stunden, während
er auch zum Fenster hinaus sieht und sich die Frauen, die vorübergehen, an-
sieht. Dann macht er seinen Spaziergang und versucht, Mädchen anzusprechen
und Bekanntschaften zu machen. Wenn er merkt, „daß sie aufs Geld fliegen",
so bricht er das Gespräch ab. Denn dann sucht er lieber eine wirkliche
Dirne, ehe er eine Halbdirne bezahlt. Manchmal gelingt es ihm, ein Mädchen
zu finden, das auf seine Intentionen eingeht. Dann geht er schon am Vor-
mittag ins Hotel. Für eine "Weile ist er dann ruhig und er hat das Gefühl,
daß er jetzt eine oder einige Stunden arbeiten könnte. Bald aber packt ihn
wieder das Verlangen, das immer zuerst ein rein seelischer Antrieb ist. E s
ist nicht die Erektion, die ihn zu einer Dirne treibt,
sondern das Verlangen und die Unruhe. Erst bei der Puella
kommt es zu einer Erektion. Seine Potenz ist dann sehr verschieden. Manch-
mal ist er sehr rasch fertig, ein anderes Mal braucht er eine halbe Stunde,
um die Ejakulation und den Orgasmus zu erzwingen. Das dritte Mal kann
er mehrere Male hintereinander verkehren, während er bisweilen schon nach
dem ersten Male für einige Stunden beruhigt ist.
Der Zustand wird von ihm als qualvoll und unangenehm empfunden.
Er möchte 'sich auch, wie andere Menschen, um Kunst und Wissenschaft
bekümmern, möchte auch einmal ein vernünftiges Gespräch führen können.
Er kann aber nur über „Schweinereien" sprechen. Je toller und zynischer,
desto besser. Er hat das Bedürfnis, besonders mit Dirnen, die ordinärsten
Ausdrücke zu gebrauchen, was ihm ein großes Lustgefühl bereitet. Er leidet
auch an Zornanfällen, in denen er fast die Besinnung verliert. Wenn ihm
etwas nicht nach Wunsch geht, wird er leicht wütend. Er kann in solchen
Zuständen Gegenstände zerbrechen (z. B. einem Sessel die Füße ausbrechen),
Sachen zum Fenster hinausschleudern, gleichgültig, ob Leute getroffen
werden können oder nicht, er kann der Wirtin die größten Grobheiten sagen.
Er hatte schon unzählige Konflikte und Streitigkeiten, weil er sich nicht
das geringste gefallen läßt. Er war einige Monate auf einem guten Posten
und mußte weggehen, weil er dem Chef Grobheiten sagte. Er war immer
wütend, wenn er zuviel Arbeit bekam. Arbeit ist sein rotes Tuch. Er fand
auf seinem Schreibtische 20 Briefe, die er erledigen sollte. Statt zu arbeiten,
begann er zu fluchen. Was sich die Leute dächten? Wie könnte das ein
Mensch leisten? Das wäre eine Frechheit! usw. ... So vergingen einige
Stunden, ehe er überhaupt zu arbeiten anfing. Dann ging es sehr flink und
er war immer rascher fertig als alle anderen im Büro. Er wunderte sich,
daß er nicht längst hinausgeworfen wurde. Sein Chef hatte eine Engels-
geduld. Schließlich riß auch diesem guten Menschen die Geduld und er
kündigte ihm. Seit damals konnte er auf keinem Posten bleiben. Er hielt
nur einige Tage aus, obwohl die Vorgesetzten zufrieden waren. Denn bald
suchte er Händel und war rasch wieder draußen.
Satyiiasis und Nymphomanie. <r>,y
Er schildert mir eingehend sein Sexualleben. Wichtig ist aber
seine Behauptung, daß er nie etwas mit Homosexuellen
zu tun hatte; daß er wohl wisse, daß es Homosexuelle
gebe. iJas waren Schweine, vor denen er einen unaus-
sprechlichen Ekel habe .
Nun lassen wir Alfred das Wort. In der Darstellung seines Lebens
terisTercn VerSChiedene Bemerkungen, welche den ganzen Menschen charak-
n^n Ä ha'°! die Erinnerunng an mei™ erste Kindheit ganz verloren. Ich
weiß nicht mehr, was vorgefallen ist, und entsinne mich erst der Zeit, da
norvnf011 ? ft f?°£ ^ - ^t™* *»' daß meine Elte™ *»ide sehr
S*2t, 1Ä ? m daS, TZlge Klf meiner Eltern- Eine» B^der verlor
n Ä I n,hvUn+ter m,r ^bekannten Umständen. In meiner Familie, besonders
J n ' Slnd mehrere Fäl]e VOn Wah"sinn vorgekommen.
Meine Gcschlechtslust meldete sich schon in sehr frühem Alter Ich
Sto g£Ä* SCh°f T" Sifben J,fhren V°r meinem Vatef sdmmlos
mit dem Ghede spielte, weil ich nicht wußte, daß es etwas Böses war Der
Vater schrie mich an und verbot mir das. Das hatte aber trotz seiner
Z SnTIn T^i F^lge' da? ich heimlich fortsetzte> was ^h vorher oZ
ArSÄin H« ^'lUmidie ?dt begfmien melne Aufmerksamkeit und
elnf svltpLLi n abzunebmen- Aus den Spielen wurde aber bald
tZen^tZ% ?Tme' dle 1Ch °£ne Maß betrieb- Mit zehn Jahi^n
Hatten wn in der Schule einen ganzen Onaniebund und trieben allerlei Din-e
zusammen. Es blieb nicht allein bei der manuellen Befriedigung - - -
Zu dieser Zeit hatte ich furchtbare nächtliche Träume. Ich sah wilde
iZl Tde vo Vhf en 1überfallen und Sebissen> ^h wurde von fremden
Männern erschossen, Einbrecher stürzten sich auf mich, Räuber wollten mich
entfuhren, mein Vater stieß oft in Träumen mit einem großen langen Stocke
t S^ x e'Se nachtllcllen Träume erregten mich außerordentlich, ich las
jede Wacht wie im Fieber und war ganz in Schweiß gebadet.
Am Morgen war ich wie gerädert. Ich starrte in der Schule vor mich hin
und hielt mimer die Hand am Penis, ja, ich onanierte oft während der Stunde
Die Arbeitslust und die Fähigkeit, aufzupassen und mitzuarbeiten, wurden
immer geringer. Ich machte allerlei Versuche, mich zur Arbeit zu zwinge'
oder ach suchte alle möglichen Schwindeleien, um der Arbeit zu entgehen'
Eine eigentümliche Erscheinung war schon damal '
gut austiel. Ich lernte nicht ungern, aber nur das was
L"h mich ak !nCatU fr T **«'«•*««•»■ WM *« So intereJe^
ich mich als Knabe für Mineralogie, Astronomie und Botanik und erwarb
sehr große Kenntnisse m diesen Fächern. Nie hätte ich den hunder™,
Teil dieser Wissenschaften lernen können, wenn ich sie als Schulaufgab
bekommen hatte ... Alles, was mir Pflicht war, schien mir unerträglich
Die Arbeit war eine schwere und immer unangenehme Pflicht. So machte
ich in der Schule schlechte Fortschritte. Nur mit Hilfe von Hauslehrern und
durcb Pr°tekt!°n eri'eicllte ich schließlich das „Einjährige". (Das Recht, als
Einjahrigfreiwilhger zu dienen.) Und das erst im l6tzten Moment mit
20 Jahren, wie ich Gefahr lief, drei Jahre dienen zu müssen. In einigen
Wochen lernte ich den ganzen Stoff, weil ich wußte, daß es mir sonst schlecht
ergehen würde. Ich kannte sonst keinen Mittelweg, nur die Extreme Ich
206 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
konnte fünf Stunden ohne Unterbrechung über meinen astronomischen Büchern
6itzen, mich mit meinen Pflanzen und Steinen beschäftigen, und wenn ich
eine halbe Stunde für die Schule arbeitete, wurde ich wütend und zerriß
das Heft.
Ich habe kein gutes Gedächtnis für das Vergangene. Einzelne Dinge
behalte ich aber sehr gut. So habe ich an eine Reise in Thüringen, die ich
im zehnten Jahre mit meinem Oheim machte, gar keine Erinnerung. Ich
lebte diese Reise wie im Traum. Ich machte diese Reise ein zweites Mal
und da erinnerte ich mich nur an einer Stelle, daß ich
schon einmal da war. Das war ein Stein, über den ich
das erstemal stolperte und dann hinfiel.
Ich wurde als Knabe für meine Faulheit oft gestraft und sogar ver-
prügelt, wenn ich trotzig war. Ich kam mir ungerecht behandelt vor und
betrachtete meine Faulheit als eine Eigenschaft, für die ich nichts konnte.
Ich war immer unruhig, immer launisch, oft übertrieben lustig und dann
wieder sehr deprimiert.
Die Onanie betrieb ich ohne Maß. Ich onanierte täglich — selten, daß
ein Tag ausfiel, manchmal sogar mehrere Maleim Tag — bis zum 21. Lebens-
jahre, wo ich das erstemal eine Dirne aufsuchte. Da beschloß ich, die Onanie
aufzugehen, und schlug plötzlich um. Ich verkehrte am Anfang nur normal
und hatte großen Genuß. Nur daß ich sehr oft verkehren mußte, weil es
mir sonst sehr schlecht mit den Nerven ging. Beim Militär fühlte ich mich
ausgezeichnet. Ich konnte alle körperlichen Strapazen vertragen und war
sehr stolz in meiner Uniform. Da ich sehr hoch und sehr stark bin, so fiel
ich allgemein in meiner Gardeuniform auf und alle Mädels blickten mir
nach, was mich nicht wenig stolz machte. Doch onanierte ich damals noch
und hielt mich vom Verkehr zurück. Beim Militär war ich oft nervös, wenn
ich einen Befehl ausführen mußte oder lange auf einem Posten stand. Ich
drückte mich, wo ich konnte, und schließlich benützte ich den Schlag eines
Pferdes, um frei zu werden und noch eine Zeitlang eine Unfallsrente zu
erhalten.
Wenn ich imstande bin, einen anderen zu übervorteilen, und besonders
eine Autorität, so macht mir das ein unbändiges Vergnügen.
Ich kam nach dem Militär in eine Stellung. Da ich täglich mit Frauen
verkehrte, so war ich immerhin leidlich arbeitsfähig. Ich vertrug nur nicht,
wenn ich zwei Arbeiten auf einmal bekam. Ich mußte immer eine Arbeit
nach der anderen machen. Aber ich hielt mich immerhin leidlich, wechselte
meine Stellen, weil ich mit meinen Vorgesetzten immer Krach hatte und
auch der schweren Arbeit immer auswich. Dann kam ich nach Wien in eine
Stellung, wo ich mich etwas länger hielt. Das Geschäft interessierte mich,
weil es sieh um einen Artikel handelte, mit dem ich mich gern beschäftigte.
Hier begann ich unruhig zu werden und diese Unruhe wuchs, als wir nach
Berlin übersiedelten. Ich fand keine Befriedigung mehr im
normalen Verkehre. Ich lernte eine Französin kennen,
die meine Geliebte wurde und mit der ich alle nur möglichen Perversitäten
trieb. Ich wurde immer mehr arbeitsunfähig, stierte oft stundenlang auf die
Arbeit. Ich weiß nicht, ob das von der Berliner Luft kommt, die ich nicht
vertrage, oder von einem Sturze, den ich auf der Eisenbahn mitmachte.
Ich gab die Stelle auf, d. h. mein Chef riet mir selber, die Stelle aufzugeben,
Satyriasis und Nymphomanie. 207
obwohl ich einen großen Vertrauensposten hatte, auf den ich sehr stolz war,
da mein Vater für mich eine große Kaution erlegte. Aber ich wurde immer
erregter, es trieb mich immer mehr und mehr zu den Weibern. Ich hatte
nichts anderes mehr im Kopfe und zermarterte mein Hirn, um neue, noch
nicht dagewesene Perversitäten zu ersinnen und zu probieren. Ich ließ mir
auch podicem lambere, was mir zeitweilig großen Genuß bereitete, aber mich
nur für einige Stunden beruhigte. Dann jagte ich wieder auf die Friedrichs-
Straße und suchte andere Mädchen, die mir neben meiner Geliebten reichlich
zur Verfügung standen. Ich brauchte für diese Abenteuer sehr viel Geld,
das ich- mir damals zum Teil noch verdienen konnte. Es war mir immer
ein angenehmer Gedanke, zu wissen, daß der Vater meine Ver-
gnügungen bezahlen mußte.
Meine Aufregung erreichte aber den Höhepunkt, als mein Vater mich
in Berlin besuchte und in Charlottenburg wohnte. Ich hatte eine förmliche
Angst, ihn zu sehen, und so kam es, daß er meist allein war und mich
nicht zu Gesichte bekam. Er bewog mich nun, einen Professor aufzusuchen,
der mich in ein Sanatorium steckte. Ich wurde dort viel ruhiger, aber das
war nur äußerlich. Innerlich tobte der Kampf. Der Arzt verlangte, ich
solle jetzt für eine Weile die Frauen aufgeben, ich sei überreizt und ruiniere
mich dadurch. So lebte ich einige Wochen abstinent, aber in jeder Nacht
verwirrten sich meine Gedanken und ich fürchtete direkt, den Verstand zu
verlieren. Da griff ich zu meinem alten Mittel, zur Onanie. Und das, obwohl
der Arzt und der Professor sagten, mein Leiden sei die Folge der unmäßigen
Onanie. Ich war nun in schweren Konflikten, merkte aber deutlich die Ruhe,
die nach dem Onanieren auftrat. Allerdings wurde ich in den drei Monaten
Sanatoriumsbehandlung nicht arbeitsfähig. Ich werde sofort schwermütig
und das Leben verliert seinen Reiz, ,wenn ich arbeiten muß. Schon in den
ersten Minuten drängt sich mir der Gedanke an ein Weib auf und ich muß
schließlich unterbrechen und auf die Gasse eilen. Aus dem Sanatorium kam
ich direkt nach Wien zurück, wo der alte Jammer anfing. Ich suchte Ärzte
auf und erhielt Brom die schwere Menge. Alle Medizinen und auch die vielen
Kaltwasserkuren halfen mir gar nichts. Nur wenn ich in einer Nacht dreimal
mit Genuß verkehren kann, habe ich am nächsten Tage etwas Ruhe. Ich
bin dann für eine kleine Weile entschlußfällig und kann ein bißchen arbeiten.
Schon am nächsten Tage, meist 6chon am Morgen, tritt wieder der Drang
nach Frauen ein und der enorme Reizzustand, der mich ganz rasend macht.
Ich werde wütend und schwermütig. Nach einem Koitus, der mich nicht
befriedigt, geht es mir am schlechtesten. Da bin ich sehr gereizt und
möchte gleich wieder ein Weib besitzen, das mich besser befriedigt. Manch-
mal sehne ich mich nach der echten Liebe und der Gesellschaft eines lieben
Wesens. Ich fühle dann das Grauen der Einsamkeit, die mich erdrosselt.
Ich schreie förmlich nach Luft und laufe wieder auf die Straße, wo mir die
Genüsse winken. Es ist mir so, als ob ein anderer in mir
sitzen und mich so von Genuß zu Genuß jagen würde.
Ich fühle alles Edle in mir; allein der andere zwingt mich, ein böser Mensch
zu sein.
Ich komme mir vor, wie ein Mensch, der einen unstillbaren Hunger
hat. Oft habe ich an den armen Prometheus gedacht, der ewig dürsten und
hungern muß. So tobt in mir ein unstillbarer Hunger nach Liebe und
Liebesgenuß und ich habe keinen anderen Gedanken, als diesen Hungor
208
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
irgendwie zu stillen. Ich komme mir vor wie eine Maschine, die nur dazu
da ist, um dem Penis Lust zuzuführen.
Ich habe mir oft vorgenommen, mich zu ändern. Aber ich kann über-
haupt keinen Entschluß ausführen, nichts unternehmen. Ich kann nur Frauen
aufsuchen! Ich kann nur noch koitieren, alle anderen Fähigkeiten sind in
mir erloschen. Alles in mir ist schwankend und unsicher. Heute fühle ich
eine gewisse Frömmigkeit, morgen mache ich mich über Pfaffen und Kirche
lustig. Heute entschließe ich mich, etwas Neues zu lernen oder eine Stelle
anzunehmen, morgen habe ich schon einen anderen Entschluß. Ich will
mir einen neuen Hut kaufen. Ich nehme mir vor, ich werde heute in ein
bestimmtes Geschäft gehen. Ich gehe hin und bleibe vor der Auslage stehen
und kann mich nicht entschließen. Nein, sage ich, ich werde mir jetzt doch
keinen neuen Hut kaufen. Und dazwischen immer die Gedanken an die
Weiber, die mich nicht eine Sekunde in Ruhe lassen! Ich renne die Gassen
hinauf und hinunter und sehe mir hunderte Dirnen an, ehe ich mich ent-
schließe, mit einer zu gehen.
Ich mache keine Unterschiede zwischen Alten und Jungen, zwischen
Häßlichen und Schönen. Ich überlege lange und dann falle ich auf die erste
beste hinein. Wenn ich nur nachher beruhigt wäre! Das dauert manchmal
eine Stunde, manchmal im besten Fall einen Tag, dann muß ich schon wieder
laufen und suchen. Ich brauche manchmal drei Frauenzimmer an einem Tage.
Meine schlechteste Zeit war die, da ich einen Tripper hatte (der noch
nicht ganz geheilt ist). Ich sollte da einige Zeit nicht verkehren. Ich konnte
aber dem Doktor nicht gehorchen, weil ich fühlte, daß ich sonst zugrunde
gehen würde. Ich verkehrte ruhig weiter und freute mich innerlich, daß so
viele andere auch werden leiden müssen, wie ich gelitten habe. Dann empfinde
ich wieder Reue über meine Schlechtigkeit, komme mir ganz verworfen vor,
wie ein Verbrecher und nehme mir vor, mich zu bessern. Ich bin dann tief
traurig und habe einige Stunden Ruhe von den erotischen Gedanken. Dann
fangen sie aber wieder. an und geben mir keine Ruhe bei Tag und bei Nacht."
Wir haben das erschütternde Geständnis dieses armen Kranken gehört.
Seine Jagd nach der Wollust hat die Tragik, die der Dichter so treffend
charakterisiert: „Und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde." Seine
tiefen Verstimmungen zeigen uns, daß die Krankheit einer Krise zustrebt.
Denn die Verstimmungen werden häufiger und die Möglichkeiten der Be-
friedigung immer seltener. Deshalb suchte er auch den Arzt auf. Er fühlt,
daß es so nicht weiter gehen kann. Er kann und will nicht länger so leben.
Er möchte arbeiten können wie andere Menschen und auch andere Gedankea
fassen können, als die sexuellen.
In dem Berichte des Patienten fallen uns zwei Vorfälle auf. Erstens
der von ihm betonte Umstand, daß er die erste Reise in Thüringen voll-
kommen vergessen hat — bis auf die kleine Begebenheit vom Sturze — und
der Umstand, daß sich in Berlin seine Neurose so verschlimmert hatte, da
er schon auf dem Wege war, gesund zu werden. Wir sehen, er gab die
Onanie aus eigenem Antrieb auf, versuchte sie durch den Verkehr mit Frauen
zu ersetzen, wurde etwas arbeitsfähig, hatte eine Vertrauensstelle, wurde
ihr trotz aller Störungen nach dem Ausspruche seiner Vorgesetzten ge-
recht . . und dann tritt allmählich eine arge Verschlimmerung seines
Satyriasis und Nymphomanie. OQ9
Leidens ein. In Berlin muß irgend ein Ereignis oder ein starker Eindruck
diese Wandlung zum Bösen hervorgerufen haben.
Hervorzuheben ist, daß der Patient bestreitet, jemals homosexuelle
Akte getrieben zu haben. Er habe vor „solchen Menschen" einen furchtbaren
Ekel. Die Szenen aus der Kindheit, die zählten doch nichts! Das machten
ja a 1 1 e Jungens und da müßten aus allen Jungens Homosexuelle geworden
sein. Sie sind alle verheiratet und leben meist sehr glücklich in ihrer Ehe.
„Ich habe nur — sagt er — einen entsetzlichen Hunger nach Weibern.
Die Männer existieren für mich nicht."
In der ersten Nacht träumt er:
Ich sehe ein wildbewegtes Meer vor mir. Die Wogen sind in
ständiger Erregung. Ich denke mir: Es wäre schade, wenn diese Be-
wegung aufhören würde. Ein Schiff fährt ab, und auf diesem Schiffe
hegt alles, was ich liebe. Ich glaube, meine Mutter ist auch auf dem
Schiffe. Eine Musikkapelle spielt auf dem Bord: Ach wie ist's möglich
dann, daß ich dich lassen kann. Ich erwache sehr traurig und miß-
gestimmt.
Solch ein erster Traum ist oin Widerstandstraum und bedeutet daß
der Kranke nicht gesund werden will. Seine Seele ist ein Meer, das in
standiger Erregung ist. „Ich denke, es ist schade, daß das aufhören soll"
bedeutet: ich will gar nicht ruhig werden. Das Schiff symbolisiert die
Krankheit, die Neurose. Dieses Leiden umfaßt alles, was er liebte, auch
seine Mutter. Und das alles soll er verlieren? Es ist unmöglich. Er kann
auf seine infantile Sexualität nicht verzichten. Er will. ein Kind bleiben
und will krank sein.
So vollzieht sich die Analyse unter sehr großen Widerständen, aber sie
kommt sehr rasch vorwärts. Ich will die Resultate zusammenfassen und
mich auf die wichtigsten Punkte beschränken.
Über sein Sexualleben wird immer mehr Licht gebreitet. Es kommt
zutage, daß er in seinem Berichte eine wichtige Form der Lustgewinnung
verschwiegen hatte, weil er sich schämte. Er fröhnt einer sehr kuriosen
Form infantiler Sexualität. Sie muß ziemlich verbreitet sein, ich habe sie
aber in dieser Form nur zweimal getroffen.
Alle zwei Wochen muß er folgendes machen: Er legt sich in
den Unterkleidern ins Bett und läßt seinen Stuhl.
Dann bleibt er im Stuhle noch einige Stunden liegen.
Nach dieser Prozedur gibt er sich große Mühe, alle Spuren zu verwischen.
Er wascht die Hosen und das Hemd, eventuell verbrennt er sie. Auch im
Bade, in dem er immer sexuell sehr erregt ist, kommt es zu ähnlichen
Szenen. Im Bade zieht er die Prozedur vor, weil er sich dort reinigen kann.
Er nimmt dann ein Paket mit reiner Wäsche mit. Im öffentlichen Badhaus
steht in jeder Kabine eine Ottomane. Auf diese legt er sich zuerst und
läßt den Stuhl. So bleibt er unter. großer Lust liegen, onaniert dabei oder
es kommt spontan zur Ejakulation. Dann badet er, um rein zu werden,
. packt die schmutzige Wäsche zusammen und wirft sie dann in einen Fluß
oder anderswohin, wo sie schnell verschwinden kann.
In dieser Szene spielt er das Kind, das in den Windeln liegt. Er preßt
auch die Decke so fest zusammen, daß er sich nicht rühren kann, als wäre
Stekel, Störungen des Trieb- und Äffektloben6. IT. 2. Aufl. ,,
210 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
er angebunden. Er wiederholt infantile Szenen des Reinigens durch die
Mutter, wobei er in seiner Phantasie zugleich Mutter und Kind spielt.
Gegen diese sonderbare Paraphilie kämpft er mit aller Macht und
muß ihr doch immer wieder erliegen. Die längste Pause war bisher vier
Wochen. Nach dieser „Schmutzorgie" — wie er das bezeichnet — ist er
sehr deprimiert und schämt sich vor sich selbst. Er hatte noch keinem
Menschen darüber Erwähnung getan und selbst im Sanatorium wußte es
der Arzt nicht. Im Sanatorium kam es auch einige Male vor, aber nur in
seinem Zimmer, weil die Bäder nicht separiert waren. Bei Besprechung des
sexuellen Infantilismus werden wir einige ähnliche Fälle kennen lernen.
Sein Verhältnis zur Mutter ist sehr wechselnd, aber nie so affekt-
betont, wie das zum Vater. Mit der Mutter kann er ruhige und mitunter
liebenswürdige Briefe wechseln, mit dem Vater nie. Zur Mutter empfindet
er eine gewisse Zuneigung. "Wie er schon als Kind vor dem Vater offen
onanierte, so macht er auch jetzt vor mir aus seinem Sexualleben kein
Geheimnis. Er spricht über alles hemmungslos. Er habe seine Mutter in
der Kindheit sehr begehrt und sich oft gewünscht, er könnte sie besitzen.
Jetzt sei seine Mutter eine alte Frau, die teilweise gelähmt sei. Trotzdem
habe er bei seinem letzten Aufenthalte bemerkt, daß sie noch schön sei und
er war wiederholt in Versuchung, sich auf sie zu stürzen. In solchen Zeiten
pflegte er sie 'sehr schroff und höhnisch zu behandeln und sich über sie und
ihr Alter lustig zu machen. Er fing schon wiederholt mit alten Frauen an.
Im letzten Quartier war eine ältere Frau, die schon viele Runzeln hatte,
mit der er sieh einließ und ein Verhältnis hatte, das nur sehr kurze Zeit
dauerte, weil er plötzlich Streit suchte und auszog. Das ist überhaupt die
Art, wie er mit allen Menschen auseinanderkommt. Er gerät wegen Kleinig-
keiten in Streit, ist dann sehr aufgeregt und macht einen fürchterlichen
Spektakel. Dann ist er mit den Menschen fertig.
Wir werden dann sehen, daß das die Art ist, wie er sich
gegen Versuchungen schützt. Er streitet nur mit
Menschen, denen er gut ist und die eine Beziehung zu
seinen sexuellen Phantasien haben. So kommt er auch von
seiner Mutter los und verläßt sie meist nach einem großen Streit. Deshalb
lassen ihn seine Eltern, obgleich sie mit großer Liebe an ihm hängen,
immer in der Fremde weilen. Seine Briefe sind ja auch aufregend, aber
noch viel besser zu vertragen als die Szenen im Hause.
Viel schlimmer steht es mit dem Verhältnis zu 'seinem Vater. Er
spricht leicht sehr böse über seinen Vater: Ausdrücke, wie „der alte Schuft",
„der alte Gauner", „Er soll mich gern haben", sind an der Tagesordnung.
Er weiß keinen Grund anzugeben, weshalb er seinem Vater so zürnt. Das
heißt, er hat tausend Gründe, aber sie sind alle nicht stichhältig. Der
Vater habe ihn falsch erzogen; der Vater sei an seiner Krankheit schuld;
der Vater sei enorm reich und sage immer, er habe gar nichts; der Vater
lebe nur für die Mutter und habe für ihn gar nichts übrig. Er will sich
selbständig machen und vom Vater für diesen Zweck Geld verlangen. Schon
bei dem Gedanken, der Vater könnte ihm das Geld abschlagen, gerät er in
Raserei. „Ich fahre hin und erschlage ihn und schieße mich dann nieder."
Solche Mordphantasien gegen den Vater kehren gar nicht selten wieder.
Wie nahe steht der Neurotiker dem Verbrecher! Er hat allerlei Be- ■
schuldigungen gegen den Vater auf Lager, die weit über das Normale hinaus-
/
'" Satyriasis und Nymphomanie. 91 1
gehen. Eines Tages kommt er und sagt, er wisse nun nach einer schlaflosen
Nacht die* Ursache seiner Krankheit: Der Vater habe seinen Bruder er-
mordet. Der Bruder wäre hoffnungslos krank und dem Vater schon lange
lästig gewesen. Er wisse es ganz bestimmt und wolle nach Hause fahren
und es dem Vater sagen und das ganze Erbteil vom Vater verlangen. Schon
als Knabe war es ihm klar, daß der Vater seinen Bruder umgebracht hatte.
Der Vater sprach immer so verlegen von diesem Kinde und wich immer aus,
wenn er auf den Bruder zu sprechen kam.
Er beurteilt den Vater nach seinem Innern. In ihm lebt die Seele
eines Mörders, wie ja alle seine Triebe eine pathologische Stärke zeigen.
Diese Verdächtigung des Vaters ist psychologisch dadurch begründet, daß
er in seiner Jugend dem Bruder den Tod wünschte, weil er keinen Konkurrenten
im Elteinhause haben wollte und er immer daran dachte, daß das reiche
Erbe des Vaters werde geteilt werden müssen. Er war aber kein Mensch,
der teilen konnte. Alles wollte er für sich allein haben. Er wollte seinen
Bruder ermorden und hatte ganz abenteuerliche Pläne in seiner Phantasie
ausgearbeitet. Jetzt schob er diese Phantasie auf den Vater, während er
für sich ein edles Trauer- und Reuemotiv konstruierte, wenn das Thema
Bruder angeschlagen wird. Er ist unglücklich, daß er keinen Bruder hat,
der Vater hätte ihn seines Liebsten beraubt. Wenn der Bruder leben würde,
wäre er nicht krank, nur das Mitwifesen um das Verbrechen des Vaters habe
ihn so krank gemacht. Der Vater gelte als hochanständiger Mensch und habe
in seiner Heimat alle kommunalen Würden, er sei Bürgermeister und selbst
vom Kaiser ausgezeichnet worden, er könnte ihn aber doch ins Kriminal
bringen, wenn er wollte. Er ist von Neid erfüllt, daß der Vater es so weit
gebracht hat; die eigene Unfähigkeit wird am liebsten mit der Krankheit
entschuldigt.
Es dauert lange, bis hinter dieser dicken Schichte von Haß und Neid
die ursprüngliche Liebe zum Vater zum Vorschein kommt. Der Analytiker
merkt, daß sein Leiden mit einer bestimmten Einstellung zum Vater zu-
sammenhängt. Doch diese Auflösungen gehen allmählich und langsam vor
sich und Aufklärungen, für die der Kranke noch nicht reif ist, können mehr
schaden als nützen. Die Kunst der Analyse ist es, die Erkenntnisse mit-
zuteilen, die entsprechend vorbereitet sind. So ist unser Kranker noch nicht
reif für die Erkenntnis, daß er seinen Vater liebt. Immerhin beginnt er
langsam von den Vorzügen seines Vaters zu erzählen, von seinem großen
Ansehen, das er genieße, von seinem Wissen, von seiner großen Bibliothek.
Immer schöner tritt das Bild des Vaters hervor. Er erzählt Szenen
aus der Jugend, da der Vater mit ihm botanisierte und ihn in diese Wissen-
schaft einweihte, er korrigiert seine Mordphantasien und gibt zu, daß alles
nur in seiner überhitzten Phantasie - besteht. In diesem Stadium, in dem
er in mir deutlich den Vater sieht, beginnt er auch gegen mich aggressiv
zu werden und gebraucht ein Wort, das eine Beleidigung enthält. Ich habe
ihm schon klar gemacht, daß er in mir den Vater sieht. Nun will er mich
behandeln wie den Vater. Ich breche sofort die Behandlung ab. Nach drei
Tagen kommt er reuig und ganz gebrochen zurück und bittet um Verzeihung.
Es werde nicht mehr vorkommen, ich solle ihn doch nicht im Stiche lassen,
er könne nicht so krank bleiben und fühle, daß ich ihn retten werde. Dies
war der einzige Konflikt, den ich mit ihm hatte, und seit damals benahm
er sich tadellos und hängt noch heute in großer Anerkennung und Dankbar-
14*
212 Zweiter Teil. Die Homosexualität
keit an mir. Jetzt war er reif, zu lernen, wie stark seine verdrängte Homo-
sexualität seine Beziehungen zu den Vorgesetzten, zum Vater und zu mir
beeinflußt. Das sieht er nun alles ein. Er gesteht, daß er sich in. den letzten
Chef verliebt habe und deshalb aus dem Geschäfte mußte. Er teilt mir
einen Traum mit, den er verschwiegen hatte, in dem er mit mir homo-
sexuelle Beziehungen hatte, und er gesteht, daß er sich für seinen Vater
in der Kindheit sehr begeisterte und ihn leidenschaftlich liebte.
Aber noch mehr erfahren wir. Wir lernen, wie die Verschlimmerung
in Berlin zustande gekommen. In seinem' Quartier befand sich ein reizender
Junge von 14 Jahren, den er zur Nachhilfe unterrichtete. Mit diesem
Jungen begann er zu spielen. Er masturbierte ihn und
ließ sich von ihm mast'urbieren. Das Verhältnis dauerte un-
gefähr drei Monate. Es waren die ersten drei Monate seines Berliner Auf-
enthaltes. Dann hatte er Reue, suchte mit der Hausfrau einen Streit und
zog aus. Von diesem Moment aber trat der Drang nach den Frauen auf.
Es war seine letzte homosexuelle Periode. Vor diesem Knaben hatte er
schon andere Knaben verführt und sie immer willig zu diesen Akten ge-
funden. Ein öffentlicher Prozeß, in dem der Täter wegen des gleichen
Deliktes bestraft wurde, weckte in ihm den Entschluß, die homosexuellen
Beziehungen aufzugeben. Es sei auch seit der Berliner Episode nichts mehr
vorgekommen.
Die Satyriasis entstand durch die Verdrängung
der homosexuellen Triebrichtung. Hinter dem leiden-
schaftlichen Trieb zum Weibe steckt der unbefriedigte
Trieb zum Manne.
Nun wird dem Patienten klar, daß er mit den Knaben die Szene spielte,
die er von seinem Vater erwartete. Sein Haß gegen den Vater ist verschmähte
Liebe. Wir werden in dem Kapitel, das vom Sadismus handelt, diese Ein-
stellung der Söhne zum Vater noch einmal besprechen. Unser Patient er-
wartete, der Vater werde das mit ihm machen, was er mit den Jungen machte.
Wir sehen auch, was auf die ersten Angaben der Patienten zu geben ist.
Allmählich kommen immer mehr solcher Kinderszenen zum Vorschein, und
bald wissen wir, daß es früher seine größte Sorge war, sich einen schönen
Jungen zu verschaffen und daß ihn Jungens mehr reizen als Mädchen. Er
will bei den Mädchen seinen Drang zu den Jungens vergessen und hofft,
durch eine vermehrte heterosexuelle Betätigung die homosexuelle überflüssig
zu machen, Sein Drang nach Weibern, sein ewiges Denken an die Weiber
dient nur dazu, den Gedanken an den Mann nicht aufkommen zu lassen.
Zwangsgedanken dienen oft dazu, andere Gedanken nicht aufkommen zu
lassen. Es ist das Gesetz der Ablenkung, das im psychischen Leben des
Neurotikers eine bedeutsame Rolle spielt.
Nun überträgt er in der Behandlung — wie vorauszusehen — alle
Leidenschaften auf mich. Er hat Träume, die er sehr ungern erzählt, in
denen er mich nackt sieht und meinen Penis in die Hand nimmt oder gar
Fellatio macht. Er erinnert sich jetzt, wie leidenschaftlich er den Vater
beobachtete, wie gern er mit ihm badete und wie er sich gern versteckte,
um den Phallus des Vaters zu sehen. Die Auflösung dieser Übertragung
und die Rückführung auf seinen Vater will ihm anfangs nicht gefallen, wird
aber -immer deutlicher. Er ist oft bis zu einer Woche abstinent und hört
nun auf, zu Dirnen zu laufen, ohne daß/ ich es ihm verboten hätte. Die
l
Satvriasis und Nymphomanie. 91g
erwachende zurückgestaute Homosexualität hat diesen Umweg nicht mehr
nötig. Sie zeigt sich offen und wird offen überwunden. Er erkrankt wieder
an Angstzuständen. Seine Wirtin erzählt, daß er bei Nacht 'stöhnt und
ächzt und auch schreit. Er träumt von wilden Männern und Einbrechern.
Er wird sentimental und sanft und verändert sich sehr zu seinem Vorteile.
Er sucht nirgends Händel und beginnt wieder ins Theater zu gehen und
Bücher zu lesen, was er schon Jahre nicht mehr machte. Seine Briefe an
den Vater werden ruhiger und vernünftiger. Er wird sparsam und braucht
weniger Geld, als der Vater ihm schickt.
Da passiert ihm etwas, was sein Leben auf eine neue Bahn bringen
sollte. Es ist das typische Erlebnis dieser Menschen, die in Behandlung
stehen. Sie losen sich aus den infantilen Banden und verlieben sich während
der Analyse.1)
Auch unser Patient war in höchster Liebesbereitschaft. Seine Homo-
sexualität, die ganz verdrängt war — er dachte nie mehr an Jungens — , war
wieder manifest geworden. Er spielte nun seinen höchsten Trumpf aus. Er
verliebte sich in ein Mädchen, das ihm alle anderen Frauen und auch den
Mann ersetzen sollte. Er brannte für den Mann und verbrannte bei dem
Mädchen. Das. geschah auf so merkwürdige und zugleich so typische Art
und Weise, daß ich darauf ausführlich zurückkommen muß.
Er hatte noch immer die Gewohnheit, Mädchen auf der Gasse anzu-
sprechen, auch wenn er keine anderen Absichten hatte, als. sich zu unterhalten.
So traf er eines Abends ein niedliches kleines Mädchen, das eher wie ein
Junge aussah, sprach sie keck an und verliebte sich sofort in sie. Nach drei
Tagen nannte er sich schon ihren Bräutigam und nach sechs Tagen fand
schon die Verlobung statt. Er hatte kein anderes Thema als seine Liebe.
Als wollte er sich an mir und dem Vater rächen, sprach er von nichts
anderem als von seiner Liebe und von seinem Glücke. Die Satyriasis war
von einem seelischen Rausch abgelöst, der noch viel stärker war. Er wählte
ein Mädchen aus einfachem Hause, um seinen Eltern recht weh zu tun. Er
nahm sich das Mädchen, obwohl sie nicht virgo intacta war (weil ihm das
gleichgültig war). Er teilte das den Eltern mit und das war die schwerste
Rache, die er ihnen antun konnte. Sie gaben sehr viel auf ihre soziale
Stellung; nun sollte ihr Sohn die Tochter eines Kondukteurs heiraten, ein
Mädchen, das gar keine Bildung genossen hatte und in einem Laden als
Verkäuferin angestellt war. Und er drohte seinen Eltern, er werde sich das
Leben nehmen, wenn er das Mädchen nicht bekommen würde. Er würde sie
auch gegen den Willen der Eltern heiraten. Seine Liebe sei so grenzenlos,
eine solche Liebe habe es überhaupt noch nie gegeben! Schon der Gedanke,'
daß der Vater die Verlobung stören könnte, bringt ihn so in Wut, daß
er an Mord und alle möglichen Gewalttaten denken muß.
Ich riet dem Vater, den Sohn dadurch zu entwaffnen, daß er ihm gar
keinen Widerstand entgegensetzte. Er solle nur eine Bedingung stellen:
Der Sohn solle sich und seine Frau selbst erhalten. Nur ein Mann, der eine
Frau erhalten könne, habe das Recht, zu heiraten. Den gleichen Standpunkt
verteidigte ich und machte dem Verliebten begreiflich, daß er durch die
Arbeit von seinem Vater unabhängig werden würde. Er begriff bald, daß er
gerade von seinem eigenen Gelde und seiner Arbeit nicht leben wollte. Es
J) Vgl. Angstzustände, S. 417.
\
214 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
war seine größte Lust, zu denken, daß der Vater jeden Koitus bezahlen
müsse und daß er mit dem Gelde des Vaters koitiere.
Nun gestand er mir, daß er schon einmal heiraten wollte. Es war in
Berlin, kurz nach dem Aufgeben der homosexuellen Verhältnisse mit den
Jungen. Da lernte er eine Dirne kennen, die mit ihm ein Verhältnis einging.
Diese wollte er heiraten und schon damals führte er dem Vater die gleiche
ich kenne. Dies Vorgehen ist typisch, und jeder erfahrene Nervenarzt wird
in solchen Fällen wiederholt ausgeführt. Es ist nicht der einzige Fall, den
ich kenne. Dies Vorgehen ist typisch, und jeder erfahrene Nervenarzt wird
jedes Jahr einige Male in ähnlichen Fällen zu Rate gezogen werden. Dieses
Mädchen war die Französin, welche ihm den hohen Unterricht in allen
Paraphilien gab. Der Vater war natürlich verzweifelt und drohte mit Fluch
und Enterben. Das war es ja, was unser Patient wollte. Er fürchtete nur
den zärtlichen Vater und brauchte ihn immer zornig, um eine sichere Scheide-
wand zwischen sich und dem Vater aufzurichten. Unser Patient fühlte sich
auch von seinem Vater verschmäht. In der wichtigen Berliner Zeit klammerte
er sich an die Französin, ruhte nicht eher, bis der Vater sie kennen lernte,
wollte immer mit ihr zusammen sein und fürchtete das Alleinsein mit
dem Vater.
Von hier aus ergaben sich Assoziationen zu der Reise mit dem Vater,
die er nach Thüringen gemacht hatte. Es war nicht der Oheim, sondern
sein Vater, und er hat Erinnerungen, daß er mit seinem Vater wiederholt
ein Bett teilte und daß er glücklich war, weil der Vater diese Reise mit
ihm und nicht mit der Mutter machte. Wir erinnern, daß er von dieser
Reise nur den Vorfall von dem Sturze behalten hat. Es handelt sich um
eine Deckerinnerung. Hinter diesem Sturze verbergen sich ganz andere Be-
gebenheiten. Es handelt sich um einen Sündenfall. Ich verweise darauf, daß
er auch die Rezidive des Leidens und die Verschlimmerung auf einen Sturz
zurückführt. Dieser Sturz geschah in einer Rodelbahn. Er soll eine Zeitlang
bewußtlos gelegen sein, aber schon nach einer halben Stunde wieder „quietsch-
fidel" gerodelt haben. So arg kann also der Sturz nicht gewesen sein.
Jedenfalls liegt das Rätsel des Falles in den Phantasien, mit denen er die
Reise in Thüringen umsponnen hatte. Durch das öftere Zusammenschlafen
kam die Fiktion seinem Bewußtsein näher, er ersetze dem Vater die Mutter.
In diesem Traumzustande absolvierte er die Reise als eine Frau, als die
Mutter, und dichtet den Sündenfall hinzu, der sich nie ereignet hat und
dessen symbolische Vertretung die Szene mit dem wirklichen Fall übernimmt.
Nun befindet er sich in einer neuen homosexuellen Gefahr. Er ist
täglich mit mir beisammen und produziert allerlei Kunststücke, um sich
von mir untersuchen zu lassen und mir seinen Penis zu zeigen. Er glaube,
er habe wieder eine Gonorrhöe, er müsse an Phthiriasis leiden, ich solle
ihn doch untersuchen, es sei doch blöd, daß er zu einem anderen Arzt gehen
solle. Ich löse alle diese Symptomhandlungen auf und er bestätigt mir,
daß auch direkte Phantasien, in denen ich eine Rolle spiele, aufgetreten
sind. Er rächt sich aber dadurch, daß er mir jetzt stundenlang nur von
seiner Braut und ihren Zärtlichkeiten erzählt. Er hat kein anderes Thema!
Er müßte sie fortwährend um sich haben, dann wäre er ruhig. Nicht eine
Sekunde sollte sie ihn allein lassen. Tag und Nacht müßte er ihre Hand
halten, . . . dann wäre er gegen die Homosexualität sicher. Schließlich
muß ich ihn aufmerksam machen, daß ich die Behandlung unterbreche, wenn
Satyriasis und Nymphomanie. 215
er kein anderes Thema habe. Und siehe da! Nun geht es wieder um ein
Stück weiter. Er weiß jetzt, daß er sich durch die Verlobung vor der
Homosexualität und seinen Schmutzonanieakten retten will. Er sieht aber
auch, daß er in seiner Braut einen Ersatz seiner Mutter gefunden hat. Er
umgibt sie mit allen Zärtlichkeiten, wie ein Mensch, der wirklich liebt, und
allmählich verwandelt sich der Rausch in eine wahre und tiefe Zuneigung.
Noch gibt es furchtbare Stürme zwischen ihm und der Braut. Noch wütet
er gegen seinen Vater und gegen alle Autorität. Er ist ein Anarchist, der
gegen jede Autorität kämpft und sich zur ganzen Welt mit Trotz ein-
gestellt hat. Aber der Vater, von mir gelenkt, bleibt milde und entwaffnet
seinen Trotz. Die ganze Verlobung erfüllt nicht mehr den Zweck, die Eltern
zu kränken. Die Eltern gehen auf alles ein, verlangen nur Arbeitsfähigkeit.
Diese fange ich an zu bezweifehi und bringe ihn so in Trotzeinstellung zu
mir. Er will mir zeigen, daß er arbeiten kann. Ich bemitleide bei jeder
Gelegenheit seine Braut, ein stilles, braves Mädchen. Er werde sie ja sicher
verlassen. Er habe kein Talent zur Treue. Justament nicht! — fühlt er.
Er will mir nun zeigen, daß er treu sein kann.
Nach einigen Wochen schon findet er eine Stelle und bewährt sich
durch Fleiß und Geschicklichkeit, so daß sein Gehalt rasch gebessert wird.
Nun heiratet er bald und wird in jedem Sinne des Wortes ein anderer Mensch.
Allerdings gab es viel Arbeit. Seine hypertrophischen Größenwahn-
ideen, seine Vorstellung, ihm wäre alles erlaubt, was den anderen verboten'
ist, seinen Trotz gegen die Gesellschaft und gegen jede Autorität galt es
durch soziale Strömungen zu ersetzen. Es gelang allmählich. Er wurde
bescheiden und liebenswürdig . . .
Die Möglichkeit seiner Genesung hing davon ab, daß er sich dauernd
von seinen Eltern trennte. Denn ein kurzer Aufenthalt zu Hause belehrte
ihn, daß die Affekte ihn zu Hause überwältigten, und er reiste schleunigst
ab, um mit den Eltern in Frieden auszukommen.
Die erste Zeit richtete sich der ganze Trieb auf die Braut und er
wartete gar nicht bis zur Hochzeit. Er steigerte seine Leistungen ins Un-
glaubliche. Das dauerte aber nicht lange und allmählich beruhigten sich
die Wogen. Er wurde in jeder Hinsicht ruhiger und verkehrte in gemessenen
Zwischenräumen mit seiner Frau. Eine Gravidität und die Geburt eines
Kindes nötigten ihn zu langen Pausen, die er sehr leicht vertragen konnte,
ohne seiner Frau untreu zu werden. Ich weiß nicht, wie lange diese Besse-
rung anhalten wird. Jetzt ist er schon drei Jahre in Amt und Würden und
ein braver, bescheidener Mensch, der mit Grauen an die Vergangenheit
zurückdenkt. Seine Eltern haben eich in die Ehe gefügt und die Geburt
zweier Enkel hat sie vollends mit den Tatsachen ausgesöhnt.
Auf das Wesen der Satyriasis fällt von diesem Fall ein helles Licht.
Wir erfahren aber auch, warum ihm die Luft in Berlin nicht behagt hat.
Er war im Begriffe, dort homosexuell zu werden. In Berlin gab es in seinem
Büro auch einen Homosexuellen, der ihn in die Berliner Kreise einführen
wollte. Er faßte plötzlich eine heftige Zuneigung zu seinem Chef, der ihm
täglich mehr imponierte und ihm täglich besser gefiel. Er wurde eifersüchtig
auf die anderen Kollegen und wußte schließlich kein anderes Mittel, als die
Rettung in den Streit und in die Grobheit. Er suchte Händel mit dem Chef,
um sich von ihm zu trennen und sich vor Zärtlichkeiten zu sichern.
216 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Interessant ist, daß er in den Szenen mit dem Knaben sich mit seinem
Vater identifizierte. Er spielte die Verführungsszene, die
er vergebens von seinem Vater erwartet hatte. Die
Identifizierung mit dem Vater ging so weit, daß er sich alt, müde und ab-
gelebt fühlte und der Ansicht war, er müsse bald sterben. In seinen kopro-
philen Szenen aber war er Säugling. Nun ist es bedeutsam, auch zu kon-
statieren, welche Rolle er spielte, als er sich in seine Frau verliebte. Dar-
über möchte ich noch einige Worte sagen.
In der ersten Zeit der jungen Liebe identifizierte sich der Patient mit
seiner Mutter, während das Mädchen für ihn immer ein Junge, meistens er
selbst, war. Er spielte eine Liebesszene von Mutter und Sohn und wunderte
sich, daß er solcher mütterlichen Gefühle fähig war. Er betonte seine starke
Weiblichkeit. Er hätte ein weibliches Becken, wäre bartlos, hätte Gynäko-
mastie. Organisch zeigt -sich jenes Entgegenkommen zum bisexuellen Typus,
der mir bei genauer Untersuchung noch in keiner Neurose gefehlt hat. Er
wurde auch aufmerksam, galant, entgegenkommend, zierlich, manieriert.
Manchmal aber wurde die Braut zur Mutter und er spielte das Kind. Er
legte sich auf ihren Schoß und sagte: „Jetzt möchte ich in dich ganz hinein-
kriechen und wie ein Kind im Mutterschoße liegen. Da würde ich mich
sicher fühlen." Beim Koitus war er sehr gern Succubus und einmal hatte
er einen kleinen Anfall. In diesem Anfall wurde ihm die Phantasie bewußt,
er verkehre mit seiner Mutter. Das war keine von mir beeinflußte Phantasie.
Ich ließ mir alles vom Kranken berichten, ohne ihn in eine gewisse Richtung
zu drängen.
Mit der fortschreitenden Besserung hörte diese Identifizierung mit der
Mutter auf. Er versöhnte 'sich mit den Eltern, wechselte mit dem Vater
freundschaftliche Briefe, fühlte sich als erwerbender Mann. Er wurde zum
erstenmal im Leben er selbst.
Er kam zum Bewußtsein seiner eigenen Persön-
lichkeit. Er liebte jetzt die Frau als ihr~Mann und
fühlte sich eigener Vater, der eine eigene Mutter hat.
Das mag vielen wie eine Selbstverständlichkeit und banal klingen.
Und doch liegt aller Fortschritt, den ich erzielen konnte, in der Zer-
störung der Identifizierungen mit seinen Eltern, in der Zerstörung
seiner Projektion auf das Elternhaus. Vorher war immer die deter-
minierende Kraft: Was werden meine Eltern dazu' sagen? Der Ge-
danke, daß der Vater sich kränken würde, erfüllte ihn mit Liust. Er
wollte den Mann, den er als die Ursache seiner Leiden betrachtete,
für seine Lieblosigkeit strafen, ihn immer in Erregung halten. Er
vertrug alles eher, als den Vater gleichgültig zu wissen. Er löste. sich
nun vom Infantilismus los. Er war kein Kind mehr, er war ein Mann.
Durch alle Verwandlungen und Masken kam er zu sich zurück.
Seine Homosexualität bestand nach wie vor. Aber sie lag vor
ihm klar da, er erkannte sie in dem Verhältnis zu seinen neuen Vor-
gesetzten, zu seinen Freunden und zu seinen Ärzten. Er konnte sie
überwinden und unschädlich machen. Vielleicht konnte er auch einen
Satyriasis und Nymphomanie. 017
Teil auf seinen Sohn übertragen. Eines ist sicher: Er ist mit ihr
fertig geworden und so weit fertig, daß sie ihn nicht stört. Er ist
lebensfähig und arbeitsfähig. Solche Resultate wären ohne die Kunst
der Analyse und ohne die erzieherische Kunst des Arztes nicht mög-
lich gewesen. Das Los dieses Mannes ohne Behandlung wäre wahr-
scheinlich Selbstmord gewesen.
Es wäre noch hervorzuheben, daß sich aus der Verzweiflungs-
liebe eine echte Neigung entwickelte. Er sah seine Frau, sprach sie an
und liebte sie schon. Und die Ehe wird immer besser. Kleine Stürme
kommen vor - wo fehlen sie? - aber sie gehen vorüber und in seinem
Heim genießt er ein stilles, bescheidenes Glück. Der Traum von seiner
großen historischen Mission ist ausgeträumt. Er wollte ein Napoleon
werden oder Herostratos, ein Satan und Don Juan, ein Bombenwerfer
und sitzt nun als guter und bescheidener Buchhalter in einem Büro
und rechnet Ziffernkolonnen zusammen, bringt seiner Frau und den
Kindern kleine Überraschungen und freut sich, wenn er vom Hause
eine Unterstützung erhält, die er nicht benötigt und für sein Töchter-
chen zurücklegt.
Der Fall zeigt uns aber auch die Beziehungen der Homosexualität
zur Familie und zum Inzestproblem. Doch davon später .
Bei Krafft-Ebing finde ich einen Fall, der meine Beobachtungen in
jeder Hinsicht bestätigt. ,
, .- . Fal1 Nr' 30- »Herr X-' 35 Jahre, ledig, Beamter, war immer gesund,
kräftig, von lebhaftem sinnlichen Temperament, hatte abnorm früh und
mächtig sich regenden Sexualtrieb, masturbierte schon als kleiner Knabe,
koitierte zum erstenmal schon mit 14 Jahren, angeblich mit Genuß und
voller Potenz. 15 Jahre alt, versuchte ihn ein Mann zu verführen, marm-
stuprierte ihn. X. empfand Abscheu, befreite sich aus dieser „ekelhaften"
Situation. Er exzedierte herangewachsen in unbändiger
Libido mit Koitus, wurde 1880 neurasthenisch, litt an Erektions-
schwäche und Ejaculatio praecox, wurde damit immer weniger
potent und empfand auch keinen Genuß mehr beim
sexuellen Akt. Zu jener Zeit der sexuellen Dekadenz hatte er noch
eine Zeitlang eine ihm früher fremde und ihm noch jetzt unbegreifliche
Neigung zum sexuellen Verkehr cum puellis non pubibus XII ad XIII annorum.
Seine Libido steigerte sich mit abnehmender Potenz. Allmählich bekam er
Neigung zu Knaben von 13-14 Jahren. Es trieb ihn, an solche sich an-
zudrängen. Quodsi ei occasio data est, ut tangere posset pueros, qui ei
placuere, penis vehementer se erexit tum maxime quum crura puerorum
tangere potuisset. Abhinc feminas non cupivit. Nonnunquam feminas ad
coitum coegit sed erectio , debilis, eiaculatio praematura erat sine ulla
voluptate. Es interessierten ihn nur noch junge Burschen. Er träumte von
ihnen, bekam dabei Pollution. Von 1882 ab hatte er ab und zu Gelegenheit,
concumbere cum juvenibus. Er war dann sexuell mächtig erregt, half sich
mit Masturbation. Nur ausnahmsweise wagte er es, socios concumbentes
218 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
längere et masturbationen inutuam adsequi. Päderastie verabscheute er.
Meist war er genötigt, seinem sexuellen Bedürfnisse durch solitäre Mastur-
oation zu genügen. Er stellte sich dabei das Erinnerungsbild sympathischer
Knaben vor. Nach sexuellem Verkehr mit solchen fühlte er sich jeweils
gekräftigt, erfrischt, aber moralisch gedrückt in dem Bewußtsein, eine per-
verse, unsittliche, strafbare Handlung begangen zu haben. Er empfand es
höchst peinlich, daß sein abscheulicher Trieb mächtiger sei als sein Wille.
X. vermutet, daß seine Liebe zum eigenen Geschlecht durch maßlose Exzesse
im natürlichen Geschlechtsgenusse entstanden sei, beklagt tief seine
Lage, fragt anläßlich einer Konsultation im Dezember 1888, ob es kein
Mittel gebe, um ihn zu normaler Sexualität zurückzubringen, da er ja eigent-
lich keinen Horror feminae habe und gerne heiraten würde. — Außer Er-
scheinungen sexueller und spinaler Neurasthenie mäßigen Grades bietet der
intelligente, von Degenerationszeichen freie Patient keine Krankheits-
symptome."
Wir haben es hier mit einem Schulfall zu tun, wie man ihn deut-
licher und plastischer kaum finden kann. Im Beginne des sexuellen
Lebens steht ein Trauma, das für ihn von allergrößter Bedeutung
scheint. Denn er spielt immer wieder diese Szene mit verkehrten
Rollen. Er wurde von einem Manne manustupriert, als er noch ein
Knabe war. Nun sucht er, der Mann, diesen Knaben. Zuerst versuchte
er durch Exzesse im Koitieren diesen homosexuellen Trieb zurück-
zudrängen. Es gelang ihm nicht. Er wurde bei Frauen impotent oder
schwach potent. Er führt diese Erscheinung irrtümlicherweise auf die
Exzesse zurück, während nur die mangelnde heterosexuelle Libido die
Ursache war. Denn er klagt über vehemente Erektionen bei Berührung
von Knaben. Auch das Schwinden des Orgasmus bei heterosexuellen
Akten ist sehr charakteristisch für diese Fälle. Wir werden dies
Symptom bei der Besprechung der Impotenz des Mannes noch ein-
gehend würdigen.
Ähnliche Fälle haben die alten Beobachter auf die Vermutung
gebracht, durch Ausschweifungen stumpfe sieh der heterosexuelle Trieb
ab, so daß die Männer, um sich zu reizen, homosexuelle Akte begehen.
Die Anschauung lebt noch in den Köpfen vieler Ärzte. Sie halten die
Homosexualität für die Folgen der Ausschweifung, der Homosexuelle
ist ihnen ein ekelhafter Wüstling. Ich brauche nicht erst zu betonen,
wie verkehrt und lächerlich dieser Standpunkt ist. Man trifft unter
den Homosexuellen die keuschesten Menschen, auffallend viel Idealisten
und Künstler. Man braucht nur einen Blick auf die Liste homo-
sexueller Künstler zu werfen. Es finden sich darunter die größten
führenden Geister der Menschheit.
Die Nymphomanie zeigt die gleiche homosexuelle Ursache wie
die Satyriasis. Wir werden bei Besprechung der sexuellen Anästhesie
der Frau einige Typen von Frauen kennen lernen, welche deutlich den
Satyriasis und Nymphomanie. 91 g
nymphomanischen Charakter zeigen, zumindesten Messalinen sind.1)
Sie sind meistens anästhetisch, was schon an und für sich sehr inter-
essant ist und sich auch bei den gewöhnlichen Prostituierten findet.
Sie haben den gleichen unstillbaren Hunger nach dem Manne, wie sie
der Don Juan nach dem Weibe hat. Das Charakteristische ist, daß
sie eben keine Befriedigung finden. Alle diese ewig suchenden Menschen,
Ahasver, der fliegende Holländer, Faust und Don Juan, die verdammt
sind, zu wandern und zu suchen und nie zur Ruhe kommen, schildern
eigentlich eine Libido, die ihr Sexualziel nicht finden kann.2) So gibt
es unter den Frauen auch ewige Sucherinnen, die immer nach dem
Manne verlangen, der /sie ganz befriedigt und dauernd fesselt. Die
Verhältnisse beim Weibe sind noch viel komplizierter als die beim
Manne. Ich will jetzt nur einen Fall flüchtig skizzieren, so weit wir
es für das Verständnis unseres Themas brauchen. Wir werden bei der
Besprechung der Dyspareunie (III. Band) auf dieses Thema noch
zurückkommen.
Fall Nr. 31. Eine junge, auffallend schöne Frau — nennen wir sie
Adele — kommt zu mir mit einer selten gehörten Klage. Sie habe einen
braven Mann aus Liebe geheiratet und liebe ihn noch immer. Sie habe
aber gar kein Talent zur Treue. Sie besitze gar keine Widerstandskraft.
Sie sei das leichte Opfer jedes Mannes, der sich ihr nähere. Sie sei die
berüchtigte Frau, die kein „Nein" sagen könne. Ihr Mann habe keine Ahnung
von ihrem Treiben und vergöttere sie. Sie habe manchmal schwere Gewissens-
bisse, so auch heute, und möchte ein Mittel haben, das sie beruhigt, so
daß sie nicht von früh bis abends an erotische Dinge denken müsse. Was
ich ihr aber nicht glauben werde, sei der Umstand, daß sie in den Um-
armungen der Männer kalt bleibe und immer durch Onanie nachhelfen müsse.
Nur beim Kunnilingus komme sie zu einem großen Orgasmus. Sie glaube,
wenn ihr Mann sie auf diese Weise befriedigen würde, so könnte sie ihm treu
sein. Sie traue sich nicht, es von ihm zu verlangen, da er sie dann ver-
achten würde.
Aus ihrer Lebensgeschichte entnehme ich folgende Tatsachen. Adele
hatte schon als Kind Erfahrungen auf dem Gebiete der Liebe gesammelt.
Sie war ungefähr acht Jahre alt, als ihr Bruder anfing, mit ihr den Koitus
auszuführen. Sie war damals sehr sinnlich und behauptet, es hätte ihr einen
großen Genuß bereitet. Der Bruder war zwei Jahre älter. Alle Kinder des
Hauses, wo sie wohnten, waren schon so früh verdorben. Oft kam es zu
*) Vgl. Band III, Analyse einer Messalina.
• 2) Faust findet es vorübergehend im Gretchen. Aber es ist nur eine Episode
und er sucht rastlos weiter, bis er das schönste Weib „Helena" findet. Der fliegende
Holländer wird von einem Weibe erlöst, das ihn bis zum Tode treu liebt. Das ist eine
Projektion der eigenen Treulosigkeit auf das Weib. Er möchte ein Weib so lieben,
daß sie ihn erlösen könnte. Im Ahasver ist das Problem durch das Religiöse verdeckt,
das sich auch im Don Juan als die Vergeltung des höchsten Vaters durchsetzt. Alle
vier müssen treulos 6ein und können nicht bei einem Weibe bleiben.
220 /weiter Teil. Die Homosexualität.
förmlichen Orgien. Sie wurde von dem Bruder dann seinen Freunden ab-
getreten, wenn die Freunde ihm "die Schwestern abtreten konnten. Sie er-
innere sich, einmal von vier Buben hintereinander benützt worden zu sein.1)
Diese Szenen dauerten mehr als ein Jahr. Dann entdeckte die Mutter eines
anderen Mädchens den Unfug und es wäre fast ein öffentlicher Prozeß daraus
geworden. Es gab Szenen und Untersuchungen, aber sie logen sich alle
heraus. Seit dieser Zeit onanierte sie und konnte das „Laster" bis heute
nicht aufgeben. Sie hatte aber schon als Backlisch kein anderes Ziel, als
den Männern zu gefallen. Sie war sehr kokett und leichtfertig, besserte
sich für eine Zeitlang und war sehr fromm und zurückhaltend, wollte sogar
in ein Kloster gehen und das Gelübde der Keuschheit ablegen.
Diese fromme Periode hielt nicht lange an. Sie wurde wieder kokett und
verschaffte sich alle möglichen erotischen Bücher, welche sie sehr aufregten,
so daß sio oft mehrere Male in einer Nacht onanieren mußte. Mit siebzehn
Jahren wurde sie das Opfer eines Schülers ihres Vaters, der Klavierprofessor
an der musikalischen Hochschule war. Sie war mit dem jungen Manne einige
Minuten allein. Er küßte sie, was sie sich ohne Widerstreben gefallen ließ.
Dann setzte er sie auf sich — es gab in diesem Lehizimmer keinen Diwan —
und sie verlor ihre Unschuld. Sie wußte nicht, wie das gekommen war. Das
Ganze spielte sich in einigen Minuten ab. Sie floh nun diesen Schüler, der ihr
überall nachstellte, und lebte nun einige Wochen in einer fürchterlichen Angst,
daß sie in die Hoffnung kommen werde. Es ging aber glücklich vorüber. Sie
merkte bald, daß alle Männer in sie versessen waren. Junge Burschen und alte
Männer liefen ihr nach. Die Mutter, der sie weinend das Erlebnis mit dem
Schüler erzählt hatte und die es dem Vater verschwieg (weil er sonst den
Burschen umbringen würde!), bewachte sie nun sorgsam, ließ sie nie mehr allein
und sagte immer: „Kind, du mußt bald heiraten. Du hast zu heißes Blut."
Mit neunzehn Jahren fand sie ihren Mann, in den sie sich mit einer Glut
verliebte, daß sie der Spott der ganzen Stadt wurde. Sie hatte keinen
anderen Gedanken als ihren Bräutigam. Schon in den ersten Wochen der
Brautzeit fiel sie ihrem Manne in die Arme und leistete ihm keinen Wider-
stand, als er sie ganz besitzen wollte. Er war so aufgeregt, daß er nicht
merkte, daß sie keine Virgo war. Sie hatte nur einen „kleinen Genuß''
dabei, jedenfalls regte sie alles furchtbar auf.
Sogar in der Brautzeit war sie ihrem Bräutigam nicht treu. Es fing mit
einem seiner Freunde an, den sie sogar in seiner Wohnung besuchte. Sie war
unglücklich und wollte sich töten. Aber es kam immer wieder über sie und
der Leichtsinn siegte über alle Vorsätze.
Nach der Hochzeit — es waren drei Tage vergangen — fiel ihr ein,
daß man davon sprach, Dr. X., ein schöner, junger, lediger Mann, wäre ein
großer Don Juan. Sie beschloß, ihn sofort aufzusuchen und ihn zu verführen.
Sie klagte ihm, sie hätte einen roten Fleck in der Scheide entdeckt, der sie
beunruhige. Ob das nicht eine Krankheit wäre? Kurz, sie kam zu ihrem Ziele,
wurde eine Zeitlang seine Geliebte und lernte hier das erste Mal den Kunni-
x) Derartige Vorkommnisse bestätigen meine Ausführungen auf S. 5. Ich höre
sie so oft, daß sie mir schon als etwas Gewöhnliches vorkommen. Andere werden
über diese Sittenverderbnis die Hände zusammenschlagen. So sieht es aber hinter den
Kulissen mancher Kinderstube aus und wer sich die Kinder als asexuelle weiße Lämmer
vorstellt, wird nie die Menschen gründlich kennen lernen.
Satyriasis und Nymphomanie. 991
Iingus kennen. Sie meint, es wäre die hohe Schule der Liebesknnst gewesen.
Ein anderer Mann verlangte von ihr die anale Form der Kopulation. Das
alles machte ihr Spaß, obwohl sie nie den Orgasmus hatte wie beim Ona-
nieren.
Bald erwachten in ihr quälende Reuegefühle. Sie hatte den besten aller
Männer. Sie machte sich die heftigsten Vorwürfe und nahm sich täglich vor:
„Das war das letzte Mal. Es wird nicht mehr vorkommen." Aber schon am
nächsten Tage trieb es sie, auf die Gasse zu gehen oder einen der Herren
anzutelephonieren, deren sie eine ganze Reihe zur Verfügung hatte. Interessant
ist, daß sich in ihrer Liste Ärzte, Advokaten, Offiziere, Beamte, Adelige und
Bürgerliche befanden. Sie ließ sich nie bezahlen und kein Geschenk geben.
Dann würde sie sich wie eine Dirne vorkommen. Sie ließ sich auch schon mit
Kutschern und Chauffeuren ein, hatte aber nachher einen solchen Ekel, daß
sie es nicht mehr. tat, obwohl die Versuchung immer wieder da war.
Eine Gonorrhöe, die sie akquirierte, zwang sie, vor dem Manne ein
Frauenleiden zu spielen und eine lange Zeit zu abstinieren. Allerdings be-
herrschte sie wegen des Mannes, der sie krank gemacht hatte, ein solcher
Zorn, daß sie sich vornahm, sich an den Männern zu rächen und alle Männer
ihrer Bekanntschaft krank zu machen. Es kam nicht zur Ausführung dieses
Planes, da ihr der Frauenarzt jeden Verkehr verboten hatte. Aber zweimal
konnte sie nicht Widerstand leisten und infizierte zwei andere Männer
Sie bat mich, sie zu hypnotisieren. Es sei kein anderer Gedanke in
ihrem Kopfe als Männer und wieder Männer. Sie denke nur an die sexuellen
Szenen und habe sich schon vorgestellt, sie würde einmal wie Agrippina in
ein Lupanar gehen, um sich von so vielen Männern besitzen zu lassen, bis sie
endlich vollkommen befriedigt sei. Vielleicht werde sie dann einmal Ruhe
haben. Wenn sie heute einen fremden Mann kennen lerne, so träume sie schon
in der Nacht, daß sie mit ihm einen Verkehr habe.
Ich frage sie, ob sie sich diese Träume gemerkt habe und ob diese Träume
eine besondere Form der Sexualität betonten oder ob es sich immer um das
Normale handeln würde.
Sie antwortete zögernd: „Immer das Normale. Nur bin ich meistens
oben . . . Wie kommt das? Ich habe schon oft darüber nachgedacht."
„Haben Sie heute auch einen solchen Traum gehabt?"
„Lassen Sie mich nachdenken. Freilich. Ein dummer Traum . . ."
„Bitte, erzählen Sie ihn."
„Ich bin mit meinem Schwager in einem Bette.
Ein Mensch, der mir nicht einmal im Traume einfällt!"
„Er ist Ihnen doch im Traume eingefallen!"
„Ich weiß aber nicht, wie ich dazu komme. Ich habe nie von ihm ge-
träumt."
„Auch nichts mit ihm erlebt?"
„Nein ... mit ihm nie. ' Obwohl er mir nachstellt und ich weiß, daß
ich ihm sehr gefalle. Ich liebe meine Schwester zu sehr, als daß ich ihr das
antun würde, obwohl meine Schwester auch nicht treu ist und es auch nicht
sehr genau nimmt. Das liegt in der Familie. Doch ich will mit dem Schwager
nichts zu tun haben. Der Traum war ein Unsinn, ich habe das meiste ver-
gessen. Er war viel länger!"
\
222 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich merke, daß sie sich um den Traum drücken will, und ersuche um
genaue Mitteilung des ganzen Traumes. „Nun also" — meint sie — „der Traum
war folgender":
Ich liege mit meinem Schwager im Bette. Es ist, als ob ich der
Mann wäre und er eine Frau. Er hat keinen Schnurrbart und liegt unter
mir. Plötzlich verwandelt er sich in meine Schwester und ich küsse sie
leidenschaftlich. Siehst du! sagt sie: das hättest du längst tun sollen,
dann wärest du gesund."
Wir erkundigen uns nach ihrem Verhältnis zur Schwester und hören,
daß sie schon einige Monate nicht mit ihr verkehrt und daß sie seit dieser
Zeit sehr nervös ist und noch männersüchtiger als vorher. „Wenn ich mich
mit meiner Schwester unterhalte, so kann ich alle Männer vergessen. Sie ist
eine geistreiche Person und so bezaubernd. Wenn Sie sie kennen lernen, Sie
werden sich sofort in sie verlieben."
Hört man solche Aussprüche, und man hört sie nicht selten, so kann
man die Diagnose stellen: Dieser Mensch liebt selbst den gerade gerühmten
Menschen und deshalb findet er es selbstverständlich, daß man sich in ihn
verliebt.1)
Weitere Auskünfte ergeben, daß sie nur einen Gedanken hat: ihre
Schwester. Sie findet die Schwester am schönsten gekleidet, sie findet die
Schwester immer geistreich, immer entzückend.
Warum sie mit ihr den Verkehr abgebrochen habe?
Weil die Schwester egoistisch sei und sich um sie nicht kümmere. Sie
wäre einige Wochen krank gelegen und die Schwester habe sie wie einen
Hund liegen lassen und sich um sie nicht gekümmert; sie brauche die Schwester
zu Einkäufen, sie könne nun einmal nie allein kaufen und sei die Würzen für
alle Kaufleute, die Schwester sei aber für sie nicht zu haben. Dafür laufe sie
mit einer Freundin herum, die eine ekelhafte und liederliche Person sei. Sie
würde sich schämen, mit einer so verrufenen Frau sich öffentlich zu zeigen;
wenn sie ihr Mann wäre, würde sie ihr das verbieten . . . Übrigens wäre es
gar keine Sünde, wenn sie sich mit dem Schwager einlassen würde; die
*) Ich behandelte einmal einen Mann, der sich von seiner Frau geschieden hatte,
eine andere Dame aus Liebe heiraten wollte und mit seiner Frau prozessieren mußte.
Im Laufe der Verhandlungen, die notwendig waren, wiederholte der Patient immer:
„Mit meiner ersten Frau mache ich Sie nicht bekannt. Sie würden sich sofort in sie
verlieben. Der kann kein Mann widerstehen." Ich wußte bald, daß seine neurotischen
Störungen auf diese unterdrückte Liebe zur ersten Frau zurückgingen. Er hörte immer
Töne, die er nicht fassen konnte. Melodien, die auf keinen Inhalt zurückgingen. Aber
einmal konnte ich eine solche Melodie fassen. Es war ein Lied, dessen Text er nicht
kannte. Allmählich kam ihm die Erinnerung und der Text hatte eine deutliche Be-
ziehung-zu seiner ersten Frau. Diese unfaßbaren Melodien gestatten ihm, an sie zu
denken und sein Bewußtsein darüber hinwegzutäuschen, daß er sie noch immer nicht
vergessen habe. Einige charakteristische Strophen aus dem Liede von Eichendorff: „Ich
kam vom Walde hernieder — Da stand noch das alte Haus — Mein Liebchen schaute
wieder — Wie einst zum Fenster hinaus. — — Sie hat einen andern genommen —
Ich war draußen in Schlacht und Sieg — Nun ist alles anders gekommen — Ich
wollt, es war wieder Krieg — — ". Diese Verse enthalten die Darstellung seines
schweren Konfliktes.
Satyriasis und Nymphomanie. 990
Schwester sei ihm auch nicht treu und habe ein Verhältnis mit einem Ober-
leutnant und der dumme Mensch merke das nicht und es sei sein bester
Freund . . .
So plätschert es unaufhörlich wie ein Springbrunnen. Sie erwacht und
denkt den ganzen Tag an die Schwester und träumt jede Nacht von der
Schwester. Ich habe durch Wochen ihre Träume beobachtet. Es gibt keinen
Traum, in dem die Schwester nicht vorkommt, und keinen, in dem sich nicht
Anspielungen auf die erotischen Beziehungen zu ihr finden.
Schließlich enthüllt sich in der Analyse ihre Kindheit und sie erinnert
sich, daß sie mit der Schwester lange Zeit in einem Bette schlief und sie sich
gegenseitig den Kunnilingus machten. Es sei schon so lange her, daß sie es
vergessen habe. Der Vorfall erklärt auch ihr Wesen. Sie ist ewig auf der
Suchenach einem Weibe. Eigentlich nach einem Weibe, nach ihrer
Schwester. Diese will sie vergessen, diese Szene will sie durch neue Eindrücke
aus ihrem Gedächtnisse löschen.
Wir sehen, wie die latente Homosexualität sie allen Männern in
die Arme trieb. Wir sehen aber auch die Beziehungen der Homosexualität
zur Familie, Beziehungen, die wir eingehender studieren und auf ihre
Bedeutung prüfen müssen.
Die Homosexualität.
IV.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina.
„leb wüßte kaum noch etwas anderes
geltend zu machen , das dermaßen zerstöre-
risch der Gesundheit und Rassen kräftig-
keit, namentlich der Europäer zugesetzt hat
als das asketische Ideal; man darf es ohne
Übertreibung das eigentliche Verhäng-
nis in der Gesuudheitsgeschiclite des euro-
päischen Menschen nennen. ~ XT- , ,
1 Niofzsche.
Wir haben bisher vom Don Juan und von der Messalina gesprochen,
die sich aktiv betätigen, und es gelang uns, als treibendes Moment die
latente Homosexualität nachzuweisen. Zu diesen extremen Typen gibt
es unzählige fließende "Übergänge. Die Natur verblüfft uns nirgends
so durch den Reichtum der Variationen und Kombinationen wie in
den Ausdrucksformen menschlicher Sexualität.
Sehr interessante Typen bilden der steckengebliebene Don Juan
und die steckengebliebene Messalina. Sie benehmen sich ganz wie der
wahre ausgebildete Typus. Sie zeigen den gleichen unbändigen und
ruhelosen Trieb. Aber die heterosexuelle Handlung bleibt in ihrer
Entwicklung irgendwo stecken. Ich rede nicht von dem Don Juan der
Phantasie, nicht von der Messalina, welcher der Mut fehlt, ihre Triebe
auszuleben. Deren gibt es unzählige und ein Stück von diesem Typus
lebt ja in jedem Menschen und wird von uns als polygame Veranlagung
betrachtet.
Der Typus, den ich jetzt beschreiben will, liegt auf dem Wege
zum Asketen. Es ist ja klar, daß die Askese nie zustande kommen
kann, wenn nicht ein starker homosexueller Trieb das heterosexuelle
Ideal entwertet hat. Denn jede Handlung ist ein Produkt aus Trieb
und Hemmung. Ein üb er starker Trieb wird auch die stärksten
Hemmungen überwinden. Wenn aber der eine Teil der sexuellen Energie
durch homosexuelle Einstellungen gebunden ist, so wird die Aggression
/
Der rudimentäre Dem Juan — die moderne Messalina. 995
immer nur mit einem geringen Teil der Kraft ausgeführt werden
können. Sie bleibt ganz aus, und dann haben wir den Asketen vor
uns, oder sie bleibt in der Mitte stecken, sie führt nicht zum erwünschten
Ziel, und dann haben wir eben den „steckengebliebenen Don Juan".
Es gibt eine Unzahl Männer, die sich den ganzen Tag immer nur
mit den Möglichkeiten von Eroberungen beschäftigen, ,sie einleiten, sie
sehr geschickt fortsetzen und sie dann plötzlich abbrechen, . . . weil
sie Pech haben. Sie beneiden die Menschen, welche so glücklich sind,
erobern zu können, und jammern über ihr Mißgeschick, das sie um die
schönsten Früchte bringt, die ihnen eben in den Schoß zu fallen schienen
und nun für sie ewig verloren sind. Besser als alle allgemeinen Be-
trachtungen wird uns ein einziger Fall belehren können:
Fall Nr. 32. Herr Xaver Z. möchte gern ein Lebemann sein, wie die
meisten seiner Kollegen. Er behauptet, seine Schüchternheit bringe ihn um
alle seine Erfolge. Er ist schon 29 Jahre alt und hat es noch nicht zu einem
richtigen Verhältnis gebracht. Wacht er am Morgen auf, so denkt er gleich:
Wird es dir heute gelingen, ein Mädchen anzusprechen und zu erobern? Den
ganzen Tag über beschäftigt er sich mit diesem Gedanken, so daß er immer
zerstreut ist und keine Arbeit flott machen kann. Auch mit seinen Leistungen
im Geschäft ist er unzufrieden. Andere arbeiten so leicht und bringen alles
so rasch zustande, er ist langsam und nicht genug energisch. Er glaubt, es
fehle ihm an Initiative. Er ist immer müde und deprimiert, hat auch schon
einige Male Sanatorien aufgesucht und vergeblich eine Besserung erstrebt.
Er kann kaum den Abend erwarten, damit er auf der Straße sein Glück ver-
suchen kann. Er spricht verschiedene Mädchen an und es wird nie etwas daraus.
Er hat es auch mit einer Annonce versucht und steht mit mehreren Mädchen in
Korrespondenz. Es bleibt immer bei den platonischen Verhältnissen. Er bringt
entweder nicht den Mut auf, das Mädchen aufzufordern, sich mit ihm intimer
einzulassen, oder sein Ansinnen wird mit Empörung abgewiesen. Er fühlt, daß
er anders als die anderen Menschen ist, und das drückt ihn nieder. Er ist immer
einsam und die Sonntage sind ihm eine Qual. Er sucht sich Bekannte aus, die
arm sind, denen er ein Nachtmahl zahlen kann, damit er nicht „so allein" ist.
Er ist auch Reisender. Er fühlt, daß er seine Sache schlecht macht. Er
hat keine suggestive Gewalt auf seine Kunden, er kann ihnen nicht zureden
wie andere Reisende. Er ist gleichgültig und läßt sofort ab, wie er merkt,
daß der Kunde nicht willig ist, zu kaufen. Er ist bei seinem älteren Bruder
angestellt. Das sei noch sein Glück. Ein anderer Chef hätte ihn schon längst
entlassen. Sein Bruder aber mache ihm zwar keine Vorwürfe, er aber lese sie
aus seinen Augen.
Über sein Sexualleben weiß er zu berichten, daß er sehr früh begonnen
habe, sich für das Sexuelle zu interessieren. Er erinnert sich nicht an den An-
fang. So viel sei ihm bewußt, daß er schon mit 10 Jahren onaniert habe und
dies „Laster" bis zum 20. Jahre fortgesetzt habe. Dann sei er aufgeklärt
worden und habe sich langsam die Onanie abgewöhnt. Immerhin sei es noch
bis in die letzte Zeit vorgekommen, daß er hie und da in Zwischenräumen von
zwei Monaten onaniert habe, wenn er sehr verzweifelt gewesen sei.
Stekol, Störungen dos Trieb- und Affoktlobons. II. 2. Aufl. 15
226 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
• Im 20. Lebensjahre begann er zu Dirnen zu geben. Seit damals verkehrt
er mit sehr guter Potenz mit Dirnen ungefähr alle zwei Wochen einmal oder
hie und da mit Mädchen, die er auf den Straßen findet und die sich auch be-
zahlen lassen. Bei den Dirnen hatte er eigentlich kein Vergnügen. Er tat es
mehr aus Verpflichtung, weil seine Kollegen alle mit Frauen verkehrten und
er es auch tun wollte. Er mache das mehr aus Gesundheitsrücksichten als aus
einem inneren Drange heraus. Allerdings müsse er sich denken, daß das in
einem richtigen Verhältnis, in dem das Mädchen sich aus Liebe hingebe, ganz
anders sein dürfte. Deshalb sei er ja so unglücklich, daß er noch keine Geliebte
gefunden habe. Denn die Mädchen, die er auf der Straße auflesen mußte und
die mit ihm ins Hotel gingen, wären alle eigentlich auch nur feile Dirnen, weil
sie schließlich doch Geld oder ein Geschenk verlangten.
Er sei ein ausgesprochener Pechvogel. Andere junge Leute hätten immer
Glück, ihm gehe aber alles schief aus. Es müsse in seinem Wesen etwas liegen,
das die Menschen abstoße, wenn sie ihn näher kennen lernten.
Würde man diese Klagen alle als Tatsachen hinnehmen, so könnte man
an sein besonderes Pech glauben. Es zeigt sich aber, daß er sich sein Pech
konstruiert, daß er sich seine Niederlagen arrangiert. Er ist ein Don Juan,
dessen einleitende Gefechte tadellos von statten gehen. In der Ausführung
tritt dann das sogenannte Pech ein und aus der Eroberung wird eine Blamage.1)
Es stellt sich nämlich heraus, daß er eine Unmenge von Eroberungen vollzogen
und sich immer aus rasch herbeigezogenen Motiven im letzten Moment zurück-
gezogen hat. Alle diese Erlebnisse gleichen einander, nur daß der Grund des
Abbruches immer ein anderer ist. Ich glaube am besten zu tun, wenn ich von
seinen Abenteuern das letzte berichte, weil es besonders charakteristisch ist.
Es war an einem Sonntag. Xaver fühlte sich wieder ganz allein und ver-
lassen und hielt Ausschau nach einem Mädchen. Sein älterer Freund, den er
im Cafe hätte treffen sollen, hatte ihn im Stiche gelassen. Heute mußte es
gelingen. Er ist des Alleinseins und der Einsamkeit müde. Heute wird er ein
Mädchen ansprechen. Er macht mehrere Versuche, aber es handelt sich immer
um Mädchen, welche Geld verlangen und ihm nicht gut gefallen. Endlich sieht
er eine feine, schlanke, biegsame Gestalt, die rasch an ihm vorübergeht. Er
eilt ihr nach, — es ist ein elegantes, sehr schönes Mädchen. Er spricht sie
an und betont gleich, sie möge das nicht schlecht auffassen, er habe „nur ehr-
bare Absichten". Er fühle sich so verlassen und möchte den Abend in ange-
nehmer Gesellschaft verbringen. Das Mädchen ist nicht ungehalten, läßt sich
begleiten und gesteht schließlich, daß sie auch allein sei und sich fürchterlich
„mopse". Er ärgert sich, daß er ihr „nur eine ehrbare" Bekanntschaft ver-
sprochen, und überlegt immer wieder während des Spazierganges, ob er ihr
nicht einen anderen Antrag' machen soll. Es beginnt zu regnen; sie gehen in
ein Cafe, wo man auch Musik hören kann ; dann gehen sie in ein Gasthaus zum
Nachtmahl. Er zeigt sich sehr galant, trägt alle Kosten und begleitet sie nach
Hause. Das Mädchen erzählt, sie hätte ein Telephon, da sie ein kleines Ge-
schäft habe, er könne sie anrufen. S,ie beschließen, den nächsten Sonntag zu-
sammen zu verbringen. Die ganze Woche macht er einen Kriegsplan und
nimmt sich vor, er werde die Schüchternheit ablegen und ihr einen Antrag'
machen. Er ruft sie an und sie besprechen zusammen, in die Oper zu gehen
') Vgl. das Kapitel „Der Pechvogel" in „Das liebe Ich". 2. Auflage. Verlag von
Otto Salle, Berlin 1920.
;Der rudimentäre Don Juan — die moderne Mcssalina. 907
und dann gemeinsam zu nachtmahlen. Sonntags kauft er vormittags die Karten
und ^11 sie ihr schicken. Plötzlich kommt ihm die Idee, er solle lieber das
Verhältnis lassen. Er schickt die Karte an einen Freund und telefoniert dem
Madchen, es waren Verwandte gekommen, er könne nicht ins Theater gehen
Er sei darüber unglücklich usw.
Der Freund war aber verhindert, er blieb allein, die Karte verfiel. Er
«Ä,S? T ^ Td kam gaM traUrig nach Hause' Wie «a ^n aber
ri wm t h S aUJ<merkSa1m mad]e' daß er einfach vor dem Mädchen geflohen
sei, will er das nicht einsehen und meint, Schuld wäre seine Schwester.
Q^wjd . lhr aiSS mä!llt Und Sie gefragt> was ich machen soU. Die
bchwester sagte mir: Sie wird dich zum Narren halten, es wird dich Geld
kosten und du wirst nichts davon haben." '
„Erzählen Sie denn der Schwester alles?"
.,, »FreilicQ- Wir reden ganz ungeniert über alle sexuellen Themen. Die
Schwester hat es so eingeführt und ich finde es natürlich. Warum soll ich mich
nicht mit meiner Schwester beraten?"
wollt.1? a^^ •"? auf' da\f 7°? der Schwester den abweisenden Rat hören
wollte daß er sich vor dem Verhältnis und seinen etwaigen Folgen gefürchtet
un^daß d,TSH mm' "f lhm der/reUnd ****** alsgdl"fn
SÜmfw Z T 6r ^rte an den Freund den Sinn hatte= Mir ist ein
*reund wichtiger als eine Freundin.
Es gelingt mir immer wieder zu beweisen, daß er sich sein Pech in sehr
geschickter und manchmal auch ungeschickter Weise arrangierte, um die Ver-
pflichtung zum Lebemann zu erfüllen, ohne aber seine innere Einstellung zu
gefährden. Daß ihm aber die Einleitung der Eroberung genügt und daß er
dann freiwillig auf das Ende verzichtet hätte.
Das bestreitet er energisch, will auch nichts von homosexuellen Einstel-
lungen wissen. Er behauptet, er wäre sofort gesund, wenn er nur ein richtiges
Verhältnis hätte. Die Jagd nach dem Verhältnis wird fortgesetzt Es war
eigentlich unglaublich, wie viele Eroberungen er in der Woche machen
konnte. Er war ein schöner interessanter Mensch und die Herzen flogen ihm
zu. Er wußte es aber immer so einzurichten, daß er brechen konnte Er fand
im letzten Moment immer Bedenken oder Fehler; die ihn hinderten intim
zu werden.
Sehr schön trat das am Silvester zutage. Eine Dame aus der Ferne mit
der er korrespondierte — sie hatten auch die Photographien gewechselt — ■
sagt sieh für den Silvesterabend an. Er sollte sie am Abend auf der Bahn
erwarten und dann wollten sie das neue Jahr gemeinsam feiern. Er ging zum
Zug und verpaßte ihn, weil er auf einem anderen Steige wartete. Am nächsten
läge gelang es ihm, sie aufzufinden. Sie war natürlich schon erzürnt Diesmal
woUte er es besser machen und forderte das Mädchen sofort auf mit ihm in
ein Hotel zu gehen. Natürlich war sie beleidigt und ließ ihn sofort abblitzen.'
Er hatte diese Zurückweisung durch den brüsken Antrag direkt provoziert.
Er manovenerte so geschickt, daß aus jedem Sieg eine Niederlage wurde.
Er versäumte .die Rendezvous oder wurde im letzten Moment, wenn es
schon sehr kritisch war, geizig, sogar schmutzig, machte irgend eine unge-
schickte Bemerkung. So sagte er einem Mädchen, das schon bereit war, mit
ihm ins Hotel zu gehen: „Ach, alle Damen sind gleich, sie fliegen alle auf
die Männer und sind glücklich, wenn sie einen erwischen." Sie sah ihn groß an.
15*
228 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
„So denken Sie von den Mädchen, die mit Ihnen gehen? Dann will ich mit
Ihnen nichts zu tun haben" . . . Dreht© sich um und ließ ihn stehen.
Das hinderte ihn nicht, wieder den Mädchen nachzujagen, sogar Frauen
anzusprechen und immer wieder über sein Pech zu jammern. Dabei war sein
sexuelles Bedürfnis kein großes. Er wurde nicht von der körperlichen Begierde
gejagt. Es war eine geistige Peitsche, die ihn immer wieder zu den Frauen
trieb. Zugleich suchte er Freunde und fand auch sie nicht, wie er sie haben
wollte. Nur der letzte Freund war nach seinem Geschmack, „weil er ihn ver-
stand". Mit ihm ging er gemeinsam in ein Lupanar. Es war das erstemal,
daß er einen stärker betonten Orgasmus gefühlt hatte. Wir kennen ja diese
Gewohnheit vieler Männer als eine bequeme Maske der Homosexualität. Über
die Motive seines Handelns gibt uns ein Traum Aufschluß, der mir für das
Verständnis der Homosexualität von größter Bedeutung erscheint.
Wir haben schon längst konstatiert, daß es sich um eine latente Homo-
sexualität handelt, die nach dem Prinzip der Ablenkung verdrängt werden soll.
Xaver spricht so viel von den Frauen, denkt den ganzen Tag an die Frauen,
um nicht an die Männer denken zu müssen. Er versucht es, sich auf die Frauen
abzulenken, bringt es aber nie zu einem intimen Verhältnis, weil die Trieb-
kraft nicht groß genug ist. Das bessere Weib ist für ihn ein „Noli me tan-
gere", es besteht eine Hemmung, die ihn von jedem nicht bezahlten Weibe
trennt. Die Dirne wird aber nicht als Weib gewertet und hat auch einen
größeren Reiz, weil sie mit anderen Männern verkehrt. Sie gestattet die Be-
nützung eines Teiles der homosexuellen Triebkraft.
Nun wollen wir uns mit seinem Traume befassen. Näcke *j hat mit Recht
aufmerksam gemacht, daß der Traum das feinste Reagens auf die Homosexua-
lität ist. Leider war er noch nicht in die Mysterien der Traumdeutung ein-
gedrungen und hält sich an den manifesten Trauminhalt. Wie viel reicher wird
die Bedeutung des Traumes, wenn man ihn lesen kann und seine geheime
Symbolik entziffert!
Ich werde von Männern verfolgt und fürchte, daß sie mir etwas
antun werden. Ein Mann mit einem großen Säbel läuft besonders schnell
und berührt mich schon mit der Spitze des Säbels, der krumm war wie
die Säbel der Türken. Ich flüchte mich auf den Friedhof zum Grabe
meiner Mutter. Dort finde ich meine Kusine, die auch vor den Räubern
Angst hat. Wir wollen uns erst verbergen, dann blicken wir vorsichtig
herum und sehen, daß die Luft rein ist. Wir fahren dann in einem
Wagen zusammen vom Friedhof auf einer endlosen dunklen Landstraße.
Ich schmiege mich an sie, als ob sie mich gegen Räuber schützen könnte,
und schäme mich, so wenig männlich zu sein . . .
Nun darf man aus der deutlichen homosexuellen Bedeutung eines
/ Traumes noch nicht den Schluß ziehen, daß der.Träumer homosexuell ist. Denn
jeder Traum ist, wie ich in der „Sprache des Traumes" bewiesen habe, bi-
sexuell und in jedem Traume lassen sich diese homosexuellen Tendenzen nach-
weisen. Der Traum beweist uns immer wieder die Bi-
sexualität der Menschen und auch die Träume der
Homosexuellen sind alle bisexuell. Wir erkennen nur die
*) „Der Traum als feinstes Reagens für die Art des sexuellen Empfindens."
Monatsschrift für Kriminalpsychologie, 1905 und viele andere Arbeiten.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 929
Stärke der verdrängten Homosexualität und enträtseln aus dem Traume
leichter die Motive, die den Menschen in eine monosexuelle Richtung gedrängt
haben . . -1)
Dieser Traum beginnt mit einer typischen homosexuellen Verfolgungs-
szene. Es sind seine homosexuellen Ideen, die ihn verfolgen. Der große krumme
Säbel ist ein bekanntes phallisches Symbol. Daß ihn der Säbel von hinten be-
rührt, ist jetzt nicht schwer zu verstehen. Auch warum der Säbel krumm ist,
wenn man erfährt, daß sein Bruder eine Hypospadie hat und in der Tat einen
krummen Phallus hat, über den er schon mit einem Arzte gesprochen hat.
Der Mann hat einen großen schwarzen Bart genau wie sein Bruder und die
gleiche Gestalt. Wir sehen also, daß der Bruder, der sich aus dem Schwärm
der verfolgenden Männer loslöst, gewissermaßen den Vertreter der homosexu-
ellen Verfolgungen darstellt.
Er flüchtet auf den Friedhof zu dem Grabe seiner Mutter. Die Mutter
soll ihn vor der Homosexualität retten. Sie, die Vertreterin der Weiblichkeit,
ist es, zu der er sich rettet, wenn ihn die Männer verfolgen. Die Kusine, ist
die Frau eines anderen Bruders. Sie ist das typische Inzestkompromiß. Viele
Neurotiker, die an ihre Familie fixiert sind, heiraten schließlich eine Kusine.
Die Kusine, die er am Grab der Mutter findet, wird seine Rettung und mit
ihr fährt er dann die dunkle Landstraße des Lebens, ein halber Mann . . .
Er erzählt, daß er diese Kusine hätte heiraten 'sollen, daß sie aber
sein Bruder heiratete, weil er zu lange überlegte und immer zauderte. Er
dachte sich aber, er könnte auch der Geliebte dieser Kusine werden.2) Ihn
. ') Würden die. Homosexuellen, wie Näcke es annimmt, nur homosexuell träumen,
so wäre diese Tatsache ein wichtiges Argument gegen meine Annahme, daß alle Menschen,
auch die Homosexuellen, bisexuell sind. Nun trifft man bei echten Homosexuellen sehr
häufig heterosexuelle Träume, wenn man danach forscht. Hirschfeld fand bei einer
Rundfrage bei 100 Homosexuellen, daß 13% auch heterosexuelle Situationen träumten.
Eine analytische Erforschung des Traumlebens würde aus diesen 13% bald 100 machen!
Bei vielen sind die heterosexuellen Träume mit Angst verbunden. Sie träumen, daß sie
verheiratet und impotent sind, oder daß 6ie in Gefahr kommen, heterosexuell zu ver-
kehren. Es bestätigt sich immer wieder, daß der Traum uns gestattet, alle bei Tage
vom Bewußtsein verpönten Regungen auszuleben.
") Es kommt nach meinen Erfahrungen gar nicht selten vor, daß zwei Brüder
eine Geliebte haben. Ich kenne sogar drei Brüder, die abwechselnd ein Stubenmädchen
benützen und sich schon mehrere Jahre dabei sehr wohl fühlen. Diese Maske der
Homosexualität führt zu gewaltigen Ehedramen. (Brüder, die sich in die Schwägerin
verlieben, sie entführen usw.) Ein Kuriosum aber stellt ein Fall meiner Beobachtung
dar. Ein Bruder gestattete seinem jüngeren Bruder, seine Prau zu benützen. Er
nötigte ihn schließlich, zu ihm zu ziehen. Zu beider Leidwesen 6tarb die Frau, die
sich in diesem Dualitätsverhältnisse sehr wohl fühlte und in jeder Hinsicht auf ihre
Kosten kam. Eine Influenza machte ihrem Leben ein rasches Ende. Der ' Schmerz
der Brüder schien unermeßlich. Aber sie konnten ohne Weib nicht leben. Sie suchten
so lange, bis sie wieder ein Wesen fanden, das bereit war, auf die Zwei-Brüder-Ehe ein-
zugehen. Diesmal heiratete der jüngere Bruder und der ältere erhielt das Recht der
Mitbenützung. — In derselben Familie gibt es noch ein Kuriosum. Der Vater der
zweiten Frau hatte eine Licblingstochter, um die sich ein braver Mann vergebens
bewarb. Der Vater wollte die Einwilligung nicht geben. Schließlich ließ er sich herbei
— unter der Bedingung, daß er die ganze Zeit im Bette nebenan schlafen dürfe. Auf
-30 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
re:zen fast nur die Frauen seiner Brüder und seine Schwestern. Endlos
sind die Phantasien, welche sich mit komplizierten Inzestverhältnissen be-
fassen. Auch beide Schwestern spielen eine große Rolle. Nicht grundlos fing
er mit der Schwester die Besprechung der sexuellen Themen an. Mit
lauernder Berechnung teilte er ihr alle seine Abenteuer mit. Auch das er-
wähnte, bei welchem die Schwester ihm, wie vorher in vielen Fällen, ab-
geraten hatte. Er hatte die heimliche Erwartung, sie werde ihm sagen:
„Wozu in die Ferne schweifen? Warum suchst du das bei anderen Frauen
was du bei mir finden kannst?" ...
Jetzt verstehen wir die Hemmung, die zwischen ihm und dem „besseren"
Weibe hegt. Sie alle tragen etwas von der Schwester und der Mutter an
sich. Sie alle sind mit dem Inzestverbote belegt. Er sucht ein Verhältnis
und kann es nicht finden. Er sucht die Schwester und er sucht
den Mann.
Die Frauen seiner beiden Brüder sind der Gegenstand seines Neides
und seines Begehrens. Wenn er Anliegen und Beschwerden hat, geht er nie
zu den Brüdern, sondern immer zu den Schwägerinnen. Den Brüdern gegen-
über hat er ein schlechtes Gewissen. Er ist immer schüchtern und verlegen
m ihrer Gegenwart. In seinen älteren Bruder ist er verliebt, ohne es sich
eingestehen zu wollen. Er bewundert ihn, seine Tatkraft und seine Energie
bein Bruder pflegt hie und da zu singen. In seinen Ohren klingt die Stimme
so suß, daß er ihn für den besten Sänger der Welt erklärt. Er fühlt sich
von dem Bruder zurückgesetzt und vernachlässigt. Der Bruder merkt nicht
wie schwer krank er ist und wie er leidet. Er ist einst ein heiterer Bursche
gewesen und ist jetzt (seit dem Aufgeben der Onanie!) . traurig geworden.
Aber der Bruder merkt nichts davon und fragt ihn nie, wie es ihm gehe
und ob er sich auch wohl befinde. Wenn er nur die Kraft hätte, das Geschäft
des Bruders zu verlassen! Er drückt seinen Wert herunter, um sich noch
fester an den Bruder zu binden. Er könnte es nicht überleben, dem Bruder
ferne zu sein. Er macht auf der Reise keine Geschäfte, weil er überhaupt
nicht reisen will und weil er seinem Bruder die großen Geschäfte nicht gönnt.
Noch gespannter ist das Verhältnis zum zweiten Bruder, der in der Jugend
sein Spielgenosse war. Er besucht ihn nie und spricht mit ihm verlegen
einige Worte, wenn er nicht ausweichen kann. Er zeigt jene Verlegenheit
seinem Bruder gegenüber, welche die Menschen haben, die eine bestimmte
erotische Einstellung verbergen wollen.1)
diese Bedingung ging der Bewerber ein, wobei ihn allerdings auch andere Motive lockten.
Das Mädchen war sehr reich und er hoffte, den Alten zu beerben. Ich konnte leider
nicht erfahren, wie sich der „Herr Papa" in der Brautnacht benommen hatte. Die
ganze Familie wußte aber, daß er im zweiten Bette dabei war. Die zwei Betten standen
nebeneinander. Er scheint also als Kiebitz mitgenossen zu haben. Und solche grauen-
hafte Verhältnisse entweihen die Menschen mit dem heiligen Namen: Liebe!
x) Ein sehr charakteristischer Traum des Patienten sei hier mitgeteilt: „Ich ,
bin im Geschäfte d-es Bruders. Er legt mir Unterröcke vor, die'
ich notieren soll. Ich will das nicht machen, gehe aus dem
Geschäfte und sage: Der Bruder kann mich gern haben!" Der
Bruder verlangte, er solle heiraten. Das ist der Traumanlaß, der sich in dem Bilde
von den notierten Unterröcken äußert. Er aber sucht nur die Liebe des Bruders. Die
Schmähung „Er kann mich gern haben!" enthält ja bekanntlich die Aufforderung zu
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 93^
Er ist jetzt gerade auf dem Wege, sich in einen Homosexuellen zu
verwandeln. Irgendeine Gelegenheit, und die Homosexualität wird manifest.
Der letzte Freund ist ihm wichtiger als alle Mädchen.
Das trat ja deutlich zutage, als er dem Freunde die Karte, welche er
für die neue Freundin gekauft hatte, schickte. Damals brach ein Teil der
inneren Kräfte durch. Sonst versteht er es meisterhaft, seine homosexuellen
Regungen zu verbergen. Seine Freunde und Bürokollegen halten ihn für
einen vom Glück begünstigten Don Juan und ahnen nicht, daß er niemals
die letzten Konsequenzen zieht. Für alle Welt ist er ein Lebemann. Man
sieht ihn immer mit Mädchen, immer in Gesellschaft - schöner Frauen; er
läuft ihnen auf der Straße nach, er zeigt sich mit ihnen in öffentlichen
Lokalen; er spricht im Geschäfte von nichts anderem als von Eroberungen
und Abenteuern. Allerdings nie zu seinen Brüdern. Vor dem jüngeren Bruder,
der sein Spielgenosse war, spricht er nie über Sexuelle Themen. Die Analyse
dauerte nicht lange. Aber schon nach einigen Wochen kamen Erlebnisse mit
diesem Bruder ans Tageslicht, welche uns diese Scheu erklären.
Wenn wir die merkwürdige Tatsache berücksichtigen, daß Xaver den
lebhaften Wunsch hat, ein Don Juan zu werden, so werden wir die Größe
seiner moralischen Hemmungen ermessen können. Er ist lange Zeit sehr
fromm gewesen und hat sich allmählich in einen Freigeist verwandelt. Die
Analyse zeigt, daß seine Frömmigkeit in unverminderter Stärke fortbesteht.
Der Don Juan ist für ihn das unerreichbare Ideal des hemmungslosen
Menschen, den kein Bedenken in seinen Unternehmungen stört. Er aber hört
in den letzten entscheidenden Momenten eine innere Stimme, die ihm zuruft:
„Tu es nicht! Es ist eine Sünde!"
Es ist die Stimme seiner Mutter, die es nie an moralischen Reden hat
fehlen lassen, die ihn vor den Gefahren der Großstadt warnte, die er so
innig liebte und verehrte. Wie oft führen seine Träume auf den Friedhof,
wo seine Mutter liegt! Als wollten sie ihm das teuere Bild vor Augen führen
und ihn ermahnen, das Böse zu fliehen und die rechten Wege Gottes zu
wandeln!
Wir sehen an diesem Beispiele die Bedeutung der Familie für die
Entstehung der Homosexualität, wie sie Hirschfeld als echte Homo-
sexualität bezeichnet. Wir haben eine Fixierung an die Schwestern
konstatieren können, wir lernen auch eine Fixierung an die Mutter
kennen und die heiße Liebe zu den Brüdern, welche sich besonders in
dem Verhältnis zu dem älteren Bruder äußert, dessen Frau er im
Traume auf einem Wagen entführt. Diese Kusine ist eine Maske seines
Bruders. Sie hat durch den Besitz seines Bruders für ihn einen großen
Reiz erhalten. Vorher war sie ihm eigentlich ganz gleichgültig. Die
homosexuellen Erlebnisse mit dem jüngeren Bruder gehen auf das
16. Lebensjahr zurück!
einem Liebesakte (Anilingus). Diese anale Reizung ist eine seiner stärksten Paraphilien.
Er leidet immerwährend an einem „Zucken im After". Das Zucken wird so stark, daß
er nicht schlafen kann. Er konsultierte auch wegen dieses Leidens einen Arzt, der
keine Oxyuren konstatieren konnte und meinte, es werde nur ein „nervöses Zucken" sein.
232 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Sein Drang nach Verhältnissen war der Drang zur Weiblichkeit
auf der Flucht vor den ihn verfolgenden Männern.
Eine ganz andere Konstellation zeigt der nächste Patient. War
Xaver stark genug, sich durch eigenartiges Mißgeschick von den ge-
fährlichen Frauen zu befreien, so konnte wieder der nun folgende
Patient sich diese Sicherheit durch ein Leiden verschaffen, das zwar
sehr quälend war, aber sich als Schutzvorrichtung vortrefflich bewährte.
Fall Nr. 33. Herr Christoph — so wollen wir den Patienten nennen —
leidet an einem chronischen Magenleiden, das nach Ansicht mehrerer Ärzte
ein nervöses Übel sein 'soll. Er hat Anfälle von heftigen Magenschmerzen
und Appetitlosigkeit, so daß er furchtbar abgemagert ist und wie ein
Schwertuberkulöser aussieht.* (Lunge und alle anderen Organe- sind voll-
kommen gesund!) Er kann jetzt kein Fleisch vertragen, das macht ihm die
größten Schmerzen, und er muß schon brechen, wenn er den ersten Bissen
in den Mund 'steckt, Er bestreitet, daß er jemals onaniert hätte, und be-
hauptet, sein Sexualleben sei ganz normal. Er habe früher regelmäßig Dirnen
aufgesucht, habe aber fast gar keinen Genuß gefunden, wahrscheinlich weil
er einen Ekel vor Dirnen habe und sich mit einem anständigen Mädchen aus
ethischen Motiven nicht einlassen wollte; Er möchte hypnotisiert werden,
um den Ekel vor dem Essen zu verlieren. Ich lehne die Hypnose ab und
empfehle ihm eine genaue Analyse. Nur diese könne ihm den Weg zur
Heilung zeigen. Er meint, er hätte mir nichts verschwiegen. Er habe mir
alles gesagt und beharrt auf der Hypnose, die ich entschieden ablehne.
Er verspricht, sich die Sache zu überlegen. Meine Fragen wären ihm so
überraschend gekommen. Er war darauf nicht vorbereitet. Er gehört zu den
Menschen, die alles genau überlegen müssen und nie im Affekt handeln. Es
gehört zu seinen Schutzmaßregeln gegen die Tücken des Lebens: „Lasse dich
nicht überfallen! Überlege alles!'"
Er kommt nun einige Male und spricht stets von seinen Schmerzen.
Eines Tages meint er, es hätte keinen Sinn, er wolle ausbleiben. Doch schon
am nächsten Tage kommt er und bringt mir ein großes Schriftstück: „Sie
haben mich öfters nach meinen Träumen gefragt. Ich habe die Träume dieser
Nacht aufgeschrieben. Ich träume immer viel und lebhaft und ungefähr so
wie heute Nacht. Ich habe aber auch meine aufrichtige Lebensbeichte mit-
gebracht und will Ihnen Gelegenheit geben, mich ganz genau kennen zu
lernen. Sie erfahren aus der Lebensbeichte die Tatsachen, die mich krank
gemacht haben. Ich sehe — ich komme mit dem Verschweigen nicht weiten.
Nun soll die Wahrheit zutage treten!" •
Und nun lassen wir die Lebensgeschichte und. dann den Traum in der
Fassung folgen, wie ich sie erhalten habe:
•
„Meine Krankengeschichte, zugleich meine Biographie.
Ich war bis zu meinem 4. Lebensjahre im Elternhause und kam dann
auf ein Jahr zu den Eltern meiner Mutter in Pflege. Der Beruf meines
Vaters brachte es mit sich, daß er monatelang, mitunter ein ganzes Jahr
seiner Familie fernbleiben mußte. Ich wurde von den Großeltern liebevoll
behandelt, und da sie fromm waren, war auch meine Erziehung danach ge-
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 233
artet. Sie wohnten in einem schön gelegenen Dorfe, einem alten, beliebten
Wallfahrtsorte. Der um den Ort führende Fluß war der Tummelplatz für
uns Kinder. Wegen der damit verbundenen Ertrinkungsgefahr bildete ich die
ständige Sorge meiner Großeltern, so daß sie mich nach Möglichkeit in ihrer
Nähe hielten. Ich ging täglich mit ihnen in die Kirche, machte mit ihnen
Besuche, in der Regel bei alten Leuten, wo man fast ausschließlich fromme
Gespräche führte und mir bei jeder Gelegenheit einschärfte, ja recht fleißig
zu beten und brav zu sein, unter Androhung aller erdenklichen Schreckmittel.
Einmal verkleidete sich ein altes häßliches Weib als Hexe und wollte
mich betsäumigen, ungebärdigen Jungen mitnehmen. Das jagte mir derart
große Angst ein, daß ich sehr lange unter diesem Eindruck stand.
Es wurden mir eine Unmenge schauriger Begebnisse und Wunder-
wirkungen, die sich an die dortige Mutter Gottes knüpften, erzählt und
die Stellen gezeigt, wo sich das zugetragen.
Ich kam dann wieder zu der Mutter zurück. Bald darauf kam ich in
die Schule. Von der Schwester lernte ich schon frühzeitig in der Fibel lesen
und konnte bald in meinem Lieblingsbuche, einer alten, großen Bibel, selbst
lesen, während ich früher aufs Fragen angewiesen war.
Ich habe gar oft anderen Spielen entsagt und mich lieber mit dieser
Bibel in eine stille Ecke zurückgezogen. Es ist auf dem Lande üblich, alle
Va Jahre in der Kirche eine öffentliche Religionsprüfung abzuhalten. Zu
dieser hatte sich meine um 21/2 Jahre ältere Schwester längere Zeit vor-
bereitet, da sie nicht ganz leicht lernte. Ich folgte dem Studium mit großem
Interesse und hatte alles auch mit auswendig gelernt.
In der Kirche wurde dann geprüft und auf eine Frage wußte niemand
Bescheid. Ich Knirps hatte es mir gemerkt, weil es die Schwester gelernt
hatte, gab Zeichen, der Vikar fragte mich, und zu aller Staunen wußte ich
die Antwort. Es war das Gebet „Vater unser". Die Leute haben mich nach-
her sehr belobt und beschenkt und sagten: „Knabe, aus dir wird ein geist-
licher Herr werden." Dieser Vorsatz faßte tiefe Wurzel bei mir.
In einem Alter von ca. 71/2 Jahren hat mich ein 12jähriges Mädchen
zu einem unzüchtigen Spiel verleitet, wir spielten gegenseitig mit den Ge-
schlechtsorganen, ich mußte mit ihr herumbalgen usw. Dies wiederholte sich
sehr häufig. Ich fand daran großen Gefallen und stand stets unter dem
Eindrucke dieses Erlebnisses. Ich hatte dann großen Drang, es auch mit
anderen Mädchen zu praktizieren. Als nach einem Jahr die
Schwester meiner Mutter bei uns zu Besuche weilte
und mich sehr liebkoste, hatte ich ganz andere Gefühle
dabei und konnte mich nur schwer zurückhalten, sie
aufzufordern, daß sie ähnliches Spiel mit mir treibe
wie das erste Mädchen.
Beim Beginn des 3. Schuljahres bekamen wir einen neuen Lehrer.
Dieser wurde bald auf mich aufmerksam, da ich gut lernte, und ich wurde
sein Lieblingsschüler. Dieser Lehrer hatte die unsaubere
Gewohnheit, mich zu seinem Tische zurufen, wo er,
mit mir sprechend, mich beim Glied hielt und solange
damit spielte, bis e's steif ward. Ich grübelte viel darüber nach,
was es für eine Bedeutung haben sollte; jemanden etwas zu sagen, wagte
ich jedoch nicht.
234
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Am Ende des Schuljahres übersiedelten wir nach Wien, um hier ständig
Wohnsitz zu nehmen. Ich hatte unsägliches Heimweh; die Zurücksetzung,
die mir überall widerfuhr, hat mir den Wiener Aufenthalt gänzlich verleidet
und ich trug mich heimlich mit dem Vorsatz, lieber Hungers zu Sterben,
als hier zu bleiben. Es wurde mir gedroht, wenn ich sitzen bleibe, daß ich
nicht mehr nach Hause fahren dürfe und daß ich in eine Besserungsanstalt
käme; mit letzterer hatten sie mich besonders erschreckt, als sie mir, aller-
dings falsche, Schriftstücke vorwiesen, wonach meine Aufnahme dorthin schon
beschlossen wäre. Dies und die beständige Angst in der Schule, wo wir einen
rabiaten Lehrer hatten, der die Kinder sehr mißhandelte (dazu konnte ich
kein Wort deutsch!), alle diese Vorgänge haben mein Gemüt stark zerrüttet;
es übertrug sich denn auch auf den körperlichen Zustand, ich magerte sehr
ab und lebte in einer Art Taumel dahin. Im Stillen schuf ich mir oft Er-
leichterung durch Tränen.
Auch diese Zeit wurde überwunden. Nach zwei Jahren wurde ich auch
hier einer der ersten Schüler. Ich hatte einen Schulkameraden, dessen
16jähriger Bruder krankheitshalber ein Jahr zu Hause lag und mit dem wir
spielten. Von Jen beiden wurde ich ziemlich gründlich in die „Schweinerei'1
eingeweiht. Diese Brüder schliefen zusammen in einem Bette, das hinter
jenen der Eltern stand, und hatten oft Gelegenheit, die Eltern beim Bei-
schlaf zu beobachten. • Sie schilderten mir das immer und zeigten mir auch
das befleckte Hemd ihrer Mutter. Dies übte große Wirkung auf mich und
ich begann dann auch meine Eltern zu beobachten. Ich hatte bis zu meinem
12. Lebensjahr mit der Schwester in einem Bette zusammen geschlafen. Dann
schlief ich in dem Bette neben meiner Mutter, da der Vater größtenteils
abwesend war.
Meine Phantasie nahm derart ungesunde Dimensionen an, daß ich den
bei uns wohnenden Onkel, einen Bruder der Mutter, in Verdacht hatte, er
unterhielte ein strafbares Verhältnis mit meiner Mutter. Ich beruhigte mich
langsam, da ich trotz meiner scharfen Beobachtung nichts wahrnehmen
konnte.
Mit ca. 13 Jahren lernte ich von anderen Schulgefährten onanieren.
Ich habe es nicht sehr häufig betrieben aus Furcht vor der Sünde und stand
im ständigen Konflikt. Ich hatte dann einmal ein Buch zur Hand bekommen,
wo über die Onanie mit ihren schrecklichen Folgeerscheinungen geschrieben
wurde. Dies war geeignet, mich jetzt ganz davon abzuwenden, und als
sicheren Schutz schwur ich dann mit ca. 14V2 Jahren
an dem Grabe meines Großvaters, daß ich bis zu meinem
20. Lebensjahre keinen wie immer gearteten geschlecht-
lichen Verkehr führen werde. Ich hatte bei meinem starken Be-
dürfnis nach Befriedigung darunter sehr zu leiden. Den Schwur habe ich
so ziemlich gehalten.
Mit 14 Jahren kam ich an eine höhere Lehranstalt. Ich hatte unter
meinen Mitschülern die geringste Vorbildung und es wurde mir von einem
Professor bedeutet, daß ich mich nicht lange des Daseins an der Anstalt
werde freuen können. Das war eine schwere Sorge für mich. Es war mir
sehr bange zumute bei dem Gedanken, daß mir die Möglichkeit eines frei-
willig gewählten Berufes auf diese Art gefährdet würde.
Als bei der ersten Zensur bloß ich und ein zweiter Mitschüler durch-
gekommen waren, so betrachtete ich es als eine Fügung
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 2"5
G o 1 1 e s, um so mehr, als meine mich sehr liebende Großmutter stets eifrie
für mich betete.
Man ließ mich unter der Bedingung studieren, daß ich von der Ent-
richtung des nicht unbeträchtlichen Schulgeldes befreit werde. Die gänzliche
Befreiung bedingt Vorzugsschüler zu sein. Ich führte mich verhältnismäßig
bald in die Lehrfächer ein, die ungenügende Vorbildung wettmachend.
Mein häuslicher Fleiß ließ, viel zu wünschen übrig. Ich hatte stets
großes Vertrauen auf den Beistand Gottes, und seine Hilfe - nicht zuletzt
meine reichen eigenen Fähigkeiten - hatten mich das vorgesteckte Ziel,
Vorzugsschuler zu werden - nach zwei Jahren erreichen lassen
Während dieser Zeit trat jenes Mädchen, das mich als Kind zur Un-
zucht verleitet hatte, wieder in meine Nähe. Durch ihr verleitendes Gebaren
-hat sie mich vollständig aus der Ruhe gebracht.
««vI<5h h!U? ?{t 17V2 Jahren »unschuldige" Liebschaften mit anderen
Madchen unterhalten, aber die sich gar oft bietenden Ge-
legenheiten zum Koi tus ni cht .benütz t. Beweggrund: Angst
vor dem „unmoralischen Handeln".
Ich schlief mit meiner Schwester und einer Kusine in einem Zimmer
Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Kusine. Die sich bietenden
verlockenden Gelegenheiten hielten mich beständig in Erregung, um so mehr,
als ich wahrnehmen konnte, daß die Kusine selbst ihre Zuneigung und Wünsche
nur mühsam unterdrückte. Allein ich widerstand allen Versuchungen und
blieb keusch.
Gegen Ende des letzten Studienjahres lernte ich ein Mädchen näher
Rennen, das schon lange vorher meine Aufmerksamkeit geweckt hatte Wir
faßten große Zuneigung, konnten aber leider nur selten zusammentreffen,
und das nur unter schwierigen Umständen. Wir waren gezwungen uns
schließlich zu trennen; da ich das Mädchen aufrichtig liebte, litt ich dar-
unter sehr. Bei dem verstohlenen Zusammentreffen hatte sich meiner immer
vorher eine unerklärliche Aufregung bemächtigt, die sich auf den Magen
übertrug; aß ich dabei, so reizte es mich zum Erbrechen.
Nach Beendigung der Studien kam ich zu einer hiesigen Firma in
Stellung. Ich knüpfte die Bekanntschaft mit einem anderen Mädchen an
und wir hatten sonderbarerweise auch große Schwierig-
keiten zu überwinden, um zusammentreffen zu können. Als wir
nach zirka einem Jahre ungehindert verkehren konnten, erfaßte mich
nach kurzer Zeit eine große Gleichgültigkeit gegen
diesesVerhältnis und ich hatte nur den einen Wunsch, von solchen
tollen Liebschaften nichts wissen zu müssen.
Hatte mich früher vor dem Koitus mit einem anständigen Mädchen der
Gedanke, es sei unwürdiges, unehrenhaftes Handeln, zurückgehalten, so trat
jetzt eine sonderbare Erscheinung auf, ein vom Magen herrührendes Un-
behagen, sogar Brechreiz, aber immer vor dem Zusammentreffen. War ich
einmal in der Gesellschaft des Mädchens, so verschwand die Geschichte.
Also immer vor dem Stelldichein und bei den Gedanken an dieses.
Ich ließ von jedem Verhältnis ab, aber mein Zustand verschlechterte
sich immer mehr und mehr. Ich mußte täglich mehrmals erbrechen, nicht
einmal eine Semmel konnte ich verzehren, selbst reine Suppe konnte ich nur
mit großer Schwierigkeit essen. Bei jedem Bissen reizte es mich zum Er-
I.. .',
23g Zweiter Teil. Die Homosexualität.
brechen und trinken konnte ich auch nichts. Außerdem litt ich an Schlaf-
losigkeit und heftigen neurasthenischen Schmerzen.
Schließlich mußte ich ein volles Jahr ausspannen und nahm während
dieser Zeit vier Monate Landaufenthalt, ohne daß sich mein Zustand merk-
lich gebessert hätte.
Es kostete mich viel Anstrengung, meinen starken sexuellen Drang
zu unterdrücken. Der Verkehr mit einem Freudenmädchen mutete mich
schändlich an, jener mit Anständigen war teils durch meine moralischen
Ansichten, teils durch ungünstige örtliche Verhältnisse unmöglich.
Seit dem Auftreten der Krankheit war das Hindernis von selbst ge-
geben. Erst auf Anraten eines Arztes entschloß ich mich, mit Freudenmädchen
zu verkehren."
Dieser merkwürdige Fall ist wie ein Schulbeispiel geeignet, alle
Momente, die im Leben eines Menschen eine sexuelle Einstellung entschieden,
zu illustrieren. Es ist ein einfacher Mann, der die deutsche Sprache noch
immer nicht vollkommen beherrscht, und er hat nicht allzuviel verdrängt.
Seine Jugend und sein sexuelles Streben liegen scheinbar ganz offen vor ihm.
Er hat viele Traumen erlebt, aber er kennt sie alle. Wir sehen die wichtige
religiöse Grundlage. Er ist jetzt gar nicht mehr fromm und will nicht mehr
in die Kirche gehen. Trotzdem dürfte es nicht schwer sein, hinter seiner
Angst vor dem unmoralischen Handeln die Angst vor der Strafe des Himmels
zu erkennen, die Folgen der moralischen Erziehung. Dieser Mann ist durch
Angst erzogen worden. Es war die so verwerfliche Erziehung zur Furcht-
samkeit, welche die Angstneurose züchtet. Hexen erschienen, um ihn zu
warnen, in der Schule wurde er durch Drohungen zu den höchsten Leistungen
angespornt. Dabei dieser starke Sexualtrieb und doch die Möglichkeit, zu
widerstehen. Woher nahm er die Kraft, sich der Kusine nicht zu nähern,
obwohl er so heiß nach ihr begehrte und sie ihn sogar dazu aufforderte?
War es die Nähe der Schwester, die im gleichen Zimmer schlief? Mit der
Schwester waren auch Szenen vorgefallen, welche die sonst sehr aufrichtige
Lebensbeichte verschwiegen hatte. Er flieht den Inzest, aber er muß außer
den religiösen und moralischen Hemmungen noch eine andere Hemmung
haben, die ihn vor dem Weibe beschützt. Seine Anfälle vor einem Rendezvous
sind Ekel. Ekel und Angst sollen ihn vor der Sünde beschützen. Wir kennen
diesen Ekel vor dem Weibe, der besonders von den meisten echten Homo-
sexuellen betont wird. Wir wissen, daß dieser Ekel einer verdrängten Be-
gierde gleichkommt, daß diese Begierde aus irgend einem Grunde als mit
dem Bewußtsein unverträglich abgewiesen und nur in der negativen Form
als Ekel zugelassen wird. Sie dient dann der Abwehr und dem Schutze
gerade vor jenen Kräften, die so heiß begehrt werden.
Der Ekel vor dem Weibe soll das Inzestmotiv verdecken. Weil er in
jedem Weibe die Großmutter, Mutter und Schwester sieht, wa's ihm offen
bewußt war, kann er sich diesem Weibe nicht nähern. Quo me vertam? Er
hat noch den Weg zur Homosexualität offen, da ihm der Weg zum Weibe
versperrt ist. Die Episode mit dem Lehrer, die „Schweinereien" mit den
Mitschülern waren Vorbereitungen . . . Hier setzt die Verdrängung ein. Er
weiß nichts von seiner Homosexualität. Aber der Traum ist verräterisch und
erzählt uns mehr, als dem Kranken bewußt ist. Deshalb wollen wir die
Analyse mit einer Analyse dieses Traumes anfangen.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 237
Der Traum dieser Nacht.
„Ich stand vor dem Eingang eines Hauses in meinem Geburtsorte
und betrachtete die nahe Gebirgslandschaft.
Während ich so in Betrachtung versunken war, kam gerade mein
Vetter, der aushilfsweise an dem Tage die Feldarbeiten selbst besorgte,
nach Hause gefahren und hielt, bevor er zum großen Tore fuhr, bei mir
an. Er machte zu mir einige scherzhafte Bemerkungen; unter anderem:
es wäre für dich wohl gesünder, wenn du auch ein wenig ackern würdest,
anstatt zu faulenzen.
Ich wies auf die zwei einer Egge vorgespannten Pferde, die ja
ganz prächtig waren, und erwiderte im Scherze: 0 ja, sehr gerne sogar,
aber nicht mit einem so elenden Gespann. Die zwei gehören schon
längst in die Wurst', besonders der linke da gebärdet 'sich gar so stolz
und ist doch nur ein alter Krampen (Mähre).
Kaum daß ich zu Ende gesprochen, bäumte sich wütend dieses
Pferd, riß die Zugstränge entzwei, um sich dann auf mich zu stürzen.
Ich ergriff die Flucht, lief in den ersten Stock hinauf, sprang in
die Küche und schlug die Türe zu. Ich lief in ein zweites Zimmer und
verbarrikadierte die Türe mit allerlei Möbelstücken. Allein das Pferd
war schon auch an dieser Türe, stampfte drauf los, bis es ihm gelang,
auch in dieses Zimmer einzudringen.
Mittlerweile war ich in ein anderes Zimmer geeilt, verdammte
wieder auf dieselbe Art die Türe, erkannte jedoch, daß auch dieser
Widerstand nicht wirksam sein wird. Ich sah mich nun rasch im Zimmer
nach einem anderen Hilfsmittel um und gewahrte zu meiner Über-
raschung meine Schwester hinter mir.
Das Pferd hatte die Türe schon so weit demoliert, daß es den
Kopf hindurchdrängen konnte, und schnaubte wütend aus den geweiteten
Nüstern.
Die Schwester schob mir einen kleinen runden Ofen zu, indem sie
mir zurief, mich mit den Ofenringen zur Wehre zu setzen, mit diesen
werde ich schon den Gegner bewältigen können.
■ Das Pferd wollte schon hereinstürzen, da schleuderte ich ihm die
Ringe wuchtig entgegen und schließlich den ganzen Ofen. Im letzten
kritischen Augenblicke gewahrte ich eine andere Türe, huschte hinaus,
rannte zur Treppe und — erwachte.
Ich ging den ganzen Traum noch einmal in Gedanken durch, ver-
gewisserte mich auf diese Art, ihn meinem Arzte lückenlos wiedergeben
zu können. Bald verfiel ich in einen leichten Schlummer und träumte,
ich wäre bei dem 'mich behandelnden Arzte.
Dieser bewohnte ein geräumiges Haus mit großen Treppenanlagen.
Auf einer Galerie traf ich mit ihm zusammen; er hatte in einem
Schranke zu schaffen. Ich nahm abseits von ihm Platz und erzählte
ihm den vorgehend geschilderten Traum.
Er entfernte sich auf eine Weile, um dringendes noch zu besorgen,
da er in einer halben Stunde abzureisen hatte. Er rief mich dann zu
sich herunter, schnürte sich gerade die Schuhe und forderte mich auf,
in meiner Erzählung fortzufahren.
238 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Nachdem ich geendet hatte, entfernte ich mich und ging auf eine
seitlich gelegene Tür zu und begegnete dort meiner Mutter. Ich wechselte
einige Worte mit ihr, öffnete die Türe, die in eine mit Glas gedeckte
Halle führte, und sah eine Lokomotive oberhalb eines offenen Feuers
gelagert.
Der Zugsführer (Maschinist) rüttelte an verschiedenen Maschinen-
teilen vergebens, es wollte ihm nicht gelingen, die - Maschine in Gang
zu setzen. Währenddessen kam der Arzt hinzu, schaute auf die Uhr und
bemerkte unruhig, daß es schon hoch an der Zeit sei. Plötzlich kam
ein Dienstmädchen die Treppe heruntergelaufen und brachte drei zu-
geschnürte, mit Papierabfällen gefüllte Pakete.
Um die arbeitsfähige Dampfspannung zu erreichen, war es not-
wendig, rasch nachzuheizen. Der Arzt wollte es selbst versuchen und
»schleuderte ein Paket ins Feuer. Es verbrannte rasch, war jedoch
wirkungslos.
Da deutete die Mutter an eine andere Stelle, dort müsse es un-
bedingt gehen, nahm ein zweites Paket, warf es an die Stelle, erzielte
jedoch dasselbe Resultat wie der Arzt.
Mit den Worten: „Das muß anders gemacht werden, seht so!"
faßte ich das dritte Paket, schwang mich auf einen vorspringenden, von
Flammen bestrichenen Maschinenteil und legte das Paket an die höchste
Stelle der Feuerung. Die Flammen loderten hoch, auf, das Sicherheits-
ventil begann zu zischen, es ertönte ein Pfeifen und die Maschine setzte
sich langsam in Bewegung.
Der Arzt sprang auf, reichte mir noch flugs die Hand, ich hatte
gerade noch Zeit zu fragen, wohin er fährt. Nach Brunn, bekam ich
zur Antwort. Kurze Verwunderung — ich war wieder erwacht.
Nachdem ich wieder eingeschlummert war, hatte ich einen, dem
ersten Fall ähnlichen Traum. Ich befand mich in einer vornehm ein-
gerichteten Wohnung.
Es wurde die Türe geöffnet und eine junge, hübsche Dame trat
ein. Sie blickte mich längere Zeit an und lächelte dann boshaft. Ich
verlor meine ruhige Fassung nicht und sagte etwas zu ihr. . Sie wurde
immer erregter, erhob ihren Arm, in dem sie eine Waffe hielt, und
machte Miene, sich auf mich zu stürzen.
Ich sah sie gefaßt an, als dürfte sie mir nichts anhaben können.
Darauf stürzte sie sich auf mich. Ich sprang in ein Nebenzimmer, sie
lief mir nach und so ging die tolle Jagd durch mehrere Räume.
Gerade wollte ich wieder eine Tür aufklinken, da, in demselben
Augenblicke, erschien sie hinter mir, in der Hand ein perolinspritzen-
artiges Instrument haltend. Sie spritzte daraus eine weiße, seifen-
wasserähnliche Flüssigkeit. Sie spritzte einigemal, ohne mich zu treffen,
nur auf die Kleider waren einige Tropfen gefallen. Ich dachte, es sei
eine ätzende Flüssigkeit, und wollte weiter flüchten.
Als sie wieder zu einer neuen Attacke ausholen wollte, schlug
ich rasch die Türe zu, es klemmte sich dabei die Spritze zwischen Tür
und Türrahmen.
Ich entwand ihr die Spritze, schleuderte sie zur Seite, faßte die
Frau am Halse und wollte sie zu Boden werfen. Sie aber umschlang
meinen Hals, küßte mich heiß und fiel auf ein Sofa, mich mitziehend.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina.
239
Ich hielt sie mit der linken Hand umschlungen, während ich sie mit
der rechten zwischen den Beinen anfaßte. Ich empfand ein wohliges
Gefühl; während wir uns unverwandt in die Augen blickten, glitten
Wir nieder.
Sie sagte, sie wollte mir ja nichts Böses tun, lächelte herzlich,
zog mich an sich, ihr Gesicht begann sich plötzlich zu verändern, es
lächelte mich jetzt meine Schwester an.
Von Liebe übermannt, wollte ich sie stürmisch an mich drücken
— da ging plötzlich die Türe auf und hereingestürmt kam eine ältere
Frau. Ich erschrack, erwachte — Pollution."
Das erste Traumstück beginnt in seinem Geburtsort und seinem
Geburtshause. Wir kennen aus unseren früheren Analysen die Deutung, und
ein Freudschüler strenger Observanz wird nicht verlegen sein, diesen Geburts-
ort als Symbol der Mutter anzusprechen. Wir erfahren, daß der Bruder
des Vaters ihm sehr ähnlich ist, und sehließen, daß er im Traume für den
Vater steht. Der Redekampf zwischen dem Onkel und ihm ist die Wieder-
holung alter Vorwürfe. Er war ja längere Zeit ganz arbeitsunfähig und
ist heute auch noch nicht imstande, seinem Vater im Geschäfte zu helfen.
Er begründet das mit seiner Krankheit. Die inzestuöse Einstellung zur
Mutter ist ziemlich durchsichtig. Die Hemmungen, welche bestehen, so daß
er dem Vater nicht im Geschäfte helfen kann, rühren zum Teil von einer
Haßeinstellung als Rivale her. Am Vortage des Traumes hatte er mit
dem Vater einen kleinen Disput, weil der Vater in einer Rechnung einen
Fehler gemacht hatte, den er nicht einsehen wollte. Im Traume rächt er
sich für den Vorwurf des „Nichtackernwollens x) (ackern für koitieren) durch
eine Anspielung auf das Alter des Vaters. Er sei nicht mehr recht für die
Ehe tauglich. Das Elternpaar sei schon alt, es lebe viel zu lange („Die
zwei gehören schon in die Wurst'!"), und der Linke (der Vater) wäre" ein
alter Krampen. (Er ist eine Mähre — ist auch eine Anspielung auf die
Heimat . . . Mähren.) Dann kommt allerdings die Rache des geschmähten
Vaters als Verfolgung durch das Pferd.
Der Träumer erzählt, daß er sich seiner Inzestgedanken
auf Mutter und Schwester voll bewußt gewesen ist und
nur geglaubt habe, es wäre das alles schon vorbei. Er
träume aber noch jetzt hie und da von einem Verkehre mit der Mutter
und besonders häufig mit der Schwester. Er habe aber geglaubt, daß diese
Träume nichts zu bedeuten hätten und nur der Nachklang einer überwundenen
Periode wären. Er erinnere sich aber nicht, jemals den Vater in seine
sexuellen Phantasien einbezogen zu haben.
Wir erkennen aber die bipolare Einstellung gegen den Vater. Sein
Leiden muß auch mit einer nicht überwältigten Homosexualität zusammen-
hängen. Nun deutet seine Krankengeschichte eine Begebenheit der Kindheit
an, die ihn tief beeindruckt hat. Gerade in diesem „Geburtsorte" gab es in
der Schule einen Lehrer, der die guten Schüler auf sehr merkwürdige, einzig
dastehende Art belohnte. Wenn einer sehr gut entsprach und der Lehrer
') Er ist ja in der Tat faul, und der Acker seines Geistes trägt auch keine
Früchte.
240 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sehr zufrieden war, so sprach er: Gut mein Sohn! Du sollst belohnt werden!
— und gab ihm den erigierten Penis in die Hand, den der Knabe bis zur
Ejakulation behalten durfte. Das geschah öffentlich vor der ganzen Klasse!
Dieser Lehrer konnte den Unfug bis vor fünf Jahren ungeniert weiter treiben,
dann erst mußte er infolge einer Anzeige den Ort verlassen, ohne mit dem
Gericht in Berührung zu kommen. Christoph, der ein besonderer Liebhng des
Lehrers war, wurde die Ehre oft zuteil und er war der am häufigsten Aus-
erkorene. Er soll auch der schönste unter allen Knaben gewesen sein. Von
diesem Erlebnisse an ziehen sich homosexuelle Szenen bis zum 17. Lebensjahre,
in dem sie plötzlich abbrechen. Jetzt weiß er nicht, daß diese Szenen Zeichen
von Homosexualität waren, und behauptet nur, daß er „vor allen diesen
homosexuellen Sachen" einen fürchterlichen Ekel hat. Der Knabe hat un-
bewußt Tendenzen, die verlangen, daß der Vater das gleiche machen soll
wie der Herr Lehrer. So ein Beispiel fordert ja zu dieser Art Belohnung
heraus.
Er wird von homosexuellen Gedanken verfolgt.
(Das linke Pferd!) Wir kommen jetzt zur funktionellen Bedeutung des
Traumes. Er stellt eine Verfolgung dar. Die Beziehung zum Arzt ist klar.
Er wird jetzt vom Arzt durch alle seine Erinnerungen (die Flucht von
Zimmern!) verfolgt. Diese Flucht von Zimmern wird von Freud gewöhnlich
als eine Flucht von Frauenzimmern (Lupanar) aufgefaßt. Ich habe schon
wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß es sich um die Kammern der
Seele handelt, daß die Verfolgung durch alle Gemächer des Kopfes geht
(Hirn gleich dem obersten Stocke ... dem Oberstübchen . . . Vergleiche die
Redensart: Der Mann ist im Oberstübchen nicht ganz richtig). Wir sehen,
wie ihn ein bestimmter Gedanke über alle seine Barrieren und Hindernisse
verfolgt, wie er sich dieses versuchenden Gedankens nicht erwehren kann.
Die Hilfe kommt ihm von der Schwester. Sie schiebt ihm einen kleinen Ofen
zu, der ihn vor dem Pferde rettet. Der Ofen und die Ringe symbolisieren
die Weiblichkeit der Schwester . . . Der Traum sagt: Vor der homosexuellen
Einstellung zum Vater kann dich nur die Schwester, kann dich nur eine
Frau retten. Der Traum zeigt auch die prospektive Tendenz : Er wirft
die Schwester dem Vater hin und rettet sich durch eine andere Tür. Er
wird seine Komplexe überwinden. Die Beziehung zum Arzt ist auch klar:
Er wird meiner weiteren Verfolgung dadurch entgehen, daß er mir die Inzest-
wünsche auf die Schwester, nach denen ich ihn nicht gefragt habe, eingestehen
wird. Der Traum drückt den Vorsatz aus, mir seine Phantasien und Er-
lebnisse mit der Schwe'ster mitzuteilen. Aber dadurch hofft er einer weiteren
Untersuchung seiner Begehrungsvorstellungen zu entgehen und mir die Ein-
stellung zu Vater und Mutter verschweigen zu dürfen.
Nun schläft der Träumer wieder ein, wiederholt den Traum, um ihn
erzählen zu können. Wir können annehmen, daß der Traum schon bei der
ersten Wiederholung redigiert und verändert wird. Wir bekommen dann nur
einen Auszug, der das Wesentliche verschweigt ... Er erzählt mir im
nächsten Traume den Traum. Solche Träume erhält man sehr selten. Wenn
eine Dame träumt, sie hätte ihren Traum dem Arzt erzählt, so hat sie das
Peinliche schon im Traume erledigt und die Erinnerung für den Traum ver-
schwindet, ebenso wie in den Fällen, da die Kranken erzählen: „Heute habe
ich etwas Wichtiges geträumt. Ich sagte mir noch im Traume oder Halb-
schlaf, das mußt du dem Doktor St. erzählen. Ich weiß es nicht mehr. Aber
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 941
es war sehr wichtig." Damit wird der Arzt zum Besten gehalten, der Wider-
stand wird im Traum überwunden, der Wunsch, es zu erzählen, wird im
Traum erfüllt, der Wunsch, es zu verschweigen, ist der stärkere; so setzen
sich beim Träumer beide- Strömungen durch.
Der nächste Traum: Wieder eine Darstellung der Analyse. Ich stehe
in dem oberen Stockwerke vor einem Schranke, der sein Gehirn oder seine
verschlossene Seele symbolisiert. Aber die Analyse wird nicht lange dauern.
Die wilde Jagd nach seinen Geheimnissen und Schätzen wird bald aufhören.
Der Arzt muß verreisen (sterben!). Hier tritt der Arzt das Erbe des Vaters
an. Der Traum zeigt die deutliche Übertragung vom Vater auf den Arzt.
Im ersten Traum erscheint die Verfolgung durch den Vater, im zweiten und
dritten ist der Vater schon ganz ausgeschaltet. Sein Name ist im Traum
überhaupt nicht genannt, er ist ja das Geheimnis, von dem nicht gesprochen
werden darf . . . Der Arzt schnürt die Schuhe; das ist ebenfalls ein be-
kanntes Todessymbol und der deutliche Wunsch, die Behandlung los zu werden.
Nun soll eine Maschine in Gang gesetzt werden. Er ist Maschinen-
ingenieur und hat täglich mit Maschinen zu tun. Die Maschine ist ein
Symbol seiner Seele, die so schlecht funktioniert, ein Symbol für ihn selbst,
für alles Kräftige und Treibende in ihm. Was dem Arzt und der Mutter
nicht gelingt, das gelingt ihm aus eigenen Kräften. . Zuerst versuche ich, die
Maschine in Gang zu bringen. Ich nehme den mysteriösen Papierbällen
und lege ihn vorne; die Mutter besorgt die Feuerung in der Mitte.
Er aber schwingt sich in die Höhe und besorgt die Feuerung 0 b e n.1) Er
ist der Höchste, er triumphiert über mich und meine Unfähigkeit, ihn zu
heilen. Ich fahre dann nach Brunn. Dazu-, fällt ihm ein Schüler ein,
der immer nach Brunn nach Hause fuhr. Er erinnert sich einer Situation,
in der er Lehrer war. Ich bin also ein Schüler, ich soll bei ihm lernen,
wie man eine Maschine in Gang bringt. Wenn ich auch etwas von kranken
Seelen verstehe, von seinem Fache (er ist Maschineningenieur!) habe ich keine
Ahnung, da ist er der Meister und ich der Ignorant. Dieser Trostgedanke
dient dazu, um sein Selbstbewußtsein zu stärken und kein Gefühl der Minder-
wertigkeit mir gegenüber aufkommen zu lassen. Dabei finden sich eine Menge
Schmähungen auf den impotenten Vater und den ebenso unfähigen Arzt.
Er ist täglich eine halbe Stunde. bei mir. Er merkte schon, daß ich auf die
Uhr blicke, ob seine Zeit vorüber ist. Im Traume kommt die halbe Stunde
vor und das Blicken auf die Uhr. Er zeigte einen Tag vorher seinem Vater,
wie eine Auf gab^ technischer Natur gelöst werden müsse. In diesem Traume
zeigt er auch mir, daß die Sache anders gemacht werden müsse.
Wir sehen, wie die Beziehungen zum Arzt, als dem Repräsentanten
des Vaters, den ganzen Traum durchsetzen. Damit wäre aber die Bedeutung
des Traumes nicht erschöpft. Denn er ist ein Pollutionstraum. Es ist inter-
essant zu beobachten, wie der onanistische Akt, der dann als Pollution (Lust
ohne Schuld!) aufgefaßt wird, in den drei Traumstücken vorbereitet wird.
Im ersten Traumstück flieht er vor der Homosexualität, wobei deutlich die:
Beziehungen der Homosexualität zum Mutterkomplex zutage treten. Im
zweiten Traumstück heißt es, die Maschine der Sexualität in Gang bringen.
Es gelingt dies weder dem Vater (dem Maschinenführcr, der an der Maschine
herummanipuliert), noch der Mutter, noch dem Arzt. Er allein ist das
*) Nachträgliche Ergänzung.
Stelsol, Stümngeu de« Triob- und Affekilobon». II. 2. Aufl. ig
242 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
imstande. Hier verrät sich der geheime Stolz des Onanisten, die Genug-
tuung des Autoerotikers. (Der von Flammen bestrichene Vorsprung ein
phallisches Symbol.1) Die Onanie erweist 'sich als Sicherung gegen alle
sexuellen Gefahren. Das Sicherheitsventil zischt und entlädt sich —
ein Vorbild der bald nachfolgenden Pollution.
Doch die Angst vor der Onanie, die großen Affekte, die Angst vor
Homosexualität und dem Inzest wecken ihn aus dem Schlafe. Das Bewußt-
sein (der Maschinführer) versucht immer wieder sich der Gedanken zu be-
mächtigen und die Gespenster der Nacht zu bannen. Die Gedanken an einen
Mann und an die Schwester werden unterbrochen und er schläft wieder ein
Dreimal muß er verschiedene Situationen träumen, bis die Angst sich in
Verlangen gewandelt hat. Erst floh er vor dem Pferd und der Schwester
dann verließ er den Arzt und die Mutter und endlich kommt die Erlösung!
Er konnte der Homosexualität standhalten, er konnte die heterosexuellen
Inzestwunsche abwehren. Jetzt aber spielt der Trieb seinen
höchsten und stärksten Trumpf aus, um die letzten
Hemmungen zu überwinden: die B i s exualitä t. Das Mäd-
chen mit dem Phallus, seine Schwester erscheint ... und verfolgt ihn
Es verfolgen ihn offenbar die Gedanken: gib nach und onaniere. Er wehrt
sich, er flieht vor diesen Gedanken. Er ist es ja, den er im Traum sieht.
Er sieht das Weibliche in sich, das Weib mit dem Phallus, und dieser Ge-
danke laßt ihm keine Ruhe durch die Flucht der nächtlichen Stunden. Er
stürzt sich auf die weibliche Person und will sie würgen: So kämpft
er mit seinem Triebe, so wehrt er sich gegen den Auto-
er otismus. Der Trieb aber merkt die Schwäche seines Widerstandes
und gibt ihm zu bedenken, daß er nur sein Gutes wolle. Er greift mit der
Rechten an seine Genitalien und mit der Linken markiert er eine Um-
armung. Da kommt der Orgasmus (die Schwester lächelt ihn an!) und
wahrt nicht lange. Denn eine alte Frau erscheint. Die Tür geht auf, d. h. die
Tore des Bewußtseins öffnen sich2) und die Reue bemächtigt sieh seiner
Seele. Er wacht auf und ärgert sich über die Pollution. Die alte Frau
kann auch das Symbol der Mutter sein.3) Dafür habe ich ja keine Anhalts-
punkte, weil der Patient sie ganz anders beschreibt.
Wie verhält sich dieser Traum in hezug auf seinen Inhalt? Ist er
eine Wunscherfüllung, ist er eine Warnung, ist er eine Prophezeiung? Sicher
werden in diesem Traume sehr viele Wünsche erfüllt. Er ist standhaft gegen
so viele Versuchungen, er umarmt seine Schwester, er triumphiert über den
Vater und den Arzt. Doch das Wichtigste ist, daß dieser Traum die Pol-
lution als Sicherung gegen alle Gefahren der Sexualität einleitet und gegen
alle inneren Hindernisse durchführt.
Eine andere Bedeutung des Traumes muß noch hervorgehoben 'werden
Seme Neurose muß doch in dem Traum in irgend einer Person oder einem
Gegenstande symbolisiert sein. Der Patient sagte auf die Frage, was ihm
zu der Maschine einfalle: meine Krankheit. Die mit Glas gedeckte Halle:
das Durchsichtige seiner Krankheit; die Maschine: seine Neurose. Nun
vergleicht der Kranke immer seinen Körper mit einer Dampfmaschine und
*) Nachträgliche Ergänzung.
2) Die Schwellensymbolik Silberere.
3) Eine weitere Bedeutung des alten Weibes wird später erörtert.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 243
besonders seinen Magen. Er hat ja allerlei Hungerprozeduren hinter sich.
Er konnte nicht essen und magerte fürchterlich ab, sieht wie ein Skelett
aus, weil er seinen Sexualtrieb aushungern und sich für seine sündigen
Regungen bestrafen wollte. Dieser Mann hat 'sich mit seiner
Neurose ein wunderbares Sicherheitsventil einge-
richtet. Will er zu einem Mädchen gehen, so erkrankt er an so heftigen
Magenschmerzen, daß ein Rendezvous unmöglich ist. Diese Magenschmerzen
produziert er aber dadurch, daß er schon vorher vor Aufregung und Brech-
reiz nicht essen kann. Wir merken, wie schlau diese Inszenierung seiner
Magenstörung ist. Erst werden der Ekel und der Brechreiz produziert, um
die Nahrungsaufnahme zu verhindern. Dann aber bohrt der Hunger, und
dieser Hunger wird als Magenkrampf aufgefaßt und wird so stark, daß der
Hunger die Liebe ertötet. Die Begierde nach Nahrung ist
dann stärker als die Begierde nach dem Weibe. Nach
solchen Attacken überfällt ihn ein Heißhunger.
Es fällt ihm ein, daß er schon nach dem ersten Traume mit fürchter-
lichem Hunger erwachte. Dieser Hunger steigerte sich im zweiten Erwachen,
um nach der Pollution vollkommen zu verschwinden.
Was ich in den „Nervösen Angstzuständen" behauptet habe, nämlich
daß der Hunger die sexuelle Libido vertreten kann, wird hier klar aus-
geführt und illustriert. Jetzt verstehen wir auch die Heizung der Maschine
mit Papier. Der Kalorienwert des Papieres ist ebenso gering wie der
Kalorienwert der Nahrung, welche er in sexuellen Gefahren zu sich nimmt.
Er hat also in seinem Magen ein ganz wunderbares Sicherheitsventil ge-
funden. Er hungert sich aus und die Befriedigung des Essens ersetzt ihm
die sexuelle Befriedigung. Er erzählt eine Unmenge von .Erlebnissen, die
alle beweisen, wie geschickt er seine Neurose verwendet. Ihn reizt
jedes Mädchen und er bringt es so weit, daß sie ihm
ein Rendezvous gibt, in seine Wohnung kommt oder
ins Hotel mit ihm geht, aber nie ist es zu einem Verkehr
gekommen.
Für die Analyse ergeben sich schlechte Aussichten. Er will auf sein
Sicherheitsventil, die Neurose, nicht verzichten, er will die Art seiner
Heizung fortsetzen und wünscht den Arzt über alle Berge. Ja, er will sich
lieber zur Onanie bekehren, will die Reue und die eigenen Vorwürfe erdulden,
doch auf seine Sicherung nicht verzichten.
Wir sehen einen nach innen gerichteten Willen zur Macht und eine
entschieden weibliche Einstellung; der Orgasmus tritt auf, wie er sich als
Weib fühlt. Und die höchste Lust ist immer an die
stärksten Strömungen des Innern gebunden. Er flieht
die Weiber nicht, weil er eine Niederlage fürchtet, denn er hat seine Potenz
bei Dirnen so kräftig erwiesen und ist ihrer so sicher, daß er sie überall
verwenden kann, wo keine moralischen Hemmungen vorliegen. Bei an-
ständigen Mädchen erscheint die Assoziation zur Schwester, bei Frauen die zur
Mutter. Die Homosexualität ist durch die Beziehungen
zum Vater verbarrikadiert. Und hinter allen Hemmungen steckt
eine übergroße Religiosität, die bei ihm jahrelang manifest dauerte und
nun scheinbar überwunden ist. Er wollte Geistlicher werden und gab diesen
Plan erst mit 14 Jahren auf. Es ist sehr wahrscheinlich, daß alle seine
16*
244 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Störungen in einer Ehe verschwinden werden, wenn es gelingt, ihn von seinem
Elternhause zu lösen.
Ich glaube, auch dem der Traumdeutung Unkundigen wird die Perolin-
spritze, aus der eine weiße, seifenartige Flüssigkeit herausspritzt, als phäni-
sches Symbol erkennbar sein. Es wird aber verständlich, daß er sich im
16. Jahre in einen Kollegen verliebte, weil er seiner Schwester ähnlich sah.
Die nie verdrängten Inzestgedanken an die Schwester nötigten zur Abwehr.
Die anständigen Mädchen wurden alle Schwestern und wurden wie Schwestern
behandelt. Die Dirnen differenzierte er von seiner Schwester und durfte bei
ihnen potent sein. Aber auch der Weg zur HomosexuaUtät war ihm durch
die Schwester versperrt. Er sah in allen Jungen die Schwester mit dem Phallus.
Bedeutsam aber ist, daß die weitere Analyse eine sexuelle Fixierung
an den Vater zeigte, wie ich sie in dieser Stärke kaum beobachtet habe.
Hinter der scheinbaren Verachtung des Vaters, hinter seiner Manier, über
ihn zu lächeln, steckte eine Liebe, die unersättlich und nie zu befriedigen
war. Das böse Beispiel des Lehrers verlangte die Lieba in Formen, welche
nur im Bereiche der Phantasie möglich waren. (Spätere Träume brachten
mich in ähnliche Situationen!) So schwebte er zwischen Homosexualität und
dem Don Juanismus.
Wie kommt es aber, daß diese Menschen stecken bleiben und sich nicht
zum richtigen Don Juan entwickeln? Das hängt mit einer außerordentlich
starken inneren Frömmigkeit zusammen. Diese rudimentären Typen sind
zuviel mit Moral belastet. Sie spielen wohl gerne den Unmoralischen, sorgen
aber dafür, daß die Moral schließlich als Siegerin hervorgeht.
Ich möchte noch einige Worte über die religiöse Bedeutung des Traumes
sagen. Es ist merkwürdig, wie von allen Traumdeutern die naheliegende
religiöse Bedeutung der Träume übersehen wird, obgleich sie doch die Be-
deutung der Religion für das Seelenleben kennen und bedenken sollten,' daß
eine solche gewaltige Kraft sich auch im Traum ausdrücken muß. Der
Träumer ist lange Jahre sehr fromm gewesen. Hexen und Teufel spielten
in seiner Phantasie die Rolle der Verführer. Auch in dem Traum ist hier
die Beziehung zum Teufel ausgesprochen, der den schwachen Menschen ver-
führt: zum Trinken, zum Huren, kurz zur Sünde. Die homosexuelle Regung
wird häufig als Teufelswerk betrachtet.
Unser Patient, der so lange fromm war, ist jetzt ein Atheist und
Freigeist. Er mußte seiner Mutter schwören, jeden Sonntag in die Kirche
zu gehen, was er mit 20 Jahren aufgab. Die Mutter protestierte erst da-
gegen und war sehr unglücklich und fügte sich erst, als ihr Sohn sie von
seinem vollkommenen Unglauben überzeugte. Sie sagte ihm aber wiederholt:
Ich glaube bestimmt, daß Gott dich erleuchten wird und du eines Tages
wieder fromm sein wirst. Darüber lacht er nur und ist überzeugt, daß diese
Zeit nie kommen wird. Noch frömmer war seine Großmutter, bei der er
jeden Sommer zu Gast war. Ein Traum, der zwei Wochen nach dem eben
analysierten geträumt wurde, lautet:
„Ich bin bei meiner Großmutter. Sie geht früh morgens in die
Kirche und fordert mich auf, mitzugehen. Ich weigere mich. Am
nächsten Morgen wiederholt sie die Aufforderung. Ich bekomme heftige
Magenschmerzen und sage: Ich werde ein Sonnenbad nehmen. Das ist
dasselbe ..."
D er rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 245
Wir sehen, wie die Imperative der Kindheit in der Mahnung der Groß-
mutter im Traume lebendig werden. Wir konstatieren einen Zusammenhang
zwischen der Weigerung, in die Kirche zu gehen, und den Magenschmerzen
und lernen, daß die Sonnenbäder des Patienten eine Ersatzreligion sind, wie
ich das wiederholt betont habe. Wir forschen nach und hören, daß der
Kranke jeden Abend mit der Versuchung kämpft, ein „Vater unser" zu
sagen; daß er das abwehrt und sich gesteht: „Das ist doch ein Unsinn!
Du glaubst ja diese Sachen nicht mehr." Trotzdem passiert es ihm im Halb-
schlafe, daß er einige Sätze aus dem „Vater unser" betet, weil er sich wieder
als Kind fühlt. Er trägt zwei kleine Marienmünzen immer bei sich, die er
in e,inem Wallfahrtsort erhalten hatte. „Es ist so mehr ein Aberglauben.
Ich trage sie immer in meiner Börse, weil ich glaube, daß sie mir Glück
bringen." Er hat 'sein Gebetbuch der jüngeren Schwester geschenkt, wo er
es dann immer wieder sehen und in die Hand nehmen kann. Er besucht
Kirchen, weil er sich für Kirchenmusik interessiert. — — —
Wie zeigt sich das im Traume? Der Teufel erscheint ihm in der
Gestalt des Pferdes1) und will ihn durch seine Teufelskünste verführen.
Deshalb kommt das Pferd durch alle Türen und über alle Hindernisse. Er
glaubte eine Zeitlang fest an den Teufel. Er ging in eine Kirche, wo der
Pfarrer sehr viel vom Teufel sprach, auch behauptete, es gäbe lebende Zeugen,
die einen Teufel gesehen hätten. Sein Großvater war ganz empört, daß der
Pfarrer den Gläubigen so dumme Geschichten erzähle und weigerte sich,
ferner in die Kirche zu gehen. Er wurde aber immer mit der Angst vor
dem Teufel erzogen. War er schlimm, so hieß es, der Teufel werde ihn holen.
Wollte er nicht beten, so ließ man im Nebenzimmer klappern und der
Teufel wurde angesagt. Demselben Erziehungszwecke diente die Hexe. Eine
alte, häßliche Frau kam einmal als Hexe in sein Zimmer und schreckte ihn
und die anderen Kinder so furchtbar, daß sie noch viele Jahre an diese ent-
setzliche, schreckliche Erscheinung denken mußten. Im Traume wird er vom
Teufel verfolgt, vor dem er sich rettet. Im zweiten Traumstück ist er selbst
der Teufel und kann zaubern. Dies war die stärkste Sehnsucht seiner Jugend
und er hätte sich gern dem Teufel verschrieben, um zaubern zu können.
Nur durch Teufelskünste bringt er die höllische Maschine in Bewegung. I n
seiner Kindheit war es auch sein heißer Wunsch, sich
eine Lokomotive durch Zauber zu erbauen und mit
ihr zu fahren, wohin er wollte.
Die Magd, die ihm drei Papierknäuel bringt (Anspielung auf die
heilige Dreieinigkeit?), (seine Liebesbriefe?), ist wie in vielen Träumen ein
Symbol der Himmelsmagd, wofür ich viele Beweise erbringen könnte. Er
war ein schwärmerischer Marienverehrer. Er muß erst diesen Kult aufgeben,
um zaubern zu können. Doch der Traum ist ein Kompromiß aus beiden
Regungen und drückt auch eine polare Strömung aus: Er heizt mit himm-
lischem Feuer, mit dem Glauben, der ihn schützt und sein Leben auf die
richtige Bahn bringt. Er wünscht mich zum Teufel, um seine geheime Re-
ligion weiter führen zu können. Doch der alte Kinderwunsch, Zauberer zu
sein, geht am deutlichsten hervor. (Der Traum stellt eben nicht einen
Wunsch dar, sondern ein Konglomerat von Wünschen, die im wirren Durch-
einander durch die Seele ziehen.) Im Traum, der sich anschließt, ist der
x) Der Pferdefuß ist ja das charakteristische Zeichen des Teufels!
246
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Zauber ebenso durchsichtig. Die religiöse Bedeutung des Anspritzens (mit
Weihwasser . . . Perolin reinigt und desinfiziert die Luft!) ist leicht zu
erkennen, ebenso wie die Vermengung von religiösen und sexuellen Motiven,
die in der Neurose und Psychose eine so überragende Rolle spielen.1) Er
erliegt der Versuchung, er wird von einer Teufeline verführt. Das alte Weib
am Schluß ist die Hexe seiner Kindheit, die erscheint, um den Sünder zu
bestrafen. (Er gibt auch eine starke Gerontophilie zu und hat sich einmal
in eine 60jährige Dame verliebt.)
Die Bibel, die Evangelien, seine Gebetbücher, seine Beichtzettel, sie
befinden sich alle in den Papierknäueln, die er verbrennen muß, um sich von
allen religiösen Hemmungen zu befreien.
Der Traum zeigt also eine prospektive Tendenz, die Hemmungen der
Religion, die Angst vor Hölle und Teufel, die Angst vor Hexen zu über-
winden und sich den Trieben hinzugeben. Er wird sein Leben in die Hand
nehmen, wird seine Maschine selbst heizen, wird sich Frauen hingeben, die
alle das Bild seiner Schwester tragen werden. Deutlich drückt auch der
Traum aus, daß die Homosexualität auf diese Weise fixiert wird, daß alle
Frauen Affektwerte der Mutter und Schwester erhalten. Er befindet sich
auf einer sexuellen Leitlinie, die vom Weibe weg zum Manne führt. Diese
will er verlassen und, alle Hemmungen überwindend, ein normaler Mensch
werden. Er benötigt nicht mehr die Sicherungen seiner Neurose, er ist sein
eigener Herr, empört sich gegen die religiösen Imperative, wird selbst zum
Zauberer und Gott. Er macht hemmungslos, wozu es ihn treibt.
Wir erhalten durch diesen Patienten einen tiefen Einblick in den
Mechanismus, der zur ausschließlichen Homosexualität treibt. Dieser
Patient hätte ein Homosexueller werden können und hätte uns dann
die bekannte homosexuelle Lebensgeschichte erzählt. Er war lange
Zeit sanft wie ein Mädchen, spielte bei der Großmutter mit Puppen,
kochte sehr gerne und zog die Gesellschaft von kleinen Mädchen vor.
Diese Erlebnisse haben viele Heterosexuelle, aber sie vergessen sie.
Später, wenn sie sich für die alleinige unumschränkte Homosexualität-
entschieden haben, werden diese Erinnerungen als Beweis der ange-
borenen Homosexualität hervorgesucht und durch Wiederholung ver-
größert und fixiert.
Doch gab es in seinem Leben eine Episode, die ihn in die Bahn
der Homosexualität hätte drängen können: Die Szene mit dem Lehrer,
die noch dazu öffentlich war. Doch was dem einen ein Anstoß sein
kann, sich ganz diesen Reizen zu ergeben, wirkt auf den andern wie
eine Warnung und hält ihn von dieser sexuellen Leitlinie ab. Jede
Wirkung kann sich positiv und negativ äußern. Traumen der Kindheit,
die durch ältere Personen ausgeübt wurden, können eine Gerontophilie
erzeugen, aber auch eine Neigung zu Kindern, je nachdem das ln-
*) Vgl. Hans Freimark: „Das sexuelle Moment in der religiösen Ekstase" (Zeit-
schrift f. Religionsphilosophie, Bd. II, H. 1?); ferner: „Das Hexenproblem" (Die neue
Generation, 8. Bd.) und „Sexuelle Besessenheit", 9. Bd.
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 247
dividuum den Alten oder den Jungen spielen will. Die Verführung
durch die Mutter kann aber den Menschen ganz der Homosexualität
zutreiben, wie ich es in einem Falle erfahren habe. Homosexuelle
haben sehr oft pathologische Mütter, die an Melancholie leiden und
deren Handlungsweise unberechenbar ist. Meine Erfahrungen haben
mir leider bewiesen, daß die Traumen nicht nur von Dienstboten,
sondern auch von den Eltern ausgehen können, und daß derlei Vor-
kommnisse nicht zu den Ausnahmen gehören.
Hier wirkt das Erlebnis mit dem Lehrer, dessen abstoßende Öffent-
lichkeit, als ein Hindernis für die Entwicklung der Homosexualität.
Der Gedanke: „Du kannst so werden wie dieser Lehrer!"
hinderte die Entstehung einer sogenannten echten Homosexualität, für
die alle Vorbedingungen gegeben waren. Es fehlt selbst nicht der
charakteristische Ekel vor dem Weibe! Es fehlt nicht die inzestuöse
Verankerung an die weiblichen Mitglieder der Familie.
Und obwolü dem Patienten so vieles aus dem Sexualleben bewußt
war, was anderen nur im Dämmerlichte abgetönter Tagesphantasien
oder in wirren Traumgestalten erscheint, war ihm eines vollkommen
unklar : sein Verhältnis und seine Einstellung zum Vater. Er ist gegen
den Vater immer in gereizter Stimmung und vermeidet es, mit ihm allein
zu sein, da es leicht zu Streit und Auseinandersetzung kommt. Diese
Empfindlichkeit dem Vater gegenüber beweist, daß sich Affekte ver-
bergen, deren er nicht Herr werden kann. Was er vom Vater erwartet
und verlangt, das habe ich schon angedeutet. Er wünscht, von ihm
wie von dem Lehrer behandelt zu werden. Er hatte in der Behandlung
auch einen Traum, in dem mir diese Funktion zugewiesen wurde. Er
ist homosexuell an seinen Vater fixiert, heterosexuell an die weiblichen
Mitglieder seiner Familie.
Interessant ist es, zu beobachten, wie der homosexuelle Trieb
trotz aller Erlebnisse der Kindheit verdrängt und mit Ekel belegt
wurde. Wir können uns jetzt das Entstehen der Magenschmerzen so er-
klären. Er denkt immer nur an Frauen und ist ein schöner Fall eines
steckengebliebenen rudimentären Don Juans. Er knüpft unzählige
Verhältnisse an und kämpft immer mit Schwierigkeiten. Das heißt, er
sucht sich schon Objekte, wo diese Schwierigkeiten vorhanden sind,
weil sie dann nicht gefährlich sind. Werden die Schwierigkeiten (Sym-
bole des Unerreichbaren, also der Inzestobjekte!) überwunden, so
schwindet die Liebe oder es funktioniert seine Schutzvorrichtung: der
Magenschmorz. Er kommt sogar bis ins Hotel mit dem Mädchen, kann
aber dann vor Schmerzen nicht verkehren. Der starke Brechreiz ist
Ekel. Er entsteht nicht allein durch die Abwehr der Heterosexualität.
sondern durch das Vordrängen der homosexuellen Triebkraft. In der
248
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
entscheidenden Nacht vor dem Rendezvous gärt es in ihm und eine
Stimme sagt ihm innerlieh: „Eigentlich begehrst du ja gar nicht dieses
Mädchen, du sehrist dich nach einem Manne, wie nach dem Lehrer
oder nach dem Freunde." — Gegen diese homosexuellen Gedanken
wird die Schutzvorrichtung des Ekels konstruiert und diese funktioniert
dann auch gegen das Weib. Denn das Weib als solches ekelt ihn nicht,
er konnte mit Prostituierten ohne Ekel verkehren. Er empfindet aber
Ekel vor allen homosexuellen Akten. So steht er zwischen Homo-
sexualität und Heterosexualität. Beide Wege sind ihm durch seine
religiösen Hemmungen verschlossen und das Resultat ist dann
die Askese.
Der Asket verbirgt sich hier hinter dem rudimentären Don Juan,
den nur eine Krankheit verhindert, seine Triebe auszuleben. Gehen wir
einen Schritt weiter, und die Anknüpfungen mit den Frauen unter-
bleiben, wir haben den Don Juan der Gedanken und den Asketen der
Realität. Eine weitere Stufe bildet dann die Verdrängung aller
sexuellen Triebrichtungen. Der Asket wäre also zu defi-
nieren als das Individuum, das im narzisstischen
Stadium stecken geblieben ist, weil ihm beide
Wege des All-Er o t i s mus (Homo- und" Het er o s exua-
lität) verschlossen sind. Jedes monosexuelle Ob-
jekt allein bringt die Triebkraft für einen se-
xuellenAktnichtauf/dadie religio sen Hemmungen
unüberwindlich sind. Sein ewig unerreichtes
Ideal ist ein bisexuelles Wesen, ist eine Leiden-
schaft von solcher Stärke, daß sie alle Hinder-
nisse überwinden kann. Die Askese ist keine frei-
willige, sondern eine durch die sexuelle Konstel^
lation erzwungene.
Unser Patient hat sein sexuelles Ideal im Traume gefunden. Es
ist die Schwester, die einen Phallus hat. Da erliegt er, der starke
Kämpfer, gegen seine Triebe fcnd onaniert. Dem Bewußtsein wird dieser
onanistische Akt d-ann als Pollution seiner Bedeutung beraubt und
als ein Zufall dargestellt, für den man nichts kann.
Freud betont mit Recht, daß den Psychologen besonders jene
Fälle interessieren, die eine späte Entwicklung der Homosexualität
zeigen, den Zustand, den Krafft-Ebing als tardive Homosexualität be-
schrieben hat. Nach einer heterosexuellen oder bisexuellen Periode
tritt dann die Entwicklung zur Homosexualität ein. Wir werden später
einige Fälle von tardiver Homosexualität besprechen und versuchen,
die Motive dieser Änderung aufzuweisen. Der nächste Fall bildet
einen Übergang und zeigt uns einen Menschen, der sich noch im Kampfe
Der rudimentäre Dou Juan — die moderne Messalina.
249
mit beiden Tendenzen befindet.- Es handelt sich um eine rudimentäre
Messalina, ein interessantes weibliches Gegenstück zu dem eben be-
schriebenen Patienten.
Fall Nr. 34. Frl. Wanda K. beklagt sich über einen unseligen Zwie-
spalt ihres Wesens, der ihr den vollen Genuß des Lebens unmöglich macht.
Sie leidet an* heftigem unstillbaren Erbrechen, das sich aber nur einstellt,
wenn sie ein Rendezvous haben soll. Sie hat die freiesten Ansichten, „die
ein modernes Mädchen haben kann und soll". Sie lernt Männer kennen, die
Sie interessieren und auch sexuell aufregen. Sie weiß, sie wird nie heiraten,
bie ist 29 Jahre alt und noch, immer sehr schön und begehrenswert. Wie
lange wird das noch dauern? Sie will ihr Leben genießen, sie will nicht
sterben, ehe sie die Liebe, die alles gibt und nimmt, kennen gelernt hat.
Aber sie hat einen nervösen Magen, der sie immer im letzten Moment hindert
Sie erzählt ein Beispiel: „Letzten Sonntag sollte ich mit einem Herrn den
ich auf der Straße kennen gelernt habe, einen Ausflug machen. Ich bin gar
nicht prüde und lasse mich gerne ansprechen. Ich denke schon auf der
Gasse: Wer wird mich heute ansprechen?, kokettiere wohl ein bißchen und
kranke mich wenn ich nicht beachtet werde. Vor einigen Wochen spricht
mich ein sehr eleganter älterer Herr an. Er ist sehr intelligent, was für
mi$],!° 5aUptsaehe ist- Ich kann nur mit Intellektuellen verkehren. Un-
gebildete Menschen sind mir ein Greuel. Wir unterhalten uns ausgezeichnet
und er wartet jetzt jeden Tag auf mich; wenn das Geschäft, wo ich an-
gestellt bin, sperrt, sehe ich ihn schon an der Straßenecke. Dann gehen
wir spazieren und reden über allerlei. Er hat es noch nie gewagt, über
erotische Dinge zu sprechen. Ich habe also gar keinen Anlaßt, mich zu
furchten. Trotzdem erwarte und ersehne ich den Moment, wo er anfängt
und ich ihm zeigen kann, daß ich ein modernes Mädchen bin, die vor nichts
zurückschreckt, wenn ihr ein Mann gefällt und sympathisch ist. Mehr ver-
lange ich ja nicht. Man kann doch nicht gleich verliebt sein. Nun, wir be-
sprechen für den Sonntag einen Ausflug in die Umgebung Wiens. ■ Ich bin
schon Samstag sehr aufgeregt, male mir aus, wie er allmählich auf das
sexuelle Thema kommen wird, wie er mich im Walde küssen wird, stelle
mir vor, was ich antworten werde, wie ich mich ein wenig, ein klein wenig,
sträuben werde und wie ich schließlich nachgebe. Ich bitte Sie! Es ist
doch Zeit, daß ich aufhöre, eine alte Jungfer zu sein! Ist das nicht eine
Schande mit meinen 29 Jahren? In meinem Büro haben schon die jungen
Mädchen alle einen Geliebten und manche sogar mehrere auf einmal. So
geht es fortwährend durch meinen Kopf. Ich bin sehr gut aufgelegt und
pfeife sogar ein Liedchen. Aber am Abend kann ich bereits nichts mehr
essen. Mein Magen ist wie abgesperrt, Es geht nichts hinein. Ich hoffe
auf den Morgen. Stehe früh auf, richte mir das Touristenkostüm her und
will mich ans Frühstück setzen. Ich kämpfe mit Brechreiz, zwinge mich
doch zu einem Frühstück, das ich jedoch sofort erbrechen muß. Und dann
setzt ein Brechreiz ein, der nicht aufhören will, so daß ich zu Hause bleiben
muß und der Herr vergeblich beim Rendezvousplatz auf mich wartet. Natür-
lich läßt er mich laufen, wenn das zweimal passiert und . . . es passiert
mir leider immer."
Sie weiß eine unerschöpfliche Fülle ähnlicher Erlebnisse zu berichten,
die immer mit dem Erbrechen ihren Abschluß fanden. Sie hat eine ganze
250 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Auswahl von Verehrern, junge, alte, reiche,, arme, gebildete und minder-
gebildete, welche alle glauben, sie könnten sie erobern, da sie sehr offen und
kokett ist und auch ungeniert über alle sexuellen Themen spricht. Sie ist
Mitglied von Frauenvereinigungen, wie Mutterschutz, welche das unehelich
geborene Kind beschützen, kämpft für die sexuelle Freiheit des Mädchens,
ist eine Shannistin. Jeder Mann aber, der die Probe auf die Praxis macht,
lernt erstaunt, welcher Unterschied zwischen ihren theoretischen Anschau-
ungen und ihrem Benehmen besteht. Sie weicht allen Gelegenheiten aus,
die ihr gefährlich werden können. Ein Bürokollege ersucht sie, ihn in seiner
Wohnung zu besuchen. Er sammelt Bilder, sie interessiert sich für Bilder
und er möchte ihr gerne seine Gemälde zeigen. Sie erfindet alle möglichen
Vorwände, um diesen Besuch aufzuschieben, und erscheint schließlich in seiner
Wohnung mit einer Freundin ... Sie hatte schon so viele Vergewaltigungs-
szenen vorphantasiert, daß sie schließlich alle Unbefangenheit verloren hatte.
Interessant ist es, daß dieser Seelenzustand sich erst nach einer Ver-
lobung ausgebildet hat. Sie war bis zu ihrem 23. Jahre ein ganz normales
Mädchen, nicht anders als alle andern. Da lernte sie einen Mann kennen,
der sich in guten Verhältnissen befand und ihr auch sehr sympathisch war.
Er verlobte sich mit ihr und sie war überglücklich und so verliebt, wie ein
junges Mädchen sein kann, das der Meinung ist, sein Ideal gefunden zu haben.
Der Bräutigam hatte nur einen Fehler: Er war furchtbar eifersüchtig.
Er quälte sie mit Fragen über ihre Vergangenheit und sie mußte alles
beichten, was einem Mädchen passieren kann. Nun, sie erzählte ihm, daß sie
in den Katecheten, den Klavierprofessor und in eine Lehrerin verliebt ge-
wesen, daß aber sonst nichts von Bedeutung in ihrem Leben vorgefallen
wäre. Er aber hörte nicht auf zu quälen und zu fragen, sie solle lieber
alles vor der Hochzeit sagen, er werde ihr alles verzeihen, er wolle nur
nicht der Betrogene sein, er verlange vollkommene Klarheit und Wahrheit
zwischen ihnen.
Eines Nachts wachte sie aus einem Traume auf, in dem sie mit ihrem
Bruder verkehrt hatte. Da fiel ihr ein Erlebnis ein, an das sie ganz ver-
gessen hatte. Sie war bei dem verheirateten Bruder auf dem Lande zu Besuch.
Seine Frau war zu Verwandten gefahren und er forderte sie auf, im Bette
seiner Frau zu schlafen. Sie tat es und hatte dabei keinen erotischen Ge-
danken, denn es handelte sich um den Bruder, vor dem sie sich nie geniert
hatte, wie vor den anderen Brüdern, deren sie noch vier hatte. In der
Nacht fühlte sie, wie die Hand des Bruders sie betastete. Er kam zu ihr
ins Bett und küßte sie, sie war ganz schlaftrunken und glaubte zu träumen.
Sie küßte ihn wieder und sie umarmten sich heiß. Sie weiß auch, daß sie
sein Glied in die Hand nahm. Sie glaubt, daß der Bruder sich ungeheuer
beherrschen mußte und wieder in sein Bett ging. Es ist ihr alles dunkel
erinnerlich aus jener Nacht. Nur so viel weiß sie, daß es zu keinem Koitus
gekommen ist.
Diese Erinnerung erschreckte sie und sie wußte nun, daß sie ihren
Bräutigam belogen hatte. Es handelte 'sich nur um eine Nacht, denn am
nächsten Tage reiste sie ab und ihr Bruder riet ihr selbst dazu. Sie be-
suchte eine Freundin in der Nähe und kam erst, bis die Schwägerin wieder
da war. Aber sie fühlte, sie mußte ihrem Bräutigam, der ihr alles anver-
traut hatte, auch die volle Wahrheit sagen. Sie erzählte ihm diese Szene,
die sich fast im Traum abgespielt hatte. Er begann zu forschen und zu
Der rudimentäre Don Juan — die moderne Messalina. 251
fragen, daß ihr angst und bange wurde und sie schon selbst zu zweifeln
begann. Sie konnte aber nur wiederholen, was sie wußte: Daß es zwischen
ihr und dem Bruder wohl zu Küssen und Streicheln, aber nicht zu einem
Koitus gekommen war.
Ihr Bräutigam blieb nun einige Tage aus. Dann erhielt sie ein
Schreiben, daß er nach ihren Mitteilungen nicht in der Lage sei, sie zum
Altar zu führen und sich als freier Mann betrachte. Er sandte ihr den
Verlobungsring zurück und ersuchte um Retournierung aller seiner Geschenke
und Briefe.
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Das also war der Dank für ihre
Aufrichtigkeit! So hatte der Mann, den sie über alles geliebt hatte, sein
Versprechen gehalten! Mußte sie nicht zur Ansicht kommen, daß er nur
einen Vorwand vor sich selbst und vor ihr gesucht hatte, um wieder frei
zu werden?!
Da kam eine Periode, in der sie alle Männer haßte.
Sie machte keine Ausnahme und begann auch den Bruder
zu hassen, der an dem Unglück schuld war..
Dann kam der zweite Vorsatz: Es ist nicht wert,
daß man anständig ist. Du- wirst leichtsinnig werden
wie alle deine Freundinnen!
Kurze Zeit nachher hörte der Haß gegen die
Männer scheinbar auf und es trat das unaufhörliche
buchen auf, das sie den ganzen Tag beschäftigte. Zu-
gleich damit das Erbrechen!
Es war, als wenn ein ungeheures Liebesbedürfnis mit einem ebenso
starken Ekel kämpfen müßte. Ihr Trost in diesen schweren Tagen waren
eine Freundin und die Schwester, an die sie sich sehr innig anschloß.
Ihre Träume aber zeigen, daß hinter der Jagd nach den Männern etwas
ganz anderes steckte: Der homosexuelle Trieb, der jetzt machtvoll- vor-
drängte und mit Gewalt durch Liebschaften mit Männern zurückgedrängt
werden mußte. Sie zeigte eine Reihe von untrüglichen Zeichen. Sie begann
sich einfach und mehr männlich zu kleiden ; sie ließ sich die Haare schneiden
und begann Zigaretten zu rauchen; ihr Wesen, ihr Gang wurden energisch
und männlicher; sie verlor ihre Milde und Sanftmut und wurde hart und
stark. In ihrem ganzen Wesen drückte sich ein Wunsch aus: Ich möchte
ein Mann sein, der hat e's viel besser. Und merkwürdig! Jetzt fing sie an
zu gefallen und die Männer stellten ihr zu Dutzenden nach. Aber sie spielte
mit sich und mit den Bewerbern, von denen einzelne es vielleicht ernst
gemeint hätten, wenn sie sie näher hätte herankommen lassen.
Aber ihr Verlangen ging nicht mehr nach den Männern. Sie war auf
dem Wege, homosexuell zu werden, und machte die letzten Kämpfe mit.
Der Ekel galt nur der Abwehr und Sicherung der homosexuellen Regungen.
Ihre Träume waren erfüllt von homosexuellen Szenen. Sie war selbst er-
staunt, als sie begann, ihre Träume zu beobachten. Gleich der erste Traum,
den sie mir mitteilte, handelte von der Schwester und der Freundin:
Ich bin mit der Freundin am Gänsehäufel *) und wir sind beide
ganz nackt. Ich sage: Bist du aber schön gewachsen. Du bist viel
schöner als ein Mann. Sie umarmte mich und küßte mich auf den Busen,
*) Ein Strandbad an der Donau in Wien.
252 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
auf die Stelle, wo ich so empfindlich bin. Ich erwache mit Angst, Herz-
klopfen und Brechreiz.
Weitere Träume variieren diese Themen in endloser Reihenfolge.
Männer 'spielen selten eine Rolle. Hie und da wird sie von ihnen verfolgt
und flüchtet sich zu der Schwester oder Freundin. So stellt sieh ihr Konflikt
auch in den Träumen als eine Flucht vor dem Mann in die Homosexua-
lität dar.1)
Auch dieses Mädchen spielte den Freigeist und war innerlich
fromm. Sie besuchte Sonntags die Kirche, um Kirchenmusik zu hören,
sie glaubte nichts, aber sie betete hie und da aus alter Gewohnheit, sie
las gerne in der Bibel, sie wehrte sich gegen leise Stimmen, welche sie
drängten, wieder zu beichten. Eines Tages sagte sie: „Wissen Sie,
ich dachte mir gestern, wenn ich wieder fromm sein und beichten könnte,
dann wäre alles wieder gut . ."
Wir sehen hier ein Mädchen, das auf dem besten Wege war, eine
normale, heterosexuell empfindende Frau zu sein. Sie erlebt ein
schweres Trauma und beginnt, alle Männer zu hassen und zu verachten.
Sie kehrt sich von den Männern ab. Erleichtert wird diese Abkehr da-
durch, daß die Männer alle Ersatz für die Liebe des Bruders werden,
welche verdrängt und vergessen durch ihre traurigen Erlebnisse wieder
neu aufflammen mußte. Deshalb konnte sie sich noch am besten mit
älteren Männern unterhalten und auch mit ihnen Ausflüge usw. machen,
ohne allzusehr vom Brechreiz belästigt zu werden. Die Gefahr war
geringer und es stand hinter ihnen nicht das Bild des Bruders . . .
Sie wendet sich von den Männern ab und beginnt die Sexualität in
ein anderes Strombett zu leiten. Es handelt sich also um eine Re-
gression im Sinne Freude auf die scheinbar überwundene Kindheits-
periode. Sie wird auch im Hause fügsamer und folgt den Anordnungen
ihrer Mutter, denen sie die letzten Jahre meist keine Beachtung ge-
schenkt hatte. Sie fixiert sich wieder an ihre Familie, sie wird wieder
fromm wie als Kind. Die Periode des Brechens ist der letzte Kampf
gegen die Überwältigung durch die Homosexualität.
1) Ich sehe sie nach 4 Jahren wieder. Sie kommt triumphierend in meine
Ordination. „Ihre Prophezeiung, ich werde nie heiraten und als alte Jungfer sterben,
hat sich nicht erfüllt!" Sie erzählt, daß sie mit einem verheirateten Manne Bekanntschaft
angeknüpft hat Er führte sie in ein Restaurant und sie mußte Champagner trinken.
Auf dem Heimweg deflorierte er sie im halbtrunkenen Zustande auf einer Bank im
Rathauspark . . . Wozu hätte sie bisher Zurückhaltung geübt? Es wäre alles für die
Katz! ... Sie gibt an, keinen Orgasmus gehabt zu haben. Sie wisse auch nicht, ob
sie den Mann wieder sehen werde. — Nach einigen Monaten schreibt sie mir: „Ich
habe Wien für immer verlassen. Ich glaube, Sie haben doch recht. Ich werde niemals
mehr etwas erleben. Es steht wirklich nicht dafür!"
Der rudimentäre Don Juan — die* moderne Messalina. 253
Überblicken wir die drei eben analysierten Fälle, so imponiert
uns in erster Linie der gewaltige Einfluß einer inneren, nicht offen
eingestandenen Religiosität. Beide Männer waren auf der sexuellen
Leitlinie, die von der Homosexualität zur Polygamie abzweigt. Sie
waren aber nicht imstande, die religiösen Hemmungen zu überwinden.
Zu schwach, sich offen zur Askese zu bekennen, suchten sie die kom-
plizierten neurotischen Umwege, um sich gegen alle Gefahren zu
sichern. Der eine spielte mit großem Geschick den Pechvogel, der gern
ein Libertin sein möchte und vom Schicksal daran gehindert wurde,
der andere ließ sich durch einen Magensehmerz zur Tugend zwingen.
Sein Gegenstück ist das „moderne Mädchen", das für freie Liebe und
Mutterrecht schwärmt und ihre Tugend mit Hilfe eines neurotischen
-Brechreizes vor allen Überraschungen schützt. Wieder können wir den
Neurotiker als Schauspieler bewundern, der es so meisterhaft versteht,
vor der Welt und" sich selbst eine Rolle zu spielen und dabei sein
wahres Wesen zu verbergen. Alle Menschen, denen die innere
Freiheit fehlt, benehmen sich so, als ob sie frei wären. Sie fügen
sich scheinbar einem fortschrittlichen sozialen Imperativ der Gegen-
wart, während sie heimlich die Religion ihrer Väter ausüben.
Man versteht aber, daß auch die homosexuelle Betätigung als die
größere Sünde und Naturwidrigkeit unmöglich wurde. Die Religion
bleibt als Schutz und Ausweg zugleich. Wir begreifen auch, daß diesen
Menschen bei einer anderen Erziehung zwei Wege offen waren, welche
sie infolge ihrer Hemmungen nicht betreten konnten.
Das Mädchen kann noch homosexuell werden und manche Er-
lebnisse der letzten Zeit sprechen dafür, daß die Hemmung dem homo-
sexuellen Ansturm nicht werde standhalten können. In diesem Falle
lag aber das traumatische Erlebnis, das sie allen Männern feind machte,
nicht in der frühen Jugend. Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt,
daß Traumen in einem gewissen Alter ihre pathogene Kraft verlieren.1)
Es gibt Perioden in unserem Leben, in denen wir unverletzlich
sind. Dann aber kommen Zeiten, die uns allen stärkeren Einflüssen
zugänglich und überempfindlich zeigen. Jedes Jahrzehnt hat seine
Krisen und schmerzhaften Perioden, in denen wir eine besondere Dis-
position zeigen.
') Vgl. das Kapitel „Das sexuelle Trauma der Erwachsenen", Bd. III
Die Homosexualität.
v.
Homosexualität und Alkohol.
Die Kranken sind die größte Gefahr
für die Gesunden; nicht von den Stärksten
kommt das Unheil für die Starken, son-
dern von den Schwächsten. Nietzsche.
Die Erfahrungen der Analyse haben uns ge-
zeigt, wie lückenhaft und unvollständig die Ana-
mnesen sind, welche uns die Patienten erzählen.
Erst im Laufe von Wochen melden sich die „verdrängten" Er-
innerungen und alle die Einstellungen, welche die Patienten nicht
sehen wollten. Dann merken die Analysierten mit Erstaunen, daß sie
sich gar nicht gekannt haben. Die Lösung des Problems wäre also
so anzustreben, daß man eine große Anzahl von Homosexuellen ana-
lysieren sollte. Nun ergeben sich merkwürdige Tatsachen, welche alle
Analytiker bestätigen werden, und welche von den Anhängern der an-
geborenen Homosexualität als Zeichen eines natürlichen Zustandes
gedeutet werden: Die überwiegende Mehrzahl der
Homosexuellen ist anscheine n.d mit ihrem Zu-
stande sehr zufrieden und will gar nicht davon
befreit werden. Sie kommen zum Analytiker, wenn sie mit dem
Strafgesetze in Konflikt geraten sind oder wenn sie fürchten, in
Konflikt zu geraten. Sie wollen nicht heterosexuell empfinden, sie sind
stolz auf ihren Zustand und betonen es immer wieder, daß nur die
soziale Ächtung sie unglücklich mache. Sie gehören zu den merk-
würdigen Menschen, die ihr Unglück nicht sehen wollen. Deshalb immer
dio Auskunft: Seit ich homosexuell verkehre, bin ich glücklich. Ich
begehre nichts Anderes! Nur eine bescheidene Minderzahl wünscht
sich „Weib und Kind" und normalen Zustand, fürchtet ihn aber eben-
so wie der „Männerheld", der auf seine Homosexualität stolz ist.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die ausschließliche Homo-
sexualität das Endprodukt eines langen, schwierigen, seelischen Prozesses
darstellt, eine Art Selbstheilung aus einem schier unlöslichen Kon-
Homosexualität und Alkohol. 25ö
liikte. Der gefährliche heterosexuelle Weg ist scheinbar ganz verödet,
weil er durch Hemmungen ungangbar gemacht wurde. Diese Hemmungen
aufheben, heißt den Konflikt wieder akut machen, heißt, einen ab-
geschlossenen Kampf wieder aufs neue eröffnen. Dem Homosexuellen
bedeutet sein Zustand Ruhe und Frieden. Es ist freilich ein fauler
Frieden und die heterosexuellen Kräfte sind noch immer stark genug,
um neurotische Symptome zu bilden. Aber es ist doch ein Ausweg,
den zu verlassen die Angst verbietet. Ebenso, wie die an Platzangst
erkrankte Frau, die schließlich ihr Haus nicht verläßt, um diesen
Preis angstfrei geworden ist und erst wieder an Angst erkrankt, wenn
sie ihre Barrieren, die den Bezirk des Friedens, ihre Zone des
Schweigens der inneren Stimmen, überschreiten will, ebenso werden
beim Homosexuellen alle Kräfte der Abwehr wieder lebendig, wenn er
sich heterosexuell betätigen will. Vor dem Weibe hat er Ekel oder
Abscheu, es ist ihm nur scheinbar gleichgültig, aber nie wird er ein-
gestehen wollen, daß er — Angst vor dem Weibe hat. Er
trägt lieber die Maske des Indifferenten, er nähert sich dem Weibe
nur als Intellektueller, schätzt sie als Freundin, aber er flieht sie als
Geliebte.
Darin gleicht der Homosexuelle dem Fetischisten : Er hat sein
Kompromiß gefunden, er hat sich in die Beschränkung eingelebt und
möchte seine Entsagung gerne als etwas Organisches, Fertiges, "Über-
nommenes ausgeben. Deshalb werden wir in den meisten Fällen die
bekannte Geschichte hören, daß der Homosexuelle schon als Kind
homosexuell empfunden hat, daß er anders war als die anderen, daß
er eine Ausnahmsstellung eingenommen hat.
Der Stolz auf seine Krankheit, die immer
wiederholte und betonte Ausnahme, die Opposi-
tionsstellung gegen das formale erschweren eine
nachträgliche Korrektur des Zustande s.1)
1) Ausgezeichnete Menschenkenntnis verraten die Worte von Hans Freimark
über „Züchtbarkeit der Homosexualität": „Nur ein wenig Psychologie gehört dazu um
zu begreifen, daß manchen Naturen das Besondere, das in den Augen der Allgemein-
heit den Homosexuellen anhaftet, interessant und auszeichnend erscheint. Widerstände
gegen homosexuelle Akte sind zunächst ja nicht zu überwinden. Das aber was man
als homosexuelles Wesen bezeichnet, wirkt apart, wenn auch vielfach apart im üblen
Sinne. Aber das genügt, junge Leute, die sich durch nichts anderes auszuzeichnen
wissen, zu veranlassen, dieses „aparte Gebaren" nachzuahmen und sich schließlich in
ihm zu verstricken . . . Einmal solche Pose angenommen, wird sie
schließlich zur Wahrheit, wozu der Verkehr in den betreffenden Kreisen
nicht wenig beiträgt. Eine solche Beeinflussung ist natürlich nur bei jugendlichen
Personen möglich. Die aber kommen einzig in Frage. Man hat eingewendet, daß bei
der Konstanz des Triebe6 eine solche Metamorphose nicht wahrscheinlich sei. Da aber
256 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Wie sollte man auch einen Homosexuellen heilen können? Macht
man ihn heterosexuell, so verdrängt er seine Homosexualität und wird
aus diesem Grunde neurotisch, wollte man ihn aber bisexuell machen,
so hätte man sich den Bann der ganzen Gesellschaft zugezogen. Der
einzige Weg zur Heilung wäre dann, daß man die Hemmungen, die
zwischen ihm und dem Weibe liegen, beseitigt, ihn de facto wieder
bisexuell und praktisch heterosexuell macht. Das ist freilich
möglich und kann durch die Analyse erzielt werden, wenn die Patienten
die Geduld und den Willen haben, auszuhalten. Wo dieser Wille
fehlt, kann kein Therapeut etwas erzielen. Und er fehlt leider in den
meisten Fällen.
Die Analyse hat uns gelehrt, wie trügerisch die ersten Berichte
der Kranken sind, wie parteiisch sie sich die Vergangenheit merken.
Wir machen alle eine einseitige Auswalü der Erinnerungen und fixieren
bloß solche, welche uns in unsere jeweilige Einstellung hineinpassen.
Es war für mich eine große Überraschung, als ich den ersten Homo-
sexuellen analysieren durfte, leider mit sehr geringen Erfahrungen und
einer noch unentwickelten Kenntnis der Technik und des Widerstandes.
(Damals glaubte ich noch an den Willen des Kranken zur Gesundheit;
heute habe ich mich überzeugt, daß der Wille zur Krankheit die
stärkste Macht ist, gegen die wir kämpfen müssen.) Ich hörte nun von
diesem Homosexuellen die mir bekannte Lebensgeschichte, das Bestehen
und das alleinige Bestehen homosexueller Empfindungen seit der Kind-
heit. Mein Erstaunen war sehr groß, als nach drei Wochen eine ganze
Menge heterosexueller Erlebnisse aus der Kindheit berichtet wurden.
Ich lernte mit einem Male, daß die Homosexualität etwas Entstan-
denes und nicht etwas Angeborenes ist. Etwas Erworbenes,
nicht etwas Übernommenes. Ich war so befangen von Hirschfelds
Zwischenstufentheorie, daß ich diesem Funde nicht traute
und weitere Bestätigungen abwartete. Da berichtete auf dem ersten
psychanalytischen Kongresse Sadger über ähnliche Erfahrungen auf
Grund der Psychanalyse. Freilich, die Psychogenese der Homosexua-
lität stellte sich Sadger sehr einfach vor, und ich gestehe, daß auch
ich eine Zeitlang in der Abkehr von der Mutterimago, die jedes Weib
bieten sollte, die alleinige Ursache der Homosexualität erblickte.1)
von allen Forschern das Bestehen einer gewissen indifferenten Periode zugegeben wird,
man auch weiter zugesteht, daß in dieser Periode das Individuum sich einer seiner
späteren Art entgegengesetzten Erotik hingeben kann, 60 kann man die Möglich-
keit nicht ausschließen, daß schwache Charaktere vom ursprünglichen Ziel ihrer
Entwicklung abgelenkt werden können."
*) „Aus der Abwehr der Inzestphantasie erfolgt die Flucht in die Homosexua-
lität." Nervöse Angstzustände. 1. Aufl., 1908, S. 311.
Homosexualität und Alkohol. e>;s7
Allein meine seit vielen Jahren emsig fortgesetzten Forschungen haben "
mir gezeigt, daß dieses Problem sehr kompliziert ist und daß es offen-
bar mehrere Entstehungsarten gibt, daß mehrere Momente zusammen-
wirken müssen und können, um die Verödung des heterosexuellen und
die Verbreiterung des homosexuellen Strombettes zu bewirken.
Zuerst fiel mir auf, daß auch beim Homosexuellen in vielen Fällen
die Hemmungen wegfallen und er wieder heterosexuell wird. Jeder
Kenner der Homosexualität wird mir bestätigen, daß es hie und da
vorkommt, daß ein echter Homosexueller sich ändert und unvermutet
sich in ein weibliches Wesen verliebt oder heiratet und sich nach dieser
Veränderung ganz wohl befindet. So erzählt z. B. Tarnowsky1) in
seinem Werke „Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes'1:
„Ich kannte einen Päderasten, der fast ausschließlich mit Jünglingen
Beziehungen unterhielt; in verhältnismäßig hohen Jahren verliebte er
sich leidenschaftlich in ein junges Mädchen, mit dem er sich
verheiratete und Kinder erzeugte. Er war nur deshalb imstande, mit
seiner Frau den Geschlechtsakt auszuüben, weil ihr Gesicht einem
jungen Manne ähnelte,' den er einst liebte." Diese Rationalisierung,
diese plötzliche Änderung kann man hie und da hören. Es ist sehr
wahrscheinlich, daß der junge Mann, den der Patient Tamowskys einst
liebte, seiner Schwester oder irgend einer anderen weiblichen Person
ähnelte und daß der Mann auf diesem Umwege wieder zu seinem ersten
heterosexuellen Ideal zurückgekommen ist. Erst vor einigen Tagen
stellte sich mir ein „überzeugter" Homosexueller vor, der sich plötzlich
in eine Kabarettsängerin verliebt hatte und sie heiraten wollte. Sie
war ein „Spiegelbild" einer längst verstorbenen Schwester! Vorher
wollte er von einem Verkehr mit Frauen nichts wissen! Solche Fälle
— wohlgemerkt ohne jede Behandlung — werden in homosexuellen
Zirkeln lebhaft besprochen und als große Neuigkeit verbreitet. Es
wird über den „Abtrünnigen" wie über den Verräter an einer heiligen
Sache losgezogen, er wird aus dem Zirkel verbannt, ausgestoßen.
Anathema sit ! Die Fälle sind nicht selten. Sie werden aber den Ärzten
gegenüber gerne verschwiegen und die homosexuellen Ärzte konsta-
tieren sofort, daß es sich nur um eine „P s e u d o homosexualität" ge-
handelt habe. Ein „echte r" Homosexueller wäre so etwas nicht
imstande. Leider tragen die homosexuellen Ärzte am meisten zur Ver-
wirrung der Frage bei. Sie sind Partei und Richter zugleich, wollen
objektiv sein, haben sich strenge geprüft usw. 0 — diese Kenner
der eigenen Seelen! Was habe ich nicht alles erlebt mit diesen Kennern,
die sich einbilden, ihr eigenes Innere erforscht zu haben ! Wer einmal
x) Berlin 1886, Verlag August Hirschwald.
Stekel, Störungen des Trieb- und Affoktlobens. II. 2. Aufl. 17
258 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Gelegenheit gehabt hat, einen Psychanalytiker zu analysieren, der
wird immer wieder erstaunt sein über diese Blindheit den eigenen
Einstellungen gegenüber. Die Psychanalyse, an anderen geübt, hindert
nicht, daß man sich gründlich verkennt. Ich habe Dutzende von
Analytikern analysiert und fand das bezeichnende Wort vom „ana-
lytischen Skotom". Jeder ist für die Komplexe bei sich und bei anderen
blind, die er noch nicht bewältigt hat. Der homosexuelle Arzt ist für
seinen Zustand auch blind und darf nie und nimmer Zeuge sein, ob
die Homosexualität erworben oder angeboren ist.
Es gibt Zustände, in denen der Vorhang, der die inneren Ein-
stellungen, die Verdrängungen und Verschiebungen, die Metamorphosen
und Verkehrungen verhüllt, von stärkeren Gewalten bei Seite geschoben
wird und wir auch die Kräfte sehen, die hinter den Kulissen des Be-
wußtseins walten. Solche Zustände sind Zeiträume, in denen die
Hemmungen aufgehoben werden. Der Wahnsinn läßt uns
mitunter Wahrheiten sehen, welche die Vernunft
scheu verbirgt. Auch der Alkohol kann die Schleier
zerreißen, welche den inneren Menschen verbergen. >
Es ist schon vielen Ärzten aufgefallen, daß Menschen, die ganz hetero-
sexuell eingestellt sind, nie an Homosexualität dachten, im Rausche
homosexuelle Delikte begingen, die ihnen im wachen Zustande ganz
unbegreiflich waren. Ich hatte einen Lehrer zu begutachten, der sich
in einem Rauschzustande — das erste Mal in seinem Leben — an
einem Knaben vergriffen und ihn zur Unzucht verleitet hatte. Er war
so unglücklich, als er erwachte, hatte eine so tiefe Reue, daß er sich
das Leben nehmen wollte und mit Mühe abgehalten werden konnte, sich
selbst dem Gerichte zu stellen. Er fiel aber einer Denunziation zum
Opfer. Es gelang mir zu erwirken, daß die Untersuchung mangels
sicherer Beweise niedergeschlagen wurde. Ausschlag gaben sein tadel-
loses Vorleben und die Bestätigung, daß er ein großer Damenfreund
war und sich nie für Männer und Knaben interessiert hatte. Ich habe
ja schon darauf hingewiesen, daß sich unter den Alkoholabstinenten
und Temperenzlern eine ganze Menge finden, welche den Alkohol
fürchten, da er die Hemmungen aufhebt und verdrängte Gelüste
aggressionsfähig macht.
J. E. Colla hat in der „Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin
und öffentliches Sanitätswesen" (Dritte Folge, Bd. 31, 1906) „Drei
Fälle homosexueller Handlungen in Rauschzuständen" publiziert.
Im ersten Falle handelt es sich um einen 29jährigen Alkoholiker,
der schon Unsummen für Dirnen und Bachanalien ausgegeben hatte;
nach einer längeren Abstinenzperiode in einem Sanatorium betrinkt er
sich, wird von einem Homosexuellen verführt und versucht bald darauf
Homosexualität und Alkohol. 2i)'J
in angetrunkenem Zustande, einen Knecht zu attackieren. Immer wieder
Rezidiven, wenn er berauscht ist. Im nüchternen Zustande hetero-
sexuelle Ausschweifungen. Ein deutlicher Beweis für die Richtigkeit
meiner Ausführungen über die Zusammenhänge von latenter Homo-
sexualität und Satyriasis. Im zweiten Fall wird eine beherrschte Homo-
sexualität im Rausche übermächtig. Auch der dritte Fall das gleiche
Bild: Ein 37]ähriger protestantischer Geistlicher, Alkoholiker, verliert
im Rausche die Selbstbeherrschung und erregt in einem Pissoir durch
unzüchtige Handlungen öffentliches Ärgernis.
Numa Praetorius, der ausgezeichnete Kenner der Homosexualität,
berichtet: „In vielen Fällen kommen unter dem Einfluß des Alkohols
homosexuelle Handlungen vor. So z. B. kenne ich einen homosexuellen
früheren Polizeikommissär, der im Rauschzustand auf heterosexuelle
Kameraden, die ihn reizen, homosexuelle Angriffe macht, obgleich er
die homosexuelle Welt und viele Homosexuelle kennt und auch im
nüchternen Zustande mit Leuten, vor denen er sicher ist, verkehrt. Er
hat infolge dieser Berührungen heterosexuelle Kameraden im Rausch
nicht nur seine Stellung als Polizeikommissär, sondern auch später
infolge ähnlicher Vorkommnisse eine gute Stelle in einer Fabrik ver-
loren. Ein anderer dreißigjähriger homosexueller Kaufmann erleidet im
Rauschzustande eine ganz erhebliche Steigerung seines Triebes, auch er
hat sich schon an irrige Adressen in diesem Zustande gewendet. Nicht
mit Unrecht hat man behauptet, daß im Rausch das wahre Wesen
eines Menschen sich offenbart, jedenfalls entpuppt sich in der Trunken-
heit die wahre Geschlechtsnatur, nachdem die gewohnten Hemmungen
wegfallen. Gerade hier gilt : in vino veritas." (Jahrbuch f , sex. Zwischen-
stufen, Bd. 8.)
Diese Fälle zeigen mit Ausnahme des ersten nur eine Verstärkung
des sonst beherrschten homosexuellen Triebes. Aber es kommt sehr
häufig vor, daß Heterosexuelle im Rausche ihre erste homosexuelle
Aggression ausführen.
So bemerkt Praetorius an anderer Stelle:
„Wie aus verschiedenen veröffentlichten Biographien und auch aus
mehreren mir mündlich mitgeteilten Fällen hervorgeht, zeigen sich
manche junge Leute, die sonst anscheinend ganz normal fühlen und
jedenfalls verkehren, im Rausche mit Vergnügen und anscheinend mit
mehr als pseudo-homosexuellem Fühlen zu gleichgeschlechtlichem Ver-
kehr geneigt. Ihre eigentliche heterosexuelle Natur wird aber durch
diesen gelegentlichen gleichgeschlechtlichen Verkehr, ja durch dieses
gelegentliche Fühlen nicht geändert."
Hugo Deutsch1) hat einen sehr instruktiven Fall publiziert, der
keineswegs ein Unikum darstellt, wie der Autor meint, auf den wir
aber an dieser Stelle hinweisen wollen.
Fall Nr. 35. „Ein 39 Jahre alter, intelligenter Arbeiter wendet sich
an die Fürsorgestelle für Trinker um Rat und Auskunft. Er habe als Kind
a) Alkohol und Homosexualität. Wiener klin. Wochenschr., 1913, Nr. 3.
17*
260 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
schwere Rachitis durchgemacht, begann erst im Alter von vier Jahren zu
gehen; habe in späteren Knaben- und Jünglings jähren stark onaniert, später
gelegentlich mit Mädchen verkehrt; seit zwei Jahren Bei er verheiratet,
habe zwei Kinder. Bis auf kleine Unfälle habe er keine Erkrankungen durch-
gemacht. Im Alkoholgenusse sei er sehr mäßig, pflege hie und da anläßlich
einer Vereinssitzung oder Versammlung einen halben bis einen Liter Bier
zu trinken. Er werde dadurch immer stark sexuell erregt, und zwar
fühle er dabei immer das Gelüste, sich an jugendliche
männliche Personen anzudrücken1) und deren Genitale
zu betasten. Er habe diesem Verlangen immer widerstehen können, bis
er auf dem Heimweg von einer Vereinssitzung, bei der er wieder zwei Glas
Bier getrunken, einem jungen Burschen begegnete, den er einlud, mit ihm
in ein Gasthaus zu gehen, wo er ihm ein Glas Bier zahlte und unter dem
Tische dessen Genitale betastete. Ein Gast bemerkte dies, machte einen
Wachmann aufmerksam, der ihn verhaftete. Er war darüber in großer Ver-
zweiflung, bloß der Gedanke an die Frau und die Kinder habe ihn ab-
gehalten, einen Selbstmord zu begehen. Er lebe seither vollkommen abstinent,
da er die Gefahr auch mäßigen Alkoholgenusses für sich erkannte. Im
nüchternen Zustande ist seine Libido nur auf das Weib gerichtet, er habe
sogar „Abscheu" und „Widerwillen" gegen homosexuelle
Geschlechtsbetätigung. Wann zum ersten Male nach Biergenuß
diese „Gelüste" aufgetreten sind, kann er sich nicht erinnern. Die Familien-
anamnese ist in dieser Hinsicht belanglos, sein Aussehen nicht weibisch."
Deutsch glaubt, daß es sich um einen Fall von Bisexualität handelt,
die zum Vorschein kommt, wenn durch den Genuß mäßiger Alkoholdosen
die vorhandenen Hemmungen aufgehoben werden.
Auch Hirschfeld hat einige einschlägige Beobachtungen gemacht
(1. c. S. 209) . Er erwähnt den Fall eines Regierungsassessors, der nach
einer „schweren Sitzung" an Kaisers Geburtstag einen Bäckerjungen
attackierte; ferner den Fall eines anscheinend ganz heterosexuellen
Oberlehrers, der sich nach einer großen Kneiperei an einem Kellner
' vergriffen hatte. Er teilt auch ein Gutachten mit, das er über einen
Offizier ausstellte, der nach einem Kneipgelage von seinem Burschen
verlangte, er solle ihm ein Klistier verabreichen, und der ihn zu einem
homosexuellen Verkehr aufforderte. In seinem Gutachten findet Hirsch-
feld diese Aufforderung, wenn sie wirklich stattgefunden habe, als im
Widerspruche stehend zu der ganzen Persönlichkeit und plädiert für
Freispruch, da sich der Beschuldigte zur Zeit der geschilderten Vor-
gänge im Zustande einer krankhaften Veränderung seines Geistes be-
funden habe. Wir werden aber in diesen Tatsachen Beweise der Bi-
sexualität aller Menschen sehen, auch für den Durchbruch einer
latenten Homosexualität nach Wegfall der Hemmungen plädieren.
*) Auch Krafft-Ebing erwähnt einen jungen Mann, der seine erste homosexuelle
Aggression im Rausche ausführte. Ein Mann, der bisher immer im Lupanar reüssiert
hatte, greift im angeheiterten Zustande 6einem Freunde an die Genitalien, sie mastur-
bieren einander . . . und er ist seither ein Homosexueller.
Homosexualität und Alkohol. 261
Eine erschöpfende, meisterhafte Darstellung dieser Frage hat
uns Otto Juliusburger in seinem Aufsatze „Zur Psychologie des Al-
koholi^mus"1) gegeben. Dieser Autor berichtet, daß er in Fällen
von Dipsomanie deutlich den Durchbruch un-
bewußter Homosexualität beobachten konnte, und
führt in geistreicher Weise die Beziehungen des Alkohols zur Homo-
sexualität aus.
Juliusburger beschreibt den Fall eines Dipsomanen, bei dem die
homosexuelle Liebe zum Onkel in den Perioden des Trinkens in
äußerst durchsichtiger Weise auftrat. In diesen Perioden hatte der
Kranke das Bedürfnis, Herren, und zwar nur Herren freizuhalten und
ihnen alles zu bestellen, was sie wünschten, — „offenbar ein Symbol,
um seine Liebe zu bezeugen". „Eine Quelle der Angst und Unruhe",
sagt Juliusburger, „welche den sogenannten dipsomanischen Anfall
einleiten oder ganz an seine Stelle treten, erblicke ich in dem Kampfe
und den intrapsychischen Spannungen der psychosexuellen Komponenten
des Individuums." Über die Ansichten Juliusburgere, bezüglich des Zu-
sammenhanges von Eifersuchtswahn der Alkoholiker und Sadismus
werde ich noch einmal in dem Kapitel „Homosexualität und Eifersucht"
zurückkommen.
Viel interessanter für unsere Untersuchungen ist der Umstand,
daß die Homosexuellen im Rausche leicht zu heterosexuellen Akten zu
bringen sind. Natürlich nicht alle, aber die Tatsache als solche ist
nicht zu leugnen. Es lassen sich ja auch nicht alle Heterosexuellen
im Rausche zu homosexuellen Handlungen hinreißen. Oft sind die
Hemmungen viel stärker als die Macht des Alkohols.
Ich habe zirka hundert Homosexuelle über die Gelegenheiten
ausgefragt, wann sie mit einem Weibe verkehrt haben. Viele zögerten
erst mit der Antwort, doch konnte ich immerhin einen sehr großen
Prozentsatz konstatieren. Einige gaben mir die Antwort: „Das ist
mir nur möglieh, wenn ich mir einen Rausch antrinke." Oder: „Ich
bin einmal im Rausche von einem Mädchen verführt worden." Man
darf überhaupt nicht glauben, daß die Homosexuellen den Frauen gegen-
über impotent sind. Es gibt mehr Bisexuelle unter ihnen, als sie ein-
gestehen wollen, weil sie ja gerne vor dem Forum und zu ihrer Ent-
schuldigung anführen, es wäre der Verkehr mit einer Frau absolut un-
möglich. Ich habe einen kleinen Fragebogen in Wiener homosexuellen
Kreisen zirkulieren lassen und auch diese Frage gestellt. Viele be-
kennen Abscheu vor dem Weibe, viele nur ein platonisches Verhältnis,
aber es kommen auch Antworten vor, wie: „Ich habe in meinem
*) Zentralblatt für Pßychoanalyse und Psychotherapie, III. Bd., S. 1.
262 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
34. Lebensjahre mit einer Frau verkehrt, hatte dabei Lustempfindung,
bin aber nach vier Monaten wieder ausschließlich homosexuell." Oder:
„Ich verkehre hie und da mit Frauen." Ferner: „Ich kann nach langer
persönlicher Zuneigung auch mit einem Weibe verkehren." Ein anderer:
„Ich habe einmal mit einem Weibe verkehrt und ganz angenehme Emp-
findungen erlebt, habe aber seither keine Reprise folgen lassen." --
„Seinerzeit verkehrt, jetzt nicht mehr." — Kein Versuch. Vermutlich
beim Weibe impotent." — „Verkehr früher angenehm. Allmählich
schwand der Reiz, daher Verkehr jetzt absolut unmöglich." — „Bi-
sexuell" — betont ein Anderer lakonisch. Mindestens ein Viertel
meiner bewußt Homosexuellen sind eigentlich Bisexuelle mit nach-
träglicher Korrektur der Bisexualität aus Ursachen, die wir bald be-
sprechen werden.1)
Doch betrachten wir den nächsten Fall. Er zeigt uns ganz deut-
lich, wie unter dem Einfluß des Alkohols heterosexuelle Tendenzen
bei einem Homosexuellen auftreten und wie andrerseits unter dem
Drucke der Gefahr die heterosexuelle Betätigung durch Übung immer
mehr Libido in das heterosexuelle Strombett leitet:
Fall Nr. 36. Herr D. S., ein 35jähriger Beamter, ist schon seit 15 Jahren
ausschließlich homosexuell. Der Vater starb, als er 7 Jahre alt war. Er
erinnert sich nur dunkel an ihn. Die Mutter war immer sehr streng und
sehr energisch, außerordentlich nervös, mußte öftere in Sanatorien gehen.
Er gibt an, seit der Kindheit nur homosexuell empfunden zu haben. Er
interessierte sich nur für Knaben, wurde von seiner Mutter immer weiblich
erzogen. Er begann sehr früh zu onanieren und trieb schon mit 12 Jahren
mit Kameraden mutuelle Päderastie. Mit 17 Jahren versuchte er es mit
D-.rnen. Er war nicht gleich potent, sie mußten ihn erst lange reizen, dann
hatte er einen Genuß, der nicht stark war, wohl weil er sich immer wieder
an die Geschlechtskrankheiten erinnern mußte, die er in einem Panoptikum
in Wachs gesehen hatte. Auch dachte er immer an die Mutter
und was sie sagen würde, wenn sie das wüßte. Zu dieser
Zeit bis zu dem 21. Jahre verkehrte er in monatlichen Perioden mit Dirnen.
Dann verliebte er sich in seinen Chef, der ein außerordentlich schöner Mann
war. (Er liefert eine schwärmerische Schilderung seines ersten Ideals. Dieser
*) Interessant ist auch der Fall eines Gymnasialprofessors, der im Depressions-
zustande homosexuell und im Exaltationszustande eines Morphiumrausches heterosexuell
fühlte (Hirschfeld). Es 'gibt Menschen, welche zwei Leben führen, die mit einander
alternieren: ein homosexuelles und ein heterosexuelles. Es ist, als ob sie ewig auf der
Suche nach dem bisexuellen Ideal wären. Auch Krafft-Ebing (Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen, Bd. III) beschreibt eine Hysterische, welche sich jedesmal, wenn ihre
Neurose in einem Sanatorium gebessert wurde, zu Männern hingezogen fühlte, während
sie im Stadium der Krankheit homosexuell fühlte. Was heißt das anderes, als daß im
Stadium der Neurose die heterosexuellen Triebkräfte verdrängt wurden? Denn trotz
reichlicher gleichgeschlechtlicher Befriedigung erlitt sie die schwersten Anfälle von
Hysterie, während nach Besserungen die Liebe zu Männern erwachte.
Homosexualität und Alkohol. 263
Schilderung ist nicht zu trauen. Denn die Photographie seines letzten Ideals,
von ihm als Adonis gepriesen, zeigt das trottelhafte, stumpfe, eher häßliche
Gesicht eines Kanoniers.) Dieser Chef war ein Homosexueller, der ihn leicht
verführte und auch in die homosexuellen Kreise einführte. Nun wurde er
sich erst seines Zustandes bewußt und verkehrte nur mit reifen, wohlaus-
gebildeten Männern. Er habe einen feinen Geschmack und nicht jeder Mann
könnte ihm gefallen. (Dabei zeigt er mir stolz die oben erwähnte Photo-
graphie des Soldaten.) Leider sei ihm das Unglück passiert, daß er in einem
Park überrascht wurde, als er das Glied eines Kutschers in die Hand nahm.
Er sei jetzt in. strafgerichtlicher Untersuchung. Er wäre glücklich, wenn
er wieder zur alten Befriedigung zurückkehren könnte. Auf die Frage, ob
er in der ganzen Zeit von 22—35 Jahren nicht mit Frauen verkehrt habe,
wird er verlegen und gesteht, daß es einige Male vorgekommen sei, daß
er aber immer berauscht gewesen wäre. Im nüchternen Zu-
stande sei es ihm nie passiert. Und nach jedem Verkehr mit einem Frauen-
zimmer habe er einen solchen Katzenjammer, daß ihm seine eigene
Mutter, der er immer all"es anvertraut- habe, geraten
habe, mit Männern zu verkehren, da sie die Beob-
achtung gemacht hatte, daß er sich nachher ganz er-
frischt fühle, während er nach seinen Besuchen im
Bordell einige Tage melancholisch war. Ich brauche er-
fahrenen Analytikern nicht zu betonen, daß die Mutter ihre Eifersucht
anderen Frauen gegenüber auf diese Weise mißbraucht hat, um den Sohn
auf homosexuelle Bahnen zu leiten. Sie war auf Männer niemals eifersüchtig:
Das war ja etwas anderes. (Dies Vorkommnis ist nicht so selten. Mir sagte
die Mutter eines Homosexuellen: Ich bin nie eifersüchtig, wenn 0. einen
neuen Freund hat, obwohl er sie alle schwärmerisch liebt. Den Gedanken,
daß er sich einer Frau hingibt, könnte ich nicht ertragen.) D. S. aber ge-
horchte den Ratschlägen seiner Mutter. Er sagt: „Ich habe dann aufgehört
zu trinken und wurde ein fanatischer Homosexueller."
Da der Kranke, ein hoher Staatsbeamter, leicht seine Stelle verlieren
konnte, empfahl ich ihm, nur mit Frauen zu verkehren und konnte ihn mit
Hinsicht auf die Tendenz, sich behandeln zu lassen, aus den Fangarmen der
Justiz befreien. Er versuchte es mit Frauen, immer nach einer kleinen Dosis
Alkohol, und es ging immer besser, so daß er schließlich heiratete und
zwar eine Frau, die um 20 Jahre älter war als er. Diese Frau war ein
Ersatz seiner Mutter! Nähere Erklärungen über die Psychologie ähnlicher
Fälle folgen später. Ich wollte nur auf die Wirkung des Alkohols aufmerk-
sam machen. Der Alkohol ermöglichte ihm das Ausleben in heterosexuellen
Bahnen.
In dem letzten Falle wurde der heterosexuelle Akt erst durch
Aufhebung von Hemmungen möglich. Solche Kräfte wirken auch bei
der bekannten Morgenerektion der psychisch Impotenten mit. Homo-
sexuelle haben des Morgens auch heterosexuelle Träume, an die sie
sich meist nicht erinnern können oder — wollen. Ich möchte hier nur
erwähnen, daß die Traumarbeit in jeder Nacht eine Aufhebung der
Hemmungen besorgt und daß diese Hemmungen erst am Morgen ganz
überwunden sind. Die Träume der ersten Schlafstunden sind immer
264
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
reicher an Hemmungen, die als „Warnungen" auftreten, die gegen den
Morgen zu, werden immer hemmungsärmer. (Der Traum des Onanisten
den ich hier ausführlich mitgeteilt habe, ist ein schönes Beispiel von
Überwindung der Hemmungen imcLaufe der Nacht. Vgl. Fall Nr 33
S. 237.) Deshalb hört man oft von „echten Homosexuellen", sie hätten
erst gegen Morgen die Möglichkeit, mit einem Weibe zu verkehren
■Da sind eben alle Hemmungen, welche zwischen ihnen und dem
Weibe liegen, mehr oder weniger aufgehoben. Hirschfeld faßt aber
diese unleugbare Tatsache ganz anders auf:
Mnr„ "^ucl; die Gliedschwellungen, mit welchen viele Männer in den
Morgenstunden erwachen, haben nichts mit dem Geschlechts t r i e b zu
tun sondern Sind durch die Druckreize der gefüllten Harnblase bedingt.
auf dT?^ v f u e„.mi(? einmal ein verheirateter Homosexueller
auf, der sechs Kinder hatte, das siebente stand zu erwarten. Ich fragte
ihn wie dies möglich gewesen wäre. „Das ist doch so einfach," bemerkte
FriiÄw6 ^T^^ein, „ich benütze stets meine
Fruherektionen. Diese Kinder verdanken also nicht dem Geschlechts-
]^L7d7n><der TT*? Harnblase des Vaters ihr Leben" AÄ
sa/en dnßt" * höchstwahrscheinlich nur „Diuretika"; das will
bezu"' £f t 5f rmee' r1CÜeS f ,nige NahrunSs- ™d Arzneimittel in
bezug auf die Forderung der geschlechtlichen Potenz genießen ihrem
• trSSEäfw ZUZUSChreiben ^ *™ M-kte nCÄ
„Ähnlich wirken auch die alkoholischen Getränke, welche, in nicht
zu großen Mengen genossen, den Geschlechtstrieb aufstacheln. Die
JLxme in Baccho und Venere werden ja seit altersher als zusammen-
gehörig betrachtet. Es kommt hier allerdings hinzu, daß der Alkohol
die Kratt der Gegenvorstellungen herabsetzt, während er die Sinnes-
scharfe zu vermindern scheint. So erklärt es sich, daß Heterosexuelle
gelegentlich angeben, sie hätten unter Alkoholeinfluß mit dem Manne
IS* <?(J1S0SeXLlie1,1?' Sie könnten angetrunken mit dem Weibe
verkehren." (Hirschfeld 1. c. S. 189.)
Mir ist aber diese Tatsache, daß die Homosexuellen im trunkenen
Zustande sich auch heterosexuell betätigen können, ein Beweis ihrer
^Sexualität, ein Beweis, daß sie die heterosexuelle Komponente ihres
Geschlechtstriebes verdrängt haben.
Über die unsinnige Hypothese der Morgenerektionen auf Grund
der gefüllten Blase werde ich im Buche über Impotenz etwas ausführ-
licher sprechen. Ich glaube nicht an die Blasensteife.1) Tatsache
ist aber, daß der Traum so lange arbeitet, bis die
vorhandenen psychischen Hemmungen aufgehoben
sind. Der Patient Hirschfelds kann nur des Morgens koitieren,
9 Vergleiche meine Arbeit „Die psychische Impotenz des Mannes". Zeitschrift
für Sexualwissenschaft, 1916, und die Ausführungen in Band IV.
Homosexualität und Alkohol. 265
weil er bei Tag und des Abends unter der Herrschaft von Hemmungen
steht, die ihn dem Weibe gegenüber impotent machen.
Daß diese Impotenz nicht immer Schwäche darstellt, beweist
der nächste Fall.
Fall Nr. 37. Herr G. H., ein homosexueller Arzt, teilt mir mit, daß er
aus Angst vor kriminellen Delikten, Alkoholabstinenz einhalte. Er sei schon
seit der Kindheit homosexuell, habe nie zu einem Weibe eine Hinneigung
empfunden. Onanie seit dem 9. Lebensjahre. Sie entstand, als ihn einmal
•ein Onkel auf die Schultern hob. Er hatte dabei ein starkes Lustgefühl und
begann bald an seinen Genitalien zu reiben, während er sich vorstellte, daß
er vom Onkel oder einem anderen Manne getragen werde. Nie habe er den
Wunsch gehabt, sich von einem Weibe tragen zu lassen. Das würde ihm
erniedrigend und gemein vorkommen. Seine Versuche im Bordell, die er in
der Zeit von 19 bis 24 vorgenommen, scheiterten alle an seinem Ekel vor
den käuflichen Weibern. Vielleicht hätte er mit einem besseren Mädchen
einen Koitus zusammenbringen können, eine gewisse Scheu habe ihn ver-
hindert, sich den Mädchen zu nähern. Gebildete emanzipierte Mädchen seien
ihm em Greuel! Er hatte mit einem Kollegen längere Zeit ein Verhältnis.
Koitus inter femora. Im 28. Jahre nach einem Zechgelage sei er einem
Madchen begegnet, mit dem er ins Hotel gegangen sei. Dort sofort heftige
Erektion und Koitus. Mit Eintreten des Orgasmus hatte er
das Verlangen, das Mädchen zu erdrosseln. Ein furchtbarer
Haß gegen das unschuldige Wesen stieg in ihm auf. Er eilte so rasch als
möglich davon. Er glaubt, er wollte sich rächen, daß sie ihn durch den
Koitus erniedrigt habe.
Wir merken eine sadistische Einstellung zur Frau, die sich hinter
der Scheu vor Frauen verbirgt. Er fürchtet sich selbst, fürchtet seine
kriminellen Instinkte. Bei diesem Falle spielen Probleme aus dem
Kampf der Geschlechter (aus dem instinktiven Geschlechtshaß des
Mannes gegen das Weib) eine Rolle. Wir wollen die Bedeutung dieser
Einstellung später ausführlich besprechen. Wir sehen in diesem Fall
den Durchbruch einer heterosexuellen-sadistischen Triebkraft unter dem
Einflüsse von Alkohol hervortreten. Es ist, als hätte der Alkohol die
Sicherungen gelöst, welche das Bewußtsein gegen die sadistischen
Triebe errichtet hatte.
Wie interessant ist erst der Fall, den uns Moll in seinem Werke
„Die konträre Sexualempfindung" (3. Auflage) mitteilt! Ich lasse ihn
hier im Auszuge folgen, weil er für unser Thema bedeutsame Momente
enthält.
Fall Nr. 38. Fräulein X. ist 26 Jahre alt. Ihren Vater schildert die
Patientin als einen gesunden, aber sehr jähzornigen Mann. Bereits
im Alter von 5 Jahren hat die X. mit einem kleinen Knaben
sexuelle Handlungen vorgenommen. Sie gibt geradezu an, sie hätte ein Ver-
hältnis mit dem damals 4 Jahre alten Jungen gehabt. Die Händlungen be-
standen in mutuellem Kunnilingus. Im Alter von 6 Jahren wurde die
266
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
X. in die Schule geschickt und kam hier bald mit kleinen Mädchen in sehr
intimen Verkehr. Mit mehreren derselben hat sie in gleicher Weise wie mit
dem Knaben durch gegenseitigen Kunnilingus sexuell verkehrt. Von
dem Augenblick an, wo sie mit den Mädchen zusammen war, war die hetero-
sexuelle Neigung bei der X. geschwunden ; sie hat mit einem Knaben niemals
mehr in der geschilderten Weise verkehrt. Wir werden sehen, daß sie sich
später gelegentlich von erwachsenen Männern gebrauchen ließ; aber es wird
sich dabei ergeben, daß nur ein heterosexueller Akt stattfand, ohne daß
geschlechtliche Zuneigung bestand. Im 12. Lebensjahre trat bei der X. die
Periode ein. In der damabgen Zeit verkehrte sie viel mit den Kindern einer,
befreundeten Familie, die eine Erzieherin hatten, mit der sie, die X., sehr
bald ein intimes Verhältnis anknüpfte. Die X. wurde von der Erzieherin
veranlaßt, mit ihr sexuelle Handlungen, besonders den Kunnilingus,
vorzunehmen, so daß bald die eine, bald die andere den aktiven Teil bildete.
Bei diesem Verkehr wurde die X., 'soweit sie sich erinnert, zum erstenmal
geschlechtlich befriedigt. Das Verhältnis zwischen beiden dauerte längere
Zeit. — Nun unterscheidet sich Fräulein X. von gewöhnlichen Tribaden da-
durch, daß sie auch andere Arten der Befriedigung liebt. Sie kam sehr bald
dazu, nicht nur an den Genitalien, sondern auch an dem Anus feminarum
ämatarum lambere. Widerlich wäre ihr der Gedanke, bei einem Mann
einen solchen Akt auszuführen. Ebenso wie wir ferner wissen, daß es ein-
zelne perverse Männer gibt, die sich urinam feminae dileetae in
os proprium immittere lassen, ebenso finden wir, daß Fräulein X.
bei sich von einem anderen Mädchen dasselbe gern tun läßt. Schon vor einer
Reihe von Jahren ist die X. dazu gekommen, faeces amicao in os
proprium iniieere zu lassen; hierbei wird sie sexuell bis zu Wol-
lustgefühl und Erguß befriedigt. Die Ausführung solcher Handlungen hat
sie zuerst während des mehrjährigen Verhältnisses ausgeübt, das sie mit
dem oben erwähnten Mädchen Y. hatte. Einen großen Reiz übt es auch auf
die X. aus, wenn sie sanguinem .menstruationis amicae
lambit et devorat; doch fügt sie hinzu, daß sie diese ekelhaften
Handlungen nur dann ausüben könnte, wenn das gegenseitige Vertrauen
vollständig ist und das Verhältnis schon längere Zeit gewährt hat. Die
Patientin erzählt ferner, daß sie auch, wenn sie mit der Rute geschlagen
wird, sexuell erregt wird. Auf die Frage, wie sie darauf gekommen ist,
erwiderte sie, sie kannte einen Herrn, der 'sich von seinem
früheren Verhältnis mit der Rute schlagen ließ. Die
Schläge, die ihr zugefügt werden, müssen aber unbedingt von einem Weibe
herrühren, wenn sie sieh sexuell erregen soll. Sie hat sieh sehr oft von
ihrer Freundin, mit der sie auch die oben erwähnten ekelhaften Handlungen
ausführte, flagellieren lassen. Es sei noch kurz erwähnt, daß bei dem gegen-
seitigen Küssen Fräulein X. es sehr liebt, sich von ihrer Freundin beißen zu
lassen, und zwar am liebsten ins Ohrläppchen. Es kann hierbei soweit kommen,
daß Schmerzempfindung eintritt und das Ohrläppchen stark anschwillt.
Es ist notwendig, genauer das Verhältnis von Fräulein X. zum männ-
lichen Geschlecht zu erörtern. Sie erinnert sich nicht, daß
sie jemals eine wahre Neigung zu einem Manne gehabt
liat. Wohl aber wurde sie auf einer Gesellschaft nach
einem längeren Weingelage von einem Manne verleitet,
bei ihm zu schlafen. Sie hatte sich schon immer gewundert, daß sie
Homosexualität uiid Alkohol. og-
kcine Neigung zum männlichen Geschlecht empfand, und der Wunsch, hier-
über Klarheit zu erhalten und gleichzeitig ihr vom Trinken herbeigeführter
Rauschzustand führte sie dazu, jene Nacht mit dem Manne zu verbringen.
InJessen hatte sie bei dem Koitus keinerlei Vergnügen. Einige Zeit darauf
näherte sich ihr ein anderer Herr, der sich in sie verliebte, ohne daß sie
auch nur im geringsten die Neigung erwiderte. Trotzdem wollte sie
noch einmal versuchen, ob sie nicht Neigung für einen
Mann erwerben könnte. Sie ließ sich daher von jenem Mann ver-
leiten, mit ihm einige Male geschlechtlich zu verkehren; indessen weiß sie
noch genau, daß der Koitus auch nicht die Spur einer Aufregung bei ihr
herbeiführte. Die X. veranlaßte nun diesen Mann, den Kunnilingus mit
ihr auszuführen. Hierbei wurde sie sexuell erregt und befriedigt; doch ohne
nähere Frage gibt sie an, es sei unbedingt bei ihr notwendig gewesen, sich
in der Phantasie vorzustellen, daß der den Kunnilingus machende
Mann ein Weib sei ; denn sonst hätte sie auch bei dem Kunnilingus
eine Befriedigung nicht gehabt. Die oben geschilderten ekelhaften
Handlungen mit einem Manne vorzunehmen, wären der X.
im höchsten Grade widerwärtig. (Moll, 1. c. S. 565.)
Dieser Fall erscheint mir höchst bemerkenswert. Er unterstützt
meine Ausführungen über die Wirkung des Alkohols bei den Homo-
sexuellen. Fräulein X. verschleiert die Tatsache und meint, es wäre
der Wunsch gewesen, sich Klarheit zu verschaffen, ob sie keine Neigung
zum männlichen Geschlechte habe. Das Fehlen des Orgasmus im Ver-
kehr mit dein ersten Manne beweist uns höchstens, daß die Hemmungen
auch durch den Alkohol nicht aufgehoben wurden. Schließlich läßt sie
sich noch ein zweites Mal verleiten und empfindet auch beim Kunni-
lingus des Mannes. Interessant ist ferner der Umstand, daß ihr erstes
Erlebnis mit einem Knaben spielte. Es entspricht das vollkommen
meinen Erfahrungen. Auch son,st spielt der Mann bei ihr eine größere
Rolle, als sie sich eingestehen will. Auf die Flagellation kommt sie,
weil sie einen Herrn kannte, der sich von seinem früheren Verhältnis
schlagen ließ. Die Beziehung dieser Paraphilie zum strengen, jäh-
zornigen Vater ist ziemlich durchsichtig. Ihre mysophilen Akte an
Frauenzimmern zeigen, daß sie sich dem Manne nicht
unterwerfen will, daß sie aber die Unterwerfung
unter eine Frau als eine Huldigung an ihr eigenes
Geschlecht auffaßt. Näheres über diese merkwürdige Ein-
stellung wird in meinem Werke über Masochismus abgehandelt werden.
Die anderen Handlungen zeigen einen sexuellen Infantilismus, wie er
in so „polymorph-perverser" Form wohl selten beobachtet werden kann.
Auch Fleischmann1) führt einige Fälle an, in denen die homo-
sexuelle Verführung im Rausche stattfand. Er schildert aber auch den
J) Beiträge zur Lehre von der konträren Sexualempfindung. Zeit6chr. f. Psych
u.Neurol., Bd. VII, 1911.
268
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Fall eines Homosexuellen, der im Rausche mit Frauen verkehren kann.
„Mit 28 Jahren," erzählt der Autor, „betrat ich zum ersten Male ein
Bordell und konnte, durch feurige Weine angeregt, ein Mädchen ein-
mal koitieren; im nüchternen Zustande hätten mich keine 20 Pferde
in das Lusthaus gebracht!" meint der Urning. Aber immer wieder
gelingt ihm nach Alkoholgenuß ein Koitus.
Wir sehen, daß der Zwang, sich zu berauschen, offenbar die Folge
eines unbefriedigten Triebes ist. Immer wieder bestätigen die Er-
fahrungen der Analyse, daß fast jede Sucht, sich zu betäuben und zu.
berauschen, eine unbefriedigte Sexualität verrät. Unter den Alkoho-
listen, Morphinisten, Kokainisten finden sich immer die stark Para-
philen und Bisexuellen, welche eine Komponente ihres Geschlechts-
triebes unterdrückt haben. Ebenso wird jeder unbefangene Beobachter
die gleichen Erfahrungen bei den Homosexuellen machen, die ja meiner
Ansicht nach auch Bisexuelle mit unterdrückter heterosexueller Kom-
ponente sind. Ich kann Näcke1) nicht zustimmen, wenn er behauptet,
daß der Urning an sich nur wenig trinkt und selten Säufer werde.
Auch nicht, daß in homosexuellen Kreisen eine durchschnittliche
Mäßigkeit herrscht. Gewiß, ich kenne auch viele mäßige Homosexuelle,
aber das Material, das ich beobachtet habe und das mir aus den Be-
richten objektiver Ärzte vorliegt, spricht eine andere Sprache.
Wie vieles von dem, was sich im Rausche vollzieht, kommt nie
zur allgemeinen Kenntnis! Vielleicht haben die infantilen Erlebnisse
mit trunkenen Eltern eine größere Bedeutung in der Psychogenese der
Homosexualität, als wir zur Zeit ahnen können!
Hie und da kommt es vor, daß sich alkoholisierte oder patho-
logische Eltern an ihren Kindern vergreifen. Daß noch merkwürdige
Sitten in der Erziehung der Kinder existieren, habe ich in der Kinder-
stube beobachten können. Mir berichtete ein Patient, daß seine Mutter
bis zu seinem sechsten Lebensjahre die Gewohnheit hatte, mit seinem
Penis zu .spielen. Auch seine Frau pflege auf diese bequeme Weise das
unruhige Kind zur Ruhe zu bringen. Es sei ein unfehlbares harmloses
Mittel.
Fall Nr. 39. Herr T. Z., ein homosexueller Chemiker, der sich für
Psychanalyse theoretisch interessiert, schreibt mir: „Vielleicht ist der Bei-
trag, den ich Ihnen liefern kann, für Sie von irgend einem Nutzen. Ich habe
oft darüber nachgedacht, ob Traumen auf die Entwicklung meiner Sexualität
einen Einfluß gehabt haben könnten. Mir fiel aber kein Erlebnis ein, das
ich zu meinem Zustande in Verbindung bringen konnte. Ich habe mich schon
sehr früh für das männliche Glied interessiert und dies Interesse ist mir
bis heute geblieben. Schon der Anblick eines erigierten Penis genügt mir,
*) Alkohol und Homosexualität. Allg. Zeitschr. f. Psych, u. gerichtl. Med, Bd. 68.
Homosexualität und Alkohol. 269
um die höchste Lust hervorzurufen. Auf der Straße blicke ich immer auf
die bewußte Stelle und schätze die Größe des Gliedes, beschäftige mich
damit in der Phantasie. Ich habe immer vor dem Spiegel onaniert und
dabei meinen Penis beobachtet. Es hat aber sehr lange gedauert, ehe ich
meine Scheu überwinden konnte und Gesinnungsgenossen suchte. Vor einigen
Tagen hatte ich einen Traum, in dem mir mein vor zehn Jahren verstorbener
Vater erschien. Er war der beste Mann der Welt, leider ein Quartalsäufer.
In solchen Zuständen behandelte er die Mutter sehr roh. Nun träumte ich
eine Szene, die mich so erschreckte, daß ich erwachte. Ich sah, wie mir mein
Vater Membrum erectum in die Hand gab! Und wie ein Blitz fiel es mir
ein, daß er es in betrunkenem Zustande wiederholt getan hat. Ich hänge
aber mit allen Fasern an meiner Mutter, die für mich das Ideal eines Weibes
ist, das ich im Leben nie mehr finden kann. Sonst gilt meine Liebe nur
dem Manne, und zwar dem Manne aus dem Volke. Lösen Sie mein Rätsel!
Ich fühle mich zu ordinären Kutschern, zu Menschen, wie man sie in den
Schnapsbuden (!) findet, hingezogen. Nur ein einziges Mal konnte ich
mit einer Dirne verkehren. Damals war ich so berauscht, daß ich etwas tat,
was ich bei Verstände nie hätte ausführen können . . ."
Ich betone noch einmal: Der Durchbruch heterosexueller Regungen
nach Alkoholgenuß beweist uns eben das Vorhandensein dieser Ten-
denzen und zeigt uns, daß diese heterosexuellen Tendenzen unter ge-
wöhnlichen Verhältnissen einer Sperrung unterliegen. Sie sind in einem
seelischen Safe aufbewahrt, der jedoch unter gewissen Umständen zu
öffnen ist. Der Alkohol ist mitunter ein alles öffnender Schlüssel.
Interessant ist auch die Sublimierung, welche die heterosexuelle
Liebe bei den Homosexuellen erfährt. Sie bemühen sich, das andere
Geschlecht zu asexualisieren, sind aber doch zum großen Teil auf
heterosexuelle Freundschaft angewiesen. Ich kenne eine ganze Reihe
solcher Homosexueller, welche mütterliche und schwesterliche, ja auch
großmütterliche Freundinnen haben, welche ihnen geradezu unentbehr-
lich sind. Wir Analytiker kennen die Quelle dieser asexuellen Emp-
findungen. Sie entstammen einem Verbot und sind auch die Folge
einer Hemmung, welche allein die Sexualität betrifft und die sub-
lim i e r t e Erotik passieren läßt. Man findet auch unter den Homo-
sexuellen viele Weiberhasser.
Sie hassen oft alle Frauen mit einer einzigen Ausnahme: ihre
Mutter.. Mitunter ist eine Schwester, eine Tante, eine mütterliche
Freundin von diesem Hasse ausgenommen. Sie betonen dann immer
wieder: Es ist eine Ausnahme. Allein das Gesetz der Bipolarität
sagt uns, daß neben diesem gewaltigen Hasse eine ebenso gewaltige
Liebe vorhanden sein muß. Mitunter verbirgt sich der Haß und die
Homosexuellen posieren Gleichgültigkeit. Die nähere Analyse zeigt die
falsche Einstellung, die gespielte Indifferenz als eine Angst, die echte
zu verraten. Hinter der Gleichgültigkeit verbirgt sich eine Angst vor
270
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
dem Weibe, hinter der Angst kann sich wieder die sadistische Ein-
stellung zum Weibe verbergen. So schachtelt der Homosexuelle seine
Gefühle in einander, verkehrt sie, verdreht sie, überträgt sie und
dämpft und unterstreicht sie, bis die eigentliche Einstellung unkennt-
lich wird. * Oberflächliche Beobachter notieren: Herr X. haßt die
Frauen! . . .
Was hinter diesem Weiberhaß steckt, hat mit aller Schärfe Bloch
(1. c.) ausgesprochen. Er zitiert den berühmten Frauenhasser Euripides
und macht dazu eine treffende Erklärung. Wir lassen dem Autor
das Wort:
„Im „Jon", „Hippolytos", „Hekabe", „Kyklops" des Euripides
finden sich die schärfsten Ausfälle gegen das weibliche Geschlecht. Am
berühmtesten ist die Stelle aus dem „Hippolytos" (Vers 602—637,
650-655):
„Was hast du doch der Menschen gleißend Ungemach, — Die
Frau'n, o Zeus, an dieses Sonnenlicht gebracht? — Trägst du Ver-
langen, ein Geschlecht von Sterblichen — Zu schaffen, sollten diese
nicht vom Weibe sein; — Nein, Männer mußten, wenn sie dir des
Eisens Wucht, — Gold oder Erz in deinem Tempel dargebracht, — Nach-
wuchs von Kindern aus des Gottes Hand dafür — Als Gegengabe nehmen,
nach dem echten Wert — Des Dargebotenen Jeder, und im freien Haus —
Als Freie wohnen ohne das Geschlecht der Frau'n."
„Da haben wir schon die ganze Quintessenz der modernen Miso-
gynie. Aber Euripides verrät uns auch ihren letzten Beweggrund.
„Das Unbezwinglichste von allen ist ein Weib," sagt er in
einem Fragment. Hinc illae lacrimae! Nur die Männer i die dem Weibe
nicht gewachsen sind, die es nicht als freie Persönlichkeit auf sich
wirken ließen, die so wenig ihrer selbst sicher sind, daß
sie vom weiblichen Wesen eine Einbuße, Beeinträchtigung oder gar
Vernichtung der eigenen Individualität befürchten, nur diese sind die
echten Weiberhasser." (Bloch, 1. c. S. 533.)
Wie nahe kommt Bloch hier der Lösung des Problems und wie
deutlich- hat er schon vor Alfred Adler1), der die Homosexualität auf
die Angst vor dem geschlechtlichen Partner zurückführt, diesen Stand-
punkt eingenommen! Leider zieht er nicht die weiteren Schlüsse aus
dieser richtigen Beobachtung.2)
l) Das Problem der Homosexualität. München 1917.
■) Auch Jakob Kläsi hat in einer Arbeit aus der Bleuler-Klinik (Beitrag zur
Differentialdiagnose zwischen angeborener und hysteriform erworbener Homosexualität.
Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., 1919, Bd. LH, H. 1/3) in einer Reihe von Fällen als
Ursache der Homosexualität den Impotenzkomplex, also Angst vor dem Weibe, entdeckt.
Leider unterscheidet er noch angeborene und hysteriforme Fälle. Das Verfahren, das
er zur Erforschung anwendet, stellt eine Kombination von vertiefter Anamnese mit
Assoziationsexperimenten dar und kann die durchdringende Kraft einer wirklichen
Analyse nicht ersetzen.
Homosexualität und Alkohol. 271
Haß, Angst, Ekel und Scham sind die Hemmun-
gen, welche den Homosexuellen von dem geschlecht-
lichen Partner abhalten.
Betrachten wir zuerst den Ekel. Wie kommt er zustande? Ich
habe in den „Angstzuständen" darüber ausführlich berichtet. Allein
es gibt auch einen Ekel, der als solcher positiv wirkt. Ekel muß nicht
immer verdrängte Begierde sein! Wenn ich heute ein Frauenzimmer
sehe, das über und über mit Furunkeln bedeckt ist, so werde ich mich
ekeln, wenn ich erfahre, daß das eine alte Tante ist, der ich einen Be-
grüßungskuß geben soll. In diesem Falle kann nur der Wahn eines
Überanalytikers die unterdrückte Komponente der Libido entdecken.
Wir wissen aber, daß hie und da die Homosexualität durch Ein-
drücke entstehen kann, welche die Abwehrreaktion (Haß, Angst, Ekel
und Scham) mobilisieren. Diese negativen Kräfte schützen dann das
Individuum gegen ihre eigenen positiven Tendenzen. Der Ekel verbirgt
die Begierde, der Haß die Liebe, die Angst das Verlangen; und die
Scham — die Schamlosigkeit.
Aber der Alkohol kann alle Abwehrreaktionen aus negativen
Werten zu positiven machen. Aus dem Ekel wird Begierde, aus dem
Haß Liebe, aus der Angst das Verlangen und aus der Scham die
Schamlosigkeit. Tritt zu dieser Umwertung in das Positive noch der
furchtbare, verdrängte Sadismus hinzu, der sich nicht zur dauernden
Liebe gublimieren konnte, so verwandelt sich der gesittete Kulturmensch
in den Verbrecher, der uns ja nur eine Stufe der Entwicklung der
Menschheit repräsentiert.
Die Homosexualität.
vi.
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. —
Einfluß der Traumen.
Wären nicht die Details unseres geschlechtlichen Lebens so un-
endlich mannigfaltig und läge es nicht bei den meisten Menschen fast
in allen wichtigen Erscheinungen und Fragen unterhalb des Bewußtseins,
und wäre es nicht eine Wesenheit der Liebe, immer wieder die Schleier
des Mysteriums über unsere sexuellen Empfindungen zu werfen, so daß
allen stark empfindenden unverdorbenen Menschen, namentlich in der
wichtigen Periode der Geschlechtsreife, Zynismen und Ollenheiten über
das geschlechtliche Leben sogar als unwahr erschienen (Frauen und
keusche Jünglinge sind schon beleidigt, wenn man über die Liebe
auch nur wissenschaftlich , anders als schwärmerisch, allgemein oder
poetisch metaphorisch redet) und hätten wir nicht endlich mit der
großen Heuchelei und Verlogenheit der Gesellschaft in erotischen Dingen
zu rechnen , so daß sogar die Anormalen und Perversen von ihr an-
gesteckt werden, die es gar nicht mehr nötig haben, zu lügen und
unwissend zu bleiben; kurz, könnten wir unsere Erotik in seelischer
und körperlicher Hinsicht bis zu den letzten Zusammenhängen ana-
lysieren, dann würden wir vielleicht mit Schauder erfahren,
einen wie kleinen Bruchteil unseres Lebens wir unserem
eigentlichen Geschlecht angehören.
Leo Berg.
Die spät entstandene Homosexualität ist vielleicht am
besten geeignet, unsere Betrachtungen über die Psychogenese der
Homosexualität einzuleiten und uns zu den schwierigen komplizierten
Fällen zu führen.
Es gibt in der Tat eine Reihe von Fällen, in denen die Homo-
sexualität durch Ekel vor dem anderen Geschlechte zu entstehen
scheint. In diesem Sinne fassen viele Autoren die Entstehung der
Homosexualität bei den Prostituierten auf. So bemerkt Bloch über
die,ses Thema:
„Die von Natur heterosexuellen Prostituierten werden nun aus zwei
Gründen, homosexuell. Erstens durch den Verkehr und den Einfluß ihrer
echt lesbischen Gefährtinnen, den das innige Solidaritätsgefühl aller
Prostituierten noch besonders verstärkt. Zweitens durch den mit der Zeit
sich immer tiefer einwurzelnden, aus den Lebenserfahrungen
geschöpften Widerwillen gegen den Verkehr mit Männern,
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 27 '6
den sie nur in seiner brutalen Geschlechtsroheit kennen lernen. Der
ständige Zwang, die tierische Sinnlichkeit blasierter Lebemänner durch
die ekelhaftesten Prozeduren befriedigen zu müssen, flößt ihnen schließ-
lich einen unüberwindlichen Widerwillen gegen das männliche Geschlecht
ein, so daß sie alle zärtlicheren Gefühle, die sie hegen, dem eigenen
Geschlechte zuwenden. Die homosexuelle Verbindung erscheint ihnen,
wie Eulenburg mit Recht bemerkt (Sexuale Neuropathie, S. 143—144),
als etwas „Höheres, Reineres und Unschuldigeres", in einem idealeren
Licht als der Geschlechtsverkehr mit Männern." (Bloch, 1. c. S. 603.)
Auch Krafft-Ebing (Neue Studien 1. c.) ist der gleichen Ansicht
und meint, daß sich „viele Prostituierte von großer Sinnlichkeit, an-
gewidert von dem Umgang mit perversen oder impotenten Männern,
von denen sie zu abscheulichen geschlechtlichen Handlungen mißbraucht
werden, zu sympathischen Personen des eigenen Geschlechtes flüchten''.
Ich habe schon bei der Besprechung der Messalina darauf hin-
gewiesen, daß es die latente Homosexualität ist, welche die Frauen
zu Dirnen macht. Sie flüchten vor der Frau in die Orgie mit Männern,
in eine Reihe von Männern. Sie hoffen, durch die Quantität zu er-
setzen, was die Qualität nicht leisten kann. Wir haben viel mehr Grund,
anzunehmen, daß jene Frauen Dirnen werden, die stärker nach der
homosexuellen Seite tendieren. Das mag auch nur für die Mehrzahl,
nicht für alle Fälle gelten. Denn es gibt Dirnen, welche sich mit allen
Fasern ihrer Seele an den Geliebten (den Zuhälter) schließen und nur
bei ihm Orgasmus empfinden, während sie in den Armen aller anderen
Männer kalt bleiben. Hie und da mag auch der Mechanismus ins Ge-
wicht fallen, den Bloch und Krafft-Ebing annehmen. Bei schon vor-
handener ausgesprochener Neigung zur Homosexualität wird der durch
verschiedene Umstände hervorgerufene Ekel leichter als Hemmung für
die Hetero Sexualität wirken können, i
Das sehen wir aus den Krankengeschichten der Homosexuellen.
Häufig stoßen wir auf die Angabe, daß die Männer oder auch Frauen
nach einer Infektion, besonders nach einer Gonorrhöe, homosexuell
werden. Die Angst vor der Infektion spielt auch in der Psychogenese
der Homosexualität eine große Rolle.1)
Krafft-Ebing erwähnt (Über tardive Homosexualität usw.) den
Fall eines 27jährigen Mannes, der mit 19 Jahren nach 7jähriger ex-
*) Es ist nicht richtig, daß die Homosexuellen keiner Infektionsmöglichkeit aus-
gesetzt sind. Ich untersuchte einen homosexuellen Apotheker, der 6ich in Venedig eine
schwere Gonorrhöe des Anus geholt hatte. Er gestand mir, daß er auch andere Männer
infiziert hatte, weil er sich geärgert hatte, daß er so hereingefallen war. Im großen
und ganzen sind aber Infektionen viel seltener als beim heterosexuellen Verkehr, was
auch mit der Art der Befriedigung, bei der ja die anale Copulatio eigentlich selten
vorkommt, zusammenhängt.
Stokol, Störungen des Trieb- und Affolttlebens. II. 2. Aufl. 18
274
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
zesßiver Onanie zu Weibern ging und mit Genuß koitierte. Nach
einer Gonorrhöe stellte sich ein solcher Ekel
vor dem Weib ein, daß er im Lupanar impotent war.
Alte homosexuell-masochißtische Phantasien erwachten wieder, und er
erlag bald der Verführung.1) Ich verweise besonders auf den Umstand,
daß dieser Mann im Verkehr mit Frauen Orgasmus erzielen konnte.
Trotzdem war dann das Erlebnis von solcher Bedeutung, daß es die
Abwehrreaktionen der heterosexuellen Triebe durch einen intensiven Ekel
verstärken konnte. (In anderen Fällen tritt dann ein Ekel vor den
Dirnen auf, und der Mann sehnt sich nach einem gesunden Weibe.)
Die Infektion wird oft die Wurzel eines fanatischen Frauenhasses,
ohne daß es zur Entwicklung einer manifesten Homosexualität kommt.2)
Der nächste Fall eigener Beobachtung gehört in diese Gruppe:
Fall Nr. 40. Herr I. P., ein 39jähriger Ingenieur, stellt sich mir als
ein typischer Angstneurotiker vor. Er kann sein Zimmer nicht verlassen,
muß sich überallhin von einem Wärter begleiten lassen. Lebt seit 10 Jahren
abstinent, nachdem er das Unglück hatte, eine sehr schwere Lues bei einer
sogenannten „anständigen Frau" zu akquirieren. Seit diesem Erlebnis be-
herrscht ihn ein fanatischer Frauenhaß. Er liest mit Vorliebe Strindberg,
schwärmt für Weininger und hat die Broschüre von Möbius: „Der physio-
logische Schwachsinn des Weibes" in eine fremde Sprache übersetzt. Vor
der homosexuellen Betätigung hat er keinen Ekel, aber er behauptet, sie
hätte für ihn keinen Reiz., Die Analyse zeigt, daß die Angstzustände als
Sicherung gegen einen homosexuellen Akt auftreten. Nach der Lues war
er im Begriffe, homosexuell zu werden. Gegen diese Triebrichtung schützt
er sich nun durch allerlei Abwehrmaßregeln. Der Weg zum Weibe ist durch
Ekel und Haß vollkommen versperrt. Die Heilung der Angstzustände war
nicht allzu schwer. Nach einigen Jahren traf ich ihn als verheirateten Mann.
Er hatte eine Frau geheiratet, die um 10 Jahre älter war als er und sich
durch einen absoluten Mangel jeder Weiblichkeit auszeichnete. Er ist in
der Ehe vollkommen potent, behauptet Orgasmus zu haben und glaubt, er
hätte noch einen größeren Orgasmus, wenn er nicht ein Kondom benützen
) Ich möchte auch betonen, daß die erBte homosexuelle Betätigung oft nach den
Zwanzigern eintritt, wenn wir von den Akten der mutuellen Befriedigung zwischen
Knaben und Mädchen absehen, die bei keinem Menschen — mit geringen Ausnahmen —
in der Kindheit fehlen. Zwischen kleinen Kindern (4—8 Jahren) ist homosexuelle Be-
tätigung sehr häufig, dann scheint bei manchen eine kurze Latenzzeit zu kommen. In
der Zeit von 10—15 Jahren machen fast alle Knaben und alle Mädchen ihre homo-
sexuelle Liebe (entweder nur platonisch oder grob sexuell) durch. Nach der Pubertät
gibt es Schwankungen; Individuen, die später homosexuell werden, betätigen sich noch
heterosexuell, machen allerlei Versuche und ziehen Bich dann wegen Impotenz oder
einem unangenehmen heterosexuellen Erlebnis (Infektion, Paternitätsklage usw.) auf die
Homosexualität zurück.
2) Bloch hat bekanntlich darauf aufmerksam gemacht, daß der Antifeminismus
und der Pessimismus von Schopenhauer auf eine in der Jugend überstandene Syphilis
zurückzuführen sind.
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 275
würde. Er will als Luetiker keine kranken Kinder in die Welt setzen.
Er zieht den Coitus a posteriori und den Situs inversus vor und begründet
das in theoretischer Weise wegen des Baues der weiblichen Genitalien . . .
Über den Zusammenhang zwischen sexueller Infektion und Homo-
sexualität gibt uns auch eine Beobachtung von Fleischmann*) deut-
liche Aufklärungen. Es handelt sich um eine Urlinde.
Fall Nr. 41. Uneheliches Kind. Vater starker Trinker. Wurde schlecht
erzogen, vernachlässigt und geschlagen. War schon in der Jugend arbeits-
scheu und diebisch. Gefängnis. Arbeitshaus. „Mit 16 Jahren mußte ich
mein Brot selbst verdienen. Meine erste Stellung war im Restaurant als
Biermädchen. Dort lernte ich Herrn X. kennen, der mir meine Unschuld raubte
und mich geschlechtskrank machte. Im Krankenhaus sah und hörte
ich alles mögliche. Von der Stunde an arbeitete ich nichts mehr. Die Jahre
vergingen abwechselnd, gekämpft mit Not und Elend; Gefängnis. Arbeits-
haus, Dunkelarrest. Im Arbeitshaus legten sich fast alle Mädchen nachts
zusammen und von der Zeit an konnte mich kein Mann mehr interessieren.
Ich verkehre nur mit Mädchen, die hübsch sind. Seit einem Jahr bin ich
Prostituierte — meistens betrunken, um zu vergessen, was aus mir ge-
worden und welcher krankhaften Zuneigung ich verfallen bin."
Das erste sexuelle Erlebnis des armen Mädchens eine Infektion!
Dann erfolgte die homosexuelle Verführung und das heterosexuelle
Strombett verödet. (Die schon einmal betonte Homosexualität der
Prostituierten.) Auch der Alkoholismus, offenbar um ihre Sehnsucht
nach wahrer Liebe zu betäuben. Daß der Haß gegen den Vater eine
Rolle spielen muß, daß dieser gegen den Trinker und den Mann, der
sie als Bastard in die Welt setzte, leicht auf a 1 1 e Männer überspringt,
ist ja einleuchtend.
Auch die beiden Fälle aus der Beobachtung von Ziemke'-)
sprechen eine deutliche Sprache.
Fall Nr. 42. Künstler. Wurde im Alter von 16 bis 17 Jahren von
einem Verwandten zur Onanie verführt, die er ein Jahr lang regelmäßig
wöchentlich einmal ausübte. Mit 18 Jahren zum erstenmal Verkehr mit dein
nnderen Geschlecht, wobei er sich eine Gonorrhöe holte, später noch
einmal Koitus mit einer Prostituierten: niemals Interesse für das weibliche
Geschlecht, dagegen hatte er schon alß 9jähriger Junge Gefallen am Anblick
der Genitalien von Männern, bekam dabei Erektion. Die ersten sexuellen
Träume waren, wie er sicher angibt, homosexuellen Inhaltes und blieben
auch später so. Hat später wiederholt sexuellen Verkehr mit anderen Männern
gehabt, fühlte sich immer frisch und lebendig danach, dagegen hatte er
einen Ekel vor dem normalen Geschlechtsakt. Sein Sexualobjekt waren
Männer mittleren Alters. Kennt die Literatur über Homosexualität.
1) Beiträge zur Lehre der konträren Geschlechtsempfindung. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. u. Path., 1911.
'•) Zur Entstehung sexueller Perversitäten und ihrer Beurteilung vor Gericht.
ArchiT f. Psychiatrie, Bd. 51, 1913.
18*
276 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Fall Nr. 43. Früherer Offizier, 38 Jahre alt, die Mutter soll nervös ge-
wesen sein. Als Kind auffallend schüchtern, zurückhaltend gegen Alters-
personen und Fremde. Auf dem Gymnasium zweimal sitzen geblieben, ging
mit dem Primanerzeugnis ab, besuchte die Fähnrichspresse und bestand das
Offiziersexamen. Wurde wegen Mißbrauchs der Dienstgewalt nach einigen
Jahren aus dem Heere entlassen, ging nach Südwest-Afrika, wurde Farmer
und Frachtenfahrer und beteiligte sich als Freiwilliger an verschiedenen
kleinen Aufständen.
Die ersten sexuellen Erregungen traten im 12. Jahre ein, bis dahin
will er überhaupt von geschlechtlichen Dingen noch nichts gewußt haben.
Damals hatte er ein Erlebnis, das seine Aufmerksamkeit zum ersten Male auf
das Geschlechtsleben lenkte; er spielte mit seiner jüngeren Schwester und
einem 10jährigen Vetter Menagerie und saß dabei auf dem Rücken des Vetters.
Als er anfing, in unbändiger Weise auf dessen Rücken Reitbewegungen zu
machen, merkte er,. daß ihm das Glied steif und er vorn naß wurde, wobei
er angenehmes Gefühl hatte. Von der Bedeutung des Vorganges hatte er keine
Ahnung, schämte sich aber, anderen etwas davon zu erzählen. Sehr bald ver-
suchte er, ähnliche Situationen absichtlich herbeizuführen; wenn ihm dies ge-
lang, suchte er auch die Ejakulation zu erreichen. Er versicherte, daß er
damals weder zu seinem Vetter, an dem allein er seinen Trieb befriedigte,
noch zu anderen Männern oder Knaben eine besondere Zuneigung empfunden
habe, es sei ihm lediglich darauf angekommen, die Ejakulation hervorzurufen.
Erst später, während seiner Gymnasialzeit, wo er Gelegenheit fand, sich in
gleicher Weise zu befriedigen, habe er an einem Altersgenossen, einem kräftigen
und hübschen Jungen, Gefallen gefunden und von nun an mehr und mehr den
geschlechtlichen Vorgang mit der Person des passiven Teils in Beziehung ge-
bracht. Schon als er den Knaben kennen lernte, habe sich ihm die Vorstellung
aufgedrängt, daß er an ihm gern seinen Geschlechtstrieb in der ihm eigen-
tümlichen Weise befriedigen möchte. Unter irgend einem Vorwand habe er sich
beim Spielen auf den Rücken des Freundes gesetzt und Reitbewegungen ge-
macht, bis Ejakulation erfolgte. In der Folge fand er sehr häufig Gelegenheit,
mit Altersgenossen in der von ihm gewünschten Weise zu verkehren. Nach
Alkoholgenuß war es ihm besonders schwer, seinen Trieb zu zügeln;
so kam es, daß er sich häufiger mit Soldaten einließ und eines Tages angezeigt
wurde, was zu seiner Dienstentlassung führte. Um sich von seiner unnatür-
lichen Neigung zu heilen, knüpfte er ein Verhältnis mit einem Mädchen an,
verkehrte auch einige Male ohne Genuß in normaler Weise mit ihr, indem
er sich die ihm gewohnte Situation bei Männern vorstellte, und holte sich dabei
eine Gonorrhöe. Er ging dann nach Südwestafrika, konnte aber auch
dort nicht Herr seines Triebes werden, verging eich wiederholt an jungen
Hottentotten und wurde schließlich zu Gefängnis verurteilt und aus dem Lande
gewiesen.
In diesem Falle scheint die Gonorrhöe der heterosexuellen
Periode ein Ende gemacht zu haben.
Aus meinen Sprechstunden erinnere ich mich noch einiger Fälle,
in denen die Homosexualität nach einer Gonorrhöe aufgetreten war. Ich
besitze darüber keine ausführlichen Aufzeichnungen. Es gab nämlich
eine lange Zeit, in der ich an die angeborene Homosexualität im Sinne
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 277
Hirschfelds glaubte und alle derartigen Patienten zurückwies und mich
mit ihnen nicht analytisch beschäftigte. Damals stand ich in homo-
sexuellen Kreisen als ihr Vertrauensmann in großem Ansehen. Seit ich
gelerot habe, daß die Homosexuellen bisexuelle Neurotiker mit ver-
drängter Heterosexualität sind, ist der Zulauf solcher Menschen viel
spärlicher und sie kommen meistens nur, wenn sie mit dem Gesetz in
Konflikt kommen. Die Solidarität der Homosexuellen und ihr Wille zur
Homosexualität gehen Hand in Hand. Ihre geheime Organisation ist
vorzüglich, und selbst wo feste Organisationen fehlen, kennen sie sich
und empfehlen einander Freunde und Genossen. (
Fall Nr. 44. Dr. S. K., ein 32jähriger Arzt, ledig, erzählt mir, daß er
eine ausgesprochene heterosexuelle Vergangenheit hatte. Allerdings sei das
Verlangen damals rein physisch gewesen, und die seelische Beteiligung hätte
damals vollkommen gefehlt. Er infizierte sich als Schiffsarzt in einer Hafen-
stadt mit schwerer Gonorrhöe, die ihn durch sechs lange Monate quälte. Er
hatte alle möglichen Komplikationen: Epididymitis, eine Posterior, Prosta-
titis und zuletzt einen gonorrhoischen Gelenksrheumatismus. Seit dieser In-
fektion hatte er einen unüberwindlichen Ekel vor jedem Weibe. Es war in
Alexandrien, da kam er zufällig in die Kabine und beobachtete, wie ein Schiffs-
leutnant einen eingeborenen Knaben pädizierte. Er wußte es, daß die Knaben
immer in den Hafenorten an Bord kamen und sich den homosexuellen Männern
offerierten. Er bekam beim Anblick der Szene einen' furchtbaren Brechreiz
und wollte den Verkehr mit dem Kollegen abbrechen. Allein dieser offenharte
eich ihm und erzählte ihm, er wäre durch Verführung homosexuell geworden
und seit jener Zeit bei Frauen absolut impotent. Er bat ihn, das Geheimnis
zu wahren und ihn nicht zu verraten. Es war der einzige Intellektuelle, mit
dem er an Bord gern verkehrte. Nach einigen Wochen hatten sie ein Verhält-
nis miteinander. „Ich lernte erst jetzt kennen, was Liebe ist, und war nie so
glücklich wie damals. Ich konnte nun meine heterosexuelle Vergangenheit
nicht begreifen. Doch las ich in den Tagebüchern von Platen, daß er als
Jüngling auch ein Mädchen namens Euphrasia liebte und erst später erkannte,
wohin sein Geschlechtstrieb tendierte. Bei mir war es ähnlich. Ich war 6chon
homosexuell geboren und erst meine Erlebnisse haben mir die Augen geöffnet."
Hier leiten die Gonorrhöe und die leichte Gelegenheit der Tropen-
reise die Entstehung der Homosexualität ein. Aber täuscht sich der
Kollege nicht über die Stärke seiner homosexuellen Einstellung? Inter-
essant ist, wie sofort die homosexuelle Neigung durch psychische
Faktoren verschönert und idealisiert wird. Zeigen doch die Homo-
sexuellen mitunter einen stärkeren Liebeswahnsinn als die Hetero-
sexuellen. Solche Grade von Liebesraserei wie unter Homosexuellen
kann man unter den Heterosexuellen kaum beobachten. Es i,st eine
Flucht in die Homosexualität, ein Versenken in die eine Richtung,
welche als Versuch der Psyche aufzufassen ist, alle anderen Ein-
stellungen in den Wogen der großen Leidenschaft untergehen zu lassen.
Sehr häufig werden wir bei Homosexuellen der Behauptung begegnen,
278
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
ihre heterosexuelle Neigung sei nur physisch gewesen.1) Seelisch
könnten sie nur homosexuell lieben. In der Tat sieht man, daß viele
Männer ihr Bedürfnis nach seelischer Liebe vollkommen zu Freund-
schaft sublimieren, während die Frau ihnen das Instrument der Sünde
(instrumentum diaboli) bleibt.
So erzählt ein homosexueller Patient von Bloch, der schon des-
halb interessant ist, weil er sich an seine heterosexuelle Periode
erinnert:
„In welchem Alter die geschlechtlichen Neigungen auftraten, ver-
mag ich nicht anzugeben. Der Geschlechtstrieb ist auf den Mann gerichtet.
Er war vor und während der Pubertätszeit vollkommen unbestimmt,
ich glaube sogar, ich hegte in dieser Zeit den "Wunsch, einmal den Akt
mit einem Mädchen ausüben zu dürfen. Liebe war das aber nicht, sondern
ein rein physisches Verlangen, die seelische Seite des Triebes fehlte in
der Zeit noch vollkommen. Der Trieb erstreckt sich nur auf den Jüngling.
Ich habe bisher weder weiblichen noch männlichen Geschlechtsverkehr
gehabt, glaube aber, daß ich zum normalen Akt fähig wäre; aber ein
Genuß wäre es mir nicht, sondern nichts weiter als Onanie. Es besteht
vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht, aber
kein Haß oder Ekel.. Die Liebesträume bezogen- sich stets auf Personen
desselben Geschlechtes. (Bloch I.e. S. 566.)
Auch bei Frauen tritt oft die Homosexualität nach einer In-
fektion auf:
Fall Nr. 45. Fräulein Erna, 42 Jahre alt, Schriftstellerin, zeigt auffallend
männliche Züge, benimmt sich burschikos wie ein Mann, raucht, trinkt, ist
Vorkämpferin für Frauenbewegung, Stimmrechtlerin. Behauptet, angeboren
homosexuell zu sein, spielte schon als Kind nur männliche Spiele, war wilder
als alle Brüder. Galt immer als verdorbener Bub. Hatte keine Ahnung von
ihrer Homosexualität. War schon sehr früh Onanistin und hatte schon mit
15 Jahren ein Verhältnis mit einem Offizier, der sie deflorierte. Behauptet
aber, es wäre alles rein, sinnlich gewesen. Hat auch bei Männern Orgasmus
gehabt. Wurde mit 19 Jahren von einem Offizier infiziert. Seit da-
malsein heftiger Ekel gegen jeden Mann. Mit 22 Jahren
faßte sie eine schwärmerische Liebe zu einer Freundin. Sie hatten ein Verhält-
nis, bei dem sie den Mann spielte. Sie schnallte sich einen künstlichen Phallus
um, trug im Hause Männerkleider. Es war eine regelrechte Ehe. „Seit jener
Zeit weiß ich erst, was Liebe heißt. Die Männer habe ich nur begehrt. Es
war eine rein physische Angelegenheit. Nun liebe ich schon seit zwanzig
Jahren nur Frauen." Hatte sehr viele Verhältnisse nach der ersten „homo-
sexuellen Ehe", die nur drei Jahre dauerte, da ihre Freundin ihr untreu
wurde und bald darauf heiratete.
')' Wie wir später sehen werden, kommt diese Einstellung daher, daß sie ihre
ganze heterosexuelle seelische Erotik an die Familie fixiert haben. Heterosexuelle Männer
beschränken sich in dieser Lage oft nur auf die physische Befriedigung bei Dirnen,
während sie bei anderen Frauen impotent sind.
Tardive Homosexualität. - Bedeutung der sexuellen Infektionen. 279
Wie beweisend sind erst die Fälle, in denen die homosexuelle
Einstellung nach einem schweren Trauma entsteht! Nicht immer ist
es die Gonorrhöe. Oft sind es ganz andere Erlebnisse, wie ich aus
einigen Beobachtungen beweisen kann. Doch lassen wir zuerst einen
Fall Krafft-Ebings für diese Tatsachen sprechen:
Fall Nr. 46. Fräulein X., 22 Jahre alt, gilt als Beaute, wird um-
schwärmt von der Herrenwelt, ist eine entschieden sinnliche Natur, wäre wie
geschaffen zu einer Aspasia, lehnte aber alle ihr gemachten Anträge ab. .Nur
für einen ihrer Verehrer, einen jungen Gelehrten, zeigte sie Entgegenkommen,
wurde intim mit ihm, gestattete ihm Küsse, aber nicht wie ein
1 i e b e n d e s W e i b, und als Herr T. einmal dem Ziele seiner Wünsche sich
nahe glaubte, bat sie unter Tränen, ihr so etwas nicht anzutun, da sie dazu
nicht etwa aus moralischen Gründen, sondern austiefereneeelischen
absolut unfähig sei. Auf das erfolglose Rendezvous folgten briefliche Konfi-
denzen, aus welchen sich der sichere Schluß auf konträre Sexualempfindung
ergab. ' Fräulein X. stammt von einem dem Potus ergebenen Vater und von
hysteropathischer Mutter. Sie ist von neuropathischer Konstitution, hat vollen
Busen, ist die äußere Erscheinung eines selten schönen Weibes, wirkt aber
auffällig durch burschikoses Wesen, hat entschieden männliche Neigungen,
turnt, reitet, raucht, hat strammes Auftreten und entschieden männlichen
Gang. Neuerlich ist sie auffällig geworden durch schwärmerische Freund-
schaftsverhältnisse für junge Damen. Sie hat eine solche bei sich, teilt mit
ihr das Lager. Bis zur Pubertät will Fräulein X. sexuell ganz indifferent ge-
wesen sein. Mit 17 Jahren machte sie in einem Badeort die Bekanntschaft
eines jungen Ausländers, der durch seine „königliche" Gestalt einen
faszinierenden Eindruck auf sie machte. S ie war glücklich, mit ihm
einen Abend hindurch tanzen zu dürfen. Am folgenden Abend in
der Dämmerung wurde sie Zeugin einer emporenden
Szene - sie sah nämlich jenen entzückenden Mann
von ihrem Fenster aus im Gebüsch futuare more
bestiarum mulierem quandam inter mens t r u at 1 o nem.
Adspectu sanguinis currentis et libidinis quasi
bestialis viri fühlte sich Fräulein X ganz entsetzt,
wie vernichtet, hatte Mühe, ihr seelisches Gleich-
gewicht wieder zu erringen, war eine Zeitlang schlaf-
und appetitlos und sah in dem Manne von nun an den
Inbegriff der Gemeinheit.
Zwei Jahre später näherte sich ihr in einem öffentlichen Garten eine
junge Dame, lächelte sie an und warf einen ganz eigentümlichen Blick
auf sie der ihr tief in die Seele drang. Am folgenden Tage trieb es die Ä.
förmlich diesen Park wieder aufzusuchen. Die Dame war schon da, •schien
auf sie zu warten. Man begrüßte sich wie alte liebe Bekannte, plauderte,
scherzte, gab eich täglich neue Rendezvous, die sich, als die Jahreszeit un-
günstig wurde, im Boudoir der jungen Dame fortsetzten. „Eines iages,
berichtet Fräulein X. in ihren Konfidenzen, „führte sie mich zu ihrem Diwan,
und während sie 'sich setzte, ließ sie mich zu ihren Füßen gleiten, bie
heftete ihre scheuen Augen auf mich, strich mir die Haare aus der btirn
und sagte: „Ach, wenn ich dich nur einmal so ordentlich heb haben durfte.
280 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Darf ich?" Ich bejahte, und während wir nun so nebeneinander saßen und
uns in die Augen schauten, glitten wir hinüber in jene Strömung, wo es
kein Zurück mehr gibt. — Sie war bestrickend schön. Für mich war dies
alles neu und berauschend, man gab sich hin, voll und ganz ungehemmt im
glühendsten Rausch weiblichen Sinnentaumels. Ich glaube nicht, daß je ein
Mann das zauberhaft Berauschende, Zarte und Pikante trifft — der Mann
ist doch zu wenig feinfühlend, zu wenig sensitiv. Unser wildes Spiel
hatte so lange gedauert, bis ich ermattet zurücksank, kraftlos, entnervt.
Ich lag, durch diese Erschlaffung eingeschlafen, auf ihrem Bette, als mich
plötzlich ein unsagbares, nie gekanntes Gefühl jäh emporfahren ließ — ein
Schauer durchrieselte meinen ganzen Körper, ich sah J. auf mir — cunni-
bJiguin perhciens - es war für sie der höchste Genuß, tandem mihi non
hcebat altrum quam osculos dare ad mammas — wobei sie jedesmal in kon-
vulsivische Zuckungen geriet."
Fräulein X. bekannte noch, daß sie in diesem homosexuellen Verkehr
sich immer als Mann dem Weibs gegenüber fühlte und daß sie, faute
de mieux, einmal einen ihrer Anbeter zum Kunnilingus zuließ. (Kraft t-
Ebing, 1. c. Beobachtung 165.)
Man versetze sich in die Lage einer exaltierten Natur, wie dieses
Mädchen es war. Sie macht den ersten holden Wahn der Liebe durch,
sie ist im Begriffe, ein Weib zu werden, sie findet „ihn" königlich,
ihn „den Herrlichsten von allen", und plötzlich muß sie erleben, daß
sich dieser Gott als ein Tier erweist. Eifersucht und Empörung
mußten sich bei ihr zu einem so gewaltigen Affekt vereinen, daß sie
von einem namenlosen Haß gegen alle Männer befallen wurde.
Wie viele Frauen mögen auf diese Weise zu Urlinden geworden
sein! Man ziehe auch in Betracht, daß die homosexuelle Liebe bei
vielen Frauen sich nur in Küssen und Umarmungen äußert und ihnen
ästhetisch schöner erscheint als der Erguß der heterosexuellen. Die
Angst vor dem Phallus ist ein Phänomen, das sehr leicht durch irgend
einen zufälligen infantilen Eindruck entstehen kann. Die X. wird aller-
dings auch in der homosexuellen Liebe nicht bloß Ästhetin, aber man
horche auf ihre Worte: „Der Mann ist zu wenig feinfühlend!"
Dieser hochinteressante Fall zeigt uns die Entstehung "der Homo-
sexualität durch ein Trauma, das allerdings auf das sensitive, schwär-
merische Wesen ganz außerordentlich erschütternd wirken mußte und
die vorhandene Anlage zur Homosexualität verstärkte. Aber noch
immer ist sie eigentlich bisexuell, und es erscheint mir nicht ausge-
schlossen, daß sie den Horror vor dem Manne überwindet. Zu be-
denken ist, daß der Vater ein Potator war und daß sie möglicherweise
auch im Hause Szenen erlebt hat, welche der geschilderten ähnlich
waren. Wie schade, daß dieser Fall nicht analysiert wurde! Trau-
matischeSzenenim vorgeschrittenen Alterwirken
besonders stark, wenn sie sich aus ähnlichen Er-
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 281
lebnissen der Kindheit ihre infantile Resonanz
holen. Und ausgeschlossen ist es nicht, daß diese Patientin die
ganze Szene nicht erlebt, sondern nur halluziniert hat,
daß sie eine einmal in der Kindheit erlebte Szene nun in der Phantasie
noch einmal erlebte.
Eine bemerkenswerte Parallele zu diesem Falle bietet die nächste
eigene Beobachtung.
Fall Nr. 47. Frl. £.' S. kommt mit 32 Jahren wegen verschiedener
Zwangsvorstellungen in meine Behandlung. Sie gesteht, daß sie eine Urlinde
sei und sich nie zu Männern hingezogen gefühlt habe. Ihr Vater, schon
drei Jahre tot, war ein schwerer Potator, die Mutter lieb, bescheiden, in
keiner Hinsicht neurotisch. Unsere Patientin hatte schon einige Male Ge-
legenheit gehabt, sich zu verheiraten, aber sie zieht sich immer vor den
Männern scheu zurück, wenn sie ihr näher treten wollen. Eine gewisse
Neigung hat sie für ältere verheiratete Männer und sie versteht es, wie man
seine Freundin mit ihrem Manne betrügen könne. „Ich habe Pech gehabt''
— sagt sie — „wenn mir schon ein Mann gefallen hat, so war er an eine
Freundin vergeben." Wirklich verhebt war sie nur in Mädchen und in Frauen.
Ihre erste Schwärmerei war eine Lehrerin, welche sie auch in der Wohnung
besuchte. Diese Lehrerin wollte, daß das reiche Mädchen ihren Bruder heiraten
sollte, und brachte die beiden immer zusammen. Der Bruder gefiel ihr, weil
er der Geliebten ähnlich sah. War die Schwester nicht im Zimmer, so lang-
weilte sie sich mit dem Verehrer und wurde einsilbig, so daß die Unter-
haltung stockte. Der Lehrerin sandte sie Blumen und machte ihr gern
kostbare Geschenke. Es war ihre Sehnsucht, mit der Lehrerin einmal in
einem Bette zu schlafen und sie träumte oft davon. Sie machte ihr sogar
den Vorschlag, mit ihr zusammen eine Reise zu machen. Die Lehrerin konnte
nicht fahren und zog sich sogar zurück, weil ihr die Huldigungen ihrer
Schülerin doch zu stürmisch schienen. Sie litt auch unter der Eifersucht
ihrer Verehrerin, die ganz krank wurde, wenn auch andere Mädchen zu ihr
kamen. Allerdings gab es in der Klasse einen ganzen Bund, der die Lehrerin
verehrte.
Später liebte sie eine Freundin, und sie küßten sich unzählige Male,
wobei sie ein herrliches, heißes Gefühl durchströmte. Der Kuß eines Vetters
hingegen ließ sie ganz kalt. Sie habe nun mal für Männer nichts übrig.
Sie wußte lange nicht, daß sie homosexuell sei, aber daß sie anders sei als
die anderen Mädchen, das war ihr schon in der Kindheit klar. Sie war
immer wild wie ein Bub und die Mutter sagte ihr oft: In dir stecken zehn
schlechte Knaben. Sie kletterte auf alle Bäume, war wild und ausgelassen
und spielte am liebsten mit den Knaben, wollte nicht mit Puppen spielen,
bat um ein Reitpferd und ein Schießgewehr, so daß der Vater ganz ver-
zweifelt war und manchmal ausrief: Die ist wirklich ein verdorbener Bub!
In der Analyse treten aber zahlreiche homosexuelle und heterosexuelle
Erlebnisse aus der Kindheit hervor. Sie hatte noch mit 12 Jahren ein Er-
lebnis mit einem Vetter, der des Nachts zu ihr ins Bett kam und mit ihr
spielte. Sie könne sich nicht erinnern, ob es zu einem Koitus gekommen
wäre. Auch mit Gespielinnen hatte sie verschiedene Abenteuer. Sie gesteht
auch, daß sie schon seit dem 12. Jahre, von einem Fräulein verführt, onanierte
282 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
und daß sie sich früher immer vorgestellt habe, daß ein Mann mit ihr den
Koitus ausführe. Ja, noch mit 16 Jahren war sie in einen Freund ihres
Vaters bis über die Ohren verliebt. Er war viel jünger als der Vater und
war aus der gleichen Burschenschaft.
Während sie erst über den Vater nur sehr anerkennende Äußerungen
macht (das Trinken wäre nicht so arg gewesen) und die Erinnerungen von
seiner Liebenswürdigkeit, Milde und seinem Ansehen sprechen, beginnt sich
allmählich ein immer stärker anschwellender Haß zu melden. Der Vater
habe sie eigentlich in schlechten Verhältnissen zurückgelassen. Jeder habe
sie für Millionäre gehalten, weil der Vater ein so großes Haus geführt habe.
Nach seinem Tode zeigte es sich, daß er das Kapital angegriffen hatte,
und daß nur ihre Mitgift intakt war, die groß genug war, daß sie und
die Mutter bescheiden leben konnten. Die Mutter sei immer eine Märtyrerin
gewesen. Der Vater hielt es die letzten zehn Jahre mit der Köchin im Hause.
Es war dies eine dicke, unförmige, ordinäre Person. Die Mutter und sie
waren eigentlich geduldet. Einmal hatte die Mutter versucht, die Köchin
hinauszuwerfen, da wurde der Vater roh und fast gewalttätig und wies der
Mutter die Türe: Sie könne mit ihrer Tochter gehen, wohin sie wolle. Die
Köchin war dann so frech und unausstehlich, daß die arme Mama tagelang
vor sich hinweinte und sich schließlich in das Los ergab. Erst als der
Vater schwer krank Wurde, konnte man die Köchin aus dem Hause weisen.
Die kecke Person machte noch einen Prozeß, weil der Vater ihr angeblich
eine Rente und lebenslängliche Versorgung versprochen habe. Sie verlor den
Prozeß, weil der Vater, auf dem Krankenbette einvernommen, diese An-
gaben als völlig erlogen bezeichnete. Noch mehr erzählt die Patientin, er-
innert sich aber nicht, daß sie je etwas von Intimitäten zwischen dem Vater
und der Köchin gesehen habe.
Ihre Träume jedoch weisen darauf hin. So träumte sie unter anderem :
Ich gehe vorsichtig in die Küche und finde die Köchin dorten
nicht. Dann steige ich leise über die Hintertreppe in die Mansarde
und sehe durch das Schlüsselloch, wie die Köchin mit dem Kutscher
in einem Bette zusammen liegen.
Sie erinnert sich, daß der Kutscher noch da war, als die Köchin jünger
war, und daß der Vater ihn entließ. Er lauerte einmal Papa auf, als er aus
dem Wirtshause kam, und wollte den Papa überfallen. Papa war aber stärker
als der Knecht und warf ihn so zu Boden, daß er ein Bein brach. Doch
glaubt sie, daß man in der Gegend nicht den Grund des Streites erfuhr,
sondern annahm, daß der Knecht sich nur für seine Entlassung rächen wollte.
Schließlich gesteht sie mir, daß sie mir ein Erlebnis zu berichten
habe, an das sie lange nicht gedacht habe. Sie wollte es mir eigentlich
schon längst erzählen, wurde aber durch eine unerklärliche Scheu davon ab-
gehalten. Sie war sechzehn Jahre alt, als sie hörte, wie der Vater aus seinem
Studierzimmer die Mansarde hinaufstieg. Das Stubenmädchen hatte an
diesem Tage Ausgang und die Mutter lag unwohl zu Bette. Sie legte die
Schuhe ab und kroch leise die Stiege hinauf. Die Türe in das Dienstboten-
zimmer stand offen. Der Vater war leicht berauscht und auch die Köchin,
die heimlich immer etwas Schnaps trank, schien nicht nüchtern zu sein. Im
Zimmer brannte eine Kerze und die Stiege war dunkel. Sie konnte alles
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 283
genau sehen. Sie sah nun, daß pater membrum suum in os ancillae immisit.
Der Anblick seines roten, leidenschaftlich verzerrten Gesichtes war ihr so
widerwärtig und so aufregend, daß sie es im Leben nicht vergessen kann.
Wenn sie heute daran denkt, so müsse sie brechen. (Sie kämpft während der
Erzählung mit heftigem Brechreiz.) Nach diesem Erlebnis erkrankte sie an
einem nervösen Magenleiden, das sich hauptsächlich in nervösem Erbrechen
äußerte. Noch im letzten Jahre kam es zu Perioden, in denen sie kaum einen
Bissen Fleisch herunterwürgen konnte und Attacken von unstillbarem Er-
brechen hatte.
Nach diesem Erlebnis trat die Liebe zur Lehrerin auf. Diese Erinnerung
determinierte ihre sexuelle Leitlinie und trieb sie zur Homosexualität, weil
sie alle Männer nach dem Typus Vater beurteilte. Ihre Neigung zu ver-
heirateten und älteren Männern (immer platonisch!) geht auch auf die Vater-
imago zurück. Sie suchte einen besseren und edleren Vater.
Wenn sich ihr ein Mann näherte, so kam ihr die Szene in Erinnerung,
die alles Elend ihres Hauses, ihre ganze Schmach und die Erniedrigung ihrer
Mutter, die Leidenschaft ihres Vaters in einem Bilde vereinigte. Sie hatte
diesen Vater, der glänzende Eigenschaften hatte und in der Gesellschaft sehr
beliebt war, verehrt und geliebt wie ihre edle Mutter. Dann mußte sie
diesen Zusammenbruch des Hauses erleben. Mußte das nicht wie eine
Warnung vor den Männern wirken, wie eine Drohung? Mußte es ihr nicht
Angst vor dem Mann und seiner Leidenschaft einjagen? Sie zog sich dann
zurück, weil ihr dies Bild vor Augen stand und ihr sagte: Lasse dich nicht
von einem Manne betören, denn es könnte dir so ergehen wie deiner Mutter!
Was wäre aus diesem braven Mädchen geworden, wenn der Vater andere
Bahnen gewandelt wäre, wenn die Ehe ihrer Eltern glücklich gewesen wäre,
wenn sie diese furchtbare Szene, die doppelt poinlich wirkte, weil sie von
den Brutalitäten der Sexualität keine Ahnung hatte, nicht erlebt hätte? Ich
wage es ruhig zu behaupten, daß sie eine biedere deutsche Hausfrau geworden
wäre, und sich ihre Homosexualität in sanften Bahnen ausgelebt hätte. So
ging sie Verhältnisse mit Mädchen ein und zog sich immer mehr von den
Männern zurück. Sie erlaubte sich auch, Männer zu lieben. Aber sie mußten
stets verheiratet und unerreichbar sein. Dann bestand keine Gefahr für sie..
Als ihr ein Mann einer Freundin, den sie auch seelisch verehrte, erklärte,
er könnte sich ihretwegen von seiner Frau scheiden lassen, floh sie ihn und
suchte sich rasch ein anderes unerreichbares Ideal. Alle diese Idealo waren
praktisch a'sexualisiert und ihre ganze Sexualität lebte sieh bei Frauen aus.
Die Liebe zwischen Frauen erschien ihr rein und er-
haben, während die Liebe der Männer ihr brutal vor-
kam. Selbst der Koitus kam ihr wie eine abscheuliche
Brutalität vor.
Dieses Trauma trat nach der Pubertät auf und hatte eine solche
nachhaltige Wirkung. Es wirft sich die Frage auf, ob die Traumen der
Kindheit auch die individuelle Form des Geschlechtslebens beeinflussen
können. Diese Frage ist längst zugunsten der Ansichten von Binet
entschieden worden, und die Psychanalyse hat manches neue Material
zur Wirkung der Traumen geliefert. Die engere . Freudschule hat dann
die Wirkung der Traumen zuerst überschätzt und auch mancherlei
284 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Vorgänge als Traumen bezeichnet, welche diesen Namen gar nicht ver-
dienen. Ich möchte aber nochmalß davor warnen, die Bedeutung der
Traumen zu unterschätzen. Gewisse geringe fetischistische Neigungen
finden auf diese Weise eine leichte und oft bestätigte Erklärung, wenn-
gleich gerade die schweren Fälle von Fetischismus, wie wir sehen
werden, sich durch die Traumen allein nicht erklären lassen. Hier ver-
sagte die Assoziationshypothese von Bittet vollkommen. Es ist eben
auch zu bedenken, daß der Neurotiker viele Traumen phantasiert, die
gar nicht existiert haben, und aus vielen harmlosen Erlebnissen Traumen
macht, wenn sie ihm in sein System hineinpassen. Er fälscht die Er-
innerung, wie es alle Homosexuellen machen, wenn sie sich eine rein
homosexuelle Lebensgeschichte konstruieren.
Ob aber nicht mancher erste Eindruck für die Zukunft determi-
nierend wirkt? Sagt doch Jean Paul treffend: „Alles Erste lebt ewig
im Kinde!" Ich möchte zwei Beobachtungen von Bloch anschließen,
die uns die Bedeutung des ersten sexuellen Eindruckes trefflich illu-
strieren.
Fall Nr. 48. „Ich war etwa 5 Jahre alt, als ich auf einem Spaziergange
mit dem Kindermädchen in der Anlage sah, wie ein Mann onanierte; ohne
zu wissen, was dies war, beschäftigte dieses Bild meine Phantasie noch viele
Jahre. In meinen Träumen bis zu 14 Jahren spielte das Zusammenleben mit
einem Altersgenossen eine Hauptrolle. Mit 13 Jahren verliebte ich mich in
einen Schulkameraden, der mir jedoch wenig gewogen war; was, mich an
ihm besonders interessierte, war der Umstand, daß er geschlechtliche Auf-
klärung in die Klasse brachte. Durch Wegzug in eine andere Stadt verlor
ich ihn aus dem Gesicht. Obwohl ich von dem eigentlichen Geschlechtsleben
damals noch nichts wußte, suchte ich doch Objekte, welche meine Sinnlich-
keit erregten.
Ein unbekannter Mann von zirka 35 Jahren verführte mich und trieb,
sobald er mich traf, mit mir Päderastie. Ich fühlte wohl das Verwerfliche
in diesem Umgange, war aber zu schwach, als daß ich mich hätte diesem
Einfluß entziehen können. Nach etwa drei Monaten war er verschwunden.
Jetzt wußte ich auch, was Onanie ist, zumal in der Schule sehr viele Aus-
schweifungen vorkamen.
Mit 18 Jahren verließ ich die Schule, und wie "sich nun bei den anderen
Kameraden der Trieb zum Weibe zeigte, so fühlte ich immer mehr, wie
mich alles zum Manne hinzog, öfter versuchte ich, dem Drängen meiner
Freunde nachgebend, mit -Damen der Halbwelt in Berührung zu kommen,
doch hat mich dieses jedesmal mit dem größten Abscheu und Widerwillen
erfüllt. Es ist für mich ein furchtbares Gefühl, wenn ich merke, daß sich
eine Dame für mich interessiert. Um so mehr interessierte mich daher das
männliche Geschlecht. Wenn ich einen Mann liebe, so denke ich dabei nicht
(nur) an die geschlechtliche Vereinigung, sondern ich suche in ihm das zu
lesen, wa's ich selbst zu geben bereit bin: alleiniges Interesse, Treue, selbst-
lose Hingabe; wenn ich einen Mann liebe, kenne ich sonst nichts mehr."
(Bloch, 1. c. S. 565.)
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 285
Hat es nicht den Anschein, als ob dieses Bild, das der Knabe
auf einem Spaziergange sah, der „onanierende Mann", ihn dann in die
homosexuelle Bahn gedrängt hätte? Im vorigen Falle wirkte das
Trauma wie eine Warnung. In diesem aber wirkt es wie ein ewiger
Antrieb, weil ja ein Kind noch nicht die moralischen Abwehraffekte
aufbringt, und die erste Erregung (der Anblick des erigierten Gliedes)
eine außerordentlich starke gewesen sein muß. Das Bild beschäftigte
seine Phantasie noch viele Jahre, es fixierte sich, es bohrte sich in
das Gedächtnis dieses Menschen ein. Im Fall Nr. 47 der K. S. assoziierte
sich das Trauma mit Ekel; es wurde zur Abwehr der Hetero Sexualität
verwendet.1) In diesem Fall assoziierte sich die Erinnerung des Vor-
falles mit Begierde. Es wurde in positiver Form als Antrieb zur
Homosexualität verwendet. Wir sehen, wie sich das Problem kompliziert.
Ich gestehe auch, daß ich lange Zeit keine Klarheit gewinnen konnte,
so lange ich einseitig urteilte und eine Entstehungsmöglichkeit ins
Auge faßte. Nun weiß ich, daß die Wege zur Homosexualität sehr
verschieden sind, daß sie eine eingehendere Besprechung erfordern.
Wir wollen untersuchen, ob psychische Kräfte zur Entstehung jeder
Homosexualität beitragen, ob es also nur eine seelisch bedingte oder
auch eine organische Homosexualität gibt. Man könnte ja alle diese
Fälle als Pseudohomosexualität bezeichnen.
Ich finde als Beitrag zu dieser Frage bei Bloch noch einen Fall,
der uns wieder ein Trauma und auch die determinierende Kraft dieses
Traumas vor Augen führt. Es handelt sich um einen männlichen •
Homosexuellen.
Fall Nr. 49. „Seit meiner frühen Kindheit lag etwas Mädchenhaftes
in meinem ganzen Wesen, sowohl äußerlich, wie (besonders) innerlich. Ge-
schlechtliche Regungen stellten sich bei mir ungewöhnlich früh ein. IJ n-
gefäft sechs Jahre war ich alt, als einmal ein Haus-
lehrer sich auf den Rand des Bettes niedersetzte, in
dem ich im Fieber lag, mich liebkoste und mit seiner
Hand membrum meum tetigit: die dabei entstandene
Wollust war so intensiv, daß sie bis jetzt aus meiner
Erinnerung ni cht -verschwunden ist. In der Schule, wo ich
mich stets durch meine Aufführung und Erfolge auszeichnete, habe ich mir
*3 Das erklärt -uns folgenden Passus bei Hirschfeld (l.c.S.315): „So schrieb mir
- unus e multis - ein urnischer Schriftsteller: „Die gleichgeschlechtliche Neigung
trat ein, trotzdem der erste sexuelle Anstoß weiblicher Art war — eine Kindsmagd
verführte mich — , trotzdem mir das weibliche Geschlecht durch Erziehung von
Jugend an sozusagen auf dem Präsentierteller gereicht wurde und meine Lektüre nur
die Weiberliebe verherrlichte." Ich setze hinzu: Sie trat ein, weil sich für ihn der
erste sexuelle Anstoß mit Ekel assoziierte und weil ihn die Weiberherrschaft zum
Weiberhaß führte.
286
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
zuweilen eine gegenseitige „Betastung" mit verschiedenen Schülern gefallen
lassen. Von welcher Seite ich die ungewöhnliche Intensität des geschlecht-
lichen Triebes geerbt haben mag, weiß ich nicht, ich erinnere mich aber,
daß ich gegen mein 12. Jahr schon sehr viel darunter zu leiden hatte und daß
ich es wie eine Erlösung empfand, als mir ein Kamerad einen einmaligen
Unterricht in der Onanie gab. Dieser „paradiesische" Zustand dauerte in-
dessen nicht sehr lange, und seitdem ich das Unnatürliche und Gefährliche
meines Verfahrens eingesehen habe, führe ich einen furchtbaren und erfolg-
losen Kampf gegen mich selbst.
Ich erinnere mich, daß meine Augen von jeher sich unwillkürlich voll
Sehnsucht auf etwas ältere, vigoröse Männer richteten,
ohne daß ich dieser Tatsache genügende Beachtung schenkte. Ich glaubte,
daß ich nur deswegen der Onanie (deren Wirkung ich in meiner Phantasie
gewiß zum Teil übertreibe) anheimfalle, weil ich nicht die Möglichkeit habe,
mit Frauen geschlechtlich zu verkehren (sonst pflegte ich zuweilen einen
freundschaftlichen Umgang mit jungen Mädchen, die sich zu mir äußerst hin-
gezogen fühlten; ich habe aber immer dafür gesorgt, daß
solche Liebeserregungen im Keime erstickt wurden,
weil ich fühlte, daß es mir unmöglich ist, ihnen entgegen zu
kommen). Ich entschloß mich endlich, bei den Prostituierten, die meinem
ästhetischen und sittlichen Gefühl zuwider waren, Rettung zu suchen, fand sie
aber freilich nicht: entweder konnte ich den normalen geschlechtlichen Akt
überhaupt nicht vollziehen oder es geschah ohne besondere Lust, wobei bald
darauf die Angst vor der Ansteckung eintrat. Zwar hatte ich oft
Gelegenheit, ein „Liebesverhältnis" mit einem Weibe anzuknüpfen, ich tat es
aber nicht und warf mir innerlich meine lächerliche Schüchternheit und mein
zu empfindliches Gewissen vor. Wenn beides auch wahr ist, so habe ich doch
•bei dieser Tatsache den Hauptgrund außer acht gelassen, den nämlich, daß
ich hauptsächlich homosexuell veranlagt bin und daß ich mich vom anderen
Geschlecht physisch fast gar nicht angezogen fühlte.
Fast glaubte ich mich für das geschlechtliche Leben überhaupt nicht
mehr tauglich, als ich eines Tages bemerkte, daß der Anblick eines Membrum
virile mein ganzes Blut in Aufwallung brachte. Ich erinnerte mich nun, daß
dies auch früher zuweilen der Fall war, wenn auch in weniger auffallender
Weise. Ich mußte also im Stillen anerkennen, daß ich doch nicht „wie alle"
bin. Diese Tatsache, die ich früher ahnte und von der ich mich immer fester
überzeugte, versetzte mich in Verzweiflung. Da geschah es. daß ein einfaches
Mädchen sich in mich stark verliebte, und ich ging darauf ein, mit ihm ein
Verhältnis anzuknüpfen. Während dieser Periode, die mehrere Monate
dauerte, habe ich mir meine fortdauernde Zuneigung zu Männern vorgeworfen,
sie ganz zu unterdrücken war jedoch unmöglich. Das Verhältnis mit dem
Mädchen dauerte noch fort, als ich einmal in einer Bedürfnisanstalt einen
älteren Herrn bemerkte, der mir sehr auffiel: er 'sah mich prüfend
an, er neigte sich behutsam, um membrum meum videre, er näherte sich mir
allmählich, bewegte seine leicht zitternde Hand und . . . membrum meum
tetigit. Ich war so betroffen und erschrocken, daß ich bald darauf davonlief
und mich dann einige Zeit hütete, an derselben Stelle vorüberzugehen. Um
so stärker war nachher der Drang, diesen seltsamen Mann wieder zu finden;
dies war auch gar nicht schwer. In dem sinn- und erfolglosen Kampfe gegen
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 287
einen Trieb, der mir mindestens zu einem großen Teil angeboren ist, habe ich
meine besten Kräfte verloren, trotzdem ich schon seit lange eingesehen habe,
daß dieser Trieb an und für sich weder krankhaft, noch sündhaft ist."
(Bloch, 1. c. S. 545.)
Spricht dieser Fall nicht für die Stärke des ersten Eindruckes
und für die Wichtigkeit der bisexuellen Grundlage der Homosexualität?
Der Mann wird von einem älteren Manne verführt und er legt es offen-
bar immer wieder darauf an, von einem älteren Manne verführt zu
werden, der immer die Szene aufführt, die ihm unvergeßlich ist. Obwohl
er sich heterosexuell betätigen kann, bleibt dieser Trieb wie eine
Zwangsvorstellung bestehen und jagt ihn immer wieder älteren Män-
nern in die Arme und immer wieder zu der Form der Befriedigung,
welche die erste in seinem Leben war. Heterosexuelle Regungen werden
unterdrückt. Er gesteht es ja selbst, daß er dafür sorgte, daß
solche Liebeserregungen im Keime erstickt
wurden. Das heißt, er bekämpfte systematisch alle heterosexuellen
Regungen und begünstigte die homosexuellen. Dann kommt er zu der
Erkenntnis, daß er nicht so ist wie alle ... Er ist eben bisexuell und
hat die Gabe, sich bisexuell zu betätigen. Eine genaue Analyse hätte
noch manche interessante Details erklären können. Wir wollten nur
zeigen, wie dieser Mann immer wieder seinen Lehrer (Vater?) sucht,
und wie viel neurotisches Gehaben hinter diesem Triebe steckt.
Sehr merkwürdig ist auch die nächste Beobachtung von Krafft-
Ebing.
Fall Nr. 50. Ein 34jähriger Kaufmann, von neuropathischer Mutter
stammend, wird mit 9 Jahren von einem Schulkameraden zur Onanie verführt.
Auch ein homosexuelles Verhältnis mit seinem Bruder. Fellatio. Urolagnie.
Mit 14 Jahren die erste Liebe zu einem Mitschüler.
Im 17. Jahre tritt eine große Wandlung in seinem
Ideal ein. Er liebt nicht mehr junge, schöne Burschen,
sondern nur dekrepide Greise.
T. führt das darauf zurück, daß er einmal nachts
im Nebenzimmer den damals schon betagten Vater
wollüstig stöhnen hörte, sich dabei sinnlich enorm
erregte, weil er sich den Vater koitierend dachte.
Seither spielen homosexuelle Akte aueübende Greise in seinen Traum-
pollutionen und beim Masturbieren eine hervorragende Rolle. Aber auch unter-
tags erregte ihn der Anblick eines Greises, ganz besonders wenn dieser recht
dekrepid und salopp war, so mächtig, daß e6 zuweilen zur Ejakulation kam.
Versuche im Lupanar mit Weibern mißlangen vollkommen, auch Männer und
Jünglinge reizten ihn nicht.
Vom 22. Jahre ab innige, nur platonische Liebe zu einem Greise, den
er täglich auf seinen Spaziergängen begleitete. Während dieser Spaziergänge
kam es bei T. zur Ejakulation. Um sich von dieser Sklaverei zu befreien,
nahm er sich nach einigen mißglückten Versuchen im Lupanar einen
288 Zweitor Teil. Die Homosexualität.
dekrepiden Greis mit, der vor ihm koitieren mußte.
Dieser Anblick reizte ihn so, daß er potent wurde.
Später wurde der Alte entbehrlich, und er konnte
allein koitieren. Die Freude dauerte nicht lange, er
wurde bald impotent.
Dieser Fall ist in jeder Hinsicht interessant und für unsere Unter-
suchungen von größter Wichtigkeit. Er beweist uns die große deterj
minierende Kraft eines kindlichen Erlebnisses und ein Festhalten an
einer Szene, die immer wieder gespielt wird. Die ganze Libido dieses
Menschen ist bei dieser Szene verankert. Er spielt sie auch im Lupanar,
wenn er sich einen dekrepiden Greis mietet, der vor ihm koitiert. Dieser
Greis wird dann in seiner Phantasie zum Vater, die Dirne wird die
Mutter, und er ist das zuschauende Kind. Dieses Zuschauen bringt ihn
so in Erregung, daß er mit dieser Hilfe bei der Dirne potent ist. Aber
nur so lange, als die reizende Kraft dieser Szene aushält. Dann sinkt er
in seine frühere Impotenz zurück und sucht immer wieder . . . seinen
Vater. Es ist ja ganz klar — und nur Blinde können es nicht sehen,
daß T. den Vater sucht. Sein Wunsch war es offenbar, daß der Vater
auch mit ihm etwas Sexuelles beginnen sollte. Es ist möglich, daß er
sich mit der Mutter identifiziert. Doch dafür haben wir keinen Anhalts-
punkt. Es ist dies deshalb wichtig, weil Sadger und der engere Kreis
um Freud die Rolle der Mutter bei der Entstehung der „echten Homo-
sexualität" betonen, und die Bedeutung des Vaters arg vernachlässigt
wird. Dieser Fall zeigt uns einen „Japhet, der seinen Vater sucht".
Die Spaziergänge mit dem ehrwürdigen Greise sind Neuauflagen der
Spaziergänge mit dem Vater.
Die heterosexuellen Erlebnisse der Jugend kennt dieser Kranke
nicht, da sie ja wahrscheinlich verdrängt wurden. In anderen Fällen
von Krafft-Ebing wird aber die heterosexuelle Periode deutlich hervor-
gehoben. Ich verweise auf die Beobachtung 144. Ich bringe nur den
Anfang dieser Krankengeschichte:
Fall Nr. 51. „Ich bin gegenwärtig 31 Jahre alt, schlank, jedoch ziemlich
kräftig entwickelt, der mannmännlichen Liebe ergeben, daher unverheiratet.
Meine Verwandten waren alle gesund, geistig normal, mütterlicherseits
kamen zwei Selbstmorde vor. Der sexuelle Trieb erwachte in mir im 7. Lebens-
jahre, besonders beim Anblick eines nackten Bauches. Ich befriedigte den
Trieb, indem ich mein Sputum auf meinen Bauch herabüießen ließ. In meinem
8. Lebensjahre hatten wir eine kleine Magd von 13 Jahren. Es bereitete mir
großen Genuß, meine Genitalien mit den ihren in Berührung zu bringen, doch
konnte meinerseits noch kein Koitus zustande kommen. Im 9. Lebensjahr kam
ich zu fremden Leuten und bezog das Gymnasium. Ein Mitschüler zeigte mir
seine Genitalien, wobei ich nur Ekel empfand. Doch befand sich in der
Familie, wohin mich meine Eltern gegeben hatten, ein bildhübsches Mädchen,
das mich — ich war etwas über 9 Jahre alt — zum Beischlaf verführte. Der-
T^rdive Honiosexualitilt. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 289
selbe bereitete mir große Wollust. Mein Penis wurde, obzwar noch klein,
steif, und ich vollzog den Beischlaf fast täglich. Dies dauerte einige Monate
hindurch. Nun brachten mich meine Eltern an ein anderes Gymnasium; ich
entbehrte das Mädchen sehr und begann in meinein 10. Lebensjahre zu
onanieren. Indessen erfüllte mich die Onanie stets mit Abscheu, ich betrieb
sie nur mäßig, empfand jedesmal tiefe Reue, obwohl ich keine nachteiligen
Folgen verspürte."
Dieser Mann empfindet sogar Ekel vor den Genitalien seines
Freundes und Libido beim weibliehen Geschleckte. Er ist auf dem
besten Wege, ein Heterosexueller zu werden. Im 14. Lebensjahr macht
er die Liehe zu einem Mitschüler mit, die keinem Menschen um diese
Zeit fehlt, dem „Normalen" ebensowenig wie dem Homosexuellen. Nach
der Matura verkehrt er mit Dirnen mit großem Genüsse, aber schon mit
Benützung homosexueller Triebkräfte. Soldaten müssen vor ihm
koitieren und der Gedanke, eine Vagina zu besitzen, die ein anderer
Penis vorher berührt hat, erregt ihn. „Indessen Frauen kann ich
niemals ohne Ekel küssen; auch meine Angehörigen küsse
ich bloß auf die Wange" .. . Hinc illae lacrimae! Er sichert
sich gegen die sexuellen Erregungen, die von seiner Familie kommen.
Seine Homosexualität hängt irgendwie mit seiner Familie zusammen.
Die sonderbare Aktion eines Knaben, sich auf den Bauch zu spucken
und sich vorzustellen, der Speichel wäre Sperma, müßte sien analytisch
durch ein traumatisches Erlebnis der ersten Lebensjahre erklären
lassen. Aber deutlich ist die heterosexuelle Einstellung, die allmählich
unter gewissen Einflüssen und Hemmungen in die bisexuelle und homo-
sexuelle übergeht.
Ob die tardive Homosexualität jedesmal durch bestimmte trauma-
tische Erlebnisse zum Vorschein kommt, das konnte ich nicht eruieren,
weil ich nicht in der Lage war, einen solchen Fall eingehend zu ana-
lysieren. Die nächste Beobachtung scheint mir dafür zu sprechen, daß
Erlebnisse von großem Affektwert die latente Homosexualität manifest
machen können:
Fall Nr. 52. Ein 46jähriger Offizier konsultiert mich wegen vollkommener
Impotenz bei Frauen. Die Impotenz dauere schon seit 4 Jahren. Er habe jetzt
eine ihm sehr sympathische Dame keimen gelernt, die sich in glänzenden
materiellen Verhältnissen befinde. Er könnte jetzt ein Glück machen, wenn
er ein ganzer Mann wäre. Auf die Frage nach den Morgenerektionen errötet,
er. Es liege nicht an den Erektionen, die ihm bei anderen Gelegenheiten immer
zur Verfügung stünden. Er sei nur bei Frauen impotent. Schließlich gibt er
zu, daß er seit dem 38. Jahre homosexuellen Verkehr pflege. Seit dieser Zeit
habe das Interesse für Frauen nachgelassen und er sei impotent geworden.
Seine Anamnese ergibt ein'gc wichtige Anhaltspunkte. Er erinnert sich nicht
an homosexuelle Akte und Regungen in der Kindheit und vor der Pubertät.
Er war früh reif und onanierte schon in der Volksschule und interessierte
Stekal, Stomniten des Trieb- und Affokt loben«, n. 2. Au«. ]Q
290 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sich nur für Mädchen. Mit 17 Jahren erster Koitus in einem Lupanar. Seit
damals großes Bedürfnis nach Frauen, aber keine Spur eines homosexuellen
Verlangens. Er hätte dann eine große, Aufregung durchgemacht und wäre
lange deprimiert gewesen. Das wäre knapp vor dem ersten homosexuellen Akt
gewesen.
„Können Sie mir mitteilen, welcher Art diese Aufregung gewesen ist?
„Es ist mir peinlich, davon zu sprechen."
„Sie verlangen doch Hilfe in einer schwierigen Situation. Wie soll ich
diese Situation beurteilen können, wenn Sie mir nicht dazu das notwendige
Material liefern?" ,
„Sie haben ja recht. Aber es • gibt Dinge, über die man kaum reden
kann. Es betrifft nämlich meine Mutter. Doch ich kann mir ja nicht anders
helfen. Ich will ihnen alles erzählen. Ich habe meine Mutter immer verehrt
und hochgehalten. Ich war 38 Jahre alt, als ich telegraphisch an ihr Kranken-
lager gerufen wurde. Sie starb bald nach meiner Ankunft. Ich hatte als
einziger Sohn die Pflicht, ihren Nachlaß zu ordnen. Ich blätterte in alten
Briefen und fand in einer Lade einen Stoß von Liebesbriefen. Ich wollte sie
erst nicht lesen. Dann übermannte mich die Neugierde. Ich dachte: Jeder-
mann liebt einmal in der Ehe einen anderen, weshalb soll es meiner Mutter
nicht gestattet sein, da mein Vater schon starb, als sie noch sehr jung war!
Hätte ich das nicht getan! Ich fand nicht einen, ich fand Hunderte von Briefen
und . . . von vielen verschiedenen Männern. Die Briefe waren so häßlich, so
erniedrigend, 60 zynisch, so empörend, daß ich mir entehrt und vernichtet
vorkam. Ich hatte damals das Heiligste verloren. Vorher wünschte ich mir
immer, eine Frau zu finden wie die Mutter und bei jedem Ideale schwebte mir
die Mutter vor. Nun fand ich, daß sie käuflich und für alle .gemeinen
Handlungen zu haben war. Der Ton, den sich ihre Liebhaber anmaßten, war
so empörend, daß ich mir das Schlimmste denken konnte. Seit damals habe ich
einen Zorn gegen alle Frauen gehabt. Bald darauf erlag ich dem Werben
eines homosexuellen Freundes. Glauben Sie, daß meine Impotenz mit diesem
Erlebnis in Zusammenhang steht? Ich habe schon oft daran gedacht. Mir
fällt immer die Lade ein, die ich bei der Mutter gefunden habe, wenn ich zu
einer Frau gehe. Kann man nach so einem Erlebnis heiraten?"
Also eine tardive Homosexualität, welche durch ein Erlebnis von
größter Tragik eingeleitet wurde. Natürlich war der Mann immer latent
homosexuell. Aber erst das Erlebnis- machte es ihm möglich, eiu
manifest Homosexueller zu werden. Ich kann leider nicht mitteilen, ob
er die Frau geheiratet und wieder heterosexuell potent geworden ist,
weil ich ihn nie wiedergesehen habe.
Den Lesern wird es aufgefallen sein, daß ich in diesem Kapitel
so viele Beobachtungen' anderer Ärzte zitiere. Ich verbinde damit einen
doppelten Zweck. Erstens will ich an fremdem Materiale zeigen, daß es
eine Psychogenese der Homosexualität gibt; zweitens wehre ich mich
gegen die leider sehr verbreitete und in einigen Kritiken geäußerte
Auffassung, daß meine Krankengeschichten dem ,.genius loci" ent-
sprächen. Als ob der Wiener sich in sexueller Hinsicht von dem Nord-
Tardive Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen.
291
deutschen oder Engländer unterscheiden würde! Mein Material stammt
aus der ganzen Welt. Ich habe bisher zwischen zwei
Nationen in sexueller- Hinsicht noch keinen
anderen Unterschied gefunden, als daß sich die
eine besser verstellen kann als die andere.
Ich lasse jetzt zum Schlüsse dieser Reihe, welche uns von der
Wirkung der psychischen Traumen auf die Sexualität berichtet, noch
eine Beobachtung von Pfarrer Pfister1) folgen.
Fall Nr. 53. „Eine 28jährige, moralisch hochstehende Institute-
vorsteherin leidet an heftigem Lebensüberdruß, da sie ihre homosexuelle
Not nicht länger glaubt tragen zu können. Traf sie unterwegs ein junges
Mädchen, so wurde sie von heißer Begierde, es zu küssen, erfaßt. Wochenlang
sah sie die Unbekannte, die vielleicht durchaus nicht besonders anmutig war,
beständig vor sich und konnte nicht mehr schlafen aus Schmerz darüber, daß
sie ihre Kußwut nicht, wie an einigen früheren Freundinnen, stillen kann.
Besonderen Schmerz verursacht ihr die Befürchtung, ein ihr anvertrautes
14jähriges Mädchen durch ihre sinnliche Zärtlichkeit zu homosexueller Gegen-
liebe verführt zu haben, obwohl es nie zu unanständigen Handlungen kam.
Die Kleine zittert vor Erregung, wenn sie umarmt wird, und weint vor Liebes-
gram, wenn sie die Geliebte nicht oft genug sieht.
Unsero Homosexuelle hatte einen körperlich schönen, aber unbe-
deutenden, ängstlichen Vater, der die Zügel des Geschäftes und der Erziehung
ganz seiner energischen und intelligenten Frau überließ. Das Töchterchen
bewunderte die Mutter und beurteilte schon früh den Vater geringschätzig. Als
kleines Mädchen war sie normal. Sie spielte gleich gern mit Knaben und
Mädchen. Mit beiden begegneten ihr ungebührliche Dinge: Mädchen ließen
sich bei dem gefährlichen Doktorspiel unerlaubte Berührungen zuschulden
kommen, doch auch ein kleiner kränklicher Knabe, dem das Kind mit
7—9 Jahren Gesellschaft leisten mußte, gestattete sich ähnliche Delikte. Mit
etwa acht Jahren verliebte sie sich in einen erwachsenen Vetter, der sie oft in
die Luft warf, wobei sie einen „eigentümlichen Eindruck" empfand. Als
Zehn- oder Elfjährige wurde sie von einer 40jährigen
Haushälterin wiederholt mißbraucht. Entschiedene Homo-
sexualität brach hervor, als das Mädchen 13 Jahre alt war. Damals verkehrte
sie viel mit einer Lehrerin, die in manchem der Mutter glich, sie aber an
Bildung übertraf. Die leidenschaftliche Person, die ausgesprochen homosexuell
gerichtet war, überhäufte zwei Jahre lang das Mädchen mit stürmischer
Zärtlichkeit. Damals entwickelte sich in der Kleinen eine wahre Kußwut,
während die von der sexuellen Haushälterin geweckten Begierden zurück-
traten. Einige kleine Liebschaften mit Knaben führten auch zu Küssen, doch
fehlte dabei die Leidenschaft. Jene Verhältnisse wurden mehr der Mode und
Eitelkeit zuliebe angenommen.
In der Pension wurde die einseitige erotische Richtung in glühenden
Freundschaften weiter ausgebildet. Mit 19 Jahren unternahm sie zwei hetero-
sexuelle erotische Versuche, die aber mißlangen. Der erste betrifft einen blut-
jungen Künstler von weiblichem Aussehen. Die Liebe war sehr innig, da»
*) 1. c. S. 169.
19*
292 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
junge Mädchen schwelgte in idealen Gesprächen und tauschte gern Küsse mit
dem Jüngling aus. Nach seiner Abreise kam es zu einer heimweherfüllten
Korrespondenz, .Versprechungen wurden nicht gegeben.
Fünf bis sechs Wochen nach der Trennung vom geliebten Freund ver-
lobte sie sich aus Verzweiflung mit einem wackeren Naturburschen, da sie sich
zu Hause mit einer Verwandten schlecht vertrug und den Plan einer höheren
Ausbildung begraben mußte. Sie glaubte auch Liebe für den Bräutigam auf-
zutreiben, allein gleich nach der öffentlichen Ankündigung ihrer- Verlobung
kam die Angst, etwas Unmögliches unternommen zu haben, über sie. Der
schwerfällige, scheue Mensch gleicht offenbar dem Vater. Sieben Monate lang
heuchelte sie Liebe, brach jeden Morgen Galle und sehnte sich nach dem Tode.
Zuletzt löste sie ihr Verhältnis auf und konzentrierte ihre Gefühle ganz auf
Angehörige ihres Geschlechtes. Sie behielt dabei weibliches Feingefühl und
macht den Eindruck eines echt mädchenhaften Wesens.
Solange sie homosexuell befriedigt war, kümmerte sio sich um Beruf,
Natur, Kunst und Religion wenig; sobald ihre Neigung Hemmungen erlitt,
traten die idealen Interessen stark hervor. Sie selbst verglich diese Schwan-
kungen mit denen einer Wage.
Wenn sie heiß liebte, war sie von sexuellen Erregungen frei. V o m u n-
geliebten Verlobten dagegen wurde sie einige Male
sexuell irritiert, als er in durchaus dezenter Weise mit ihr koste."
Pfis^er teilte nun mit, daß die Dame die Analyse vorschnell abbrach, da
der Heilerfolg zu rasch eintrat. Doch er bringt sehr viel interessantes
Material, unter anderem ihren ersten Traum, der ja immer das Geheimnis der
ganzen Neurose enthält.
Dieser erste Traum lautet:
Eine Katze biß mich vom am linken Zeigefinger und ließ mich
lange nicht los. Dann schwoll der Finger an und sprang bis zum Knochen
auf. Die Sehne war zerrissen, viel Wasser floß heraus. Dann liieß es,
ich bekomme einen steifen Finger. Ich dachte: „Wie schade, jetzt kann
ich nicht mehr Klavier spielen!" Ich erwachte und fand meinen Finger
SO fpst. pincpar-hlnfon rlafl i/»Vi iVin ninVi + l-muin»»«™ 1.^«v,+« "
so fest eingeschlafen, daß ich ihn nicht bewegen konnte.'
„Dem Schlaf ging ein verzweifeltes Gebet voraus, das vorübergehende
Ruhe brachte. Vor der Analyse war das Mädchen äußerst unruhig und sehnte
sich nach der Geliebten, sagte sich aber, daß sie dann nur neues Unglück
über jene brächte."
Die Analyse dieses Traumes, die Pfister leider nicht vollkommen ge-
lungen ist, zeigt uns, daß ihr gesamtes Gefühlsleben unter der Gewalt des
infantilen Erlebnisses mit der Haushälterin steht. Die ersten Einfälle dieser
Träumerin, die sie zu dem Traume in freien Assoziationen vorbringt, beziehen"
sich auf die Haushälterin, die sich hinter der Figur der Katze verbirgt.
ich habe einjnal in einem größeren Atffsatz „Die Darstellung der Neu-
rose im Traume"1) besprochen. In diesem Traume wird das Leiden durch
einen steifen Finger symbolisiert. „Klavier spielen" ist
wieder ein Symbol für den Geschlechtsverkehr und Onanie. Wahrscheinlich
1) Zentralblatt für Psychoanalyse, III. Bd., S. 26.
Tardivc Homosexualität. — Bedeutung der sexuellen Infektionen. 293
hat das Symbol hier die affektative Färbung von der Onanie bekommen. Aber
die heterosexuelle Bedeutung ist gleichfalls durchsichtig (Klavier spielen =
koitieren). Übersetzen wir den Traum, so heißt er:
Die Haushälterin, diese falsche Katze, welche vor den Eltern die an-
hängliche Person spielte, machte mich krank durch ihre lang fortgesetzten
Zärtlichkeiten. '(»Eine Katze biß mich vorn am linken Zeigefinger und ließ
mich lange nicht mehr los.") Das Übel wurde dann immer ärger, in mir riß
etwas Wertvolles (die Fähigkeit, einen Mann zu lieben!) und die Form der
homosexuellen Liebe setzte sich für immer fest (Versteifung!). Nun bin icli
für die Liebe zu einem Manne untauglich, ich kann keine Mutter werden und
keine Familie gründen, was mich schon viele Tränen gekostet hat. (Das viele
Wasser!)
Nun könnte man vielleicht an dieser Deutung zweifeln und sie als will-
kürlich und gesucht bezeichnen. Die Patientin erinnert sich aber an weitere
Details des Traumes, die sie alle mitteilt. Derartige Nachträge sind außer-
ordentlich wichtig, weil sie das am meisten zensurierte, verdrängte Material
enthalten. Sie erinnert sich, daß das Kätzchen sie zuerst in den Fuß beißen
wollte (was ja wegen der Nähe des Genitales von Bedeutung ist). Ferner
erzählt sie die Fortsetzung des Traumes:
Das Wasser lief die Treppe hinunter. Ich lief mit meiner Wunde
zu einer befreundeten Ärztin. Diese kam mir plötzlich in der Nähe eines
Karussels entgegen. Da sagte die Schwester der Verunglückten: „Die
kann dir gleich den Finger in Ordnung bringen." Allein die Ärztin ent-
gegnete: „Es tut mir leid, ich operiere nicht." Sie schickte die Kranke
zu einem Arzte.
Die Auflösung ist nicht schwer. Der Jammer ist groß. Die Tränen
überschwemmen ihr die ganze Seele. (Das Haus als Symbol der Seele!) Sie
suchte eret eine Ärztin ihrer Leiden. Ein Weib soll sie heilen. Das Leben ist
ein Ringelspiel (Karussel), alles dreht sich, sie kann ja noch glücklich werden.
Aber die Ärztin gibt ihr die richtige Antwort. Du brauchst einen Arzt! Nur
ein Mann kann dich heilen! Ich operiere nicht. Ich kann das Weib
in dir nicht erwecken (dich nicht deflorieren?).
Ein weiterer Nachtrag besagt, daß der Finger ein Magazin wie ein
Repetiergewehr bekam. Die Deutung von Pfister, daß es sich um ein
phallisches Symbol handelt und daß die Kranke die Phantasie hat, sie wäre
ein Mann mit einem Phallus, mag ja richtig sein. Eine jede Homosexuelle wird
den Wunsch haben, ihre psychische Homosexualität in eine physische zu ver-
wandeln. Viel wichtiger scheint mir aber eine andere Bedeutung des
Repetierens zu sein. Dies Trauma hatte die Folge, daß sich viele andere
homosexuelle Traumen anschlössen. Das Erlebnis verlangte
nach Wiederholung.
Ich übergehe die weiteren Bedeutungen (Überdeterminationen) des
Traumes, die Pfister mit großem Scharfsinn hervorgehoben hat. Mir handelte
es sich dämm, die determinierende Kraft eines Erlebnisses nachzuweisen.
Freilich stecken hinter dem Erlebnis noch andere Kräfte und es wäre noch
nachzuweisen, warum dies Erlebnis so auf sie wirken mußte, die bestimmte
Konstellation der Familie wäre in Rechnung zu stellen usw. Allein der Traum
weist mit so sicherer Hand auf die Ursache der seelischen Verletzung hin.
294
Zweiter Teil. Die Homosexualität. — Tardive Homosexualität usw.
daß wir uns aus dem einen Profil ihres Leidens das ganze Bild konstruieren
können.
Noch in anderer Hinsicht ist der Fall beweisend. Die Kranke brach die
Analyse bei Pfister rasch ab, weil sie sich geheilt fühlte. Wir kennen diese
Scheinheilungen, welche dazu dienen, die Gefahr der Psychanalyse abzu-
wenden. Diese Kranke will nicht erkennen, daß sie auch heterosexuell fühlt,
ja daß ihr ganzes Sehnen nach der Erfüllung der Mutterschaft geht. Der
Traum sagt ja: Ich will ein Weib sein wie alle anderen Weiber, ich will
Kinder gebären. Rettet mich vor der Gefahr der Homosexualität. — Aber ihr
Bewußtsein will diese Einstellungen nicht sehen. Sie stürzt sich mit Leiden-
schaft in die heterosexuelle Richtung. Pfister glaubt, daß sie sich mit dem
Vater identifiziert. Dann hieße die Szene, in der sie ein Mädchen küßt: Ich
lasse mich vom Vater (der ein schöner stattlicher Mann war) küssen. Aber
auch die Mutter pflegte sie gerne leidenschaftlich zu küssen. So scheinen die
verschiedensten Kräfte tätig zu sein, um bei ihr die Fixierung (Versteifung)
der Einstellung herbeizuführen.
In der Tat! Die Homosexualität gleicht einer Ankylose. Die freie
Beweglichkeit der Sexualität erscheint vollkommen verhindert, eine
einzige Stellung ist fixiert und jede Bewegung ist nur im Rahmen dieser
Fixierung möglich.
Hat die Analyse die Macht, solche psychische Ankylosen aufzu-
heben und die gebundenen Kräfte frei zu machen? Kann sie in diesem
Falle die Angst vor dem Manne beheben, das Bangen vor den Aufgaben
der Weiblichkeit, denen sich die Kranke nicht gewachsen fühlt? Wie
weit reichen die Möglichkeiten der seelischen Orthopädie bei den Homo-
sexuellen? Ich muß meine Leser bitten, mir geduldig durch die kom-
plizierten Untersuchungen zu folgen, ehe wir zur Beantwortung dieser
Fragen schreiten.
Die Homosexualität.
VII.
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. —
Angst, Ekel, Haß und Wut. — Homosexualität und Epilepsie. —
Die Forschungen Sadgers.
Jedermann trügt ein Bild des Weibes
von der Mutter her in sich : davon wird er
bestimmt, die Weiber überhaupt zu ver-
ehren oder sie geringzuschätzen oder gegen
sie im allgemeinen gleichgültig zu sein.
Nietzsche.
Ich habe bei den bisherigen Untersuchungen über Homosexualität
immer wieder nachweisen können, daß die heterosexuelle Richtung beim
Homosexuellen nur gehemmt ist, daß es aber unrichtig ist, zu behaupten,
sie wäre gar nicht vorhanden. Ich habe nachgewiesen, daß es dem
modernen Kulturmenschen unmöglich ist, seine Bisexualität zu ertragen
und daß er entweder seine Hetero- oder seine Homosexualität unter-
drücken muß. Wir mußten uns auch überzeugen, daß die organische
Bisexualität mit der psychischen Bisexualität nichts zu tun hat.
Hirschfeld betont es ausdrücklich, daß er die Homosexualität bei sehr
virilen Männern und sehr weiblichen Frauen konstatieren komite. Das
ergibt, wie Bloch richtig bemerkt, ein Rätsel, das er das Rätsel der
Homosexualität nennt. Die organische Theorie der Homosexualität hat
Schiffbruch gelitten. Man sollte nun glauben, daß sich die Forscher
zu der psychologischen gewendet hätten. Nein! Die psychischen
Kräfte werden unterschätzt, und die heterosexuelle Periode der Homo-
sexuellen wird nicht in Rechnung gezogen. Wenn Hirschfeld schon
betont, es wäre ein Verdienst der Psychanalyse, daß sie bei jedem
Homosexuellen die heterosexuelle Richtung nachgewiesen habe, warum
zieht er aus dieser von ihm anerkannten Tatsache keine Konsequenzen?
Er kommt zu folgenden Schlüssen:
I. Die echte Homosexualität ist 's t e t s ein angeborener Zustand.
IL Dieser angeborene Zustand besteht in einer spezifischen homo-
sexuellen Konstitution des Gehirns.
*°6 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
III. Diese spezifische Gehinikonstitution ist durch ein besonderes
Mischungsverhältnis der männlichen und weiblichen Erb-
substanz gekennzeichnet.
IV. Dieses mannwei bliche Mischungsverhältnis ist häufig vergesell-
schaftet mit stärkerer Labilität des Nervensystems.
V. Zwischen der spezifischen und nervösen Konstitution des
Zentralorgans besteht ein kausaler Zusammenhang.
VI. Alle äußeren Ursachen sind nur wirksam beim Vorhanden-
sein der inneren homosexuellen Konstitution.
VII. Die äußeren Ursachen - Anlässe - sind so allgemeine Er-
SSffftlf^ ? "% d°r Fä,lG die angeb01'ene ^'"osexuele Kon-
stitution früher oder später erwacht und klar in das Bewußtsein tritt.
noch T /l, ",H°T?Ua!ität ist weder *"«**■» noch Entartung,
noch Laster oder Verbrechen, sondern stellt ein Stück der
waturordnung dar, eine sexuelle Variante, wie zahlreiche
r^Sg394.TU " "^ lm Tie'" "mI **!»™**> (mrscMM,
Unser Material hat uns diese Erkenntnisse nicht bestätigen
können. Wie darf Hirschfeld von einem angeborenen Zustand der
Homosexualität sprechen, wenn er an einer anderen Stelle des Werkes
das Regelmäßige Vorhandensein des heterosexuellen Triebes zugestehen
muß? Wie behaupten, daß der urnische Mensch als
Ganzes aus der Tiefe der Individualität empor-
steigt, wenn jede genaue Untersuchung das Gegenteil beweist?
Man merke doch den Gegensatz in den Ausführungen:
q „Man wendet auch hier ein, daß alle diese Abweichungen vom
bexualtypus in der Kinder- und Reifezeit noch keinen sicheren Schluß
u, it°/1noisexuali(ät zulassen, daß diese Lebensperiode ohnehin in ge-
schlechtlicher Hinsicht indifferonziert ist, daß sicherlich oft Knaben
und Madchen, Jünglinge und Jungfrauen vorkommen, die trotz starker
Anorogynie und sexueller Inkongruenzen später völlig heterosexuell
werden. Namentlich dürften die der Homosexualität verwandten Uber-
gangsformen in der Kindheit oft ähnliche Vorstadien wie die
Homosexualität aufweisen; s o z e i gen a u c h d e r Transvestit
Willem r!ra?,SV?titin °ft 9Ch0n in früher Jugend
ihiem Geschlecht nicht entsprechende Züge und
schon als Shf ?£ T** Passiviste"> Succubisten, Maxisten
Skta in f Ä 80hl* ,nännlich' ™ Wiche Aktivisten, Inkubisten,
«t n t. h t M^dchenzeit nicht sehr weiblich gewesen sein, wiewohl
Bie nachher das andere Geschlecht lieben, also heterosexuell geartet sind.
In solchen Fällen pflegt dann aber das Verhalten zu den beiden G<>-
schlcchtern anders zu sein als beim urnischen Kinde
Eins kann jedenfalls als sicher gelten. Ist ein Kind urnisch, so
entwickelt sich aus ihm ein homosexueller Mensch, und zwar mit der-
selben unabänderlichen Notwendigkeit, mit der sich aus dem „Normal-
kinde" ein heterosexueller Mensch entwickelt. So steigt die
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 297
u mische. Persönlichkeit als ein Ganges elementar
aus der Tiefe der Individualität empor." (Hirschfeld,
1. c. S. 121.)
Natürlich, Hirschfeld hat ein sicheres Mittel, jene Fälle, deren
Anamnese die Heterosexualität konstatiert, auszuschalten. Er be-
zeichnet sie als „Pseudohomosexualität" und streicht sie aus der Liste
der echten urnischen Persönlichkeiten. Bloch aber nennt diese hetero-
sexuelle Richtung der typischen Homosexuellen eine Art von „Pseudo-
heterosexualität".1) Auf diese Weise ist eine Beweisführung nicht mög-
lich. Bloch verlangt ja von einer richtigen Theorie der Homosexualität,
daß sie uns alle Fälle erklären könne. Dies kann aber die Hirschfeld -
Theorie vom dritten Geschlechte nicht. Sie läßt sich weder organisch
noch psychologisch begründen und beweisen.
Auch die Forschungen und Ergebnisse von Steinach, die von den
Hirschfeld ianern als unumstößlicher Beweis einer organischen Anlage
ausgenützt werden, beweisen nur die von mir immer behauptete bi-
sexuelle organische Anlage des Menschen. Steinach hat bis heute noch
keine monosexuellen Lebewesen gefunden.
Wie kommt es aber, daß der Homosexuelle sich so völlig vom
geschlechtlichen Partner abgewendet hat? A.Adler hat für alle diese
Fälle die Hypothese der „Angst vor dem geschlechtlichen Partner".
Diese Beobachtung stimmt für eine Anzahl von Homosexuellen sicher,
aber nicht für alle. So einfach arbeitet die Natur nicht, und e i n
Schlüssel allein löst das Rätsel der Homosexualität nicht auf.
Wir können nach den bisherigen Resultaten unserer Unter-
suchungen sagen: Dem Homosexuellen ist der Weg zum anderen Ge-
schlechte versperrt, und zwar durch psychische Kräfte.. Angst, Ekel
und Haß hemmen die Kraft der heterosexuellen Triebe. Damit sind
noch nicht alle Hemmungen erschöpft, und wir werden noch weitere
kennen lernen. Wir müssen uns aber ' mit der Psychogenese dieper
Hemmungen eingehend und ausführlich beschäftigen.
Kann die Angst vor dem geschlechtlichen Partner das Individuum
in die Homosexualität jagen? Diese Frage müssen wir bejahen und
wir können diese Angst aus einer Reihe von Fällen belegen.
') „Übrigens kommt bei Homosexuellen, wo die gleichgeschlechtliche Empfindun;;
<M\-i. nach der Pubertät in bestimmter Weise sich geltend macht, auch eine ganz analoge
Neigung zum anderen Geschlecht vor und während der Pubertät vor. So erzählte mir
ein 23jähriger _ typischer Homosexueller, der «jetzt horror femiuae hat, daß er mit
16 oder 17 Jahren für Mädchen stark geschwärmt habe und ihnen nachgelaufen sei,
übrigens ohne geschlechtliche Begierden. Diese vorübergehende unklare Schwärmerei
Homosexueller für das andere Geschlecht ißt eine Art von „Pseudo-Heterosexualität1-.
(Bloch, 1. c. S. 597.)
298
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Betrachten wir zuerst den Fall von Krafft-Ebing (Beob-
achtung 159) , weil er einfach und durchsichtig ist.
Fall Nr. 54. Frau X., 26 Jahre, 7 Jahre verheiratet, gesteht, daß sie
von jeher mehr zu Personen des eigenen Geschlechtes neige, ihren Mann
zwar achte und gern habe, jedoch vom ehelichen Verkehr mit ihm angewidert
sei. Sie habe es dahin gebracht, daß er seit der Geburt des jüngsten Kindes
ihr ehelich nicht mehr beiwohne. Schon im Pensionat habe sie sich in einer
Weise für andere junge Damen interessiert, die sie nur. als Liebe bezeichnen
könne. Episodisch habe sie sich aber auch zu einzelnen
Herren hingezogen gefühlt, und in letzter Zeit sei
ihrer Tugend ein Kurmacher geradezu gefährlich ge-
worden. Sie lebte oft in Angst, daß sie sich mit ihm
vergessen könnte, und vermeide deshalb, mit ihm allein
zu sein. Das seien aber nur flüchtige Episoden gegenüber ihrer leiden-
schaftlichen Neigung • zu Personen des eigenen Geschlechtes. Küsse, Um-
armungen solcher, intimer Verkehr mit ihnen sei ihre wahre Sehnsucht. Die
Nichtbefriedigung dieser Dränge martere sie und habe großen Anteil an ihrer
Nervosität. In einer bestimmten sexuellen Rolle fühlt sich Patientin nicht
gegenüber Personen des eigenen Geschlechtes, auch wüßte sie mit solchen
nichts anzufangen, als sie zu küssen, zu umarmen, mit ihnen zu koseu.
Patientin hält sich selbst für eine sinnliche Natur. Es ist wahrscheinlich,
daß sie masturbiert. Ihre sexuelle Perversion erscheint ihr „unnatürlich
krankhaft". Nichts im Benehmen und Äußeren dieser Dame deutet auf eine
solche Anomalie. Über ihre Kindheit weiß Patientin nichts von Belang zu
berichten. Sie lernte leicht, war dichterisch und ästhetisch begabt, galt als
ein bißchen überspannt, das Romanlesen und Sentimentale liebend, von neuro-
pathischer Konstitution, äußerst empfindlich gegen Temperatui'schwankungen.
Bemerkenswert ist noch, daß Patientin eines Tages, 10 Jahre alt, da sie
meinte, die Mutter liebe sie nicht, Zündhölzer im Kaffee einweichte und
diesen trank, um recht krank zu werdenund damit die
Liebe der Mutter auf sich zu lenken.
Hier sehen wir die Neigung zu einem heterosexuellen Verkehr,
der aber aus Angst nicht gepflegt wird. Diese Frau mit starker homo-
sexueller Veranlagung, wie schon die Liebe zu ihrer Mutter zeigt,
heiratete einen Mann, bei dem sie frigide ißt, fürchtet aber, mit einem
Manne, der ihr gefällt, allein zu sein, weil er ihr zu gefährlich ist.
Man sieht, wie die ausgesprochene Bisexualität sie dahin führt, sich
in einen Mann zu verlieben, in der Phantasie seine Geliebte zu werden,
daß sie aber fürchtet, die Phantasie in Realität umzuwandeln, daß sie
sich scheut, den heterosexuellen Weg aus „Angst vor der Sünde" zu
beschreiten. Sie nennt dann diese heterosexuellen Neigungen flüchtige
Episoden und gibt sich ihren homosexuellen Phantasien hin. Sie be-
findet sich auf der Flucht vor dem Manne. Sie fürchtet den Mann, den
sie liebt, weil eine starke Liebe eine Unterwerfung unter den Mann
bedeuten würde. Sie flieht den Mann, nicht weil er ihr nichts geben
kann, sondern weil sie ihn fürchtet. Aber wir müßten wissen, wie
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Gcscblechto. 299
diese Flucht vor dem Manne, die sich auch in der Dyspareunie äußert,
zustande gekommen ist. Wie wenig sagen uns solche Kranken-
geschichten, wenn die psychologische Analyse fehlt! Ich habe bei der
Besprechung der Dyspareunie1) ähnliche Fälle besclnieben und dabei
zeigen können, wie sich diese Flucht vor dem Mann entwickelt.
Wir haben von Freud gehört, daß diese Angst eine verdrängte
Libido sei wie der Ekel. Meine Forschungen haben uns gezeigt, daß
jede Angst in erster Linie die Angst vor sich .selbst ist.
Warum aber sollte der Homosexuelle sich vor sich fürchten, wenn
er mit einem Weibe zusammenkommt? Er fürchtet das Übermaß
seiner Sexualität, wenn sie sich mit kriminellen Impulsen verbündet.
Man kann es gar nicht ermessen, wie häufig hinter mancher Im-
potenz und hinter der Homosexualität die Angst vor der eigenen
kriminellen Aggression steckt. Krafft-Ebing beschreibt einen typischen
Bisexuellen, der ein einziges Mal bei einem Weibe Orgasmus empfand.
Das war aber, als er sich ein Stuprum zuschulden kommen ließ. (Be-
obachtung 142, S. 273.) „Merkwürdigerweise hatte er dieses einzige
Mal beim (erzwungenen) Akt ein Wollustgefühl. Gleich nach der Tat
empfand er Ekel. Als er eine Stunde nach dem Stuprum mit demselben
Weib und mit dessen Zustimmung koitierte, hatte er kein Wollust-
gefühl mehr." Das beweist uns, daß sich dieser Orgasmus an die Be-
dingung einer Vergewaltigung knüpfte. Die Angst ist die Angst vor
der Gewalttat, der Ekel der Ekel vor .sich selbst, beide bestimmt, den
Menschen vor Handlungen zu bewahren, gegen die sich sein Ethos
sträubt.
Ich kenne eine ganze Menge von Homosexuellen, die es mir ge-
standen haben, daß sie ein Weib nur koitieren könnten, wenn sie in
großer Wut wären. Dann aber hätten sie Angst vor sich selbst, so
gefährlich wären sie. Einer berichtete mir, er habe das Weib fast er-
drosselt. Andere Homosexuelle fühlen nach einem Koitus eine unaus-
sprechliche Wut. In diesen Fällen ist die heterosexuelle Betätigung
an die Bedingung eines kriminellen Aktes assoziiert. Es bestehen un-
bewußte Phantasien, die Frauen zu stechen, sie zu erdrosseln, zu er-
schlagen. Diese Menschen sind starke Frauenhasser und der Haß ist
immer tödlich.
Ich möchte nur eine einzige einschlägige Beobachtung mitteilen.
Fall Nr. 55. Herr H. K. ist ein bekannter Homosexueller, der besonders
die einfachen Männer bevorzugt. Je kräftiger der Mann ist, desto größer
ist sein Orgasmus. Er wählt mit Vorliebe Packknechte, Lastträger, Möbel-
packer und andere muskelstarke Menschen. Den größten Orgasmus hatte er
*) Im III. Bande der Störungen des Trieb- und Affektlebens.
300 7 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
bei einem Mitglied eines Athletenklubs, der aber einen auffallend kleinen
Penis hatte. Vor Frauen hat er eine so heillose Angst, daß er mit keiner
Frau allein im Zimmer bleibt. Er erinnert sich nicht, jemals für eine Frau
Sinnlichkeit empfunden zu haben. Er versuchte einige Male zu Dirnen zu
gehen, lief aber sofort aus dem Zimmer, als er mit ihnen allein war. Kalter
Schweiß trat ihm auf die Stirn und er eilte davon, als wenn er von tausend
Dämonen gehetzt würde. Die kurze Analyse von einigen Tagen ergibt, daß
es sich um einen typischen Kriminellen handelt, der lange Zeit mit der
Phantasio onanierte, daß er eine Frau erwürgt. („Man sollte alle Frauen
umbringen" . . . ist eine beliebte Redewendung dieses Mannes.) Aber auch
Männer hat er in seinen Phantasien vergewaltigt und die Idee, einem Manne
den Anus aufzuschneiden, sei ihm schon einige Male gekommen.
Die Angst vor den Frauen ist die Angst, er könnte sich vergessen
und eine der Frauen erdrosseln. Aber er hat auch Angst vor den Männern,
das heißt, er fürchtet, er könnte auch einem Mann etwas antun. Deshalb
sichert er sich durch die "Wahl von starken Männern. Sie müssen stärker
sein als er. Dann ist er sicher, daß er sie nicht vergewaltigen kann. In
der letzten Zeit suchte er nach einem Mannweibe, das stärker sein sollte als
er. Offenbar will er auch da geschützt sein . . . gegen eich selbst. Die
Homosexualität erwies sich als Flucht vor seinen kriminellen heterosexuellen
Trieben.
Andere Homosexuelle schützen sich vor dem Weibe mit Ekel. Wie
nahe hier Haß, Angst und Ekel als Schutzmaßregeln zusammenwirken,
mögen die nachfolgenden Beobachtungen von Hirschfeld erweisen:
„Ein Homosexueller teilte mir mit,- daß er zwar mit einem Weibe
ganz gut verkehren könne, nach dem Akt aber eine solche Wut gegen
die Frau habe, daß er einmal hinterher vor einer ausgespien hätte; um
das nicht wieder zu tun, laufe er jetzt immer unmittelbar nach der
Ejakulation so rasch wie möglich aus dem Zimmer."
„Bis zu welcher Höhe sich solche Aversion steigern kann, zeigt
der Fall des homosexuellen Herzogs von Praslin-Choiseul, der
1864 in Paris seine junge Gattin, die Tochter des Generals Sebastian i,
post coitum erdrosselte. Es mag hier hinzugefügt werden, daß
die Mehrzahl der sadistischen Frauen, die masochistischen Männern auf
deren Wunsch die schwersten körperlichen und geistigen Mißhandlungen
verabreichen, in Wirklichkeit homosexuelle Frauen sind, die eine sexuelle
Abneigung gegen Männer haben. Professor Albert Eulenburg sagte mir,
daß die angeblichen Sadistinnen, die er kennen gelernt hat, sich sämt-
lich als homosexuell herausgestellt hätten. Auch ich kenne unter zwölf
Sadistinnen nur drei, die Homosexualität in Abrede stellen." (Hirsch-
leid, 1. c. S. 96.)
Erst hören wir von einem Homosexuellen, der aus Angst vor sich
selbst rechtzeitig davonläuft. Das Anspeien mag der symbolische Er-
satz einer anderen Handlung sein. Bedürfte es noch eines Beweises für
die Richtigkeit meiner Ausführungen, der Fall des Herzogs von Praslin-
Choiseul wäre der klarste, den ich mir wünschen könnte. Natürlich
verwechselt hier Hirschfeld wie so häufig Ursache und Wirkung. Der
Das Verhältnis der Homosexuellen zum audereu Gescblechtc. 30].
Herzog erdrosselte die Frau nicht, weil er homo-
sexuell war, sondern er flüchtete in die Homo-
sexualität, weil er ein Lust m Order war und sich
gegen seine wilden Triebe schützen wollte.
Besonders interessant vom kriminell-psychologischen Standpunkte
sind die Epileptiker, die in den Anfällen ihre gewöhnliche sexuelle
Richtung ändern. Der Epileptiker ist ein Krimineller, der im epi-
leptischen Anfall ein Verbrechen begeht. Meist in der Phantasie, hie
und da kommt es aber auch zu Taten, wie man sie oft gräßlicher nicht
ausdenken kann. Im epileptischen Anfalle lebt- der Epileptiker seine
Kriminalität aus. Der Anfall ist ein Äquivalent des Verbrechens. Ich
muß alle Leser, die sich für diese bedeutsame Frage interessieren, auf
meine Originalarbeit verweisen.1) Ich habe mich sehr gewundert, daß
sie von den Neurologen und Kriminalisten so wenig gewürdigt wurde.
Es ist dies schon das Los der Psychanalytiker. Die hohe Wissenschaft
hat uns ja mit dem großen Bann belegt und so werden unsere Arbeiten'
nicht einmal referiert und finden keinen Eingang in die Literatur, auch
■
wenn sie von grundlegender Bedeutung sind, wie mein Aufsatz über
Epilepsie.
Die Epilepsie, mit Ausnahme der Jackson-Epilepsie, ist eine be-
sondere Form der Hysterie. Auch im hysterischen Anfalle setzen sich
unbewußte Kräfte durch, und das Individuum erledigt verschiedene
Triebregungen mit Ausschaltung des Bewußtseins. Der epileptische
Anfall ist mehr krimineller, der hysterische rein sexueller Natur.
Natürlich kann der epileptische Anfall auch ein sexuelles Verbrechen
(Lustmord) ersetzen, und dies ist sehr häufig auch der Inhalt der An-
fälle. Man wird es dann verstehen, daß Homosexuelle, die vor dem
Lustmorde fliehen, an Anfällen erkranken, in denen sie sich ausleben.
Wir werden ein solches Beispiel bei der Besprechung des Sadismus'-)
ausführlich analysieren. Ich möchte hier nur auf die
interessante Tatsache aufmerksam machen, daß
Heterosexuelle im epileptischen Anfalle homo-
sexuelle Akte begehen und umgekehrt.
Fall Nr. 56. Herr W. A., ein 39jähriger, kräftiger junger Mann aus
der Umgebung Wiens, kommt in meine Behandlung und wird mir jedesmal
von einem Begleiter vorgeführt. Er leidet seit dem 16. Lebensjahre an
Anfällen, fiel schon mehrere Male auf der Straße um. Deshalb will er
nicht allein gehen und spaziert immer in Gesellschaft seines Begleiters,
*) Nervöse Angstzustände. 3. Auflage, S. 523.
2) Band VII der Störungen des Trieb- und Affektlebens.
302 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
eines einfachen Menschen, an den er sich sehr attachiert hat. Er ist jetzt
vollkommen arbeitsunfähig, da es sich herausgestellt hat, daß die Anfälle
viel häufiger kommen, wenn er arbeitet. Mit Hilfe seiner Anfälle hat er
durchgesetzt, daß er von seinem wohlhabenden Vater auf dem Lande gehalten
wird und nichts anderes zu tun hat, als spazieren zu gehen. Er ist sanft
und gefügig, so lange man ihm zu willen ist. Er gerät aber in große Wut,
wenn man ihm widerspricht. Diese Wut zeigt er nicht, sondern beherrscht
sich und hat bald darauf einen Anfall, vor dem er alles rot sieht. ' Er macht
sich heftige Vorwürfe, daß er nichts geworden ist und seine Eltern so kränken
muß. Seine ethische Anschauung ist eine sehr hohe, was differential-
diagnostisch gegenüber der echten Epilepsie von großer Bedeutung ist. Er
jammert über sein verlorenes Leben und möchte gerne geheilt sein. Wenn
es nur einen Weg gäbe, um ihn von dem Leiden zu befreien! Von seinem
Sexualleben erzählt er, daß er ausgesprochen homosexuell 'sei, und ihn be-
sonders Knaben und sehr junge schöne Männer reizen. Der Begleiter ist .
offenbar eine Sicherung gegen seine homosexuellen Regungen. Wenn er Knaben
sieht, die ihm gefallen, klammert er sich an seinen Wärter und simuliert,
daß er Angst habe, es werde zu einem Anfalle kommen. Jetzt auf dem Lande
0 habe er die Anfälle nur des Nachts in seinem Bette. Er erinnert sich nicht
an eine Aura, außer daß er alles rot sieht, und kann sich auch an keinen
Traum erinnern, der den Anfall einleitet und begleitet. Er onaniert zeit-
weilig; immer mit der Phantasie, daß er mit kleinen schönen Jungen
spielt. Ich mache den Eltern den Vorschlag, ihn analytisch behandeln zu
lassen. Bei der Aussichtslosigkeit der bisherigen Therapie hätte er wenigstens
eine Chance, gesund zu werden. Der Vater war damit auch einverstanden.
Doch da der Kranke ziemlich weit von Wien wohnte, riet ich dem Vater, den
Sohn für die Dauer der Behandlung nach Wien zu nehmen. Der Vater war
auch damit einverstanden. Am nächsten Tage aber kam die Mutter und bat
mich, zu bewirken, daß der Sohn nicht in Wien bleibe. Er komme dann in
die Wohnung und sie habe vor ihm fürchterliche Angst. Ihr Mann wisse
das nicht, sie habe es ihm verschwiegen. In den Anfällen komme es vor,
daß der Sohn sich auf sie stürze und sie vergewaltigen wolle. Sie habe es
einmal nur mit dem Aufgebot der letzten Kräfte verhindern können. Dabei
rolle er die Augen und drohe ihr, daß sie sterben müsse, sie sei an allem
schuld. Ich ließ den Kranken daraufhin nur zweimal in der Woche zu mir
kommen. Allein schon beim dritten Mal blieb er aus, weil ich als erste Be-
dingung für die Behandlung verlangte, daß er sich beschäftigen möge. Schon
am nächsten Tage reagierte er mit einigen Anfällen. Der Vater fand, daß
seinen Sohn „die Behandlung zu sehr aufrege", und ich willigte gern in den
Abbruch der Analyse, weil der Vater sich ganz auf die Seite des Sohnes
stellte und gegen jede Beschäftigung lebhaft protestierte.
Der Fall zeigt den Durchbruch der Heterosexualität im Anfall«
und affektive Beziehungen zur Mutter, wie sie so viele Homosexuelle
aufweisen, wovon wir später noch sprechen wollen.
Umgekehrt kommt es auch vor, daß Heterosexuelle im Anfall»
homosexuelle Akte begehen. Immer wird eich im Anfalle die verdrängte
Komponente der Sexualität durchsetzen.
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 3Q3
Tarnowsky spricht auch von „epileptischer P ä d e r-
a s t i e".1) Meistens seien „die epileptischen Päderasten" aktiv. Er
führt als Beispiel einen kriminellen Fall seiner Beobachtung an. Ein
junger, reicher, anscheinend völlig heterosexueller Mann ging nach
einer üppigen Mahlzeit, bei der er viel Wein getrunken hatte, in die
Wohnung seiner Geliebten. Als er die Herrin nicht zu Hause traf,
ging er in ein Zimmer, in dem ein 14jähriger Bursche schlief, not-
züchtigte diesen und, als auf sein Geschrei die Zofe herbeieilte, diese.
Darauf schlief er 12 Stunden. Nach dem Erwachen war die Episode
mit dem Jungen seinem Gedächtnis völlig entschwunden. Es wurde
festgestellt, daß er besonders nach Alkoholgcnuß epileptische Anfälle
hatte. Nachdem auch Tarnowsky solche Anfälle wiederholt an ihm
beobachtet hatte, wurde das Verfahren eingestellt. Hirschfeld bemerkt
dazu: „Im allgemeinen beeinflußt die epileptische Neurose — die ich
im übrigen bei Homosexuellen nur selten beobachtet habe — die
Homosexualität nur in der Weise, daß sie die Hemmungen in Fortfall
bringt und die Impulsivität des Trieblebens steigert. Einen besonders
schweren, hierhergehörigen Fall habe ich zurzeit in Begutachtung,
einen an Epilepsie leidenden Diener, der in einem Zorn- und Wutanfall
einen Jungen zu Tode würgte und dann zerstückelte. Hier, wie in
anderen Fällen, handelt es sich aber von vornherein um eine Vergesell-
schaftung von Homosexualität und Epilepsie. Zuzugeben ist allerdings,
' daß sich in den epileptischen Verwirrtheitszuständen ein so völliger
Umschwung aller psychischen Faktoren vollzieht, daß auch Äußerungen,
die dem Bewußtsein jedenfalls völlig fremd sind und auch dem Unter-
bewußtsein, soweit sich dieses ermitteln läßt, fernliegen, vorkommen
können. So beobachtete auch Burchard bei einem völlig normalsexuellen
Epileptiker in Verwirrtheitszuständen homosexuelle Attacken auf Mit-
patienten." (Hirschfeld, 1. c. S. 214.)
Vom epileptischen Anfall gilt dasselbe, was ich vom Alkohol ge-
sagt habe. Er hebt die Hemmungen auf und die bisexuelle und kriminelle
Natur des Menschen kommt unverfälscht zum Ausdruck. Es ist auch
bemerkenswert, daß der Patient von Tarnowsky vor dem Anfall Al-
kohol genossen hatte.
Daß die Anfälle auch simuliert sein können, beweist folgende
Beobachtung.
Fall Nr. 57. Herr Z.T., ein an Angstzuständen leidender Bisexueller,
erzählt, daß er einmal sehr darunter gelitten hatte, daß die Mutter den
Bruder in einer Krankheit sehr verhätschelte. Er war — damals 22 Jahre
') B. Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinne6. Eine
forensisch-psychiatrische Studie. Berlin 1886, S. 51 ff.
304 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
alt — noch immer maßlos eifersüchtig. Einmal war er mit der Mutter allein
im Zimmer. Er wußte nicht, was er tat, er stürzte sich auf die Mutter und
wollte sich an ihr vergreifen. Die Mutter schrie, und es kamen die Schwester
und die Dienstboten herbei. Er aber simulierte einen epileptischen Anfall,
stürzte zu Boden und blieb so eine Stunde scheinbar bewußtlos liegen Es
wurden Ärzte geholt, welche den Zustand als eine Epilepsie auffaßten. Er
machte, als wenn er nichts hören würde, und stellte sich noch zwei Tage
vollkommen verwirrt. Er schämte sich unendlich wegen seiner Tat. Es
wurde ihm kein Vorwurf gemacht, und er kam noch für zwei Monate in ein
schönes Sanatorium.
Wie nahe liegen Spiel und Krankheit bei jedem Neurotiker! Dieser
Mann litt auch unter der Angst und dem Ekel vor dem Weibe, welche aber
einer analytischen Behandlung vollkommen wichen, ebenso wie seine schweren
Angstzustände. Es war einer meiner schönsten therapeutischen Erfolge.
Wir kommen nun zur Besprechung des Ekels, den die Homo-
sexuellen vor dem anderen Geschlechte empfinden. Ich habe schon
wiederholt betont, daß dieser Ekel eine verdrängte Begierde darstellt,
daß er eine Abwehr unerträglicher Vorstellungen besorgen muß. Den
gleichen Ekel zeigen die Heterosexuellen, welche ihre Homosexualität
unterdrückt haben, vor dem eigenen Geschlechte. Diese Erfahrung
macht schon der Anfänger in der Analyse, und es gehört heute schon
zum psychologischen Abc, dies konstatieren zu können. Nichtsdesto-
weniger werden uns immer wieder als Beweise der Homosexualität Ekel
und Abscheu vor dem Weibe vorgeführt. Ekel ist kein Beweis eines
Fehlens der Libido! Die Homosexuellen müßten eine vollkommene In-
differenz gegen das andere Geschlecht zeigen. Sie spielen diese In-
differenz manchmal, aber ihre Stellung zum Weibe ist immer affektativ
und negativistisch. Hirschfeld widerspricht sich wiederholt in dieser
Frage.
Einmal betont er, daß der echte Homosexuelle sich zum Weibe
indifferent verhält, daß er keinen Ekel zeigt:
„Ich befinde mich auch hier in Übereinstimmung mit Numa Pra«-
torius, der in einer Kritik1) einmal bemerkt, daß bei den meisten
Menschen „zwar nur ein Trieb zu einem bestimmten Geschlechte,
aber daneben nicht horror, sondern Indifferenz zu dem
andern besteht". | Er meint, daß auch der Ekel der Heterosexuellen vor
gleichgeschlechtlichen Handlungen mehr intellektuell, mehr durch die'
allgemeine Anschauung und Beurteilung begründet, als instinktiv, ge-
fühlsmäßig vorhanden sei. Läge ein wirklicher horror vor, so würden
schwerlich so oft und leicht Heterosexuelle den Homosexuellen zu Ge-
fallen sein, und Homosexuelle, wenn auch nur durch mechanische Reizung,
„onanieartige Akte" mit dem anderen Geschlecht vornehmen können.'1
(Hirschfeld, 1. c. S. 218.)
J) Jahrb. f. sex. Zw., Bd. IX, 1908, S. 504.
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte.
305
An anderen Stellen des Buches hören wir aber das Gegenteil:
„Ein 26jähriger Arbeiter berichtet: „Als ich, 17 Jahre alt, einmal
von einem älteren Freunde verleitet wurde, mit einem Weibe geschlecht-
lichen Umgang zu pflegen — ich wußte damals noch nichts von meiner
urnischen Natur — , empfand ich eine derartige Übelkeit, daß
ich Erbrechen bekam. Seitdem hatte ich eine heilige Scheu, vor
der Berührung mit dem Weibe, bis ich vor wenigen Wochen, zur Ver-
zweiflung getrieben, mit meiner Natur zu brechen suchte. Es war ver-
gebens, weder eine richtige Erektion noch Ejakulation trat ein, dagegen
habe ich mir infolge der vergeblichen Anstrengung eine Gliedentzündung
zugezogen."
„Ein Kaufmann aus Bayern: „Die Folgen des wiederholten Ver-
kehrs mit dem Weib waren schwere Nervenstörungen, starkes Un-
wohlsein mit Erbrechen und tagelange Migräne. Der Geruch,
welchen das Weib ausströmt, verursacht mir das größte Unbe-
hagen, ich bin jetzt unfähig, ein Weib zu befriedigen, wogegen die
Umarmung eines Soldaten mir ein unaussprechliches Wonnegefühl ver-
schafft und mich kräftigt und stärkt." (Hirschfeld, 1. c. S. 9G.)
„Übrigens hört man oft von Homosexuellen, daß es ihnen eher
möglich sei, ein Weib zu koitieren, als es zu küssen, auch daß ihnen
die manuelle Berührung der Genitalien eine größere Überwindung koste
als der eigentliche Akt." (Hirschfeld, 1. c. S. 95.)
Eine noch deutlichere Sprache tönt aus den nächsten Zeilen
heraus :
„Bei hochgestellten Damen, Chefinnen usw. ist es sehr auffallend,
wie viel unfreundlicher sie die männlichen Angestellten, Diener usw.
behandeln als das weibliche Personal. Es gibt homosexuelle- Männer,
die jede weibliche Bedienung perhorreszieren, „prinzipiell" deshalb nicht
in Restaurants, in denen Kellnerinnen servieren, gehen. Umgekehrt gibt
es homosexuelle Frauen, die aus ähnlichen Empfindungen heraus Ge-
schäfte mit männlichem Personal möglichst meiden. Ohne zu wissen
weshalb, empfinden es homosexuelle Mädchen schon früh als überflüssig
und lästig, sich von Herren „nach Hause begleiten" zu lassen. Vielen
Urningen und Urlinden verursacht es schon ein physisches Un-
behagen, sich von einer Person des anderen Geschlechtes auch nur
den Paletot anhelfen zu lassen. Es sind mir einige homosexuelle Ärzte
von übergroßer Sensitivität bekannt, bei denen die Abneigung
gegen die weiblichen Sexualcharaktere eine so
hochgradige ist, daß körperliche Untersuchungen
von Frauen, speziell von deren Geschlechtsteilen
und Brüsten, für sie mit lebhaften Unlustempfin-
dungen verbunden sind, die sich bis zu der Unmög-
lichkeit, die Untersuchung vorzunehmen, steigern
könne n." .
„In Charlottenburg kannte ich einen Homosexuellen, der sich
rühmte, daß niemals ein weibliches Wesen seine Wohnung, die er seit
mehr als 20 Jahren innehatte, betreten habe. Zimmerreinigung, Küche,
alles Wirtschaftliche besorgte er sich selbst. Dieser Fall ist nicht Ver-
Stekel. Störungen des Trieb- uud AffektlebeDB. II. 2. Aufl.
20
306 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
einzelt. Andrerseits muß schon hier betont werden, daß nicht etwa jeder
Weiberfeind und jede Männerfeindin homosexuell sind. Das trifft ebenso-
wenig zu wie etwa die Voraussetzung, daß alle homosexuellen Männer
ausgesprochene Misogynen oder alle homosexuellen Frauen Androphoben
sind." (Hirschfeld, L c. S. 98.)
Alle diese Mitteilungen beweisen mir, daß es bei den Homo-
sexuellen keine indifferente Einstellung zum anderen Ge-
schlechte gibt. Wo sie angegeben wird, ist sie in Zweifel zu ziehen und
hält den Erfahrungen der Analyse nicht stand. Haß, Wut, Ekel,
physisches Unbehagen sind Sicherungen gegen das andere Geschlecht.
Das gilt für die männlichen und weiblichen Homosexuellen.
Ich werde jetzt meine weiteren Untersuchungen für eine kurze
Zeit fast nur auf den männlichen Homosexuellen beschränken. Ich will
es versuchen, klarzustellen, wie ich zu meiner heutigen Anschauung
gekommen bin. Gerade der Ekel der Homosexuellen
vor dem Weibe, ihre affektative Ablehnung des
anderen Geschlechtes hat mich zu neuen An-
schauungen geführt. Ich hatte Gelegenheit, einen Homo-
sexuellen zu analysieren. Schon in den ersten Stunden kam jene hetero-
sexuelle Periode zum Vorschein, welche keinem Homosexuellen fehlt.
Vorher hatte ich die Analysen der Homosexuellen abgelehnt, da ich ja
auf dem Boden von Hirschfeld stand und den Uranismus für eine an-
geborene Erscheinung hielt. Dieser Kranke hatte allerlei Angst-
zustäride und wollte nicht von der Homosexualität, sondern von der
Angst befreit werden. Vor allem litt er an Angst vor dem Weibe und
konnte mit keiner Frau allein bleiben. Unter seinen Bekannten befand
sich auch ein älteres, sehr sympathisches Fräulein. Sie konnten stunden-
lange Spaziergänge machen, aber er verlor die Angst nicht und blieb
mit ihr nie in einem Zimmer allein. Sie plauderten entweder in einem
Garten oder einem Cafe. Ich durchblickte natürlich diese Angst und
begann den Homosexuellen, der seit Jahren ein Verhältnis mit einem
älteren Herrn hatte, auf seine Heterosexualität zu untersuchen. Ich
war erstaunt, als aus der Kindheit eine Fülle von heterosexuellen Er-
lebnissen zutage trat. In den ersten Tagen hörte ich noch die be-
kannte Anamnese der Uranier : die Mädchenspiele, das weibliche Wesen,
er wäre immer ein Mädchen gewesen usw. . . Aber bald änderte sich
das Bild, es trat die heterosexuelle Einstellung immer deutlicher hervor.
Auffallend war seine Liebe zur Mutter. Einseitig, wie ich damals war,
schloß ich etwas voreilig auf die 'Wurzeln der Homosexualität und
schrieb in der ersten Auflage der Angstzustände (1908), nachdem ich
noch einige .ähnliche Erfahrungen gemacht hatte: „Wie meine neuesten
Forschungen 'beweisen, handelt es sich in diesen Fällen häufig um
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 3Q7
Neurosen. Manche Homosexualität bessert sich oder verschwindet
nach einer psychanalytischen Behandlung. Die Homosexualität ist nur
die gelungene Abwehr des infantilen Inzestgedankens. Homosexuelle
Männer haben bei fremden Frauen nie eine erotische Empfindung; sie
geben an, sie könnten bei diesen Frauen nur wie für eine Schwester
oder eine Mutter fühlen. Das verrät uns die Wurzel der Homosexualität.
Der Begriff „Weib" ist mit den Begriffen „Mutter" und „Schwester"
unlöslich assoziiert. Aus der Abwehr der Inzestphantasie erfolgt die
Flucht in die Homosexualität. Diese Transponierung wird natürlich
durch ein entsprechendes somatisches Entgegenkommen ermöglicht.
Auch der Homosexuelle leidet an den Reminiszenzen der Kindheit. Die
Homosexualität wäre also nur eine besondere Form neurotischer Ab-
wehr." Etwas voreilig hatte ich im jugendlichen Ungestüm damals
meine Forschungsergebnisse formuliert und besonders die thera-
peutischen Aussichten zu optimistisch aufgefaßt. Ich habe mich später
vom Gegenteil überzeugt. Viele Patienten, die . sich als geheilt be-
trachteten, waren nur gebessert und blieben bei ihrem Uranismus.
Auch darüber werden wir ausführlich sprechen müssen. Ich muß nun
das Thema „Mutter und Homosexueller" eingehender behandeln. Ich
habe dies Verhältnis nach dem ersten FreWschen Schema aufgefaßt.
Ich sah damals noch nicht, daß noch andere Kräfte mitspielen können,
wie ich sie bereits bisher geschildert habe. So handelte der erste Traum
meines ersten Homosexuellen von einem Morde, der an einer Frau be-
gangen wurde; ich verstand diesen Traum nicht. Ich wußte nicht,
daß die Angst vor dem Weibe die Angst vor den kriminellen Impulsen
war, daß dieser Kranke ein Sadist war, der sich in die Homosexualität
rettete, um kein Verbrechen zu begehen. Diese Regungen bestanden
neben seinen Inzestphantasien, die besonders stark und auch vor der
Analyse vollkommen bewußt waren. Sie wurden nur als dem Bewußtsein
unerträglich beiseite geschoben. Bald hatte Sadger seine erste Analyse
eines Homosexuellen publiziert und in dieser Arbeit die These auf-
gestellt, die Homosexualität entstünde wie jede Zwangsneurose im
vierten Lebensjahre, die Analyse müsse trachten, bis in das vierte
Lebensjahr zu kommen.1) Sadger betonte: „Das stand mir von vor-
*) Fragment der Psychoanalyse eines Homosexuellen. (Jahrb. f. sex. Zwischen-
stufen. IX. Bd., 1908. Leipzig, Verlag Max Spohr.) Ein Musterbeispiel, wie eine Psych-
analyse nicht sein soll, eine hochnotpeinliche Untersuchung, so daß der Analysierte
gequält ausruft: „Aber erlauben Sie mir, was soll ich Ihnen sagen? Überhaupt die
letzte Stunde der Analyse, ich weiß nichts. Sie martern mich einfach,
weiter gar nichts." Die wichtigsten Einstellungen werden übersehen, der Patient
gefoltert, er müsse gestehen, daß er Sadger liebe, so daß er nach 14 Stunden die
Flucht ergreift.
20*
308 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
hinein fest, erworben konnten homosexuelle Neigungen nur sein, wenn
dies in den ersten vier Lebensjahren des Uraniers geschehen, genau so
wie bei der Hysterie und Zwangsneurose, und dies mußte eine Psych-
analyse aufdecken können. Was auch diese 'nicht zu lösen vermochte,
war dann angeboren, entsprach der sexuellen Konstitution."
Diese Arbeit, die voller Einseitigkeiten und Widersprüche ist,
zeigt noch deutlich das Bestreben, die Homosexualität auf die Liebe
zum Vater zurückzuführen. Die Mutter spielt eine bescheidene Rolle:
flüchtig wird erwähnt, der Analysierte hätte keinen Menschen mit
solcher Glut geliebt wie die Mutter; eine Tante besaß vor dem Tode
der Mutter die ganze Liebe des Knaben.
Aber welche Schlußfolgerungen zieht Sadger aus diesem Falle?
Gar keine! Er freut sich, daß er ein bedeutsames Material ■ zutage ge-
fördert hat, und weiß doch mit diesem Material nichts anzufangen.
Zwischen all den Fragen und Antworten findet sich eine sehr wichtige
Stelle, welche uns einen bedeutsamen Schluß gestattet. Der Kranke
erzählt von der Liebe zu seiner Mutter: „Und die Liebe ent-
sprang auch meist dem Mitgefühl, weil der Vater
später viel trank und sich mit anderen Frauen
abgab und die Mutter oft weinte, und das tat mir
sehr leid."
Das ist eine Beobachtung, die ich oft machen konnte. Kinder
von Potatoren und Frauenjägern werden leicht
homosexuell, wenn sie sich vom Vater differen-
zieren wollen. Sie hassen dann das Weib und hassen alles, was
der Vater liebte. Sie werden Abstinenzler und trachten sich in jeder
Hinsicht vom Vater zu unterscheiden.
Der Patient Sadgere weist auch direkt auf diese Differenzierung
hin. Er sagt: „Der Vater hatte bestimmt keine homosexuellen Nei-
gungen, weil er ein großer Frauenliebhaber war. Schon seit der Zeit,
da er anfing, mir von der Schule zu erzählen — er liebte besonders die
Franzosen — , sagte er mir auch, ich solle nur eine Französin heiraten,
und zeigte mir Bilder aus Frankreich und Photographien von Fran-
zösinnen. Mir wurde das so eingeimpft, daß ich eine Französin heiraten
sollte." Und welches Resultat erzielte der Vater mit dieser Einimpfung?
War es Eifersucht oder war es Mitleid und Liebe zur Mutter? Der
Vater erzielte das Gegenteil von dem, was er anstrebte. Statt Gehor-
sam nur Trotz. Der Analysierte erzählt: „Später, als mir homosexuelle
Neigungen zum Bewußtsein kamen, wurde mir alles Fran-
zösische förmlich verhaßt, besonders die Fran-
zösinnen, ich empfand keine Liebe mehr für die
französische Sprache oder für sonst etwas..."
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 309
Der Kranke hat eine ausgesprochene Angst vor der Ehe, von der
er zu Hause ein so trauriges Beispiel sehen konnte. Er träumt, daß
er verheiratet wird, daß er von einem Geistlichen getraut werden soll,
und fühlt sich so unglücklich, daß er sich nach dem Erwachen vor Glück
nicht fassen kann. Er hat Angst vor jeder großen Liebe. „Ich habe
Angst vor einer wirklichen großen Liebe, weil die mich immer un-
glücklich machte." Auch sonst zeigt die Analyse Beziehungen zum
Vater, die von größter Wichtigkeit sind.
Diese Einstellungen entstehen in der Tat schon in der frühesten
Kindheit. Wir kennen eben das Kind noch immer nicht und wissen
nicht, daß sich die „Leitlinien" des Lebens in der Kindheit in aller
Deutlichkeit zeigen! Bei diesem Knaben mußte sich der Gedanke aus-
bilden : Werde nicht wie der Vater, und so mußte er die Frauen fliehen,
weil der Vater ein Frauenliebhaber war. Ob bei dieser Differenzie-
rung auch die direkte Liebe zum Vater in Frage kommt, möchte ich
bei diesem Falle nicht entscheiden. Sie scheint mitzuspielen, und viel
verschmähte Liebe mag auch dazu beitragen, daß sich da6 Kind ganz
der Mutter zuwendet. Aber genügt nicht der Anblick
eines liederlichen Trunkenboldes, dem das Bild
einer stillen, duldenden Mutter gegenüber steht,
um die Differenzierung einzuleiten und als de-
terminierende Kraft fortbestehen zu lassen'?
Hinter der Homosexualität des ersten analysierten Homosexuellen von
Sadger steckt die Angst, er könnte wie der Vater werden. In der Ana-
lyse auftauchende blutige Szenen beweisen, daß er auch andere Gründe
hat, sich vor dem Weibe zu fürchten. Er ist so geartet, daß er kein
Blut sehen kann. Auch dieser Zustand ist schon die Konvertie-
rung eines Blutdurstes und deutet auf einen verdrängten Sadismus.
In Rußland sah er einmal einen Mann, der seiner Frau den Kopf
mit einem Stein entzweischlug . . . Dieser Vorfall prägte sich ihm so
ein, daß er ihn nicht vergessen kann, ebenso spricht er auffallend von
Schlachten und anderen Blutszenen.1)
Kein Zweifel, der Mann ist ein Sadist und ist es den Frauen
gegenüber. Er hat allen Grund, sich vor den Frauen zu fürchten. Seine
Angst ist die Angst vor sich selbst. Er muß zum Manne flüchten, dem
gegenüber er nicht den instinktiven Geschlechtshaß empfindet, der ihm
alle heterosexuellen Regungen versperrt. Wenn er mit einer Frau ver-
kehrt, fühlt er nachher einen so abscheulichen Ekel und Widerwillen,
alles kommt ihm unnatürlich vor. Er gibt alle diese Versuche auf.
*) Vgl. die wichtige Stelle S. 418.
310 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Er sucht offenbar ewig einen gütigen hochstehenden Vater, denn
er verliebt sich in einen älteren Philosophen, wie er sich rationalisiert,
aus Verehrung für die Philosophie, von der er Rettung vor seinen
Leidenschaften erwartet. Die Differenzierung ist ein Befreiungsversuch,
eine Tendenz, den Vater zu überwinden! Die Liebe zum Philosophen
ein Vaterersatz!
Wir sehen, wie wichtig die Jugendgeschichte eines jeden Lebens
für das Verständnis der Homosexualität ist. Aus der kindlichen Kon-
stellation läßt sich das Horoskop der Zukunft stellen. Vielleicht
steckt in dieser unumstößlichen Wahrheit die Wurzel der Stern-
deutungskunst, „das Gesetz des Planeten, nach dem man das Leben
angetreten hat". Der Vater .die Sonne, die Mutter der milde Mond
und die Kinder die Sterne. Je nach der Stellung dieser Gestirne ge-
staltet sich unser Schicksal. Blinder Zufall und angeborene Kräfte
wirken zusammen und schaffen den Menschen zu dem, was er ist.
Doch verfolgen wir weiter die Ergebnisse der Forschungen Sadgere,
dem das Verdienst nicht genommen werden soll, fleißig an der Lösung
des Rätsels der Homosexualität gearbeitet zu haben.
Die nächste Publikation1) erfolgte gleichfalls 1908. Sie zeigt uns
deutlich jene infantile heterosexuelle Einstellung, welche
alle Homosexuellen so gern vergessen, und die der echten Homosexua-
lität vorangeht.
„Der damals 21jährige Student wurde mir gesandt, weil ihn seine
homosexuellen Neigungen quälten, die besonders auf junge Leute von
14—20 Jahren gerichtet waren, nebstdem noch allerlei masochistische
Gelüste. Beim Weibe (einer Prostituierten, der er bis dahin dreimal
beigewohnt, die zwei ersten Male spontan, um zu sehen, ob er überhaupt
potent sei, das drittomal auf ärztliches, sowie auf Vaters Drängen)
fühlte er sich vollkommen impotent. Auf Befragen, ob er schon
irgend einmal eine Neigung zum anderen Geschlechte verspürte, erinnert
er sich bloß, im 2. oder 3. Lebensjahre einem gleichaltrigen Mädchen in
besondere galanter Weise das Gartentor geöffnet zu haben. Von
familiärer Belastung weiß er anzugeben, daß ein Bruder der Mutter
geisteskrank 'sei. Die Mutter selber habe immer etwas Burschikoses und
Männliches an sich gehabt, der Vater wieder zeigte stets sehr geringe
Sinnlichkeit, daneben auch deutlich invertierte Züge, die frühverstorbene
Schwester hatte einen knabenhaften Gesichts-
a u s d r u c k. Sie bevorzugte Bubenspiele und wünschte sich zu Weih-
nachten mit 4—5 Jahren ein Schaukelpferd für Knaben. Je eine Kusine
väterlicher- wie mütterlicherseits waren unverkennbar amphigen in-
vertiert. Der Kranke selber hatte ein unverhältnismäßig breites Becken
und äußerst spärliche Bartentwicklung. Als Kind soll er nur mit Puppen,
/
*) J. Sadger: Ist die konträre Sexualempfindung heilbar? In der Zeitßchr. f.
Scxualwiss., 1908, S. 712 ff.
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 311
nie mit Soldaten gespielt haben, er beteiligte sich nie an Knabenspielen
und lernte auch sticken.
Demnach ein reiner Fall von Inversion mit masochistischen -.Zügen.
Was ergab nun die Analyse des obendrein sehr intelligenten Kranken?
Zunächst etwas Merkwürdiges: Seine früheste Neigung ge-
hörte den Frauen, und zwar nicht einer, sondern
gleich einer Anzahl. Die Erstgeliebte war die
Mutter, von der er sich freilich spä ter abkehrte.
Mit zwei Jahren fühlte er sich mächtig zu einer alten Kinderfrau hin-
gezogen, der er direkt einen Heiratsantrag machte und welche er spater
in wiederholten Träumen der Pubertät zu Koitusphantasien benutzte.
Etwas später folgte seine besondere Galanterie gegen das gleichaltrige
Mädchen, die so auffallend war, daß ihn seine Mutter darüber aufzog,
und er sich darob sehr genierte und ärgerte.
Auch eine Dienstmagd machte in den allerersten Jahren einen
tieferen Eindruck auf sein Herz und kehrt in verschiedenen Männertypen
wieder. Von homosexuellen Neigungen der ersten Jahre führe ich als
stärkste und allerwichtigste die Liebe zu zwei Vettern an, mit denen
er vom ersten Jahre ab spielte, dann im zweiten Jahre die zu einem
9jährigen Baron, im vierten zu einem Knaben, der ihn masturbieren
lehrte, im sechsten und siebenten zu einem Hauslehrer. Im vierten Jahre
schlief er aus Anlaß der Entbindung seiner Mutter eine Zeitlang mit
dem Vater in einem Bette, woran sich eine Reihe homosexueller Wünsche
und. Phantasien auf diesen knüpfte. Als dann sein Schwesterchen zur
Welt kam, verliebte er sich alsbald auch in dieses.
Noch auffälliger sind im siebenten und achten Jahre des Patienten ein
paar normalgeschlechtliche Verliebtheiten in drei bis vier gleichaltrige
Schulmädel. Wie sich dann herausstellte, gab jede von diesen etwas für
einen späteren Typus her, und zwar für Jünglinge sowohl als Mädchen,
die später sein Wohlgefallen erregten.
All diese Dinge, die dem Kranken vollständig
unbewußt gewesen und erst durch monatelange
Analyse sehr mühsam ausgegraben werden mußten,
geben ein völlig neues Bild. Sie lehren uns vorerst, wie
wenig auch der Intelligenteste sich kennt, wie vorsichtig also selbst die
ehrlichsten Angaben aufzunehmen sind. Zweitens, daß auch scheinbar
reine Fälle von Inversion der normalgeschlechtlichen Züge nicht ent-
behren ja daß die letzteren in großer Zahl vorhanden sein können,
ohne doch dem Kranken bewußt zu sein. Zum dritten endlich, daß die
Inversion in frühester Kindheit bis zum vierten Lebensjahre
inklusive festgelegt wird, wenn sie auch meist erst in der Pubertät zum
Bewußtsein gelangt."
Schon hier muß ich den ersten Widerspruch erheben. Es ist nicht
wahr, daß die Inversion schon bis zum vierten Lebensjahre festgelegt
wird.' Ich habe ja eine ganze Reihe von Fällen analysiert, bei denen
diese Inversion nach der Pubertät und viel später aufgetreten ist. Die
Anfänge* homosexueller Einstellung gehen bei -allen Menschen bis
auf die Kindheit zurück. Bei einem kann diese Abkehr vom anderen
312 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Geschlecht früher, bei dem anderen später auftreten. Wahr ist
aber, daß sich in jeder Analyse die heterosexuelle
Einstellung zeigt, welche von dem Homosexuellen
vergessen oder sagen wir richtiger verdrängt
wurde, weil sie ihm in sein System nicht zu passen
scheint. Analytisch scheint mir dieser Fall Sadgers eine Fixierung
an die Schwester zu bedeuten. Die Knaben, die er immer wieder Sucht,
ersetzen ihm die Schwester. Wir werden einige solcher Fälle kennen
lernen. Nur wer die Kunst der Neurotiker kennt, ihre Ideale zu meta-
morphosieren, wer diese Verwandlungsfähigkeit aus ihren Träumen
kennen gelernt hat, der wird das verstehen, daß man in einem Knaben
ein Mädchen lieben kann. Von Platen wird erzählt, daß er eine un-
glaubliche Phantasie besessen. Ein Kollege wurde ihm lange Zeit eine
Eule, der er scheu aus dem Wege ging. In Neapel ließ er sich eine
Katze auf den Schoß setzen und gab sie mehrere Tage lang für eine
verwunschene Prinzessin aus. Der echte Fetischismus zeigt uns, welche
unglaubliche Metamorphosen sich das sexuelle Ideal gefallen lassen
muß^ Einen Knaben lieben, der ein Symbol der eigenen Person oder
der Schwester wird, ist bei den Homosexuellen eine alltägliche Sache.
Sie besitzen wie alle Neurotiker nicht die Gabe, die Welt der Phan-
tasie von der der Realität zu trennen. Ich habe die Neurose auch
als die Tyrannei der Symbolismen definiert. Dies stimmt
besonders für den Neurotiker, der homosexuell wird. Alle Werte werden
umgewertet und das Objekt wird zum Subjekt und umgekehrt In
diesem Verwandeln aller Tatsachen bleibt ein Festes und Sicheres:
Das infantile Ideal, an dem mit der Hartnäckigkeit festgehalten wird,
welche aus der ewigen, ungestillten Seimsucht stammt.
Sj^ger tejtt in der nächsten Arbeit die Resultate einer sechsmonat-
igen Analyse eines Invertierten mit. (Zur Ätiologie der konträren Sexual-
empfindung. Med. Klinik, 1909, Nr. 2.) Er führt die spezielle Vorliebe seines
Aranken iur passive Päderastie auf häufige Klistiere in der Kindheit zurück
(in der rat scheinen mir die vielen überflüssigen Klistiere in der ersten
Kindheit eine Fmerung des Anus als erogene Zone bewirken zu können.)
Auch an • diesem Falle weist er die verdrängte Heterosexualität nach. „Es
verhalt sich mit dem Schwanken der Libido zwischen Mann und Weib wie
etwa mit der Gesichtsinnervation, die ja bekanntlich auf dem Gleichgewichte
fußt der von beiden Fazialis innervierten Muskeln. Die Lähmung eines ein-
zelnen *aziahs aber führt nicht nur zur Schwäche der betreffenden Gesichts-
halite, sondern obendrein auch zum Krämpfe der anderen. Dieser Krampf
ist dasjenige, was wir dem Zwang der Sexualobjektwahl gleichsetzen können."
iJer beschriebene Patient liebte eigentlich nur seinen. Vater, der, selber etwas
homosexuell, sein Herz in der Kindheit durch übergroße Zärtlichkeit gewann,
im Gegensatz zur überstrengen Mutter. Im vierten Jahre schlief er
während einer Gravidität der Mutter im Bette des Vaters, welchem Ereignis
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 31 3
Sadger große Bedeutung beimißt. Die homosexuellen Jünglingsobjekte trugen
Züge der geliebten Schwester. Von der Mutter hätte er sich mit 15 Jahren
abgewendet, als er sie mit einem bedeutenden Ascites, der wiederholt
punktiert werden mußte, wiederfand. Dieser Anblick hätte ihn mit Ekel
vor allen Frauen erfüllt. Als Überdetermination dieser Abkehr führt er
folgende Erinnerungsspur an: Die Mutter bekam nach dem erwähnten Puer-
perium einen Fluor albus, der das für Gerüche schon damals empfindliche
Kind (4 Jahre!) zurückstieß, wenn er der Mutter mit Liebkosungen nahte.
Auch sei es dem Kranken unvergessen, daß die Mutter die Aggressionen des
Knaben zwischen 3 und 6 Jahren strenge zurückgewiesen habe. („Er ver-
suchte damals ihr immer an die Brust zu greifen, wollte in ihr Bett und
in das Badezimmer, sobald sie badete.")
So unwahrscheinlich Ärzten, welche die infantile Sexualität nicht
kennen, solche Aggressionen erscheinen mögen, 'sie finden doch statt und
manche Mutter hat sie mir bestätigt. Dagegen ist es sehr unwahrscheinlich,
daß sich ein Kind von vier Jahren an dem Geruch der Mutter stoßen sollte!
Zu dieser Zeit bildet der Geruch eher ein Stimulans und erscheint fast nie-
mals mit Ekel belegt.
Ich wende mich nun zu den letzten und weitgehendsten Folge-
rungen von Sadger, die er in seiner Arbeit: „Ein Fall von multipler
Perversion mit hysterischen Absenzen"1) publiziert.
In dieser Arbeit findet sich ein Kapitel „Neue Beiträge zur
Theorie der Homosexualität". Sadger läßt sein erwähntes viertes
Lebensjahr ganz fallen und erklärt: „Die dauernde Neigung zum
eigenen Geschlechte tritt in der Eegel und jedenfalls am stärksten in
der Pubertät zutage, frühestens in der Vorpubertät, für unsere Breiten
also mit 10 oder 11 Jahren. Ein mitunter vermeldeter früherer Beginn
steht jedenfalls vereinzelt da und hat seine ganz besonderen Gründe."
Ausgelöst werde die ständige Homosexualität durch ein bedeutsames
Ereignis, das die Mutter von ihrer Stelle als Helferin und Lehrerin
verdrängt. Solche Zufälle seien Tod, Vermögenskrach mit folgender
schwerer Neurose, die zum Aufenthalt in einem Sanatorium zwinge,
eine unzweckmäßige Verfolgung des Sohnes wegen Onanie und der-
gleichen Dinge. Dann wende sich die Liebe von der Mutter ab und
wende sich zum Vater, oder zu älteren oder gleichaltrigen Kameraden,
die die Mutter ersetzen und den Knaben in die Liebe einführen sollen . . .
Der Weg zur Homosexualität führe über die Liebe zum eigenen
Ich, über den Narzissmus. „Die Verliebtheit in die eigene Person,
hinter welche sich die Verliebtheit in die eigenen Genitalien verbirgt
(sie!), ist ein nie fehlendes Entwicklungsstadium." Jeder Mann habe
zwei ursprüngliche Sexualobjekte, an denen er sein Leben lang hafte:
Die Mutter und die eigene Person. Nur kurze Zeit ersetze der Vater
*) Jahrb. f. psychoanalytische und psychologische Forschungen, II. Bd., 1910.
Franz Deuticke, Wien und Leipzig.
_J
sjl4 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
die eigene Person, weil dieser als primärer Rivale bei der Mutter bald
in die feindliche Stellung einrücke. Die Frauen hasse der Urning aus
einem durchsichtigen Grund: „Wenn schon die beste der Frauen so
wenig taugt, meine eigene Mutter, wie sollte eine andere bestehen
können?"
Nun folgt ein überzeugender Beweis, daß der Urning sich mit
seiner Mutter identifiziere. Der Urning trachte immer, seinen Geliebten
zu belehren, und das habe die Mutter getan. (Ob nicht viel mehr der
Vater?) So habe sein Patient einem Kellner Geologie und Kunst-
geschichte vorgetragen, Gegenstände, die diesen nicht interessierten
Das habe aber die Mutter auch getan . . .
Die meisten Urninge wären einzige Kinder. (Diese Angabe ist
unrichtig. Hirschfeld fand unter 500 Homosexuellen nur 67 einzige
Kinder und darunter nur 54 einzige Söhne. Meine Ziffern sind noch
geringer. Dieser Prozentsatz stimmt mit den Zahlen, welche meine
Neurotiker überhaupt betreffen.)
Sadger faßt seine Resultate in fünf Leitsätzen zusammen:
„1. Der Urning leidet an der Abkehr von der Muttsr (bzw. ersten
Pflegerin), in deren Liebe er sich schwer getäuscht fühlt. Er verdrängt
die Mutter, indem er sich mit ihr identifiziert. 2. Der Weg zur Homo-
sexualität führt über den Narzissmus, d. h. die Liebe zu sich selbst,
• wie man tatsächlich war, oder, idealisiert, gern gewesen wäre. 3. Im
Sexualideal des Invertierten finden sich nicht nur Züge früherer weib-
licher und männlicher Sexualobjekte, sondern noch vielmehr des eigenen
geliebten Ichs. 4. Aufwachsen in ausschließlicher weiblicher Umgebung
— der Vater kommt hier nicht in Betracht — befördert die Homo-
sexualität beim Manne wie beim Weibe aus Gründen, die noch nicht
genügend bekannt sind. Zudem sind Urninge meist einzige
Kinder. 5. Unterstützt wird endlich die Inversion durch den „nach-
träglichen Gehorsam'' gegen die Worte der Mutter. Ich fand nicht selten,
daß die Mutter frühzeitig ihren Kindern einen selbst ganz harmlosen,
doch freundschaftlichen Verkehr mit dem anderen Geschlechte als etwas
Unrechtes und Anstößiges hinstellte, was in leider nur zu buchstäb-
lichem späteren Gehorsam die Neigung zum eigenen Geschlecht verstärkt."
Von diesen Leitsätzen ist der erste falsch. Der Homosexuelle
leidet nicht an der Abkehr von der Mutter, sondern vielmehr an der
Fixierung. Doch davon später. Ferner zeigen meine Erfahrungen, daß
Homosexualität auch nach Aufwachsen in rein männlicher Gesellschaft
entstehen kann.
Man verdrängt keinen Menschen, wenn man sich mit ihm identi-
fiziert. Identifizierung ist direkte Liebe, Diffe-
renzierung ist Verdrängung. Nun identifizieren sich
viele Homosexuelle mit ihrer Mutter, daran ist gar kein Zweifel. Aber
Das Verhältnis der Homosexuellen zum anderen Geschlechte. 315
diese Identifizierung setzt schon die Verdrängung des Vaterideals
voraus. Das Rätsel der Homosexualität ist nie-
mals einseitig zu erklären und einige Fälle, in
denen die Mutter gar keine Rolle spielt, stehen
mir auch zur Verfügung.
Die einzige psychologische Hypothese, die besteht — ich meine
die von Sadger — fällt durch ihre , Einseitigkeit in sich zusammen.
Sie gilt für einzelne Fälle. Sie vernachlässigt aber die wichtige Be-
deutung des Sadismus vollkommen, übersieht, daß die Liebe zum Vater
viel wichtiger und verdrängter als die zur Mutter ist, übersieht die
Identifizierung mit dem Vater und die Differenzierung von dem Vater
vollkommen und gibt keine Erklärung für die Spätformen der Homo-
sexualität, die uns am meisten interessieren. (Tardive Homosexualität.)
Denn was das Erwachen der Homosexualität anbelangt, so schwanken
nach allen Beobachtern die Zahlen zwischen dem fünften und dem
zwanzigsten Lebensjahre und noch darüber hinaus. Ich "nenne hier die
Zahlen von 20 Fällen, die ich als die ersten meinen Protokollen ent-
nehme. Die Homosexualität wurde bewußt mit 12, 10, 12, 15, 16, 22,
13, 11, 14, 8, 14, 12, 17, 17, 17, 13, 21, 15, 17, 24 (Durchschnitt = 15) .
Es sind durchwegs hohe Ziffern, es findet sich bloß ein Mann,
dessen bewußte homosexuelle Einstellung im achten Lebensjahre
begonnen hatte. Nun ist das sicher nicht richtig. Denn wir wissen,
daß die homosexuelle Regung schon in dem- ersten Lebensjahre auf-
tritt und sicherlich, die Kinder in den ersten Lebensjahren schon deut-
lich bisexuell empfinden. Die Zahlen sind deshalb von Bedeutung, weil
sie uns zeigen, daß der „echten Homosexualität" eine lange Latenz-
zeit vorausgeht.
•
Die Homosexualität.
VIII.
Die Familie des Homosexuellen. —
Sein Verhalten zur Mutter.
Die Knabenliebe ist so alt wie die
Menschheit und man könnte daher sagen,
sie liege in der Natur, ob sie gleich gegen
die Natur sei. (J^.
Alle Forscher, die sieh mit dem Problem der Homosexualität be-
fassen, betonen, daß die Homosexualität familiär auftritt, und finden
darin eine Stütze für die Annahme, sie wäre angeboren. Homosexuelle
haben häufig einen homosexuellen Bruder, eine homosexuelle Schwester,
die Mutter ist eine Urlinde oder der Vater ein Urning, der trotz seiner
Anlage geheiratet hat. Bedenkt man, daß ich die Neurose und die
Homosexualität (als eine bestimmte Form der Neurose) als eine Rück-
schlagserscheinung auffasse, erwägt man, daß alle Neurotiker sich
durch eine starke Betonung aller Sexualtriebe auszeichnen, so versteht
man diese Tatsachen. Nicht die Homosexualität wird vererbt, sondern
die prägnante bisexuelle Anlage, welche ja die Disposition zur Er-
krankung abgibt. Ferner ist zu bedenken, daß die Einflüsse des
Familienmilieus auf alle Kinder gleich wirken müssen. Das eine ist
glücklicher und entgeht der dauernden Schädigung, das andere wird
schwerer betroffen.
Bevor wir den Einfluß der Familie auf die Entstehung der Homo-
sexualität genauer studieren, müssen wir noch zwei wichtige Momente
hervorheben. Das eine ist die Spaltung der Liebe in eine geistige und
körperliche, das andere die doppelte Einstellung des Homosexuellen als
Weib oder .als Mann. Von dieser Spaltung der Liebe in die beiden
Komponenten wird noch an anderer Stelle viel zu reden sein. Hier
möchte ich nur betonen, daß die Menschen es sehr gerne so arrangieren,
daß sie einen der beiden Haupttriebe geistig, den anderen körperlich
besetzen. Nennen wir die geistige Liebe „Erotik", die körperliche
„Sexualität". Der Durchschnitt der Heterosexuellen verwendet seine
Erotik für die Männerfreundschaft, seine Sexualität für die hetero-
•
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 317
sexuelle Liebe, wobei sich der Fortschritt der Kultur darin äußert, daß
auch in der heterosexuellen Liebe immer mehr sublimiert wird, d. h. ein
immer wachsender Anteil an Erotik auftritt. Der Homosexuelle kann
z. B'. seine Erotik den Frauen zuwenden, seine Sexualität den Männern.1)
Er kann auch unter Umständen seine ganze Erotik homosexuell be-
setzen und die ganze Sexualität verdrängen. Oder er bemüht sich, bei
seinem sexuellen Ideal auch geistige Vorzüge zu finden, er trachtet
auch, einen Teil der Erotik in homosexuelle Bahnen zu lenken. So
entstehen die wunderlichsten Variationen. Nehmen wir zum Beispiel
den Homosexuellen, der nur Kutscher, Hausknechte, Soldaten, Dienst-
männer, Bauern sucht. Sein sexuelles Ideal sind nur Männer aus
niederen Ständen. Dieser Mann hat die ganze Erotik auf edle Frauen
übertragen. Er pflegt Freundschaften mit älteren Damen, manchmal
auch mit feinen Männern, aber er kann sich nur bei einfachen Leuten
sexuell betätigen. In diesem Vorgehen liegt schon ein "Werturteil der
Sexualität. Sie stellt sich ihm endopsychisch als ein Herabsinken auf eine
niedere Stufe dar, als eine Rückkehr zu den ersten Quellen der Natur.
Dieses Verhältnis wird dadurch kompliziert, daß es von Wichtigkeit
ist, ob er sich beim homosexuellen Akte als Mann oder als Weib fühlt.
Ist er aktiver Homosexueller, so behält er seine Individualität, er spielt
das Ich oder identifiziert sich mit einem männlichen Ideale, dem Vater,
dem Bruder, dem Lehrer usw. Oder er spielt eine passive Rolle, dann
identifiziert er sich mit einem Weibe, der Mutter oder ihrem polaren
Gegenstücke, der Dirne. Hie und da kommt es vor, daß beide Rollen
gespielt werden, daß sich die Beziehungen zwischen Erotik und Sexua-
lität verschieben und verkehren. Das macht das Verwirrende des
Problems aus. Der Urning beginnt alle Erotik auf Männer zu über-
tragen und empfindet beim Weibe nur Sexualität, die aber in Ekel
konvertiert ist. Oder eine Urlinde liebt seelisch nur Frauen und findet
alle Männer ekelhaft, unausstehlich, widerwärtig. Die Einstellung hängt
von der spezifischen Szene ab, die aufgeführt werden soll.
Für die Beurteilung und das psychologische Verständnis eines
jeden Falles ist es von größter Bedeutung, die Frage zu beantworten:
Was spielt der Homosexuelle in seiner Szene? Was stellt ihm der
homosexuelle Akt in der Phantasie dar? Dabei ist von der Realität
in den meisten Fällen abzusehen.
So manche dunkle unverständliche Paraphilie verliert ihre Ab-
sonderlichkeit, wenn man die Szene erfährt, die immer wieder vor-
*) Wir haben gesehen, daß auch die Besetzung der Homosexualität durch geistige
und körperliche Liebe vor sich gehen kann. Homosexuelle betonen zu auffallend und
emphatisch die Unmöglichkeit einer erotischen Einstellung zum anderen Geschlechte.
Sie verraten damit ihre Angst vor dieser Einstellung.
31g J Zweiter Teil. Die Homosexualität.
gespielt wird. Denn für den Neurotiker gilt das Gesetz Nietzsches
von der Wiederkehr des Gleichen.
Die Szenen, die er spielt, sind entweder Erlebtes oder nur Ge-
wünschtes, Ersehntes und Nie-Erlebtes. Der menschlichen Natur ent-
spricht es, daß das Nie-Erlebte eine größere motorische Kraft entfalten
kann wie das Erlebte. Das Erlebte wirkt als retrospektive Tendenz,
das Erwünschte als prospektive. (So konnte ich sagen: Die schwersten
Traumen sind, die sich nie ereignet haben.) Der unerfüllte
Wunsch ist die treibende Kraft der meisten Neurosen. Das „Ewig-
Ersehnte" — „Ewig-Verlorene" — „Nie-Erreichte" bildet den Welt-
schmerz aller Lebensmüden, die vergebens das Unmögliche möglich
machen wollten. An der Realität zerschellen alle Wahngebilde des
Neurotikers. Deshalb flieht er alle realen Werte und baut sich seine
„zweite Welt", in der er Herrscher ist und seine Wünsche als Träume
erleben kann. Das Nie-Erlebte wird zum S t e t s - E r-
träumten!
Die Charakterbildung des Menschen beginnt in den ersten Lebens-
jahren. An seiner Umgebung prüft er seine Kräfte, an den ihn um-
gebenden Beispielen formt er sich das Bild des Lebens. Übergroße
Väter müssen dann Kinder haben, die an sich zweifeln, weil sie das
Bild des genialen Vaters niederdrückt und ein Gefühl der Minderwertig-
keit erzeugt, das ihrem Leben den Stempel aufdrückt. Jedes Kind hat
einen Wunsch: den Vater zu übertreffen. Dieser Wunsch mag sich
zuerst darin äußern, den Vater zu erreichen, so groß und stark zu sein
wie der Vater. Schließlich mündet der Wunsch in einen stillen Wett-
bewerb, der sich zwischen Vätern und Söhnen und zwischen Mutter
und Tochter abspielt, so lange die Welt existiert. Nach einem starken
Vater formt sich der starke Sohn. Wie aber, wenn der Vater schwach
ist und die Mutter im Hause regiert? Was für ein sonderbares Weltbild
muß 60 ein Kind in sich aufnehmen? Muß es nicht glauben, die Frauen
regierten die Welt, muß es sich nicht zu dieser Frage so stellen, daß
es sich entweder wünscht, ein Weib zu sein und zu herrschen, oder
als Mann dem Weibe zu entfliehen, wenn es seinen „Willen zur Macht"
durchsetzen will?
In diesen Konflikt mischt sich die Sexualität, mischt sich die
Erotik und verwirrt die kindliche Seele, schiebt die Entscheidung
hinaus, erfüllt das kindliche Herz mit Angst und Zweifel.
Alfred Adler, der diesen Zusammenhängen mit großem Scharf-
sinn nachgespürt hat, hat einen wichtigen Faktor in der Dynamik der
Neurosen in dem „männlichen Proteste" erblickt. Aus dem Wunsche
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. B19
„Ich will ein ganzer Mann sein!" wären alle Reaktionen und Schutz-
bauten des Neurotikers zu erklären. Die Homosexualität zeigt uns
diesen Protest in einer sonderbaren Verzerrung. Der Homosexuelle
schreit: Ich will ein Weib sein! Er kann sogar bis zum Transvestismus
gehen und sich als Weib kleiden. Adler hilft sich durch einen un-
erlaubten Kunstgriff und meint: Es wäre ein männlicher Protest mit
weiblichen Mitteln. Auf diesem Wege hoffe der Homosexuelle sein
Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen; er fliehe das Weib, weil er eine
Niederlage fürchte, er weiche den Entscheidungen aus. Das stimmt nur
für einzelne Züge, aber nie für das Gesamtbild. Beim Problem der
Homosexualität scheitert die Hypothese von Adler vollkommen.
Das Maßgebende ist, daß sich in der Seele des Kindes ein Wunsch
festsetzt, der sich meist nach dem Kräfteparallelogramm der Familie
richtet. Ist die Mutter die Starke, die Herrin, so muß der Wunsch
entstehen: Ich möchte so sein wie die Mutter! Ich möchte wie sie
herrschen und erobern! Die Liebe zur Mutter kann diesen Identifizie-
rungsprozeß steigern und vollends zur zielsetzenden Kraft gestalten.
Das Kind wird schon in frühen Jahren die Mutter nachahmen, wird
sich weiblich gebärden, wird mit Puppen spielen, wird kochen, wird
gerne Mädchenkleider anlegen. Es kann diese Einstellung überwinden
oder es bleibt in ihr stecken, es greift auf sie zurück und wird erst
später ein Homosexueller. (Tardive Homosexualität.) Ich spreche jetzt
der Einfachheit halber von Knaben. Der gleiche Effekt kann aber
erzielt werden, wenn ein brutaler Vater die Mutter unterdrückt, das Kind
die Mutter leiden sieht, der Vater ihm als ein abschreckendes Beispiel
erscheint. Dann kann der „Wille zur Macht" im Kinde
sich dem „Willen zum Ethos" beugen. Das Kind
wünscht: Ich will lieber nicht herrschen, wenn ich so werde wie der
Vater und will lieber so sein wie die Mutter. Liebt dieses Kind den
tyrannischen Vater, so kann das Kind homosexuell und passiv werden:
Ein Weib und einem starken Mann ergeben.
Das sind einige willkürlich herausgegriffene Beispiele aus dem
Leben. Ich habe sie hervorgehoben, weil man so oft von Homosexuellen
hört, sie hätten eine energische starke Mutter gehabt, der Vater wäre
in der Ehe eigentlich der weibliche Teil gewesen. Natürlich kommt
auch das Gegenteil vor. Ebenso häufig ist die Angabe, daß die Mutter
schwer neurotisch gewesen . -. . Es gibt keine allgemeine Regel in der
Psychogenese der Homosexualität. Jeder Fall erfordert eine in-
dividuelle Lösung. ' Deshalb sind die Leitsätze von Sadger als un-
umstößliche Axiome absolut nicht zu verwenden. Jeder dritte Fall
wirft sie über den Haufen.
320 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Es führen viele Wege zur Homosexualität.
Wir können unmöglich alle beschreiben. Wir
können nur einzelne Typen hervorheben.
Wir wenden uns nun zu der Besprechung des wichtigen Themas:
Wie verhält sich der Neurotiker zu seiner Mutter? Wir haben gesehen,
daß Analytiker die Homosexualität mit der verdrängten Liebe zur
Mutter in Beziehung bringen. Halten wir uns zuerst an meine kleine
Statistik. Meine 20 Homosexuellen antworten auf die Frage: „Haben
Sie eine besondere Vorliebe für die Mutter oder den Vater? Oder Rh-
eines Ihrer Geschwister?"
„Nur für die Mutter — Mutter — keine besondere Vorliebe —
beide gleich - für die Mutter - für den Vater — keine besondere
Vorliebe — eher für die Mutter — liebe die ganze Familie außerordent-
lich — für den Vater — Mutter — für meinen Vater — Mutter —
Mutter — Mutter — Mutter — Ich liebe besonders einen Bruder (alle
anderen gleich) — den Vater — die Mutter."
Ungefähr die Hälfte betonen eine stärkere Liebe für die Mutter.
Nun habe ich diese Fälle herausgewählt, weil ich gerade an einem Falle
sehr prägnant nachweisen kann, daß sich hinter der Liebe zur Mutter
eine leidenschaftliche Ablehnung des Vaters verbirgt; ein anderer hat
die Liebe zur Schwester, die in der Psychogenese seiner Homosexualität
eine große Rolle spielt, ganz verschwiegen. Eine solche Statistik be-
darf der Überprüfung durch die Analyse. Aber auch nach dieser Prüfung
bleibt noch immer ein gewisser Prozentsatz, bei dem die übertriebene
Liebe zur Mutter besonders deutlich ist. Auch unter den Fällen, in
denen die stärkere Liebe zum Vater betont wird.
Hirschfeld betont das Attachement des männlichen Urnings an
seine Mutter als ein konstantes Vorkommen. Er behauptet:
„Zu einem Weibe allerdings fühlt sich der Homosexuelle in
einer ganz besonderen Liebe hingezogen: zu seiner Mutter und auch hier
fehlt nicht die Analogie, die uns oft ein besonders inniges Verhältnis
zwischen der urnischen Tochter und ihrem Vater zeigt.1) Das
Attachement des Homosexuellen an seine Mutter ist so typisch, daß die
* reudache Schule in diesem „Mutterkomplex" eine Ursache der Homo-
sexualität hat erbhcken wollen. Ich halte diese Folgerung
für einen Trugschluß. Der Homosexuelle entwickelt sich nicht
zum Urning, weil er sich schon als Kind zu der Mutter so stark hingezogen
fühlt, sondern früher ahnend als wissend lehnt er eich in dem unbe-
stimmten Gefühl seiner Schwäche und Sonderart an die Mutter an, die
ihrerseits, ebenfalls instinktiv, ihn oft zu ihrem Lieblingskinde
macht. "
*) Auch da6 Gegenteil kommt vor.
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 321
Diese Folgerung von Hirschfeld möchte ich nicht unterschreiben.
Der Urning ist häufig das Lieblingskind der Mutter, oft schon ehe er
geboren wurde. Seine Bevorzugung erwidert das Kind durch eine
leidenschaftliche Liebe zur Mutter, mit welcher es sich dann voll-
kommen identifiziert. Oft hatte sich die Mutter ein Mädchen gewünscht
und erzieht den Knaben dann wie ein Mädchen. So kannte ich einen
Urning, dem seine Mutter lange Zeit keine Höschen geben wollte, den
sie immer um sich hatte, dem sie in den ersten Kinderjahren die Geni-
talien in einer Hautfalte versteckte und ihm sagte : Du bist ein Mädel.
Er wurde noch als größerer Knabe öfters in Mädchenkleider gesteckt
und hatte noch im späteren Alter eine ausgesprochene Neigung zum
Transvestismus.
Es gibt zweifellos viele Fälle, in denen die direkte Liebe zur
Mutter alles Lieben zum weiblichen Geschlechte absorbiert hat.
So sagt ein Urning aus der Beobachtung von Hirschfeld:
„Meine Mutter war mein Alles, sie war mein bester Freund, sie war
das Alpha und Omega meines Lebens. Für sie hatte ich viel schöne
Pläne geschmiedet, um ihr Alter zu verschönern ... Da ereignete sich
die Katastrophe, die fast *die Vernichtung meines' Lebens bedeutete, der
Tod entriß mir meine so innigstgeliebte Mutter. Die Nachricht ihrer
Erkrankung, die mich das Schlimmste befürchten ließ, traf mich im Norden
von Irland und die Qualen, die ich in den zwei Tagen und zwei Nächten
auf der Eeise nach Deutschland ausstand, können keine Worte beschreiben.
Leute verließen mein Kupee in der Bahn, weil sie fürchteten, ich könne
wahnsinnig werden . . . Ich pflegte meine Mutter Tag und Nacht drei
Wochen lang, da entriß sie mir Gott, und ich blieb als einsamer Wanderer,
an Leib und Seele gebrochen, zurück. Dies war ein Schlag, von dem ich
mich nio erholen konnte. Ich kehrte des Vergessens wegen in meine alte
Tätigkeit nach England zurück, aber alles war umsonst. Vergessenheit
gab es für mich nicht, der Schmerz nagte Tag und Nacht an meiner Seele
und meinem Körper. Ich hatte alle Widerstandskraft verloren. So ging
ich wieder nach meiner Heimat in das alte Familienhaus, wo meine
Familie schon 100 Jahre gelebt hatte. Oft war ich dem Wahnsinne nahe
und fühlte mich nur etwas ruhiger auf dem Friedhof an den Gräbern
. meiner Eltern. Da ich keine Ruhe fand, reiste ich. In allen Kirchen und
Kathedralen der Städte und allen Kapellen der Dörfer habe ich Gott
für die Seele meiner geliebten Mutter angefleht. Der ewig quälende
Schmerz über den Tod meiner geliebten Mutter hatte meine Nerven sehr
angegriffen . . . Durch diese heftigen Gemütsbewegungen fühlte ich mich
wie gelähmt, mein Denkvermögen war paralysiert, ich verfiel in Trüb-
sinn und Melancholie, obgleich ich mich oft anstrengte, mich aufzuraffen.
Ich gab allen Briefwechsel auf, da niemand mich zu trösten vermochte.
Als diese Welt, die zwischen meiner Mutter und mir herrschte, erlosch,
hatte das Leben kein Interesse mehr für mich."
Stokol, Störungen dos Trieb- und Affektlobens. II. 2. Aufl. 9J .
t
/
322
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Das Verhältnis der Urlinde zum Vater und des Urnings zur Mutter
betont auch das Grundschema von Hirschfeld:
Urnischer Knabe:
Er bevorzugt Mädchenspiele,
meidet ausgesprochene Knaben-
spiele, hat viel Mädchenhaftes im
Charakter und Benehmen, häufig
■ auch im Aussehen. (Bemerkungen
der Umgebung : „Er ist das reine
Mädchen.")
Urnisches Mädchen:
Sie bevorzugt Knabenspicle,
hat Abneigung gegen weibliche
Handarbeiten- Näschereien usw.,
vi»l „Knabenhaftes" in Wesen,
Bewegungen, oft aucli im Aus-
sehen. (Bemerkungen: „Sie ist
wie ein Junge.")
II. Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht:
Er befindet sich lieber in Ge-
sellschaft von Mädchen.
Seelische Fixierung an die
Mutter.
III. Verhalten gegenüber
(unbewußt erotisch gefärbt):
Instinktive Zurückhaltung
und Schamhaftigkeit gegenüber
Knaben. Oft schwärmerische Ver-
ehrung eines Lehrers oder Mit-
schülers.
Sie tummelt sich lieber mit
Knaben.
Innigeres Verhältnis ' zum
Vater.
dem eigenen Geschlecht
Die Schamhaftigkeit ' ist
gegenüber Mädchen größer.
• Häufig Schwärmerei für eine
Lehrerin, Mitschülerin oder eine
andere weibliehe Person.
Wie mächtig aber der Einfluß der Mutter durch die Erziehung
wirken kann, beweist eine Stelle aus einem Krankenbericht:
„Ein junger Leutnant erzählt: Sobald ich dem Schulzimmer entflohen
war, eilte ich zu meinen Freundinnen. Meine Mutter liebte es, mfch zu
ihren Geschäftsgängen mitzunehmen und fragte mich dann bei Einkäufen,
wie mir dieses oder jenes gefiele.- Bei jedem neuen Hut, den sich meine
Mutter kaufte, wurde ich als Modell verwandt, das heißt, mir wurden die
verschiedenen Damenhüte auf den Kopf gesetzt und der mich am besten
kleidete, den erkor meine Mutter für sich. „Du siehst wie ein kleines
Mädchen aus," sagte mir meine Mutter häufig bei der Hutprobe, „s c h a d e.
daß du kein Mädel geworden bist." (Hirschfeld, 1. c. S. 113.)
Dies „schade, daß du kein Mädchen geworden
b i s t", zeigt uns, wie die Mutter die Seele des jungen Kindes, die ja
so plastisch ist, beeinflußt. Hirschfeld aber meint, die Verhältnisse
lägen umgekehrt. Die Eltern ahnten die homosexuelle Anlage ihres
Kindes und behandelten es danach:.
„Oft unterstützen die Angehörigen die. Veranlagung urnischor
Kinder und beschäftigen sie dementsprechend. Die Väter fühlen sich zu
urnischen Töchtern besonders hingezogen — die Mütter verwenden hin-
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 323
gegen ihre urnischen Söhne gern zu allerlei häuslichen Beschäftigungen.
Man glaube jedoch nicht, daß erst durch die Erziehung diese femininen
oder virilen Eigenschaften hervorgerufen werden, bei einem nicht urnischen
Knaben würde die Mutter überhaupt nicht solche Verwendung suchen.
Wenn Krafft-Ebing in seiner Epikrise des Falles der Gräfin S a r 0 1 1 a
Vay schreibt: „eine Marotte des Vaters war es unter anderem, daß er
S. ganz als Knaben erzog, sie reiten, kutschieren, jagen ließ, ihre Energie
als Mann bewunderte, sie Sandor nannte. Dagegen ließ dieser närrische
Vater seinen zweiten Sohn in Weiberkleidung gehen und als Mädchen er-
ziehen", so darf man zugunsten des Vaters annehmen, daß er vermutlich
nur der ausgesprochenen Neigung und dem starken Drängen der Kinder
allzu willfährig entgegenkam." {Hirschfeld, 1. c. S. 112.)
Freilich, wenn man alles so willkürlich auslegt und zu Ehren des
Vaters annimmt, er habe einen großen psychologischen Scharfsinn
erwiesen, so kann man alles beweisen.
Wer offene Augen hat, wird aus diesen Beobachtungen und , aus
einem anderen Falle von Hirschfeld, der in der Tat eine bedeutsame
Veröffentlichung darstellt, weil er den ganzen Jammer der Homo-
sexuellen offenbart, seine Schlüsse ziehen können. Ein Urning erzählt
von seiner Mutter:
„Inmitten seines Kummers fühlte er sich plötzlich umarmt, geküßt,
die Mutter hielt ihn fest umschlungen ; sie zog sein kleines Gesicht an
das ihrige und ihre Tränen flössen zusammen, bis sie ihn getröstet hatte
und seine Augen wieder lachten. Das waren unvergeßliche Momente im
Leben des homosexuellen Kindes. Er spürte, daß sein treuester Freund
die Mutter war, und sein dankbares Herz malte sich aus, wie er sie be-
schenken sollte neben anderen Müttern. Sein ganzes Wünschen und Hoffen
drehte sich um sie. Ihretwegen machte er seine Schulaufgabenä ihretwegen
hütete er sich, den Vater zu erzürnen; sie sollte nicht seinetwegen ge-
scholten werden. Sie zufrieden zu sehen, war sein Lebensziel. Daß sie
es nicht war, fühlte er, ebenso wio daß auch er daran mitschuldig sei,
und mit verdoppelter Zärtlichkeit hing er an ihr, der stillen Dulderin.
Inzwischen ward er 16 Jahre, es reifte in ihm das Geschlecht, und
eine verwirrende Unruhe erfaßte ihn. Die Kameraden erzählten ihm galante
Abenteuer. Nichts von allem, was sie glücklich machte, verspürte er.
Er fühlte sich vielmehr tief unglücklich, als sein bester Freund ihn mit
einem Mädchen „verriet". Er fing an, sich über sich selbst klarer zu
werden, und die erschreckende Erkenntnis, daß er sich seiner verirrten
Gefühle zu schämen hatte, machte ihn erbeben.- Er wollte alles daran
setzen, in die rechte Bahn zu kommen. Aber hier zu Hause konnte er
mit seinem Geheimnis nicht leben; seiner Mutter, die er über alles liebte,
wollte er das Herz nicht erschweren; er mußte fort; so verließ er das
Elternhaus, ging in die Fremde, um sein Geschlechtsleben zu reparieren.
In der Ferne erhielt er die- zärtlichen Briefe seiner Mutter, an die er wie
an eine Geliebte schrieb. Nach zweijähriger Abwesenheit kehrte er in
die Heimat zurück. Sein Leben entwickelte sich fortab unter den
Augen der Mutter, in der er den Inbegriff aller
21*
/
;)->4: Zweitor Teil. Die Homosexualität.
Weiblichkeit sah. Seine Liaisons mit Frauen waren keusch. Er
verehrte sie und hatte das Verlangen, ihnen zu dienen. Früh ward er ihr
Vertrauter, denn seine weibliche Seele machte ihn zu ihrem natürlichen Ge-
nossen. Dennoch war er tief unglücklich, da seine Gefühle für sie sich
nie in Sinnlichkeit umsetzten — die geschlechtliche An-
ziehung blieb au s.„ (Hirschield, 1. c. S. 105.)
Dieser Urning gesteht es ja mit seinen eigenen Worten, daß er
in der Mutter den Inbegriff aller Weiblichkeit sah. Der Schluß ist
dann leicht zu ziehen. Jedes Weib hat ein Stück von der Mutter an
sich! Solche Fälle waren es, die ich zuerst beobachten konnte und
die mich zu dem voreiligen Schluß verleiteten, jeder Homosexuelle
sei an seine Mutter fixiert und fliehe die Frauen, weil als unüberwind-
liche Hemmung ' zwischen ihm und dem Weibe das , Bild der Mutter
stehe.1)
Eine andere Bemerkung- von Hirschfeld scheint mir von größter
Bedeutung zu sein.
„Was das von Sadger und anderen Freudschülern hervorgehobene
starke Attachement der Homosexuellen an ihre Mutter betrifft, so liegt
dieses in der Tat vor, und zwar erstreckt es sich bei fast allen Homo-
sexuellen über die eigene Kindheit hinaus auf die ganze Lebenszeit der
Mütter. Wir sahen, daß viele, die ihre Mutter im vorgerückten Alter
verloren, sich lange Zeit nicht von diesem Schlag erholen konnten. Es
erscheint aber viel naheliegender, anzunehmen, daß diese starke Liebe
zur Mutter nicht als Ursache der Homosexualität anzusehen ist, sondern
als Folge. Abgesehen von seiner feminineren Natur, verweist auch der
Mangel eigener Häuslichkeit den Homosexuellen inniger und länger an
seine Mutter, besonders wenn diese, was gerade bei homosexuellen
Kindern nicht selten, eine stärkere Persönlichkeit ist. Bei Urningen,
die eine Ehe eingehen, ist diese Hingabe an die Mutter nicht 60 ausge-
sprochen, vielfach überträgt sich dann dieser nicht erotische, wenn aucli
äußerlich erotische Liebe leicht vortäuschende Gefühlskomplex auf die
Gattin." .(Hirschfeld, I.e. S..?44.)
Mit diesen Worten und der Möglichkeit der Übertragung der
Mutterliebe auf ein anderes weibliches Wesen gibt ja Hirschfeld die
Heilungsmöglichkeit zu, welche die Analytiker anstreben. Nur möchte
ich davor warnen, die ganze Frage der Homosexualität durch die Be-
tonung der einen Tatsache erledigen zu wollen.
*) In einem Roman, der eine Selbstbiographie und ein Bekenntnis ist, erzählt
der Seid, daß er bei 6einem ersten Besuch im Lupanar immer an seine Mutter denken
mußte. (Erlebnisse des Zöglings Taxil. Wiener Verlag.) Dieses Buch ist auch interessant
weil es die homosexuellen Begebenheiten einer Kadettenschule ausführlich schildert.
Diese Tatsache, daß junge Menschen bei den ersten Besuchen im Bordell an ihre Mutter"
denken müssen, ist häufig die Ursache einer vollkommenen Impotenz. Vgl. Weininger:
(„G eschlecht und Charakte r") da6 Kapitel : Mutter und Dirne.
J
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 325
In erster Linie möchte ich hervorheben, daß es zwei Muttertypen
in der Geschichte der Urnings gibt: die starke Mutter und die schwache
Mutter. Beide kommen vor und beide können das Schicksal ihres Kindes
determinieren. Hirschfeld betont, daß der Urning sich
leicht an die starke Mutter attachieft. Dies stimmt
auch mit meinen Beobachtungen und zeigt uns einen ganz bestimmten.
Typus von Homosexualität, den ich bald beschreiben werde. Die starke
Mutter beherrscht ein schwaches Kind ihr ganzes Leben lang, sie läßt
es nicht mehr, los und bestimmt sein Verhalten zum weibliehen
Geschlechte.
Es wird auch von Interesse sein, diesbezüglich die Ansicht eines
Mannes zu hören, der in einer Millionenstadt der geistige Führer der
Homosexuellen ist, sie organisiert und große Erfahrungen hat. Dieser
Herr schreibt mir:
Sehr geehrter Herr Doktor!
Ihrem geschätzten Wunsch entsprechend gestatte ich mir, Ihnen nach-
stehend einige Lebensbeschreibungen zu übermitteln.
Vorher möchte ich Ihnen noch das Resultat einer Rundfrage mitteilen:
Ich habe sie an 800 Personen gestellt. Es ist sehr bemerkenswert, daß keiner
der Befragten wußte, daß seine Antwort für mich von besonderem Interesse sei,
da dieselbe in ganz alltäglichen Gesprächen eingeflochten war. Es dürfte dem-
nach auch der Einwand, der in medizinischen Kreisen sonst sehr oft erhoben
wird, nicht stichhältig sein, nämlich, daß den Aussagen von Patienten kein
oder sehr wenig Wert beizumessen sei, da dieselben unwahre oder zumindestens
unwillkürlich zu ihren Gunsten beeinflußte Darstellungen geben.
Unter 800 Befragten erklärten 65 % , d a ß ihre M utteräu ß e r s t
energisch und selbständig sei, während der Vater sanft und
gutmütig, sowie unselbständig und sehr leicht zu beeinflussen wäre.
Meines Erachtens sind diese 65% durch Vererbung übertragene Fälle,
in den restlichen 35% -dürften sich ja gewiß auch noch eine Anzahl derselben
verbergen, doch konnte ich dies selbstverständlich n,icht feststellen, interessant
aber müßte hier eine ärztliche Untersuchung .sein.
Ebenso sprechen für eine weitaus überwiegende angeborene Veranlagung
die so häufigen Erscheinungen, daß in Familien, in welchen eines der Kinder
homosexuell ist, alle oder doch zumindestens die meisten seiner Geschwister
ebenfalls gleichgeschlechtliche Veranlagung aufweisen.
*
Einige Beispiele.
1. U. Seh., 26 Jahre, Kaufmann. Die Mutter äußerst selb-
.ständig, in allen Fragen tonangebend. Der Vater gutmütig,
leicht zu beeinflussen. U. Seh. war vor einigen Jahren in Behandlung von
Prof. Pilz. Er verkehrte dann auch geschlechtlich mit Mädchen, hatte aber
nach dem Akt stets Abscheu und das Bedürfnis, mit Männern zu verkehren.
Anfangs setzte er diesem Verlangen Widerstand entgegen, nach zirka zwei
Monaten aber — er war inzwischen körperlich stark herabgekommen — gab
er allmählich wieder nach und verkehrt heute ausschließlich mit Männern.
326 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Sein um fünf Jahre jüngerer Bruder ist Schauspieler und ebenfalls homosexuell
Sein älterer Bruder, auch Kaufmann, ist in seinem Sexualleben vollkommen
normal, jedoch sehr unselbständig und launenhaft. Seine Schwester ist eben-
falls heterosexuell, hat aber äußerst männliche Züge und Körperformen
leichten Bartanflug und eine Baßstimme, welche selbst bei einem Manne als
äußerst tief bezeichnet werden müßte.
2. Graf X 25 Jahre, Mutter sehr energisch. Derselbe ist
auch in seinen Bewegungen äußerst feminin, ziemlich unvorsichtig und war
schon m einige unangenehme Affären verwickelt, in welchen wir auch mit Er-
folg intervenierten. Von seinen drei Brüdern sind zwei ebenfalls homosexuell
von der Familie im weiteren Sinne gesprochen, auch zwei seiner Vettern. ' '
3:.1?arl ~*\ ,28Janre> Bankbeamter. Hat schon eeit sechs Jahren mit
seinen alteren Ivo legen verkehrt. Derselbe ist sehr stark feminin und hat
das Bedürfnis, stete m Angst zu leben. Stete fürchtet er, daß jemand seiner
Angehörigen von seiner Veranlagung erfahren könnte, obwohl er Ausländer
ist und gar memanden Bekannten hier ansässig hat. Bietet sich aber einmal
ftieliir kein Grund, so hat er bald einen anderen ausfindig gemacht. So bei-
spielsweise fürchtet er sich auch auf dem Gehwege, auch ganz an dessen
Innenseite von einem Automobil überführt zu werden, etc. Da derselbe
aber sonst geistig vollkommen normal ist, schließe ich auf eine stark maso-
chistische Veranlagung, welcher die eigene Angst Befriedigung gewährt. Eine
direkte Art der masochistischen Betätigung liegt nicht vor. Hingegen ver-
kehrt u nur mit Personen der niedersten Gesellschafteschiehte (Pflasterer
Kutscher etc.), Wobei wahrscheinlich auch die hiedurch erhöhte Gefahr ihm
den Anreiz bietet. Seine Mutter ist .normal veranlagt, jedoch eine äußeret
e ner g i s c h e Frau, leitete stets die Bewirtschaftung ihrer Güter selbständig
und hat .auch bei einem Einbruch in ihre Wohnung die beiden Strolche nieder-
geschlagen und dingfest gemacht. Sie ist jetzt das zweitemal verheiratet
hat kleinen Bartanflug und trägt in ihrer Wohnung auch häufig Männer-
kleidung.
Wir werden uns nicht wundern, wenn der Experte die Tatsache
betont, daß. die Homosexualität in vielen Fällen gehäuft auftritt.
Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Auch die Tatsache, daß 65%
der Homosexuellen sehr energische Mütter haben, kann an und für
sich nicht als ein Moment herangezogen werden, das für die Psycho-
genem der Homosexualität typisch ist. Der Experte meint wohl,' daß
es sich um männliche Frauen handelt, so daß sie dann auch weibliche
Söhne zur Welt brachten.
Ich möchte jetzt an einem Fall eigener Beobachtung' ausführen,
in welcher Weise die Homosexualität durch eine energische Mutter zu-
stande kommt, aber gleich im Anschluß daran einen Fall vorführen,
in dem das Gegenteil beobachtet wurde. Auch sind jene hochinter-
essanten Fälle in Betracht zu ziehen, da der Homosexuelle früh von
seiner Mutter entfernt, wurde oder eine hatte, die früh verstarb. (Ich
kenne mehrere Homosexuelle, . deren Mutter bei ihrer Geburt starb.1)
/ /
Die Familie des Homosexuellen. - Sein Vorhalten zur Mutter. 327
Unmöglich kann man sich dann wie Badger mit dem Einfluß der Pflege-
person helfen. Denn alle jene Hemmungen, welche die sexuelle Ein-
stellung zur Mutter verhindern, können bei der Pflegeperson (Amme,
Kinderfrau usw.) wegfallen . . . und trotzdem tritt die Homosexualität
auf. Der Weg zur Homosexualität steht eben jedem Menschen offen.
Die Kräfte, die ihn zum gleichen Geschlechte drängen, sind hetero-
genster Natur.
Fall Nr. 58. Herr Ypsilon, ein Theologe im Alter von 33 Jahren, erzählt,
daß er schon seit der Jugend homosexuell sei und schwer darunter leide. „Ich
habe eine solche Zuneigung zu schönen Knaben, daß ich am ganzen Körper
zu zittern anfange, wenn so ein Junge vorbeigeht. Ich fürchte, daß ich mir
einmal in der Schule werde etwas zu schulden kommen lassen. Ich möchte
mich von dem krankhaften Trieb befreien lassen, wenn es irgendwie angeht.
Ich kenne aber alle Schriften von Hirschfeld und weiß, daß es für mich keine
Hilfe gibt, da der Zustand angeboren ist. Ich stamme aus einer wohlhabenden
Familie, die sehr kinderreich ist. Alle unsere Verwandten haben mindestens
ein halbes Dutzend Kinder: Ich wurde auch als das siebente der Kinder ge-
boren, der einzige Knabe unter lauter Mädchen. Nach mir kam noch eine
kleine Schwester und dann starb mein Vater. Ich war sechs Jahre alt, als
mir sein Tod berichtet wurde. Ich erinnere mich noch, daß ich ziemlich gleich-
gültig war und weiter mit meinen Puppen spielte, so daß meine Tante mir
vorwarf, ich wäre ein garstiger Junge und hätte gar kein Herz. Ich wußte
noch nicht, was ich verloren hatte. Vielleicht wäre alles mit mir anders ge-
kommen, wenn ich vom Vater erzogen worden wäre. Doch auch daran zweifle
ich. Mein Vater war ein guter, schwächlicher Mann, der meiner ^Mutter nicht
gewachsen war. Die Mutter war der Herr im Hause und der Vater soll sie
immer sehr respektiert und alles getan haben, was sie von ihm verlangte.
'Ich erinnere mich noch an Spaziergänge mit dem Vater, in denen er sehr
langsam ging, weil er herzleidend war. Er stützte sich manchmal auf seinen
dicken Stock und mußte immer tief Atem holen. Vielleicht stammt daher
meine Gewohnheit, während der Spaziergänge stehen zu bleiben und tief auf-
zuatmen. Die Mutter war sehr nervös, leicht erregbar, litt viel an Migräne,
während der das ganze Haus mäuschenstille sein mußte. Sie war sehr energisch
und sehr strenge. Ich wurde auch wiederholt von ihr gesehlagen und nicht
immer war die Strafe am Platze. Ich war ein sanftes, leicht lenkbares Kind,
das sich keine Gedanken darüber machte und leicht vergessen konnte. Ich
war nachdenklich und träumerisch und oft so in meine Spiele versunken,' daß
ich die ganze Welt um mich vergaß. Ich beneidete die Schwestern, die so
viele Puppen hatten, und zog die Puppen meinen Soldaten vor. Ich kränkte
mich, wenn man mir Säbel und Soldaten brachte, und wünschte mir eine schöne,
große Puppe zu Weihnachten. Es war immer mein Schmerz, daß ich sie
nie erhielt. Wenn mir aber die Schwestern ihre Puppen borgten, war ich
überglücklich. Ich hatte leider keine Knaben als Gespielen, nur meine
Schwestern und ihre Freundinnen, und wurde als einziger Bub oft von ihnen
gehänselt und hinausgeschickt, wenn sie wisperten und sich „Geheimnisse-1
mitteilten. Es hieß dann immer: „Das geht dich nichte an! Das ist nur für
Mädels!" Ich war schüchtern und feige und lief davon, wenn fremde Knaben
mit mir raufen wollten.
328
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich war trotzdem sehr stolz, daß ich der einzige Junge in der Familie
war, weil ich wieder von den Verwandten sehr gehätschelt wurde. Nur kränkte
ich mich, daß man immer von mir mehr verlangte, weil ich ein Junge war.
Ich mußte viel mehr lernen und beneidete oft die Schwestern, daß es ihnen
besser ging. Ich hatte auch oft Streit mit ihnen und erinnere mich, daß ich
trotz meiner Sanftmut sehr wild werden konnte. Ich ging einmal mit einem
Messerchen auf eine Schwester los, die mich in Wuf gebracht hatte, so daß
sie zitternd zur Mama lief. Damals wurde ich gehörig verhauen. Ich weiß
aber seit jenem Erlebnis, daß in mir auch eine große Wildheit steckt, die
mich zu den gefährlichsten Taten treiben könnte. Ich erleide deshalb lieber
Unrecht und stecke manches ein, weil ich fürchte, es könnte sonst meine Wut
wieder zum Vorschein kommen.
Ich war sehr talentiert und lernte ursprünglich sehr leicht. Später wurde
ich zerstreut und mußte alle Kraft zusammennehmen, um in der Schule auf-
passen zu können. Ich war sehr naiv und unschuldig und glaubte noch lange
an das Storchmarchen. In der Schule verliebte ich mich in einen Jungen. Ich
glaube, ich war damals ungefähr 11 Jahre alt. Ich bewunderte ihn und wollte
ihm gern m. allen Stücken gleichen. Da er der beste Schüler war, so bemühte
ich mich auch, vorwärts zu kommen, und war bald sein Rivale. Ich war sehr
eifersüchtig, wenn er mit anderen Knaben verkehrte und durfte ihn nicht näher
kennen lernen, weil er armer Leute Kind war, und seine Familie meiner Mutter
die immer einen ausgesprochenen Patrizierstolz hatte, nicht paßte. Ich aber
war glücklich, wenn ich nur ein paar Worte mit ihm reden durfte. Um die
Madchen kümmerte ich mich gar nicht und wunderte mich, daß die anderen
Schüler so oft von Mädchen sprachen und ihnen nachliefen. Ohne verführt zu
werden, fing ich mit 13 Jahren zu onanieren an und war sehr glücklich darüber,
eine so schöne Kunst erfunden zu haben. Ich wußte damals noch nicht, daß
dies die Quelle meines schweren Leidens werden sollte. Allmählich wurde ich
von meinen Mitschülern aufgeklärt; die rohe Wirklichkeit widerte mich an.
ich hörte alle diese Gespräche, und sie blieben an mir nicht haften.
Um diese Zeit entstand in mir der Wunsch, Geistlicher zu werden. Ich
war immer sehr fromm und meine Mutter nahm mich schon als sehr kleines
Kiud jeden Sonntag in die Kirche mit. Ich dachte, auf der Kanzel stehen und
predigen sei das Höchste, was ein Mensch erreichen konnte. Besonders machte
es auf mich einen tiefen Eindruck, als einmal ein Superintendent zu uns ins
Haus kam und meine fromme Mutter ihm die Hand küßte. An diese Szene habe
ich oft denken müssen und seit ich die modernen psychologischen Schriften
und besonders Ihre Bücher kenne, bin ich der Ansicht, daß dieser Eindruck es
war, der mich zum geistlichen Berufe drängte.
u tu I(i WiH Ihnen nicht verschweigen, daß ich um die Zeit der Matura eine
heftige Periode des Zweifels mitmachte, und mein Glauben unter dem Eindruck
der Schriften von Haeckel, die mir ein Kollege borgte, sehr zu wanken anfing.
In meiner Not ging ich zu dem Superintendenten, der mich vollends von der
Haltlosigkeit dieser Werke überzeugte und meinen Glauben neu bestärkte. Ich
hatte noch mit meiner Mutter zu kämpfen, die trotz ihrer Frömmigkeit mit
meiner Berufswahl nicht zufrieden war. Ich sollte die Güter meines Vaters über-
nehmen und mich dafür ausbilden lassen. Es widerstrebte mir, und es gelang
mir mit Hilfe des Superintendenten, meine Mutter zu bestimmen, einzuwilligen.
Noch hatte ich nicht das Bewußtsein meiner Abnormität. Ich war schon
19 Jahre alt und war der festen Überzeugung, ich könnte mit einer Frau ver-
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 329
kehren, wenn ich nur wollte. In dem ersten Jahre meiner Hochschulstudien ließ
ich mich nach einer wüsten Trinkerei von Kollegen verleiten, mit ihnen ins
Bordell zu gehen. Im Rausche verkehrte ich einmal — ich glaube ohne jeden
Genuß — : und mußte dies Erlebnis teuer bezahlen. Denn das Erwachen am
nächsten Tage war fürchterlich. Ich kam mir entwürdigt und entmenscht vor
und schämte mich vor meinen Freunden und vor mir selbst. Am liebsten hätte
ich mir das Leben genommen, so verzweifelt war ich damals. Ich fürchtete auch,
ich hätte mich infiziert. Ich hatte schon viel über Geschlechtskrankheiten ge-
hört und glaubte nun fest, daß ich krank sein müßte. Ich schämte mich aber,
zu einem Arzt zu gehen . . . Erst das eingehende Studium einiger populär-
wissenschaftlicher Bücher gab mir die Beruhigung, daß das böse Erlebnis keine
Folgen nach sich gezogen hatte.
Da kam ein Prozeß, der das Thema Homosexualität ins Haus brachte.
Ich kam plötzlich zur Erkenntnis, daß ich abnormal war. Bisher war ich ge-
neigt, die Schwärmerei für schöne Knaben als eine Art griechischen Schön-
heitskultus zu betrachten. Ich wollte mir keine Rechenschaft geben. Nun stand
es in aller Klarheit vor mir, und ich mußte mir gestehen, daß ich so war wie
der Angeklagte des Prozesses. Es handelte sich um einen Lehrer, der einige
seiner Schüler verführt hatte.
Ich nahm mir vor, die Leidenschaft für Knaben auszurotten und den
Verkehr mit Frauen aufzunehmen. Leider konnte ich mich nie als Mann er-
weisen, weil ich einen Ekel vor den Frauen empfand, wenigstens vor denen,
die ich kennen lernte. Sie — es handelte sich natürlich immer nur um Dirnen
— hatten alle einen fürchterlichen Geruch, der mich zur Verzweiflung brachte
und jede sexuelle Erregung unmöglich machte. Immer mußte ich konstatieren,
daß die Dirne einen eigenartigen Gestank ausströmte, wenn sie sich auszog.
Ich konnte diesen Gestank auch konstatieren, wenn das Mädchen stark parfü-
miert war, was bei diesen Frauen so oft der Fall ist.
Ich hoffte, daß ich durch eine rasche Heirat auf die Bahn des Normalen
gelangen könnte. Ich war ja reich und unabhängig. Nach meinem Examen er-
hielt ich eine Stelle als Religionsprofessor an einem Gymnasium. In dieser
Stadt lernte ich ein älteres, sehr sympathisches Mädchen kennen. Ich pflegte
mit ihr anregenden Umgang und überzeugte mich, daß sie in jeder Hinsicht
ein vortreffliches Wesen war. Wir standen schon fast vor der Verlobung. Ich
war glücklich, daß ich niemals an ihr jenen unangenehmen Geruch der ex-
tremen Weiblichkeit beobachten konnte, der mich aus dem Bordell vertrieben
hatte. Da merkte ich eines Tages, daß sie ihre jüngere Schwester sehr ener-
gisch anfuhr, so daß es zu einem kleinen Streit kam. Die Schwester warf ihr
nun vor, daß sie „herrschsüchtig" wäre. Dies Wort fiel wie ein Feuerbrand
in meine Seele. Ich hasse alle herrschsüchtigen Frauen und finde Männer, die
unter dem Pantoffel stehen, lächerlich. Ich hatte nun keine Ruhe und überlegte
immer hin und her. Ich mußte mir sagen, daß ich der schwächere Teil bin,
und daß sie mich vollständig beherrschen werde. Ich glaube aber, es war nur
ein Vorwand, um nicht heiraten zu müssen. Denn immer mehr verfolgten mich
die Gedanken an die Knaben, und ich verliebte mich in einen meiner Schüler,
so daß ich fast wahnsinnig wurde, weil fch den sündigen Gedanken aus meinem
Kopfe jagen wollte. Schließlich habe ich diese Leidenschaft überwunden. Aber
nur dadurch, daß ich täglich dem anderen Laster, der Onanie, fröhnte. Da
war ich zu schwach, um zu widerstehen, und obwohl ich weiß, daß ich mich
für mein ganzes Loben schädige, bin ich doch nicht imstande, ohne die Onanie
330 Zweiter Teil. Die Homosexualität,
zu leben. Denn nach der Onanie bin ich viel ruhiger und kann wenigstens,
schlafen."
Dieser Bericht ist eine der gewöhnlichen Beichten, wie wir sie von Ho-
mosexuellen hören. Ich schlage dem Kranken eine längere Behandlung vor,
auf die er gern eingeht. Solche Fälle sind schon aus dorn Grunde dankbarer,
weil der entschiedene Wille zur Heterosexualität vorhanden ist. Andere Homo-
sexuelle, die nur aus Not (z.B. wegen gerichtlicher Verfolgung) sich analy-
sieren lassen, haben nur einen Wunsch: Die Analyse möglichst rasch hinter
sich zu haben und ihre Paraphilie zu behalten.
Die Analyse ging ziemlich flott vor sich. Zuerst trat zutage, daß er noch
eine Reihe heterosexueller Episoden erlebt hatte, die er in dem ersten Bericht
unterschlagen hatte. Er hatte sich so in den Gedanken der
angeborenen Homosexualität eingelebt, daß er alle
anderen Erlebnisse aus seinem Gedächtnisse ver-
loren hatte. Nicht wirklich verloren, auch nicht im Sinne Freuds so
verdrängt, daß sie ihm vollkommen unbewußt waren. Eigentlich wußte er
alles. Er wollte nicht daran denken. Wenn ich fragte :• Weshalb haben Sie
mir diesen oder jenen Vorfall verschwiegen, so sagte er: „Ich habe nicht
daran gedacht. Mit Absicht habe ich nichts verschwiegen. Das andere kam
mir in den Sinn, und an diese Szene habe ich nicht gedacht."
Zuerst erwähnt er, daß er schon vor der ersten Neigung, die ganz blaß
und nur angedeutet war, eine Bekanntschaft mit e"inem Mädchen hatte. Es war
im zweiten Jahre der Hochschule. Die Tochter seiner Zimmerfrau zeigte ihm
deutlich ihre Neigung. Sie gefiel ihm sehr gut, we.il sie knabenhaft aussah und
jenem Knabentypus ähnelte, der ihm so gefiel. Zart, blond, mit scharfen, feinen
Gesichtszügen. Sie küßten sich, und sie kam oft zu ihm ins Zimmer, wenn die
Mutter nicht zu Hause war. Ja, sie kam sogar einige Male in sein Bett, wobei
er sehr leidenschaftlich erregt wurde. Es war eigentlich das einzige Mädchen,
bei dem er nichts von dem unangenehmen Geruch verspürte. Aber er rührte
sie nicht an und berührte auch nicht ihre Genitalien. Davor hatte er eine un-
überwindliche Abneigung.1) Sie lagen still nebeneinander und hielten sich um-
schlungen. Als das Mädchen ihm sagte, er könne alles mit ihr machen, was
er wolle, sie liebe ihn so sehr, daß sie vor gar nichts zurückschrecke, wurde
er ängstlich und sperrte die Tür ab, so daß sie nicht zu ihm kommen konnte.
Er sagte ihr dann, er wolle sie nicht unglücklich machen, er habe Angst, er.
werde die Beherrschung verlieren. Bald darauf verließ er unter irgend einem
Vorwand die Stadt und suchte eine andere Hochschule auf. Sie korrespondierten
noch eine Weile, dann aber ließ er ihre Briefe uneröffnet liegen. Er wußte
nicht, warum. Er denke oft mit Sehnsucht an sie und glaube, sie wäre die
einzige gewesen, die ihn hätte retten können. Nun habe er sich um sein Glück
gebracht. Denn er habe vernommen, daß das Mädchen schon verheiratet sei.
Auf diese Weise benimmt sich der Homosexuelle sehr häufig, wenn er
Gefahr läuft, heterosexuell zu werden . . .
Dann erinnert er sich, daß er •noch einen zweiten Versuch bei einem
Dienstmädchen gemacht habe. Er weiß nicht mehr, ob ihn der Geruch gestört
*) "Aucli Hirschfeld betont — wie 6ehon erwähnt -r-, daß die Homosexuellen
Frauen hie und da küssen, aber Vor ihren Genitalien einen großen Horror zeigen.
•MldM
i>ic Familie des Homosexuellen. - Sein Verhalten zur Mutter. S81
hat, aber er führte den Beischlaf aus, ohne zu einem Orgasmus zu kommen.
Er wurde schließlich sehr müde und wich jeder weiteren Gelegenheit aus,
mit ihr zusammenzukommen.
Viel bedeutsamer ist aber, was er allmählich aus seiner Jugend erzählte.
Der Vater war ein großer Damenfreund, wie ihm seine Tante später gestanden
hatte. Er hatte einmal eine schwere Syphilis überstanden und war wahrschein-
lich an den Folgen dieses Leidens gestorben. Er erinnert sich an fürchterliche
Szenen, die sich im Hause zugetragen hatten. Die Mutter hätte den Vater an-
geschrien und ihn zornig aus dem Zimmer gewiesen. Ein anderes Mal
sperrte die Mutter die Türe innen mit einem Riegel ab, so daß der Vater nicht
in die Wohnung gelangen konnte und ins Hotel schlafen gehen mußte.
Nach dem Tode des Vaters hörte er im Nebenzimmer, wie die Tante mit
einer anderen Dame über die Mutter sprach. Sie hätte den Vater ins Grab ge-
trieben. Er sei etwas später aus dem Gasthause gekommen, und da habe ihm
die Mutter eine solche Szene gemacht. Der Vater habe sich so aufgeregt, daß
er einen Herzkrampf bekommen hätte und bald darauf gestorben wäre. Dann
hörte er etwas von Vergiften und er ahnte schon damals, daß der Vater nicht
eines natürlichen Todes gestorben sei. Erst später habe er erfahren, daß der
Vater sich in jener Nacht mit Morphium vergiftet habe. Er wollte mir das
zuerst nicht sagen, weil er das Andenken seines Vaters nicht entehren wollte.
Mit seiner Mutter sprach er niemals über die Todesursache seines Vaters. Aber
eine andere Tante teilte ihm den ganzen Sachverhalt mit. Es scheint, daß der
Vater sich, etwas hatte zuschulden kommen lassen und in gerichtliche Unter-
suchung hätte kommen sollen. Die Mutter wußte an jenem Abend davon und
drohte dem Vater mit Scheidung. Ob nun die Drohung daran schuld war oder
der Vorfall (er soll sich an einem minderjährigen Mädehen vergriffen haben),
das, wisse sie nicht. Die Mutter verweigerte jede Auskunft. Wiederholt aber
hörte er die Mutter sagen: „Er hat dieselben Fehler wie sein Vater. Wenn
ich nur nicht mit dem Buben Kummer erlebe V Oder: „Ein Junge macht einem
zehnmal mehr Sorge wie ein Mädchen . . .'
Eine andere Szene von größter Bedeutung spielte sich mit. seiner
Schwester ab. Es war kurz nach dem Tode des Vaters und er spielte mit seiner
jüngeren Schwester. Sie zeigten sich ihre Genitalien, und er legte sich auf sie.
Sie fühlte Schmerzen und schrie etwas. Da kam die Mutter und überraschte
sie. Er bekam fürchterliche Schläge und wurde in ein finsteres Zimmer ge-
sperrt. Die Mutter setzte ihm auseinander, er wäre ein Bösewicht und werde
sicher einmal im Zuchthause enden. Auch damals hörte er sie sagen, er hätte
das wilde Blut seines Vater geerbt.
Es gab noch eine Reihe kleinerer heterosexueller Episoden. Er beob-
achtete die Dienstmädchen beim Ausziehen und verliebte 6ich in eine kleine
Kusine, so daß er damit geneckt wurde.
Schreiten wir nun zur psychologischen Analyse seiner Homosexualität.
Der Tod seines Vaters und das von ihm belauschte, halb verstandene und halb
nur geahnte Gespräch über seinen Vater, die Aussprüche der Mutter, waren
für ihn ein drohender Fingerzeig für die Zukunft. Mußte er sich nicht vor-
nehmen: Ich will nicht so werden wie der Vater, sonst werde ich früh sterben?
Mußten die Szenen, in denen der geliebte Vatef eine so klägliche Rolle spielte,
in ihm nicht die Angst vor dem Weibe entwickeln? Seine Mutter
war die strenge Herrscherin des Hauses. Vor ihr zitterten alle Kinder, denn
sie strafte alle Vergehen mit unerbittlicher Strenge. In seinem kindlichen Hirn
332 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
mußte sich die Vorstellung festsetzen: Die Frauen haben es besser, sie
herrschen und regieren. Seine Schwester aber bewunderte er und weil er um
zwei Jahre älter war, so beherrschte er sie und betrachtete sie als sein Spiel-
zeug. Die schreckliche Szene aber, welche ihm seine Mutter nach dem sexuellen
Spiel mit der Schwester gemacht hatte, ihre drohenden, rollenden Augen, die
empfindliche Züchtigung, das Einsperren in das finstere Zimmer schafften feste
Assoziationen zwischen dem Begriffe „Lust beim. Weibe" und „empfindliche
Strafe". Auf jedes Verlangen mußte zuerst in Erinnerung an diese Szene
eine Angstreaktion erfolgen. Nimmt man noch dazu, daß die Bilder vom Tode
des Vaters als ewige Warnung vor frühem Tod und Krankheit durch seine
Seele zogen, addiert man zu diesen Einflüssen das Bild der herrschenden
Frau, so wird einem klar, daß dieser Mann vor dem Weibe zittern und
zum Manne flüchten mußte. Unterstützt wurde diese Flucht durch seine weib-
liche Anlage, die sich besonders in seinem Wesen äußerte. Aber er konnte
sich auch im Momente der Gefahr als ein ganzer Mann beweisen. Er hatte
eigentlich nur eine Angst: das Weib.
In seinen Nächten schreckte ihn hie und da ein grauenhaftes Bild: Er
sah eine riesenhafte Figur, wie ein Götzenbild, weib-
lich und ganz nackt. Sie rollte furchtbar mit gläser-
nen Augen, so daß er vor Schrecken vor ihren Thron
hinfiel und nicht aufzuschauen wagte. Er erwachte dann
mit Herzklopfen und konnte lange keinen Schlaf finden.
Was er gesehen, .war der Götze „Weib", vor dem er sich so fürchtete,
es war das Bild seiner Mutter und der anderen furchtbaren Frauen, zu deren
Füßen sich die Männer werfen müssen, um sie wie eine Gottheit zu verehren.
Die Angst um seine Selbständigkeit und das Gefühl, daß er verloren sei, wenn
er eine Frau lieben würde, legten sich zwischen ihn und das Weib. Lieben
heißt sich unterwerfen und er wollte sich keiner Frau auf dar Welt unter-
werfen. Er wollte auch keinem Manne Untertan sein und spielte immer den
Aktiven in seiner Phantasie.
Wir sehen, dieser Homosexuelle steht unter der Herrschaft einer Angst-
vorstellung, welche sich als aus der Kindheit stammend erweist. Man könnte
ebenso von einer Zwangshandlung sprechen. Ich habe anläßlich der psycho-
logischen Analyse der Zwangshandlungen darauf aufmerksam gemacht, daß
sich bei Zwangshandlungen immer zwei Punkte finden.
1. Sie enthalten eine Todesklausel. (Wenn du das machst oder nicht
machst, so wirst du oder eine andere Person sterben.)
2. Sie erfüllen irgend einen Imperativ aus der Kindheit.
Hier sehen wir eine klassische Bestätigung meiner Thesen, die in ver-
änderter Form (natürlich ohne die Quelle der neuen Erkenntnis zu nennen)
von anderen, Psychanalytikern benützt wurden. Der Patient Ypsilon fürchtet
den Tod, wenn er sich mit dem Weibe einläßt. (Sein Vater starb an Syphilis.
Er leidet an Angst vor Infektionen. Man erinnere sieh an die Angstperiode
nach dem ersten Koitus im Rausche.) Die Worte der starken Mutter, die Dro-
hungen nach der Szene mit der Schwester wirken als ein infantiler Imperativ:
Du sollst kein Weib berühren, denn darauf stehen der Tod und die Hölle.
Dieses furchtbare Weib, das ihm im Traume erscheint, trägt manchmal eine
große, lange Schlange. Die Analyse konnte nachweisen, daß sich ein früher
Eindruck in diesem Traumbilde wiederholte: das bekannte Bild von Stuck
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 333
„Die Sund e". Das Weib ist das Symbol der Sünde und des Bösen. Schon
die erste Lektüre der Bibel führte ihm das Weib als Sünde vor und seine
ganze innere Religion baute sich auf diesem Grunde auf.
Dazu kam die Differenzierung von dem Vater, den er so liebte, und der
ein so furchtbares Schicksal genommen. Er wollte nicht so werden wie der
Vater war. Gerade, weil es seine Mutter gedroht hatte und es ihm als sein
sicheres Schicksal vorzeichnete. Nun gerade nicht. Er differenzierte sich vom
Vater. Er wurde ein Frauenfeind, er floh die Frauen und er wollte nicht wie
der Vater unter die Herrschaft eines Unterrockes kommen.
Und doch sehnte er sich nach dem Weibe. Er suchte es im Spiegelbilde
des Knaben, der immer weibliche Züge aufweisen mußte. Es waren die Züge
seiner Schwester. In jeder Liebe steckt eine Ichliebe. Der Inzest zeigt innige
Beziehungen zum Narzissmus. In der Schwester fand er das Stück von
seinem weiblichen Ich, dem er alle seine Huldigungen darbringen wollte.
Zugleich aber spielte er die Szene seiner Kindheit, welche für ihn eine solche
Bedeutung hatte. Er spielte mit seiner Schwester. Die Hemmungen, die sich
daran knüpften, mußten sich auch auf die Knabenliebe übertragen. Er konnte
nicht zur Tat schreiten. Alle seine Sexualität mußte sich in der Onanie aus-
leben. In seinen Phantasien, die sehr mühsam zu entdecken waren, liebte er
nicht nur Knaben, sondern es kam hie und da zu sonderbaren Metamorphosen.
Die Knaben zerflossen und wandelten sich in knabenhafte Mädchen, welche
die Züge seiner Schwester trugen. Nie phantasierte er, daß er ein Weib sei.
Denn das Bild des Vaters war zu schwach, um sich in seinen Phantasien
festzusetzen. Er blieb in allen.- seinen Träumen der . Knabe, der mit der
Schwester spielt.
Doch noch eine zweite Richtung seines Sexuallebens trat in der Analyse
zutage, die er in der ersten Erzählung angedeutet hatte. Er hatte eine auf-
fallende Neigung zu alten Frauen. Wir hören diese Tatsache oft von den
Homosexuellen bestätigen.1) Sie finden in den älteren mütterlichen Frauen oft
ein Bild der eigenen Mutter, zu der sich manchmal die ganze heterosexuelle
Liebesfähigkeit flüchtet. Einmal war er nahe daran, sich in eine ältere weiß-
haarige Frau zu verlieben. Ein anderes Mal hatte er sehr zärtliche Gefühle
für eine Greisin, die schon 75 Jahre alt war. Ja, er gestand mir, daß er mit
ihr hätte verkehren können.
Wir sehen eine merkwürdige Erscheinung. Die Jugend und das Alter
reizen ihn und kommen für ihn sexuell in Betracht. Was dazwischen liegt,
scheint ausgelöscht zu sein. Es liege nahe, in solchen Fällen eine Fixierung an
die Großmutter zu suchen. Allein das bequeme Schema von Freud und von
Bittet versagt hier vollkommen. Er hat keine Erinnerung an die Großmütter,
die fern von ihnen wohnte. Es ist nur festzustellen, daß' er sich über Jung
und Alt sehr viele Gedanken in seiner Kindheit machte und sich sehnsüchtig
wünschte, alt zu sein. Immerhin will ich es nicht ausschließen, daß ältere
Personen, von denen er nichts weiß, in seiner Kindheit eine große Rollo
spielten.
') Platen, der auch eine flüchtige Liebe zu einem Mädchen mit 20 Jahren hatte,
liebte' außer seiner Mutter auch seine Hausfrau und deren Mutter. Von Platene Mutter-
liebe sagt Frey, ßie wäre beispiellos gewesen. Auch Frey betont: Dem Homosexuellen
ist der Umgang mit bloß freundschaftlichen oder mütterlichen Frauen wohltuend. (Aus
dem Seelenleben des Grafen Platen. Jahrb. f . sex. . Zwischenst., 1899.)
334 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Es kommt nämlich zutage, daß er doch einmal einen heterosexuellen
Koitus mit großem Orgasmus absolviert hatte. Er wohnte bei einer älteren
Frau, die eine Großmutter bei sich hatte, mit der er sich sehr viel beschäf-
tigte und stundenlange Gespräche führte. Es war um diese Zeit, da er sehr
nervös war. Die alte Frau pflegte ihn und saß stundenlang an seinem Bette.
Einmal waren sie ganz allein und er hatte Angstgefühle und bat sie, sich zu
ihm zu setzen. Plötzlich küßte er sie stürmisch und vollzog einen Koitus,
ohne daß die Matrone sich sträubte. Sie meinte nur, auf ein solches Glück
hatte sie sich nie mehr gefaßt gemacht.
Nach einigen Tagen verließ er die Wohnung und verdrängte den ganzen
Vorfall. Er wollte an ihn nicht denken. Er schämte sich in seine Seele hinein
und meinte, ich werde mit ihm nicht mehr sprechen, wenn ich dieses greuliche
Erlebnis erfahren würde . . .*)
Auch Kinder weiblichen Geschlechtes spielen in seine Phantasie hinein.
Wie kommt es aber, daß gerade Mädchen und Weiber ausgeschlossen waren,
während das unreife Mädchen und die Greisin ihn sexuell anzogen? Das
stammte aus seiner psychischen Einstellung dem Weibe gegenüber. Vor dem
Kinde und der Greisin fürchtete er sich nicht. Die G reisin
war schwach; er fühlte sich ihr gegenüber als starker Mann, ^ebenso beim
unreifen Mädchen. . Nur vor dem starken Weibe brauchte/er zu fürchten.
Hinter dieser Angst verbarg sich die Angst vor sich selbst. Denn er haßte
das Weib, dem er sich unterlegen fühlte. Sein Sadismus gegen die Frauen
tobte sich zuweilen in Traumbildern aus, in denen die Wut des Ohnmächtigen
über das Weib triumphierte. Zwischen demütiger Liebe und hochmütigem
Hasse pendelte sein heterosexuelles Fühlen. In seiner Liebe zu alten Frauen
mischte sich die Liebe zu seiner Mutter, die er trotz ihrer Strenge und viel-
leicht auch wegen ihrer Strenge ganz außerordentlich liebte. Bei der Dirne
erwachten in ihm die Gedanken an die Mutter. Es fallen ihm Szenen ein. in
denen er seine Mutter verdächtigte, mit einem Onkel ein Verhältnis zu haben.
Er gedenkt eines Bildes, auf dem die beiden photographiert sind, wo sie beide
so sonderbar lächeln. Der Onkel ist der einzige, dem die Mutter folgt und zu
Willen ist. Er aber hatte immer eine Antipathie gegen den Onkel, der mit
*) Ich finde bei Hirschfeld folgenden sehr interessanten Passus: „Auch homo-
sexuelle Männer lieben vielfach da.s Zusammensein und die Unterhaltung mit Frauen,
mit denen sie viele gemeinsame Beziehungen verbinden. Namentlich ältere
Frauen 6ind Homosexuellen sehr sympathisch. Meisners Bemerkung:
„Gegen ältere Damen und die häufig von der Männerwelt verspotteten alten Jungfern
ist der Urning voll Artigkeit und Höflichkeit, weshalb ihn diese auch besonders gern
haben", trifft völlig zu. Nur wenn in den Frauen erotische Gefühle zu dem jüngeren
Homosexuellen zutage treten, was erfahrungsgemäß nicht selten ist, gerät der Urning
in eine unbehagliche Lage. Ich kenne einen Fall, in dem sich eine 60jährige Gräfin in
einen 25jährigen homosexuellen Schriftsteller verliebte, dem sie Hunderttausende schenkte.
Trotz der ansehnlichen äußeren Vorteile, die der Homosexuelle aus diesem Verhältnis
zog — beide durchreisten die Welt im elegantesten Stil — , geriet er durch die Ver-
liebtheit, der alten Dame in einen überaus nervösen Zustand; er meinte, es wäre ihm,
al6 befände er sich in einem goldenen Käfig. Dritten Personen täuschen diese Ver-
bindungen zwischen homosexuellen und heterosexuellen Männern und Frauen oft Liebe
vor, ein Eindruck, der von den Homosexuellen 6elb6t, um der Welt Sand in die Augen
zu streuen, oft absichtlich noch sehr gefördert wird." (Hirschfeld, 1. c. S. 102.)
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 335
ihm lieb sein wollte und dem er aus dem Weg lief. So mußte sich ihm das
Weib nicht nur als furchtbar, sondern auch als treulos und als schlecht auf-
drängen. Lasse dich nicht mit den Frauen ein! Sie werden dich beherrschen,
betrügen, in das Grab bringen! Meide sie, wenn du lange leben und gesund
bleiben willst!
In der Analyse gelang es, die Angst vor dem Weibe zu lindern und
das Zwanghafte der Knabenliebe einer sanften Sympathie weichen zu .lassen.
Wie weit die Heilung, eines Homosexuellen möglich ist, das ist eine
Frage, die sich nur nach bestimmten Prinzipien beantworten läßt.
In diesem Falle trat die Möglichkeit ein, mit Frauen zu verkehren.
Doch daß die Analyse die homosexuelle Triebkraft beseitigt, ist. nach meinen
vorherigen Ausführungen ja ganz ausgeschlossen. Sie würde ja den Menschen
durch Verdrängung der Homosexualität wieder neurotisch machen. Wir
können nur die Verdrängung aufheben, welche die heterosexuelle Komponente
betroffen hat und den Menschen dann wieder bisexuell machen. Von ver-
schiedenen Faktoren hängt es dann ab, ob er imstande ist, mit der hetero-
sexuellen Betätigung allein auszukommen, ob er sich mit Hilfe eines Kom-
promisses helfen kann. In diesem Falle war die Analyse erfolgreich. Zuerst
kamen die Wurzeln jener merkwürdigen Erscheinung zutage, daß ihm die
meisten Frauen wegen ihres Gestankes ekelhaft waren.
Es war von vorneherein anzunehmen, daß die Analyse eine zurück-
gedrängte Mysophilie zum Vorschein bringen werde. Zuerst fand sich die Tat-
sache, daß die Sünde stinkt. Das Weib war die Sünde wie der Teufel. Der
Teufel stinkt doch immer, und dieser Gestank wird als ein Merkmal
charakteristischer Art für den Bösen angesehen. Das Weib, die Vertreterin
der Sünde, mußte also stinken. Er fürchtete sich vor der Sünde, ein Ekel war
Ekel vor der Sünde. Dann aber zeigte es 6ich, daß er in seiner Kindheit eine
ausgesprochene Liebe für den Gestank des Kotes hatte, die sich in Rudimenten
noch heute erhalten hat. Er findet den Geruch des Abortes gar nicht unan-
genehm, er kann sehr lange im Aborte sitzen bleiben und liest dort mit Vor-
liebe die Zeitung. Für die eigenen Caprylgerüche (Schweiß zwischen den
Zehen, Achselschwciß) hat er eine tmleugbare Vorliebe. Als Kind jedoch
spielte er mit Kot und pflegte es so einzurichten, daß an seinen Hosen immer *
ein Stück Kot klebte. Seine Mutter pflegte ihn immer zu untersuchen und
züchtigte ihn sogar, weil er so ein „Schweindr war. Er pflegte auch den Stuhl
im Zimmer zu machen, die Wände anzuschmieren, die Papiere vom Aborte zu
sammeln. Hinter dem Ofen hatte er immer eine große Sammlung solcher
Papiere, zu denen er sehr gerne roch.
Seine Mutter hatte einen eigentümlichen starken Geruch, der sich zur
Zeit der Menses sehr verstärkte und ihm zuerst sehr angenehm war und von
ihm gesucht wurde. Ihr Hemd roch sehr intensiv nach Urin, da sie beim
Husten und Lachen immer etwas Urin verlor, wie er später von ihrem Haus-
arzte hörte. Er pflegte sich sehr gerne diese alten Hemden aus der Schmutz-
wäsche zu holen und daran zu riechen. Eine andere merkwürdige Erscheinung,
die ich noch in einem ähnlichen Falle beobachtet habe, war, daß er beim
Niesen immer diesen scharfen Geruch der Mutter verspürte. Später gab er alle
diese Dinge auf. Doch kam er einmal in ein Hotel, in dessen Bett er ein altes
Frauenhemd fand, das einen ähnlichen Geruch hatte. Er wollte das Hemd
wegwerfen und konstatierte zu seinem Erstaunen eine heftige Erregung und
336
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
eine Erektion von seltener Intensität. Er behielt das Hemd im Bette und
onanierte einige Male in dieser Nacht. Er weiß jetzt, daß er beim Onanieren
immer diesen Geruch als Aura verspürt.
Sein Ekel vor den Prostituierten ist die verdrängte Begierde nach den
Uringerüchen. Es ist ein Symptom der Abwehr. Doch was er abwehren will,
das sind seine Inzestgedanken, vor denen er zu den Männern flüchtet.
•Ich möchte noch über seine weiteren Lebensschicksale berichten. Er
heiratete eine1 ältere Dame, eine Witwe, die. Mutter von zwei sehr lieben
Knaben war. Die Dame ist sanfter Gemütsart, und sehr nachgiebig. Er be-
hauptet sehr glücklich zu sein und beim Koitus vollen Orgasmus zu empfinden.
Die Liebe zu den Knaben überträgt er in sublimierter Form auf seine beiden
Söhne, die er außerordentlich verwöhnt und mit väterlicher Liebe betreut.
Homosexuelle Phantasien sollen noch hie und da auftreten, aber leicht
überwunden werden können . . .
Eine ganz andere Einstellung zeigt der nächste Homosexuelle,
dessen Mutter als gutmütig, sanft, leicht melancholisch geschildert wird.
Fall Nr. 59. Herr I. R., ein Mann von 40 Jahren, sucht mich auf, weil er
wegen einer Erpressung Angst vor einer Gerichtsverhandlung hat. Er hatte
ein Verhältnis mit einem Diener, das drei Jahre dauerte. Der Diener wurde
wohl stets für seine Liebesdienste entlohnt, wäre aber so fein und nett gewesen,
daß er ihm nie eine gemeine Erpressung zugemutet hätte. I. R. war immer
in bescheidenen Verhältnissen, hatte aber unvermutet eine große Erbschaft ge-
macht. Nun schrieb ihm der Diener einen Brief, in dem er eine größere Summe
forderte, weil er in Not sei. „Ich werde vielleicht wegen Erpressung ins
Kriminal kommen, Sie werden aber auch vor der ganzen Öffentlichkeit blamiert
sein. Ich bin ein armer Teufel, dem nichts geschehen kann. Sie sind aber
dann in Wien unmöglich. Ich habe Briefe von Ihnen in Händen, welche einen
untrüglichen Beweis unserer unerlaubten Beziehungen bilden. Überdies habe
ich Zeugen, welche unsere intimen Beziehungen bestätigen werden müssen,
wenn sie vor Gericht unter Eid ausgefragt werden." Ich will nur zuerst
konstatieren, daß die Polizei in diesem Falle dem Erpresser schnell das Hand-
werk legte, ohne daß der arme I. R., der dem Selbstmorde nahe war, in-
kommodiert wurde. Ich aber hatte Gelegenheit, das Seelenleben eines Homo-
sexuellen kennen zu lernen, der nicht geändert werden wollte und fest daran
hielt, daß seine Veranlagung vom Hause aus eine homosexuelle war.
I. R. schwärmte nur für ordinäre Männer. Er hatte viele feine Freunde,
die ihm gerne zu willen wären. Diese kann er aber nur mit schwärmerischer
Freundschaft regalieren. Niemals ist es zu einer Erektion gekommen und der
Versuch eines sexuellen Aktes mißlingt vollkommen. Anders wenn es sich um
einen Kutscher oder Diener handelt, der recht einfach gekleidet ist und
schmutzige Hände hat. Diese sind für ihn geradezu ein sexuelles Stimulans.
Der Akt geht in solcher Weise vor sich, daß der Penis den anderen Penis mit
der Spitze berührt und solange drückt, bis die Ejakulation erfolgt. Im Mo-
mente der fremden Ejakulation kommt der eigene Orgasmus, der sehr stark
ist, wenn er das fremde Sperma auf seinem Sperma fühlt. Die Vermischung
der beiden Flüssigkeiten versetzt ihn in eine mystische Ekstase.
Er behauptet von der Kindheit an anders gewesen zu sein als seine
vier Brüder. Den ersten homosexuellen Akt führte er mit 23 Jahren aus.
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 337
Vorher hatte er einige Male mit Dirnen verkehrt, weil er sich dazu verpflichtet
fühlte. Der Genuß wäre sehr gering gewesen. Eigentlich war ihm die Sache
gleichgültig.
Schon bei seiner ersten Konsultation sagte er mir : „Wenn meine Mutter
von dieser Geschichte etwas erfährt, so muß ich mir das Leben nehmen." Die
Mutter glaubt, daß er ein weibliches „Verhältnis" hat. Wenn er seine Rendez-
vous mit Männern hat, die er immer bezahlt, ist die Mutter der Ansicht, er
gehe zu seinem Mädchen oder in ein öffentliches Haus. Sie hindert ihn nicht,
schickt ihn sogar öfters weg: „Du bist wieder nervös. Du sollst wieder zu
deinem Mädchen gehen." Als er sich einmal für eine Sängerin interessierte,
die allerdings etwas Männliches an sich hatte und einen tiefen Alt von wunder-
barem Timbre aufwies, für den er immer eine Schwärmerei hatte, war seine
Mutter eifersüchtig und suchte allerlei Gründe, um ihm zu beweisen, daß die
Sängerin eine „ganz falsche" Person wäre. Er gab dann die Beziehungen bald
auf, weil er die ewigen Szenen im Hause nicht vertragen konnte. Vorher
begleitete er überallhin die Mutter, nun wollte er auch einmal mit der Sängerin
ins Konzert gehen. Seine Mutter machte ihm eine so fürchterliche Szene, daß
er viele Jahre daran dachte. Denn sie fiel in Ohnmacht und der herbeigeholte
Hausarzt gab ihm zu verstehen, daß die Mutter viele solcher Szenen nicht
überleben würde.
Man sah ihn dann nie ohne Mutter. Sie gingen zusammen spazieren,
sie gingen zusammen in die Theater, Konzerte, sie machten gemeinsam alle
Ausflüge, kurz er ersetzte der Mutter vollkommen den Vater. Der Vater lebte
von der Mutter getrennt. Sie hatte sich von ihm geschieden, wie sie erfahren
hatte, daß er mit ordinären Männern Verhältnisse hatte. Dies hatte sie dem
Sohn erzählt, der vorher nicht wußte, weshalb seine Eltern nicht zusammen
lebten. Sie sagte ihm das einmal, als er schon 22 Jahre alt war und sie darum
befragte. Diese Erzählung erregte ihn so, daß er einige Nächte nicht schlafen
konnte. Er kam dann bald dazu, die Szene, die ihm die Mutter erzählte, selbst
zu erleben und blieb nun in Banden dieser Leidenschaft. Vor seiner Mutter
hütete er ängstlich sein Geheimnis. Sie hatte in verächtlichem Tone von diesen
Schweinereien gesprochen und sich oft glücklich gepriesen, daß er ganz anders
geartet wäre. Sie würde sicherlich sterben, wenn sie das von ihm erfahren
würde, und das könnte er nicht überleben.
Den Vater sehe er fast gar nicht. Er lebe nicht in Wien und käme nur
selten hierher. Die ersten Jahre besuchte er den Knaben, durfte ihn aber nie
allein sehen, das war ausgemacht. Die peinlichen Szenen — seine Mutter war
immer anwesend — sind ihm noch immer in Erinnerung. Der Vater ver-
zichtete dann vollkommen auf jedes Wiedersehen. Er gab sein Geschäft auf,
in dem er reich geworden. Er war nämlich ein berühmter Damenschneider
und durch seinen exquisiten Geschmack berühmt.
Die Ursache, weshalb er den Verkehr durch den Kontakt der Phalli aus-
führt, weiß er nicht anzugeben. Er meint, die schmutzige Hand des Arbeiters
würde er nicht ertragen. Auf die geschilderte Weise käme eine innige Be-
rührung zustande, und es werde doch eine gewisse Distanz eingehalten. Diese
Erklärung kann richtig sein, scheint mir dazu zu dienen, eine Zwangshandlung
mit dem Verstände zu erklären (zu „rationalisieren", wie Jones treffend diesen
Mechanismus bezeichnet). Es ließ sich aber bei längerer Analyse eine andere
Begründung finden.
Stekol, Störungen dea Trieb- und Affektlebens. IT. 2. Aufl. 22
338 Zweiter Teil. Die Homosexualität,
Es wurde klar, daß er in dem fremden, ordinären, schmutzigen Manne
seinen Vater suchte. Die Mutter sprach vom Vater nie anders, als dieser „or-
dinäre, schmutzige Mensch, dem ich nie die Hand reichen könnte. Mich ekelt,
wenn ich an eine Berührung denke. Und ich kann es nicht ausdenken, daß
ich seine Frau gewesen bin".
Oft hatte es seine Phantasie beschäftigt, wie die Eltern verkehrt haben
mögen. In der Kindheit hatte er solche Szenen belauscht, denn seine Eltern
waren sehr unvorsichtig. Er hatte sich gewünscht, an Stelle der Mutter zu sein,
denn er liebte damals den Vater ganz außerordentlich. Die bewußte Szene hat
also folgende Phantasie zur Grundlage : Er spielt die Mutter, mit der er sich
vollkommen identifiziert. Der ordinäre Kerl ist der Vater. Die Berührung der
Glieder symbolisiert den Koitus, die Vermischung der Samenflüssigkeiten die
Befruchtung.1) In der Sängerin liebte er aber eine Imago seiner Mutter. Die
Mutter hatte eine wunderbar schöne, tiefe Altstimme. Die Sängerin hatte das
gleiche Timbre . . . Hier versuchte er eine Art Selbstheilung, eine Über-
tragung aller Erotik und Sexualität von der Mutter auf ein Ersatzobjekt. Seine
Liebe pendelte zwischen Vater und Mutter. In der Mutter verkörperte sich ihm
der Begriff Weib, der aber aller Sexualität entkleidet wurde. Auch der Mann
durfte nicht in allen seinen Vertretern sexuell sein. Den Freunden wurde die
Erotik reserviert, aber die sexuelle Betätigung bei ihnen blieb unmöglich.
Nur der ordinäre Typus Mann war ihm sexueU zugänglich. ' Er hatte sein
ganzes Leben gegen die Sexualität als das Tierische und Ordinäre angekämpft,
als das Erniedrigende. Er mußte fallen, wenn er sexuell empfinden sollte. Er
mußte diesen Fall als Erniedrigung empfinden und sich nach den reinen
Höhen der Freundschaft sehnen. Diese Wertung wurde ihm von seiner
schwärmerischen exaltierten Mutter eingeimpft, welche ihren Sohn anders
haben wollte als die anderen Männer. Er sollte das Tierische ganz über-
winden . . . Seine Mutter hatte ihm gestanden, daß sie beim Verkehr mit ihrem
Manne nie etwas empfunden hatte. Sie wüßte nicht, weshalb die Menschheit
auf solche gemeine Dinge einen solchen Wert lege. Diese Wertung der Mutter
wurde seine Weltanschauung. Ihre Ausführungen über die Frauen, vor denen
sie ihn bei jeder Gelegenheit warnte, deren Tücke sie immer wieder hervorhob,
deren Falschheit sie ihm mit tausend Beispielen belegte, mußte seine
sexuelle Leitlinie vom Weibe abbiegen, um so mehr, als die sexuelle Bin-
dung an die Mutter immer fester wurde, als er mit seiner Mutter eine
Ehe führte, eine Ehe nach ihrem Geschmacke, in dem nichts fehlte als
der sexuelle Verkehr. Er betonte, daß seine Mutter eine sanfte, leicht
melancholische Frau war. Sie gab sich ganz in Kunst und Kunstbegeisterung
aUj m Sle War doch stark und enerSisch in dera beharrlichen Erziehen
und Modeln ihres Kindes. Sie hörte nicht auf, ihn von den anderen Frauen
abzuziehen.
Daß er seinem Vater nachgeriet, mögen andere als hereditäre Belastung
auffassen. Er suchte erst die Männer auf, nachdem ihm die Mutter den wahren
Grund ihrer Scheidung mitgeteilt hatte. Das zeigt uns deutlich, daß die alte
Liebe zum Vater lebendig wurde, und er sich der Mutter gegenüber als der
*) Ich verstand erst später, daß es sich um eine „Mutterleibsphantasie"
handelte. Er stellte sich eine Situation im Mutterleibe vor, bei der er im Leibe der
Mutter die Wonnen des Beischlafes mitgenießen konnte.
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verbalten zur Mutter. 3B9
Vater fühlte. Er mußte dann so handeln wie der Vater, er mußte die kalte
Mutter mit einem Manne betrügen.
Leider konnte ich eine weitere Analyse nicht durchsetzen. Herr I. R.
verließ nach der Regelung seiner Affäre dankbar seinen Helfer und ließ nichts
weiter von sich hören.
Deutlich ist zu ersehen, daß die Mutter allein das Schicksal ihres
Sohnes nicht determiniert. Das Beispiel und das Schicksal des Vaters,
sein Wesen wirken auch bestimmend mit. Freilich, der große Einfluß
der Mutter, die schon in der frühen Kindheit das weiche Herz d'es
Kindes zu beeinflussen beginnt, leuchtet aus diesen Beispielen hervor.
Wie groß der Egoismus der Mütter sein kann, wie bestimmend die
Angst, ihren Lieblingsknäben einmal zu verlieren und einem anderen
Weibe zu überlassen, das kann nur der ermessen, der Gelegenheit
gehabt hat, solche Mütter zu analysieren und alle Abgründe zu er-
messen, welche der Begriff Mutterliebe in sich faßt.
Wenn eine Mutter einem zehnjährigen Knaben auf dem Sterbe-
bette zum letzten Segen die Worte zurufen kann: „Hüte dich vor den
Frauen!" dann ist noch viel mehr möglich.1) Dann ist auch die heim-
liche Minierarbeit, welche in dem Kinde diese Angst vor den Frauen
großzieht, zu begreifen. Man muß aber verstehen, daß verschiedene
Kräfte von verschiedenen Seiten das gleiche Ziel erreichen können. Wir
werden im nächsten Kapitel auch von den Einflüssen des Vaters
sprechen können und immer wieder gestehen müssen, daß viele, viele
Wege in das Reich der „echten Homosexualität" führen, aus dem es
angeblich kein Entrinnen mehr gibt . . .
Wenden wir uns zu zwei interessanten Beobachtungen von Fere.
welche seinem hochinteressanten Werke „L'Instinct Sexuel" ent-
nommen sind.
Fall Nr. 60. M. P., 41 Jahre alt, ist der einzige Sohn eines im Alter von
74 Jahren an Gehirnschlag verstorbenen Vaters. Er wurde von einem Onkel,
welcher fünfzehn Monate jünger war als sein Vater und welcher beinahe im
selben Alter wie dieser und an derselben Krankheit starb, erzogen. Dieser
Onkel war Junggeselle. Er hat persönlich keinen Anverwandten gekannt.
Man weiß nichts aus seiner frühesten Jugend, außer daß er an nächtlichen
Angstzuständen und Bettnässen bis zu seinem zwölften Lebensjahr gelitten
hatte. Seine Mutter weckte ihn zu bestimmten Stunden, um den Urinabgang
zu vermeiden; der Erfolg war nur ein teilweiser. Manchmal konnte er dann
nicht wieder einschlafen, dann nahm sie ihn zu sich ins Bett,
um ihn wieder zu beruhigen. Eines Nachts, während
er sich bewegte, streifte er seine Mutter an einem
behaarten Körperteil; dieser Kontakt rief plötzlich
den Gedanken an ein Tier wach. Er sprang schreiend
-1) Ich habe inzwischen Mütter kennen gelernt, die mir gestanden haben, mit
ihrem Söhnchen „gespielt" zu haben.
22*
/ •
340
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
aus dem Bett und wollte sich nur mehr in sein eigenes
legen. Es brauchte lange Zeit, bis er sich beruhigte. Wenn man dieses
Ereignis als Ausgangspunkt seiner Krankheit annimmt, so steht es fest, daß er
noch nicht 3 Jahre alt war. Von diesem Augenblick an machte er, wenn seine
Mutter oder später seine Amme, die in ihren Diensten verblieben war, ihn in ihr
Bett nahmen, alle möglichen Anstrengungen, um nicht wieder in seines zurück-
gelegt zu werden. Er wurde von dem Gedanken verfolgt,
sich über .die Empfindung, die ihm so großen
Schrecken eingejagt hatte und welche ihm nie ge-
nügend erklärt worden war, Aufklärung zu ver-
schaff e.n. Er stellte sich schlafend, um seine Amme während sie sich anzog
beobachten zu können. Es dauerte einige Monate, bevor er „das Tier" ent-
deckte. Aber die Kenntnis seines Sitzes klärten ihn nicht über sein Wesen
auf; seine ewigen Fragen hatten nur eine strengere Beaufsichtigung zur
Folge; schließlich gab er es auf, von seiner Umgebung Aufklärungen zu
erlangen, aber seine Unruhe legte sieh nicht. Er war nicht ganz 8 Jahre alt,
als ihn ein Buch über Anatomie in ziemlich verworrener Weise aufklärte.
^ Und er begriff, daß alle Frauen mit demselben Tiere versehen seien, daß
•sie ihn aber nicht auf dieselbe Art wie seine Amme lieben und ihn nicht
gegen alle Gefahren schützen würden. Er begann Widerwillen gegen die
Berührung von Frauen zu zeigen und vertrug es nicht, wenn ihn eine andere als
seine Amme auf den Schoß nahm, obwohl er aus eigenem An-
trieb den Männern auf die Kniee kletterte. Junge Mädchen
bis zum 13., 14. oder 15. Jahre flößten ihm nicht denselben Widerwillen ein,
er spielte mit ihnen ohne jegliche Hemmung. Er zeigte keine anderen nervösen
Störungen .als das Bettnässen, welches (immer schwächer werdend) andauerte;
aber der Gedanke, der Ursache seines Widerwillens gegen die Frauen auf den
Grund zu kommen, ließ ihm keine Buhe. Er wagte hie und da an die Dienst-
mädchen und .an seine Kameraden eine Frage zu stellen, deren Beantwortung
aber eher dazu beitrug, seine Neugierde zu reizen als sie zu befriedigen.
Er war beiläufig 12 Jahre alt, als ihm ein Buch über venerische Krank-
heiten, welches im Gebrauch der vornehmen Welt stand, in die Hände fiel;
es genügte, um ihn aufzuklären, aber nicht um ihm seinen Widerwillen zu
nehmen. Er begann, sich gegen die Amme zu wehren, deren Berührung ihm
eine peinliche Angst verursachte. Das Bettnässen hatte aufgehört. Er begann
Masturbation mit einigen Kameraden, ohne jedoch einem davon freund-
schaftlich zugetan zu sein. Erst im Alter von 15 Jahren faßte er eine heftige
Zuneigung zu einem 17jährigen Jungen, dessen Sexualmerkmale besonders
entwickelt waren. (Er hatte eine kräftige Muskulatur, beginnenden Bartwuchs
und eine sonore Stimme.) Diese Zuneigung veranlaßte ihn, sich von allen
anderen zufälligen Neigungen fernzuhalten. Aber nachdem dieser Junge,
wenigstens was ihn betraf, keinerlei ähnliche Neigungen zeigte, war das Ver-
hältnis ein rein freundschaftliches und dauerte sogar bis zum Austritte aus
der Schule. Er glaubt, daß sein Kamerad nie seine wirklichen Gefühle ihm
gegenüber bemerkt hat.
Er masturbierte nur in großen Zwischenräumen, aber hatte oft erotische
Träume, wo nur Knaben eine Rolle spielten.
Er war 22 Jahre alt, als sein Freund durch äußere Umstände gezwungen
war, sieh von ihm zu trennen. Erst von diesem Augenblick an begann er nach
Gelegenheiten zu suchen, um in den Gymnasien, Fechtböden und öffentlichen
Die Familie des Homosexuellen. - Sein Verhalten zur Mutter.
341
Bädern Männer mit ausgesprochenen sexuellen Merkmalen zu treffen. Er emp-
fand dabei eine gewisse sexuelle Erregung, aber niemals so stark, üaii. es inn zu
MbSTSf sonst welchen herausfoxdemdea Handlungen ^*^e
Er hatte bei niemandem solche Neigungen bemerkt, Chatte ^ ditemm al üie
Hoffnung ihnen bei jemandem zu begegnen. Er war sich wohK beWttJSV ^
er 2te den Frauen anders war als die anderen Männer; aber er konnte
seh nicht helfen und die Sache mit dem „Tier" und die daraus folgende
Furcht d e nach seiner Meinung nichts mit seinem Widerwillen u .tun hat*
kamen ihm höchst lächerlich vor. Er litt darunter, nicht wie die andern zu sein
mT die Hoffnung auf eine Heirat und Vaterfreuden aufgeben zu müssen
Mittlerweile haL er sich eine gute Stellung in Industriekreisen verschaff
„ "abe «nötigt ziemlich weit außerhalb der Stadt zu wohnen; es fehlte
mm iede Zerstreuung; der Gedanke an eine Heirat verfolgte ihn. Er war
27 Jahre alt als er beschloß, seine Männlichkeit auf die Probe zu stellen;
bei einer GescStereise versuchte er in einem Bordell das erste Mal einen
SsSteÄr. Trotz seines Entschlusses nützte er das Entgegenkommen
SÄen Ohne Resultat aus; erst das vierte Mal hatte er einen Erfolg
m verST weil er die Erinnerung an seinen Schulfreund zu Hilfe rief.
Er ImpSnTdnr^aue keine Befriedigung, und dieser Teilerfolg unterließ eine
tiefe Erschöpfung, die ganz verschieden war von der Ermüdung, welche er nach
SelbstbeSgung oder Spielereien mit anderen Burschen empfunden hatte.
™tnd emfger Monate machte er mit Intervallen von einigen Wochen
Serum Verbuche, die jedoch nur durch »|»^^g*£
Mittels von Erfolg begleitet waren. Jeder neue \ ersuch hatte ihn m .einen
MngeWen Gestände ^^^Z^Z^^^ »
hörte wohl, was um ihn gesprochen wurtte, ^are * . „ , .
antworten. Diese Störungen dauerten nur einen^ Augenblick^ heßen aber eine
Emnfindung zurück, die er ziemlich treffend mit „Ruckst öS in nie
V?rgangenheit" bezeichnet. Es schien ihm als ob die jüngsten ^Er-
eignisse, besonders die des Tages, in die Feme gerückt seien, daß die Zeit die
seit jenen Ereignissen verflossen war, plötzlich eine längere sei, und daß er zu
allem, was er noch zu tun habe, zu spät kommen würde Er seheint wahrend
dieser Anfälle nicht das Bewußtsein verloren zu haben; öfters war er von ihnen
in seinem Bureau heimgesucht worden und konnte er, indem er seine Augen
auf die Pendeluhr heftete, bemessen, daß sie nur einige Sekunden dauerten;
trotzdem schienen ihm, wenn die Sinne ihre volle Schärfe wiedergewonnen
hatten, die kürzlich verflossenen Ereignisse Stunden weit zurückzuliegen; und
obwohl er eine Sinnestäuschung festzustellen imstande war, hatte er das
Bedürfnis, sich zu beeilen und die verlorene Zeit wiederzugewinnen. Diese
Störungen traten während der folgenden Jahre beiläufig einmal monat-
lich auf.
Seit er auf seine Heiratspläne verziehtet hat, hat er sich zu einer kon-
tinuierlichen Arbeit gezwungen, um so viel als möglich sexuellen Erregungen
aus dem Wege zu gehen. Trotzdem blieb er erotischen Träumen, wo aus-
schließlich Männer eine Rolle spielten, unterworfen. Mehrere Male hat es ihn
stark zu Männern hingezogen, da er aber auf keine Erwiderung seiner Gefühle
hoffen konnte, sind diese Anwandlungen ohne Folgen geblieben.
342
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Im Frühling des Jahres 1895 sind diese Schwindelanfälle infolge von
Übermüdung heftiger geworden und haben öfters zu Ohnmaehtsanfällen ge-
führt. Diese hatten eine rückwirkende, vollkommene Gedächtnisschwäche
von einer bis zu zwei Stunden zur Folge, dann setzte die Erinnerung, mit einer
Hemmung ähnlich der früheren, wieder ein.
Diese Verschlimmerung seines Zustandes nötigte ihn, ärztliche Hilfe
in Ansprach zu nehmen. Er schrieb diesen Zustand der Enthaltsamkeit zu
die er durch die oben angeführten Tatsachen erklärt,
Ende November desselben Jahres erwachte er durch einen heftigen
Kopfschmerz, welcher durch -eine rauchende Lampe verursacht war Um 8 Uhr
morgens, als er in sein Bureau kam, verlor er plötzlich das Bewußtsein.
Erst zwei Stunden später, in seinem Bett, kam er wieder zu sich; er erinnerte
sich nicht mehr daran, daß.er des Morgens aufgestanden war. Er hatte sich
in die Zunge gebissen, hatte in seine Kleider uriniert, und die Quetschungen
die er an verschiedenen Körperteilen hatte, zeigten von heftigen Konvulsionen!
beither hat er sich einer Bromkur unterzogen, durch die er neuerliche Krämpfe
und bchwmdelanf alle vermieden hat; aber seine sexuelle Anomalie ist die alte
geblieben.
Dieser geradezu außerordentliche Fall zeigt uns in Reinkultur
die Entstehung einer Homosexualität durch ein infantiles Trauma. Die
sexuelle Neigung zur Mutter und zur Amme wird in Ekel vor dem
„Tier" und in Angst verwandelt. Er liebt nur junge Mädchen, weil sie
noch kein Tier haben. Er flüchtet' in die .Homosexualität, während seine
Phantasien bei der Mutter weilen. Es kommt erst zu kleinen Anfällen,
flüchtigen Absenzen, die als Regressionen („Rückstoß in die Ver-
gangenheit") aufzufassen sind. Er möchte die Zeit zurückdrehen,
möchte wieder ein Kind sein und bei der Mutter im Bette liegen und
nach dem „Tier" greifen. Infolge des Größenunterschiedes zwischen
dem Kinde und seinen Sexualobjekten (Mutter und Amme), entsteht
angesichts seiner sexuellen Wünsche dann ein Gefühl der Minder-
wertigkeit, das im späteren Alter zur Entstehung einer Impotenz in-
folge Angst vor dem Weibe führen kann. Die epileptischen Anfälle,
in denen wahrscheinlich ein Inzest mit einem Verbrechen kombiniert
wird, zeigen, wie er es versucht, sich aus der unerträglichen Realität in
eine Traumwelt zu flüchten, in der er wahrscheinlich heterosexuell wird.
Hat in diesem Falle ein Mann durch Fixierung an die Mutter und
durch ein infantiles Trauma den Weg zum eigenen Geschlechte gesucht,
so kann andrerseits auch bei Mädchen eine starke Fixierung an die
Mutter (bei männlichen Homosexuellen an den Vater) die erste Veran-
lassung zur Ausbildung einer Homosexualität sein. Die nächste Beob-
achtung von F6rt bietet zahlreiche interessante Ausblicke.
Fall Nr. 61. Frau G., ein Neunmonatkind, von guter Konstitution, hat
sich in den ersten Monaten in normaler Weise entwickelt. Als sie, erst im
vierzehnten Monat, entwöhnt wurde, war ihr Benehmen ein sehr merk-
Die Familie des Homosexuellen. - Sein Verhalten zur Mutter, 343
würdiges Es kostete viel Mühe, sie von der Mutterbrust zu entwöhnen,
rot ziem sie schon seit langem an andere Nahrung gewohnt war; sie b£
uhg si^hnt Lrch Berührung der Brust ihrer Mutter welche Mue nut
einem merkwürdigen Ausdruck preßte. Einige Maie des Tages mußte « ch
die Mutter ihre Zärtlichkeiten gefallen lassen, widrigenfalls sie m hettigen
t£mS*. Sie mußte ihre beiden Brüste entblößen und das Kind küßte
und drückte sie abwechselnd; nur schwer gelang es, es zu beiuhigem Nach
acht Monaten sah die Mutter, die schwanger geworden w die .Not
wendigkeit ein, dieser Anomalie ein Ende zu setzen; es gluckte nur mit
schwer Mühe und unter Auftritten, deren Heftigkeit man es zuschreibt
Saß se nach drei Monaten einen Abortus herbeiführten. Trotzdem versuch te
man de einmal erzielten Erfolg zu behaupten. Aber diese Neigung machte
" ch auch weiterhin öfters bemerkbar. Eines Tages betrat ^dwdH»
iährige Kind das Zimmer der Mutter in .dem Augenblick, als der Gatte dv
S sich hres Kleides zu entledigen. Es geriet in fürchterlichen Zorn und
schrie Das gehört mir! Das gehört mir!" Und es gelang nur
Tchwer es wegzubringen und zu beruhigen. Von diesem Augenblick an
weigere es'sich während einiger Monate, seinen Vater
zu küssen und auch nur sich von ihm berühren zu lassen. Die Muttei,
die neuerdings in die Hoffnung gekommen war, blieb größtenteils zu Hause
sie benützte die Gelegenheit, das Kind zu besänftigen; e,s gelang ihr, es in
Bezu* auf den Vater sanfter zu stimmen. Als die Zeit der Entbindung heran-
rückte, bereitete die Mutter die Kleine vor, daß sie ein Brüderchen bekommen
würde „Ich werde ihn lieben, wenn er eine Amme habe
wird aber wenn er meine Tutis anrührt, werde ich ihn
t ten." Die Mutter war entschlossen, ihr Kind selbst zu stillen; da sie
aber überzeugt war, daß ihre Tochter, falls sie es bemerken wurde, wieder
von Wutausbrüchen befallen würde, ließ sie ein Stubenmädchen die Rolle
.liner Amm spielen und gab das kleine Mädchen für halbe Tage .außer
Haus Es gelang ihr, die ganze Stillperiode zu verbergen; das Mädchen
liobte' ihr Meines Schwesterchen und spielte mit ihm so lange es zu Hause
war aber von Zeit zu Zeit befielen sie Zweifel und ihre Mutter mußte ihre
Liebkosungen dulden, um sie zu beruhigen. Sie war schon fast 8 Jahre alt,
ab sie zum letzten Male ihre merkwürdigen Forderungen stellte.
Einige Zeit vorher hatte ihr ein Dienstbote verraten, daß ihre kleine
Schwester (so wie sie) von ihrer Mutter gestillt worden war; sie geriet
in heftigen Zorn und wollte sich auf ihre Schwester stürzen; da das
Mädchen erst seit kurzer Zeit im Hause war, konnte man sie von
der Unrichtigkeit dieser Angaben überzeugen; der sicherste Beweis schien
ihr aber, daß ihre Schwester ihre Zärtlichkeit für die Mutter niemals
durch dieselben Liebkosungen bewies. Sie gesteht es freimütig, daß ihre
Leidenschaft für die Brüste ihrer Mutter sehr lange Zeit gedauert hat,
bis in das Alter der Pubertät, daß sie sie aber von ihrem achten Jahr
an aus Eigenliebe und weil sie durch die Weigerungen ihrer Mutter
litt verbarg. Bis zu diesem Zeitpunkte hatte sie auch ihrer unbestimmten
Eifersucht betreffs des Vaters nicht Herr werden können; sie bemühte
sich durch Zuvorkommenheit den Widerwillen, den sie gegen seine Zart-
EttrtE empfand, wettzumachen. Dieser Widerwillen '***»«*
nicht allein auf den Vater, er machte sich gegen alle Manner welchen
' Alters immer geltend; Ausnahmen bildeten nur ganz junge Manner und
344 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
besonders solche, welche ein eher feminines Aussehen zeigten. Einer ihrer
Vettern, welcher die Ausnahme genossen hatte, bemerkte, als er sichtbare
Zeichen yon Pubertät zu zeigen anfing, daß diese Sympathie, deren Gegen-
stand er bislang gewesen war, sich in schlecht verhehlte Antipathie ver-
wandelte Die vertraulichen Mitteilungen ihrer Mitschülerinnen machten
sie bald darauf aufmerksam, daß sie „anders" empfand; sie wunderte sich
über die Ideen, die sie aussprechen hörte.
Mit 13'/,. Jahren menstruierte sie zum ersten Male, ohne besondere
Störungen der Gesundheit oder des Charakters zu empfinden und von da an
immer regelmäßig. Die Pubertät scheint nichts an ihrem Widerwillen geKen
die Manner geändert zu haben, aber je aufgeklärter sie über die geschlecht-
lichen Beziehungen wurde, desto mehr kam ihr ihre Anomalie zum Bewußtsein
und desto mehr verwundert war sie über dieselbe. Von da an empfand sie stärker
für junge Madchen und begann sich nach ihrer Berührung zu sehnen. Als
h!LmF lh;'e]n+Ll1eblingskolleginnen z» tanzen begann, bemerkte sie, daß sie
™it0n t? lhres 1?u'sens mit dem des jungen Mädchens eine besonders
angenehme Erregung, die mit einer Erektion der Brustwarzen verbunden war
2325' q l* +Wai' 8echfehn Jahre alt' als sie zum ersten Male, in einer
ähnlichen Situation, merkte, daß ihre Genitalien an dieser Erregung teil-
S2 f ?aß WmdTi Von'diesem Momente an begann sie erotische
SSrftt^rJ^f Sich immer Um JunSe Mädchen h^delte. Sie
fir mmSS ' 7 ,c es ,ßie erst mit siebzehn Jahren vei'iieß> keines
der Madchen wie sie empfand; sie hat keine gekannt, die dieselbe Sehnsucht
MiÄ^mUl^ ^ ^^ Mtte' V°n ^ 6iSenen Leidenschaft
p^iA1S-Sie aU" deS I,nStitüt ausgetreten war, traf sie in einer befreundeten
lamilie ein junges Mädchen ihres Alters, welche .sofort ihre Empfindungen
verstand sie in ihr Zimmer zog und sie in die Reizungen der Vulva ein-
weihte. Sie empfand Widerwillen gegen diese Berührungen und vermied die
Gelegenheiten dazu. Trotzdem nahm dieses junge Mädchen von dieser Zeit
an emen Platz an ihren erotischen Träumen ein. Nach ihrer Aussage war
vi!! ü ,eiIl!1Se ®ele&nhßit> bei der sie Berührungen der Geschlechtsteile
versucht hatte, aber oftmals nachher habe sie wollüstige Empfindungen beim
Kontakt von jungen Mädchen und mehr noch von jungen Frauen (mit starkem
Pigment und wohlriechenden Hautsekretionen) gehabt. Sie empfand keinerlei
Anzielmngsgefuhl für junge Männer, ausgesprochen abgestoßen wurde sie nur
von Männern mit starken sexuellen Merkmalen, mit starkem Bartwuchs und
tiefer btimme Sie war 19 Jahre alt, als sie zum ersten Mal einen Heirat-
antrag erhielt, mehrere andere folgten, welche alle sofort abschlägig be-
schieden wurden, mit keiner anderen Begründung als die des sexuellen Wider-
willens Sie war sich der Anomalie dieses Widerwillens, den sie bei keiner ihrer
Gefährtinnen bemerken konnte, und den sie ohne Erfolg zu unterdrücken
suchte, wohl bewußt. Sie konnte sich wohl in die Rolle einer Frau und
Familienmutter hineindenken und wünschte zu heiraten; jedesmal, wenn ein
Madchen ihrer Bekanntschaft, das jünger war als sie, heiratete, empfand sie ein
lebhaftes Gefuh des Bedauerns, - aber ■ es war ihr unmöglich, die Anträge,
welche ihr gestellt wurden, so sehr vorteilhaft sie auch waren, anzunehmen.
Sie war 22 Jahre alt, als man ihr einen jungen Mann von 28 Jahren
vorstellte, der eine gute Lebensstellung inne hatte, aber schmächtig und fast
bartlos war und dem man außerdem nachsagte, er habe eine weibische
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 345
Erziehung genossen und sich nie recht vom Gängelband seiner Mutter los-
machen können. Es schien ihr, als wenn sich nie wieder so eine Gelegenheit
bieten würde, die die Ansprüche ihrer Familie und zugleich das, was sie
Vernunft nannte, so befriedigen könne. Sie gab sofort ihre Zustimmung und
beeilte sich so sehr, die definitive Lösung herbeizuführen, daß jedermann in
Erstaunen versetzt wurde. Sie empfand keine sexuelle Anziehung, aber es schien
ihr, daß der junge Mann ihr am ehesten helfen könne, ihre Pflichten zu erfüllen.
Sie empfand Achtung für ihren Mann, deren • er sich durch seine Stellung
wohl verdient gemacht hatte.
Der Geschlechtsakt ist für sie immer mit Abscheu verbunden gewesen
und konnte nie die Erregung hervorrufen, die sich ihrer immer leicht beim
Zusammensein mit jungen Frauen bemächtigte.
Sie hat sich an den Koitus aus Pflichtgefühl, aus Entgegenkommen und
Ergebenheit für ihren Mann, den sie wie einen Bruder liebte
und dem sie sowohl als Mitarbeiterin als auch als Beraterin behilflich war,
gewöhnt. Selten hatte sie in seinen Armen empfunden und das auch nur durch
die Vorstellung von weiblichen Bildern.
Beiläufig acht Monate vor ihrem ersten Besuch bei mir, hatte sie
einen Wagenunfall mitgemacht, welcher ihr mehr Schrecken als Schmerzen
verursacht hatte; die Folgeerscheinungen waren eine Serie von neurastheni-
schen Störungen: Kephalgie, Dyspepsie, Schlaflosigkeit und Unentschlossen-
heit, dann machten sich quälende Schuldgefühle geltend. Vor allem
machte sie 'sich Vorwürfe, daß sie in ihrer Kindheit
nicht alles, was ihr möglich gewesen war, getan hatte,
um den Widerwillen, den ihr ihr Vater einflößte, zu
überwinden: dies sei, dachte sie, die Ursache aller ihrer Schmerzen ; sie
hätte früher ihre Anomalie eingestehen und sich heilen lassen sollen etc.
Von Zeit zu Zeit verfolgt sie der Gedanke, daß sie ihren Selbstmordideen
nachgeben könne. [L'Instinct Sexuel, Evolution et Dis-
solution, Paris, Ancienne Librairie Germer Bailiiere
et Cie., Felix Alcan Editeur (S. 243-247).]
Der Autor erwähnt noch, daß die Patientin keine Störung der
Menstruation zeigte, und glaubt mit einer längeren Bromkur, die neur-
asthenischen Zustände gebessert zu haben. Ihre sexuelle Einstellung
blieb unverändert.
Wir sehen in diesem Falle die deutliche Fixierung an die Mutter,
und zwar an eine bestimmte erogene Zone, an den Busen. Trotzdem
wäre es ganz gefehlt anzunehmen, daß der Vater dieses frühentwickelte
Kind kalt gelassen hat. Die Stärke der affektativen Einstellung gegen
den Vater, die spätere Reue über dieses Verhalten, die Abneigung gegen
alle bärtigen Männer, zeigt, daß es sich um Verdrängungserscheinungen
handelt, die durch Abwehr negativen Charakter angenommen haben.1)
\ ',
1) Zahlreiche einschlägige Beobachtungen mit psychologischer Analyse finden
eich in Band III.
346
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Sehr bedeutsam sind die Stärke der Eifersucht und die deutliche
Betonung der Todeswünsche gegen die Schwester. Sie würde sie töten,
wenn sie an der Brust der Mutter trinken würde.
Ich möchte hier noch einige Beobachtungen anführen, welche
zeigen, wie die Homosexualität unter dem Einflüsse von Störungen der
inneren Sekretion einsetzen kann.
Dann kommt es aber zu den gleichen psychischen Mechanismen,
wie ich sie bereits beschrieben habe. Das Bild gleicht oft einer Para-
noia, über die ich noch im Zusammenhang abhandeln werde. Oft bricht
die Psychose im Anschluß an das erste sexuelle Erlebnis aus.1)
Fall Nr. 62. Fräulein N. G., ein 25jähriges Mädchen, leidet an einer
Erkrankung der Hypophyse, Akromegalie. Die Diagnose wurde röntgeno-
logisch bestätigt. Objektive Erscheinungen: Haarwuchs am ganzen Körper,
der sich erst seit dem 20. Jahre ausbildete, Ansatz eines Schnurrbartes, Flaum
im Gesichte; leichte Atrophie der Mammae, Ausbleiben der Menses, auf-
fallende Adipositas, beginnender Riesenwuchs der Hände und Füße. Psycho-
logisch bietet ihr Zustand sehr großes Interesse. Sie verläßt das Zimmer seit
einem Jahr nicht mehr, da ihr die Leute auf der Straße beleidigende Be-
merkungen zurufen. Überdies leidet sie an permanenten Stimmen, die so
quälend sind, daß sie sich am liebsten das Leben nehmen möchte. Sie be-
richtet, der Zustand hätte sich ausgebildet, seit sie bei einem jungen Mann
in seiner Wohnung zu Besuch gewesen. Sie habe sich dort nackt ausgezogen,
sei auch mit ihm in einem Bette gelegen, es sei aber nichts vorgefallen. Diesen
Besuch hätte sie ein zweites Mal wiederholt. Man könnte diese Erzählung
für eine Phantasie halten. Aber der Vater hatte den jungen Mann zur Rede
gestellt und aus seinem Munde die Bestätigung dieses Abenteuers seiner
Tochter erfahren. Der Jüngling war auch bereit, das Mädchen zu heiraten,
aber sie wollte von einer Ehe nichts wissen. Es erweist sich der Satz, den ich
so oft bestätigen kann: Das erste sexuelle Erlebnis ist bei Mädchen der
Prüfstein der 'schwachen Gehirne. Sehr häufig bricht, die Psychose im An-
schluß an das Erlebnis aus.
So auch in diesem Falle. Sie fühlte, daß man sie auf der Gasse merk-
würdig ansah, daß die Leute Bemerkungen machten, daß sie sich etwas
zuflüsterten. Sie wollte das Haus nicht mehr verlassen und machte dem
Vater die größten Szenen, weil er sie nicht sorgfältig genug erzogen hatte,
weil er sie nicht sorgfältig genug bewacht hatte. Er wäre an ihrem Unglücke
schuld. Gegen die Mutter stellte sie sich noch feindlicher ein und behauptete,
die Mutter wäre nicht zärtlich genug, sie nehme auf ihre Krankheit keine
Rücksicht, sie sei egoistisch. Sie vertrug nicht, daß die Mutter das Haus
verließ, und wurde immer wütend, wenn sie es versuchte. Sie schlug alles
klein, was im Zimmer war, wenn die Mutter ihr widersprach. Dem Vater
gegenüber war sie sanft, selbst die Vorwürfe kleidete sie in milde Worte. Nur
der Mutter gegenüber wallten die Affekte auf.
Das Mädchen erzählte mir dann von ihren Stimmen und von dem Beginn
ihrer Krankheit. Sie hatte bemerkt, daß die Nachbarin, eine auffallend schöne
*) Vgl. Band III das Kapitel „Das sexuelle Trauma des Erwachsenen".
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 347
.Frau, sie so sonderbar anlachte, als wenn sie ihr Erlebnis mit dem jungen
Manne kennen würde. Diese Nachbarin hatte ein Verhältnis mit einem Freund
ihres Mannes. Die Kranke stand nun stundenlang hinter der Tür und wartete,
bis der Geliebte kam. Dann brach sie in Wut aus ... Sie hatte sich in diese
Frau homosexuell verliebt. Sie hörte damals die ersten Stimmen, die ihr
zuriefen: „Du bist eine ekelhafte homosexuelle Hure!" Sie hatte schon
Bücher gelesen, welche sie über alles aufgeklärt hatten. Seit jenem ersten
Zuruf kamen die Stimmen immer häufiger, und immer war es der Vorwurf
der Homosexualität, den sie ihr zuriefen. Schließlich hörte sie auch Stimmen,
daß sie mit der Mutter ein Verhältnis habe. Unter dem Einflüsse der inneren
Sekretion kam die latente Homosexualität immer mehr hervor. Sie . hatte
nun die Idee, daß sie sich ganz zum Manne umwandeln werde, 'sie werde
eine Metamorphose durchmachen, schon fange ihr ein Penis zu wachsen an,
die Mutter werde dann zwei Männer haben usw. . . .
In der Psychose sind solche Einstellungen sehr häufig zu beob-
achten, weil ja die Hemmungen fortfallen und die Kranken diese Dinge
erzählen, die sie sonst scheu verschweigen. Sicherlich ist hier durch eine
Überproduktion von Andrin die männliche Tendenz verstärkt worden.
Ob aber nicht das Umgekehrte möglich ist? Sollten nicht psychische
Kräfte die Sekretion beeinflussen können? Der Ausbruch der Krankheit
nach dem erwähnten Trauma ist sehr merkwürdig. Um so merk-
würdiger, als damals verschiedene Dinge vorgefallen sind, welche den
Ekel vor der Geschlechtsbestimmung des Weibes sicherlich steigern
konnten. Sie wurde von dem Manne gezwungen, eine Pellatio auszu-
führen, so daß sie fast erstickt wäre. Nachher trat ein Ekel vor dem
Fleisch auf, der viele Monate dauerte . . .
Allerdings ist sein- schwer zu beurteilen, wie weit da psychische
Kräfte mitwirken. Ich habe bemerkt, daß männliche Neurotiker, die
Kinder bleiben wollen, in der Tat jung aussehen und nach einer ana-
lytischen Behandlung, die den Infantilismus überwinden hilft und die
Kranken seelisch zu Erwachsenen macht, sich der Bartwuchs einstellt,
der bisher ganz gefehlt hat. Warum sollte die Psyche nicht auch die
Drüsen, welche mit dem Geschlechtstrieb in Verbindung stehen, be-
einflussen können?
In dieser Hinsicht gibt der Fall von Alfred Gallais1) sehr inter-
essante Perspektiven.
Fall Nr. 63. Es handelt sich um einen akromegalen Riesen, der absolut
nur ein Weib sein will. Er sagt: „Ich will ein Weib sein, ich
will nur von Männern geliebt werde n." In einem Brief an
die Eltern schreibt er: „Ich bin aus dem Krankenhaus in Creteil geflohen,
weil man wollte, daß ich ein Mann sein soll. Mein Charakter verträgt das
nicht. Ich will gern arbeiten, wenn ich „Mama" behilflich sein darf. Ich liebe
*) Nouvelle Iconographie de la Salpetriere, Bd. 25, 1912.
348 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
die Frauenarbeit, Sticken, alle Hausarbeiten. Ich möchte eine Frisur haben,
wie die Frauen sie tragen. Um mich meiner glücklichen Tage
zu erinnern, will ich kein Mann sein, sondern ein Weib. Wenn ich bei
der Mutter wäre, würde ich immer brav (gentille) sein, ich würde ihr helfen."
Man sieht deutlich, daß er sich mit der Mutter identifiziert, weil er sie
liebt. Welcher Art diese Liebe ist, das verrät der Bericht von Gallais, der
wörtlich sagt: „Wir mußten die Besuche seiner Familie eine Zeitlang ein-
schränken, denn die Umarmungen seiner Mutter verur-
sachten ihm schmerzhafte Sensationen in den T e-
stikeln. (!) Einige Male machte der Sohn masturba-
torische Manipulationen, während die arme Mutter
ihn umarmt e."
Er war schon als Kind auffallend neuropathisch. Im fünften
Lebensjahre wurde er von einem Knechte vergewal-
tigt und masturbiert. Im Anschluß daran trat eine Veränderung
seines Wesens ein. Er wurde traurig und litt wohl zehnmal täglich an
nervösen Krisen, während der er schrie: „Ich bin besessen, ich weiß nicht,
was ich fühle. Geh weg! Geh weg! Du tust mir weh! Man bohrt mir einen
Nagel in den Kopf!"
Von diesem traumatischen Erlebnis an werden alle seine Phantasien
passiv. Er zieht oft Frauenkleider an. Nur einmal versucht er einen Gewalt-
akt an seinem Vater! Er träumt und phantasiert immer, daß er „die Liebe
eines starken Mannes erobern wolle, die ihn ganz beherrscht". Dieser Gedanke
verursacht ihm sofort eine Erektion. Er bedauert bitter, physisch kein Weib
sein zu können. In solchen Momenten wird er traurig und masturbiert, um
sich zu trösten.
Der Fall zeigt uns deutlich die determinierende Wirkung eines Traumas,
das in ihm die Phantasie erweckt, dem Vater die Mutter zu er-
setzen. Denn was er sucht, ist immer ein Ersatz des Vaters. Er will ein
Weib sein, und dieser starke Wille scheint seine physische Entwicklung und
vielleicht auch seine Krankheit verursacht zu haben . . . Bemerkenswert ist
noch eine Neigung zu seiner Kusine. (Das oft erwähnte Inzestkompromiß.)
Die Theorie der erblichen Anlage hat gewiß eine große Bedeutung.
Aber neben dem Fatum der Vererbung steht die
plastische Kraft des Erlebnisses. Spricht dieser Fall
nicht Bände? Ein kleiner Knabe wird vergewaltigt, zum Receptaculum
seminis gemacht, er empfindet dabei das erstemal die Lust eines starken
Orgasmus. Vor seine Seele drängt sich dann ein Bild: So macht es der
Vater mit der Mutter. Der Knecht wird ihm zum Vater, er wird zur
Mutter. Jeder Koitus imponiert als eine Vergewaltigung. Er fühlt sich
der passiven Rolle vermöge seiner Schwäche viel näher. Kann so ein
Trauma nicht den Wunsch erwecken: Ich will ein Weib sein!? Kann
so ein Wunsch nicht in einem zarten Organismus, der in Entwicklung
ist, alle komplizierten Vorgänge der inneren Sekretion in Verwirrung
bringen ? Ich weiß, daß diese Erklärung kühn ist und allen Materialisten
und Mechanisten nicht behagen wird. Der Analytiker aber sieht mit
Erstaunen, daß er die Bedeutung psychischer Kräfte noch immer unter-
Die Familie des Homosexuellen. — Sein Verhalten zur Mutter. 349
schätzt hat. Wenn durch die Macht des Gedankens Lähmungen zustande
kommen, weshalb sollten nicht auch Drüsen vorübergehend ihre Sekre-
tion einstellen können? Die eine angeregt, die anderen gehemmt werden?
Hier beginnt für mich das große Rätsel der Neurose. Es gibt
immer eine Linie, wo die psychischen Kräfte in physische übergehen.
Wie das zustande kommt, wie das möglich ist, das wissen wir noch nicht.
Aber die Möglichkeit dürfen wir nicht von der Hand weisen.
Wir können dies Kapitel nicht beschließen, ohne auf die wichtigen
Arbeiten von Steinach hingewiesen zu haben. Steinach hat durch eine
Reihe genialer Operationen die Bedeutung der inneren Hormone für die
Ausbildung des Geschlechtscharakters nachgewiesen. Seine letzte Auf-
fassung in der Frage der Bisexualität lautet nach Paul Kammer er1) :
„Vor Differenzierung der Keimdrüse zur Pubertätsdrüse befindet sich
der Embryo im Stadium latenter Bisexualität; wenn die Differenzierung
des Keimstockes eine durchgreifende, d. h. nach der einen oder anderen
Gesclüechtsrichtung überwiegend ist, entstehen ausgesprochen männ-
liche oder weibliche Individuen. Wenn dagegen die Differenzierung des
Keimstockes eine unvollständige ist — ohne entschiedenes Überwiegen
der einen oder anderen Richtung — , so entstehen Zwitter, und zwar
je nach Aktivität der geschlechtsverschiedenen Pubertätsdrüsen jeweils
eine der unzähligen Formen des Hermaphroditismus."
Wir werden in' einem späteren Kapitel noch einmal auf die
Forschungen Steinachs zurückkommen. Es wirft sich nur die Frage
auf, ob angesichts seiner sensationellen Funde eine jede Psychologie
der Homosexualität nicht überflüssig wäre. Das wäre sie in der Tat,
wenn es keine „psychischen Hormone" gäbe. Ich habe Steinach einmal
die Anregung gegeben, experimentell die Bedeutung der seelischen
Kräfte nachzuweisen, und entnehme einer Bemerkung Paul Federns in
der „Zeitschrift für ärztliche Psychanalyse", daß derartige Unter-
suchungen im Gange sind.
Steinach hat durch seine Forschungen bewiesen, daß die Annahme
der Bisexualität, welche die Psychanalyse auf Grund ihrer seelischen
Forschungen postuliert hat, biologisch richtig ist. Fraglich erscheint
es mir aber, ob wir jetzt der Aera einer neuen operativen Therapie
der Homosexualität entgegengehen. Die Erfolge von Lichtenstern, der
durch Hodentransplantation die männlichen Tendenzen verstärkte,
sind gewiß sehr interessant und wären beweisend,! wenn nicht die
gleichen Erfolge auch auf psychotherapeutischem Wege erzielt werden
*) Paul Kammerer: Steinachs Forschungen über Entwicklung, Beherrschung
und Wandlung der Pubertät. Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde.
Bd. XVII, 1919. Diese Arbeit bietet eine ausgezeichnete, zusammenfassende Darstellung
aller Arbeiten und Ergebnisse von Steinach und von seinen Schülern.
350 Zweiter Teil. Die Homosexualität. — Die Familie der Homosexuellen.
und Lichtenstern1) die Kraft der Suggestion ausschalten könnte.
Sicherlich wird diese Therapie für gewisse Fälle,
wo der organische Charakter unzweifelhaft ist,
von großer Bedeutung werden.
Vielleicht wird sich der therapeutische Wert der Steinachschen
Methode bei gewissen Depressionszuständen, Psychosen und bei der
Paranoia bewähren. Darauf werde ich noch im letzten Kapitel dieses
Werkes zu sprechen kommen. Sicher ist es, daß die operative Therapie
der Homosexualität nichts mehr als eine schöne Idee — man könnte
sogar behaupten — ein wissenschaftliches Märchen ist. Schrenk-
Notzing hat vor längerer Zeit einen Bericht über Heilung von Homo-
sexuellen durch Hypnose veröffentlicht. Ich habe diese Erfolge lange
bezweifelt und wurde aus dem Saulus ein Paulus, seit ich selbst im-
stande war, in drei Wochen eine komplette Homosexualität zu heilen.
Über den Fall werde ich noch berichten. Er beweist uns, daß eine
psychische Therapie der Homosexualität möglich und aussichtsreich
ist. Diese Therapie kann in der Mehrzahl der Fälle nur die analytisch-
pädagogische sein. Die Propaganda von Hirschfeld und von seinem
Kreise hat in diese Frage viel Verwirrung gebracht und der wissen-
schaftlichen Erforschung keinen allzu großen Nutzen gebracht.
Ich stehe daher den Versuchen, die Homosexualität durch Ein-
pflanzung eines fremden (kryptorchen) Hodens zu heilen, sehr skeptisch
gegenüber.2) Selbst wenn die Methode gut wäre — sie kommt nur für
organische Hermaphroditen und Verletzte (ihrer Hoden beraubte) in
Betracht — , so wird sie immer für wenige Fälle reserviert bleiben.
Es ist sehr schwer, einen gesunden kryptorchen Hoden zu beschaffen.
Schließlich würden sieh die Reichen diesen Luxus erlauben und die
Maßnahme käme sozial gar nicht in Frage.
Die Homosexualität läßt sich aber nicht von der organischen
Seite allein erklären. Der Mensch ist keine Ratte und kein Kaninchen.
Der Mensch steht unter dem Einflüsse seelischer Kräfte. Auch seine
Geschlechtsdrüsen gehorchen seelischen Einflüssen.
Dieses Buch aber betont überall die psychischen Seiten. Ich
weiß wohl, daß ich das Physische vernachlässige. Ich tue das mit Ab-
sicht, weil ich es als meine Aufgabe betrachte, die zum Teil bisher
unbekannten seelischen Zusammenhänge aufzuspüren und darzustellen.
J) Lichtenstern: Mit Erfolg ausgeführte Hodentransplantation am Menschen.
M. med. W., 1916, Nr. 19. — Weitere Fälle erfolgreicher Hodentransplantation. Sitzung
der Gesellschaft der Ärzte in Wien. Wiener klin. W., 1918, Nr. 45.
-') Ebenso skeptisch, beurteile ich die Versuche, Menschen durch operative Ein-
griffe zu verjüngen. Davon mehr in Band V.
Die Homosexualität.
IX.
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß.
Wenn wir nun alles dieses uns vergegenwärtigen
und wohl erwägen, so sehen wir die Päderastie zn allen
Zeiten und in allen Ländern auf eine Weise auftreten,
die gar weit entfernt ist von der, welche wir zuerst, als
wir sie bloß an sich selbst betrachteten, also a priori,
vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche Allge-
meinheit und beharrliche Unausrottbarkeit,
der Sache beweist, daß sie irgendwie aus der
menschlichen Natur selbst hervorgeht; da sie
nur aus diesem Grunde jederzeit und überall unausbleib-
lich auftreten kann als Beleg zu dem naturam expelles
furca, tarnen usqae recurret. Schopenhauer.
Ich eröffne die Kasuistik dieses Kapitels mit der Darstellung
eines Patienten, den ich, einmal gesprochen habe. Ich kenne ihn aus
seinen Briefen. Trotzdem scheint mir der Fall von prinzipieller Be-
deutung zu sein, weil er viele Bestätigungen meiner vorgehenden Aus-
führungen enthält. Die Dürftigkeit psychologischer Erkenntnis, die
wir aus diesen Anamnesen von Homosexuellen mit eingeschränktem Ge-
sichtskreis schöpfen, wird uns erst vollkommen klar werden, wenn wir
eine vollständige Analyse eines Homosexuellen kennen lernen werden.
Fall Nr. 64. Herr G.L. schreibt mir:
Ich werde mich bemühen, Ihnen einen redlichen und wahrheitsgetreuen
Einblick in mein Geschlechts- und Seelenleben zu verschaffen. Geboren und
erzogen als jüngstes von zehn Kindern, wuchs ich bis zu meinem fünften Lebens-
jahre, in dem ich begann, die Schule zu besuchen, auf dem Lande auf, ohne
daß in meiner Erinnerung etwas anderes haften blieb, als daß ich leidenschaft-
lich gern mit Feuer spielte und oft bis in dieses Alter das Bett näßte,
mit dem angenehmen Empfinden dabei, dies auf dem Anstandsorte zu tun. Auch
weiß ich, daß ich meine Schwestern sehr beneidete. Durch meine außerordent-
lich strengen und religiösen Eltern natürlich streng erzogen, lernte ich früh-
zeitig die Grenze zwischen Mein und D^ein, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge
unterscheiden. Immer beaufsichtigt von meinen Eltern und Erziehern — was
dem modernen Geiste nicht entspricht — , war ich zu sehr den Spielen der
Kinder entzogen.
352 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Spielte ich, so war es wohl zumeist mit Knaben, ohne mich erinnern
zu können, dieses Spiel dem mit Mädchen vorzuziehen. In der freien Zeit viel
mit ländlichen Arbeiten beschäftigt, ward ich zirka acht Jahre alt, da das
erste geschlechtliche Ereignis in meinem Gedächtnisse haften blieb, und
zwar insofern, als ich in diesem Jahre Zeuge war, wie gleichaltrige
Knaben mit dem Geschlechtsteil eines Hundes spiel-
ten, und ein andermal, als die gleichen Knaben mit den
eigenen Geschlechtsteilen spielten und sie auch
gegenseitig in den Mund nahmen, ohne meinerseits
dabei die Regung empfunden zu haben, dies auch nach-
zuahmen. Mit Mädchen hätte ich wohl in den Kinder] ahren wenig Umgang,
nur einmal erinnere ich mich, dabei gewesen zu sein,
wie mehrere Knaben von 1 1—1 2 Jahren einem Mädchen
an den Leib rückten, doch nahm ich selbst daran nicht teil. Wohl
zog ich in dieser Zeit im Spiele mehrmals Frauenkleider an, während
ich heute vor einem Mann mit Prauenkleidern eher Abscheu
empfände. Zwei Geschehnisse, meine Person betreffend, sind mir noch in
Erinnerung, nämlich einmal in Gegenwart anderer Knaben mit dem eigenen
Geschlechtsteil gespielt zu haben, und ein zweites Mal, daß ich einen Knaben
nackten Leibes heiß umfing und „Vater und Mutter" spielte. So verflossen
13 Jahre durch nichts unterbrochen als durch einen Sturz von einem Baume,
bei dem ich -mich erheblich am Hinterhaupte verletzte. In dieser Zeit war
es, daß mein Lehrer, der mich nicht nur für einen intelligenten, sondern auch
für einen Musterknaben hielt, meine armen Eltern überredete, mich studieren
zu lassen. Tatsächlich gelang es mir, einen Freiplatz in einem Institut zu
bekommen. Kurze Zeit darauf trat an mich ein Schulkamerad heran und
lehrte mich onanieren. Obwohl schon Erektion zustande kam,
erfolgte wahrscheinlich infolge zu geringer Entwicklung kein Samenerguß.
Er bewog mich und einen anderen Kameraden, ihn zu onanieren — doch
sonst nichts. Andere Kameraden sprachen wohl in dieser Zeit auch von diesem
oder jenem Mädchen, welches hübsch sein sollte. Ich jedoch stand meines Er-
innerns diesem Begriffe „hübsche Mädchen" wie einem Rätsel
gegenüber. Da, es war wohl in der zweiten Gymnasialklasse, das 14. Jahr
mochte überschritten, gewesen sein, als ein Professor einmal vergessen hatte,
seine Hose in Ordnung zu bringen, als ich, dies bemerkend, wie gebannt dort-
hin blickte und so zum ersten Male zum traurigen Bewußtsein meines Ge-
schlechtslebens kam. Von dieser Zeit an machte ich die Bemerkung, daß mich
dieser Professor außerordentlich anzog, obwohl er mich in
der Schule nicht liebte. Es begannen die ersten Kämpfe, die ersten Wünsche
in der erwachten Knabenseele aufzuflattern. Unter anderen waren es zwei
Knaben, die mit ihrem Liebreiz mich anzogen. Ich onanierte damals viel,
ohne dabei Phantasien zu haben, mehrmals auch mit einem anderen Knaben.
Doch hatte ich die Empfindung, daß es mich geschlechtlich zu ihnen zog, und
auch im Traum äußerte sich der Wunsch, ihr Freund zu sein. Die Reize waren
jedoch keine solchen, daß ich sie nicht hätte unterdrücken können. Noch ein
älterer Mann folgte dann, zu dem es mich unwiderstehlich hinzog. Im Wachen
und im Traum hatte ich in diesen Jahren keinen Gedanken an die Frau. Da
kam ungefähr im 18. Jahre die erste große Woge, die mich beinahe über Bord
spülte. , Ich kam in nähere Berührung mit einem entfernten Verwandten, einem
schönen, geistvollen und grundgütigen alten Gelehrten, der übrigens
I
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. j$5§
glücklich verheiratet war. Ich lernte das Leid einer unglücklichen Liebe
kennen, träumte, was ich nicht erreichte, und suchte dieser verderblichen
Leidenschaft durch übermäßiges Onanieren zu begegnen. Der aufreibende
Kampf, mein Geheimnis zu bewahren, alles andere seelische Elend brachten
mich eines Tages so weit, daß ich mit einem Weinkrampf völlig zusammen-
brach. Der energische und doch gütige Zuspruch meines Verwandten, dem ich
mich gezwungen anvertraute, rettete mich damals vor dem Selbstmord.
Nächsten Tag ward der Hausarzt gerufen, ein liebenswürdiger, junger
Menschenfreund, der sich meiner annahm. Tag um Tag sprach er mit mir und
suchte auf meine Seele einzuwirken, und erreichte dabei, daß mein Geschlechts-
leben gänzlich in den Hintergrund trat, bis er nach etwa fünf Monaten mich
für reif hielt, einen Beischlaf auszuüben. Doch dies ward für mich eine
neue Niederlage. Das heimliche Nichtwollen, die Furcht vor
Erkrankung machten, daß ich im geeigneten Augenblick unvermögend
war. Ich klärte jedoch darüber den Arzt nicht auf, so daß er mich
kurz nachher als geheilt entließ. Wieder kamen Jahre des
Kampfes; in Erwartung eines geistigen Zusammenbruches spielte ich mit
dem Gedanken eines erlösenden Selbstmordes. Doch dazu fehlte mir der
Mut. . . . War es Feigheit, war es das Sträuben des gesundheitstrotzenden
Körpers, der sich weigerte, aus dem Leben hinauszugehen, ohne ein einziges
Mal das höchste Ziel eines gesunden Leibes, die Liebe, genossen zu haben?
In diesen Jahren starb auch mein Verwandter und meine Verzweiflung war
grenzenlos. Denn ich war von dieser großen Liebe so absorbiert, daß ich die
ganze übrige Welt vergessen hatte. Doch kaum getröstet über dieses Unglück,
erwachte ich zu neuer Pein; es kreuzten Menschen meinen Weg, denen ich
mich bedingungslos angeschlossen hätte, wenn ich irgend eine Annäherang be-
merkt, hätte. In einem mutlosen Augenblick vertraute ich mich Hofrat W. an,
der mich tröstete, daß mein Übel nicht so tief sitzen könnte, weil ich zu ihm
käme. Er riet mir auch, die Bekanntschaft mit Mädchen zu suchen (ich hatte
auch dienstlich viel mit Mädchen zu tun und zwang mich auch selbst, tanzen
zu lernen). Seinen Rat befolgend, ging ich zu öffentlichen Mädchen, und ich
übte wiederholt den Beischlaf aus, ohne dabei Genuß oder Freude zu finden.
Ja, ich ging so weit, daß ich einem anständigen Mädchen einen Heirats-
antrag machte. Mein Schicksal wollte es, daß ich auch auf dieser Linie
abgeschlagen wurde, wohl heimlich zu meiner Erleichterung. Denn ich
konnte und kann mir nicht vorstellen, daß meine Liebe, die unbedingt und
absolut mit meinem Ideal des Schönen aufs innigste verknüpft ist, das ich
im Wesen, im Antlitz, in der Gestalt des schönen Knaben und Greises
finde, vernichtet werden soll. Frühling und Herbst, Knabe und Greis gleichen
wunderbarem Werden und wehem, wonnigem Sterben. Während ich nur
bei Berührung mit diesen wunderbarste Wonne empfinde, ist mir die Be-
rührung mit einem Weibe gleichgültig, wenn nicht gar ekelhaft. So
vergingen wieder Zeiten des Kampfes, viel gestrauchelt, aber nicht gefallen,
weil ich aus Furcht vor Entdeckung sehr zurückhaltend war. Nachts gequält
von den Träumen des Tages, in denen ich schon unendliche Wonne bei Vor-
stellung an eine innige körperliche Berührung empfand, träumte mir auch
und ich dachte auch an eine Berührung mit dem Munde, doch nicht an einen
Liebesgenuß von rückwärts. Entsetzt vor dem Entdecktwerden — ich erröte
«ehon, wenn in einer Gesellschaft auch nur ein unbeabsichtigter Scherz
gemacht wird — , beschloß ich oft, in die Fremdenlegion zu fliehen, oder in ein
Stekel, Störungen des Trieb- und Affektlebens. II. 2. Aufl. 23
354 [Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Land auszuwandern, wo die gleichgeschlechtliche Liebe kein Verbrechen und
keine Schande wäre.
Oft hörte ich auch, wo sich diese Menschen treffen, doch fand ich nie
den Mut, hinzugehen, aus Furcht, erkannt zu werden, der Schande anheim-
zufallen und subsistenzlos zu werden. Dies eine schmerzte mich am meisten,
daß ich als minderwertiger Wüstling gelten soll, während Millionen und
Millionen charakterloser Lumpen, denen das Gesetz noch eher beisteht, sich
des Lebens freuen und noch geachtet und geschätzt sind, während ich, mit
den Eigenschaften des wahren Menschen ausgestattet, in freudlosem Feuer
mich verzehre. Zwei Frauen traten noch in meinen Lebensweg, mit denen ich
in nähere Berührung trat, die eine zog mich für Augenblicke an, w e i 1 sie
einen knabenhaft unentwickelten Leib hatte, die
andere, weil ich alkoholisiert war. Doch machte ich dabei
die Bemerkung, daß ich bei körperlicher Berührung und Kuß keinen Genuß
fand, ja bei vielen Frauen würde ich schon Ekel haben,
wenn ich etwas zum Essen aus ihrer Hand nähme.
Mehrere öffentliche Mädchen versuchten mich zu reizen (lambentes glandem
membri), aber ich hatte trotz Erektion kein besonderes Lustgefühl und nach
der geschlechtlichen Ermattung wieder Elend — wieder das alte Lied. Manch-
mal führte mich meine Verzweiflung in die Kirche und in diesem Mysterium
fand ich Tränen und faltete inbrünstig meine Hände zum Gebet — ohne selbst
im Herzen zu glauben — . Oft zweifelte ich an meinem Verstände und hatte
die Absicht, in ein Irrenhaus zu gehen, doch auch dadurch würde mein Elend
bekannt und für immer wäre der Weg zu den Menschen zurück abgeschnitten.
Wohl träumte ich manchmal auch von Frauen, empfand
dabei nichts, während ich bei einem Traum von inniger Umschlingung oder
nur Betasten oder Beschauen des Knaben oder Greises eitel Lust empfand.
Ich träumte von Berührung mit dem Munde.
Noch etwas von der Familie. Infolge der Strenge des bereits ver-
storbenen Vaters war ich mehr der nachsichtigeren Mutter
zuneigend. Von vier Schwestern ist eine verheiratet und auch beide
Brüder, wie ich glaube, glücklich und zufrieden. (Ich empfinde großes Scham-
gefühl gegen alle Verwandten, groß und klein.) Ein einziger Onkel zeigte
exzentrisches Wesen und blieb unverheiratet. Meine sonstigen Lebensgewohn-
heiten sind ganz die normaler Menschen, ich habe Freunde, welche verheiratet
sind und meinen Zustand nicht kennen. Nur oft und oft bin ich schrecklich
gereizt infolge meiner Seelenqual. Nun zu Ende: Sie werden, geehrter Herr
Doktor, mich nicht bewegen können, noch einmal Ihre Ordination aufzu-
suchen, weil mir schon der prüfende Blick Ihres Mädchens die
Angst einflößt, erkannt und diagnostiziert zu werden. Sollte es Sie drängen,
mir einen Rat zu geben, wie ich am ehesten diesem Drange widerstehen kann,
oder ein Land zu nennen, wohin ich mich wenden könnte, wäre ich sehr dank-
bar — wenn nicht, so bin ich es gewohnt, geschlagen zu werden." — — —
Einer der üblichen Berichte, der das Wichtigste verschweigt. Das
Schuldbewußtsein des Masochisten, der „gewohnt ist, geschlagen zu
werden", geht aus der lächerlichen Angst vor dem prüfenden Blick
meines Dienstmädchens hervor. Diese Angst würde wahrscheinlich
in der Analyse seine sadistische Einstellung zum Weibe ergeben. Sonst
einige bemerkenswerte Angaben. Er ist aus einer kinderreichen Familie,
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 355
der Vater streng, die Mutter nachsichtig, er beneidete seine Schwestern.
Aus seiner Kindheit werden eine ganze Menge homosexueller Erlebnisse
erzählt und die Neigung, sich Frauenkleider anzuziehen. Diese Neigung
deutet auf eine ausgesprochene Identifizierung mit der Schwester oder
der Mutter. Aber aus welchem Grunde wollte er ein Weib sein? Aus
welchem Grunde wollte er die Mutter spielen? Er wollte dem Vater ein
Weib, auch die Mutter ersetzen. Hier war es der starke Vater,
der den Knaben so angezogen hatte, daß er ihm alles sein wollte. Er
verliebt sich dann im Leben immer wieder in ältere Herren, die ihm
den Vater ersetzen können. Der Greis ist jedesmal eine Imago des
Vaters. In den homosexuellen Szenen mit Greisen, die sich in seiner
Phantasie oder in Wirklichkeit abspielen, bleibt er das Kind, mit dem
der Vater zärtlich wird und von dem sich der Vater die Fellatio
machen läßt. Er hat aber auch die Vorliebe zu Knaben. Da wird er
der Vater, während der Knabe sein Jugendbild wird.
Interessant ist dieser ausgesprochene Ekel vor dem Weibe, der
nach Alkohol verschwindet, so daß ein Koitus ausgeführt wird. Er
war auch nahe daran, sich zu verlieben, weil ein Mädchen einen knaben-
haften Typus zeigte; Dies verrät Zusammenhänge zwischen den
Knaben und den Mädchen. Die Knaben werden geliebt, wenn sie die
Züge einer geliebten Schwester tragen, die Greise aber, wenn sie an
den Vater erinnern.
Der Weg zum Weibe jedoch ist verschlossen. Ekel und Angst
vor Infektionen verstecken bedeutsamere, tiefere Motive, welche reli-
giöser Natur sind. Jede Dirne wird zur Schwester, der jüngeren «Aus-
gabe der Mutter. Ohne Analyse ist die Genese dieser Paraphilie
nicht zu verstehen. Er flieht mich, weil er die Wahrheit nicht sehen
will. Der strenge Vater scheint in ihm die Seimsucht nach einem
gütigen wachgerufen und sein Schicksal determiniert zu haben. Eine
Liebe zur Schwester schien aus der ersten Besprechung deutlich her-
vorzugehen.
Fall Nr. 65. Herr T.D., 26 Jahre alt, kämpft seit Jahren vergeblich
gegen seine homosexuellen Neigungen. Er liebt entweder schöne Greise mit
weißen Barten, welche aber immer ein erotisches Ideal bleiben, mit denen er
sich gern unterhält, Spaziergänge macht, Karten spielt, musiziert, oder sehr
einfache Menschen, am liebsten Schifferknechte, Pflasterer, Soldaten, von denen
die Artilleristen bevorzugt werden. Seine Betätigung beschränkt sich darauf,
das Glied des fremden Mannes in die Hand zu nehmen und das eigene dem
anderen in die Hand zu geben. Dann Orgasmus, der sehr rasch erfolgt. Nach
der Tat Reue und fester Vorsatz, es nicht mehr zu machen. Beim letzten Ver-
suche wurde er von einem Wachmann ertappt und samt dem Arbeiter zur ge-
richtlichen Verantwortung gezogen.
23*
356 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Die Analyse ergibt folgende Tatsachen: Er hatte wiederholt versucht,
mit Frauen zu verkehren, wurde aber immer von großer Angst und von Ekel
daran gehindert. Die Erektion ist' sehr stark, aber vor der Immissio des Penis
wird derselbe schlaff und fällt zusammen. Erzielung des Orgasmus durch die
Hand der Frau ist möglich, nachher stellt sich ein heftiges Ekelgefühl ein,
er muß sofort baden. Er hatte verschiedene Gelegenheiten, mit Mädchen
und schönen Frauen intim zu werden, sie machten ihm sogar Anträge, er ging
aber niemals darauf ein.
Seine Familiengeschichte ist folgende: Er ist der einzige Sohn eines vor
vier Jahren verstorbenen, sehr gütigen Vaters. Die Mutter starb bei seiner
Geburt, was bei ihm eine Assoziation zwischen Tod und Koitus bewirkte.
Er müsse bei Frauen immer daran denken. Sein Vater war ganz außerordent-
lich zärtlich mit ihm und heiratete seinetwegen nicht mehr. Als er noch jung
war, spielte der Vater immer mit ihm und beschäftigte sich in allen seinen
freien Stunden mit ihm. Später wurde das Band noch inniger. Er fühi-te
eigentlich eine Art Ehe mit dem Vater.
Er begann sehr früh zu onanieren und will dabei nur Phantasien von
ordinären Männern gehabt haben, welche sein Glied in die Hand nahmen.
Seine Liebe zum Vater war entschieden pathologisch. Blieb der Vater
einmal eine Viertelstunde länger aus, so begann er zu weinen und war kaum
zu trösten. Seinem Vater Freude zu bereiten und ihm den Verlust der gelieb-
ten Mutter zu ersetzen, war das ganze Streben seines Lebens. Als der Vater
krank wurde, war er so aufgeregt, daß man für seinen Verstand zitterte. Nach
dem Tode seines Vaters machte er einen Selbstmordversuch, der durch den
treuen Diener des Vaters vereitelt wurde. Er machte allerlei Gelübde, unter
anderen, das ganze Trauerjahr nicht zu onanieren. Das konnte er nicht ein-
halten ... An heterosexuelle Szenen in der Kindheit kann er sich erst nicht
erinnern, ebenso nicht an homosexuelle Erlebnisse. Allmählich aber lüftet sich
das Dunkel, das über seiner Kindheit liegt, und es treten eine Menge von Er-
lebnissen zutage, welche die Entwicklung der Homosexualität gefördert hatten.
Sein Vater war immer ein großer Damenfreund und er merkte schon als Kind,
daß der Vater sowohl mit seiner Erzieherin, als auch mit der Köchin und dem
Stubenmädchen intimen Umgang hatte. Er überraschte einmal den Vater, als
er mit der Köchin in seinem Zimmer allein war und sie gerade umarmte. Er
erhielt von dem wütenden Vater eine Ohrfeige, weil er ohne zu klopfen ein-
getreten war. Es war eines der wenigen Male, daß er von seinem Vater ge-
züchtigt wurde. Auch hörte er des Nachts einige Male, wie der Vater zu der
Erzieherin, die damals noch jung und sehr hübsch war, ins Bett stieg und
dort allerlei vollführte. Später erhielt er einen Erzieher, der sich dem genius
loci anpaßte und es auch mit den Dienstboten hielt. Er hatte als Kind oft
den Wunsch, ein Weib zu sein und an Stelle der Köchin dem Vater zu willen
zu sein. Dabei schien sein Vater zu fürchten, daß sein einziger Sohn den
Frauen in die Hände fallen werde, und verabsäumte nicht, ihn durch ent-
sprechende Lehren zu warnen. Mit 12 Jahren klärte ihn der Vater über die
Gefahren der Onanie auf, was zur Folge hatte, daß er gegen die Onanie
kämpfte, aber sie nicht aufgeben konnte. Einige Jahre später erzählte ihm der
Vater von den schrecklichen Folgen der Geschlechtskrankheiten und warnte
ihn vor Dirnen. Er solle sich in acht nehmen, er müsse oft durch die Stadt
gehen, die Dirnen wollten immer solche junge, unschuldige Knaben verführen,
und mancher werde fürs Leben unglücklich.
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 357
Von Bedeutung ist auch, daß er mit fünf Jahren mit einem Mädchen
aus der Nachbarschaft spielte und es versuchte, den Vater nachzuahmen. Er
muß das Mädchen verletzt haben, denn es schrie, die Erzieherin kam herein,
es gab böse Szenen und er erhielt von der Erzieherin arge Schläge.
Einen bösen Eindruck machte auch eine furchtbare Szene zwischen der
Köchin und der Erzieherin, die aufeinander wegen des Vaters eifersüchtig
waren. Sie lagen einander in den Haaren und das ganze Haus war in Erregung.
Die Köchin mußte sofort das Haus verlassen. Er glaubt, daß seit dieser Szene
der Vater alle Beziehungen zu den Leuten des Hauses abbrach. Mit 19 Jahren
vorliebte er sich in die Kassiererin eines Kaffeehauses und wollte sie gern
erobern. Sein Vater aber, dem er alles erzählte, warnte ihn vor diesen Kassiere-
rinnen, weil sie meistens krank und angesteckt wären. Er erzählte ihm zur
Warnung, daß er in der Jugend durch eine solche Geschichte arge Unannehm-
lichkeiten hatte und sogar Erpressungen ausgesetzt war.
Er erfüllte sein Herz mit Schrecken vor dem Weibe. Überdies gab er ihm
ein Buch, das ihn über die Folgen der Geschlechtskrankheiten belehrte, so daß
er sich nicht mehr traute, sich von einer Dirne berühren zu lassen, wennn er
kein Kondom anhatte. Nach dem Verkehre, der ja nur in manuellen Manipula-
tionen bestand, mußte er sich sofort baden und endlose Male mit Seife die
Genitalien waschen. Nach einem homosexuellen Akte unterlag er diesem
Waschzwang nicht.
Nun kommen wir zur Analyse seiner Akte, die sich als veritable Zwangs-
handlungen erweisen. Er wird plötzlich unruhig, wehrt sich mächtig, läuft
dann stundenlang herum, bis er schließlich einem von den männlichen Prosti-
tuierten, die ihre Opfer sofort erkennen, in die Hände fällt. Da er aber nie
einen Namen nannte, sich in keine intimeren Beziehungen einließ, war auch er
keinen Erpressungen ausgesetzt. Einmal glaubte er, daß ein Masseur sich
seine Physiognomie gemerkt und ihn erkannt hatte. Er sah ihn einige Male
vor seinem Hause. Sofort verließ er Wien und machte eine größere Reise,
die ihn einige Monate in die Fremde führte.
In dem Akte suchte er die Liebkosungen seines Vaters. Er teilte die
Liebe in ihre zwei bekannten Komponenten. Die Erotik reservierte er für die
älteren Herren, die Ärzte, die guten älteren Freunde, die Sexualität be-
schränkte sich auf die ordinären Männer. So hatte er auch das Wesen des
Vaters in zwei Teile geteilt, in den hochstrebenden, intellektuellen, fein-
sinnigen Vater und in den Frauenjäger und Liebhaber der ordinären Dienst-
boten. In der Szene blieb er ein Mann, aber er nahm eine Regression in die
Kindheit vor und wurde wieder das Kind, das vom Vater jene Zärtlichkeiten
erwartet, die an die Dienstboten verschwendet wurden. Überdies trugen die
ordinären Männer die Züge der Dienstboten, es waren auch männliche
Dienstboten.
Es handelte sich um eine Transkription der Dienstbotenliebe auf Männer.
Für Dienstboten hatte er immer eine Vorliebe und da er fürchtete, daß er noch
eine Köchin heiraten könnte, hielt er sich von ihnen fern. Nur einmal im
Vorzimmer eines Freundes umarmte er plötzlich eine Köchin und küßte sie
leidenschaftlich. Die hätte ich sicher koitieren können, sagte er mir. Er hörte
aber sofort auf, den Freund zu besuchen . . .
Er identifizierte sich vollkommen mit seinem Vater. Er wohnte in seiner
Wohnung, trug sieh wie der Vater, hatte den gleichen Schnitt der Kleider,
obgleich er ganz veraltet war. Aber er wollte sich doch in einer Hinsicht
358 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
differenzieren. Er wollte nicht der Liebhaber seiner Dienstboten werden. Er
hielt sich deshalb einen Diener und speiste immer außer Haus, um keine
Köchin halten zu müssen. Dem Diener aber näherte er sich nie vertraulich. Er
wollte nicht wie der Vater im Hause unter Dienstboten einen Geliebten haben.
Die Analyse förderte eine unterdrückte sadistische Einstellung gegen die
Frauen zutage. Seine ersten Versuche bei Dirnen mißlangen und nur unter
dem Einflüsse von Alkohol kam ein mißglückter Koitus zustande. Nachträglich
aber erinnerte er sich an einen einzigen Kongressus, der ihm glückte. Das
Mädchen hatte ihn durch eine Bemerkung, daß er ein Patzer wäre, in Zorn
gebracht. Er stürzte sich auf sie, wollte sie schlagen und bemerkte, daß sich
seine Libido enorm steigerte. In dieser "Wut vollzog er einen Koitus. Aber
er hätte sie am liebsten erdrosselt!
Er zeigte eine Idiosynkrasie gegen verschiedene v/eibliche Berufe.
Krankonschwestern in der Tracht würde er mit kaltem Blute zerreißen. Eben-
so hasse er alle Nonnen. Er würde es keinem Weibe raten, ihn zu reizen. In
seinem Zorne würde er schreckliche Taten verrichten. Er gesteht, daß er
eine Lieblingsphantasie habe: Ein Weib in der Luft auseinanderzureißen.
Die Ursache dieser sadistischen Einstellung? Seine infantile Eifer-
sucht gegen alle die Frauen, die ihm die Liebe des Vaters geraubt hatten.
Unter ihnen befand sich auch eine Krankenschwester, die ihn während eines
längeren Leidens gepflegt hatte.
Dieser Haß gegen die Frauen machte ihn impotent und trieb ihn in die
homosexuelle Richtung. Denn er fürchtete sich vor sich selbst, wenn er mit
Frauen allein blieb. Er konnte plötzlich aus dem Lupanar weglaufen, als
wäre er von tausend Dämonen gehetzt.
Es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß diese sadistische Einstellung ein
Rudiment seiner Jugendgefühle sei, daß er eigentlich mit Gespenstern kämpfe,
die er längst überwunden hätte. Er müsse nun bewußt gegen seine kriminellen
Instinkte kämpfen und sie im wiederholten Ringen unschädlich machen.
Allmählich begann er schon während der Analyse mit Dirnen zu ver-
kehren und wagte es auch, einen Coitus lege artis auszuführen. Er zwang
sich dazu, weil er nicht mehr mit dem Gesetze in Konflikt kommen wollte.
(Die gerichtliche Untersuchung wurde niedergeschlagen, weil es zu keinem
Akte gekommen war und diese Manipulationen in Österreich meist nicht be-
straft werden, wenn sie kein öffentliches Ärgernis erregen.) Später nahm er
sieh eine Geliebte, von der er sich auf Reisen begleiten ließ und die er ur-
plötzlich abfertigte. Er hatte eine Dame kennen gelernt, die ihn seelisch und
körperlich fesselte. Nach zwei Jahren erhielt ich seine Vermählungsanzeige.
In diesem Falle erzielte die Analyse einen vollen Erfolg!
Hier sehen wir eine vollkommene Fixation an den Vater, die erst
überwunden werden muß, um den Weg zum Weib, der durch allerlei
infantile Imperative versperrt war, frei zu machen. Weder die Mutter
noch die Erziehungspersonen spielen in der Psychogenese seiner Homo-
sexualität eine Rolle, dagegen eine starke sadistische Einstellung
gegen die Frauen, welche durch eine ihm unerklärliche Angst vor
den Frauen verhüllt wurde.
Wir sehen aber aus diesem Falle, wie einseitig die Sadgereche
Erklärung der Homosexualität ist, welche die ganze Psychogenese auf
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 359
das Verhältnis zur Mutter aufbaut und den Vater gar nicht berück-
sichtigt.
Auch ist zu denken, daß so viele Kinder zur Mutter flüchten,
weil sie sich vom Vater vernachlässigt fühlen, weil sie den Vater
hassen und zu ihm in kein rechtes Verhältnis kommen können. Gerade
diese übertriebene Liebe zur Mutter und der dick aufgetragene Vater-
haß verbirgt in sehr geschickter Weise die Fixierung an den Vater.
Ich habe wiederholt beweisen können, daß die Söhne von Frauen-
jägern infolge von Differenzierung zur Homosexualität neigen. Numa
Praetorius1), ein Forscher, der sich mit Haut und Haaren der Lehre
Hirschfelds von der angeborenen Homosexualität verschrieben hat,
übersieht beharrlich diese schon in der Jugend aufgetretene Differenzie-
rung. Sein „wollustfreudiger" Vater war ein Freund derber Zoten.
E r duldet keine Zoten und will keine anrüchigen Lieder hören. („Ich
will nicht, daß man Schweinereien und häßliche Dinge spricht.") Der
Vater sorgt früh für eine natürliche Aufklärung seines Sohnes, tollt
mit ihm nackt im Bett herum, nimmt ihn ins Bad mit, so daß sich der
Kleine über die großen Genitalien des Erzeugers verwundert ausspricht.
Der Vierjährige läuft einer Tänzerin nach und hebt ihre Röcke in die
Höhe. Man erzählt ihm von seiner zukünftigen Frau. Er zeigt, wie
er es im Bette machen wird . . . Alle heterosexuellen Episoden der
Kindheit faßt Numa Praetorius als Suggestionen des Milieus auf.
Ludwig schäckert mit der Amme und nennt sie seine „Dirne". Er
verliebt sich fünfjährig in die Amme seines Schwesterchens und küßt
sie voll Inbrunst auf Auge, Mund und Nase . . . Ein anderes Mädchen
faßt er an die Brust. Aber alle diese Episoden zählen dem unbeirrten
Forscher nicht.
Ist es ein Wunder, daß sich Ludwig XIII. vor den Frauen fürchtete
und seine eigene Gattin erst beschlafen konnte, nachdem man ihn durch
den Anblick eines koitierenden Paares gereizt und ihn sein Günstling
Herr Luynes in seinen Armen ins Schlafzimmer seiner Frau tragen
mußte? Praetorius gibt selbst zu, daß Ludwig XIII. später viel
häufiger, als es gesetzlich vorgeschrieben war (einmal in vierzehn
Tagen!), seiner Frau beiwohnte. Er nimmt es auch als Zwang hin, daß
der König seine Frau liebte und Kinder zeugen konnte. Auch andere,
sehr ernste seelische Liebesneigungen zu Damen des Hofes werden als
vorübergehende Täuschungen bezeichnet, während jede homosexuelle
Episode breit dargestellt und als Folge der natürlichen Veranlagung
!) Numa Praetorius: Das Liebesleben Ludwig XIII. von Frankreich. Abhand-
lungen aus dem Gebiete der Sexualforschung, Bd. IL H. 6. Verlag Marcus & Weber,
Bonn 1920.
360
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
geschildert wird. Besonders betont wird die Eifersucht des Königs,
die uns das Verständnis seiner Homosexualität erleichtert. Er war in
seinen Vater verliebt, dessen Spiele seine Begierde früh gereizt hatten.
Er war auf alle seine Maitressen eifersüchtig. Er wollte aber auch
kein Frauenjäger wie der Vater werden und fürchtete, den Frauen zu
erliegen. Aus Angst vor der Macht der Frauen flüchtete er zu den
Männern. (Übrigens ist keine homosexuelle Episode historisch belegt.)
Auf diese Weise kann man jeden Fall von Homosexualität als
angeborene Anlage beschreiben, da ja jedermann bisexuell ist. Man
denke sich aber in die Seele dieses Kindes hinein, das schon in
frühesten Jahren das rohe Treiben eines liederlichen Frauenjägers be-
obachten mußte und schon als kleines Kind seine unehelichen Halb-
geschwister nicht als Geschwister annehmen wollte. Wer das Liebes-
leben Ludwig XIII. unvoreingenommen betrachtet, muß zur Erkenntnis
kommen, daß der liederliche Vater die sexuelle Leitlinie seines Sohnes
in die Richtung zum gleichen Geschlechte umgebogen hat.
Ich werde jetzt drei solcher Beispiele aus meiner Erfahrung mit-
teilen und mich nur auf die wichtigsten Momente beschränken.
Fall Nr. 66. Herr S.L. ist seit drei Jahren nicht mehr Bankbeamter.
Lr erkrankte vor drei Jahren an verschiedenen nervösen Übeln, welche durch
einen Urlaub behoben werden sollten. Dieser Urlaub sollte sein Verhängnis
werden. Das Leiden wurde nicht besser, er aber wurde vollkommen arbeits-
unfähig und kam nicht mehr ins Amt zurück. Sein Vater stand immer auf dem
Standpunkt, daß das ganze Leiden eingebildet wäre, und wollte nichts von
einer Verlängerung des Urlaubes wissen. In der Folge aber wurde das Leiden
seines Sohnes immer schlimmer. Aus Trotz gegen die Einstellung des Vaters
simulierte er erst die Verschlechterung, welche sich dann in der Tat so fixierte,
daß er dann unglücklich darüber war und das Leiden gerne los werden wollte.
Es kam bei ihm zu schweren Attacken von Atemnot, so daß er nichts sprechen
konnte. Diese Atemnot ging in Paroxysmen vor sich. Als er nach einem Jahre
seine Stelle bei der Bank verlor, wurde er ganz mittellos und ersuchte seinen
reichen Vater, ihn zu erhalten. Der Vater verweigerte jede Unterstützung,
weil sein Sohn nicht arbeitsunfähig wäre und das ganze Leiden simuliere, um
ihm einen Schabernack zu spielen. S. L. klagte nun seinen Vater auf Susten-
tation und gewann, unterstützt durch die Zeugnisse einiger ärztlicher Autori-
täten, welche eine schwere Neurasthenie konstatiert hatten, den Prozeß, so daß
6ein Vater ihm einen monatlichen Beitrag zahlen mußte. Die Beziehungen
zwischen Vater und Sohn wurden ganz abgebrochen, so daß ein Advokat die
Auszahlung des Sustentationsbeitrages übernahm. S. L. hatte aber keinen
anderen Gedanken als die Rache an seinem Vater. Er war sehr erfinderisch
im Ersinnen neuer Prozesse und neuer Quälereien. Schließlich kam er zur Über-
zeugung, er wäre nicht der Sohn seines Vaters und drohte mit einer Klage,
von der ihn nur die Liebe zu seiner Mutter abhielt. Diese war empört über
die Zumutung des Sohnes, stand aber so unter seinem Einfluß, daß sie nicht
die Kraft hatte, mit ihm zu brechen. Sie kam heimlich mit ihm zusammen und
steckte ihm immer wieder Geld zu. Die Mutter liebte er über alles und ver-
Die Kollo des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. ' ;$(j[
langte von ihr, sie solle den Vater verlassen. Er forschte auch durch Detektivs,
ob er den Vater nicht einer Untreue gegen die Mutter überführen könnte.
Vom Vater sprach er nicht anders, als das „alte Schwein", „der alte Ver-
brecher", „der Haderlump". „Ich könnte ihn heute in Schmerzen verrecken
sehen, es wäre mein bester und schönster Tag". Ich habe noch nie einen so
glühenden Vaterhaß beobachten können.
Er war überzeugter Homosexueller und haßte auch alle Frauen mit Aus-
nahme seiner Mutter, für die er eine abgöttische Verehrung hatte. Ihren an-
geblichen Treubruch, den sie mit einer hochgestellten Persönlichkeit begangen
haben sollte (der bekannte Familienroman des Neurotikers!), fand er selbst-
verständlich, denn es sei ein Wunder, daß diese zartbesaitete Mutter es an der
Seite dieses schrecklichen Menschen ausgehalten hätte. Der Vater hätte die
Mutter nur durch brutale Gewalt zum Koitus gezwungen. Er sei das Produkt
einer solchen Vergewaltigung usw. ... Er liebte nur jüngere Männer, selbst
Knaben, gegen die er ziemlich brutal war. Hie und da kam es zu Akten mit
älteren Männern, gegen die er dann sehr gefügig und passiv war, sich ihnen
auch in jeder Weise gefällig zeigte. Er ließ sich päderastieren und scheute
auch vor der Fellatio nicht zurück.
Die Analyse ergab eine leidenschaftliche Liebe zum Vater, die sich in-
folge der vermeintlichen Abweisung in Haß vorwandelt hatte. Er war der
Ansicht, daß der Vater die anderen Brüder vorzöge, und flüchtete zur Mutter,
der er oft über die Strenge und Lieblosigkeit des Vaters klagte. In seinen
homosexuellen Akten spielte er aktiv den Vater, wurde dann strenge und
fast grausam, passiv spielte er einen Akt mit dem Vater, dem er dann sehr
gefügig war und so seine ganze unterdrückte Liebe ausströmen ließ, als
wollte er ihm zeigen: So könnte ich mit dir sein, wenn du mir gefällig
wärest. Grausame Phantasien, die. sich mit der Rache an dem Vater beschäf-
tigten, wurden unter großem Widerstände gestanden. Er war einige Male nahe
daran, seinen Vater zu erschießen. Er träumte sich in Lagen, in denen der
Vater von seiner Gnade und Großmut abhing. Z.B.: Der Vater hatte eine
große Defraudation begangen. Er aber sei dnreh eine geniale Erfindung ein
Millionär geworden. Nun läge der Vater flehend zu seinen Füßen und er ver-
sage ihm die Hilfe. Seine Lieblingslektüre sind Bücher, die sich mit Schilde-
rungen von Folterungen, mit Inquisition usw. befassen. Das bekannte Werk
von Octave Mirbeau „Le jardin des suplices" versetzte ihn in Ekstase.
Andere Wurzeln der Homosexualität übergehe ich hier, weil ich
mich jetzt nur auf das Vaterproblem beschränke . . .
Der nächste Fall zeigt ein ganz ähnliches Bild:
Fall Nr. 67. Herr G. Z. hat seit einigen Jahren ein Verhältnis mit einem
älteren Herrn, einem Künstler, in dessen Salon lauter junge Leute verkehren.
Er ist nicht wie die anderen Freunde Musiker, sondern Jurist, und lernte
Herrn X., seinen „väterlichen Freund", wie er ihn bezeichnet, zufällig kennen.
Vorher war er noch ganz abstinent. Erst mit 21 Jahren wurde er der Freund
des Herrn X. Die Freundschaft war ganz platonisch, bis sie eine gemeinsame
Reise machten. In Salzburg mußten sie in einem Zimmer schlafen, weil das
ganze Hotel sonst besetzt war. Es kam zu einem intimen Verkehr (Coitus inter
femora), wobei er die Frau spielte, wie auch immer später. G. Z. steht zu
seinem Vater in einem sehr gespannten Verhältnisse. Sie reden fast gar kein
362 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Wort. Er arbeitet in der Kanzlei seines Vaters, aber er verkehrt mit ihm nur
geschäftlich. Seine ganze freie Zeit widmet er der Mutter. Eines Tages über-
rascht er die Mutter mit der Mitteilung, er habe den Vater überwachen lassen
und konstatiert, daß er mit einigen Frauen Verhältnisse habe. Er verlangt von
der Mutter, daß sie sich von dem Vater scheiden lassen solle. Dem Vater macht
er eine kolossale Szene und stellt die Forderung, daß. der Vater die Kanzlei
verlassen, sich zurückziehen und ihm die Führung aller Geschäfte übergeben
solle, worauf der Vater ihm die Türe weist. Ein Brief der Mutter teilt ihm
mit, daß er gar nicht der Sohn des Vaters wäre, worauf er sich in seinem
Zimmer einschließt und erschießt.
Die Eifersucht auf den Vater hatte ihn in den Tod getrieben. In
den Szenen mit dem väterlichen Freunde spielte er den Sohn, der seinem
Vater die Frauen ersetzt.
Fall Nr. 68. Herr T. B., 32 Jahre alt, leidet ebenfalls an Arbeitsunfähig-
keit wie Nr. 66. Er hat allerlei begonnen, konnte es aber nicht zu etwas
rechtem bringen. Sein Vater ist ein einfacher Beamter und wäre sogar auf
seine Hilio angewiesen. Er aber sitzt zu Hause und klagt über Anfälle, die
epileptischer Natur 6ein sollen, aber nur während der Nacht auftreten und
eich als hysterische Angstanfälle erweisen. Sein Bruder ist fleißig und arbeit-
sam, der Liebling der Familie. Wenn man den Bruder lobt, wird er so wild,
daß er in Raserei gerät. Mit dem Bruder spricht er sehr wenig, nur die not-
wendigsten Worte. Vom Vater behauptet er, daß das Zusammenleben mit ihm
eine Qual bedeutet. Er sei ein fein organisierter Mensch. Aber die Art, wie
der Vater esse und rede, rege ihn auf. Er werde den Tag segnen, da er wieder
einmal arbeitsfähig sein werde und das Elternhaus werde verlassen können.
Die Mutter hält seine Partei, glaubt an seine Krankheit und seine Anfälle,
kommt des Nachts während der Anfälle an sein Bett, macht ihm Umschläge
und beruhigt ihn nach ihren Kräften. Nur die Mutter weiß, daß er homo-
sexuell ist, und stört ihn in dieser Hinsicht gar nicht. Sie ist aber sofort eifer-
süchtig, wenn er sich mit Mädchen unterhält, und kommt auch jede Nacht in
die Küche, um nachzusehen, ob keiner ihrer Söhne die Dienstmädchen aufge-
sucht habe. Sie begleitet den kranken Sohn auf seinen Wegen, ist seine Ver-
traute. Mit ihrem Manne lebt sie sehr schlecht, sie haben alle eheliehen Be-
ziehungen längst abgebrochen. So gibt es zwei Parteien in dem Hause, er und
die Mutter und der Vater mit dem anderen Sohne.
Überdies macht der kranke Sohn Schulden, so daß es täglich heftige
Szenen und Konflikte im Hause gibt. Der Vater läßt in der Zeitung eine
Annonce einrücken, daß er für seinen Sohn keine Schulden mehr zahlen werde.
Darauf verläßt die Mutter, die sich durch Klavierstunden ganz unabhängig
gemacht hat, mit ihrem Liebling das Haus. Sie mieten eine besondere Wohnung
und die Mutter erhoffte sich von der Trennung und von der ruhigen Pflege eine
vollkommene Genesung ihres kranken Kindes. In diesem Stadium wird T. B.
zu mir gebracht und in analytische Behandlung genommen. Schon nach zwei
Tagen werde ich zum Vater gerufen. T. B. sei dort unter einem Vorwande
hingekommen und habe unter den alten Büchern gesucht, dann einen schweren
Anfall bekommen, so daß er im Bette liege. Er sei 60 schwer krank, daß er
das Bett nicht verlassen könne. Es war die Liebe zum Vater, die ihn hinge-
trieben hatte. Er konnte ohne den Anblick seines Vaters nicht leben und er
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. ?,63
brachte es nicht über sich, den Bruder mit dem Vater allein zu lassen. Die
Mutter zieht zum Vater zurück. Ich stelle als Bedingung der Behandlung die
Isolierung des Kranken, mäßige Beschäftigung, worauf die Mutter scheinbar
eingeht. Am nächsten Tage schreibt mir der Kranke, daß er nicht imstande
sei, mit seinen Anfällen in einer fremden Wohnung zu leben, er bricht infolge-
dessen die Behandlung ab. Eine Erfahrung, die ich schon mit dem Epileptiker
Nr. 51 gemacht habe.
Die spezifische Phantasie in seinen Szenen, in denen er immer passiv
war, stellte ihn als Mutter dar, die sich dem Vater hingab. Folgender Traum
brachte einige Aufklärungen:
Ich liege im Bette in einer merkwürdigen Kleidung, mit einer
Haube am Kopfe und einem grünen Schlafrock. Ich blicke in einen Spiegel
und statt meines Bildes sehe ich die Mutter, über die sich der Vater beugt
und ihr einen Kuß gibt. Nun verschmilzt das Spiegelbild mit dem ur-
sprünglichen dadurch zu einem Bilde, daß sich die beiden Bilder nähern
und miteinander vereinigen. Ich fühle, wie ich mich in ein Weib ver-
wandle und alles Männliche von mir abfällt. Ich habe lange schwarze
Haare eine weiße Haut und eine hello Stimme. Meine Arme strecken
sich aus um einen Mann zu umarmen, da erwache ich mit Angst und
Herzklopfen.
Eine Analyse dieses Traumes ist wohl überflüssig. Der Kranke wollte
ihn nicht verstehen.
Aber auch die Fixierung an die Mutter ist häufig mit Haß mar-
kiert. Man glaube nicht, daß der Homosexuelle immer ein gutes Ver-
hältnis zu seiner Mutter hat. Es kommt auch vor, daß sich die Liebe
zur Mutter hinter einem bewußten Haß und einem unnatürlichen Ekel
verbirgt, wie der nächste Fall beweist:
Fall Nr. 69. H. U., 24jähriger Bildhauer, ist, seit er sich erinnern kann,
homosexuell. Seine Neigung sind immer Kellner und Schankburschen, immer
Leute, die in einem Gasthausgewerbe zu tun haben. Hat vier Schwestern und
noch einen älteren Bruder, der nach Amerika gehen mußte und verschollen
ist. Sein Vater ist Schriftsteller, ein genialer, aber verkommener Mann, der im
Journalismus endete. Er hängt mit allen Fasern seines Herzens an dem Vater,
den er gegen die Angriffe der Mutter verteidigen muß. welche müde ist, die
unaufhörlichen Liebesaffären ihres Mannes zu ertragen. Der Vater lebt fort-
während in irgend einer Ekstase, die nur einige Tage bis zu einer Woche
dauert. Er ist nicht wählerisch und verschmäht weder Dienstmädchen noch
Dirnen, hat täglich ein anderes Rendezvous und vergeudet auf diese Weise
einen großen Teil seines Einkommens. Im Hause gibt es immer Szenen, so
daß der Vater nicht gerne in der Familie bleibt und auch die Abende im
Wirtshaus verbringt. Das Verhältnis zwischen Sohn und Mutter ist ebenso
unleidlich wie zwischen den Eltern. Der Sohn läßt es seine Mutter immer
fühlen, daß sie ihm unausstehlich ist. Kommt sie ihm im Zimmer näher, so
weicht er ihr aus und ruft: Rühr mich nicht an, mir graust vor dir! Er läßt
sich von ihr nicht streicheln, hat kein gutes, freundliches Wort für die arme
gequälte Frau. Auch gegen seine Schwestern ist er immer sarkastisch, kühl,
abweisend und liebt es, sie mit ihren Verehrern aufzuziehen und zynische Be-
merkungen über sie zu machen. Die Sache drängt zur Katastrophe, er muß
364
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
das Haus verlassen und will keinen von der Familie sehen mit Ausnahme
des Vaters, den er täglich in der Redaktion aufsucht. Er haßt alle Frauen
fanatisch und schwört auf Strindberg und auf Weininger.
Hinter diesem Frauenhaß verbirgt sich eine große Liebe zu der Mutter,
den Schwestern und allen Frauen. Er gleicht darin vollkommen dem Vater,
dessen Schicksal er nicht teilen will. Er schützt sich gegen die Liebe zu der
Mutter, weil er dann verloren wäre und den Frauen erliegen würde. Die furcht-
baren Szenen, die er in der Kindheit mitgemacht hat, zeigten ihm einen Vater,
der sich durch die Frauen ruinierte, der sein hohes Ziel nicht erreichen konnte,
weil er alle seine Kräfte in unzähligen Liebesabenteuern verzettelte. Die Homo-
sexualität soll ihm ein Schutz gegen die Frauen sein. Die Kellnerliebe erklärt
sich aus dem Umstände, daß seine Mutter eine Kellnerin war, vom Vater ge-
heiratet wurde, weil sie von ihm schwanger wurde und er das Kind legiti-
mieren wollte. Er unterbricht die Analyse nach zwei Wochen, weil er fühlt,
daß seine Einstellung gegen die Frauen erschüttert wird. Er fühlt sich aber
in dieser Einstellung sicher. Unter den Kellnern bevorzugt er kleine Jungen,
welche das Gesicht seiner Schwester zeigen.
Diese Fixierung an die Schwester ist gar nicht so selten, wie der
nächste Fall illustriert, den ich noch in den Anfängen meiner ana-
lytischen Tätigkeit beobachten konnte.
Fall Nr. 70. Herr P. Gr., ein Realschulprofessor, sucht mich auf, weil er
seit einigen Wochen von einer Leidenschaft befallen wurde, die ihm alle
Lebensfreude zu zerstören droht. Er ist 26 Jahre alt und hat noch keinen Ge-
schlechtsverkehr gehabt. Ja, er hat noch nicht einmal eine rechte Liebe durch-
gemacht. Da traf er vor einigen Monaten ein Mädchen, das ihm sehr gefiel, mit
dem er sich verlobte. Sie sollen in einem halben Jahre heiraten. Es ist dies
eine Freundin einer seiner Schwestern, die er vorher nicht beachtete, aber
bei einem Ausfluge so kennen und schätzen lernte, daß er sich blitzschnell in
sie verliebte. Es war keine große, flammende Liebe, mehr ein gegenseitiges
Verstehen und ein starkes seelisches Band. Er war abstinent aus Überzeugung.
Er wollte keusch in die Ehe treten und war stolz darauf, daß er in dieser
Hinsicht anders war als seine Freunde und Kollegen. Da trat ein Ereignis in
seinem Leben auf, das ihn zu erschüttern drohte und ihn zum Selbstmord-
kandidaten machte. Ich erzähle es mit seinen Worten:
„In meiner Klasse befindet sich ein sehr schöner, gut gewachsener,
schlanker, intelligenter Junge, der mir durch seine guten Antworten und seine
feinen Manieren auffiel. Ich stellte gerne an ihn Fragen, wenn die anderen
Schüler versagten, weil ich sicher war, eine gute Antwort zu erhalten, und
hielt den anderen Jungen meinen Liebling öfter als Beispiel vor, nach dem
sie sich richten sollten. Eines Nachts aber träumte ich, daß der Junge in
meinem Bette liege und ich ihn umarmte und küßte. Ich wachte erschrocken
auf und wußte mich bald zu beruhigen. Unsinn! — sagte ich mir. Was träumt
man nicht alles zusammen! In der Schule aber merkte ich an diesem Tage eine
gewisse Befangenheit dem Jungen gegenüber, weil ich immer an den Traum
denken mußte. Ich vermied es, an ihn eine Frage zu stellen. Wie vorher
schon häufig wartete der Junge vor der Schule auf mich und fragte mich, ob
er mitgehen dürfe. Wir hatten den gleichen Weg und ich benützte gern diese
Spaziergänge, um mit ihm zu plaudern. Es zerstreute mich. Ich hörte allerlei,
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 3G5
wie die Schüler über die Lehrer denken, was mir sehr wichtig schien. Denn
ich habe eine sehr hohe Auffassung vom Beruf des Lehrers. Lehren heißt
Seelen bilden und so wollte auch ich alles Edle und Hohe in die Seele dieses
Kindes pflanzen.
Ich gestattete ihm gerne auch an diesem Tage die Begleitung. Ich war
auffallend zerstreut und wortkarg. Während ich ihn vorher hie und da unter
den Arm genommen hatte, vermied ich diesmal alle Vertraulichkeiten, weil
der Traum sich zwischen mich und den schönen Knaben gestellt und alle Ver-
traulichkeit und Unbefangenheit zerstört hatte. Ich kam nach Hause und ging
rasch zu meiner Braut. Sie fand mich zerstreut, wollte den Grund wissen, den
ich aber aus guten Gründen verschwieg. Ich wollte mit ihr zärtlich sein,
stachelte mich mit Küssen und Umarmungen auf. Aber o Schrecken! Mitten
in dem Kusse dachte ich an den Jungen und wie ich ihre Lippen so heiß fühlte,
schien es mir, es wären die Lippen meines Schülers. Ich ließ sie erschrocken
aus meinen Armen, schützte ein Unwohlsein vor und eilte nach Hause.
Ich war so erregt, daß ich lange nicht einschlafen konnte. Ich nahm mir
vor, die törichte Leidenschaft zu bekämpfen. Ich hatte wohl vorher flüchtig
von Knabenliebe gehört, wußte auch, daß sie in Griechenland gang und gebe
gewesen, allein nie war mir ein Gedanke an einen Mann oder einen Jungen
gekommen. Ich fühlte, daß ich nicht länger Lehrer bleiben durfte, wenn es
mir nicht gelang, der Leidenschaft Herr zu werden und die Wirkungen des
Traumbildes, zu dem wohl unbewußte Wünsche Anlaß gegeben hatten, aus-
zulöschen. Ich schwur mir, mit mir strenge zu sein, die Bevorzugung des
Knaben aufzugeben, seine Begleitungen nicht mehr herauszufordern. Denn ich
hatte ihn zuerst angesprochen und aufgefordert, mit mir gemeinsam nach
Hause zu gehen. Ich wollte stark sein und wieder meine ganze Liebe und
mein ganzes Sehnen meiner Braut zuwenden.
Am nächsten Schultage zwang ich mich, nicht in die Richtung zu sehen,
wo der Knabe saß. Aber ich mußte hinsehen und der eine flüchtige Blick
trieb mir das Blut in die Wangen. Er war schön wie ein griechischer Knabe;
so edel geformt seine Züge und so leuchtend sein Auge, daß ich mich am
liebsten stundenlang in dieses herrliche Antlitz vertieft hätte. Ich erwachte aus
meinen Phantasien, die der Klasse hoffentlich nicht auffielen. Ich wollte aber
den Eindruck verlöschen, den mein Hinstarren auf den Knaben bei den
Kindern hervorgerufen haben mochte und rief den Jungen auf. Ich war strenge,
unbarmherzig strenge mit ihm, suchte nach Fehlern. Und wer findet keine
Fehler, wenn er sie sucht? Dann tadelte ich den Knaben so strenge, daß er
zu weinen anfing und sich weinend in die Bank setzte und lange nicht be-
ruhigen konnte. Das erweckte erst recht meinen Zorn. Ich wollte die Stimme
des Innern übertönen, die mir zurief: Es ist ein Unrecht, daß du den guten
mngen Freund so marterst, er kann ja nichts für deine bösen Gedanken! . . .
Ich wurde noch strenger und schrie ihn an.
Auf der Gasse traute er eich nicht, mich zu begleiten, ich eilte rasch
davon und lief einige Stunden wie ein Verrückter durch die Straßen. Ich
machte mir Vorwürfe und weinte um den verlorenen Spaziergang, um das
schöne freundschaftliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Ich nahm
mir vor, am nächsten Tage gerechter zu sein und mich um den Knaben nicht
zu bekümmern. Aber eine wilde dämonische Kraft, die starker war als meine
guten Vorsätze, trieb mich dazu, dem Knaben wieder wehe zu tun und ihn
vor der Klasse herabzusetzen. Es war, als ob ich mich für das Leid hätte
gß(3 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
rächen wollen, das er mir angetan hatte. Ich wußte, daß ich mich selbst
damit strafte, daß ich mehr darunter litt als der Knabe, der sieh veränderte,
schlichtem wurde, sehr schlecht aussah und sichtbar unter der ungerechten Be-
handlung litt. Ich wurde mißgestimmt, mürrisch, gereizt. Ich kam vollkommen
aus dem seelischen Gleichgewichte. Ich begann, die Gesellschaft meiner Braut
zu meiden. Es schien mir wie eine Entweihung ihrer reinen Liebe zu sein,
daß ich nun in Liebe zu einem Knaben entbrannt war. Sie wurde auch kühler
und zurückhaltender, weil sie sich mein Wesen nicht erklären konnte.
Es wurde allmählich etwas besser in der Schule. Ich konnte mich be-
herrschen und etwas gerechter werden. Auch die Spaziergänge wurden wieder
aufgenommen, der Knabe begann mich wieder zu begleiten und wir gingen
manchmal sogar einige Stunden, trafen uns auch an Feiertagen. In seiner
Nähe war ich glücklich und alle Wünsche schwiegen. Ich freute mich seiner
Schönheit und seines regen Geistes und zählte schon die Minuten, bis wir un6
sehen sollten.
Da trat ein Ereignis ein, das mir die Augen öffnete. Meine Braut schrieb
mir einen Brief, in dem sie mir die Auflösung der Verlobung ankündigte.
Ich war nicht einmal so verzweifelt, als ich es mir vorgestellt hatte, wenn
ich vorher diese Eventualität überdacht hatte. Nun gut — dachte ich — jetzt
kannst du dich ganz deinem geliebten Knaben hingeben. Zugleich überfiel
mich am Tage eine sinnliche Erregung, wie sie nur einmal in meinem Traume
aufgetreten war. Nun wußte ich, daß ich den Knaben meiden mußte, wenn
ich nicht ein Verbrechen begehen wollte. Meine erste Aufgabe war nun: Die
Braut wieder zu versöhnen, die zweite, aus der Schule fortzukommen, um den
Knaben nicht mehr zu sehen. Meine Braut blieb fest und meinte, sie hätte
sich überzeugt, daß ich sie nicht liebe. Ich hätte vor ihr Heimlichkeiten. Schon
war ich auf dem besten Wege, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Ich stürzte
mich weinend zu ihren Füßen. Sie sagte ruhig: „Laß das! Was gebrochen
ist, kann man nicht mehr ganz machen. Es ist besser, wenn wir auseinander-
gehen. Mache mir nicht den Abschied schwer. Gehen wir als gute Freunde
auseinander und bewahre mir ein gutes Angedenken." Dann eilte sie aus dem
Zimmer und ließ mich allein.
t
Als ich am nächsten Tag in die Sehule kam, fehlte der Knabe, er war
krank. Ein Knabe meldete, er habe einen Scharlach. Meine Angst um ihn
war grenzenlos. Ich hatte keinen anderen Gedanken als den Knaben. Täglich
mußte mir ein Schüler über sein Befinden Bericht erstatten. Ich wanderte oft
vor seinem Hause auf und ab und manche Nacht blickte ich zu dem erleuchteten
Fenster hinauf, wo eine Schwester Krankenwache hielt. Schließlich hörte ich,
daß es besser ginge, er sei außer Gefahr und würde in einigen Wochen in
die Schule kommen. Ich mußte mich in der Schule zusammennehmen, um über-
haupt vortragen zu können. Meine Gedanken waren immer bei meinem ge-
liebten Schüler. Ich rechnete immer in Gedanken: Wie viele Tage mußt du
noch schmachten? In drei Wochen kommt er. So jubelte es in mir . . .
Es mußte anders werden. Ich konnte das Leben so nicht weiter er-
tragen. Ich vertraute mich meinem Vater an, der mich zu Ihnen schickte
und meinte, Sie würden in diesem schwierigen Falle schon Rat und Hilfe
wissen."
Ich wußte vorerst noch keinen Rat und keine Hilfe. Ich ließ den Liebes-
' kranken erst sein Leid frei ausströmen, was schon eine große Erleichterung
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 367
verschaffte. Dann aber verschaffte ich mir Einblick in sein Seelenleben vor der
Knabenliebe.
Es stellte sich heraus, daß er eigentlich nur einen Menschen geliebt
hatte und liebte: seine Schwester. Die Liebe zur Braut war eine Ersatzliebe
für seine Schwester. Auch seine Braut war homosexuell und liebte in ihm
den Bruder ihrer besten Freundin. Als sich diese Freundin während der Ver-
lobung zurückzog und eine andere Freundschaft bevorzugte (offenbar unter
dem Eindrucke unbewußter Eifersucht auf den Bruder!), erkaltete ihr Gefühl
für den Bräutigam und sie nahm den Anlaß gerne auf, um mit ihm zu brechen.
Das trat bald zutage und wirkte außerordentlich entlastend auf den Professor,
der 6ich die heftigsten Vorwürfe gemacht hatte.
Je mehr sich die Braut seiner Schwester ent-
fremdete, desto gleichgültiger wurde sie ihm. Der
Knabe aber hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit
seiner Schwester!
An diese Ähnlichkeit hatte er vorher nie gedacht! Sie hatte die gleichen
Augen, die gleiche Haarfarbe und fast die gleiche Stimme, die bei ihm eine
so große Rolle spielte. Um jene kritische Zeit interessierte sich die Schwester
für einen Arzt. Er fühlte, daß ihm ihre Liebe verloren ging und er suchte
einen Ersatz für sie und fand ihn in dem Knaben . . .
Nun konnte er sich mit der Schwester offen aussprechen. Sie hatte die
nötige psychologische Vorbildung, um ihn ganz zu verstehen und ihm die
Hand zur Besserung zu reichen.
Die ganze ungeheure Erregung flaute ab. Die Liebe zu dem Knaben
wich einem sanften Wohlwollen, das ihn nicht mehr störte. Die Spaziergänge
machte er nun mit seiner Schwester, die ihn öfters aus der Schule abholte.
Ich hörte noch Monate nachher, daß er ganz ruhig wäre und keinen Grund
zur Klage hätte. Es gelang ihm, die Liebe zu der Schwester in gemeinsame
geistige Interessen zu sublimieren, so weit es eben möglich war. Aber offene
Verhältnisse schaffen eine gesunde Atmosphäre, welche die Überwindung von
Inzestwünschen leichter ermöglichen als die Schleichwege und Umwege der
Verdrängung und Übertragung.
Ich habe diesen Fall so ausführlich geschildert, weil er typisch ist
und die Übertragung von der Schwester auf einen Knaben häufiger
vorkommt, als man nach der bisher publizierten Kasuistik der Homo-
sexualität a priori annehmen würde. Es ist auch zu berücksichtigen,
daß die Schwester ein verjüngtes Ebenbild der Mutter darstellt.1)
»
*) Ibsen, der große Psychologe, hat dio Umwandlung der Schwesternliebe in
eine Knabenliebe mit großer Meisterschaft geschildert. In „Klein Eyolf" verliert der
Schriftsteller Almers plötzlich die Liebe zu seiner Frau und will sich nur seinem
Kinde widmen. Dies Kind wurde „Klein Eyolf" genannt, wie seine Schwester, die
einstens Knabenklcider anlegte und sich auch als „Klein Eyolf" bezeichnete. Die Eltern
hatten einen Knaben erwartet. Almers wandelt die Schwesternliebe, welche durch das
ganze Stück zieht, in die Knabenliebe um. Er hat das Gesetz der „Umwandlung"
erfunden, das der von mir in diesen Kapiteln geschilderten Metamorphose entspricht.
Klein Eyolf ist eigentlich das Trauerspiel der latenten, auf die Schwesternliebe zurück-
gehenden Homosexualität. Almere kann sich nicht teilen, er kann nicht homo- und
3(j;S Zweiter Teil. Die Homosexualität.
An dieser Stelle möchte ich noch einen wichtigen Fall aus der
Erfahrung von F6r6 mitteilen:
Fall Nr. 71. M. X., 34 Jahre alt, ist ein intelligenter und gebildeter
Mensch. Schon als Kind liebte er die Einsamkeit und die Introspektion nahm
einen großen Platz in seinem Seelenleben ein. Man findet keine anderen Spuren
von neuropathischem Temperament als Bettnässen bis zum 6. oder 7. Jahre,
und nächtliche Angstzustände. Seit seinem siebenten Jahr wird er von
Zweifeln bezüglich Rechtschaffenheit und sexueller Moral gequält. Er suchte
in seinen Kleidern und seinem Stimmer, ob er nicht etwas linde, was ihm nicht
gehöre ; er fragte sich, ob er seine Schwester nicht
entjungfert habe, weil er; ihr vor einigen Jahren,
ohne es zu wollen, als sie beim Baden im Meer zu-
sammen spielten, den Bauch berührt hatte. Als er
9 Jahre alt war, wurde er von einer heftigen Liebe zu
einem kleinen Mädchen von 7 Jahren erfaßt; es war
das einzige Mal in seinem Leben, daß er für ein anders-
heterosexuell sein. Diese Unfähigkeit der Teilung, die Wurzel der echten Homosexualität,
geht durch das ganze Stück. Rita kann nicht teilen, Almers kann nicht teilen, er muß
sich ganz geben. Der Wegbaumeister will nicht ein halbes Weib, er kann auch nicht
teilen. Almers kann nicht zwischen Frau und Schwester teilen. Er umarmt die Frau
und denkt an die Schwester. (Die Schwester, die er 6einen kleinen und seinen großen
Eyolf nannte. Die Schwester in Hosen, die ihm sein Ideal verkörperte, ein Weib in
Männerkleidern, ein bisexuelles Wesen, bei dem man nicht teilen braucht.) „Die G e-
schwisterliebe ist das einzige Verhältnis, das dem Gesetz
der Wandlung nicht unterworfen is t." Rank (Das Inzestmotiv in
Dichtung und Sage. Franz Deuticke, 1912, S. 654) und Pfister (Anwendung der Psycho-
analyse in der Pädagogik und Seelsorge, S. 72) sehen wohl den Inzest, aber übersehen,
daß sich die Handlung um den Ausbruch einer Homosexualität und um die Psychogenes?
der Homosexualität dreht. Es handelt sich um eine Flucht vor der Schwester zu dem
Mann, eine Homosexualität, die stecken geblieben ist und sich auf den Knaben sub-
limierte. Das Drama ist noch voll von solchen Heimlichkeiten und fordert zu einer
genauen Analyse heraus. Denn Almers, seine Frau und sein Kind werden die Vertreter
der weiblichen, männlichen und infantilen Komponente in uns, die wir zu vereinigen
trachten (Dreieinigkeit!). Die Regression auf das Infantile setzt mit der Wcltflucht
ein. (Ausflug in die Einsamkeit des Hochgebirges.) Es ist der einsame Ibsen, der als
Wegbaumeister einen neuen einsamen Höhenweg anlegen will und der nicht merkt, daß
dieser Weg in sein Jugendland zurückgeht. Irgendwo im Meere seiner Seele schwimmt
das tote Kind und starrt mit offenen Augen in die Unendlichkeit. Ein Kind wird in
diesem Stücke getötet. Es ist der mißlungene Versuch einer Regression ins Infantile.
Die Kindheit ist endgültig ertrunken und die Erinnerung (Die Rattcnmamsel !) versenkt
. alle nagenden und beißenden Vorwürfe wieder in das Meer der Seele. Sie 6ind tot die
Erinnerungen . . . und das nächste Stück behandelt das Thema: Wenn die Toten er-
wachen. Sie sind aber schon in Klein Eyolf erwacht ... die Toten, die Ibsen in seiner
Brust trug, die Leiche, von der Rita so oft spricht. Das Kind in ihm ist tot, und der
Mann droht nun auch zu sterben. Es ist wie das Geständnis der Impotenz, die in der
großen Szene Rita-Almers mit unglaublicher Realität geschildert wird. Der Mann
/ in ihm stirbt und das Weib in ihm stellt die Forderungen. Näheres über diese endo-
psychischen Vorgänge in meinem- Buche über Masochismus.
Die Rolle des Vaters uud der Geschwister. - Der Kiuderhaß. 369
geschlechtliches Wesen eine Empfindung hatte, die
nicht mit Ekel verbunden war. Er behauptet übrigens, daß
zu dieser Zeit seine Gefühle keinerlei physischen Hintergrund hatten, und
daß er erst etwas später zu masturbieren begann, eine Gewohnheit, die er seit-
her nicht abgelegt hat.
Er war beiläufig 19 Jahre alt, als er anfing, sich zu jungen Burschen
hingezogen zu fühlen; er bekräftigt, daß er trotz seiner Wünsche immer nur
ohne physische Folgerung geliebt hat; er wird durch Skrupeln, die durchaus
nichts mit seiner Anschauung zu tun haben und die er als weichlich empfindet,
zurückgehalten. Seine Neigungen machen sich in seinem praktischen Leben
sehr unangenehm fühlbar: er wurde gezwungen, eine Erziehungsanstalt, in
der er einen sehr vorteilhaften Platz hatte, wo er aber seiner Neigungen halber
verspottet wurde, zu verlassen; er mußte auch den Verkehr mit einer Familie,
die ihm eine sehr wertvolle Stütze war, aufgeben, weil er einem jungen Mann,
dem zu Ehren er bereits die Werke eines griechischen Dichters übersetzt hatte,
ein Gedicht in lateinischer Sprache widmete. Plötzlich unterbricht er seinen
Bericht: „Sie werden mir zugeben, sagte er mir, daß ein schöner Jüngling,
was Körperformen anbelangt, jeder Frau weit überlegen ist. Shakespeare
liebte die Knaben; Marlow sagte, daß derjenige, welcher die Knaben und
den Tabak nicht liebe, ein Dummkopf sei." Er betrachtet seine Inversion
durchaus nicht als etwas Krankhaftes ; seiner Meinung nach ist es etwas ebenso
normales als das andere. Er ist übrigens imstande, normale, sexuelle Be-
ziehungen zu unterhalten und auf Anraten seines Arztes versuchte er sie
sogar als Arznei gegen die Gewohnheit des Masturbierens, aber sie ließen
ihm jedesmal ein Gefühl des tiefsten Ekels und Zweifel in Bezug auf An-
steckung zurück. Er masturbiert öfters mehrmals des Tages und hat wegen
der daraus resultierenden Folgeerscheinungen, wie Erschöpfung und intellek-
tueller Unfähigkeit, einen Arzt zu Rate gezogen; es ist nicht sicher, ob er
seine Angewohnheit vom ethischen Standpunkt aus' als verwerflich empfindet,
und gibt in dieser Beziehung nur zweideutige Antworten. Er unterliegt in
Bezug auf seine sexuellen Funktionen heftigen Zweifeln; wenn er morgens
oder den Abend vorher masturbiert hat, kommt ihm der Gedanke, er sei im-
potent, und er beginnt aufs neue; plötzlich fällt, ihm ein, der Orgasmus sei
nicht genug stark gewesen: neuerlicher Versuch.
Diese Exzesse werden von Depressionen und neurasthenischer Unent-
schlossenheit mit mehr oder minder starkem Zweifel abgelöst; er erörtert ver-
schiedene Möglichkeiten vor dem Aufstehen, vor dem Anziehen, vor den Mahl-
zeiten; und in diesen Zeiträumen entstehen die fixen Ideen und die krank-
haften Zweifel. Als M. mich das erste Mal zu Rate zog, litt er seit zwei Tagen
an ähnlichen Anfällen, er war davon überzeugt, daß ein citriges Wimmerl,
welches er am Kinn hatte, ein Zeichen von Syphilis sei, welche er sich von einer
Frau, mit der er vor vier Monaten den Beischlaf ausgeübt hatte, geholt habe.
Seit dieser Zweifel sich seiner bemächtigt hatte, hatte er alle Spezialbe-
handlungen, deren er habhaft werden konnte, gelesen. Jede Beschreibung, die
er las, bestärkte ihn in seiner Überzeugung. Er zeigte keinerlei Merkmal
einer Lues. Er hatte sich vor vier Monaten nicht syphilitisch infiziert und
die Verletzung, die er im Gesicht hatte, wies auch nicht auf Syphilis hin;
zwei Spezialisten, die er tags zuvor zu Rate gezogen hatte, hatten ihm dies
übrigens bestätigt. Aber er systematisierte seine Zweifel dahin, zu erfahren,
ob die Ansteckungszeichen nicht etwa später zum Vorschein kommen könnten
Stekel, Stömngon dos Trieb- und Affoktlobens. II. 2.AuB. 24
370
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
und 6eine kleine Wunde nicht dann syphilitischen Charakter annehmen könne.
Man hatte ihm bereits versichert, daß eine so lange Verzögerung von An-
6teckungserscheinungen von der Regel abweiche und ich wiederholte ihm diese
Versicherung. Er zweifelte deshalb nicht weniger; er wollte Genaueres über
die Dauer der Ansteckungsgefahr in einem wissenschaftlichen Buch lesen. Als
er es gelesen hatte, ging er befriedigt weg; aber bald kam er die Treppe
wieder herauf und wartete bis die Reihe an ihn käme; er wollte sich die
Nummer des Bandes und die Seite des Lexikons aufschreiben, um mit Muße
über die darin enthaltenen Beweisführungen nachzugrübeln. Trotzdem hielten
die Zweifel wegen der Infizierung noch drei Monate an.
Ich war sehr erstaunt, als ich bei einem seiner folgenden Besuche be-
merkte, daß er bei der Schilderung seiner fixen Ideen und Ängste vollständig an
die Syphilis vergaß. Es fiel ihm schwer, sie wieder ins Gedächtnis zurück-
zurufen. Er erzählte daraufhin, es sei nicht das erste Mal, daß er sich bei
solchen Vergeßlichkeiten ertappe, daß oftmals Gedanken, die ihn am meisten
von allen gequält hätten, für eine Zeitlang vollständig aus seinem Gedächtnis
entschwanden und wenn er sich an dieselben wieder erinnerte, es nur wie die
Erinnerung an einen Traum sei; und plötzlich erzählte er mir, daß er von
dem jungen Mann, den er monatelang geliebt hatte, ohne seine Gedanken
auf etwas anderes konzentrieren zu können und dem er das lateinische Ge-
dicht gewidmet hatte, sich nur ein ganz unbestimmtes Bild machen könne,
während das Bild dessen Vaters und der Leute, die in seinem Haus ver-
kehrten, äußerst klar vor seinen Augen stünde. Er besitzt Aufzeichnungen
über diese „Erscheinungen", welche, wären sie nicht in seiner eigenen Hand-
schrift, ihm wie ein Roman erscheinen würden. Einige dieser „Erscheinungen"
haben sich des öfteren zu mehr oder minder fernen Zeitpunkten wiederholt.
Es treten Perioden der Besserung seines Zustandes ein, wenn er unter
einem psychischen Einfluß steht, dem es gelingt, seinen Hang zur Ein-
samkeit und seine Nahrungsaufnahme zu regeln, aber die Umkehrung seiner
sexuellen Empfindung hat sich niemals geändert. (L'Instinct Sexuel, Paris
1899, Aneienne Librairie Germer Bailiiere et Cie., Felix Alcan Editeur,
S. 160—164.)
Dieser Fall zeigt uns eine deutliche Einstellung zur Schwester.
Denn die Angst, die Schwester defloriert zu haben, entspricht einem
Wunsche. Auch die Angst vor Syphilis entschleiert sich dem Kundigen
als eine Maske, d. i. als Angst vor dem Inzeste. Weil dieser Kranke
in jedem Mädchen eine Schwester sah, mußte er sich gegen alle Frauen
sichern. In den Traumzuständen scheint er ein Erlebnis mit der
Schwester wiederzuerleben.
Derartige Traumzustände kommen bei Homosexuellen außer-
ordentlich häufig vor. Sie versinken dann in die Jugend und erleben
verschiedene Szenen, die dem Bewußtsein nicht nahen dürfen.
Ich habe auch Fälle beobachtet, in denen Melodien als Reprä-
sentanten dieser Erinnerungen auftauchten. So wurde ein Homo-
sexueller monatelang zwangsmäßig von einer Melodie verfolgt. Die
Analyse, ergab, daß es sich um ein Lied handelte, das seine Mutter
oft gesungen hatte und das von der Falschheit der Frauen handelte.
.
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß.
371
Die Familiengeschichte des Homosexuellen kann uns die Rätsel
seiner Einstellung lösen helfen.
Allein mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder *) ist das Ideal
des Homosexuellen noch nicht erschöpft. Wir kommen somit zur Ein-
sicht, daß die Fixierung an die Familie überhaupt irgend eine Beziehung
zum Problem der Homosexualität hat, daß die Homosexualität häufig
eine Flucht vor dem Inzest darstellen kann. Wir haben allerdings auch.
Fälle kennen gelernt, wo sich diese Wurzeln nicht 'nachweisen lassen,
besonders in den bemerkenswerten Formen von tardiver Homosexuali-
tät. Aber warum sollen andere psychische Kräfte, welche sich in
Haß, Ekel, Angst und Scham ausdrücken, nicht ebenfalls zur Homo-
sexualität führen können?
Die Liebe zur Familie ist eine Form des Narzissmus. Jedes
Familienmitglied ist ein Spiegelbild von uns selbst. Ich kann in den
Eltern, in den Geschwistern viel leichter mich selbst lieben, als in einem
Fremden. Diese Wahrheit ist zuerst von Leo Berg in aller Schärfe
ausgesprochen worden. In seinem geistreichen Werke „Geschlechter"
(Kulturprobleme der Gegenwart, IL Serie, 2. Band, Hüpeden & Merzyn,
Verlag, Berlin 1906) sagt er: „Was setzt der Homosexuelle an die
Stelle der Fortpflanzung? Zunächst spielt bei ihm die Selbstsucht, die
Liebe zum Gleichen, eine viel größere Rolle als bei dem
Heterosexuellen, den die Fremdartigkeit reizt, weshalb auch der Fort-
pflanzungstrieb bei ihm gewöhnlich äußerst schwach ist, aber ausge-
schaltet ist er natürlich nicht. Ein junger Arzt, der sich mir selbst
als Homosexueller bekannte, erzählte mir von einem Genossen, der eine
wahnsinnige Sehnsucht nach einem Kinde hätte. Es war ein mächtiger
*) Wie früh diese Fixierung an den Bruder auftreten kann, die dann scheinbar
verschwindet und als angeborene Homosexualität imponiert, das zeigt uns folgende
Stelle aus einer Beobachtung von Hirschfcld: „Ich haßte Knaben und Knabenspiele;
meine Schwester war mein alter Ego, während mein 13 Jahre älterer
Bruder, ein sehr schöner Mann, mein kindliches, reine 6, un-
schuldiges Herz furchtbar verwirrte. Ich habe ihn weit mehr
seiner Schönheit, al6 seiner guten Eigenschaften wegen
angebetet. Dabei wurde ich äußerlich immer schroffer gegen ihn. Ich er-
innere mich genau, daß im 6. oder 7. Jahr vorübergehend
meines Bruders Schönheit mir wie ein ge offenbartes My-
sterium durch Mark und Bein zitterte. Mit 10 Jahren weinte ich
eine ganze Nacht, als ich mich in seiner mir schaurigsüßen Gegenwart zur Ruhe habe
begeben müssen. Ich empfand ein Schamgefühl, wie ich es in Mutters und Schwesters
Gegenwart nicht kannte. Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Geheimnis vor ihm,
habe ich ihn vom 10. bis 15. Jahre vergöttert, am höchsten stand diese Verehrung
vom 10. bis 12. Jahro, als er sich verheiratete. Ich war todunglücklich, daß er uns
dadurch ferner rückte, und empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich glaubte,
nun seine Jungfräulichkeit einbüßt e." (Hirschfeld, 1. c. S. 46.)
24*
/
372 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Muttertrieb in ihm, ein Zeichen seines weiblichen Geschlechtsemp-
findens bei männlichem Körper; er ist ganz Weib, ganz Hingebung,
und liebt wie ein Weib, nur mit dem Fluche, daß er dem Manne seiner
Liebe kein Kind gebären kann." Berg verweist schließlich darauf, daß
die Homosexuellen ihre F ortpflanz ungs- und Zeugungskraft' ins
Geistige übertragen.
Der von Berg erwähnte Fall beweist an und für sich nichts
anderes, als daß es sich um eine vollkommene Identifizierung mit der
Mutter handelt. Aber daß diese Liebe zum Gleichen Beziehungen zur
gewollten Sterilität hat, das habe ich längst gefunden. Der Homo-
sexuelle verzichtet auf die Unsterblichkeit, die durch die Fortpflanzung
bedingt ist. (Zahlreiche homosexuelle Künstler erringen sich die Un-
sterblichkeit auf geistigem Gebiete.) Diese Einstellung zeigt uns eine
Rebellion gegen das Natürliche und Gesetzmäßige. Der Homosexuelle
ist wirklich der Eigene und der Einzige. Er hat niemals seinesgleichen,
was ja seinen geheimen Stolz ausmacht. Das „aparte Gebaren", worauf
Freimark a) aufmerksam macht, der Stolz auf die Ausnahme bringen
ihn auch in Opposition zum Fortpflanzungstrieb. Er will nicht sein
wie die anderen. Und wenn Gott uns dazu bestimmt hat, Kinder zu
zeugen, so will er Goft trotzen und gegen alle Teleologie die sinnlose
Liebe, die Liebe an und für sich, die Liebe ohne Zweck, die Liebe
wider die Natur durchsetzen. Es ist anzunehmen, daß die Frauen
diesen der Mütterlichkeit feindlichen Instinkt viel deutlicher zeigen
werden.
Wer wollte nun bezweifeln, daß die Angst vor dem Kinde, vor
der Mütterlichkeit eine bedeutsame soziale Erscheinung ist? Sollte
diese Angst vor dem Kinde nur den Frauen eigen sein und nicht auch
den Männern? Sollte sie sich nicht als Flucht vor der Geschlechtsbe-
stimmung äußern können? Wir brauchen nur um uns zu sehen. Es
wimmelt von jungen Ehepaaren, die keine Kinder haben wollen, von
anderen, die sich mit einem oder zwei Kinder begnügen. In dieser Er-
scheinung steckt gewiß ein Stück Homosexualität, ein Abweichen von
den biblischen Grundsätzen der Fortpflanzung. Aber aueh ein Rück-
schlag eigener Erfahrungen. In dem Verhältnis zwischen Kindern und
Eltern bereitet sich eine neue Phase vor. Der uralte Konflikt zwischen
neuer und alter Generation, zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und
Töchtern, Kindern und Eltern verlangt nach neuen Normen. Nicht
ohne Grund ist unsere Zeit das Jahrhundert des Kindes genannt
worden, wurde das Schlagwort vom Recht des Kindes geprägt. Je
feindlicher ein Kind gegen seine Eltern (im Unbewußten) eingestellt
1) Züchtbarkeit der Homosexualität. Sexualproblerae. 6. Jahrg., 12. H., 1910.
Die Kolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderhaß. 373
ist, desto größer muß die Angst vor den eigenen Kindern sein, in
denen man sich Feinde und Rivalen erzieht.1) Es ist auch so, als ob
das eigene Spiegelbild uns anziehen und abstoßen würde, als ob man
sich vor dein Gleichen ebenso fürchten würde wie vor dem Fremden.
Ein uralter Kampf zwischen Neuem und Altem tobt immer in uns.
Gierig nach Neuem kleben wir an dem Alten. Im Besitze des Neuen v
sehnen wir uns nach dem Alten.
Nirgends setzt sich die Bipolarität stärker durch als im Sexuel-
len. Es heißt, daß Gegensätze sexuelle Anziehungskraft haben. Die
Erfahrung des Alltags bestätigt dies. Aber es gibt einen Punkt, wo
der Gegensatz in das Gleiche übergeht. Les extremes se touchent! In
jedem von uns lebt auch ein anderer, der den vollen Gegensatz zu
uns bildet. In der gegensätzlichen Frau lieben wir unseren Gegensatz
und im gleichen Manne versuchen wir vor diesem Gegensatze zu fliehen.
Mutterinstinkt und Haß vor der Mutterschaft gehen nicht ge-
trennt durch die menschliche Seele. In der homosexuellen Frau werden
wir immer diesen Haß vor der Mutterschaft finden und wo sich die
Liebe zum Kinde äußert, erweist sie sich als Selbstbetrug und Phrase.
Wir werden in dem Buche über die Dyspareunie der Frau, in dem einige
homosexuelle Frauen geschildert werden, diese Erfahrung bestätigen
können. Wir können wohl Zerrbilder der Kinderliebe finden, aber
selten die Liebe, wie sie dem normalen Weib eigen ist. Auch unser in
den Knaben verliebte Professor, den wir zuletzt geschildert haben,
liebte die Kinder als solche nicht und wollte keine Kinder haben. In
seiner Liebe zu dem Knaben rächte sich auch der unterdrückte Vater-
instinkt.
Die Lebensgeschichten homosexueller Frauen unterscheiden sich
nur in dem Punkte von denen der Männer, daß hie und da die Sehnsucht
nach dem Kinde auftaucht, als könnte von dem Kinde das neue Heil
und die Erlösung aus den Leiden kommen. Sonst zeigt die Urlinde
die gleiche Psychogenese wie der Urning. Eine starke Fixierung an
die Familie, nicht immer an den Vater, wie Hirschfeld behauptet.
Außerordentlich häufig eine Liebe zur Mutter, die sich gar nicht mas-
kiert, eine Liebe zu einer Schwester, welche durch das ganze Leben
geht und zu den sonderbarsten Maskierungen führt.
Ich will dies Kapitel noch mit einem Falle weiblicher Homosexua-
lität schließen, der uns die erwähnten Einstellungen mit außerordent-
licher Prägnanz vorführt:
x) Ganz wundervoll ist dieser Gedanke inGrieeldisvonGerhartHaupt-
mann ausgedrückt. Der Vater ist auf den Sohn eifersüchtig, weil er selbst einmal ein
Feind und Rivale des Vaters war . . .
374
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Fall Nr. 72. Fräulein Ilse — so wollen wir sie nennen — ist infolge
von verschiedenen Aufregungen an einer Depression erkrankt, während der
sie sehr abmagerte und trotz einer gelungenen Mastkur in einem Sanatorium
nicht genesen konnte. Sie ist ein auffallend schönes Mädchen, 24 Jahre alt,
üppig, durchwegs weiblieh bis auf eine scharfe, etwas energische Nase und
stark gezeichneten Augenbrauen. Ihre Mutter, die sie mit großer Redseligkeit
einführt, meint, es wäre der Tod ihres Mannes gewesen, der das Mädchen so
erschüttert hat. Ilse widerspricht einige Male gereizt und kommt mit der
Mutter wegen Kleinigkeiten in Kontroversen. Auf eine Ermahnung der Mutter
versinkt sie in ihre Depression und spricht kein Wort. Ich nehme sie in Be-
handlung und habe eine Woche lang ein schweres Kreuz mit ihr. Sie spricht
fast gar nichts, benimmt sich negativistisch und meint nur ab und zu- Geben
SS if6 Mühe' Es wird nie mehr Sut werden- Geben Sie mir" lieber
ein Mittel, damit ich rasch sterben kann." Sie wird nur lebhafter, wenn sie
vom toten Vater spricht, meint, er hätte nicht sterben müssen. Die Mutter
hatte noch einen Professor heranziehen sollen. Eigentlich sei es auch ihre
petaüO, weil sie nicht energisch genug auf der Berufung einer Kapazität be-
standen hatte.
Allmählich gewinnt sie Vertrauen zu mir und erscheint eines Tages wie
verwandelt. Sie müsse mir doch die Wahrheit eingestehen. Sie sei nicht
normal Sie sei schon seit der Kindheit homosexuell und habe nie für Männer
em Interesse gehabt. Dies hatte schon ihre Mutter behauptet, welche mir
sagte: „Ich verstehe das Mädchen nicht. Sie ist immer aus dem Zimmer ge-
laufen, wenn junge Leute bei Alfred (ihrem Bruder) waren. Das Mädchen
ist eine Männerfeindin!" Diese Tatsache, die während der ersten Konsultation
von dem Madchen bestritten wurde, wird jetzt von ihr bestätigt. Sie habe nie
Interesse für Männer gehabt. Dagegen habe sie sich schon mit 11 Jahren
leidenschaftlich in eine Lehrerin verliebt. Sie war ein tolles Mädchen, trug
oft die Kleider ihres Bruders und spielte mit allen Jungen. Mit vierzehn
Jahren verliebte sie sich wieder in eine Freundin.
Ihre jetzige Depression rührt von einer großen Enttäuschung her. Sie
hat mit einer Französin eine Liebschaft angeknüpft, in der sie unendlich
glücklich war. Über die Art ihres Verhältnisses äußert sie eich nicht, gibt
aber zu, daß sie sehr intim gewesen sei. Plötzlich merkte sie, daß die Französin
ihr untreu sei und mit einem anderen Mädchen mehr verkehre wie mit ihr.
Sie litt furchtbar unter den Qualen der Eifersucht. Nun fühle sie auch einen
Ekel vor allen Frauen, wie sie ihn vorher vor den Männern hatte. Auf die
Frage, warum sie sich vor den Männern ekle, antwortet sie: „Weil s.ie alle,
alle ohne Ausnahme abscheuliche brutale Tiere sind . . ."
Nun beginnt Ilse auch ihre Erlebnisse zu erzählen. Sie war sieben
Jahre alt, als sie beim Onkel zu Besuch war. Er zeigte ihr sein großes Glied
und forderte sie auf, es in die Hand zu nehmen. Das tat sie und noch manches
andere usque ad ejaculationem. „Wie sollte ich vor Männern Respekt haben,
wenn sie die unschuldige Seele eines Kindes so vergiften!" Der Onkel lebt noch
und ist der einzige Mann, dem sie zugetan ist. Sie dachte, es müse doch eine
Krankheit sein, und hat ihm verziehen. „Es war auch nur einige Male und der
Onkel glaubt, ich habe es längst vergessen . . ."
Viel schwerer fällt noch ein anderes Trauma ins Gewicht, das eigentlich
eine Reihe von Traumen war. Ihre Mutter ist eine leichtsinnige Frau gewesen
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. - Der Kinderhaß. 375
und ist es noch heute, obwohl sie schon 50 Jahre alt ist. Aber sie weiß sich
so raffiniert zu kleiden und herzurichten, daß sie noch immer Eroberungen
macht. Nun folgen eine Menge schwer Anklagen gegen die Mutter, die wohl
alle berechtigt sind, denn ich konnte mich von der Wahrheit ™*g***£
überzeugen. Die Mutter hatte immer einige Liebhaber, die für ihre großen
BedürfnLe aufkamen. Sie wurde als Kind zu den Rendezvous mi^nommen
und hatte wiederholt Gelegenheit, Zärtlichkeiten zu beobachten. Verschiedene
häßliche Szenen sind ihr noch aus den ersten Kinderiahren in Ennnwun*.
Sie war schon als Kind sehr sinnlich und onanierte mit der Schwester und dem
Bruder zusammen. Sie war frühreif und früh verdorben und jeder glaubte
sie werde die zweite Mutter werden. Da ging mit ihrer Schwester eine grobe
Umwandlung vor sich. Sie wurde fromm und wollte ins Kloster gehen bie
machte sich über die fromme Schwester lustig, bewunderte aber innerlich ihe
Keuschheit. Das war, als sie 14 Jahre alt war. Sie weiß jetzt, daß sie in
den Hausarzt verliebt war und auch für Männer Interesse hatte, allerdmgs
sich auch in die Lehrerinnen und Freundinnen verlieben konnte. Als sie
16 Jahre alt war, ließ sich die Schwester mit einem Leutnant ein und mulite
sich in einem Sanatorium kürettieren lassen, worauf sie Fieber bekam und
einige Wochen schwer krank war.
Das Vorgehen der Schwester erschütterte sie außerordentlich. Innerlich
war sie nämlich stolz gewesen, daß in ihrer Familie doch ein so reines,
keusches Wesen vorhanden war. Nun, da die Schwester dem Beispiele dei
Mutter folgte, schien es ihr, daß auch sie verloren sei und den gleichen Weg
wandeln müsse. Damals habe es in ihr eine Verdrängung gegeben und sie
habe auch einen furchtbaren Haß gegen alle kleinen Kinder bekommen. Sie
konnte kein kleines Kind sehen. Sie dachte, wenn ich Mutter wäre ich wurde
es ermorden. Dieser Gedanke war ihr so schrecklich, daß sie nicht schlafen
konnte. Es sei wohl mit der Zeit besser geworden, aber der Kmderhaß oder
noch vielmehr die Angst vor den Kindern, die Angst, sie könnte den Kindern
etwa6 antun, sei noch immer vorhanden.
Ich vermute, daß sich hinter diesem Haß die Lösung ihres Problems
verbirgt. Ich komme auf die Erlebnisse des sechzehnten Jahres zurück, weil
in diesem Alter die vollkommene Abkehr von den Männern erfolgte.
„Warum hassen Sie die Kinder?"
„Das weiß ich nicht ... Ich glaube, ich müßte ihnen den Hals um-
drehen. Ich werde wütend, wenn ich Kinder sehe."
„War dieser Haß immer vorhanden?"
„Nein ... ich war sogar früher eine Kindernärrin. Ich habe mir immer
Kinder'gewünscht. Wenn ich Ihnen sagte, daß ich immer Knabenspiele spielte,
so war das nicht die Wahrheit. Jetzt entsinne ich mich, daß ich auch bei
meiner Puppe Amme war und daß wir oft Kindergebären gespielt haben. Der
Bruder war der Doktor und ich lag als Wöchnerin im Bette."
„Haben Sie denn als Kind Gelegenheit gehabt, eine Geburt zu sehen?"
"ja alles . . . Unsere Tante hat bei uns entbunden, eine romantische
Geschichte Ein uneheliches Kind, ihre Eltern durften nichts von der Ent-
bindung wissen, sonst wäre sie verstoßen worden. Wir Kinder wußten aber
alles Sie hat dann den Mann geheiratet und ist sehr glücklich geworden
Das kleine Kind war damals eine Zeitlang bei uns. Ich hatte es sehr heb
und trug es herum . . -"
37Ü
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
„Hatten Sie noch einige solcher Tanten in der Familie?"
„Unter uns gesagt: Die Familie meiner Mutter hatte einen schlechten
Ruf. Es waren sechs Frauenzimmer und eine leichtsinniger als die andere.
Keine war eine Unschuld, als sie heiratete. Immer gab es allerlei Geschichten
und man hatte keine Ruhe. Deshalb hat mich die Sache mit der Schwester so
erschüttert. Ich dachte mir immer, es sei meine Bestimmung, auch eine . . .
Dirne zu werden. Sie entschuldigen, daß ich so hart von meiner Mutter
spreche. Aber es ist leider die Wahrheit ..." '
„Eine Dirne ist ja käuflich ... Es ist doch ein Unterschied, wenn
man aus Leidenschaft leichtsinnig ist oder aus Geldgier."
» (Nach einer größeren Pause.) Das ist es eben, was ich damals
erfuhr. Die Mutter war für Geld zu haben. Der Vater war ein kleiner Be-
amter, ein verdorbener Jurist, der bei einem Advokaten Schreiberdienste leisten
mußte. Er konnte den großen Haushalt nicht bestreiten, auch wenn er hie und
da ein Nebengeschäft machte, das ihm reichlich Geld einbrachte. Die Mutter
hatte immer einen Freund, der für uns sorgte. So konnten wir sorgfältig
erzogen werden, mein Bruder konnte studieren, wir machten alles mit."
„Wußten Sie das schon als Kind?"
„Ich wußte es sehr früh . . ."
„Sie glauben also, daß auch die Schwester sich bezahlen ließ und sich
verkaufte?"
„Nein. Die Sache verhält sich anders. Die Mutter hatte neben dem
zahlenden Liebhaber noch immer einen anderen für das Herz. Das war ganz
lustig. Die Herren brachten uns immer Bonbons und allerlei Geschenke. Als
wir älter wurden, war die Mutter etwas vorsichtiger. Immerhin gab es genug,
dessen man sich schämen mußte, wenn ich es so nachträglich überdenke. So
kam auch ein sehr schöner junger Leutnant in unser Haus, den sich die
Mutter — weiß Gott wo — eingefangen hatte. Dieser war der erklärte
Liebling der Mutter und durfte machen, was er wollte. Das Furchtbare war
aber, daß er sich auch mit der Schwester einließ und daß die Mutter nach
einigen Eifersuchtsszenen dies dulden mußte, ja vielleicht unterstützte. Denn
ich hörte einmal eine Szene, in der die Mutter dem „Schikki" — so hieß der
Leutnant — vorwarf, daß er sich die Schwester genommen hätte. Man hätte
ihr für deren Jungfrauschaft eine sehr hohe Summe geboten und das Mädchen
wäre versorgt gewesen. Dann gab es erbitterte Szenen zwischen der Mutter
und der Schwester."1)
... Ich breche hier das Gespräch ab. Es zeigt sich, daß auch sie, daß
das ganze Haus in den Leutnant verliebt war, selbst der Vater und der Bruder.
x) Verhältnisse von Männern mit Mutter und Tochter sind nicht so selten. Ich
habe in meiner Praxis schon einige dieser Fälle beobachtet. Gewöhnlich ist der Vor-
gang derart, daß der gegen die Reize der Mutter abgestumpfte Liebhaber sich der
Tochter zuwendet. (In- Bei Ami vvon Maupassant wird dieses Motiv behandelt.) Ich
habe aber jüngst eine hochstehende Dame behandelt, welche um die Beziehungen ihrer
Tochter zu ihrem Liebhaber wußte und sie billigte. Sie willigte sogar in die Heirat
dieser Tochter mit dem Liebhaber ein, um ihn nicht zu verlieren und ganz an 6ich
zu binden. Für manche Roues gehört die Anknüpfung solcher Verhältnisse zu den
auserlesensten Genüssen.
Die Rolle des Vaters und der Geschwister. — Der Kinderbaß. 377
Daß sie auch auf die Mutter eifersüchtig war. Diese Eifersucht öffnete ihr
die Augen. Dazu kam, daß sie von den Nachbarn häßliche Worte über die
Mutter hörte: Sie begann, die Mutter zu hassen, aber nur sehr kurze Zeit.
Dann verwandelte sich der Haß in den Kinderhaß. Sie haßte sich, das Kind,
das die Mutter verachtete. Sie wollte nicht mehr so sein wie
die Mutter und die Schwester. Sie wußte, daß sie die
gleichen Erlebnisse haben werde, daß es ihr Schicksal
war. Sie sträubte sich gegen die Weiblichkeit und
die mütterlichen Instinkte. Allein die Analyse zeigte, daß sie
nur einen geheimen Wunsch hatte, den sie nicht sehen wollte: sie wollte
Mutter sein und viele, recht viele Kinder gebären. Nur hinderte sie die
neurotische Reaktion gegen einen mächtigen Mutterinstinkt. Mutter 6ein
hieße, sich mit der verachteten Mutter identifizieren. Ihr besseres Gefühl
drängte sie zu einer Differenzierung von der Mutter.
Sie wollte kein Weib sein. Sie wollte nicht so leichtsinnig sein wie die
Mutter. In diesem Jahre ging auch mit ihrem älteren Bruder eine Umwandlung
vor. Er wurde ernst und begann zu dichten, sich für alle idealen Bestrebungen
zu interessieren. Sie schloß sich ihm an -und bald hatte sie sich vollkommen
von dem Hause und besonders von der Mutter differenziert. Sie suchte ernste
Freundinnen auf, verkehrte viel mit den Kollegen ihres Bruders, war aber
unnahbar, wenn sie auch über alles frei und offen sprach. Ihr starkes sinn-
liches Temperament trieb sie dann in die Arme der Französin, was sie ja
einem Verhältnisse mit einem Manne vorzog, weil die Kinderangst sie
furchtbar quälte. Nach dem Treubruch der Französin kam es zur De-
pression.
Auch in diesem Punkte gab es eine kleine Überraschung. Sie gestand
mir, daß die Französin auch die Geliebte des Bruders war. Sie hatte nie davon
gesprochen, aber sie wußte es schon, ehe sie sich mit der Französin einließ.
Trotzdem war es ihre glücklichste Zeit.
Die Depression entstammt also der zweiten Quelle. Der Bruder hatte
die Französin verlassen und sich eine neue Geliebte genommen, die er auch
seelisch liebte und die er heiraten wollte. Bei der Französin war es nur ein
Spiel mit der Sinnlichkeit und der Bruder gehörte ihr ganz. Sie waren immer
beisammen und sie wußte alle Geheimnisse. Sie war nie eifersüchtig, wenn sie
wußte, daß er ein Verhältnis mit einem Mädchen oder mit einer Frau hatte, die
er seelisch nicht liebte. Damals lernte der Bruder ein reiches, schönes Mädchen
kennen, in das er sich verliebte und die er bald heiraten wollte. Dieses
große Glück, das der Bruder machen sollte — es zerschlug sich an dem Wider-
spruch der Familie der Geliebten — war ihr gleichgültig. Sie wußte nur, daß
sie den Bruder verloren hatte, daß er nicht mehr ihr gehörte. Er konnte sein
Mädchen nicht heiraten, weil ihre Eltern verlangten, er solle sie zuerst exr
halten können. Aber sie warteten aufeinander und der Bruder habe es schon
ziemlich weit gebracht und werde sie trotz des schlechten Rufes der Mutter
dennoch heiraten. Er komme nicht mehr ins Haus und habe mit der Familie
ganz gebrochen. Nur sie sehe er hie und da und sei ihr der alte Freund ge-
blieben . . .
Diese interessante Analyse zeigt uns alle jene Moment«, welche
wir in der Psychogenese der männlichen Homosexualität beobachten
konnten. Das Mädchen war nämlich auf dem Wege, so männersüchtig
378 Zweiter Teil. Die Homosexualität, — Die Rolle des Vaters u. der Geschwister.
zu werden wie die Mutter, ja vielleicht sich sogar sexuell zu betätigen.
Das Erlebnis mit der Schwester öffnete ihr die Augen und1 wirkte wie
eine furchtbare Drohung. Die Sehnsucht nach Reinheit, die alle
Menschen beseelt und die das polare Gegenstück des Dranges nach
Befleckung ist, wurde in ihr übermächtig, die Angst, so zu werden wie
Schwester und Mutter, und der Haß gegen die Mutter, der sich als
Kinderhaß äußerte, wirkten zusammen, um einen anderen Menschen aus
ihr zu machen. Sie wäre wahrscheinlich auch den homosexuellen Liebes-
werbungen der Französin nicht erlegen, wenn nicht der Umstand, daß
sie die Geliebte des Bruders war, sie überwältigt hätte. Es war der
Inzest über eine Dritte ... Sie haßte die Mutter und mußte sich vor
Kindern fürchten, in denen man sich Feinde erzog. So wurden die
Kinder ihre Feinde. Der Vater spielte in ihrem Leben die geringste
Rolle und hatte auf die Entwicklung ihrer Homosexualität keinen
Einfluß.
Ihre weiteren Schicksale sind mir nicht gänzlich Gekannt. Die
Depression wurde bald besser und der Kinderhaß schwand vollkommen.
Sie verließ aber Wien und begab sich ins Ausland, offenbar, um ihre
ganze Jugend und ihre Familie zu vergessen. Dies war mein Rat und
der Umstand, daß sie ihn befolgte, läßt uns hoffen, daß sie nun nach
allem Wirrsal ihr Lebensschiff in einen friedlichen Hafen steuern wird.
Die Homosexualität.
x.
Homosexualität und Eifersucht.
In der Eifersucht liegt mehr Eigen-
liebe als Liebe. Rochefoucauld.
Der Mensch ist das, als was er sich fühlt. Goethe sagt : „Knecht
und Volk und "Überwinder — Sie gesteh'n zu jeder Zeit: — Höchstes
Glück der Erdenkinder — Ist doch die Persönlichkeit. — — "
Dieses Persönlichkeitsgefühl — man könnte es auch Ichgefühl
nennen — hängt von vier Faktoren ab. Diese vier Komponenten des
Ichgefühls sind:
1. Die Selbstliebe.
2. Die Selbstachtung.
3. Das Selbstvertrauen.
4. Das Selbstbewußtsein.
Kein Mensch kann dieses Persönlichkeitsgefühl aus eigenen
Quellen speisen. Nur der Paralogiker, der das Weltbild zu seinen
Gunsten fälscht, kann seinen geheimen Größenwahn vor sich und
scheinbar vor der Welt rechtfertigen. Der noch nicht dem Wahne Ver-
fallene benötigt die Liebe des anderen, seine Achtung, sein Vertrauen
und seine Anerkennung. Diese fremden Bestätigungen unseres eigenen
Urteils speisen die Lustgefühle der Persönlichkeit.
Auf alle Angriffe gegen das Ichgefühl reagiert das Individuum
mit Unlust. Diese Angriffe müssen nicht aktiv sein. Sie ergeben sich
aus dem' Differenzgefühl zwischen dem Ich und seiner Umgebung.
Das häufigste der Unlustgefühle ist der Neid.
Er entspringt der Wahrnehmung, daß ein anderer
einen größeren materiellen oder geistigen Be-
sitzstand zeigt. Die Eifersucht ist erotischer
Neid. Sie ist das Unlustgefühl, das durch die
380 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Wahrnehmung entsteht, daß ein anderer mehr
geliebt wird.
Die Eifersucht ist also ein egoistisches Ichgefühl, sie repräsen-
tiert das Gefühl der verletzten Persönlichkeit, das seine Ichliebe nicht
aufrecht erhalten kann, da es von einem bestimmten Objekt nicht an-
erkannt wird. Sie ist ein Ur-Gefühl im Gegensatz zu den
Kultur -Gefühlen, die aus ethischen und ästhetischen Quellen
gespeist werden. Die Ichliebe (der Narzissmus) verlangt nach dem
Spiegel der Umgebung. Jede Liebe ist im Grunde egoistisch. (Ich
liebe dich, weil du mich liebst!) Diese Liebe ist stets bereit, in Haß
umzuschlagen und vßich in die Formel zu verwandeln: Ich hasse dich,
weil du mich nicht liebst. Die Eifersucht ist das Symptom des ver-
letzten Persönlichkeitsgefühles.
Ein Beispiel aus meiner Erfahrung zeigt, wie sich die Eifersucht maß-
los steigern kann, wenn dieses Persönlichkeitsgefühl gänzlich niedergedrückt
wird. Eine zirka 40jährige Frau fand in den Taschen ihres Mannes eine
Ansichtskarte, aus der sie auf eine Untreue schließen konnte. Sie ver-
folgte ihren Mann mit Vorwürfen und quälte ihn derart, daß er keine Nacht
schlafen konnte. Sie wollte um jeden Preis den Namen der Nebenbuhlerin
wissen und schwor es ihm hoch und heilig, sie werde Ruhe geben, wenn er
ihr die ganze Wahrheit sagen werde. Die Nebenbuhlerin war eine schöne
Frau eines seiner Angestellten. Er wollte ihren Namen um keinen Preis
der Welt mitteilen. Er kam auf die — wie er glaubte — geniale Idee, ihr
eine andere zu nennen. Zu diesem Zwecke bestach er die Frau seines Portiers,
eine dürre, schielende, häßliche Frau. Er ließ nun seine Frau ins Büro
kommen und stellte ihr die angebliche Nebenbuhlerin vor. Die mit Geld
reichlich entlohnte Portiersfrau ließ alle Vorwürfe der erregten Frau ge-
duldig über sich ergehen. Nun verschlimmerte sich das Leiden. Die arme
Frau konnte es nicht begreifen, daß der Mann sie mit einer so häßlichen
alten Vettel betrogen hatte. („Wenn es wenigstens eine schöne Frau ge-
wesen wäre!" — jammerte sie.) Sie wurde melancholisch, die Eifersucht
steigerte sich zum Eifersuchtswahn. Immer schwebte ihr das Bild der häß-
lichen Frau vor. (Wie häßlich mußte sie selbst sein, wenn er ihr die andere
vorgezogen hatte!) Auf meinen Rat gestand ihr der Mann, daß er 'sie
betrogen und ihr ein anderes Weib gezeigt hatte. Das wollte sie nicht mehr
glauben und verstrickte sich immer tiefer in ihre Grübeleien. Leider entzog
sie sich der psychotherapeutischen Behandlung, so daß ich über die weiteren
Schicksale dieser Ehetragödie, die so viele Züge einer Ehekomödie zeigte,
nicht berichten kann.
Die Eifersucht ist immer eine Mischung aus Argwohn und
mangelndem Selbstvertrauen. Der hypertrophischen Ichliebe
des Eifersüchtigen entspricht ein ebenso starkes Minderwertigkeits-
gefühl. Deshalb neigen Häßliche, Krumme, Schielende, mit einem
Fehler Behaftete zur Eifersucht. Wer an sich glaubt, kann nicht eifer-
Homosexualität und Eifersucht. 381
süchtig sein. Wer sich vertraut, vertraut der Umgebung. (Wie der
Schelm ist, so denkt er.)
Die Eifersucht ist die Projektion der eigenen Unzulänglichkeiten
auf die Umgebung.1) Sie ist ein atavistisches Aufflackern eines brutalen
Ichgefühles, wie es nur dem auf seinen Besitzstand beharrenden Ur-
menschen eigen war. Alle Kinder sind eifersüchtig. Die Eifersucht
führt uns zu den Quellen des menschlichen Trieblebens zurück.
Es liegt nicht in meiner Absicht, das ganze Thema der Eifersucht
aufzurollen. Allein die pathologische Eifersucht zeigt bestimmte, fast
gesetzmäßige Beziehungen zur Homosexualität, denen wir nachgehen
müssen. Von der Homosexualität haben wir gelernt, daß sie sich vor
dem Bewußtsein verbergen kann. Das gleiche gilt auch für die Eifer-
sucht. Ich habe viele Neurotiker beobachtet, die schwer unter Eifersucht
gelitten haben, ohne daß es ihnen bewußt war. In dem Maskenspiel der
Neurose taucht die Eifersucht in den merkwürdigsten Verkleidungen auf.
Der nächste Fall zeigt uns diese Maskierung der Eifersucht, ihre
Verquickung mit der Homosexualität, und bietet in psychologischer
Hinsicht verschiedene Ausblicke.
Fall Nr. 73. Ein sehr intelligenter Patient, Herr H. J., schreibt mir;
„Haben Sie schon darüber nachgedacht, daß wir an manchen Tagen Ähnlich-
keiten entdecken und an anderen gar nicht? Sie wissen sicherlich, daß die
Neurotiker und die Normalmenschen gerne Ähnlichkeiten konstruieren, wenn
sie Identifizierungsprozesse vollziehen. Der Liebende findet, daß die Geliebte
den Gang der Mutter, ihre Sprache zeigt, und wenn die Physis keine Ver-
gleiche zuläßt, so findet er die gleiche Seele, die gleichen Eigenschaften, die
gleichen Fehler. Aber das Phänomen, von dem ich sprechen will, ist ein ganz
anderes. Ich sah an einem Vormittag einen Mann, der meinem Freunde, dem
Maler X, zum Verwechseln ähnlich sah. Ich gehe auf ihn zu und sage:
Servus X — noch immer in dieser Täuschung befangen. Ein fremdes Gesicht
mit der gleichen Bartform starrt mir entgegen. Mit der üblichen Ent-
schuldigung beende ich diese Szene und gehe weiter. Nach einer Weile sehe
ich wieder meinen Freund X, diesmal etwas nebelhafter, nicht mit der gleichen
Präzision wie vorher. Ich kann auch diese Illusion gleich korrigieren.
Nun wird mein psychologisches Interesse geweckt und es fällt mir ein,
daß meine Frau mir des Morgens gesagt hatte, sie mache heute Vormittag bei
Maler X einen Besuch. Ich nahm gleichgültig davon Notiz und bat, herzliche
Grüße zu bestellen. Im Unbewußten spann 'sich ein gewisses Mißtrauen, dem
Bewußtsein vollkommen fremd: Deine Frau geht zum Maler, der sie verehrt
und ihr den Hof macht. Maler sind leichtsinnige Menschen, die es nicht sehr
genau nehmen. Wer weiß, ob deine Frau genug Widerstandskraft auf-
bringen wird?
Diese geheimen Befürchtungen führten zu einer Symptomhandlung. Ich
sprach einen fremden Herrn als Maler X an. Also eine Wunscherfüllung.
*) Vgl. das Kapitel „Eifersucht" in meiner Essaysammlung „Was im Grund der
Seele ruht. . ." Wien 1920, IL Aufl., Paul Knepler.
382 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Denn wenn X auf der Straße ist, so kann er jetzt unmöglich in seinem
Atelier sein. Ich wünsche, daß er nicht zu Hause sein soll. Meine Frau soll
ins Atelier kommen und dort vernehmen: Herr X ist nicht zu Hause . .
Dieser Wunsch setzte sich dreimal durch. Denn dreimal sah ich den Herrn X
auf der Straße. Andrerseits projiziere ich den Herrn X auf fremde Gesichter.
Weil ich immer an Herrn X denke, weil mein Ich von ihm ganz erfüllt ist,
weil mich innerlich der uneingestandene Gedanke beherrscht: Was macht
jetzt X mit deiner Frau? — sehe ich überall den Herrn X. Die Ringstraße
ist überfüllt mit lauter Ähnlichkeiten, jeder Mann ist ein Herr X.
Hier verrät die Illusion eine weitere Verdächtigung. Ein anderer
Gedanke leiht dem ersten eine besondere Wertigkeit. Gestern hörte ich in
einer Gesellschaft die Ansicht aussprechen, „alle Frauen wären zu
haben und es gebe eigentlich keine anständige Frau".
Ich opponierte lebhaft gegen diese Pauschalverdächtigung und versuchte, das
Lächerliche und Ungerechte dieser Ansicht klarzulegen. Und heute ertappe
ich mich auf dem Gedanken : Diese Ähnlichkeit mit dem Herrn X, dem großen
Unbekannten, sind alle schönen und kräftigen Männer wie X? Du
denkst eben daran : Wer weiß, ob nicht dieser Herr oder der andere der Geliebte
deiner Frau ist? Warum fällt mir der Vers aus dem Faust ein: Es hat
sie- schon die ganze Stadt? . . Ich muß nun zur Ehrenrettung meiner Frau
berichten, daß sie wirklich eine musterhafte Gattin ist und daß mir jeder
Verdacht ferne liegt. Aber ich suche offenbar Motive, um mich zu exkulpieren.
Ich soll an die Schuld aller Frauen und damit auch an die Schuld meiner Frau
glauben, damit ich freie Hand für neue Liebeshändel bekomme . . . Ich beneide
eben den Herrn X um seine Libertinage und möchte gerne wie er im Atelier
verschiedene Damen empfangen. Ich möchte X sein. Ich bin in der Phantasie
X und ich sehe mich als X in jedem Fremden.
Eine Dame meiner Bekanntschaft sah immer ihren verstorbenen Mann
auf der Straße in Form einer auffallenden Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit
meldete sich, wenn ihr „leichtlebige" Gedanken kamen. Als wollte sie die Er-
scheinung des Mannes mahnen und warnen! „Drei Jahre sind es erst, seit ich
gestorben bin, und du fängst mit leichtsinnigen Sachen an? Hüte dich! Ich
bewache dich im Himmel und sehe alle deine Streiche."
Wir geben neidlos zu, daß unser Patient ein feinsinniger Psychologe
ist, der sich ausgezeichnet beobachtet, und doch scheint mir in diesem ana-
lytischen Meisterstück ein Rechenfehler unterlaufen zu sein. Ich schreibe daher
dem Herrn H. J., ich möchte ihn gerne über diesen interessanten Fall sprechen
und lade ihn ein, mich zu besuchen. Er leistet der Einladung Folge. Aus
unserem Gespräche hebe ich nur das Wichtigste hervor:
„Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß es lauter schöne und kräftige Männer
sind, welche Ihnen als Ähnlichkeiten imponierten?"
„Nein. Weil mein Freund, der Maler X, auch ein schöner und kräftiger
Mann ist. Andere können ihm nicht ähnlich sehen . . ."
„Sind Sie auch sonst eifersüchtig?"
„Nein. Keine Spur. Nur gerade auf X und auch das wußte ich nicht
oder ich war zu- stolz, um es mir zu gestehen."
„Wie stehen Sie zu X? Lieben Sie ihn auch wie . . ."
„Sie meinen wie meine Frau. Freilich. Ich liebe ihn. Er ist ein rei-
zender Mensch."
Homosexualität und Eifersucht. 383
„Ist es nicht merkwürdig, daß Sie gerade auf den einzigen Mann eifer-
süchtig sind, den Sie auch lieben?"
Er denkt eine Weile nach und findet keine Lösung. Ich erkläre ihm,
daß es sich um eine verdrängte homosexuelle Einstellung zu seinem Freunde
handelt. — Sein innerer Gedankengang lautet: „Wenn ich eine Frau wäre,
ich könnte ihm nicht Widerstand leisten." Und vielleicht geht der Gedanken-
gang noch weiter und formuliert: „Schade, daß ich keine Frau bin, dann
könnte ich den schönen Mann besitzen . . ."
Er versteht sofort den Zusammenhang zwischen der Eifersucht und
seiner inneren uneingestandenen homosexuellen Einstellung. Er erzählt, daß
er nur diesen Freund mit einem Kuß begrüßt, wenn sie sich längere Zeit
nicht gesehen haben, daß er ihn gerne unter den Arm nimmt und seine Hand
hält. Kurz, er ist selbst in den Freund verliebt. Er sieht überall den Freund
und die Ähnlichkeiten leben in seiner Seele. Sie sind alle Ausstrahlungen des
einen Gedankens: Er gefällt mir und ich möchte eine Frau sein, die sich ihm
hingibt !
Es wäre sehr verlockend, den Wegen der unbewußten Eifersucht
nachzugehen. Wir kämen aber zu weit von unserem Thema ab. Da es
sich um einen sehr komplizierten Zustand handelt, der die verschieden-
sten Wurzeln haben kann, will ich einige markante Beispiele aus
meiner Praxis mitteilen und an Hand dieser Beispiele die verschiedenen
Formen abhandeln.
Fall Nr. 74. Der stärkste Fall von Eifersucht, den ich zu begutachten
hatte, war der einer Arztensgattin. Die nun schon 45jährige Dame teilt mir
folgendes mit: „Vielleicht können sie mich von einem quälenden Zustand
befreien, der mir das ganze Leben verbittert, und meine Ehe zu einer wahren
Hölle macht. Ich bin nun schon 22 Jahre verheiratet und kann sagen, daß ich
noch keinen glücklichen Tag gehabt habe, außer wenn mein Mann mit mir
ganz allein war und wir gar keine Gelegenheit hatten, ein anderes weibliches
Wesen zu sehen. Er ist Arzt und schon in der Brautzeit wurde ich auf alle
seine Patientinnen eifersüchtig. Ich kannte diesen abscheulichen Zustand
vorher nicht. Er war auch nicht so stark, sonst hätte ich meinen Mann
nicht geheiratet. Erst bezog er sich nur auf meine Freundinnen und auf Be-
kannte, besonders auf sehr schöne Frauen. Nach der Hochzeit wurde mein
Zustand immer schlimmer und schlimmer. Ich wartete bei den Ordinationen
hinter der Türe und zitterte, hatte Schüttelfröste vor Erregung. Mein Mann
war doch Frauenarzt und dazu noch ein sehr berühmter Frauenarzt. Ich
beschwor ihn, diesen Beruf aufzugeben und 6ich irgend eine andere Spezialität
zu erwählen. Ich gestehe aber, daß mich früher der Umstand, daß er Frauen-
arzt war, sehr gereizt hatte und bei der Wahl des Mannes ausschlaggebend
war. Ich dachte mir: Der Mann sieht so viele schöne Frauen, sieht sie nackt
und hat dich gewählt! Das schmeichelte mir außerordentlich. Das war aber
nur ganz am Anfang, dann drängten sich die Eifersuchtsgedanken vor.
Ich hatte eine sehr schöne Freundin, die bei meinem Manne in Be-
handlung 6tand. Was ich bei ihren Besuchen auggestanden habe, ich kann es
nicht beschreiben. Ich stellte mir vor: Jetzt legt sie die Bluse ab und jetzt
den Unterrock. Jetzt sieht er ihren Busen, jetzt 6teigt 6ie auf seinen Unter-
suchungsstuhl, jetzt gibt sie die Beine auseinander . . . Ich litt Höllenqualen.
384 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Es stand bei mir fest, daß mein Mann dieser Frau nicht widerstehen könnte
und sie küssen müsse. Ich machte ihm eine heftige Szene; ich stritt mit der
Freundin, die sich empört von mir wandte. Das wurde in der Ehe noch
schlimmer. Ich quälte meinen Mann so, daß er schließlich gestatten mußte,
daß ich durch eine unsichtbare Öffnung die ganze Ordination kontrollieren
konnte. Ich überzeugte mich nun, daß mein Mann mir physisch treu war.
Allein wenn er mir tausend Eide schwor, daß ihn die Frauen nicht reizten,
ich glaubte es nicht. Ich hatte hur einen Refrain, den ich täglich wiederholte:
Gib deinen Beruf auf! So vergingen die Jahre mit Streit und Hader. Nun
habe ich schon eine verheiratete Tochter, und ich dachte mir, der Zustand
werde sich mit zunehmendem Alter bessern. Keine Rede! Es wird ärger
und ich übertrage diese Eifersucht schon auf meinen Schwiegersohn, ich bin
für meine Tochter eifersüchtig . Glücklicherweise hat sie keine Anlagen zur
Eifersucht und lacht mich aus . . .
Auf meine Tochter bin ich auch eifersüchtig. Ich wollte ihre Liebe ganz
allein für mich haben und gönnte sie nicht ihrem Manne. Obgleich sie eine
glänzende Partie machte, war ich nicht zufrieden und behandelte meinen
. Schwiegersohn sehr ungerecht. Das kränkte mich selber, aber ich konnte
nichts dafür. Ich habe schon die berühmtesten Ärzte konsultiert, war sechs
Wochen bei Professor X. in hypnotischer Behandlung, habe mich für drei
Monate von meinem Manne getrennt, es hat alles nichts genützt."
So die Krankengeschichte. Was hat diese Eifersucht zu bedeuten?
Die Wurzel dieser Eifersucht ist eine niehtbewußte Homosexualität.
Sie ist auf die Freundin eifersüchtig, weil die Freundin ihr selbst so gut gefällt.
Sie fühlt sich in die Rolle des Mannes, des Arztes ein und muß es sich ge-
stehen, daß sie dann nicht widerstehen könnte. Sie fühlt sich als Mann in
die Szene ein, sie untersucht alle diese Frauen mit gierigen Augen. Das Guck-
loch im Ordinationszimmer ist einerseits dazu da, um ihre Eifersucht zu be-
ruhigen und dem Manne einige ruhige Stunden zu verschaffen, andrerseits,
damit sie alles mitleben, damit sie ihrer Lust als Voyeuse fröhnen kann.
Diese Kontrolle ist ihr tägliches homosexuelles Reizmittel, an dem sie sich
entzündet, um dann bei ihrem Manne verbrennen zu können.
Nach der Aufklärung trat eine bedeutende Besserung auf. Die Dame er-
kannte auch, daß sie ihre Tochter homosexuell liebte und deshalb auf den
Schwiegersohn so eifersüchtig war.
Es ist dies gar keine bo seltene Erscheinung und manche Ehe ist
deshalb zugrunde gegangen. Die böse Schwiegermutter ist immer die
Mutter, die ohne ihre Tochter nicht leben kann und die der Tochter
immer aufs neue beweisen will, wie falsch der Mann ist, wie wenig er
sie schätzt und wie sehr sie selbst die Tochter liebt . . . Ich habe auch
häufig beobachtet, daß die Tochter nach einem schüchternen Versuch
in der Ehe reuig zur Mutter zurückgekehrt ist. Ich sah Mütter, welche
mit der Leidenschaft eines Liebhabers um ihre Töchter kämpften lind
jedem Bewerber durch maßlose Eifersucht die Bewerbung erschwerten.
Ich habe solche Eifersucht als häufige Wurzel der Melancholie kon-
statieren können. Ich verweise hier auf den Fall Nr. 132, den ich in
„Nervöse Angstzustände" publiziert habe (2. Aufl., S. 363).
Homosexualität und Eifersucht. 385
Fall Nr. 75. Die gleiche Wurzel zeigt der nächste Fall von Eifersucht.
Eine dreißigjährige, jung verheiratete Dame konsultiert mich wegen einer un-
motivierten Eifersucht, die sie seit vier "Wochen peinigt. Sie erzählt die Ge-
schichte ihrer Eifersucht: Sie nahm ein neues Stubenmädchen auf, das sehr
jung war, ein wenig kokett, aber ihr auf den ersten Blick sehr sympathisch
schien. Schon nach einer Woche wurde sie eifersüchtig und fand, daß ihr Mann,
der die Dienstmädchen sonst gar nicht regardierte, mit dem Mädchen viel zu
freundlich und liebenswürdig wäre. Sie bildete sich ein, er blicke sie sogar
fast herausfordernd an. Sie schwieg erst lange, weil sie sich genierte, das
ihrem Manne zu sagen. Dann aber habe sie ihm Vorstellungen gemacht: er
müsse der Strenge sein. Sie habe ihn aufgefordert, einen energischen Ton im
Verkehre mit dem Mädchen anzuschlagen. Ihr Mann habe sie ausgelacht. Er
sei wie immer mit den Mädchen und nicht anders. Alles wäre Einbildung.
Das Mädchen sei sehr brav, er habe gar keinen Anlaß, es anzuschreien oder
einen energischen Ton anzuschlagen. Diese Auskunft habe sie nur eine Weile
beruhigt. Sie beobachtete ihren Mann noch peinlicher und glaubte, daß ihm das
Mädchen sehr gut gefalle. Sie wachte auch des Nachts auf und ging mehrere
Male in das Dienstbotenzimmer, um das Mädchen zu kontrollieren. Einmal
habe sich ihr Mann den Magen verdorben und mußte öfters in der Nacht
hinauslaufen. Sie war der Überzeugung, daß das nur ein Vorwand wäre, um
zum Dienstmädchen zu gehen und lief ein paar Male auf den kalten Gang ins
Vorzimmer, so daß ihr Mann fragte : Was hast du denn heute? Sie erwiderte,
sie wäre besorgt, ob ihm nicht schlecht wäre. Schließlich brach die Eifer-
sucht offen durch und sie machte ihrem Manne die heftigsten Vorwürfe. Sie
wisse es ganz bestimmt, er habe mit dem Mädchen ein Verhältnis.. Ihr Mann
war empört und forderte sie auf, das Mädchen sofort zu entlassen, dann werde
er und sie endlich Ruhe von der „verrückten Sache" haben. Da geschah das
Merkwürdige, daß sie das Mädchen nicht entlassen konnte und wollte. Das
Mädchen wäre so brav und ordentlich, man finde heute so selten ein braves
Mädchen, sie beschwor ihren Mann, er möge doch viel strenger mit dem
Mädchen sein. Er mußte ihr wieder schwören, daß er mit dem Mädchen nichts
habe. Auf das Mädchen hatte sie eine sonderbare Wut,
die sie sich nicht erklären konnte. Sie hätte sich
auf das Mädchen stürzen und sie schlagen können, was
ihr unbegreiflich sei, denn sie habe nie ein Dienst-
mädchen geschlagen. Es wäre ihr aber eine wahre
Wollust, diesem Mädchen, das ihr schon so viel Leid
verursacht habe, einige Schläge zu geben. Sie müsse
sich mit Gewalt zurückhalten, um nicht dem Zorne
nachzugeben. Sie sei dem Mädchen gegenüber be-
sonders empfindlich und vertrage nicht den geringsten
Widerspruch.
Trotzdem sei sie nicht imstande, dem Mädchen zu kündigen und habe
auch eine Angst, mit dem Mädchen allein zu bleiben.
Alle diese Störungen entsprangen der homosexuellen Einstellung zu
diesem Mädchen, das in der Tat eine auffallende, blonde Schönheit war. Sic
selbst liebte das Mädchen, deshalb konnte sie nicht begreifen, daß ihr Mann das
Mädchen nicht begehren mußte. Ihr Kalkül war: Wenn ich ein Mann wäre,
ich würde sofort mit dem Mädchen ein Verhältnis anfangen. Interessant und
geradezu typisch ist die Einstellung mit Wut und das Bedürfnis; zu schlagen.
Stekol, Störungen des Trieb- und Affoktlebens. II. 2.AuB. 25
386
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Die Liebe wird in das Gegenteil konvertiert und das Verlangen, das Mädchen
zu berühren (mit ihrem Körper in Kontakt zu- kommen!), setzt sich als Trieb
durch, das Mädchen zu schlagen. "Wie viel Berührungen aus Zorn, Schläge,
Püffe, Stöße usw. entspringen der Liebe, die sich als Haß äußert!
Ich machte der Frau begreiflich, daß sie dem Mädchen kündigen müsse,
und sie verstand bald, welchen Kräften die Eifersucht entstammte. Nach der
Entlassung des Mädchens schwanden alle die beschriebenen Symptome.
Eine andere Art von Eifersucht ist die Verschiebung von einem
Objekte auf ein anderes oder auf die ganze Umgebung. Die Eifersucht
dient dazu, um das eigentliche Objekt der Eifersucht vor sich und der
Welt zu verbergen.
Fall Nr. 76. Frau H. G. ist eine 38jährige Frau, die mit ihrem Manne in
glücklicher Ehe gelebt hat. Nun ist sie unglücklich durch Eifersucht. Lassen
wir ihr das Wort: „Ich suche Sie auf, damit Sie mich von einem Zustand
befreien, der einfach unerträglich ist. Ich habe einen braven, guten Mann, über
den ich mich gar nicht beklagen kann. Er ist in jeder Hinsicht ein feiner und
tadelloser Mensch. Um so mehr betrübt es mich, daß ich jetzt so eifersüchtig
geworden bin. Das kam erst, als mein Mann eine schwere Krankheit überstehen
mußte, einen Typhus, nach dem ihm ein Herzleiden zurückgeblieben ist. Seit
dieser Krankheit muß er sich sehr schonen und während er vorher mit mir
zwei- oder dreimal die Woche verkehrte, kommt das jetzt einmal im Monate
vor. Ich verstehe das, daß der Mann krank ist; der Arzt hat mich sogar
darauf aufmerksam gemacht, daß er sich so wenig als möglich aufregen dürfe.
Aber trotzdem werde ich den Gedanken nicht los, daß er mir untreu ist. Ich
schäme mich so darüber, daß ich meinem Manne noch nie ein Wort von dieser
Eifersucht gesagt habe. Er ist ja auch mit mir meist zusammen, ich kenne
alle seine Wege, ich begleite ihn wiederholt. Ich kann aber nicht immer bei
ihm sein. Da stehe ich mit der Uhr in der Hand und zähle die Minuten, ja
sogar die Sekunden, bis er zurückkommt. Immer der eine Gedanke : Er betrügt
dich jetzt! Geht er in ein anderes Büro, so macht er das, weil dort eine
Beamtin ist, der er den Hof macht. Ist er im Kaffeehaus, so hat er ein
Rendezvous. Kommt er einige Minuten später aus dem Büro, so war er bei
einer Dirne. Kurz, immer verfolgen mich diese bösen Gedanken, ich kämpfe
dagegen, jedoch ich werde sie nicht los."
„Wie lange dauert dieser Zustand schon?"
„Eigentlich hat es erst begonnen, seit er wegen seines Herzleidens in
Franzensbad war. Dort lernte er ein älteres Mädchen kennen, 46 Jahre alt,
die auch ganz allein war. Beide schlössen sich aneinander und leisteten sich
Gesellschaft. Ich kenne das Fräulein, sie ist hochanständig und wenn meine
Vernunft oben ist, so sage ich mir: Es ist gar nichts vorgefallen, die beiden
haben eine vorübergehende seelische Beziehung gehabt. Aber in den bösen
Stunden glaube ich das Schlimmste. Ich habe einmal einen Brief gelesen, den
die Dame meinem Manne geschrieben hatte. Es war einige Wochen nach der
Kur in Franzensbad, da kam eine Schachtel, in der waren Blumen und ein
Brief an meinen Mann. Die Dame schrieb, sie danke ihm für seine anregende
Gesellschaft während der Kur, sie habe sich sehr gefreut, einen so vornehmen,
geistig hochstehenden Mann kennen gelernt zu haben und sie hoffe, daß ihre
Freundschaft die Zeit der Kur überdauern werde. Da machte ich meinem
Homosexualität uud Eifersucht. 387
Manne Vorstellungen und quälte ihn mit Eifersucht. Er versicherte mir mit
seinem Ehrenworte, daß es sich nur um rein freundschaftliche Beziehungen
gehandelt habe ; abgesehen von seinen Vorsätzen, sei er ein kranker Mann und
sei froh, wenn er seine Ruhe habe. Ich forderte aber die völlige Unterbrechung
des Briefwechsels, was mein Mann auch erfüllte. Er ist ja ein guter Kerl,
der mir jeden Wunsch von den Augen abliest und ich schäme mich, daß ich
immer so schlecht von ihm denken muß."
Wir sehen hier eine Quelle der Eifersucht. Die Frau hatte einen Mann,
der sie vollkommen befriedigte; nun mußte sie auf einmal abstinent leben.
Aus dieser Abstinenz entstand der Gedanke: Du bist noch jung und be-
gehrenswert, dir machen so viele Männer den Hof. Nimm dir einen Lieb-
haber! Sie wurde ganz erfüllt von Begehrungsvorstellungen und projizierte
sie auf ihren Mann. Dann wäre auch seine Untreue ein Motiv für die ihre
gewesen. Sie brauchte seine Untreue, sie wünschte sie, um 'sich dann ent-
schuldigen zu können. Ihre Zwangsvorstellungen sind die Verhüllung des
Gedankens : 0, daß mein Mann auch untreu wäre, damit ich ein Recht hätte,
mir einen Liebhaber zu nehmen.
Was sie auf diesen Gedanken bracht«, war der Umstand, daß die
Frau eines Kollegen ihres Mannes eine sehr leichtsinnige Frau war
und trotzdem eine sehr schöne gesellschaftliche Stellung einnahm. Sie spricht
von dieser Frau mit sehr großem Affekt.
„Nimmt es diese Frau mit der Treue nicht so genau wie Sie?"
„Diese Frau? Die hat nicht einen, sondern immer sechs Liebhaber zu
gleicher Zeit und noch mehr. Die genießt das Leben. Und die Liebhaber
zahlen ihr alles. Sie hat die schönsten Toiletten und Hüte, macht schöne
Reisen und der Mann weiß alles."
„Ist der Mann dieser Frau nicht eifersüchtig?"
„0 nein! Der weiß alles und tröstet sich auf seine Weise. Aber wissen
Sie, was merkwürdig ist? Diese leichtsinnige Frau ist auf ihren Mann eifer-
süchtig. Sie macht ihm furchtbare Szenen, wenn sie von seinen Eskapaden
hört und hat doch gar kein Recht dazu. Die beiden haben sich ja gegen-
seitige Freiheit gegeben . . ."
Auch diese Erscheinung kommt häufig vor und ist sehr interessant.
• Eheleute, die gesondert leben, jeder zahllose Verhältnisse und Abenteuer
hat und die trotzdem aufeinander sehr eifersüchtig sind, es aber meistens
nicht zeigen wollen.1) Es sind Menschen, die einander sehr lieben, aber in
dem Kampfe der Geschlechter die Treue als Niederlage werten, als eine
Unterwerfung unter den anderen, die lieber zugrunde gehen, als daß sie diese
Liebe eingestehen.2)
Die bewußte Freundin ist eine mondäne Frau mit wunderbaren Um-
gangsformen, die alle Vergnügungen mitmacht, die in der Gesellschaft eine
*) Arthur Schnitzler hat mit großer psychologischer Meisterschaft 60 ein Paar
in seinem besten Stücke „Das weite Land" beschrieben. Der Fabrikant Hofrichter, der
von Verhältnis zu Verhältnis flattert, und ßeine Frau, die sich mit einem jungen
Kadetten tröstet, 6ind so ein Paar, das einander liebt und lieber zugrunde geht, ehe
es sich diese Liebe offen eingesteht.
9) Vgl. das Kapitel „Der Kampf der Geschlechter" in meinem Buche „Das
lieb« Ich".
20*
388 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Rolle spielt, das Leben in Vollen Zügen genießt. Sie ist überdies eine schöne
Frau und gefällt unserer eifersüchtigen Patientin sehr gut.
Hinter ihren eifersüchtigen Gedanken stecken wieder homosexuelle
Phantasien. In dem Momente, als ihr Mann seine ehelichen Beziehungen
restringierte, erwachte das verdrängte gleichgeschlechtliche Begehren. Eine
Untreue wollte sie nicht begehen. Der Mann war ihr verschlossen. Also
mußten sich ihre Gedanken auf die Frau richten. Ihre inneren Gedanken
waren: Wenn ich ein Mann wäre, ich würde jeden Moment eine Frau auf-
suchen und ganz besonders die schöne, leichtsinnige Freundin, die mir so
gut gefällt.
Die leichtsinnige Freundin hatte alles in ihr aufgewühlt. Nicht nur
die Homosexualität, sondern auch alle Dirneninstinkte, die in jedem Weibe
tief verborgen schlummern oder vor sich und vor aller Welt offenkundig
hervortreten. Für den Genuß der Liebe noch bezahlt werden, jedesmal die
Anerkennung der sexuellen Leistung in klingender Münze erhalten — das
ist eine Phantasie, die sich in verschiedenen Symptomen bei neurotischen
Frauen äußert.
Alles, was eine Frau erreichen kann, erobert sich die polygame
Freundin und wird trotzdem nicht verachtet. Sie verkehrt in der feinsten
Gesellschaft, man drückt einfach ein Auge zu, weil sie es so geschickt
verbirgt.
Dieses Beispiel steht immer vor ihren Augen. Sie selbst i'st sexuell
nicht befriedigt, sie kommt kaum mit ihrem bescheidenen Gehalte aus und
sieht vor sich eine Frau, die alles findet, was ihr fehlt: Liebe und Geld. Sie
muß sich immer wieder die Frage vorlegen: Soll man anständig sein?
Sie gibt ähnliche Gedankengänge unumwunden zu, meint aber, das
könne nicht die Ursache der Eifersucht sein. Denn sie sei auch auf das
Dienstmädchen, den Diener und die Kinder eifersüchtig. Sie sei sogar auf
ihre Freunde eifersüchtig. Sie habe einen guten Freund, den sie sozusagen
einer Freundin abgetreten habe, weil er ihr ganz gleichgültig war. Seit er
mit der Freundin verkehrt, ist sie furchtbar eifersüchtig und möchte den
Freund wieder erobern und ganz allein für sich haben. Sie verträgt es nicht,
wenn das Kind mit anderen Menschen freundlich ist, wird wild, wenn das
Dienstmädchen einen Brief oder eine Ansichtskarte erhält. E 's .ist dies '
die Wahrung des Besitzstandes bei verringerter
sexueller Befriedigung. Sie ist sozusagen auf schmale Kost ge-
setzt und will alle's, was die Welt an Liebe bieten kann, für sich allein
reservieren. Sie will das Wenige, was sie hat, für sich behalten und als ihr
Eigentum strenge bewachen. Man sieht eine ähnliche Erscheinung bei
Kindern, welche einen bevorzugten älteren Bruder oder eine ältere Schwester
haben. Sie werden dann furchtbar eifersüchtig auf ihr kleines Eigentum und
sind verzweifelt, wenn die Geschwister über ihre Spielsachen kommen. Die
anderen mögen mehr haben, aber sie wollen das Wenige, das sie haben, für
sich allein haben.
So erzählt die Patientin von ihrer Eifersucht auf alles und auf alle.
Sie zeigt aber wenig Verständnis für psychologische Zusammenhänge, fürchtet .
zu mir zu kommen, weil während ihrer Abwesenheit vom Hause die Bewachung
des Mannes unterbrochen wird und bleibt einige Tage aus. Es ist, als ob
sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hätte und den Mut dazu nicht fände.
Homosexualität und Eifersucht. 389
Bald kommt sie wieder zu mir und klagt über eine Verschlimmerung
der Eifersucht; sie habe heute schrecklich gelitten, die ganze Nacht kein
. Auge geschlossen. Und allmählich gesteht sie, daß die Eifersucht eigentlich
nach dem Tode der Mutter begonnen habe.
„Wissen Sie — Herr Doktor — meine Mutter war das Muster einer
edlen Frau. Sie war tugendhaft, fleißig, gebildet, milde, ein wahrer Engel
in Menschengestalt. Trotzdem liebte ich — ich weiß es nicht warum —
meinen Vater viel mehr. Vielleicht, weil er mehr mit uns spielte und sich
viel mehr um unsere Unterhaltungen und Ausflüge bekümmerte, während
. uns die Mutter mit ziemlicher Strenge erzog und dafür sorgte, daß wir was
* Ordentliches lernten. Da starb meine Mutter an einem schmerzhaften Neu-
gebilde. Ich dachte daran: „Jetzt wirst du dem Vater die Mutter ersetzen
müssen. Du mußt dich um ihn kümmern." Der Vater war schon 62 Jahre
alt und wurde hie und da von gichtischen Schmerzen geplagt. Mein Erstaunen
war groß, als der Vater schon nach einigen Wochen die Trauer ablegte und
sich in einen eleganten Lebemann verwandelte, er, der solide Beamte, der
vorher ohne die Mutter keinen Schritt gegangen ist! . . . Er begann ver-
rufene Nachtlokale zu besuchen und ich hörte bald, daß er mit verschiedenen
leichtsinnigen Frauen Verhältnisse hatte. Ich war so untröstlich, daß ich
täglich auf den Zentralfriedhof zum Grabe der Mutter hinausfuhr. Dort
warf ich mich in bitterer Herzensnot zu Boden und flehte und weinte zur
Mutter. „Mutter!" — schrie ich — „du kannst es nicht zulassen, daß dein
Ansehen und deine Ehre so geschändet werden! Mutter, du mußt der lieder-
lichen Wirtschaft ein Ende machen! Du mußt den Vater so krank machen,
daß er nicht mehr sündigen und dein Andenken nicht entweihen kann." So
flehte und betete ich. Aber es half mir nichts. Bald merkte ich, daß der
Vater mit unserem jungen Dienstmädchen ein Verhältnis habe und daß sie
sich sein Geld verschreiben lassen wollte. Ich jagte sie mit der Polizei aus
dem Hause, weil ich darauf gekommen war, daß sie den Vater bestohlen
hatte. 0, ich war wie eine Furie und unerbittlich, weil die Ehre meiner
Mutter auf dem Spiele stand und ich verlernt hatte, meinen Vater, der mir
das Teuerste war, zu achten. Ich hatte nun einige Wochen Ruhe, weil der
Vater an einem Gichtanfall erkrankte. Ich flehte zu Gott, zur Mutter
Gottes sie mögen doch den Vater ans Bett fesseln, damit er keine neuen
Sünden mehr begehen könnte. Allein der Vater wurde bald gesund und führte
sein lustiges Leben in Nachtlokalen weiter. Chanteusen, Balletteusen, Dirnen
und anderes Gesindel kamen in seine Wohnung und wurden dort reich be-
wirtet Da hörte ich eines Tages, daß mein Vater wieder heiraten werde.
Er hatte sich mit einer Witwe im Alter von 42 Jahren verlobt. Ich wußte
sofort, daß diese Person nur auf das Geld meines Vaters spekulierte. Ich
kaufte mir einen Revolver und ich sage Ihnen ehr-
• lieh: Ich hätte die Person oder den Vater niederge-
schossen, wenn sie zur Trauung gegangen waren.
Vielleicht alle beide, weil ich entschlossen war,
die Schmach und Erniedrigung meiner edlen Mutter
nicht zuzulassen. Ich ging in die Wohnung dieser Person und stieb
so fürchterliche Drohungen aus, daß die Verlobung bald aufgelöst wurde.
Ich sagte dieser abgefeimten Kokotte: „Lebend werden Sie den Altar nicht
erreichen! Das schwöre ich Ihnen bei dem Andenken meiner Mutter! Ich
390 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
war auch fest entschlossen, beide niederzuschießen. Sie können daraus er-
sehen, wie sehr ich aufgeregt war.
Mein Vater brach darauf mit mir und meinen Schwestern den Verkehr
ab. Aber die Hochzeit kam nicht zustande, das war mein Verdienst. Ich
verkehrte nicht mehr in seinem Hause, bis er plötzlich vom Schlage gerührt
wurde und auf uns Kinder angewiesen war. Da haben wir uns vollständig
ausgesöhnt und seit damals habe ich erst wieder einen Vater. Ich besuche
ihn jetzt täglich, wir wechseln uns in der Pflege ab."
„Haben Sie kein Schuldgefühl und denken Sie nie, daß der Vater krank
wurde, weil Sie es wünschten. Wünschten Sie ihn nicht so krüppelhaft und
Ihrer Pflege ausgeliefert, daß er nichts mehr anstellen könnte?"
„Ich empfinde keine Schuld und keine Reue. Nur Genugtuung . . . Ich"
habe es so gewünscht und es ist bo gekommen. Denn jetzt habe ich wieder
einen Vater, dessen ich mich nicht schämen muß. Aber Sie dürfen nicht
glauben, daß ich für mich eifersüchtig war. Ich fühlte mich nur als die
Stellvertreterin der Mutter."
„Sind Sie auf Ihre Schwester nicht eifersüchtig?"
„Ja . . . wenn der Vater mit ihr sehr lieb ist, so fühle ich wieder diese
wilde Eifersucht in mir aufsteigen, aber ich beherrsche mich . . ."
Hier sehen wir die Eifersucht erst von einem inzestuösen Wunsch auf
den Mann abgelenkt, dann auf die ganze Umgebung. Es ist die Verschiebung
der Eifersucht auf alle, um die eine auf den Vater besser zu verbergen. Nach
dem Tode der Mutter erstand für diese Frau eine kritische Situation. Offen-
bar war ihr Wunsch als Kind so : „Wenn die Mutter sterben würde, so würde
ich den Vater heiraten!" Ein Wunsch, den so viele Mädchen haben und auch
offen aussprechen. Jetzt trat mit dem Tode der Mutter die Konstellation
ein. Es war ein Platz beim Vater offen, der von anderen Frauen besetzt
wurde. Daß der alte Vater noch ein Mann war, bewies er durch seine Hand-
lungsweise. Dieser Phantasie stand aber eines entgegen: Ihr Mann. So
lange er lebte, konnte sie ja nicht zu ihrem Vater ziehen. Die Krankheit
ihres Mannes brachte sie ihrem Ziele. um ein Stück näher. Denn die Ärzte
sagten, er habe ein schweres Herzleiden, er werde nicht mehr lange leben.
So konnte sie frei werden. Diese Regung erklärt ihr eine Reihe von sonder-
baren Träumen. Sie träumt immer wieder, daß sie mit ihrem Manne Streit
hat und ihn schlägt. Einige Male hat sie ihn im Traume
schon erschlagen und sogar schon erschossen. Sie
ist aber auch gegen ihr Kind ungerecht und kann
es plötzlich hassen.
Wir merken, daß die Eifersucht gegen den Mann auch den Sinn hat,
einen Haß zu motivieren, der ganz anderen Quellen entströmt. Denn sie
gesteht,- daß sie in den Stunden der Eifersucht, in denen sie denkt, ihr Mann
habe sie betrogen, ihren Mann glühend haßt und ihn umbringen könnte . . .
Der Mann ist ein Hindernis und der Haß gilt diesem Hindernisse. In den
Träumen tobt sich dieser Haß aus und bei Tage braucht er die Rationali-
sierung der Eifersucht. Denn sie gibt zu, daß sie ihren Mann nie recht ge-
liebt habe. Ihre ganze Liebe gilt dem Vater. Daß sie sich vormacht, für
das Andenken der edlen Mutter zu kämpfen, das gibt der ganzen Sache ein
ethisches Mäntelchen und verbirgt die eigentlichen Motive.
Interessant ist die Beziehung dieser Eifersucht zur Homosexualität.
Sie bildet eine wunderbare Bestätigung der Ausführungen über Homosexuali-
Homosexualität und Eifersucht, 391
tat Alan muß erst begreifen, wie viele Momente hier zusammenkamen um
diese Regression auf das Infantile zustandezubringen: Die schwere Krankheit
ihres Mannes, seine relative Impotenz und Zurückhaltung, die Krankheit der
Mutter, der leichtsinnige Lebenswandel des Vaters, der ihr bewies, daß man
sich noch im Alter ändern könne und daß es nie zu spät sei, um die Liebe
mit vollen Zügen zu genießen. Die Homosexualität lag bei ihr immer bereit,
um loszubrechen. Sie identifizierte sich mit dem Vater und sah die hrauen
mit seinen Augen an. Sie hatte 'sich in eine leidenschaftliche Liebe zum
Manne geflüchtet und kleine homosexuelle Episoden ihrer Kindheit wurden
leicht überwunden. Die Einstellung auf die Heterosexualität gelang mit
Hilfe des geliebten Mannes vollkommen. Die Homosexualität wurde ver-
drängt, um in der Zeit der beginnenden Menopause, im „kritischen Alter
der Frau wieder hervorzubrechen. Hier spielen die Involutionsvorgänge der
Keimdrüsen, die Verringerung des weiblichen organischen Besitzstandes eine
Rolle. Die Impotenz des Mannes und das Beispiel der schönen Freundin, in
die 'sie selbst heimlich verliebt war, weckten wieder die homosexuellen Emp-
findungen, welche sich aber nur in der Form von Eifersucht zeigten. Erst
das Beispiel des Vaters, der ja die tiefste Ursache ihrer Abkehr vom Manne
war brachte sie ganz aus dem Gleichgewichte. Sie hätte eine Urlmde
werden können, wenn der Vater der alte, gute, bescheidene, stille Mensch
geblieben wäre. Da er aber nach dem Tode ihrer Mutter die Maske ablegte
und von einem Lebensrausch ergriffen wurde, weckte er in ihr alle bösen
Instinkte. Nicht nur die infantilen erotischen Einstellungen, sondern auch die
infantile Kriminalität. Sie tötete im Traume ihren Mann, der sie hinderte,
ganz zum Vater zu ziehen und den alten infantilen Wunsch zu erfüllen,
die Frau des Vaters zu sein. Sie tötete aber auch die Kinder und die Ge-
liebte unzählige Male in ihrer Phantasie. Nicht nur- das Bedürfnis nach
Liebe meldete sich in dem kritischen Alter dieser Frau, sondern auch der
Urgrund alles menschlichen Fühlens, der Urschlamm, aus dem sich alles
Große und Schöne geboren hat: der Haß.
Haß gegen das andere Geschlecht und gegen die Rivalen, Haß gegen
die Kinder, die sie ermorden könnte, wenn der Föhn des Zornes die Wogen
ihrer Seele erregt . . .
Fall Nr. 77. Es handelt sich um ein dreißigjähriges Mädchen, das von
einer merkwürdigen Form der Eifersucht befallen wurde. Sie ist eifersüchtig
auf die Wohnung und behütet sie, wie ein anderer Mensch seine Geliebte
behütet. Sie hat eine ältere Schwester, die seit fünf Jahren verheiratet ist
und außerhalb Wiens lebt. Diese Schwester war ihr mehr als die Mutter
und als alle anderen Freundinnen. Sie betrachtete sie als ihre zweite Mutter,
vertraute ihr alle Geheimnisse an, ließ sich von ihr in jeder Hinsicht leiten
und lenken. Sie war vollkommen glücklich in diesem seelischen Verhältnisse
und wünschte sich nichts anderes. Sie liebte nur diese eine Schwester die
anderen Geschwister waren ihr mehr oder weniger gleichgültig. Plötzlich
tauchte in der Familie das Projekt auf, diese Schwester zu verheiraten und
eine Tante brachte einen Bewerber ins Haus. Sie fand diesen Bewerber
lächerlich, nicht passend für die Schwester und kämpfte mit ihren schwachen
Kräften gegen diese Verbindung. Aber ihre Mutter setzte sich mit Feuereifer
für die baldige Hochzeit ein. Da passierte es dem Mädchen, daß sie in der
392 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Nacht aufwachte. Unvermittelt wie ein Blitz durchschoß sie ein fürchter-
licher Gedanke: „Du mußt deine Mutter umbringen!" (Es war die letzte
Rettung — in dem Bestreben, daß die Schwester ewig bei ihr bleiben sollte
Die Mutter war die Urheberin ihres Unglücks. Sie konnte ohne die Schwester
nicht leben.) Über diesen Gedanken war sie so entsetzt, daß sie aus Reu*»
schwer gemütsleidend wurde. Es entwickelte sich eine schwere Neuron
welche im Wesentlichen aus einem System von Strafen und Bußen be-
stand welche sie sich bewußt auferlegte. Und erst allmählich entwickelte
sich die Eifersucht auf die Wohnung. Die Schwester wohnte außerhalb
Wiens m Ungarn und mußte zeitweise nach Wien kommen. Es war ja selbst-
verständlich daß sie in der großen Wohnung von sieben Zimmern, die sie
ganz allein bewohnten ein Plätzchen finden konnte. Das Mädchen ertrug
aber die Anwesenheit der Schwester in der Wohnung nicht. Sie wurde go^
mutskrank fing zu weinen an, fand, daß die Möbel ruiniert und abgenützt
wurden, sc Mief ganze Nächte nicht und fragte die Schwester täglich We
^TJ'Z\\R0Cr }f WiGn Weiben?" - S0 daß die Schwester'ihren Auf!
enthalt nach Möglichkeit abkürzen mußte
ein Kind T^w u"8? ^ Ah dann die bester Jahr für Jahr
Schwer h " f Wdt w ZtG' oduldete Sie M nicht> daß die Kinder der
ta£Sn£ J£r i ^ nSie, WU1'de nach einem solchen Kinderbcsuch
chw 5 \Z , ,kl'anrk' daß die Mutter ihre erheiratete Tochter be-
Wohn ,'nlT an?rS LT ZU nehmen- Die Kinder durften tarn in die
mme, lfai°mmenA ^ "^ T in eine,n bestimmten Zimmer aufhalten.
Imme, hatte sie Angst, es werde etwas in der Wohnung ruiniert Daß es
mch die Eifersucht auf die Mutter war, beweist der Umland,- daß sie
nichts dagegen hatte, wenn die Mutter ihre Schwester besuchte. Sie fuhr
auch gerne mit und .war dort liebenswürdig und erträglich. Sie wurde erst
?JlnZvTen ft RacheSöttin' wenn ihre Wohnung in Frage kam. Selbst-
verstandlich wollte sie auch die Mutter ganz allein für sich haben. Die
grenzenlose Eifersucht gegen die Schwester war anscheinend vollkommen
geschwunden und hatte sich ganz auf die Wohnung verschoben, in der sie
beide einmal so glücklich waren. Haßgedanken und Beseitigungsideen gegen
die Kinder der Schwester stellten sich auch ein. Sie dachte an eine Vergif-
tung, die in Ihrem Haage bei einem MaMe vor s.ch gehen goUte Vielle.cht
stammt die Angst vor der Anwesenheit der Schwester und ihrer Kinder
gedanken *" ^ Sicherung ^en ihre kriminellen Rache-
war iÄl^Q- nUP €i.nen Menschen wahrhaft geliebt: die Schwester. Sie
na,r mi alles- Sle nannte sie ihre zweite Mutter, sie nannte sie ihre Freundin
G rrV8ieÄre G,eliebtG- Sie Wachte deS Mor^ airf und ihr erster
wl Sl ™ + ^r^1, Und das Bestrcben> «* Freude zu bereiten, sie
eg e sich mit einem Gebete für die Schwester zu Bette. Sie war gut und
edel, weil sie die Schwester liebte und weil sie glücklich war, daß die
Schwester ihr die ganze Zeit widmete. Sie unterrichtete sie, ging mit ihr
spazieren, sie führte sie in die Kunst ein, bildete ihr Herz. Sie war glücklich
und wünschte sich nichts anderes, als immer so mit der Schwester zu leben
Da kam die Verlobung und Heirat der Schwester. Ihr Herz achrie auf
über diesen furchtbaren Verrat und verhärtete sich. Sie haßte alles, die
ganze Welt. Die Mutter, welche diese Heirat unterstützt hatte, die anderen
Schwestern, welche auch dafür waren, die Brüder, welche nicht opponiert
1
Homosexualität uod Eifersucht. 393
hatten. Nur eine alte Kinderfrau, welche immer zu ihr gehalten hatte, ihr
eiserner Besitzstand war, wurde von dem Hasse ausgenommen und blieb als
eine Art bescheidenen Liebesobjektes. Die Wohnung aber war erfüllt von
Erinnerungen an die liebe Schwester. Die Möbel waren die stummen und
doch so beredten Zeugen ihres einstigen Liebesglückes. Sie durften nicht
durch die Anwesenheit der treulosen, veränderten Schwester entweiht werden.
Die Kinder haßte sie, wünschte ihnen den Tod und trotzdem fürchtete sie,
sie könnte ihnen ein Leides tun. In ihr kämpften eben zwei Menschen! Die
Verbrecherin und die Moralische. Der Anblick der Kinder war ihr widerlich.
Sie trugen die Züge der Schwester und jenes Mannes, der sie ihr geraubt.
Ihr ganzer Besitzstand war die Erinnerung und die Möbel, die alten
Zimmer, welche der Phantasie die notwendige reale Grundlage gaben. „Die
Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden
können", sagt Jean Paul. Sie konstruierte sich aus ihrer Wohnung einen
Tempel der Erinnerungen, in dem jedes Stück von dem vergangenen Glücke
sprach, in dem sie noch jetzt lebte. Denn der ganze Tag verging in Trödeln
und Phantasieren. Sie lebte immer nur die süßen Stunden und Tage mit der
Schwester durch. Kriminelle Phantasien, alle anderen zu vergiften, führten
schließlich auf dem Wege der Talion zu einer Angst vor Vergiftung. Sie
hörte auf, alles wahllos zu essen, wie sie es vorher getan. Sie witterte Gjft
in allen Speisen. Sie begann nach den Mahlzeiten zu erbrechen. Sie sonderte
sich von allen Menschen ab bis auf eine Freundin, die treu zu ihr hielt und
ihre Abneigung gegen die Schwester teilte. Sie lebte in ständiger Angst,
sie könnte ihre Mutter ermorden, weil die Imperative („Töte sie!") immer
wiederkehrten. Den Männern ging 'sie aus dem Wege. Alle Versuche, sie
zu verheiraten und für einen Mann zu interessieren, schlugen fehl . . .
Die Wohnung war ihr Tempel, der nicht entweiht werden durfte. Dort
verrichtete sie täglich ihre Andacht und dort verankerten sich alle ihre
Liebesmöglichkeiten.
Der Fall steht hart an der Grenze der Psychose. »
Nach einer halbjährigen psychanalytischen Behandlung trat eine be-
deutende Besserung ein. Sie konnte die Besuche der Schwester wieder er-
tragen, verlor die Zwangsimpulse, die Mutter zu töten, konnte wieder alles
essen und verlor vollkommen das „nervöse" Erbrechen. Einen sehr günstigen
Heiratsantrag hatte sie zurückgewiesen. Den Männern ging sie nach wie
vor aus dem Wege.
Nun zu den nächsten Fällen!
Fall Nr. 78. Herr R. T., ein bekannter Dichter, erst 31 Jahre alt,
leidet ebenfalls an einer pathologischen Eifersucht, die ihn schon wiederholt
in schwere Konflikte gebracht hat. Er war immer an seine Familie fixiert
und lebte nur für seine Eltern und Geschwister. Besonders an der Mutter
hing er mit abgöttischer Liebe. Er begann, sich mit 18 Jahren in die
„Mädchen" seiner Freunde zu verlieben. Sogar in eine Dirne, die sein bester
Freund öfters besuchte, verliebte er sich. Schon damals trat eine starke
Eifersucht ein und er forderte die Dirne auf, ihrem Lebenswandel zu ent-
sagen. (Es ist dies das typische Erlebnis aller Jünglinge, die an die Mutter
fixiert sind. Sie suchen ein bipolares Gegenstück zur Mutter und verknüpfen
damit eine Rettungsphantasie. Diese Rettungsphantasie verschleiert nach
392
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Nacht aufwachte. Unvermittelt wie ein Blitz durchschoß sie ein fürchter-
licher Gedanke: „Du mußt deine Mutter umbringen!" (Es war die letzte
Rettung — in dem Bestreben, daß die Schwester ewig bei ihr bleiben sollte.
Die Mutter war die Urheberin ihres Unglücks. Sie konnte ohne die Schwester
nicht leben.) Über diesen Gedanken war sie so entsetzt, daß sie aus Reue
schwer gomtitsleidond wurde. Es entwickelte sich eine schwere Neuros«
welche im Wesentlichen aus einem System von Strafen und Bußen be-
stand, welche sie sich bewußt auferlegte. Und erst allmählich entwickelte
sich die Eifersucht auf die Wohnung. Die Schwester wohnte außerhalb
Wien? in Ungarn und mußte zeitweise nach Wien kommen. Es war ja selbst-
verständlich daß sie in der großen Wohnung von sieben Zimmern, die sie
ganz allein bewohnten, ein Plätzchen finden konnte. Das Mädchen ertrug
aber die Anwesenheit der Schwester in der Wohnung nicht. Sie wurde ge-
mütskrank fing zu weinen an, fand, daß die Möbel ruiniert und abgenützt
wurden, schlief ganze Nächte nicht und fragte die Schwester täglich: „Wie
lange wirst du noch in Wien bleiben?" - - so daß die Schwester ihren Auf-
enthalt nach Möglichkeit abkürzen mußte.
So verstrichen einige Jahre. Als dann die Schwester Jahr für Jahr
ein Kind in die Welt setzte, duldete sie es nicht, daß die Kinder der
Schwester bei ihnen wohnten. Sie wurde nach einem solchen Kinderbesuch
jedesmal so schwer krank, daß die Mutter ihre verheiratete Tochter be-
schwor, irgendwo anders Logis zu nehmen. Die Kinder durften kaum in die
Wohnung kommen dann sich nur in einem bestimmten Zimmer aufhalten.
Immer hatte sie Angst, es werde etwas in der Wohnung ruiniert. Daß es
nicht die Eifersucht auf die Mutter war, beweist der Umstand, daß sie
nichts dagegen hatte, wenn die Mutter ihre Schwester besuchte. Sie fuhr
auch gerne mit und war dort liebenswürdig und erträglich. Sie wurde erst
zu einer zürnenden Rachegöttin, wenn ihre Wohnung in Frage kam. Selbst-
verständlich wollte sie auch die Mutter ganz allein für sich haben. Die
grenzenlose Eifersucht gegen die Schwester war anscheinend vollkommen
geschwunden und hatte sich ganz auf die Wohnung verschoben, in der sie
beide einmal so glücklich waren. Haßgedanken und Beseitigungsideen gegen
die Kinder der Schwester stellten sich auch ein. Sie dachte an eine Vergif-
tung, die in ihrem Hause bei einem Mahle vor sich gehen sollte. Vielleicht
stammt die Angst vor der Anwesenheit der Schwester und ihrer Kinder
aus dieser Quelle und war eine Sicherung gegen ihre kriminellen Rache-
gedanken.
Sic hatte nur einen Menschen wahrhaft geliebt: die Schwester. Sie
war ihr alles. Sie nannte sie ihre zweite Mutter, sie nannte sie ihre Freundin
und sie nannte sie ihre Geliebte. Sie wachte des Morgens auf und ihr erster
Gedanke war die Schwester und das Bestreben, ihr Freude zu bereiten sie
legte sich mit einem Gebete für die Schwester zu Bette. Sie war gut und
edel, weil 'sie die Schwester liebte und weil sie glücklich war, daß die
Schwester ihr die ganze Zeit widmete. Sie unterrichtete sie, ging mit ihr
spazieren, sie führte sie in die Kunst ein, bildete ihr Herz. Sie war glücklich
und wünschte sich nichts anderes, als immer so mit der Schwester zu leben.
Da kam die Verlobung und Heirat der Schwester. Ihr Herz schrie auf
über diesen furchtbaren Verrat und verhärtete sich. Sie haßte alles, die
ganze Welt. Die Mutter, welche diese Heirat unterstützt hatte, die anderen
Schwestern, welche auch dafür waren, die Brüder, welche nicht opponiert
_.
Homosexualität und Eifersucht. uqq
hatten. Nur eine alte Kinderfrau, welche immer zu ihr gehalten hatte, ihr
eiserner Besitzstand war, wurde von dem Hasse ausgenommen und blieb als
eine Art bescheidenen Liebesobjektes. Die Wohnung aber war erfüllt von
Erinnerungen an die liebe Schwester. Die Möbel waren die stummen und
doch so beredten Zeugen ihres einstigen Liebesglückes. Sie durften nicht
durch die Anwesenheit der treulosen, veränderten Schwester entweiht werden.
Die Kinder haßte sie, wünschte ihnen den Tod und trotzdem fürchtete sie,
sie könnte ihnen ein Leides tun. In ihr kämpften eben zwei Menschen! Die
Verbrecherin und die Moralische. Der Anblick der Kinder war ihr widerlich.
Sie trugen die Züge der Schwester und jenes Mannes, der sie ihr geraubt.
Ihr ganzer Besitzstand war die Erinnerung und die Möbel, die alten
Zimmer, welche der Phantasie die notwendige reale Grundlage gaben. „Die
Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden
können", sagt Jean Paul. Sie konstruierte sich aus ihrer Wohnung einen
Tempel der Erinnerungen, in dem jedes Stück von dem vergangenen Glücke
sprach, in dem sie noch jetzt lebte. Denn der ganze Tag verging in Trödeln
und Phantasieren. Sie lebte immer nur die süßen Stunden und Tage mit der
Schwester durch. Kriminelle Phantasien, alle anderen zu vergiften, führten
schließlich auf dem Wege der Talion zu einer Angst vor Vergiftung. Sie
hörte auf, alles wahllos zu essen, wie sie es vorher getan. Sie witterte Gift
in allen Speisen. Sie begann nach den Mahlzeiten zu erbrechen. Sie sonderte
sich von allen Menschen ab bis auf eine Freundin, die treu zu ihr hielt und
ihre Abneigung gegen die Schwester teilte. Sie lebte in ständiger Angst,
sie könnte ihre Mutter ermorden, weil die Imperative („Töte sie!") immer
wiederkehrten. Den Männern ging sie aus dem Wege. Alle Versuche, sie
zu verheiraten und für einen Mann zu interessieren, schlugen fehl . . .
Die Wohnung war ihr Tempel, der nicht entweiht werden durfte, Dort
verrichtete sie täglich ihre Andacht und dort verankerten sich alle ihre
Liebesmöglichkeiten.
Der Fall steht hart an der Grenze der Psychose. -
Nach einer halbjährigen psychanalytischen Behandlung trat eine be-
deutende Besserung ein. Sie konnte die Besuche der Schwester wieder er-
tragen, verlor die Zwangsimpukse, die Mutter zu töten, konnte wieder alles
essen und verlor vollkommen das „nervöse" Erbrechen. Einen sehr günstigen
Heiratsantrag hatte sie zurückgewiesen. Den Männern ging sie nach wie
vor aus dem Wege.
Nun zu den nächsten Fällen!
Fall Nr. 78. Herr R. T., ein bekannter Dichter, erst 31 Jahre alt,
leidet ebenfalls an einer pathologischen Eifersucht, die ihn schon wiederholt
in schwere Konflikte gebracht hat. Er war immer an seine Familie fixiert
und lebte nur für seine Eltern und Geschwister. Besonders an der Mutter
hing er mit abgöttischer Liebe. Er begann, sich mit 18 Jahren in die
„Mädchen" seiner Freunde zu verlieben. Sogar in eine Dirne, die sein bester
Freund öfters besuchte, verliebte er sich. Schon damals trat eine starke
Eifersucht ein und er forderte die Dirne auf, ihrem Lebenswandel zu ent-
sagen. (Es ist dies das typische Erlebnis aller Jünglinge, die an die Mutter
fixiert sind. Sie suchen ein bipolares Gegenstück zur Mutter und verknüpfen
damit eine Rettungsphantasie. Diese Rettungsphantasie verschleiert nach
394
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
meinen Forschungen nur den Wunsch, sieh selbst zu retten . . .) Er wurde
bald mit dieser Liebe, die sehr heftig einsetzte, fertig und mußte Berlin
verlassen, weil er mit seinen Eltern nicht beisammen leben konnte. Es kam
immer wieder zu Streitigkeiten zwischen ihm und der Mutter, was ihn in
seinem Schaffen sehr behinderte.
Er wurde mittlerweile sehr berühmt und konnte über große Einkünfte
verfügen. Er hatte sich angewöhnt, mit Freunden die ganzen Nächte in
Cafes oder Vergnügungslokalen zuzubringen und erst Morgens nach Hause
zu kommen. In den Mittagsstunden stand er auf und da schrieb er einige
Stunden bei Tage, das war seine einzige Arbeit.
In einem Kabarett lernte er ein Mädchen kennen, das die Aufsicht über
die damit verbundene Bar hatte. Sie war damals 35 Jahre alt, gab sich
aber für 28 aus und sah auch viel jünger aus, als sie in der Tat war. Mit
diesem Mädchen knüpfte er Beziehungen an, die erst ganz leichter Natur
waren. Er wußte, daß sie von einem Grafen ausgehalten wurde, was ihn
nicht hinderte, sich von ihr „aus Neigung" lieben zu lassen. Es schmeichelte
ihm unendlich, daß dieses Mädchen oder sagen wir lieber diese Frau ihn
allen vorziehen und so selbstlos lieben konnte. Seine Neigung wurde täglich
stärker, ebenso auch ihre Liebe. Sie gab den Grafen auf und gestand ihm,
daß sie nur ihn liebe und sich nie mehr einem anderen hingeben werde. Er
war darüber ganz selig; sie mieteten eine gemeinsame Wohnung. Bald je-
doch verlangte er, daß sie die Stelle in der Bar aufgeben möge, weil sie zu viel
mit Herren in Berührung kam. Das tat sie auch gerne. Bevor er jedoch
mit ihr eine gemeinsame Wohnung bezogen hatte, verlangte er eine voll-
kommene Generalbeichte über die Vergangenheit. Sie erzählte ihm eine
romantische Lebensgeschichte und nannte vier Männer, die sie vor ihm be-
sessen hatten. (In Wahrheit waren es Dutzende!) Er wurde auf diese
Männer rasend eifersüchtig. Sie mußte ihm immer wieder die Geschichte
der Vergangenheit erzählen, dann wurde er wütend, erregte sich sehr sexuell,
stellte sich vor, wie er sich an den Rivalen rächen könnte, wie er sie peitschen,
ohrfeigen oder im Duell niederschießen, sie mit dem Säbel durchbohren
würde; sein Zorn gegen das unglückliche Mädchen wuchs, er beschimpfte sie,
nannte sie „Dirne", „Luder", „Mistvieh", er drohte ihr, er werde sie sofort
verlassen, er schlug sie und vollzog dann unter großem Orgasmus den Koitus.
Bald begann ihn aber der Zweifel zu plagen, ob sie ihm auch wirklich
die ganze Wahrheit gesagt hätte. Er durchforschte ihre Vergangenheit und
suchte nach dunklen Punkten. Ein Detektiv wurde beauftragt, sie in seiner
Abwesenheit zu bewachen und ihre Vergangenheit ausfindig zu machen. Bald
hatte dieser Mann den gesamten Tratsch der Nachbarschaft aufgefangen und
als Wahrheit vorgebracht. Neben den ihm offen zugestandenen Verhaltnissen
kamen allerdings noch einige andere Liaisons zutage, von denen die Frau
nichts erzählt hatte. Auch mußte sie eingestehen, daß sie viel älter war,
als sie ihm angegeben hatte.
Nun begannen Jahre der größten Qual und einer permanenten Folter.
Er begann schon des Morgens nachzudenken, wer noch von seinen Bekannten
oder Fremden diese Frau besessen haben könnte. Er fragte sie erst eindring-
lich dann immer stürmischer, er ließ sie Eide schwören, dann schlug er sie
und' wollte das Geständnis mit Gewalt erpressen. Vergebens beschwor sie
ihn und machte ihn aufmerksam, daß sie für ifire Vergangenheit nicht ver-
antwortlich sei, sie habe ihn ja damals nicht gekannt, sie habe schon als
Homosexualität und Eifersucht. 395
junges Mädchen das ganze Haus und eine kranke Mutter erhalten müssen;
es half nichts, er gab keine Ruhe.
Als er zufällig bei seinen Forschungen wieder auf einen Mann stieß,
der in der Liste noch fehlte, warf er ein Glas nach ihrem Kopfe und ver-
letzte sie so schwer, daß sie mehrere Wochen krank war. Er suchte Streit
mit den alten Liebhabern und forderte sie aus nichtigen Anlässen, ver-
wundete einige, da er ein guter Fechter war.
Schließlich trennten sich die beiden Liebenden. Die Frau hielt es nicht
mehr aus und drohte, sich das Leben zu nehmen. Aber nach einigen "Wochen
wurde sie krank und rief ihn an das Krankenlager. Bei einer anderen Ge-
legenheit war das wieder umgekehrt. Kurz — die beiden Leute kamen nicht
auseinander. Es war die letzte Liebe dieser Frau, deren Reize die erste Blüte
verloren hatten. Sie wollte sich mit Hilfe dieser Liebe in die Ehe oder in
eine der Ehe ähnliche Existenz retten. Er aber hatte das Verhältnis nur
begonnen wie alle anderen und war plötzlich in eine unlösliche Beziehung
gekommen, die ihn von der ganzen Welt isolierte. Denn er traute sich nicht,
mit seiner Freundin auszugehen. Er hatte immer das unangenehme Gefühl,
er werde einem der früheren Liebhaber begegnen, ja er durchforschte die
Züge aller Passanten, ob sie ihn nicht auslachten.
Er hatte einen Freund, der ihm vollkommen ergeben war. Dieser "
Freund haßte seine Freundin, weil sie ihm ja den besten Freund geraubt
hatte. Dieser Freund war sejn willenloser Sklave. Er wurde der Wächter
dieser armen Frau. Aber der Freund hatte eine sonderbare Leidenschaft. Er
trachtete, alle Frauen zu besitzen, welche seinem Freunde gehörten. (Es ist
dies eine durchsichtige Maske der Homosexualität, wie ich bereits besprochen
habe.) So kam es, daß er auch dieser Frau den Hof machte, die sich dadurch
rächte, daß sie scheinbar darauf einging und als sie Beweise seiner Pläne in
den Händen hatte, dies ihrem Geliebten mitteilte. Es kam zu furchtbaren
Szenen, zu Revolverschüssen, die glücklicherweise keinen verletzten.
Nun begann er seine Freundin mit den Beziehungen zum Freunde "a
quälen. Er suchte offenbar nach einem Motiv, um mit ihr zu brechen, und
schwor sich, er werde sie sofort verlassen, wenn er ihr auf das Geringste
kommen werde. Sie aber zitterte so vor seinen Nachstellungen, daß sie nie
mehr allein auf die Gasse ging . . .
Die Motive seines Handelns sind klar. Es handelt sich um eine starke
Homosexualität, welche sich als Eifersucht auf die anderen Männer äußert.
Daß er denken kann, dieser oder jener Mann hätte sie besessen, gerade das
macht den stärksten Reiz dieses Weibe's aus. Wenn dieser Mann beteuert,
daß er glücklich wäre, wenn er dieses Weib als Unschuld kennen gelernt
hätte, so täuscht er sich. Er wird immer wieder die Dirne, das anrüchige
Weib suchen. Gerade der Umstand, daß diese -Frau älter ist als er, macht
ihre stärkste Anziehungskraft aus. Denn er sucht nach einer Mutterimago
und fühlt sich auch am wohlsten, wenn diese Frau ihn bemuttert. Wie fast
alle Homosexuellen hat er eine große Neigung zur Mutter. Er hat aber wie
der Homosexuelle noch nicht die Flucht zum Manne vollzogen, sondern die
Flucht zur Dirne, zu dem entwerteten Weibe . . .
Er möchte gerne von dieser Frau loskommen. Aber er hat sich ihr
durch ihre Verletzung, von der ihr eine häßliche Narbe im Gesichte zurück-
blieb, durch sein Schuldgefühl vollkommen ausgeliefert. Da er ihr den Tod
wünscht, um frei zu werden, kettet ihn das Gewissen zehnfach unlösbar an
ggg Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sein Opfer. Seine kriminellen Phantasien umspielen beständig die gemarterte
Frau und ihre ehemaligen Liebhaber. Mit Hilfe der Eifersucht kann er seine
geheimen Mordgedanken offen ausdenken. Dazu kommt, daß er, wie viele
Künstler, sehr abergläubisch und der Ansicht ist, daß ihm diese Frau Glück
gebracht' hat. Seit er sie besitzt, hat er unter dem Einfluß der großen Auf-
regungen seine besten Werke geschaffen und die größten Erfolge errungen.
So scheint das Verhältnis für sein ganzes Leben gefügt zu sein und er dürfte
nicht mehr von ihr loskommen . . .
Es gibt gewiß auch eine andere Form der Eifersucht. Wo sie
aber in diesen pathologischen Formen auftritt, wird es nie schwer fallen,
die Homosexualität und die damit verbundene Kriminalität als
treibende Kräfte nachzuweisen. Der letzte Fall ist besonders be-
weisend und durch die Teilnahme des Freundes sehr charakteristisch.
Unser Patient muß an die Männer denken, weil es ihn treibt,
seine Homosexualität zu betätigen. Er denkt daran auf Umwegen, so-
zusagen über und durch das Weib. Die Eifersucht gestattet ihm, an
den nackten Mann zu denken; er malt sich den Phallus seines Rivalen
aus, er vergleicht ihn mit dem seinen; er schwelgt in den Wonnen, die
seine Geliebte durch einen anderen Mann genossen; er fühlt sich ganz
in das Weib ein, so daß er in diesen Phantasien selbst ein Weib wird.
Er haßt das Weib in sich und überträgt diesen Haß auf sein zweites
Ich, auf seine Geliebte. Er haßt aber auch das Weib, weil sie nicht im-
stande' ist, ihm den Mann zu ersetzen. Vor dieser Liaison verbrachte
er die Mächte in Cafes und in Weinstuben mit lauter Männern. Das
macht er jetzt nicht mehr. Er läßt seine Geliebte jetzt nicht mehr
allein und* es fehlen die stillen Anregungen der Männerrunde. Ebenso
wie seine Geliebte quält er seine Mutter, wenn er einige Tage zu Hause
ist. Er liebt sie so, daß er nicht einen Tag leben kann, in dem er nicht
mit ihr, die in Berlin wohnt, telephonisch aus Wien gesprochen hat.
Ist er an einem Orte, wo er nicht telephonieren kann, so muß ihm die
Mutter täglich telegraphieren. Sehr interessant ist, wie hinter dieser
Mutterliebe sich die viel' stärkere Liebe zum Vater verbirgt. Er spielt
diese Liebe zur Mutter als stärksten Trumpf gegen den Vater aus. Er
flieht vor der sexuellen Liebe zum Vater, während ihm Inzestphanta-
sien zur Mutter wiederholt bewußt waren. Er konstruiert sich immer
zur Mutterimago noch irgend einen Vater dazu. Am stärksten war
seine Eifersucht gegen einen Advokaten, der schon graue Haare hatte
und verheiratet, also ein Vatersymbol war. Diesen Mann hatte er sogar
aufgesucht, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen und sich dadurch un-
endlich lächerlich gemacht. Die Eifersucht war aber ganz besonders
geeignet, seinen latenten Sadismus manifest zu machen. Nun konnte
er in seinen blutrünstigen Phantasien schwelgen, nun konnte er sogar
seine Geliebte verletzen und diese wahnsinnige Tat mit ^übergroßer
Homosexualität und Eifersucht. 397
Liebe" entschuldigen. Durch die Analyse gelang es, das Verhältnis
bedeutend zu bessern. Er suchte wieder seinen Stammtisch im Gast-
haus auf und der Friede wurde selten gestört.
Wie schwer manchmal die homosexuelle Wurzel solcher Verhält-
nisse zu finden ist, das beweist der nächste Fall, in dem sich wieder
einmal die Eifersucht vor dem Bewußtsein maskierte.
Fall Nr. 79. Fräulein K. N. sucht mich wegen einer eigentümlichen
Schlafstörung auf. Sie ist außerordentlich empfindlich gegen Geräusche.
Sie wohnt bei ihrer Schwester, die eine ganz kleine Wohnung hat, in der ein
Zimmerchen an einen Zimmerherrn vermietet ist. Nun besteht ihre Angst
darin, daß sie schon am Abend zu 'spekulieren anfängt, wann der Zimmerherr
nach Hause kommen wird. Ist er früh zu Hause und legt er sich bald
schlafen, so findet sie auch bald Ruhe und kann die Nacht ruhig durch-
schlafen. Ist er aber außer Hause, so kann sie nicht einschlafen. Oder sie
schläft ein und hat einen so leichten Schlaf, daß sie sofort wach wird, wie
sie hört, daß der Zimmerherr nach Hause kommt. Dann wird sie von einer
heftigen Angst überfallen und ihr Herz beginnt stürmisch zu klopfen. An-
geblich sollen auch andere Geräusche die Nachtruhe stören. Sie wohnt in
einem Hause, an dem die Stadtbahn vorbeifährt. Die stört sie aber nicht,
ebensowenig die Elektrische. Dagegen stören sie Stimmen im Nebenzimmer,
auf- und abgehende Schritte über ihr.
Man könnte nun annehmen, sie wünsche sich, daß der Zimmerherr zu
ihr käme, und sie fürchte sich davor. Sie versichert aber, daß ihr der Zim-
merherr gleichgültig wäre, sie könnte ihm keinen Kuß geben, wenn er ihr
dafür Millionen geben würde. Sie sei schon ein so unglückliches Geschöpf.
Sie werde unbedingt die Wohnung der Schwester verlassen müssen. Sie habe
schon eine ähnliche Sache mitgemacht. Sie war der Liebling ihrer Mutter,
verwöhnt und in jeder Hinsicht verhätschelt. Da erkrankte die Mutter an
einem Schlaganfall und verlor das Bewußtsein. Nachdem sie wieder zu sich
gekommen war, lebte sie in dem Wahne, ihr Liebling wäre ihr untreu ge-
worden, und begann das arme Kind fürchterlich zu quälen.1) Sie warf ihm
*) Das Erwachen der Eifersucht im Senium, in marastischen Zuständen ist eine
außerordentlich häufige Erscheinung, scheint einerseits mit Störungen der inneren
Sekretion, andrerseits mit dem Aufflackern infantiler Einstellungen zusammenzuhängen
Wir finden auch öfters die Tatsache hervorgehoben, daß 6ich die krankhafte Eifersucht
nach einem längeren Krankenlager einstellt. Manche Ärzte 6ind geneigt, diese Erschei-
nung auf eine Intoxikation zurückzuführen. Mir scheint es viel wahrscheinlicher, daß
die Möglichkeit nachzudenken eher in die Wagschale fällt. Auch ist zu berücksichtigen,
daß im Angesichte des nahen Todes alle unbefriedigten Wünsche, daher auch die
homosexuellen, noch einmal ihre dringende Forderung nach Erfüllung stellen. Dieser
Umstand mag auch zum Aufflammen von Paraphilien und homosexuellen Regungen im
Senium führen, wobei noch in Betracht kommt, daß infolge von organischen Vorgängen
in der Großhirnrinde Hemmungen entfallen. Daß die Pflege durch eine Kranken- i
Schwester bei weiblichen, durch einen männlichen Pfleger bei männlichen Personen eine
Rollo spielt, habe ich wiederholt beobachten können. Ja, ich sah direkt nach längeren
Krankheiten homosexuelle Beziehungen mit Pflegepersonen entstehen, sah, daß die
398 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Verhältnisse vor, die gar nicht bestanden, schimpfte sie kalt, egoistisch und
lieblos. Dem Mädchen blieb schließlich nichts anderes übrig, als das Eltern-
haus zu verlassen und sich bei fremden Leuten einzuquartieren. Erst nacli
dem Tode der Mutter kam sie wieder ins Elternhaus. Auch der Vater war
inzwischen gestorben. Die beiden Schwestern standen allein und waren auf-
einander angewiesen. Aber es ging heiß zwischen ihnen zu und sie gönnten
sich selten eine friedliche Stunde.
Schließlich wurde die Schwester sogar aggressiv. Sie hatte nämlich
die Schwester „mit aufgehobenen Händen" gebeten, dem Zimmerherrn zu
kündigen. Sie wollte ihr den Zins aus Eigenem ersetzen. Aber so gehe es
nicht weiter. Sie schlafe keine Nacht und gehe seelisch und physisch zu-
grunde. Die Schwester jedoch wurde wild und begann sie mit den gleichen
grausamen Worten zu beschimpfen, welche die Mutter gebraucht hatte. Sie
fuhren einander in die Haare. Damals hätte sie die Schwester erstechen
können, so groß wäre ihre Wut gewesen.
Nach dieser Szene kam sie voll Verzweiflung wieder zu mir. Ich gab
ihr den Rat, auszuziehen. Sie könne sich doch nicht alles gefallen lassen
und brauche ihre Ruhe.
Was aber gab sie mir zur Antwort?
„Das kann ich nicht! Das kann ich nicht!"
„Warum nicht? Läßt Sie die Schwester nicht?"
„Ach nein! Das ist es nicht . . . Die Schwester sagte mir sogar
gestern: Zieh nur aus! Ich werde den Tag segnen, da ich Dich los werde! . . .*'
„Und das lassen Sie sich gefallen?"
„Ich kann nicht ausziehen, weil . . ."
„Sie die Schwester lieben und ohne sie nicht leben können."
„Das ist es. Ich kann ohne die Schwester nicht leben und selbst ihre
Schimpfworte und Schelte sind mir leichter zu ertragen als ein Tag, an dem
ich sie nicht sehen sollte."
„Sie werden aber doch den Schritt tun müssen ... Es Sind zu un-
gesunde Verhältnisse."
„Ja ... ich habe es gestern auch der Schwester gesagt: Ich ziehe aus
und du kannst dann deinen Zimmerherrn behalten
und mit ihm machen, was dir beliebt. Ich werde
dich nicht mehr kontrolliere n."
Nun war es klar, daß sie jede Nacht wachte, ob der Zimmerherr nicht
zur Schwester ging und daß sie sich fürchtete auszuziehen, weil sie dann
wußte, daß die Schwester mit dem Zimmerherrn allein war und er dann
jede Nacht zu ihr gehen konnte. Ich machte ihr diesen Mechanismus klar,
den sie nicht recht begreifen wollte. Die homosexuelle Liebe zur Schwester
gab sie zu . . .
Sie zog in ein anderes Quartier. Es war ein stilles Zimmerchen, das
auf einen Garten ging bei einer alleinstehenden, alten Frau. Aber sie fand
auch hier keinen Schlaf. Die alte Frau schnarchte und das vertrug sie nicht.
Liebe zur Mutter oder Schwester aufs neue entflammte. Nach Infektionskrankheiten
kommt es häufig zu einer Regression in die Kindheit. Es melden sich alle infantilen
Einstellungen. Der psychoseiuelle Infantilismus, über den wir in dem V. Bande der
„Störungen des Affekt- und Tricblebens" abhandeln werden, bricht besonders nach einer
Zeit des Krankseins aus, in der man sich „wieder als Kind" fühlt.
Homosexualität und Eifersucht.
399
Dann gab es eine tickende Uhr, die sie immerfort störte und nicht einschlafen
ließ, ja sogar durch die Stundenschläge aus dem Schlaf weckte. So suchte
sio immer Gründe für die Unruhe, die in ihr war. Das Schlagen ihres Herzens
(symbolischer Ersatz dafür: die Uhr) ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie
suchte ein anderes Quartier, suchte und suchte und fand kein ruhigeres als
bei der Schwester. Jeden Abend saß sie wieder dort und ging erst spät nach
Hause. Eine vorübergehende Indisposition der Schwester wurde von ihr
rasch ausgenützt und sie war wieder in ihrem Zimmerchen und zitterte
wieder, wenn der Zimmerherr später nach Hause kam. Selbst als sie einen
Geliebten fand, der sie sexuell vollkommen befriedigte, wurde sie nur vorüber-
gehend ruhig. Die heterosexuelle Seite ihres Triebes trieb sie immer zu dem
Manne, in dessen Armen sie die Schwester vergessen wollte. Aber es gelang
nur vorübergehend und ihre Gedanken kreisten bald wieder zwischen dem
Zimmerherrn und der Schwester. Endlich gab die Schwester nach und der
Zimmerherr mußte ausziehen. Sie erhielten ein älteres Fräulein als After-
mieterin. Da wurde sie ruhig und konnte wieder schlafen. Interessant ist,
daß fast alle Schlafmittel versagten und sie nur unruhiger machten. Sie
wollte nicht schlafen, um die Tugend ihrer Schwester bewachen zu können.
Wie in allen anderen vorhergehenden Fällen kam es auch hier zu Tät-
lichkeiten, stand die Kranke an der Grenze krimineller Affekthandlungen.
Haß und Liebe zeigten innige Verbindungen. Sie litt auch an Angst vor
Mördern, sperrte die Türen ab und zitterte bei jedem Geräusche. Es war
die Angst vor den eigenen Mordgedanken. Mit der infantilen Liebe zur
Schwester stieg auch die infantile Kriminalität empor.
Dieser Fall zeigt uns wie die vorhergehenden die innige Ver-
bindung zwischen Eifersucht, Homosexualität und Sadismus. Denn in
den Stunden der Wut hatte 6ie fürchterliche Rachegedanken. Sie wollte
die Wohnung mit Petroleum anzünden; sie dachte daran, sich und die
Schwester durch Ausströmen von Gas zu vergiften; sie suchte sich
einen Revolver zu verschaffen, angeblich um sich gegen Einbrecher zu
sichern. In ihren Träumen tobte sich eine Verbrecherin aus, die zu
ihrem sonstigen sanften Wesen einen grellen Widerspruch bildete. Im
Affekte wurde die Verbrecherin stärker als ihr Kulturmensch; sie
konnte sich an der Schwester vergreifen und zückte sogar einmal ein
Messer. Nach solchen Affektentladungen brach sie in sich zusammen
und wurde wieder das sanfte, stille Mädchen, das wegen seiner Güte
überall geschätzt war.
Die Homosexualität.
XL
Homosexualität und Paranoia.
Die Eifersucht wird immer mit der Liebe
geboren, aber sie stirbt nicht immer mit ihr.
La Rochefoucauld.
r
Es ist sehr bezeichnend, daß der Affekt der Eifersucht alle
Schranken der Kultur durchbricht. Außerordentlich häufig treten Be-
schuldigungen des Inzestes1), der Homosexualität, der Onanie und
der Zoophilie hervor. Frauen beschuldigen ihren Mann, daß er mit
der Tochter Verkehr pflege; oder sie bezichtigen den Mann, er habe
mit dem Freunde ein homosexuelles Verhältnis. Männer behaupten
das Gleiche von ihrer Frau. Alle diese Beschuldigungen sind Projek-
tionen der eigenen Sexualtendenzen auf das Objekt der Eifersucht.
Beaussart (La Jalousie. Ännales psychiques, Bd. 71, 1913), der irr-
tümlicherweise behauptet, die pathologische Eifersucht komme bei
Männern häufiger vor als bei Frauen, hebt diese Eigenschaft der Eifer-
süchtigen besonders hervor und begründet sie mit dem Mangel wirk-
licher Gravamina. Diese Motivierung ist fadenscheinig. Unter den
von ihm mitgeteilten Fällen hebe ich den einer 75jährigen Frau hervor,
die ihren Mann mit grundloser Eifersucht zu Tode quälte und ihn eines
Tages in der Wut mit einem Rasiermesser schwer verletzte. Die Eifer-
sucht ist eben eine Rationalisierung des Hasses, sie greift auf die
primär-egoistischen Einstellungen des Urmenschen zurück. Die hem-
mungslosen sexuellen Wünsche im Verein mit den kriminellen Impulsen
zeigen uns eine Regression zum Urmenschen. Die phylogenetische Ur-
sexualität und Urkriminalität entspricht der ontogenetischen primären
Einstellung des Menschen zu seiner Umgebung.
Andere Eifersüchtige sehen ihre Kriminalität im Spiegelbilde
der Umgebung. Ein Eifersüchtiger halluziniert, daß ihn der vermeint-
*) Vgl. Willy Schmidt, „Inzestuöser Eifersuchtswahn". Groß' Archiv, Bd. 57
S.257, 1914.
Homosexualität und Paranoia. 401
liehe Geliebte seiner Frau mit einem Messer erstechen will. Auf diese
Weise wird dann die Ermordung des Geliebten ein Akt der Selbst-
wehr. Das Verbrechen erweist sich dann als selbstverständliche Not-
wendigkeit. Während die Männer mit Säbel, Revolver, mit Reitpeit-
schen, mit Foltern und Fesseln vorgehen, tobt sich die weibliche
Kriminalität in Eifersuchtsakten, durch anonyme Briefe, Verleumdun-
gen, Vergiftungen, Kastration und Vitriol aus (Beaussart).
In vielen Fällen ist die Grenze, wo die Eifersucht in den Wahn
übergeht, wo die Neurose zur Psychose wird, kaum zu erkennen. Oft
ist die Eifersucht das erste Symptom einer beginnenden Paranoia.
Die nächsten zwei Fälle haben auch ausgesprochen paranoischen
Charakter. Wir verdanken Freud wertvolle Aufklärungen über das
Wesen der Paranoia oder, wie Freud sich ausdrückt, der „Paraphrenie"
In seiner grundlegenden Arbeit „Psychoanalytische Bemerkungen über
einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" (Sammlung
kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Dritte Folge. Franz Deuticke,
Leipzig und Wien 1913) wird der Nachweis geliefert, daß die para-
noische Wahnbildung auf die verdrängte homosexuelle Komponente
des Geschlechtslebens zurückzuführen ist. Die Verfolgung der Para-
noiker durch Männer ist die Projektion der eigenen Gedanken nach
außen. Der Kranke wird von homosexuellen Phantasien verfolgt und
konstruiert aus diesen Phantasien seine Verfolger. Der Kranke ver-
wandelt die Liebe in ihr bipolares Gegenstück, in den Haß. Freud
sagt darüber: „Ich liebe ihn nicht — ich hasse ihn ja". Dieser
Widerspruch, der im Unbewußten nicht anders lauten könnte, kann
beim Paranoiker nicht in dieser Form bewußt werden. Der Mechanis-
mus der Symptombildung bei der Paranoia fordert, daß die innere
Wahrnehmung, das Gefühl, durch eine Wahrnehmung von außen er-
setzt werde. Somit verwandelt sich der Satz: Ich hasse ihn ja, durch
Projektion in den anderen: Er h a ß t (verfolgt) mich, was mich
dann berechtigen wird, ihn zu hassen. Das treibende, unbewußte Ge-
fühl erscheint so als Folgerung aus einer äußeren Wahrnehmung.
„Ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja, weil
er mich verfolg t."
„Die Beobachtung läßt keinen Zweifel darüber, daß der Verfolger
kein anderer ist, als der einst Geliebte."
Was aber Freud vollkommen übersehen hat, sind die Beziehungen
der Paranoia zur Kriminalität. Da er bisher beharrlich die außer-
ordentliche Bedeutung der latenten Kriminalität in der Psychogenese
der Neurose vernachlässigte und nur im Sexuellen die Ursache neuro-
tischer und psychotischer Umwandlung erkannte, durfte er auch nicht
die wichtige Rolle der Kriminalität in der Dynamik der Paranoia be-
Stekel, Störungen dos Triob- und Affoktlebens. n. 2. Aufl. 26
402 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
rücksichtigen. Daher kommt es, daß sein Schema nicht für alle Fälle
der Paranoia gilt. Denn es gibt auch eine Paranoia, welche eine Flucht
vor dem Verbrechen darstellt, ja sogar die Rationalisierung eines Ver-
brechens ohne Homosexualität gestattet. Es sind Ausnahmsfälle, aber
sie kommen vor. Die Angst vor dem Wahnsinn, an der so viele Neu-
rotiker leiden, enthält als polare Komponente den Wunsch nach dem
Wahnsinn. Denn der Wahnsinnige ist vor sich und dem Gesetze
schuldlos. „Er kann nichts dafür." Daher kommt es, daß so häufig
Paranoiafälle mit einem Verbrechen einsetzen. Andrerseits wird der
Paranoiker wahnsinnig, um das Verbrechen nicht zu begehen. Wir
werden erst lernen müssen, daß die Internierung ins Irrenhaus von
vielen Kranken gewünscht wird, weil sie ihnen Seelenfrieden und die
Sicherheit gibt, daß sie nichts anstellen können.
Die Eifersucht in der Paranoia ist wie jede Eifersucht eine Aus-
drucksform der Wut. Sie dient aber dazu, um die Wut
zu rationalisieren und dem Verbrechen den An-
trieb und die Entschuldigung einer berechtigten
Affekthandlung zu geben. Wie viele von den Verbrechen
aus Leidenschaft sind aber der Leidenschaft zum Verbrechen zuzu
schreiben! Noch sehen wir nicht vollkommen klar durch alle die
Schleier, welche den inneren Verbrecher verhüllen. Noch halten wir uns
zu ängstlich an die oberflächlichen Motivierungen, die der Sadismus
vorbringt, um sich die Wege zur Tat zu ebnen. Die Art, wie sieh der
Urmensch in uns bewußtseinsfähig machen muß, ist der beste Grad-
messer der Kultur. Deshalb müssen mit fortchreitender Kultur die
Irrenhäuser in dem Maße voller werden, als die Zuchthäuser sich
leeren. . . .
Wieder muß ich hervorheben, daß Juliusburger diese Zusammen-
hänge als erster klar erkannt und scharf präzisiert hat. Eigentlich ge-
bührt ihm das Verdienst, die Beziehungen der Paranoia zur Homo-
sexualität aufgedeckt zu haben. So schrieb er schon in seiner Arbeit:
„Die Homosexualität im Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetz-
buch" (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 1911) :
„Ferner finden wir bei Geisteskranken das bekannte Auftreten des
Verfolgungswahns, und sein Inhalt wird oft genug aus der Homosexuali-
tät geschöpft, insofern die Kranken wähnen, daß sie wegen vermeint-
licher Homosexualität, von der. sie gar nichts wissen, Gegenstand der
Verfolgung seien. Oder sie glauben in ihrer krankhaften Geistesverfas-
sung, deswegen Gegenstand von Nachstellungen zu sein, damit sie in
den vermeintlichen Geheimbund der Homosexuellen eintreten, was sie
auf das entschiedenste ablohnen. In beiden Fällen handelt es sich um
eigenartige psychische Phänomene, die man unter den Begriff der Projek-
tion subjektiver, dem Individuum unbewußter Geschehnisse in seinem
Homosexualität und Paranoia. 403
Seelenleben auf die Welt der Objekte, auf die Außenwelt, zusammen-
fassen muß. Wenn ein Individuum in Geisteskrankheit gerät und wähnt,
wegen vermeintlicher homosexueller Neigungen Gegenstand der Beob-
achtung und Bedrängung durch die Umgebung zu sein, so läßt sich
dieso Tatsache nur daraus erklären, daß das Individuum tatsächlich
in seinem Unbewußten eine stark wirkende homosexuelle Komponente
birgt, dio eben durch einen eigenartigen seelischen Mechanismus von dem
Individuum weg auf die Außenwelt projiziert wird. Der alte Satz : Aus
nichts wird nichts, gilt auch für das Seelenleben, und es heißt völlig
unwissenschaftlich verfahren, will man hier das Gesetz der Kausalität
oder Motivation nicht in seiner durchgängigen Wirksamkeit anerkennen.
Das eindringende Studium des Seelenlebens unserer Geisteskranken
bringt uns die wichtige Erkenntnis, daß weit häufiger, als wir meinen,
die unbewußte Homosexualität den Menschen zu schaffen macht, und
ein Weg, um diese innere Seelenspannung zu überwinden, ist eben der
Ausweg, die eigene unbewußte Homosexualität zu objektivieren, zu ver-
gegenständlichen, auf diese Weise das durch eine falsche Auffassung der
Dinge gezüchtete Schuldbewußtsein zu tilgen und dadurch von ihm los-
zukommen, daß man die Schuld auf fremde Schultern abwälzt. Zahl-
reiche Wahnvorstellungen unserer Kranken werden erst dadurch begreif-
lich und sinnvoll, daß wir erkennen, wie mächtig im Unterbewußtsein
die Homosexualität wirkt."
Juliusburger erkennt aber auch die Bedeutung des Sadismus in
der Psychogenese des Eifersuchtswahns in ihrer überragenden Be-
deutung. In der erwähnten Arbeit „Zur Psychologie des Alkoholismus"
(Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. III, 1913) macht er folgende
treffende Bemerkungen:
„Ich stimme Freud darin bei, daß es die homosexuelle oder homo-
psychische Komponente des Mannes oder der Frau ist, welche im Wirts-
haus und in der Alkoholgeselligkeit in sublimierter Art und Weise eine
ihrer Erledigungen findet. Ich konnte mich aber bisher noch nicht davon
überzeugen, daß die Homosexualität oder ihre psychische Vertretung
auch in der Pathogenese des Eifersuchtswahnes die gleiche Rolle spielt.
Ich behalte daher noch die Ansicht, welche ich in der Arbeit „Zur Frage
der Genese des Eifersuchtswahns" (mitgeteilt in dieser Zeitschrift, 1911)
durch meinen Kollegen Hans Oppenheim vertreten ließ. Nach wie vor
spreche ich als die bedeutsamste Wurzel des Eifersuchtswahns die
sadistisch-masoch istischen Triebkräfte im Indivi-
duum an. Besonders lehrreich war mir ein Fall, wo der Sadismus des
eifersüchtigen Alkoholisten in einer Weise zur Darstellung kam, wie
ich sie sobald nicht wieder erlebte. Gleichzeitig äußerte sich der Sadis-
mus dieses Trinkers auch in einer unglaublich rohen und nur aus seinem
Sadismus zu erklärenden Behandlung von Hunden. Schon die immer
wieder zu beobachtende Tatsache, daß der eifersüchtige Trinker sich
auch dann nicht beruhigt und von der Qual seines Opfers abläßt, wenn
dieses in der Erwartung, den Partner endlich zu beruhigen, sich bereit
findet, eine vermeintliche Schuld zu gestehen, ich sage, diese immer aufs
26*
404 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
neue sich wiederholenden Peinigungen und Malträtierungen finden eben
nur eine endgültige Erklärung in der dem Individuum eingewurzelten
sadistischen Neigung, die immer von neuem in der Begierde nach Genuß,
im Genuß nach Begierde schmachtet. Im Sadismus wurzelt der Eifer-
suchtswahn, aus dem sadistischen Trieb erwächst die überwertige Vor-
stellung der krankhaften Eifersuchtsvorstellungen. Der Sadismus ist
die immer sprudelnde Quelle, aus der die krankhaften Bezichtigungs-
ideen des eifersüchtigen Alkoholikers stammen, und mit dem Sadismus
immanent verbunden, kommt der Masochismus auf seine Rechnung, in
dem die Qual der Eifersucht Nahrung und Genuß findet."
„Neben der sadistisch-masochistischen Komponente in der Patho-
genese des Eifersuchtswahns kommt wohl noch in Frage die Trans-
ponierung eines gewissen Schuldgefühls. Bei meinen Fällen wenigstens
konnte unschwer festgestellt werden, daß der eifersüchtige Trinker, der
seine Frau eines strafbaren Umgangs bezichtigte, selbst gern Seiten-
sprünge in dieser Beziehung machte oder seine Neigung dahin mit
großer Mühe zu unterdrücken hatte. Ein ähnliches Verhalten konnte ich
bei Frauen finden, welche an Eifersuchtswahn erkrankt waren. Durch
die mehr oder weniger bewußte Projektion des Schuldgefühls auf den
1 artner sollte eine Entspannung und Befreiung des seelischen Lebens
erfolgen, und gleichzeitig konnte auch durch diesen Mechanismus wiederum
dem sadistischen Trieb gewissermaßen Nahrung zugeworfen werden. —
Endlich müssen wir zur Erklärung des Eifersuchtswahns noch einen
Faktor heranziehen, der atavistisch zu begreifen ist. "Wir werden später
noch sehen, wie gewissermaßen atavistische Reminiszenzen eine große
Bedeutung in der Psychologie des Alkoholismus beanspruchen. In der
Seele des Mannes schlummert noch aus der Vorzeit die Sucht und die
Macht, das Weib zu beherrschen, zu tyrannisieren.
Gerade in der Alkoholikerseele stoßen wir bei näherem Zusehen häufig
genug auf atavistische Reste, und andrerseits wird wieder
rückläufig durch die chronische Intoxikation der auf dem Urgründe der
Seele ruhende Atavismus geweckt und ihm der Weg zur Oberfläche ge- ,
ebnet. Der Tyrann der überwundenen Zeit erwacht im Alkoholisten und
schwingt seine Herrschergeißel über die unterworfene Frau, und umge-
kehrt kommt in der an Eifersucht erkrankenden Frau das alte Ma- •
triarchat in abgeänderter Weise zum Durchbruch. Wir werden immer
mehr begreifen und einsehen, wie in der Psyche des Geisteskranken
Atavismen zu neuem Dasein gelangen."
Diese Auffassung der Eifersucht „als Projektion der eigenen Un-
zulänglichkeit auf die Umgebung" war einst der Ausgangspunkt meiner
charakteriologischen Untersuchung der Eifersüchtigen. Ich kam aber
bald dahinter, daß das Problem kompliziert ist. Als ich schon wußte,
daß die Neurotiker Rückschlagserscheinungen sind, enthüllte sich mir
die Eifersucht als eines der primitiven Haßgefühle, welche dem Ur-
menschen eigen waren. In der Paranoia verraten sich die primären
Einstellungen, welche durch den kulturellen Überbau verdeckt werden.
Im Affekt zeigt sich der wahre Mensch. Auch die Eifersucht verrät uns
Homosexualität und Paranoia. 405
den wahren inneren Menschen mit allen seinen heißen Begierden und
verborgenen Triebkräften.
Der nächste Fall zeigt uns alle charakteristischen Momente: den
Verfolgungswahn, die pathologische Eifersucht und den brutalen Sadis-
mus. Die Krankheitseinsicht fehlt vollkommen. Die Eifersucht wird
als begründet angesehen. Es werden lächerliche Verdachtsmomente
betont, um das Objekt der Schuld zu überführen. Bei allen geschilderten
„Verfolgungen", die als große reale Gefahr gewertet werden, fehlen
objektivo Kriterien. Der Sadismus bricht offen durch, bedient sich
aber noch immer affektativer Rationalisierungen.
Fall Nr. 80. Herr A. W., ein Fabrikant von 29 Jahren, konsultiert
mich wegen Angstzuständen, die ihn schon wiederholt in unangenehme
Situationen gebracht haben. Das erste Mal brach der Angstzustand in Tirol
aus. Er wollte eine bestimmte Partie machen und bat seinen Wirt um Aus-
kunft. Der Wirt führte ihn selbst auf den Weg, der gar nicht gepflegt und
unordentlich gehalten war. Plötzlich begegneten ihm auf dem Wege einige
unheimliche Gestalten. Er konnte sich aber noch beherrschen, obwohl er in
ihnen Strolche oder zumindest Wilddiebe vermutete. Da bemerkte er, wie aus
der Höhe einige Männer auf ihn zukamen. Jetzt lief er davon, was er konnte.
Aus der Ferne ertönte ein Schuß, der ihm galt. . . Er kam atemlos ins Tal
und meldete das dein Gendarmen. Dieser schüttelte den Kopf und wollte
nicht einmal den Wirt einvernehmen. Der Wirt versicherte, er habe den
Herrn nur über eine Abkürzung geführt, die auch die Jäger benutzten. Diese
Abkürzung leite dann auf den anderen bequemen Promenadeweg. A. blieb
aber dabei, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen sei und daß man
ihn überfallen wollte. Der Gendarm meinte, das sei in ihrer Ortschaft schon
seit 30 Jahren nicht vorgefallen. Allein A. ließ 'sich nicht überzeugen und
glaubt auch noch heute, es habe sich um einen Überfall gehandelt. Er könnte
ja auch im Recht Bein, wenn es sich um diesen einzigen Vorfall handeln
würde. Er hat aber solcher Erlebnisse eine schwere Menge. Er war auf einer
Reise in Schweden, da habe er bemerkt, daß der Wirt mit einigen Gästen
in schwedischer Sprache leise gesprochen habe, und sie hätten ihn so unheim-
lich angeblickt. In seinem Zimmer gab es keinen Schlüssel, um das Zimmer
abzusperren. Er konnte nicht schlafen und blickte zum Fenster hinaus.
Da bemerkte er, daß noch einige dieser unheimlichen Gesellen in das Gasthaus
kamen. Er wollte nicht länger in diesem Hause bleiben. Der Wirt bedeutete
ihm, er habe das Zimmer gemietet und müsse bleiben. Sie konnten sich nicht
verständigen. Da sah er einen Wachmann vorbeigehen. Er rief ihn an, er
solle ihn befreien. Der Wachmann kannte einige deutsche Worte, kam hinauf
und 'sie gingen auf die Polizeistube, wo ein Protokoll über seine sonderbaren
Erlebnisse aufgenommen wurde. Ein drittes Mal verließ er ein Gasthaus
aus ähnlichen Motiven. Auf seinen Ausflügen trägt er einen Revolver, der
ihm eine gewisse Sicherheit gewährt.
Die Diagnose der Paranoia ist nicht schwer zu stellen. Die mangelnde
Kritik nach dem Ablaufe de's Affektes verrät den psychotischen Charakter
dieser Affektion. Es kann wohl einem Angstneurotiker etwas Ähnliches pas-
sieren. Er wird sich aber später, vielleicht schon nach einigen Stunden sagen:
406 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Es war ein Unsinn, und er wird sich genieren, darüber zu sprechen. Dieser
Mann trägt seine Geschichte mit der Absicht vor, mich von seinen Gefahren
zu überzeugen.
Diese Verfolgungen sind die Produkte seiner homosexuellen Einstel-
lungen, die er nicht bewältigen kann. Wir erkundigen uns nach seinen Ge-
wohnheiten und hören, daß seine Mutter sehr früh gestorben ist und daß
ihm der Vater die Mutter vollkommen ersetzte. Er
führte bis vor einigen Monaten mit dem Vater' eine seelische Ehe. Sie gingen
immer zusammen aus, nie einer ohne dem anderen, sie schliefen in einem
Zimmer, machten ihre Spaziergänge gemeinsam. Nur selten wurde diese
Gewohnheit durch einen Abend bei Freunden unterbrochen.
Nun trat ein merkwürdiges Erlebnis ein, das wir bei diesen latent
Homosexuellen immer wieder finden. Er verliebte sich in ein Mädchen, das
die Geliebte eines Angestellten war. Diese Leidenschaft ging rasch vorüber.
Eine zweite jedoch sollte ihn bald aus der gewohnten Bahn bringen. Im
Geschäfte war ein anderes Mädchen, mager, klein, ziemlich unansehnlich,
wenig entwickelt. (Ein Typus, der sich dem Manne nähert.) Dieses Mädchen
hatte einen Bräutigam, der 6ie immer abholte. Man wußte schon im Ge-
schäfte, daß der Bräutigam draußen wartete, wenn die Sperrstunde kam.
(Sie soll auch mit den anderen Männern des Geschäftes poussiert haben.)
In dieses Mädchen verliebte er sich mit jener wahnsinnigen Leidenschaft, wie
sio die Homosexuellen zeigen, wenn sie sich vor dem Manne retten wollen,
wenn sie sich auf der Flucht vor dem Manne befinden. Es gelang ihm bald,
den anderen Konkurrenten, der ein armer Beamter war, zu verdrängen und
ihre Gunst zu gewinnen. Das arme Mädchen war überglücklich und stolz,
daß der reiche Fabrikantenssohn ein Auge auf sie geworfen hatte. Er zeigte
dem Mädchen sofort, daß er ernste Absichten habe. Er zog sich ganz vom
Vater, der dieser Verbindung heftigen Widerstand entgegensetzte, zurück.
Er lebte nur in dem Mädchen und für das Mädchen. Sie mußte sein Kontor
verlassen. Der Vater wünschte es, außerdem sprachen die Angestellten aller-
lei Dinge, die ihm unangenehm waren. Er erhielt Briefe, die ihn aufklären
sollten, wie leichtsinnig das Mädchen war. Ein anderer Beamter teilte ihm
mit, daß er das Mädchen geküßt habe und daß sie gar nicht spröde wäre.
Diese Menschen ahnten natürlich nicht, daß diese Mitteilungen seine Leiden-
schaft für das Mädchen steigern mußten. Denn die Phantasie, daß ein
anderer Mann sie geküßt habe, war es ja, die ihn am meisten erregte. Diese
Erregung wandelte sich in Zorn und Wut, aber sie wirkte auf seine homo-
sexuelle Komponente. Je mehr er gegen das Mädchen gehetzt wurde, desto
inniger schloß er sich an sie. Er sah sie dreimal täglich. Er holte sie morgens
ab, sie gingen mittags zusammen spazieren und der Abend und öfters auch
die Nacht gehörte dem Mädchen, das durch das Zeugnis eines Arztes be-
scheinigen konnte, daß sie noch virgo intaeta war. Seine Beziehungen zu
ihr waren auch derart, daß ihre Virginität nicht angetastet wurde. Dieses
Verhalten, dieses Zurückschrecken vor der Defloration unter dem Vorwando
ethischer Tendenzen entspricht der Unsicherheit und Hinterhältigkeit der
Neurotikcr, der Angst, sich definitiv zu binden, der Angst vor den Folgen
und beweist die mangelnde Libido. Die Leidenschaft steckte mehr im
Seelischen, sie war etwas Vorgeschobenes, etwas Unechtes. Denn sie waren
manche Nacht beisammen, in der er sich damit begnügte, daß sie im gleichen
Zimmer war . (sie schliefen nie in demselben Bette). Ihre Anwesenheit he-
Homosexualität und Paranoia. 407
ruhigte ihn am meisten. Da fühlte er sich vor seinen homosexuellen Ge-
danken sicher. Er brauchte auch das Verhältnis, um aller Welt demon-
strieren zu können, daß er nicht homosexuell sei und die Frauen liebe.
Allein es setzte schon in den ersten Tagen dieses Verhältnisses eine
Eifersucht ein, die für diese Menschen typisch ist und ihnen gestattet,
sich doch immer wieder in Gedanken mit Männern zu beschäftigen. Er be-
gann erst ihre Vergangenheit zu durchforschen. Sie mußte ihm alles beichten.
Dann aber setzte die nicht endende Qual der endlosen Tage ein. Schon am
Morgen beobachtete er sie argwöhnisch. Hatte sie blaue Ringe um die Augen,
sah sie blaß aus, so war er sofort sicher, daß sie ihm diese Macht untreu
gewesen. Obwohl er sie in später Nacht bis zum Hause begleitet und sie
morgens abgeholt hatte, so war er doch der Ansicht, daß sie später aus
dem Hause geschlüpft sei und irgend einen ungekannten Liebhaber autge-
sucht habe, öfters schon durchwachte er eine ganze Nacht vor ihrem Hause.
Er 'sah seltsame Schatten in ihrem Fenster sich auf und abbewegen und
wußte sogleich, daß es ein Mann sein müsse. Er litt Höllenqualen. Er beauf-
tragte einen Detektiv, das Mädchen, zu überwachen, und ertappte sie auf
<>iner unschuldigen Lüge. Sie wurde durch seine ewigen Fragen ganz aus der
Fassung gebracht und mußte manchesmal lügen, um Ruhe zu haben. Eine
solche kleine Lüge war der Ausgangspunkt eines Zwistes, der viele Wochen
dauerte. Sie bemerkte, daß er vor ihrem Hause auf und ab patroullierte.
Er sah jammervoll aus, da er kaum zum Schlafen kam, und vernachlässigte
seine Geschäfte in der Fabrik. Sie nahm ihm das Wort ab, daß er abends
nach Hause gehen werde. Er gab es und war sofort unruhig. Denn es war
ihm Gewißheit, daß 'sie das getan, um ihn desto sicherer betrügen zu können.
Dann tobten in ihm fürchterliche Rachegedanken. Den unbekannten
Liebhaber wollte er niederschießen und das arme Mädchen erwürgen. Viel-
leicht suchte er nach einer Untreue, um sich von dem Madchen losen zu
können und seine Untreue mit der ihren zu entschuldigen.
Selbstverständlich schützte er eine Reise vor, um unvermutet bei dem
Mädchen zu erscheinen. Er glaubte den Rauch einer Zigarre zu erkennen,
zerrte sie bei den Haaren und wollte ein Geständnis ihrer Untreue erpressen.
Er verdächtigte sie auch eines Verhältnisses mit ihrem 70jährigen Vormund!
Für die Analyse sind diese Fälle sonst nicht günstig und ziemlich aus-
sichtslos: Ich bin aber so glücklich wie Bjerre1), über mehrere komplette
Heilungen von Paranoia berichten zu können. Meistens unterbrechen diese
Patienten die Psychanalyse und verlassen unter einem Vorwande den Arzt. Es
nützt gar nichts, sie auf die Übertragung aufmerksam zu machen. In dem
Momente, als sie eine Neigung zum Arzte fassen, wandelt sich diese Neigung
in Angst und Mißtrauen. Sie wollen ihre Homosexualität nicht einsehen. Die
psychischen Störungen gehen so weit, daß eine Korrektur nicht mehr möglich
ist. Sie bleiben oft schon nach einigen Besprechungen aus. Dieses plötzliche
Ausbleiben steht im schroffen Gegensatz zu ihrer anfänglichen Begeisterung
für die neue Behandlungsmethode. Andere lassen sich einige Wochen halten
und kommen in der Analyse nicht vorwärts. Geht man auf die homosexuellen
Tendenzen nicht ein, so kann man sie länger analysieren, bleibt aber immer
auf der Oberfläche, da sie nicht zu bewegen sind, aufrichtig zu sein, vor
J) Zur Radikalbehandlung der chronischen Paranoia. Jahrbuch f. peycho-
jvnalytieche Forsch., 1912, III. Bd.
408 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
dem Arzte immer Geheimnisse haben und alle Einfälle, welche sich auf
das Verhältnis zum Arzt beziehen, verschweigen.
Er kam immer mit dem Revolver zu mir, immer bereit, den vermeint-
lichen Verfolger niederzuschießen. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen,
daß er von seinen eigenen homosexuellen und kriminellen Gedanken verfolgt
werde. Er hörte ungläubig zu, war aber nicht so ablehnend, wie ich es bei
den meisten Paranoikern gewöhnt bin.
Auch dieser Patient blieb trotz guter Krankheitseinsicht nach drei
Wochen aus, weil die Behandlung ihn furchtbar aufrege. Er glaubte, i c h
wäre mit seinem Vater in Verbindung1) und wolle ihn
vom Mädchen trennen. Seine eigentliche Liebe war der Vater, der mir in der
Psychogen«» der männlichen Paranoia eine prominente Bedeutung zu haben
scheint.
Ich sah ihn zwei Jahre später während des Krieges. Er war als Frei-
JtSSL . gezogen, hatte sich ausgezeichnet und wurde leicht verwundet.
Er fühlt sich seit dem Kriege besser. Die Verlobung hatte er bald nach der
Behandlung aufgelöst. Die Verfolgungsideen sollen bedeutend zurückge-
treten sein. °
Der nächste Fall zeigt uns eine paranoische Eifersucht mit Wahn-
bildungen auf Grund von Indizienbeweisen, die mit großem Scharfsinn
ausgeklügelt und behandelt werden. Diese Fälle bilden die Übergänge z*
den Querulanten, die ihr „Recht" suchen, wohl weil eine innere Stimme
überschrien werden soll, welche das „Unrecht" betont.
Fall Nr. 81. Herr S. D. wird von dem Hausarzte seiner Familie aus der
.berne an mich gewiesen. Ich sollte entscheiden, ob seine Eifersucht begründet
oder nur die Folge einer Krankheit sei.
Es handelt 6ich um einen sehr energischen, strebsamen 30jährigen Kauf-
mann, der ein Wirtsgesehäft in Verbindung mit einem größeren Laden in
einem Dorfe betreibt. Er brachte es im Laufe von acht Jahren zu großem An-
sehen und Wohlstand. Er konzentrierte förmlich den ganzen Kleinhandel des
Dorfes, betrieb auch ein Engrosgeschäft für die Kleinhändler der Umgebung
und war auf dem besten Wege, ein sehr reicher Mann zu werden, als die
Eifersuchtsszenen mit seiner Frau einsetzten. Seine Frau war eine frigide
Natur die in seinen Armen ganz kalt blieb, was ihn immer sehr kränkte. Nach
der Geburt von zwei Kindern wurde sie etwas wärmer. Als sie aber das erste
Malin semen Armen einen starken Orgasmus empfand, war ihm das sofort
verdächtig und er schloß daraus, daß sie einen anderen Lehrer in der Liebe
gehabt haben müsse. Wie sollte es möglich sein, daß eine kalte Frau plötzlich
über Nacht in eine leidenschaftliche verwandelt wurde? Er begann die Frau
zu beobachten und kam zum Ergebnis, es müsse sie ein Mann besessen haben,
der einen sehr großen Phallus hatte. Im Dorfe befand sich ein nicht mehr
junger, reicher Bauer, der wegen der Größe seines Phallus und seiner Potenz
■ bekannt war. Dieser Mann war sein Stammgast in der Schenke. Was war
naherliegend, als sofort zu schließen, es müsse dieser Bauer gewesen sein? (Wir
erkennen, daß er sich offenbar schon lange in der Phantasie mit dem großen
Penis des Bauern beschäftigt haben muß. Diese Phantasie projizierte er auf
seine Frau. Seine Neugierde und das Verlangen, den großen Phallus zu seheu,
') Eine symbolische Darstellung meiner Identifizierung mit dem Vater.
Homosexualität und Paranoia. 409
verschob er auf seine Frau. So ist unser Denken beschaffen. Dieser Autismus
(Bleuler) macht uns kritiklos und läßt uns alle Erscheinungen der Welt durch
die Brille unserer Affekte sehen. Mußte sich seine Frau nicht als Weib für
den großen Phallus des Bauern interessieren, von dem man in der Schenke
ungeniert sprach, wenn er, der Mann, schon dieses Interesse zeigte? So unge-
fähr ist die Logik dieses Denkens.) Er begann den Bauern und seine Frau
zu beobachten. Er schützte eine Reise vor und sagte seiner Frau, er werde
erst am nächsten Tage zurückkommen. Er kam aber am Abend zurück. Er
ging leise die Stiege in sein Schlafzimmer hinauf. Er hörte einen dumpfen
Krach. Natürlich, der Bauer war aus dem Fenster gesprungen. Es war — wie
die Frau meinte — die Katze, welche aufgescheucht wurde; er blieb dabei, es
müsse ein Mann im Zimmer gewesen sein. Seine Frau war so beleidigt, daß
sie ihn gleich verlassen wollte und zu ihm kein Wort mehr sprach. Er wurde
kleinmütig und bat sie flehentlich um Verzeihung, und teilte ihr den Grund
seiner Eifersucht mit. Die Frau antwortete, sie habe immer empfunden, aber
sich geschämt, es ihm zu zeigen. Plötzlich sei es ihr eingefallen, es sei das
ein Unsinn, auch habe sie ihn viel mehr liebgewonnen als vorher. Sie könne
doch nichts dafür, daß sie jetzt mehr empfinde.
Es gab nun eine Pause von einigen Monaten. Da erhielten sie Ein-
quartierung und ein wohlgestalteter Hauptmann bezog eine Stube. Dieser
Hauptmann erregte seinen Verdacht von dem ersten Tage der Einquartierung.
Er fand, daß seine Frau dem Hauptmanne den besseren Kaffee gab, daß sie
ihn viel zu freundlich behandelte und ihm allerlei Aufmerksamkeiten erwies.
Seine Frau wies darauf hin, daß der Hauptmann ihnen alle Lieferungen für
seine Kompanie übertragen und so ein großes Geschäft verschafft habe, und
meinte, daß sie nur aus geschäftlichem Interesse freundlich sei, daß aber diese
Freundlichkeit nie die Grenzen der Konvention überschritten habe. Er aber
sammelte Beweise für die Untreue seiner Frau. Als ein solcher Beweis erschien
ihm der Rest einer Zigarette, die er im Schlafzimmer seiner Frau fand. Er
untersuchte sie sorgfältig und bat den Burschen des Hauptmannes, ihm einmal
eine Zigarette seines Herrn zu verschaffen, sie hätten ein so wundervolles
Aroma und er wolle sie einmal versuchen. Er erhielt diese Zigarette und sie
hatte dio gleiche Hülse wie die seine. Es war allerdings eine Zigarette, wie er
sie selbst rauchte, aber der Kranke konstatierte, daß ein besonderer Streifen
drinnen zu sehen war, der sich in anderen Hülsen nicht befand. (Diesen
Streifen konnte ich nicht sehen.) Von der gleichen Art waren seine anderen
Beweise. Diesmal kam es zu einem großen Streite mit seiner Frau, der viel
heftiger war als die vorhergehenden Kämpfe. Jetzt folgte Fall auf Fall. Er
verdächtigte seine Kommis und entließ sie nach ein paar Wochen. Jeder
war der Geliebte seiner Frau. Schließlich überfiel er seine Frau und begann
wütend auf sie loszuschlagen und sie zu würgen. Die Frau verließ ihn am
nächsten Tag, zog zu ihren Schwestern und reichte die Scheidungsklage ein.
Sie behauptete, ihr Mann wäre nicht normal, und er kam nun nach Wien, um
sich freiwillig meiner Beobachtung zu unterziehen.
Ich ging zuerst auf seine Wahnvorstellung ein und versuchte vorsichtig,
sie zu korrigieren. Er ließ sich auch in einzelnen Punkten belehren, zeigte
eine gewisse Krankheitseinsicht und war gar nicht ungehalten, als ich ihm
das Zeugnis der Gesundheit verweigerte. Mittlerweile hatte er sich seinen
Bart rasieren lassen, um jünger auszusehen. Diese Metamorphose war nicht
nötig, denn er sah jung genug aus, es war aber ein Durchbruch seiner weib-
410 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
liehen Tendenzen. Er hatte auch eine Reihe von Träumen, in denen er eine
Frau war. Meistens lebte er die alten Eifersuchtsszenen noch einmal durch
und wiederholt tötete er seine Frau im Traume.
So träumte er:
Ich bin mit meiner Frau in einem Zimmer, und zwar habe ich mich
als Frau verkleidet, damit man mich nicht erkennt. Meine Frau geht aus
dem Zimmer, es war sehr finster. Da kam der Hauptmann in das Zimmer
und wollte mir unter die Röcke greifen. Er wurde aber aus dem Zimmer
gerufen. Ich stürzte mich auf meine Frau: So eine Hure bist du! Jetzt
weiß ich alles . . . und stach ihr ein Messer durch den Hals.
In einem anderen Traume lag er unter dem Bette und fühlte die Be-
wegungen des Koitus mit. Sehr charakteristisch war, daß er nach Streit- und
Prügelszenen immer das Bedürfnis hatte, mit seiner Frau zu verkehren und
daß seine Libido eine viel größere war . . offenbar durch die sadistische
Erregung.
Diesen Patienten hatte ich fünf Jahre nach Abschluß der Be-
handlung wiedergesehen. Er hatte sich von seiner Frau getrennt und
war anscheinend ganz ruhig. Er behauptet vollkommen gesund zu sein,
nicht mehr an Eifersucht zu leiden und hie und da mit Frauen zu ver-
kehren. Ich wage es nicht zu entscheiden, ob ich diesen Erfolg der
Analyse und heilpädagogischen Behandlung zuschreiben darf.
Ein Äquivalent des permanenten Wahnes bieten die verschiedenen
Rauschzustände, die wir als periodische Wahnzustände betrachten
dürfen, Nun ist es in der Tat auffallend, wie viele Alkoholiker, Mor-
phinisten, Opiumesser, Kokainisten und in neuerer Zeit Adalin-,
Verona!-, Medinal-, Luminalverbraucher an Angst vor dem Wahnsinn
leiden. Analysiert man einen dieser Fälle, so stößt man immer auf die
so oft betonte homosexuelle Komponente und einen unterdrückten
Sadismus. Die psychischen Mechanismen dieser Kranken sind die
gleichen wie die bei den paranoischen Formen des Eifersuchtswahnes
beschriebenen. Im Vordergrunde des Leidens steht die Angst vor dem
Wahnsinn. Es handelt sich um die endöpsychische Erkenntnis, daß
innere Kräfte die Wahnbilder höher werten als die Realität.
Der nächste Fall bringt uns eine Reinkultur dieses Zustandes, der
oft mit Selbstmord endet.
Fall Nr. 82. Herr 0. L., ein Geigenkünstler von großem Talente, leidet
an unerträglichen Angstzuständen, unter denen die Angst vor dem Wahnsinn
am stärksten hervortritt. Er hat auch Stunden einer unerklärlichen, furchtbar
quälenden Angst, ohne daß er sich sagen könnte, wovor er Angst hat. Er
fühlt nur, daß er etwas furchtbares machen könnte, um der
Angst zu entgehen und endlich einmal Ruhe zu haben. Er glaubt, er könnte ein
Verbrechen anstellen, um eingesperrt zu werden und sicher zu sein, daß er
sich nicht mehr zu fürchten brauche. In den ersten Wochen spricht er nur von
der Angst vor seinem Vater. Er leidet förmlich an der fixen Idee, sein Vater
Homosexualität und Paranoia. 411
werde nach Wien kommen und ihn in ein Irrenhaus sperren lassen. Bevor er
das ertragen würde, würde er zuerst den Vater und dann sich
erschießen. Er kommt immer wieder auf seinen Verdacht zurück, daß
ich mit dem Vater in Verbindung stünde. (So äußert sich bei diesen Kranken
die Identifizierung des Arztes mit dem Vater. Der Arzt wieder ein Symbol
des Vaters!) Er nimmt schon durch mehrere Jahre verschiedene narkotische
Mittel. Eigentlich nicht, um zu schlafen. Denn er könnte auch ohne Veronal
oder Pantopon -schlafen. Aber er habe dann so entsetzliche Angst. Und er
fühle es, daß er dann durch die Narkotika ein viel besserer Mensch sei. Er
nimmt ganz unglaubliche Quantitäten von narkotischen Mitteln. Er hatte
schon einmal in selbstmörderischer Absicht 10 g Veronal genommen und nur
erzielt, daß er 48 Stunden lang wie erschlagen schlief und dann ohne Schädi-
gung des Organismus erwachte. Er schläft täglich bis 11 oder 12 vormittags,
mitunter bis zum Nachmittag und ist dann noch immer etwas schlaftrunken.
Er ist jetzt strenger Alkoholabstinent.' Er hatte schon einige Male im
Rausche große Dummheiten angestellt. Einmal attackierte er einen Offizier in
einem Nachtlokale, wollte ihn umarmen, küssen und machte ihm verschiedene
Anträge, die ihm einen Hinauswurf eintrugen. Auch kam es zu schweren
Rauf bändeln, die ihn mit der Polizei in Konflikt brachten. Er gab seinem
Vater das Ehrenwort, nicht mehr zu trinken, weil er in eine Alkoholent-
ziehungsanstalt gebracht werden sollte. Dieses Ehrenwort brach er nur einmal,
begann aber die verschiedenen narkotischen Mittel zu nehmen. Während eines
sechsmonatlichen Aufenthaltes in einem Sanatorium erholte er sich vollkom-
men und gewöhnte sich die narkotischen Mittel ab. Einen Monat nach dem
Verlassen des Sanatoriums erlag er wieder dem Drange, Schlafmittel zu
nehmen.
Er ist ein auffallend schöner, sehr kräftiger Mann, der viel Glück bei
Frauen hat. Er blieb aber keiner längere Zeit treu, nur seiner letzten Freundin.
Diese habe er wirklich geliebt und liebe sie noch heute. Er würde sie heiraten,
Avenn er sie erhalten könnte.
Er leidet immer unter Eifersucht, und zwar unter einer typischen Form
der Vergangenheitseifersucht, die wir bei dem Beispiele des Künstlers Nr. 78
bereits kennen gelernt haben. Er läßt sich immer wieder die Szenen erzählen,
in denen seine Freundinnen verführt wurden. Besonders die Szene der De-
floration muß er auf das genaueste wiedererleben können. Er gerät dadurch in
hochgradige sexuelle Erregung. Nur unter diesen Umständen kann er bei
Frauen Orgasmus erzielen. Sonst kommt es vor, daß er eine halbe Stunde lang
koitiert, ohne daß Ejakulation eintritt.1)
Schließlich erzwingt er die Ejakulation und den Orgasmus, wenn die
Frau die Friktion des Penis mit der Hand besorgt. Diese Art von Sexual-
befriedigung läßt auf irgend ein Erlebnis aus der Jugend schließen, bei
dem diese Art gewählt wurde. Zuerst gesteht er, daß er im Alter von 17 Jahren
ein Verhältnis mit einem Jungen hatte, der ihn auf diese Weise befriedigte.
Noch frühere Szenen aus der Kindheit tauchen auf. Immer wieder handelt es
sich um Szenen mit Knaben. Jetzt will er von homosexuellen Tendenzen nichts
wissen. Er habe sich mit 17 Jahren von seinem Freunde gewaltsam losgerissen
und begonnen, leidenschaftlich Frauen und Mädchen nachzujagen.
*) Eine bei Neurotikern nicht seltene Form der Sexualstürung, welche auf ein
anderes Sexualziel schließen läßt. Vgl. Band IV „Die Störungen des Orgasmus".
412
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
In der Wahl seiner Liebesobjekte verrät sich seine latente Homo-
sexualität. Am häufigsten verführte er die Schwestern von Freunden, die ihm
gut gefielen. Ich konnte kein Verhältnis finden, bei dem nicht ein Mann eine
Rolle spielte. Wo dieser Mann nicht vorhanden war, wurde er herbeigeholt,
um die bestimmte, zu seiner Libidinisierung notwendige Konstellation zu er-
zielen. Sehr bezeichnend ist eines der letzten Beispiele der jüngsten Zeit.
Er lernte in einem Sanatorium eine junge Dame kennen, die bald seine
Geliebte wurde. In diesem Sanatorium befand sich auch einer seiner intimsten
Freunde. Er bat diesen Freund, sein Glück bei der Dame zu versuchen, er
wolle ihre Treue auf die Probe stellen. Der Freund weigerte sich. Er fürchtete
Zwistigkeiten mit seinem Freunde und das war ihm die Dame nicht wert. Nun
wählto unser. Patient einen anderen Weg, um seinen Freund mit der Dame
zu vereinigen. Er wettete mit ihm um eine hohe Summe, daß er dieses Mäd-
chen nicht werde erobern können. Der Freund ging auf die Wette ein und
konnte ihm schon nach drei Tagen mitteilen, daß er die Wette gewonnen
habe. 0. L. wollte nun einen sehr genauen Bericht von der Verführungsszene
haben, wurde so wütend, daß er den Freund hätte niederschießen können.
Als der Freund nach einigen Monaten wieder einmal eine andere Geliebte von
ihm besessen hatte, überfiel er ihn auf der Straße und hätte ihn erschlagen,
wenn ihn nicht andere Kameraden zurückgehalten hätten.
Er hat in Wien die sichere Gewißheit, daß dieser „verfluchte Kerl" auch
seine jetzige Geliebte, ein Mädchen, das er wirklich liebe, erobern werde.
Dann werde er aber in seine Heimat fahren und das Mädchen und den Freund
niederschießen. Diese Freundin hat einen Bruder, der in der Psychogenese
dieser Liebe eine große Bedeutung hat. Einmal erzählte ihm das Mädchen, wie
namenlos sie ihren Bruder liebe. Sie könne es verstehen, wenn sich eine
Schwester dem Bruder hingäbe. Nun verlangte er von ihr, daß sie mit dem
Bruder verkehren sollte, stellte aber eine unerläßliche Bedingung: Er müsse
Zeuge dieser Hingabe sein. Diese Phantasie wurde zur quälenden Zwangs-
vorstellung. Er quälte sie bei jeder Gelegenheit, sie möge ihm doch diesen
Wunsch erfüllen, er forderte den Bruder immer auf, zu kommen, wenn die
Schwester zugegen war. Einmal waren sie allein. Er brach sein Ehrenwort
und sie zechten um die Wette. Er wurde schwer berauscht, machte dem
Bruder seiner Geliebten eine feurige Liebeserklärung, forderte ihn auf, mit
ihm nach Hause zu gehen und ihm die Schwester zu ersetzen.
Seine Mutter war gestorben, als er 15 Jahre alt war. Der Vater nahm
sich eine junge Frau ins Haus, in die er sich verliebte. Zugleich haßte er
sie auch, weil er fürchtete, der Vater werde ihn zugunsten dieser Frau ent-
erben. Er hatte schon Pläne gemacht, diese Frau mit Gift aus der Welt zu
schaffen. Vollkommen unbewußt und am tiefsten verdrängt ist seine Liebe zum
Vater, den er quält und dem er sehr schwere Sorgen macht. Er stand im
Beginne einer großen Entwicklung, alle Lehrer prophezeiten, er werde einer
der größten Geigenkünstler der Welt. Sein erstes Konzert war ein beispiel-
loser Erfolg. Da brach die Neurose aus und er war mit seiner Kunst fertig.
Fertig wie mit seinem Leben.
Hinter der Neurose, deren Tendenz dahin geht, den armen Vater immer
wieder in Sorge zu versetzen, ihn zu kränken und ihn zu zwingen, sich mit
dem mißratenen Sohne zu beschäftigen, verbirgt sich eine leidenschaftliche
Liebe zum Vater, den er offen beschimpft, dem er 20 Seiten lange Briefe
schreibt, den er erschießen will, wenn er sein Erbe schmälern würde. Eine
Homosexualität und Paranoia- 413
Erinnerungsspur führt zu Kindheitsphantasien, die der geschilderten mit dem
Jungen entsprechen. Schließlich produziert er eine Erinnerung, die den Vater
schwer belastet. Auch der Vater war Trinker. . . .
Es hat den Anschein, als ob er diese Szene vergessen wollte. Seine Mord-
phantasien gehen gegen den Vater. Das tritt immer mehr zutage. Er wird
zum Kranken und Veronalisten, um kein Verbrechen zu begehen. Er fühlt
eich vom Vater verletzt und bei Seite geschoben. Seine wahnsinnige Ver-
schwendungssucht bringt ihn mit ihm in permanente Konflikte. Der Vater
droht, er werde ihm keine Schulden mehr bezahlen. Er müsse einmal das
teuere Leben aufgeben. Da bricht der Krieg aus. Er meldet sich unter den
ersten Freiwilligen, zeichnet 6ich mehrfach aus und findet schließlich in einem
Gefechte den Tod.
Ich habe im Kapitel „Homosexualität und Alkohol" auf die latente
Homosexualität der Trinker aufmerksam gemacht. Der bekannte Eifer-
suchtswahn der Alkoholiker findet nach diesen Darstellungen eine neue
Beleuchtung. Der Rausch ist dann gewissermaßen eine periodische arti-
fizielle Paranoia, bei der die Verfolgungsvorstellung in den Vordergrund
treten kann. In vielen Fällen ist sie sehr deutlich zu beobachten. In
dieser Hinsicht unterscheidet sich, der schwere Alkoholiker kaum vom
Paranoiker. Beide glauben an die Wahrhaftigkeit ihrer Wahngebilde.
Zwei Fälle von Eifersuchtswahn bei Alkoholikern mögen diese
lange Reihe von Krankheitsgeschichten beschließen:
Fall Nr. 83. Herr N. V., Hauptmann, hat mit 34 Jahren geheiratet und
ist jetzt zwei Jahre verheiratet. Seine Ehe ist von dem ersten Tage an un-
glücklich. Er hatte vorher nur mit Dirnen verkehrt und war bei diesen immer
sehr potent. Bei seiner Frau ist er impotent. Er ist darüber unglücklich und
tröstet sich bei Dirnen. Er begann zu trinken und im Rausche seine Frau
zu schlagen. Er beschimpfte sie dann, schalt sie Dirne und behauptete, sie
hätte mit allen Offizieren Verhältnisse. Während er vorher auch schon trank,
aber mit Maß, wird er jetzt ein ausgesprochener Potator, treibt sich in
Schenken herum und wird im Rausche mit Kellnern und Untergebenen sehr
freundlich, küßt sie und trinkt mit ihnen Bruderschaft. Er ist fest davon
überzeugt, daß seine Frau ihn betrügt, und verdächtigte sogar seinen Burschen,
den er im Rausche jämmerlich verprügelte.
Die Frau verließ den Mann und flüchtete zu ihren Eltern.
Das wirkte auf den Mann so deprimierend, daß er gänzlich geändert
und reuig nach einem dreimonatlichen Aufenthalte in einem Sanatorium
zurückkehrte und sie bewog, wieder mit ihm zu leben. Aber schon nach einigen
Wochen setzte die Eifersucht wieder ein. Diesmal bezichtigte er sie der un-
natürlichsten Verbrechen. Er warf ihr vor, daß sie sich von dem Hunde lecken
ließe und schoß das Tier nieder. Er bewachte sie eifersüchtig und verbot ihr
jeden Umgang. Schließlich entdeckte er, daß sie mit ihrem 15jährigen Bruder
Umgang pflege. Er schnitt aus dem Leintuch einen Fleck aus, der ihm als
Beweisstück ihrer Untreue galt. Er überfiel sie bei Nacht, würgte sie und er-
preßte ihr das Geständnis des Umganges mit dem Bruder. Sie flüchtete wieder
zu den Eltern, weigerte sich aber, ihren Mann dem Psychiater auszuliefern.
Sie wolle nicht die Ursache seiner Internierung sein!
414 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Mittlerweile machte der Wahn beim Kranken rapide Fortschritte. Er
betrank sich ganz exzessiv und provozierte einen Skandal vor dem Hause ihrer
Eltern. Er machte bei der Polizei die Anzeige, daß ihn seine Frau und sein
junger Schwager, mit dem sie in sträflichen Beziehungen stehe, durch vei-
dächtige Subjekte verfolgen ließen. Er machte aber aufmerksam, er werde den
Kerlen einen Denkzettel geben und den ersten, der ihm zu nahen wage, nieder-
schießen. Internierung. Delirium tremens. Exitus infolge interkurrenter Er-
krankung.
Hervorzuheben ist, daß der beschuldigte Schwager ein besonderer Lieb-
ling von ihm war, den er sehr gerne mit auf die Jagd nahm, der er leiden-
schaftlich fröhnte. In der Volltrunkenheit wollte er ihn immer umarmen
und liebkosen.
Eine Verbindung von Paranoia und Alkoholismus zeigt auch die
letzte der hier vorgeführten Beobachtungen:
Fall Nr. 84. Es handelt sich um eine nicht mehr junge Frau. Es ist
eine Großmutter von vielen Enkeln, die jetzt schon 54 Jahre alt ist und bis
vor einigen Jahren nicht eifersüchtig war. Wie ihr Mann mit ihr zu ver-
kehren aufhörte, faßte sie sofort die Idee, er müßte mit einem schönen
Mädchen ein Verhältnis haben, das vorher bei ihnen bedienstet war und das
Haus verlassen hatte. Sie hatte das Mädchen öfters in der Nähe des Hauses
gesehen und sich gewundert, daß es so schön aussah und so nett gekleidet
gewesen war. Das Mädchen war ihr überhaupt sehr lieb gewesen. Sie hatte
sogar geweint, als das brave Mädchen den Dienst kündigte. Nun quälte sie
ihren Mann, er müsse ein Verhältnis mit diesem Mädchen haben, sie wisse
es ganz bestimmt. Der Mann stellte das Verhältnis in Abrede, mußte aber
— von ihr gequält — zugeben, daß er sie einige Male auf der Gasse ge-
sehen und mit ihr gesprochen habe. Das war nun der Anlaß zu so argen
Eifersuchtsszenen, daß der Mann das Haus verließ und wochenlange ver-
reiste. Er wollte seine Ruhe haben und war energisch genug, dies durch-
zusetzen. Ja, er drohte sogar mit Scheidung.
Dio Frau begann zu trinken, und zwar am liebsten Liköre und aucii
gewöhnlichen Schnaps. Betrunken, pflegte sie sehr ordinär zu werden und
über. das Mädchen zu schimpfen. Sie sei eine Hure, man solle ihr die Kleidor
vom Leibe reißen. Sie. bedrohte den Schwiegersohn der jüngsten Tochter und
trug sich mit dem Gedanken, ihn mit Vitriol zu übergießen. Sie hatte auch
im Rausche den Drang, ihre jüngste Tochter aufzusuchen (offenbar um den
Schwiegersohn zu treffen!) und lief oft zum Bahnhof, stieg in verkehrte
Züge und machte allerlei Unsinn, so daß sie interniert werden mußte. Im
Sanatorium entwöhnte man sie leicht, sie zeigte keine Abstinenzerscheinungen,
aber sie rechnete sich täglich vor, was ihr Mann mit dem Mädchen mache.
Sie behauptete — wie fast alle Paranoiker — , sie habe telepathische Eigen-
schaften und fühle es auf die Distanz, daß ihr Mann jetzt mit dem Mädchen
zusammen sei. Das sei unumstößlich und davon werde sie kein Arzt abbringen.
Diese Behauptung hatte auch eine innere Wahrheit: Der Mann in ihr
war mit dem Mädchen beisammen, d.h. der Mann in ihr beschäftigte sich
fortwährend mit dem Mädchen. Sie hatte ja auch keinen anderen Gedanken
als das Mädchen. Es war so, als ob sie sich sagen wollte: Wenn ich ein
Mann wäre, ich würde mich in dieses Mädchen verlieben und würde sie keinen
Moment allein lassen. Sie müßte mir ganz zu eigen sein.
Homosexualität und Paranoia.
415
Nach der Hochzeit ihrer jüngsten Tochter war sie an einer Depression
erkrankt, in der schon die ersten Anfänge des Alkoholismus auftraten.
Sie hatte offenbar zwei homosexuelle Liebesobjekte, die sie identi-
fiziere: das Dienstmädchen und die jüngste Tochter. In der Tat kam
sie bald auf den Gedanken, daß ihr Mann mit der bewußten Tochter
sträflichen Umgang pflege. Sie machte sogar eine diesbezügliche Ein-
gabe an das Gericht und erbot sich, Beweise für diese Behauptung zu
erbringen. Ihr Mann wolle sie jetzt vergiften. Man habe ihr einen
Kaffee gebracht, der nach Arsenik gerochen habe.
So verschiebt sie die eigenen kriminellen Ideen auf die Umgebung.
Wir erkennen, daß sie trinken mußte, um das wilde Tier in sich zu be-
täuben, das seine Grausamkeit und seine atavistischen Regungen aus-
leben wollte. Die endgültige Internierung in einer Anstalt änderte
nichts an ihren Einstellungen. Sie schimpfte über den Mann, der sie im
Bunde mit dem verhaßten Schwiegersohn hatte einsperren lassen, um
sie zu verhindern, daß sie ihre bösen Streiche der ganzen Welt bekannt-
geben könne.
Wie nahe liegen in allen diesen Fällen die verbotenen Regungen
neben einander! Fast einförmig das gleiche Bild: Kriminalität, Homo-
sexualität und Inzest. Nach dem jahrelangen Zwange einer offiziellen
Monosexualität rächt sich die Unterdrückung durch das Manifestwerden
der Pansexualität und der Kriminalität in pathologischer Form. Denn
alle diese Krankengeschichten enthüllen den „Anderen" das zweite Ich,
den verdrängten Menschen.
Wir haben eine Menge Menschen kennen gelernt, die sich als
Opfer unserer mönosexuellen Kultur manifestiert haben. Die Mensch-
heit zahlt ihre Entwicklung zum Monosexualismus mit neurotischer
Homosexualität, mit allen Neurosen, mit Alkoholismus und Paranoia.
Doch wäre es verfehlt, die Kultur dafür anzuklagen und von einer
Änderung der Gesetzgebung und offiziellen Moral grundlegende Bes-
serungen zu erwarten. Sicherlich müssen alle Menschenfreunde kämpfen,
daß die moralische Ächtung und die legale Verfolgung der Homosexuel-
len abgeschafft und einer freieren Anschauung in der Frage aller Para-
philien vorgearbeitet wird. Allein wir dürfen nicht verkennen, daß es
sich um gewaltige soziale Kräfte, um Entwicklungstendenzen handelt,
welche über alle menschlichen Kräfte hinaus einem unbekannten höheren
Ziele zustreben. Die Entwicklung der Menschheit
geht eben vom Bisexualismus zum Monosexualis-
mus. Auch die „echte" Homosexualität ist in der
Form, wie wir sie heute überall finden, ein Be-
weis für diese Anschauung.
416
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Denn wäre die Homosexualität ein angeborener Zustand, wie es
Hirschfeld und Blüher annehmen, dann müßten sie den Typus der
Gesundheit darstellen, und es gäbe bei ihnen keine verdrängte Hetero-
sexualität, es gäbe keine Morphinisten, Alkoholisten und Dipsomanen1)
unter ihnen. Die Zahl mag allerdings nicht groß sein, das rührt aber
daher, daß die Homosexualität der Uranier schon ein Kompromiß dar-
stellt, einen Heilungsversuch der Natur und der Psyche, sich aus dem
unlöslichen bisexuellen Konflikt zu retten. Gerade der Umstand, daß
alle Neurotiker ßückschlagserscheinungen sind, spricht für die Theorie
von der Entwicklung der Menschheit zur Monosexualität. Der Neuro-
tiker könnte als Bisexueller ein früheres Entwicklungsstadium repräsen-
tieren, wenn es die Kulturmoral nicht verhindern würde. Wo er es ver-
sucht (wie z. B. der Dichter Oskar Wilde) , geht er an der allgemeinen
Ächtung zugrunde, er stirbt den bürgerlichen Tod. Die Homosexualität
geht deshalb selten in eine Paranoia über, in der die HeteroSexualität
zutage tritt, wie es umgekehrt beim Heterosexuellen mit der verdräng-
ten Homosexualität der Fall ist. Das beweist, daß die Homosexualität
schon die Neurose, schon eine Vorstufe der Psychose der Paranoia ist.
Denn bricht beim Homosexuellen die Paranoia aus, dann lebt er in
*) Freilich führt Hirschfeld diese krankhafte Neigung auf die soziale Ächtuug
der Homosexuellen zurück. Das ist meiner Ansicht nach eine willkürliche Annahme.
Auch dio Neigung der Homosexuellen zu Affektstörungen, ihre gesteigerte Sensibilität,
ihre 6chmerzbare Reizbarkeit, ihre endogene Verstimmung ist nur ein Beweis, daß alle
Homosexuellen schwere Neurotiker sind. Hirschfeld mag die akuten Ausbrüche von
Affektpsychosen bei Homosexuellen auf die Wirkung der Konflikte zurückführen. Aber
unmöglich ist es, diese gesteigerte Affektivität auf den femininen Einschlag der Urninge
zu beziehen. Wie wären dann die ebenso unangenehmen Störungen der Urlinden, die
sich durch einen 6tark maskulinen Einschlag auszeichnen, zu erklären? Hirschfeld
verweist auf die Angstzustände der Homosexuellen (S. 916) und sagt wörtlich: „Gerade
dieser Zustand findet sich vielfach auch bei Homosexuellen, die vom Haus aus
psychisch völlig intakt sind." Nein — 6ie sind eben vom Haus aus nicht psychiscli
intakt, sondern alle durch die Verdrängung der Heterosexualität schwer neurotisch.
Die Oberfläche kann täuschen und mancher Mann, der äußerlich das Bild der Ge-
sundheit bietet, eine ausgeglichene Natur scheint, kämpft innerlich mit einer schweren
Neurose. . . Übrigens hebt Hirschfeld auch die Disposition der Homosexuellen zu Ver-
folgungswahn und Beziehungsvorstellungen hervor. Von den homosexuellen Frauen er-
zählt Hirschfeld: „Namentlich homosexuelle Frauen werden mit der Zeit durch die
ihnen wider ihren Willen auferlegte Erfüllung ehelicher Pflichten sehr nervös und
leiden, abgesehen von Angstzuständen, an schweren Depressionen." . . Woher weiß nun
Hirschfeld, daß diese Depressionen von der Erfüllung der ehelichen Pflichten stammen?
Ich kenne homosexuelle Frauen, welche geschieden sind und noch schwerer leiden, ich
kenne homosexuelle Jungfrauen, welche ebenso neurotisch sind wie die Frauen und ron
schweren Depressionen geplagt werden. Alle diese Momente beweisen, daß der Homo-
sexuelle seine Monosexualität ebenso teuer bezahlt wie der neurotische monosexuell
Heterosexuelle.
Homosexualität und Paranoia. 417
dem Wahne, dem entgegengesetzten Geschlechte anzugehören, und kann
auch so weit kommen, daß er seine Genitalien nicht mehr sieht und es
fühlt, daß er sich verwandelt hat. Die Paranoia ergänzt dann noch
physisch, was sich seelisch schon in ihm vollzogen hat. Der Wunsch
des männlichen Homosexuellen: Ich will ein Weib sein! geht in der
Paranoia in Erfüllung. Er hat dann tausend Beweise, daß er ein Weib
ist. Solche Fälle sind zahlreich beschrieben worden, besonders von
Krafft-Ebing, der sie als „Metamorphosis sexualis paranoica" be-
zeichnet. Solche Menschen bilden sich ein, daß sie eine Periode haben,
weil sie alle vier Wochen aus der Nase bluten (kommt auch bei nicht
paranoischen Urningen vor!), es gehen ihnen unten Molimina durch
fünf Tage zur Vollmondzeit ab. So erzählt der Patient von Krafft-
Ebing (Beobachtung 134, S. 245) : „Alle 4 Wochen, zur Vollmondzeit,
habe ich 5 Tage lang alle Molimina wie eine Frau, körperlich und
geistig, nur daß ich nicht blute (!), während ich ein Gefühl von Ab-
gang der Flüssigkeit, ein Gefühl von Geschwollensein der Genitalien
und des Unterleibes (innen) habe; eine sehr angenehme Zeit, besonders
wenn nachher und später in ein paar Tagen das physiologische Gefühl
der Begattungsbedürftigkeit kommt mit seiner ganzen, das Weib durch-
dringenden Kraft." Ein anderer Paranoiker behauptet, er sei von jeher
ein Weib, ein französischer Quäkerkünstler habe ihn in der Jugend
durch Zauberei mit männlichen Genitalien versehen und durch Salben
das Entstehen des' Busens verhindert. Ein Mädchen meiner Beobachtung
fühlte den Penis, wies auf die Barthaare im Gesichte hin und meinte,
sie sei nur ein verhexter Mann. Sie fühle aber, wie ihr der Penis im
Innern wachse und allmählich herauskomme.
Daß aber auch die Verdrängung der Heterosexualität für den
Homosexuellen schwere Folgen haben kann, ihn zum Alkoholismus
drängt, einen Verfolgungswahn erzeugt, beweisen die nachfolgenden
Zeilen:
„Ich habe bei Homosexuellen Zustände von Präkordialangst mit
starken vasomotorischen Störungen gesehen, wie sie furchtbarer schwer-
lich gedacht werden können. Neben der Angstneurose scheint mir als
Abstinenzleiden besonders gelegentlich eine Art Verfolgungs-
wahn .vorzukommen, bei dem es oft schwer zu unterscheiden
ist, ob er noch in das Gebiet nervöser Zwangsvorstellungen öder schon
in das der Paranoia fällt. Solche Personen bilden sich ein, daß jedermann
ihnen ihre Homosexualität anmerke, die Leute beobachteten ihre Hände
und lächelten spöttisch, daß sie keinen Verlobungs- und Trauring
trügen, im Restaurant zischelte man an den Nachbartischen „verständ-
nisinnig" über den „eingefleischten Junggesellen", in den Hotels merk-
ten Portiers und Kellner gleich, „was los sei", und behandelten sie
Stekel, Störungen doa Trieb- und Affoktlebens. II. 2. Aufl. 27
418
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
verächtlicher oder vertraulicher als die übrigen Gäste, auf der Straße
fielen Bemerkungen über ihren trippelnden Gang, kurz überall fühlen
sie sich beobachtet, geniert; manche erröten fortwährend, andere werden
krankhaft mißtrauisch und menschenscheu, wieder andere — und das
ist das Schlimmste — flüchten sich zum Alkohol. Überzeugt von der
Richtigkeit ihrer Wahrnehmungen und auch dem Arzte gegenüber
refraktär, entschließen sich Patienten dieser Art meist schwer und
spät, zum Arzt zu gehen, dem sie sich dann häufig erst unter falschem
Namen vorstellen. Haben diese Verfolgungsideen bereits sehr lange
gedauert, so sind solche Zustände kaum noch zu beseitigen, jedenfalls
erfordern sie die größte Mühe und Geduld des Arztes, sowie das Auf-
gebot eines ganzen Heilapparates, vor allem des psycho- und hydro-
therapeutischen, wogegen man mit Medikamenten, für deren Verordnung
eine ziemliche Verlockung besteht, recht vorsichtig sein soll." (Hirsch-
feld 1. c. S. 455.)
Aus dieser Beobachtung von Hirschfeld erheUt das tiefe Schuld-
bewußtsein der Homosexuellen, das aber nicht auf ihre Homosexualität,
sondern auf ihre Kriminalität zurückzuführen ist. Vielleicht ist diese
Verlotung von Homosexua!ität und Kriminalität, von pathologischer
Eigenliebe und unterdrücktem Hasse, diese Unfähigkeit zu einer wirk-
lichen Liebe, die Ursache, daß die Menschen sich gegen die Mono-
sexualität sträuben und daß unzählige Opfer fallen, unzählige Menschen
durch raffinierte seelische Martern zugrunde gehen. So wie wir nicht
mehr die Götter der Urzeit haben — Männer mit weiblichen Busen und
Frauen mit einem gewaltigen Phallus — so wie wir eine Teilung der
Gottheit in drei Komponenten (Mann, Weib, Kind) vorgenommen
haben, die vereint eine Kraft darstellen, so müssen wir uns auch nur für
ein Liebes-Ideal entscheiden. Das ist der Monotheismus
der Sexualität, der noch viel starrer und
strenger ist als der religiöse. „Lieben heißt
seinen Gott finden" habe ich definiert. Es s o 1-
len aber keine anderen Götter sein neben diesem
trotte. Dieser Kampf um den einzigen Gott der
Liebe schließt alle erotischen Tragödien unserer
Kultur in sich ein: den Kampf um die Treue und
um die Monogamie, die sich vorläufig als
äußerstes Ziel der kulturellen sexuellen Leit-
linie zeigen. Zwischen dem Pansexualismus des
Urmenschen und der strengen Monogamie und
der Monosexualität des Kulturmenschen liegen
alle Entwicklungsmöglichkeiten und Hemmungen,
Homosexualität und Paranoia.
419
welche sich als P airapathien, Paraphilien, Trunk-
sucht, Paralogien usw. äußern.
Die Analyse der Eifersucht hat uns deutlich gezeigt, daß mit
der verdrängten Homosexualität auch die Kriminalität zum Vorschein
kommt. Die Kranken, von denen wir erzählt haben, schlagen, sie tragen
Revolver bei sich, sie drohen mit Totschlag. Mancher Mord aus Eifer-
sucht geht auf die Triebkraft der Kriminalität zurück. Es ist ja zu
bedenken, daß die Verdrängung die Homosexualität ebenso wie die
anderen paraphilen Triebe und die Kriminalität unterdrückt. Bricht
nun die verdrängte Homosexualität aus der Versenkung des Unbe-
wußten hervor, so reißt sie auch alle verdrängten Regungen des Hasses
mit sich. Mit dem verdrängten Homosexuellen meldet sich auch der
verdrängte Verbrecher. Diese Erscheinung macht uns die furchtbaren
Verbrechen verständlich, welche die Paranoiker begehen, wenn sie sich
verfolgt und bedroht fühlen. Sie projizieren nicht nur die Verfolgung
durch homosexuelle Ideen auf die Umgebung, sondern auch ihre eigenen
kriminellen Impulse. Man will sie morden . . . das heißt eben: Ich
will morden und deshalb nehme ich an, daß der andere mich er-
morden will.
Sieht man aber in der, Homosexualität ein archaisches Symptom,
eine Rückschlagserscheinung, so wird man auch verstehen, daß der
Inzest in allen Formen bei dem Homosexuellen eine größere Rollo
spielen muß als bei dem Normalen. Der Urning steht zeitlich dem
antiken Ödipus und die Urlinde der antiken Elektra näher als die
Normalmenschen. Auch die Herrschsucht muß sich in kräftigeren Zügen
nachweisen lassen. Zeigt doch die Unterdrückung der heterosexuellen
Komponente schon das Bestreben, Herr über sich zu werden und be-
weist doch diese einseitige Vergewaltigung den eigensinnigen Willen
zur Macht über sich selbst! In der Eifersucht bricht der Wille zur
Macht in heftigen Affekthandlungen hervor und zeigt die innigen Be-
ziehungen der Homosexualität zum Sadismus, die wir in den nächsten
Kapiteln ausführlich besprechen werden.
27*
Die Homosexualität.
XII.
Homosexualität und Sadismus.
Man mißversteht das Raubtier und den Raubmen-
schen (z.B. Cesare Borgia) gründlich, man mißversteht die
„Natur", so lange man noch nach einer „Krankhaftigkeit"
im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Untiere
und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen einge-
borenen „Hölle" : wie es bisher fast alle Moralisten se-
tan haben. ,T. , °
Jsietzsche.
Unsere Untersuchungen über das seelische Phänomen der Eifer-
sucht haben uns immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen
Homosexualität und Sadismus geführt, die wir schon bei Besprechung
der Abwehrreaktionen des Homosexuellen flüchtig erwähnt haben. Der
Nachweis der sadistischen Einstellung des Homosexuellen ist uns in
den meisten Fällen gelungen, bei denen wir danach geforscht haben.
Dies Verhalten ist so typisch, daß ich mich wundern muß, daß es nicht
früheren Beobachtern in seiner Gesetzmäßigkeit aufgefallen ist. Die
Häufigkeit abnormer sexueller Gelüste bei Homosexuellen wurde zwar
von vielen Ärzten hervorgehoben und zugunsten einer degenerativen
Anlage verwertet. Da sie aber nur auf die Mitteilungen angewiesen
waren, die- ihnen die Homosexuellen machten, und ihnen die Tiefenfor-
schung der psychologischen Analyse nicht zugänglich war, mußte ihnen
diese Gesetzmäßigkeit entgehen. Wir werden in dem nächsten Kapitel
aus einem ausführlich mitgeteilten Falle erst mit voller Deutlichkeit
ersehen, wie lückenhaft diese ersten Mitteilungen der Patienten sind.
Ich habe schon hervorgehoben, daß die Wahrheitsliebe der Homosexuel-
len von vielen Forschern ernstlich bestritten wird. Dazu kommt noch
der Umstand, daß die sadistischen Triebkräfte von den Neurotikem
bewußtseinsunfähig gemacht werden. Sie sind verdrängt und gehören
zu dem beharrlich übersehenen und beiseite gestellten Inventarium der
homosexuellen Psyche.
Nur in vereinzelten Fällen drängt sich der Sadismus übermächtig
in den Vordergrund des Bewußtseins und gibt dem paraphilen Krank-
Homosexualität und Sadismus. 421
heitsbilde die spezifische Färbung. Dann allerdings beschränkt sich der
Sadismus nicht allein auf das entgegengesetzte Geschlecht. Sexuelle
Lust und Grausamkeit sind unlösbar miteinander verlötet; die kultur-
feindlichen Triebe sind keiner sozialen Sublimierung fähig x) ; das
kranke Individuum bildet eine Gefahr für die Gesellschaft, gerät mit
den Gesetzen in Konflikt und endet im Zuchthause oder im Irrenhause.
Denn diese Fälle zeigen uns den Homosexuellen des Durchschnittes in
pathologischer Vergrößerung und Verzerrung.
In dieser Hinsicht bildet die nachstehende Beobachtung von
Fleischmann2) ein Paradigma.
Fall Nr. 85: Körperlich zeigt Pat. beginnende Basedowsche Er-
krankung. Seine Stimmung ist 'sehr, labil, er verfällt von einem Extrem m
das andere. Er ist argwöhnisch, sehr lügenhaft, sehr reizbar, schlug z. 13. m
Wut seinen Vater. Sein religiöses Gefühl ist nicht besonders ausgeprägt
In seinem ganzen Handeln macht sich eine große Willensschwäche und
Energielosigkeit bemerkbar. Seit dem 17. Jahre frönte Pat. zeitweise exzes-
siv dem Alkoholgenuß. Über sein sexuelles Leben ist folgendes zu erfahren:
Als Kind von 10 Jahren habe er in einem Buche eine Illustration, eine Prugel-
szene darstellend, gesehen und dabei ein eigenartiges Wollustgefühl verspürt.
Nun suchte er sich immer wieder diese Szene in Erinnerung zurückzurufen
wobei er sieh in die Rolle des Geprügelten hineindachte. Schon das Wort
„Peitschen" hatte für ihn etwas Aufregendes, Reizvolles. Pat ahnte schon
damals, daß in diesem Treiben etwas Anormales liege, und empfand dabei ein
drückendes Schuldgefühl. In dieser Zeit fuhr er einmal mit seiner Mutter
aufs Land. Sie fuhren an einem Teich vorbei, an dessen Ufer ein nackter
Mann stand, der badete. Mit dieser Szene beschäftigte er sich , gleichfa IIb
in seinen Gedanken monatelang. Mit 11 Jahren bat Pat. einmal seinen Vatei
er solle ihn züchtigen, er habe ein unreines Gewissen, erreichte jedoch seinen
Zweck hierbei nicht. Seine Phantasie bildete sich immer mehr aus Er lebte
sich mit Vorliebe in die Situation des Kapitän Dreyfus ein, wünschte dessen
Demütigung und Leiden selbst, zu erleben. Diese Phantasie beherrschte Pat
derart, daß seine Schulleistungen nachließen; er wurde zerstreut, hatte viel
Kopfschmerzen. Mit 15 Jahren ging er zur Realisation seiner Phantasie-
Szenen über: er entkleidete sich in seinem Zimmer, fesselte sich die Hände
und hängte sich an den Fesseln auf. Dabei beschwerte er seine frei herunter-
hängenden Beine mit Gewichten. Pat. hatte hierbei Orgasmus und Ejakula-
tion Einer Folterillustration, die er in einer illustrierten Weltgeschichte
entdeckte, entnahm er neue Methoden. Mit Vorliebe realisierte , er Kreuzi-
güngsszenen. Bei allen diesen Prozeduren stellte sich Pat. lebhaft vor, daß
er von Henkersknechten gemartert werde. In irgendeine Beziehung zum
eigenen oder zum anderen Geschlecht brachte er diese Selbstquälerei nie. Er
hatte geschlechtliche Befriedigung, ohne an ein Geschlecht zu denken. Der
Genuß kam im Orgasmus und in der Ejakulation zum Ausdrucke. Allmählich
*) Vgl. Stehel: Berufswahl und Neurose. Groß' Archiv, Bd. 19.
») Beiträge zur Lehre von der konträren Sexualempfindung. Zeitschr. f. Psych.
u.Neur., Bd. VII, 1911.
■
422 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
•ließ der Reiz dieser Selbstquälerei nach, seine Phantasie erlahmte, und Pat.
begann in der Masturbation sexuelle Befriedigung zu suchen. Er pflegte
hierbei den Penis zwischen den Beinen nach hinten zu ziehen und mit den
Oberschenkeln hin und her zu wetzen. Bei diesen Manipulationen tauchten
homosexuelle Regungen bei ihm auf. Er pflegte sich bei der Onanie die er
anfänglich alle vier Wochen einmal, später täglich, in letzter Zeit aucli
5-10mal l) hintereinander vornahm, die Oberschenkel eines jungen Knaben
vorzustellen. Anfänglich genügte diese Vorstellung ohne alle Nebengedanken
Spater ging er zur Vorstellung des Coitus intra femora über. Aber auch
sonst beherrschten ihn konträre Sexualempfindungen. So faßte er zu einem
jüngeren Kameraden eine so tiefe Neigung, daß er sich entschloß, die Klasse
freiwilhg zu wiederholen, nur um mit dem betreffenden Jungen in einer Klasse
sitzen zu können. Der Vater brachte ihn wegen Lügenhaftigkeit in eine Er-
ziehungsanstalt, wo er von 'seinen Kollegen sexuell aufgeklärt und zur
mutuellen Onanie verführt wurde. Er sei sich aber nicht bewußt gewesen,
daß er Unwahrheiten gesprochen habe, da er nicht mehr imstande, gewesen
sei rhantasieprodukte von Realitäten zu unterscheiden. Mit 17 Jahren
näherte sich Pat. einer Bauerntochter, erreichte auch, daß er bei ihr schlafen
durfte; zum Koitus ließ sie ihn aber nicht zu; Pat. glaubt, daß ihm der
Koitus damals einigen Genuß verschafft hätte. 2) In dieser Zeit mißbrauchte
.er emen seiner besten Freunde in der Phantasie täglich. Er stellte sich ihn
entblößt vor wobei er mit den Körperteilen abwechselte. Er tastete ihn
m seinen Gedanken ab und kam schließlich so weit, daß er sich in einen kom-
pletten homosexuellen Akt mit ihm, eine einerseits aktive Immissio penis
in anum, vorstellte; dabei masturbierte er nach der obenerwähnten Methode
Nach einem Jahre konnte er sich nicht mehr beherrschen; er überredete
•seinen Freund, sich vor ihm auszuziehen und sich bauchwärts auf ein Sofa
zu legen. Pat. .selbst legte sich auf ihn und versuchte die Immissio; diese
gelang ihm eines plötzlich aufgetretenen Ekelgefühls wegen nicht. Er
nahm Abstand davon, ejakulierte aber trotzdem ante portas; nachher
empfand er Scham. In der Folgezeit trennte sich Pat. nach einem Streit
von diesem Freunde. Es wurden jetzt die sadistischen Regungen wieder wach.
Er stellte sich Marterszenen vor, übernahm dabei die Rolle, die Qualen, die
dabei zur Anwendung kamen, zu bestimmen; die Ausführung derselben über-
ließ er den zu diesem Zwecke erdachten Personen. Mit Vorliebe wählte er
unter seinen jüngeren Kollegen seine Opfer. Pat. hatte sich 36 verschiedene
Folterqualen zurecht gedacht, für deren jede er ein schriftliches Zeichen
setzte. Durch einen Würfelwurf bestimmte er aus den geworfenen Augen die
zu quälende Person sowie die zur Anwendung kommenden Qualen, die
Marterinstrumente. So würfelte Pat. stundenlang. -
Hiermit operierte er zwei Jahre. Allmählich verlor das ganze System
den Reiz; seine Phantasie erlahmte; er gab es schließlich ganz auf. Mit
a) Ich hatte einen Soldaten in Beobachtung, der durch 3 Wochen angeblich
täglich 15mal (!) onanierte. Schwerer Hypochonder. Das Motiv scheint die Erzeugung
eines Leidens gewesen zu sein, um auf diese Weise nulitärfrei zu werden.
2) In der von Ziemcke mitgeteilten Krankengeschichte desselben Patienten lautet
die Episode: „Mit 17 Jahren der erßte Koitus mit einem Bauernmädchen mit Genuß
und ohne Störung." Ein Beweis, wie die heterosexuellen Episoden allmählich in der
Erinnerung korrigiert und zugunsten einer homosexuellen Anlage verändert werden
Homosexualität imd Sadismus.
423
18 Jahren versuchte Pat. zum zweiten Male einen normalen Koitus. Es kam
wohl zur Erektion, aber zur vorzeitigen Ejakulation ante portas. Bin
dritter Koitus mißlang wegen Trunkenheit. Er nahm wieder seine Zuflucht
/Air Onanie und stellte sich dabei die Unterschenkel junger Knaben vor; die-
selben bedeuteten für ihn einen Fetisch. Masochistische Regungen traten
nicht mehr auf; er schwelgte in homosexuellen Phantasien, Spater stellte
Pat sich den Coitus intra femora von Knaben vor. Er schloß i reundschaf t
mit einem 14jährigen Jungen, diesen küßte er ab und ließ sich von ihm an
die Genitalien greifen. Als er aber bemerkte, daß jener behaarte Unter-
schenkel hatte, kühlte sich seine Leidenschaft sofort ab. Pat. trug sich
in dieser Zeit (20 Jahre) mit Selbstmordgedanken, weil Bein Leben ein ver-
fehltes sei. Eine angestellte Psychanalyse regte ihn nur noch mehr aui,
anstatt ihn zu beruhigen. Wiederum schloß Pat. eine Freundschaft mit einem
14jährigen Knaben; da derselbe aber alle körperlichen Liebesbezeugungen
schroff abwies, blieb die' Zuneigung rein platonisch. Ab und zu half sich Pat.
mit Onanie, wobei er sich den Coitus intra femora seines Freundes vorstellte.
Es traten wieder sadistische Neigungen auf. Pat. wurde immer erregter,
bestellte einen Knaben unter einem nichtigen Vorwande zu sich, mißhandelte
ihn in raffiniertester Weise, hängte ihn z. B. mit auf den Rücken zusammen-
gebogenen Händen auf, schlug ihn mit einem Rohrstock auf das Gesäß und
die Oberschenkel; für jeden Schlag erhielt der Knabe Geld. Infolge dieser
Affäre kam Pat. in die Klinik.1)
In der psychologischen Analyse dieses Falles bemerkt Fleisch-
mann, der besonders die Bedeutung des Traumas hervorhebt und der
Onanie eine verhängnisvolle Rolle in der Psychogenese dieser Para-
philie zuschreibt: „Aus diesem Falle geht mit Klarheit hervor, daß alle
*} Ziemcke schildert diese Begebenheit: „Gegen Ende seiner Studienzeit in Kiol
nahm er sich eines Nachmittags einen 12jährigen Jungen von der Straße in seine
Wohnung, dem er den Auftrag gab, Bücher für ihn fortzubringen. Als der Junge zurück-
kam fragte er ihn, ob er einige Versuche mit ihm machen dürfe, klopfte ihm zunächst
auf 'die Kniescheiben, ließ ihn dann die Strümpfe ausziehen und mit entblößten Knien
auf der Kante der untersten Kommodenschublade knien; sodann mußte sich der Junge
mit entblößtem Oberkörper und ausgestreckten Armen hinstellen, während er ihn mit
einer Schreibfeder in die Achselhöhlen und unter die Fingernägel stach. Weiter fesselte
er ihm die Hände auf den Rücken und hing ihn an einen Türhaken in Mannshöhe auf,
der aber riß. Nunmehr zog er den Jungen, der sich aufs Sofa legen mußte, die Hosen
herunter, so daß Gesäß und Oberschenkel frei waren und fragte ihn, ob er 25 Schläge
mit dem Rohrstock aushalten könne, er solle für jeden Schlag 5 Pfennig erhalten.
Als der Junge nach dem 43. Schlag die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, wurde
die Belohnung auf 10 Pfennig erhöht, worauf dieser noch 5 Schläge aushielt. Wie
festgestellt war, hatte der Täter die Nacht vorher bis zum frühen Morgen stark ge-
kneipt und nach eigener Angabe am nächsten Tage starke Unruhe und Herzklopfen
gehabt Er gab noch an, er habe unter einem absoluten Zwange gehandelt, er erinnere
.ich zwar noch ganz deutlich an die Einzelheiten des Vorganges, aber alles sei wie im
Taumel geschehen. Nach der Tat habe er das Gefühl der Erleichterung gehabt, die
Erregung und Unruhe habe sich bald gelegt. Die Untersuchung ergab auf
körperlichem Gebiet keine Abweichungen und^ ebensowenig
gröbere Defekte auf intellektuellem Gebiet.
424 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
sexuellen Anomalien nur in ihren Sexualobjekten und Sexualzielen
verschieden sind, in den Bedingungen ihrer Entstehung aber als voll-
kommen gleichwertig zu betrachten sind."
Was aber diesem Falle eine besondere Bedeutung gibt, ist die nie
fehlende Verbindung von Sadismus mit Masochismus, die noch so
wenigen Sexualforschern als bipolarer Ausdruck einer und derselben
Kraft aufgefallen ist; ferner das tiefe Schuldgefühl, das keinem Maso-
chisten fehlt; ferner die Abwehrreaktionen gegen die homosexuellen
Regungen: Der Ekel vor der Immissio penis in anum und die unange-
nehmen Empfindungen, als er die Behaarung des Knaben erblickte. '
Ferner zeigt uns dieser interessante Kranke die überragende Be-
deutung des Vaters in der Psychogenese der Homosexualität und die
Wiederholung der „spezifischen Szene". Mit llJahren bat er seinen
Vater, ihn zu züchtigen, weil er sich schuldig fühlte. Mit 25 Jahren
führt er diese Züchtigung an einem 12jährigen Jungen in raffinierter.
Weise aus. Man muß schon seelenblind sein, um nicht zu erkennen,
daß er den Vater spielt, der seinen Sohn martert. Die Entstehung dieser
Einstellung könnte man sich ungefähr folgendermaßen rekonstruieren.
Seine primäre Phantasie war wohl durch den Wunsch bedingt, der
Vater möge mit ihm zärtlich sein. Er wollte dem Vater die Mutter er-
setzen. (Coitus inter femora!) Wahrscheinlich Eifersuchtsgedanken
gegen die Mutter, Rachegedanken gegen den Vater aus verschmähter
Liebe; aus diesen Gedankensünden entsprang sein Schuldbewußtsein,
das sich im Masochismus äußerte. Denn wie ich in den späteren
Bänden 2) dieses Werkes ausführen werde, ist der Sadismus immer die
primäre Einstellung, die sich infolge von Schuldbewußtsein in Maso-
chismus konvertiert oder sich mit ihm kombiniert.
Ich möchte noch auf die Bemerkung von Fleischmann zurück-
kommen, daß den Patienten die Psychanalyse nur verwirrte und nicht
heilte. Es geht unbedingt nicht an, daß alle Mißerfolge der Psych-
analyse der Methode angekreidet werden. Die Psychanalyse ist eine sehr
schwere Kunst und wird immer nur wenigen Auserwählten zugänglich
sein. Nicht alles, was den Namen Psychanalyse führt, ist es in Wirklich-
keit. Oft lassen sich die Patienten einige Tage behandeln, verlassen dann
den Arzt und behaupten, die Psychanalyse (die einige Monate hätte
dauern sollen!) hätte keinen Erfolg gehabt.2) Eine Analyse des vorher-
*) Band VII der Störungen des Trieb- und Affektlebens: „Sadismus und Maso-
chismus".
s) Im Verein der Ärzte in Odessa wurde einmal ein Kollega vorgestellt, den ich
angeblich erfolglos behandelt hätte. Er litt an Zwangsvorstellungen schwerster Art und
stand eine Woche in meiner Behandlung. Ich hatte drei Monate vorgeschlagen. Nichts-
destoweniger wurde er als Beweis von der Wertlosigkeit der Psychanalyse vorgefülirt.
*
Homosexualität und Sadismus. 425
gehenden Falles hätte gewiß zu einer Vertiefung der psychologischen
Analyse und zu neuen Erkenntnissen geführt.
Sicherlich können während einer psychanalytischen Behandlung
verschiedene sexuelle verdrängte Einstellungen manifest werden. Sie
müssen es sogar, können aber mit Hilfe des Arztes erledigt und über-
wunden werden.
Zum Thema „Homosexualität und Sadismus" gehört der nachfol-
gende Bericht über einen lesbischen Lustmord, den ich dem trefflichen
Werke von Kratter „Gerichtsärztliche Praxis" (Verlag Ferd. Enke,
1919, Bd. II, S. 38) entnehme.
Lesbischer Lustmord. Abgebissene Na'se.
„In der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1897 spielte sich in einem
Bordell in Graz ein aufsehenerregendes Ereignis ab. Die daselbst als
Küchen- und Stubenmädchen bedienstete M. 0. wurde von ihrer Dienst-
geberin, der Bordellinhaberin, durch zahlreiche Messerstiche mit einem
langen Küchenmesser in Brust und Bauch ermordet. Die absolut töd-
lichen Verwundungen der Lunge, des Herzens und der Leber sollen hier
nicht weiter erörtert werden. Nur das Motiv der Tat erscheint mir in
diesem Falle einzigartig.
Die Täterin stand, wie die Erhebungen feststellten, in sehr innigen
geschlechtlichen Beziehungen zu ihrer Bediensteten, der Ermordeten. Oft
schloß sie sich " stundenlang mit ihr ein, oft schlief das Dienstmädchen
die ganze Nacht bei ihrer Herrin. Dieses Verhältnis war allen Prosti-
tuierten des Hauses wohlbekannt. Die M. 0. war als Dienstbote des
Hauses nicht auch Freimädchen, im Gegenteil, männlicher Verkehr
war ihr strengstens untersagt; sie war ausschließlich die Geliebte ihrer
Herrin.
An dem Tage der Ermordung war die M. 0. von einem achttägigen
Urlaub, den sie zum Besuche ihrer Angehörigen erhalten hatte, zurück-
gekehrt. Die Frau empfing sie schon in sehr erregter Stimmung. Schon
während der Abwesenheit der M. 0. war sie sehr aufgeregt gewesen und
hatte Eil'ersuchtsgedanken geäußert. Sie war von der Besorgnis gequält,
die M. 0. würde ihr Fernsein vom Hause zu geschlechtlichem Verkehr
mit Männern benützen. Bald nach der Ankunft der M. 0. schloß sich
die Dien'stgeberin mit ihr im Schlafzimmer ein. Es waren etwa
l1/» Stunden vergangen, da hörten die im Hause verteilten Freimädchen
plötzlich einen gellenden Schrei, der aus dem Schlafzimmer der Hausfrau
drang, darauf Lärm und Hilferufe. Sie liefen erschreckt zusammen und
versuchten die versperrte Türe zu öffnen, was nicht gelang. Plötzlich
wurde sie von innen aufgerissen und die blutüberströmte und nur mit
/
Zufällig war in der Sitzung Kollega Dr. W. anwesend, der die Tatsache kannte, daß
die vermeintliche Analyse nur eine Woche gedauert hatte. Er konnte die Angelegenheit
gleich berichtigen. Nach einigen Wochen begab sich der charaktervolle kranke Arzt
in die Behandlung des Dr. W. . . .
426 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
einem Hemde bekleidete M. 0. stürzte heraus, gefolgt von der sieh wie
toll gebärdenden Hausfrau, die ein langes geschliffenes Küchenmesser
schwang und auf die Fliehende zustach. Diese floh nach dem Hofe, wo
sie von der Angreiferin erreicht noch mehrere Stiche erhielt, bis sie
leblos zusammenbrach. Dies spielte sich so rasch ab, daß die selbst
zu Tode erschrockenen Mädchen gar nicht Zeit fanden, etwa der Wüten-
den in den Arm zu fallen.
Eine Verletzung ist nun bemerkenswert und gibt der grauenvollen
Tat die besondere Signatur: die Nase war abgebissen. Dies geschah
zweifellos, als die beiden noch im Bette lagen oder als sich die M. 0.
zum Weggehen anschickte, jedenfalls als erster Angriff, der den gel-
lenden Aufschrei der M. 0. verursacht hatte. Die abgebissene Nasen-
spitze wurde von der bald erschienenen Gerichtskommission in einer Ecke
des Zimmers vorgefunden, wohin sie gespuckt worden war.
An sich schon ist die ungemein seltene Verletzung interessant.
Die Wundränder sind leicht gequetscht, sonst ist die Abtrennung so
scharf, daß man fast an einen Schnitt denken könnte. Die Knorpel der
Nasenflügel sind ausgerissen (nicht abgebissen). Wem aber die psycho-
logischen Zusammenhänge gegenwärtig sind, die zwischen Wollust und
Grausamkeit bestehen, dem bedeutet der Fall mehr als eine seltene Biß-
verletzung der Nase. Es liegt zur Grausamkeit gesteigerte potenzierte
Wollust vor. Der leidenschaftliche Kuß wird zum wahnsinnig wilden
, Biß, die unstillbare Geschlechtsgier zur Mordlust. Höchstgradig ge-
steigerte Wollust des Weibes ist Nymphomanie. Die heterosexuelle
Nymphomane ist naturnotwendig Masochistin, sie wirft sich jedem Manne '
schamlos hin; die homosexuelle ebenso zwingende Sadistin, die Grau-
samkeitsakte am Weibe ausführt, wie sonst nur der sadistische Mann.
Ihr Angriffsziel kann nur das Weib sein, wenn ihre Homosexualität
echt ist. Unser Fall ist die Probe aufs Exempel. Es ist der ins Weib-
liche übersetzte Lustmord, der psychologisch nur auf solcher Basis
denkbar und möglich ist.
Übrigens ist unsere Lustmörderin als geisteskrank erkannt und
der Irrenanstalt übergeben worden, wo sie nach nicht allzu langer
Zeit an Paralyse zugrunde ging. Es hatte sich demnach wohl um eine
der bekannten manischen Explosionen im Verlaufe der Paralyse ge-
handelt.
Es ist mir fraglich, ob Kratter recht hat, wenn er der Urlinde
immer eine sadistische Einstellung zum gleichgeschlechtlichen Partner
vindiziert. Denn es gibt auch passive Urlinden, die den Frauen gegen-,
über immer die Unterliegende spielen und sich ihr ganz ergeben,
während sie dem Manne gegenüber sadistisch eingestellt sind. Ja, ich
habe bei Urlinden fast immer eine sadistische Einstellung gegen den
Mann konstatieren können. In einem von mir nicht gänzlich zu Ende
analysierten Falle bestand ein deutlicher Kastrationskomplex. (Das
Abbeißen der Nase in dem Falle von Kratter könnte der symbolische
Ausdruck der Kastration sein.)
Homosexualität und Sadismus. 427
Dem gleichen Trugschluß wie Kratter erliegt auch Otto Groß,
der in seinem Aufsatze „Über Konflikt und Beziehung" x) zum Schlüsse
kommt, daß sich für beide Geschlechter verschiedene, typische Kräfte-
paare ausbilden: „Beim Mann heterosexueller Sadismus und passive
Homosexualität, bei der Frau heterosexueller Masochismus und aktive
Homosexualität." Ich bedauere, daß Groß mich schlecht verstanden hat.
Denn es ist ganz gleichgültig, ob der Urning oder die Urlinde sich als
Homosexuelle aktiv oder passiv einstellen. Der Homosexuelle kann dem
Weibe gegenüber sadistisch und trotzdem als Homosexueller immer
aktiv auftreten, ja auch dem Manne gegenüber sadistisch sein, wie wir
bald sehen werden. Die Schlußfolgerungen des genialen Otto Groß
sind leider nicht durch analytische Erfahrung gewonnen worden. Sie
sind Spekulationen, intuitiv erfaßt und geistreich durchdacht, sie
bleiben aber immer Spekulationen.
Wenden wir uns wieder der Analyse von homosexuellen Sadisten zu.
Der nächste Fall zeigt uns das Manifest wer den einer latenten
Homosexualität nach einigen analytischen Behandlungen.
Fall Nr. 86. Herr Delta, Student der Medizin, 24 Jahre, erblich nicht
belastet, körperlich vollkommen gesund, leidet an Depressionen und Unfähig-
keit zur Arbeit. Er teilt das Wichtigste Seiner Anamnese und seine letzten
Erlebnisse in einem Briefe mit:
„Ich bin seit meiner frühesten Kindheit von außerordentlicher Sinn-
lichkeit gewesen. Bei uns war es Sitte oder vielmehr Unsitte, daß wir
Kinder in der Früh zu den Eltern ins Bett kamen. Ich natürlich immer bei
der Mutter, während sich meine Schwestern mit Vorliebe beim Vater auf-
hielten. Auch wir Geschwister untereinander besuchten uns, ich habe bei
dieser Gelegenheit immer versucht, speziell bei meiner Schwester N., die schon
damals Verheiratet war, mit dem Gesichte unter die Bettdecke zu gelangen
in der offenbaren Absicht, einen Kunnilingus auszuführen. Warum ich dies
damals nur bei N. tat, ist mir nicht genug klar, ich glaube deshalb, weil sie
mir entgegenkam und solche Praktiken doch nur gelingen können, wenn die
Partnerin wenigstens im Unbewußten darauf eingeht. Dies geschah im Alter
von 5 Jahren. Übrigens habe ich im Alter von 13 Jahren bei meiner
Schwester B., während sie schlief, einen Kunnilingus ausgeführt. Überhaupt
spielten diese Phantasien bei mir eine große Rolle in meinem späteren Leben,
indem sich auf' Grund derselben eine starke Schweißsekretion an den Hand-
flächen bildete, die aber im Momente, wo ich mir diese Phantasien bewußt
machte, zum Teile verschwand. Außerordentlich erregend wirkten auf mich
die Hühnerschlachtungen durch die Köchin. Wenn die Köchin das Huhn
zwischen die Beine in' die Genitalgegend nahm und es so schlachtete, konnte
sie in mir einen wahren Orgasmus hervorrufen. Ich habe dies nachzuahmen
*) D r e i Aufsätze über den inneren Konflikt. Abhandlungen
aus dem Gebiete der Sexualforschung, Bd. II, H. 3, Bonn, Marcus & Weber, 1920.
428
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
versucht, indem ich Fliegen fing, sie durch Anpressen an die Schamgegend
oder den Penis tötete oder im Urin ertränkte. Mein Verhältnis zu Freunden,
Mitschülern usw. war auch äußerst merkwürdig. Den intimsten Verkehr
pflog ich mit Proletarierkindern, während ich mit Kindern meiner Gesell-
schaftsklasse wohl Freundschaften schloß, mich aber niemals mit ihnen innig
befreunden konnte; die Proletarierkinder gaben sich mir eben oft zu homo-
sexuellen Akten her, was ich von den andern nicht zu fordern wagte. Ein
Greislersohn ist mir in Erinnerung, mit dem ich Versuche eines Coitus in os
machte. Ein Traum ist mir aus meiner Kinderzeit in Erinnerung geblieben.
Im Hofe unseres Hauses geht eine fürchterliche Metzelei vor sieh, an der sich
meine Schwester W. mit einem Mann beteiligt. Ich werde von den beiden
verfolgt, zu Boden geworfen und durch einen Schlag gegen die Stirne getötet.
Ich will nur noch bemerken, daß ich mir das Töten in der Weise bildlich
vorstellte, daß der Tötende sich dem zu Tötenden rittlings auf den Mund
setzte. So haben wenigstens wir Kameraden uns gegenseitig „getötet".
Gleichaltrige Mädchen waren mir ein Greuel, während reifere Mädchen und
Frauen Gegenstand meiner größten, leider nur platonischen Verehrung
waren. In der Volksschule verliebte ich mich in jede strenge Lehrerin,
einmal gleich in zwei. Ich wünschte von diesen beiden gestraft zu werden,
und zwar auf eine ganz eigene Art. Ich sollte von den beiden ins Bett ge-
nommen und zu „Tode" gedrückt werden1), selbstverständlich mit den
Genitalien. Auch die Immictio in o's durch ein Weib war in meiner Phantasie
eine bei mir sehr beliebte Tortur.
■ Nun kommt die Pubertät. Ich nehme zum Ausgangspunkt meiner
späteren Neurose (Menschenscheu) die Tatsache, daß ich nur mit solchen
Menschen verkehren konnte, die mir sexuell etwas bieten konnten, und zwar
schon als Kind! Diese Verkehrtheit machte sich in der Pubertät noch viel
schärfer bemerkbar. Von der platonischen Verehrung von reiferen Frauen kam
ich vorläufig nicht ab. Junge Mädels waren mir weiterhin entsetzlich, bis ich
mich in eines sterblich verliebte. Ich folgte der Kleinen durch Jahr© wie ein
Schatten, war aber trotz ihrer Ermunterung nicht dazu zu bringen, sie anzu-
sprechen. Als ich es endlich doch tat, da war mir auf einmal der Grund
meines sonderbaren Benehmens klar, ich brachte nicht ein Wort heraus, der
ganze Zauber war mit einem Schlage verflogen, sie erschien mir gewöhnlich
und minderwertig, wiewohl ich bei objektiver Beurteilung gerade das Gegen-
teil einräumen mußte. Genug, die Neigung kam erst in ihrer ganzen Intensität
zurück, nachdem ich mich von ihrer persönlichen Bekanntschaft ein wenig
erholt hatte. In jener Zeit schloß ich Freundschaft mit einem Kollegen
Josef Z. Das Bindeglied unserer Freundschaft war eben jene schwarze Hexe.
Er liebte sie nämlich ebenso (man sollte meinen, daß dies unser© Freund-
schaft zerreißen sollte). Wir wurden nicht müde, uns gegenseitig von ihr
vorzuschwärmen und die Freundschaft war erst zu Ende, als ich merkte,
daß er unserm Idol untreu wurde. Dabei erschien mir damals nichts häßlicher
als der Anblick eines Pärchens. Ich hatte di© Empfindung, daß
der Mann etwas von seiner Würde und Manneskraft
durch di© Gesellschafteines Weibes verliert. Mein
*) Es handelt sich um eine „infantile Sexualtheorie", die den Koitus sadistisch
als ein Zerdrücken auffaßt.
Homosexualität und Sadismus. 429
nächster Freund war Herbert. Mit dem hatte ich wenig sexuelle Berührungs-
punkte, es sei denn, daß wir gemeinsam die ersten Bordellbesuche machten und
erfolglos den diversen Stubenfeen den Hof machten. Herbert war aber von
einer derartigen Lustigkeit, daß ich ihn allmählich liebgewann, besonders aber,
weil er mir sklavisch zugetan war. Aber schon damals machte meine Neurose
reißende Portschritte, ich wurde immer menschenscheuer und immer lächer-
licher und als sich schließlich sein Witz gegen mich kehrte, war es auch mit
dieser Freundschaft zu Ende. Nun kam Friedrich. Er hing mit schwärme-
rischer Liebe an mir, das ging so drei Jahre, bis er heiratete, und nun war
ich allein in der Welt. Meine gute Mutter, an der ich als Kind mit schwär-
merischer Liebe hing, konnte mich bloß zu trösten versuchen, aber nicht
trösten. Als Kind war ich von ihr nicht fortzubringen, das bekannte Winter-
lied von Mendelssohn brachte mich vor Jahren unfehlbar zum Weinen, weil
mir der Gedanke schrecklich war, daß eine Mutter ihr Kind verlieren sollte.
Trotzdem ich also Mutterliebe in reicherem Ausmaße hatte, als sie gewöhnlich
sonst jemand hat, blieb ein ungestilltes Sehnen zurück. Da machte ich mit
der Psychanalyse Bekanntschaft, welche mir meine Jugendperversitäten in
Erinnerung brachte. Ich beschloß, allen meinen mir bewußten Trieben nachzu-
gehen und kam zu folgendem Resultat:
Mein Verhältnis zum W'e ibewird sich eigentlich
nie befriedigend gestalten, ich kann entweder über
oder unter ihr sein, Hammer oder Amboß, ein unbe-
fangener Verkehr ist unmöglich, weil ich schon beim
Anblick eines schönen' Weibes ganz von Sinnen bin,
am liebsten möchte ich ihr zu Füßen liegen, ihren
Befehlen blind gehorchen. Das wollen aber die Weiber nicht,
sie wollen unterworfen werden, s i e wollen den Mann fühlen. Ein Verkehr auf
dem Niveau der Gleichheit langweilt mich, so bleibt nur der Sadismus meiner-
seits, der mir offen gestanden, schon manche nette Stunde verschafft hat.
Wahre Freundschaft auf dem Niveau der gegenseitigen Liebe und Achtung
kann ich aber nur wie in der Kindheit mit dem Manne schließen."
Das wäre die Krankengeschichte eines typischen Bisexuellen, der
auf dem besten Wege ist, ein echter Homosexueller zu werden.
Registrieren wir erst die Tatsache seiner psychanalytischen Be-
handlungen, ehe wir zu einer Analyse seiner sexuellen Einstellung
gehen. Er kam vollständig arbeitsunfähig zu einem Analytiker, der
ihm von Freud empfohlen wurde. Damals war er noch impotent beim
Weibe und auf Onanie angewiesen. In der ersten Analyse wurde er
darüber belehrt, daß er in seine Mutter verliebt sei. Diese Belehrung
wirkte nach seiner Angabe auf ihn „befreiend". (Er teilte sie sogar
seiner Mutter mit!) Kurze Zeit nach dieser Erkenntnis gelang ihm
der erste Koitus mit einer Dirne. Aber die Neurose änderte sich nicht
und er kam kurze Zeit zu mir in Behandlung. Ich konstatierte einen
enormen Widerstand gegen die Aufdeckung der wahren Einstellung.
Er wendete alle möglichen Kunstgriffe an, um die Stunden auszufüllen
und nur das zu verraten, was er sagen wollte. Schilderungen seines
430 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
starken Sadismus und seiner masochistischen Phantasien waren bald
erledigt. Dagegen konnte er sich nicht zur Klarheit über sein Ver-
hältnis zum Vater durcharbeiten. Er wurde arbeitsfähig, besuchte
wieder die Vorlesungen und begann sehr fleißig zu studieren. Ich merkte
die Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen, brach unter irgend einem
Vorwande die Analyse ab. Sind doch Patienten, wie ich den Typus als
„psychanalytischen Ahasver"1) geschildert habe, die undankbarsten
Objekte für die ärztliche Kunst. Sie eilen von einem Analytiker zum
andern, er solle noch die übrig gebliebenen Reste aufarbeiten, und
bleiben fast immer so krank als sie waren. Sie fassen auch die Analyse
als ein Machtproblem auf, sie wollen über ihren Arzt triumphieren,
sie wollen stärker sein als er und — was das Wichtigste ist — sie
wollen die grundlegenden Einstellungen nicht einsehen. Sie sehen be-
harrlich an den Grundlagen ihrer Neurose vorbei, wobei ihnen das
psychanalytische Scheinwissen und die partielle Selbsterkenntnis
das „Nichtsehenwollen" erleichtern. Sie laufen dann von Arzt zu
Arzt, kritisieren den ersten beim zweiten, den zweiten bei dem dritten,
den dritten bei dem vierten. Es hängt dies auch mit ihrer Vaterein-
stellung zusammen, auf die wir in diesem Falle noch zurückkommen
wollen.
Wie ich vorausgesehen habe, so kam es. Er ging wieder zu Freud,
der ihm einen dritten Analytiker empfahl, nachdem er den ersten unter
keiner Bedingung wieder aufsuchen wollte. Nach mehrmonatlicher Be-
handlung brach er die Behandlung ab und betrachtete sich als gesund.
Nach einem halben Jahre kam er wieder zu mir, teilte mir mit, er sei
seit seiner ausschließlich homosexuellen Betätigung vollkommen
gesund, arbeitsfähig, frisch wie ein Fisch im Wasser. Aber es scheine
ihm doch noch etwas zu fehlen. Über meinen Wunsch schreibt er mir
den eingangs mitgeteilten Krankheitsbericht und versichert, daß er
nichts gegen dessen Publikation einzuwenden habe. Er gibt noch einige
mündliche Ergänzungen, auf die ich später zurückkommen will.
•Das Charakteristische seiner Einstellung zum Weibe betont er
in seiner Mitteilung. Er kann nur quälen oder gequält werden, er kann
nur maßlos hassen oder maßlos lieben. Vor dieser maßlosen Liebe
fürchtet er sich. Es drängt ihn, sich dem Weibe zu unterwerfen, ihr als
Sklave zu dienen, was seinen symbolischen Ausdruck in dem Verlangen
nach Kunnilingus und im Erleiden der Mictio in os findet. Er will dem
Weib nur ein Mittel ihrer Lust, nur ein Gefäß ihrer Ausscheidungen,
nur ein williger Sklave ihrer Launen sein. Die Unterwerfung geht so
weit, daß er sich vom Weibe töten lassen will. In der sadistischen Um-
') Zentralblatt f. Psychoanalyse, IV. Bd.
Homosexualität und Sadismus. 43 ^
kehrung heißt diese Einstellung: Erst durch das Töten des geschlecht-
lichen Partners zeigt man sich als sein Herr, besitzt man ihn ganz.
Sein Gefühlsleben schwankt beim Weibe nur zwischen zwei Ex-
tremen: Haß bis zur Vernichtung und Liebe bis zum Vernichtetwerden.
Daß er sich schützen muß, um nicht dem Hasse anheimzufallen und
nicht zum Verbrecher zu werden, ist ja klar. Die Erkenntnis, daß ihm
der Ljjbensinstinkt und der Wille zur Macht hindern, sich dem Weibe
bis zur Vernichtung seines Ich zu unterwerfen, erfordert schon eine
tiefere Einsicht in das Kräfteparallelogramm solcher Seelen. Seine
Einstellung zum Weib ist zu affektativ, als daß er sie auf das richtige
Mittelmaß korrigieren könnte. Wie deutlich spricht das Erlebnis aus
seiner Jugend, die große Liebe zu dem jungen Mädel, dem er wie ein
Schatten folgte! Aber er wagte es nicht, diese Liebe zu realisieren.
Er fürchtete sich vor sich selbst und vor der Unterwerfung. Das
Mädchen gab ihm zu verstehen, daß er keine Niederlage erleben würde.
Trotzdem wendete er aus Angst den Kunstgriff vieler Neurotiker an.
Er entwertete sie sofort, sie verlor allen Reiz, als er sie kennen lernte;
sie gewann ihn erst wieder, als keine Gefahr bestand, bei ihr die Probe
seiner Persönlichkeit zu bestehen. Er hielt sich für häßlich und glaubte
nicht daran, daß er gefallen könnte. Er haßte die Frauen um ihrer
Schönheit willen, weil er selbst gerne eine schöne Frau gewesen wäre.
Auch diesen Wunsch wußte er sich zu verschleiern, indem er den
Wert des Männlichen zu überschätzen anfing. „Ich hatte ; die Emp-
findung" — gesteht er — , „daß ein Mann etwas von seiner Würde und
Manneskraft durch die Gesellschaft eines Weibes verliert." Man bedenke,
daß dieser Mann seine Mutter sehr hoch stellt und sie als Menschen und
als Weib überschätzt. Der Normale formt das Bild des Weibes nach
seiner Mutter. Er aber macht seine Mutter zur Ausnahme, wie so viele
Homosexuelle, er nimmt sie allein von der Verachtung aus, mit der
er das ganze weibliche Geschlecht bedenkt. Jetzt kann er dem Weibe
nur als Sadist entgegentreten. Denn der Haß überwindet das Weib
leichter als die Liebe!
Auf die Frage, was er bei den Männern sucht und weshalb er die
Männer den Frauen vorzieht, antwortet er: „Ich suche beim Manne
den Penis. Ich denke hauptsächlich nur an seinen Penis. Ich finde bei
den Männern einen Widerstand. Ich finde das Weib häßlich und den
Mann schön. Ich suche meistens weibliche Männer, die mir das Mädchen
mit dem Penis repräsentieren. Nur ein einziges Mal gefiel
mir ein älterer Mann mit einem sehr energischen
Gesicht. Und was mich beim Manne am meisten anzieht : das
Problem des Unterwerfens kommt nicht in Frage. Der Mann unter-
wirft sich nicht, nur das Weib!"
432 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Er aber sucht nicht das sich unterwerfende Weib. Er verlangt nach
einem starken Weibe, das ihn beherrscht. Er gesteht, daß der Verkehr
mit einer Sadistin ihn befriedigen würde. Aber wie er es in seiner Mit-
teilung gesteht: Die Weiber wollen nicht überwinden, sie wollen unter-
worfen werden.
Wir merken, daß die polare Geschlechtsspannung zwischen
Mann und Weib bei ihm aufs äußerste verstärkt ist. Er wäre imsfande,
das Weib zu töten, das ihn unterwirft, wie Judith den Holofernes tötete,
weil er sie sexuell überwunden hatte. x)
Die Art seiner Onanie (Das Zerdrücken einer Fliege am Penis!)
verrät uns seine spezifische Onaniephantasie. Er zerdrückt ein Weib,
er erdrosselt sie, während er es koitiert. Er hatte kurze Zeit nach der
ersten Analyse ein Verhältnis mit einem Stubenmädchen. Er schildert
sie mir: Sie ist riesig groß und so stark, daß sie mich mit einer Hand
überwältigen könnte. Bei diesem Mädchen war er vor sich selbst sicher.
Nie aber würde er es wagen, ein Verhältnis mit schwächlichen Personen
einzugehen, obgleich sie ihn sexuell mehr reizen. Er hat allen Grund,
das Weib zu fliehen, weil er die Umkehrung seiner übergroßen Liebe in
einen tödlichen aggressiven Haß fürchtet. Er behauptet, er könnte
jetzt nur mit einer in jeder Hinsicht perversen Frau ein Verhältnis
eingehen. Nur eine solche könnte ihn reizen und ihm etwas bieten. Die
Probe auf diesen Wunsch hat er noch nicht gemacht. Es ist so, als ob
er die seelische Beteiligung des Herzens fürchten würde und das Weib
nur als Werkzeug seiner Lust gebrauchen könnte. Die Perversität der
Frau soll ihn seine stärkste Paraphilie vergessen lassen: Das Ver-
langen, ein Weib zu töten!
Nun versuchen wir aus seiner Familiengeschichte die Entstehung
dieser Einstellungen zu begründen.
Er stammt aus einer Ehe, in der beide Eltern ausgesprochene In-
dividualitäten waren. Der Vater war ein „Selfmademan", der sich aus
eigener Kraft zum mehrfachen Millionär emporgearbeitet hatte. Er war
ein strenger, energischer Mensch, der immer an sein Geschäft dachte, nie
viel Zeit für seine Familie übrig hatte. Mit den Kindern war er zärtlich,
so lange sie klein und ein niedliches Spielzeug waren. Dann änderte er
sein Wesen dem Patienten gegenüber und verlangte von ihm strenge
Pflichterfüllung in der Schule. Mit den Mädchen blieb er auch später
*) Vgl. meine Aueführungen „Der Kampf der Geschlechter" in meinem Buche
„Das liebe Ich" (Verlag Otto Salle, Berlin 1913). Ich behandle jetzt eine schwerkranke
Frau, die an dem gleichen Problem gescheitert ist. Sie blieb bei allen Männern anästhe-
tisch. Den einzigen Mann, der sie ein einziges Mal, als er mit ihr verkehrte, empfinden
ließ, den haßt sie und könnte ihn umbringen.
Homosexualität uud Sadismus. 453
zärtlich, so daß der Knabe unwillkürlich die Schwestern beneiden mußte.
Dieses Umbiegen von Zärtlichkeit in Strenge kommt bei vielen Eltern
vor und ist die Ursache hartnäckiger Trotzeinstellung besonders gegen
den Vater. Das Kind sehnt sich dann ewig nach der Jugend, in der der
Vater so lieb und zärtlich war. Vielleicht mag mit diesem Sehnen nach
der Jugend die Erscheinung zusammenhängen, daß so viele Homo-
sexuelle einen ausgesprochenen infantilen Typus zeigen. a) Vielleicht
ist der milde Greis, den so viele Homosexuelle suchen, nur der gütige
Vater der Jugend, der noch nicht die strengen Strafen kannte. . . .
Die Mutter unseres Patienten war eine auffallend kluge und sehr
schöne Frau, die ihr ganzes Leben mit ihrem Manne um die Herrschaft
im Hause kämpfte. Ich hatte Gelegenheit, einen tiefen Blick in diese
Ehe zu werfen. Ich kenne keine zweite, in der der Kampf um die Per-
sönlichkeit so auf die Spitze getrieben war. Es gab immer Szenen im
Hause, die sich fast bis zu Tätlichkeiten steigerten. Beide Teile hüteten
sich, dem Partner die Liebe zu zeigen. Das hieße ja seine Überlegenheit
anerkennen. Sie taten sich an, was sie nur konnten. Sie schienen kalt
und gleichgültig gegeneinander und hatten doch immerwährend Streit.
Merkte der Mann, daß ein anderer der schönen Frau den Hof machte,
so lächelte er überlegen und räumte dem Nebenbuhler das Feld, als
wollte er der Frau zeigen, daß er nicht eifersüchtig wäre und ihr jede
Freiheit gestatten würde. Auch die Frau schien die Seitensprünge ihres
Gatten nicht sehen zu wollen. Trotzdem gingen sie bei jeder Gelegen-
heit auf einander los. Einmal kam es so weit, daß die Frau den Mann
mit dem Revolver bedrohte und ein „schreckliches Ende" machen wollte.
Zwischen diesen kämpfenden Eltern standen die Kinder und
nahmen verschieden Partei. Der Sohn stellte sich ganz auf die Seite
der Mutter. Er war unglücklich, daß sie sich so viel gefallen ließ, und
stachelte ihren Zorn immer wieder auf, verlangte, sie solle den Kampf
siegreich zu Ende kämpfen, ja sich sogar von dem Manne für immer
*) Havelock Ellis und Moll (Handbuch der Sexualwissenschaften, Leipzig, F. C.
W. Vogel, 1912) betonen diesen Umstand: „Bei beiden Geschlechtern wird oft eine
bemerkenswerte Jugendlichkeit der Erscheinung bis in das Alter des Erwachsenen be-
wahrt. Die Liebe zu Grün, das normalerweise eine hauptsächlich von Kindern und
speziell von Mädchen bevorzugte Lieblingsfarbe ist, wird oft ■ beachtet. Ein gewisser
Grad von schauspielerischem Talent ist nicht ungewöhnlich, ebenso wie die Neigung
zu Eitelkeit, gelegentlich auch eine weibliche Liebe zu Schmuck und Juwelen. Von
vielen dieser psychischen und physischen Charakteristika kann man 6agen, daß sie
einen gewissen Grad des Infaptilismus anzeigen, und dies stimmt mit der Annahme
überein, die die Homosexualität auf die ursprüngliche Bisexualität zurückführt; denn
je weiter wir in der Lebensgeschichte des Individuums zurückgehen, um so mehr nähern
wir uns dem bisexuellen Stadium."
St ekel, Störungen deH Trieb- und Affektlebons. n. 2. Aufl. 28
434 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
trennen. Vom Vater wußte er außer seiner geschäftlichen Tüchtigkeit
nichts Gutes zu sagen. Er sei ein gefühlloser Mensch, der kein Herz habe,
er sei nur eine Rechenmaschine usw. . . Bei oberflächlicher Betrachtung
hatte es den Anschein, als ob er die Mutter liebte und den Vater haßte.
Allein hinter diesem Haß verbarg sich die sorgfältig gehütete Liebe
aus den Kinder jähren. Diese Liebe aber wollte er nicht einsehen. Das
war immer der kritische Punkt seiner Analysen. Er ergriff stets die
Flucht, wenn die Rede auf seine Neigung zum Vater kam, oder wenn
seine ursprüngliche Einstellung zu ihm aus verschiedenen Zeichen klar
wurde. Diese Erfahrung kann man in allen Analysen machen. Nichts
ist so schwierig, als bei männlichen Homosexuellen die Auflösung des
Vaterhasses und seine Rückführung in die infantile Liebe.1)
In seinen homosexuellen Szenen spielt er den Vater, der mit
seinem Kinde zärtlich ist. Wir verstehen auch, warum ihn der ältere
Mann mit dem energischen Gesichte so plötzlich anziehen könnte. Er
war eben ein Bild eines strengen Vaters.
Da er in seiner Jugend Zeuge eines heftigen Kampfes zwischen
Mann und Frau war, dieser Kampf auch bis in sein reifes Alter hinein-
spielte, mußte er das Liebesproblem als Machtproblem auffassen. Er
hatte immer nur die eine Frage: Wer ist der Stärkere? Dieser Fall
zeigt uns mit seltener Klarheit die Mechanismen, auf die Alfred Adler
so großes Gewicht legt. Aber er zeigt uns auch eine Inzestliebe zu
seiner Schwester, die ihm vollkommen bewußt ist. Er sucht in den
jungen Männern Ebenbilder seiner Schwester. Er zeigt uns auch eine
Verankerung an die Mutter, mit der er in seltener Übereinstimmung
lebt. Trotzdem hat er die Liebkosungen seines Vaters nicht vergessen.
In dem Wunsche, zu Tode gedrückt zu werden, in allen seinen maso-
chistischen Phantasien ist das Bild des strengen Vaters in einer ver-
steckten Form wie bei einem Vexierbilde angebracht. Herrschen und
Dienen — um diese beiden Begriffe dreht sich sein Denken. Er verkehrt
nur mit Menschen, denen er sich überlegen fühlte. Er wählte schon als
Knabe Proletarierkinder, denen er imponieren konnte. Er verließ einen
Freund, weil er über ihn Witze machte. Er war ein häßliches Kind.
Das führte ihn auf die Bahn des Hassenden und Beneidenden. Er haßte
alle Frauen, weil sie ihm Rivalinnen bei seinem Vater waren. Er hatte
die Vorstellung, er würde mehr geliebt werden, wenn er schöner wäre.
Er war ein Sklave seiner Familie, von der er nie mehr loskommen
sollte. Er zog in eine fremde Stadt, um sich von der Familie zu befreien.
Dort erkrankte er aus Sehnsucht. Seine Mutter mußte zu ihm kommen.
*) In ähnlicher Trotzeinstellung stehen viele — nicht alle — Urlinden a*
ihrer Mutter.
Homosexualität und Sadismus.
435
Er war stolz, wenn er mit ihr spazieren ging und man sie für ein Liebes-
paar hielt. Aber er sehnte sich heimlich eigentlich nach dem Vater und
konnte es ihm nie verzeihen, daß er damals seine Badereise nicht unter-
brochen und ihn aufgesucht hatte.
Er kämpft eigentlich den Kampf seiner Eltern weiter. In seinem
Innern befehden sich Mann und Weib. Vielleicht auch das Kind, das
mehr den Zuschauer bildet und auf die Frage „Wen hast Du lieber ?" die
stereotype Antwort „Beide" geben würde. Jetzt scheint das Weib in
ihm gesiegt zu haben. Er glaubt den Mann in sich unterworfen zu
haben. Ich halte seine Homosexualität für eine Übergangserscheinung.
Erst die Befreiung von seiner Familie wird ihm die Gesundheit bringen.
Man sieht es so häufig, daß die Neurotiker erst nach dem Tode
eines ihrer Eltern oder beider genesen. Aber in manchen Fällen bleiben
die Eltern nach dem Tode noch immer die Herrscher der kindlichen Seele
und ihr Imperium endet erst mit dem Tode ihres Kindes, das sich an
dieser Liebe zu Tode liebt
28*
Die Homosexualität.
XIII.
Analyse eines Homosexuellen.
_ Was ist das Siegel der erreichten
Freiheit? — Sich nicht mehr vor sich
selber schämen. Nietzsche.
Eine vollständige Analyse eines Homosexuellen gäbe ein ganzes
Buch für sich. Ich will diese Arbeit nicht schließen, ohne ein Bruchstück
einer solchen Analyse vorzuführen. Die Behandlung dauerte sechs
Wochen, dann wurde sie durch den Krieg unterbrochen. Auch diese
Analyse drang eigentlich nur bis zum Vaterkomplex vor. Aber sie bietet
uns reiche Erkenntnisse und eine Zusammenfassung aller Beziehungen!
die wir schon an kleineren Beispielen besprochen haben.
Fall Nr. 87. Herr Sigma, ein Student aus Dänemark, im Alter von
£6 Jahren, konsultiert, mich wegen verschiedener seelischer Störungen Er
ist seit einigen Monaten sehr deprimiert, immer müde, meist schlaflos und
unlanig zu einer konzentrierten Arbeit. Er soUte jetzt seine letzte Prüfung
machen und ist nicht imstande, zu studieren. Er klagt über Mangel jeder
Lebensfreude. Er müsse auch gestehen, daß ihm hie und da Selbstmordideen
Kommen, die er aber seiner Mutter zuliebe bekämpfe. Er habe eine fürchter-
liche Angst, er könnte einem solchen Impulse erliegen.
Sigma ist bewußter Homosexueller. Er betont: Erhabenieei»
Interesse für das weibliche Geschlecht gezeigt und
«ich schon als Knabe nur in Knaben verliebt Er ist
der einzige .Sohn einer sehr fleißigen, braven, wohlhabenden Mutter, die nur
Zr^Jfl w J^1- *tarb VOr einigen Jahren- Er lebt vollkommen
zurückgezogen, hat keine Freunde, da ihn die Mutter daran hindert. Einmal
hatte er - er war 17 Jahre - einen guten Freund, den er sehr liebte, da
mengte sich die Mutter ein und verbot ihm den Umgang. Nun ist er voll-
kommen isoliert. Die freie Zeit widmet er der Mutter, wenn er nicht im
Theater oder in einem Konzerte ist. Er verkehrt auch in keiner Familie,
«a ihn die Eifersucht der Mutter daran hindert.
Er beginnt (spontan) die Schilderung seines Lebens mit seiner erste«
Lrinnerung :
Analyse eines Homosexuellen. 437
Ich war 2 Jahre alt, da spielten wir mehrere Kinder
im Freien. Da kam eine Dame auf uns zu und warf
einen schönen Ball ins Gras. Sie sagte: Wer den Ball
erhascht, dem soll er gehören. Ich war der nächste
daran und traute mich nicht, in den feinen Rasen
zu treten. So kam es, daß ein anderer den Ball er-
haschte...
Diese Erinnerung scheint für Sigma charakteristisch zu sein. Sie ent-
hält wie alle „ersten Erscheinungen" die Determinante des ganzen Lebens.1)
Sie zeigt uns einen Menschen, der sich nicht traut, dessen Aktivität aus
Rücksicht auf andere gehemmt ist. Er erklärt, daß er aus Rücksicht für die
Mutter auf alle Freuden des Lebens verzichtet habe. Immer ist er klein-
mütig, hat das Gefühl seiner Minderwertigkeit und traut sich keine größere
Leistung zu.2)
Soine Sexualität erwachte sehr früh. Er spielte immer gerne mit
Mädchen und fühlte sich immer als Mädchen. Er zog gerne Hüte und Kleider
seiner Mutter an. Seine Mutter war die Herrin im Hause, die Erhaltcrm und
Ernährerin. Der Vater spielte immer eine untergeordnete Rolle. Wir sehen
wieder einmal die Beobachtung bestätigt, daß sich das Kind mit dem
Stärkeren von seinen Eltern identifiziert. So mußte auch bei Sigma die
Identifizierung mit der Mutter früh einsetzen . . .
Schon in der Volksschule, mit sieben Jahren, verliebte er sich in seinen
Lehrer. So kam es, daß er einer der besten Schüler wurde. Sein Stolz war
es, daß er immer von diesem Lehrer gelobt wurde. Auch Mitschüler liebte er,
war aber zu scheu, es ihnen zu gestehen. Mit 12 Jahren begann er zu ona-
nieren, wobei er sich immer einen nackten Mann vorstellte. Er war bisher
sehr fromm gewesen und zeichnete sich bei der Beichte durch die längsten
Sündenregister und seine tiefe Zerknirschung aus. Mit zwölf Jahren wurde er
frei und entwickelte sich langsam zu einem Atheisten. Der Kampf gegen die
Onanie setzte mit 14 Jahren ein, als er hörte, die Onanie wäre sehr schädlich.
Er onanierte dann seltener. Nach Pollutionen am nächsten Tage großes
Müdigkeitsgefühl. Er faßt sein jetziges Leiden als Folge der Onanie auf.
Im Gymnasium war er schon zerstreut und machte mit Ach und Krach
seine Matura. Er war immer scheu, mied die Kollegen, welche zynische Ge-
spräche über Frauen führten, so daß er „Fräulein Sigma" genannt wurde.
Für einige Jahre kam er aus dem Hause. Sie lebten früher am Lande und er
*) Dr. Paul Schrecker, Die individualpsychologische Bedeutung der Kindheits-
erinnorungen. Zentralbl. f. Psychoanalyse, Bd. IV.
=) Der Ball ist ein Symbol der Liebe. Wunderschön drückt dieses Symbol das
Gedicht von Björres-Münchhausen „Der goldene Ball" aus: „Was auch an Liebe mir
vom Vater ward, — Ich habs ihm nicht vergolten, denn ich habe — Als Kind noch
nicht gekannt den Wert der Gabe — Und ward als Mann dem Manne gleich und
hart. — — Nun wächst ein Sohn mir auf, so heiß geliebt — Wie keiner, dran ein
Vaterherz gehangen, — Und ich vergelte, was ich einst empfangen, — An dem, der
mire nicht gab noch wiedergibt. Denn wenn er Mann ist und wie Männer denkt, —
Wird er wie ich die eignen Wege gehen, — Sehnsüchtig werde ich, doch neidlos sehen, —
Wenn er, was mir gebührt, dem Enkel schenkt. — — Weithin im Saal der Zeiten
sieht mein Blick — Dem Spiel des Lebens zu, gelassen und heiter, — Den goldnen Ball
wirft jeder lächelnd weiter, — Und keiner gab den goldnen Ball zurück!"
438 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
mußte nach Kopenhagen. Er lebte damals bei einigen älteren Schwestern, mit
denen er 'sich sehr gut verstand. Er musizierte mit ihnen, machte mit ihnen
gemeinsame Spaziergänge, hatte viel Anregung . . . alles jenseits der Erotik.
Sein ganzes erotisches Fühlen galt nur Männern und
Jünglingen. In seinen endlosen Phantasien dachte er in seinem ganzen
Lehen an keine Frau ! Er träumt nur von Männern und denkt nur an Männer.
Damit schließt die erste Sitzung.
Sigma betont wieder eine einseitige Einstellung zu Männern. Trotzdem
müsse or zu seinen gestrigen Angaben eine kleine Korrektur machen. Ich
wiederhole, daß dies ein typisches Erlebnis in der Anamnese von Homosexuellen
ist. Sie haben alle heterosexuellen Erlebnisse gänzlich aus ihrem Gedächtnisse
getilgt. Heute aber trägt Sigma nach, daß hie und da erotische Träume mit
Frauen vorgekommen seien. Vier- oder fünfmal. Öfter nicht. Sie führten zu
Pollutionen und seien sehr unbestimmten Inhaltes gewesen. Auch war Sigma
vorübergehend mit 16 Jahren in seine Kusine verliebt. Sofort schwächt er seine
Aussage ab: Das sei nur ein Sport gewesen, eine Pose, weil ein Vetter in
die betreffende Kusine verliebt war. Er hielt es für seine Pflicht, sich auch in
diese Kusine zu verlieben. Das sei aber sehr schnell vorüber gewesen. Er
müsse jedoch beichten, daß er doch Phantasien mit Frauen gehabt habe.
Das kam auch vor. Aber immer nur in Verbindung mit Männern.
Er ist fast nur in Frauengesellschaft aufgewachsen. War die Mutter
aus dem Hause, so gab es immer eine Tante, die ihn beaufsichtigte. Er wurde
noch als großer Junge in die Schule geführt und aus der Schule geholt. (Die
typische Erziehung zur Unselbständigkeit!) DicMutter wollte ihmFreundo auf-
drängen. Sic fand immer irgendwelche Knaben, von denen sie wünschte, sie
mögen seine guten Freunde werden. Er aber fand meistens an diesen Knaben
keinen Gefallen. Hatte er aber einen wahren Freund gefunden, so legte die
Mutter ihr Veto ein, wenn die Freundschaft zu leidenschaftlich wurde. Und
er war immer im Begriffe, sich in seine Freunde zu verlieben. Er machte
schon früh Gedichte und himmelte seino Freunde an. Auch heute sind fast
alle seine Verse dem Eros Uranos geweiht.
Dann denkt er eine Weile nach. „Ich identifizierte mich immer mit den
Frauengestalten, die meist sehr starke, sehr -energische Frauen waren. Für
solche große energische Frauen mit männlichem Einschlag habe ich mich er-
wärmen können. Wenn mich je eine Frau oder ein Mädchen interessiert und
in meinen Phantasien eine Rolle gespielt hat, so waren sie von diesem Typus."
Dann fällt ihm noch eine heterosexuelle Episode ein. Er schwärmte ein wenig
für die Tochter seiner Zimmerfrau, ging mit ihr sehr gerne spazieren, mu-
sizierte gerne mit ihr und war ein wenig unglücklich, als sie dann heiratete . . .
Zur Erkenntnis seiner Homosexualität kam er durch den Eulenburg-
prozeß. Da wurde er sehr unglücklich, denn er merkte erst, daß er anders
war als die anderen. Er galt in der Mittelschule immer als ein Sonderling
und separierte sich von den Mitschülern. Seit dem Prozesse aber war es ihm
klar, daß sein Ende Wahnsinn oder Zuchthaus sein müsse. Er hatte furchtbare
Tage. Er war in einen guten Freund verliebt und als dieser ihn um den
Grund seiner Melancholie fragte, da weinte er im namenlosen Schmerze und
schüttete sein Herz in vagen Umschreibungen aus. Er fühle sich anders als
die anderen, vereinsamt und abgeschlossen, verkannt und unfähig. Der Freund
Analyse eines Homosexuellen. 439
meinte, er sollte sich mehr künstlerisch betätigen. Er faßte sein Leiden als
unbefriedigten Ehrgeiz auf.
Seine typischen Träume handeln von Verfolgung durch Männer und von
Einbruch. Ein Traum machte auf ihn einen großen Eindruck: Er wurde im
Bette von einer großen Schar von Wanzen verfolgt und wurde schließlich
' selbst eine Wanze.1) Eine Zeitlang hatte er wie alle Homosexuellen eine Angst
vor Infektionen und besonders vor der Tuberkulose. Er war fest überzeugt,
er werde jung an Tuberkulose sterben.
Wir kennen schon die Tuberkulose (gerade wie die Syphilis) als Re-
präsentanten des Bösen, des Schmutzigen, des Inzestes und der Homosexualität.
Doch davon hören wir vorläufig gar nichts. Wir wollen Sigma nicht beein-
flussen und den Ablauf seiner Assoziationen nicht stören. Sigma zeigt wenig
Lust zur Analyse. Er ist mißtrauisch und zurückhaltend. Er hat wenig Zeit
und scheint glücklich zu sein, wenn die Sitzung vorüber ist.
Die nächste Sitzung wird folgendermaßen eröffnet: Ich bin Sie bitten
gekommen, mir für morgen eine Stunde zu bestimmen. Ich möchte heute aus-
setzen. Ich muß mich ein wenig ausruhen und meine Kräfte sammeln. Die
gestrige Stunde hat mich so aufgeregt . . .
Nun habe ich die ersten zwei Stunden fast gar kein Wort gesprochen
und Sigma ruhig reden lassen. Aber der Fluchtreflex, der alle Homosexuellen
beherrscht, weil sie sich vor der Wahrheit fürchten, äußert schon seine
Wirkung.
„Was hat Sie denn gestern so aufgeregt?"
„Daß Herr Doktor so ruhig waren. Es war eine unheimliche Ruhe . . ."
„Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich aufgeregt gewesen wäre?"
„Nein ... ich weiß 3a, daß der Arzt ruhig sein muß. Aber i c h habe
eben diese Ruhe nicht. Was muß ich für einen jämmerlichen Eindruck auf Sie
gemacht haben!"
(Hinc illae lacrimae! Dem Kranken geht es um den Eindruck auf den
Arzt. Er will wissen, ob der Arzt mit ihm Mitleid hat, ob er erschüttert
Öder gleichgültig ist. Er fürchtet lächerlich zu erscheinen. Der Arzt wird die
Hauptperson, um die sich in diesen Tagen das Spiel des Lebens dreht.)
„Das ist doch Nebensache. Sie wollen ja gesund werden. Das hat mit
dem Persönlichen nichts zu tun."
„Freilich ... das sage ich mir auch. Herr Doktor sind ja meine letzte
Rettung. Und doch verliere ich schon die Geduld und möchte davonlaufen.
Es sind keine zwei Wochen her, da ging ich mir einen Revolver kaufen und
wollte mich erschießen. Es scheiterte nur an meiner Ungeschicklichkeit. Ich
konnte mir keinen Revolver verschaffen. Die Verkäuferin verlangte eine An-
kaufsbewilligung, die ich nicht hatte. Meine Stimme muß auch gezittert haben.
Ich war so aufgeregt . . . Hätte ich den Revolver erhalten, ich säße heute
nicht bei Ihnen.
„Warum wollten Sie denn sterben?"
!) Vergleiche die Novelle von Kafka „Die Verwandlung", Verlag von Kurt
Wolff. Sie handelt von der Verwandlung eines Menschen in eine Wanze. Die Bedeutung
dieses Traumes ist wohl eine sadistische. (Die Wanzen saugen Blut.) Diese Deutung
wird dem Patienten nicht mitgeteilt, um den Ablauf der Assoziation nicht zu beeinflussen
440
Zweiter Teil Die Homosexualität.
„Ein Leben voller Kummer! Keine Freude! Keine Aussichten auf Bes-
serung. Die ewige Depression!"
„Und dachten Sie nicht an den Schmerz, den Sie der Mutter zufügen
würden? Der Mutter, die ihr Leben für Sie geopfert hat!"
„Nein, das war mir ganz gleich. Das wäre nur eine gerechte Strafe für
sie gewesen, weil sie mein Leben zerstört hat. Sie wäre wahrscheinlich dann
auch zugrunde gegangen . . . Nur um meinen Freund hat es mir leid getan.
Er hat so viel zu sorgen und zu denken. Es hätte ihn gestört. Er ist Schrift-
steller und arbeitet jetzt an einem neuen Roman. Er wäre sicher aus der
Fassung gekommen und in seinem Schaffen gestört worden."
„Was hat Ihnen denn die Mutter zu leide getan, daß Sie sie so grausam
bestrafen wollen?"
Nun ergießt sich der lange zurückgehaltene Groll gegen die Mutter, die
ihn von seinem liebsten Freunde Ernst getrennt hätte.
„Die Mutter hat mein Leben vernichtet" — fährt er fort — „sie
trennte mich von meinem einzigen und besten Freunde. Sie ahnen gar nicht
was ich gelitten habe. Täglich kam er zu uns ins Haus. Mich begleitete er
am Klavier, so daß wir unvergeßliche Abende genossen haben. Der Vater
war einst ein guter Sänger. Da nie ein Begleiter da war, so vernachlässigte
er die schone Kunst. Nun wurden wieder die Lieder hervorgeholt. Jeder Abend
war ein Fest. Da erkrankte ich an einem Lungenspitzenkatarrh und mußte
nach Ägypten. In meiner Abwesenheit kam es zur Katastrophe. Meine Mutter
fand, daß sich mein Freund zwischen die Eltern stelle und die Liebe des
Sohnes raube. Sie war eifersüchtig, weil ich öfters an Ernst schrieb und er
längere Briefe erhielt als die Eltern. Sie zwang meinen Vater, Ernst einen
unhöflichen Brief zu schreiben und ihm zu verbieten, ins Haus zu kommen
und mit mir zu korrespondieren. Ich erhielt von Ernst, dem ich dreimal der
Woche ausführlieh schrieb, während er nur einmal antwortete, ein ironisches
Schreiben, ich möge ihm den Erlaubnisschein der Eltern beilegen, wenn ich
ihm einen Brief schreibe. Dann werde er mir antworten. Ich verstand nicht,
was das bedeuten sollte, bis er mir den Brief meines Vaters einschickte. Ich
war aus allen Himmeln gestürzt. Ich kam bald wieder nach Kopenhagen,
wagte aber nicht, offen gegen meine Mutter aufzutreten. Sie bekam Herz-
krämpfe, als ich ihr bittere Vorwürfe machte, und ich wurde von der ganzen
Verwandtschaft als ihr Mörder bezeichnet. Heimlich schlich ich mich zu Ernst
und traf ihn verstohlen auf der Straße. Aber meine Mutter spionierte mir nach.
Sie folgte mir heimlich auf meinen Gängen und wenn sie konstatierte, daß ich
zu Ernst ging, dann gab es furchtbare Szenen, die ich gar nicht schildern
kann So wurde ich verbittert und der ganz harmlose Verkehr bekam einen
krankhaften Anstrich. So werden Sie verstehen, daß ich meiner Mutter grollen
muß . . .
„Haben Sie nicht versucht, offen dagegen zu rebellieren?"
„Dazu war ich zu schwach. Mein Vater flehte mich an, ich solle das
schone Familienglück nicht zerstören. Es war ein furchtbarer Zwiespalt, aus
dem ich mir keinen Ausweg wußte. Das war, als ich 19 Jahre alt war! Jetzt
habe ich meiner Mutter mitgeteilt, daß ich Ernst hie und da treffen muß. Sie
wehrt sich dagegen und will mir andere Freunde aufoktroyieren. Man bringt
mich mit Mädchen zusammen, für die ich mich interessieren soll. Aber schon
der Umstand, daß sie mir sozusagen unter Patronanz der Mutter zugeführt
werden, macht sie mir alle unleidlich. Dabei weiß ich, daß die Mutter ebenso
Analyse eines Homosexuellen. ji _m
eifersüchtig wäre, wenn ich ein Mädchen wirklich lieben würde. Sie duldet
keine andere Liebe neben sich. Ich bin zu zerbrochen, um mich zu trennen
und selbständig zu machen. So bleibe ich das ewige Muttersöhnchen. Doch
ich kann nicht so weiter leben. Ich bin diese Qual satt und möchte ein Ende
machen . . ."
„Es geht mir viel besser. Ich habe gestern den ersten schönen Abend
nach langer Zeit gehabt. Jetzt beginnt mir Wien zu gefallen. Ich war draußen
im Wicnerwald und habe mich an den ersten Veilchen erfreut. Ich habe wieder
Freude an der Natur gehabt. Es war heuer mein erster Ausflug."
„Machen Sie denn sonst keine Ausflüge?"
„Ja, jeden Sonntag. Immer in Begleitung der Mutter. Wir fahren schon
des Morgens hinaus, essen dann im Freien und verbringen den ganzen Tag
zusammen."
„Mit ihrem Freunde machen Sie wohl nie einen Ausflug?"
„Leider nicht. Oder doch. Ein einziges Mal. Das wollte ich Ihnen ohne-
dies heute, erzählen. Er forderte mich auf, mit mehreren seiner Kollegen ein«
größere Partie auf eine ferne Insel zu machen. Ich war gleich begeistert,
weil ich hoffte, daß wir bei dieser Gelegenheit intim werden könnten. Leider
hatte ich mich getäuscht. Wir waren den ganzen Tag sehr lustig. Ich dachte
immer nur an die Nacht. Ich hoffte, wir werden Zimmer mit zwei Betten er-
halten und das andere werde sich dann von selbst ergeben. Leider waren in
dem Gasthofe die Zimmer alle vergeben und wir mußten mit einem Massen-
quartiere vorlieb nehmen. Auch da war ich nicht vom Glück begünstigt. Mein
Vetter kam neben einem anderen Kollegen zu liegen. Am nächsten Tage
schützte ich Müdigkeit vor und fuhr zurück. Ich war unglücklich und hätte
am liebsten den ganzen Tag geweint. Ich kam allein in das nächste Dorf. Es
war an einem Feiertage. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Da ging
ich in die Kirche ..."
„Um zu beten?"
„Keine Spur. Damals war ich nicht mehr fromm. Ich ging nur. um
nicht allein zu sein und Leute zu sehen. Es tat mir wohl. Die vielen ge-
putzten' Menschen, die feierliche Stimmung, die Musik, der Gesang, die Orgel.
Ich wurde etwas ruhiger, ging in ein Gasthaus und hatte ein dringendes Be-
dürfnis nach Süßigkeiten. So liegen bei mir das Erhabene und das Banale bei-
einander.1) Dann fuhr ich nach Hause, trieb mich noch in den Straßen herum
und war dann glücklich, als es schon so spät war, daß ich wieder nach
Hause kommen durfte . . ."
Es folgen nun Schilderungen seiner Leidenschaft für den Freund Ernst.
Er träumte stets davon, ihn zu besitzen, und hatte keinen anderen Gedanken.
Einmal nur versuchte er eine Aggression auf ihn. In einem Pissoir griff er
nach seinem Penis. Sein Freund wies ihn freundlich ab und redete nicht mehr
über diese Episode. Er wußte aber, daß er ihn nie besitzen würde. Inzwischen
hatte sich der Freund in eine Schauspielerin verliebt. Er war nur solange
eifersüchtig, als der Freund ihn nicht zum Vertrauten gemacht hatte. Dann
*) Der Mund als erogene Zone! Er erwartete Küsse und begnügto sich dann als,
Ersatz mit anderen Süßigkeiten. Er ist ein arger Nä6cher und benötigt noch immer
Zuckerl, die er stets in der Tasche bei sich trägt.
t
442 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
war ei- glücklich, daß die Schauspielerin einen anderen Mann bevorzugte und
Ernst nicht erhörte. Er konnte ihn dann wie eine Mutter trösten. Er betont,
daß er Männern gegenüber, wenn sie krank oder unglücklich sind, direkt
mütterliche Gefühle habe und sich als Pfleger großartig be-
währe. (Beweist seine ausgesprochene Identifizierung mit der Mutter.) Nur
6einen Vater konnte er nicht pflegen, als er an Magenkrebs erkrankte, das
Leiden war ihm zu furchtbar ' ekelhaft ...
Er hat folgenden Traum geträumt:
„Ich bin in der Schule aufgerufen worden. Ich sollte eine mathe-
matische Aufgabe lösen, konnte ihr nicht gerecht werden. Dann war es
eine englische Übersetzung von Shakespeare. Da konnte ich die Vokabeln
nicht. Es war mir, als ob die einzelnen Personen des Stückes durch Mit-
schüler in theatralischen Kostümen verkörpert wären."
Über die Analyse dieses Traumes wäre unendlich viel zu sagen. Das
Wichtigste ist wohl der Affektwert des Traumes, der sich auf die einfachste
Formel reduzieren läßt: „Ich stehe vor Aufgaben im Leben, denen ich mich
nicht gewachsen fühle. Ich bin ein Schauspieler und trage ein theatralisches
Kostüm. Ich spiele den Homosexuellen, ich habe eine ursprüngliche Einstel-
lung in eine andere übersetzt." Ihm fällt als englisches Stück „Der Kaufmann
von Venedig" ein. Auch der Professor, der ihn in Mathematik prüfte, heißt
„Kaufmann". In diesem Kaufmann liegt ein Stück Tragik seines Lebens. Er
studierte reale Fächer (Realschule) und interessierte sich für ideale (Gym-
nasium); er konnte nie rechnen, versagte immer in der Mathematik; er ist
auch bei der letzten Prüfung zum Ingenieur stecken geblieben. Er hat oin
peinliches Verhältnis zum Geld. Seine Mutter wirft ihm immer wieder vor, daß
er den Wert des Geldes nicht kenne und mit Geld nicht umgehen lcönne. Er
differenziert sich von seinen Eltern, die beide Kaufleute waren.
Im „Kaufmann von Venedig" bildet die größte Tragik das Verhältnis
des Juden zu seiner einzigen Tochter. Sie flieht mit dem Geliebten und verläßt
den geizigen Vater, der ihr gegenüber nie geizig war. So möchte er es gerne
machen. Er möchte mit dem Freunde fliehen und die Mutter verlassen. Sein
Grundproblem ist doch: Wie überwinde ich die Mutter? Wie kann ich mich
von ihr lösen?
Großen Wert legt er auf die Kästchenszene, die ihm immer außerordent-
lich gefallen hat. Auch er steht vor dem schwierigen Problem der Kästchen-
Wahl. Vor ihm stehen drei Wege : Mann, Weib und Kind. Er ist Kind, möchte
Weib sein und fürchtet ein Mann zu sein. Seine inneren Konflikte sind ein-
geschlossen wie die Verse in den Kästchen. Wir werden sehen, ob die Analyse
sie lösen kann . . .
Dunkle Beziehungen scheinen sich zur Grausamkeit Shylocks zu er-
geben. Er betont das „Pfund Fleisch", das der Jude seinem Gegner aus dem
Leibe schneiden will. Aus den Assoziationen scheinen sich Beziehungen zu
Badistischen Einstellungen zu ergeben, die aber vollkommen unbewußt sind.
Jedenfalls ist der erste Traum in der Analyse von allergrößter Bedeutung.
Seine vollkommene Lösung und Deutung gelingt immer erst später . . .
Analyse eiues Homosexuellen. 44o
Er spricht, lange Zeit von seinem Verhältnis zum Gelde. Der Kenner der
Traumdeutung vermutet, daß der Geldkomplex seine Beziehungen zur Anal-
erotik hat. Er bleibt bei seinem Thema. Bittet früher weggehen zu dürfen.
Kommt wieder viel später und fragt, ob er früher weggehen kann.
Er habe Hunger. (Man merkt ihm den heftigsten Widerstand an. Er fürchtet,
etwas sagen zu müssen.) Er hätte außerordentlich viel und wild geträumt,
wisse aber nicht mehr was. Er müsse sich den Magen verdorben haben, denn
am Morgen habe er gebrochen.
Dieses Erbrechen am Morgen, das bei vielen Neurotikern und auch bei
neurotischen Kindern auftritt, ist eine Reaktion des moralischen und ethischen
Ich gegen die Träume der Nacht. Man kommt sich ekelhaft vor, man hat
einen Ekel vor sich selbst. Dann tritt das Brechen auf, das auf irgend
eine harmlose Speise am Abend geschoben wird. So war es auch hier. Er aber
glaubt, das Bier habe sich nicht mit dem Kompott vertragen . . .
Ob er sich nicht an den Traum erinnere?
„Nein, gar keine Spur!"
„Denken Sie ein wenig nach!"
„Ich habe nur Bruchstücke behalten. Nicht der Rede wert."
„Bitte mir diese Bruchstücke mitzuteilen."
„Ich habe nur von verschiedenen Klosetts und
Pissoirs geträumt. Hier war ein Pissoir und im Amte
war auch ein Pissoir . . . das Weitere war verschwommen. Ich
erinnere mich nicht daran."
„Das Erbrechen am Morgen scheint mir darauf hinzuweisen, daß es sich
um Vorgänge im Pissoir gehandelt hat, die Ihnen ekelhaft erscheinen."
„Kann ich mir nicht den Magen verdorben haben?"
„Sicherlich. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen. Aber die andere
ist auch vorhanden. Brechen Sie öfters am Morgen?"
„Ja, aber immer so wie heute. Nur den Schleim. Es ist mehr ein Brech-
reiz als ein wirkliches Erbrechen. Darf ich schon fortgehen?"
„Sie wissen, daß ich Sie nie gewaltsam zurückhalte. Ich möchte Sie nur
darauf aufmerksam machen, daß ich ganz gut merke, daß Sie mir wissentlich
etwas verschweigen wollen. Wie stellen Sie sich Ihre Heilung vor, wenn Sie
nicht den Mut haben, sich einem Arzte anzuvertrauen? Oder fürchten Sie, daß
ich Sie weniger achten werde, wenn Sie mir etwa die Absonderlichkeiten
Ihres Sexuallebens mitteilen werden? Sie wollen nur rasch davonlaufen und
Ihr Geheimnis behalten. Gut. Das steht Ihnen ja frei. Dann aber verlangen
Sie nicht, daß sich ein Arzt mit Ihrem Leiden beschäftige. Wer heilen will,
muß erst klar sehen."
„Sie haben ganz recht Herr Doktor. Ich verschweige Ihnen das Wich-
tigste . . . Ich habe eine bestimmte Art, sexuell erregt zu werden, die wohl
die unangenehmste ist, die einen Mann treffen kann. Sie werden bald ver-
stehen, warum ich Ihnen die Sache so lange verschwiegen habe. Ich glaubte,
Ihnen schon zuviel erzählt zu haben und wollte meine krankhafte Verirrung
für mich behalten. Doch Sie werden mich verachten!"
„Ich verachte keinen Kranken!"
„Ich habe schon als kleiner Knabe immer das größte Interesse für das
Klosett gehabt. Mein Wunsch war immer: einem anderen Manne zusehen, wie
er defäziert. In meinen Schülerphantasien stellte ich mir immer den Lehrer vor,
444 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
der vor mir zwangsweise defäzieren müsse. Ich bemühte mich immer nur, die
anderen Männer zu beobachten, wie sie den Stuhlgang absetzen. Konnte ich
so einen Akt sehen, so kam ich in große Erregung und onanierte. Mein
ganzes Denken und Sinnen dreht sich noch heute um
den Abort und um den Stuhl. Denken Sie sich! Ich, der ästhe-
tische Mensch, der Künstler, der Poet, der begeisterte Musiker, der für alles
Schöne und Erhabene schwärmt, muß an den Felsen" einer so häßlichen Per-
version geschmiedet sein! Denken Sie diesen Abgrund zwischen meinem Geiste
und meinem Körper! Lerne ich einen Mann kennen, der mir gefällt so ist
mein erster Gedanke: Den möchte ich im Aborte seinen Stuhl absetzen
sehen! *)
„Haben Sie vielleicht als Kind eine solche Szene beobachtet, die ihnen
einen großen Lindruck gemacht hat?"
»Ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß nur, daß ich schon in der
Volksschule meine Kollegen zu beobachten trachtete. In Dänemark ist man
etwas freier in diesen Dingen als hier in Österreich. Auch die sexuelle Freiheit
bei uns scheint mir größer zu sein als hier. Ich hatte später Gelegenheit
genug meinem Drange zu frönen. Schließlich brachte ich es dahin, mir durch
«XhSZl 0lr;\den ich iAmer> dei> Tasche trage, die mir jetzt un-
entbchrl dien Beobachtungen zu verschaffen. Doch ist das Bohren meist über-
flüssig. Man findet schon die entsprechenden Löcher vor, wenn man sucht. Ich
KLJÄ^J8? £ben' dT i0h habe mich ®»™&, daß die meisten
Klosette diese Beobachtungsstellen zeigen. Auch hier in Wien habe ich selten
em Klosett gefunden, wo es mir nicht möglich war, den Akt der Defäkation zu
beobachten. Ich kämpfe mit aller Macht gegen diese unglückliche Anlage Ich
unterliege immer wieder. Ich denke schon den ganzen Vormittag daran Wenn
dann der Nachmittag kommt, werde ich schon ungeduldig. Es treibt mich
einen öffentlichen Abort aufzusuchen. Dort warte ich, bis ein Mann kommt'
Sehe ich ihn defäzieren, so onaniere ich . . ."
„Haben Sie auch Frauen beobachtet?"
»Nein> Frauen sind mir ekelhaft, wenn ich sie mir in dieser Situation
Wir stehen jetzt einer Form von Analerotik gegenüber, die einen aus-
gesprochen infantilen Charakter aufweist. Kinder zeigen ohne Ausnahme alle
eingrolies Interesse für den Abort und für die Vorgänge der Mictio und De-
lation fcme ganze Gruppe infantiler Sexualtheorien beschäftigt sich mit
uSrl01'^11^' Di6 Kinder k0mmen aus dem Anus> sie ^rden durch
S^ HUg \USW-,.Es ist sehr wahrscheinlich, daß es sich hier um
eXn P^n+f mm f ?antiler Eindrücke handelt- Der Umstand, daß seine
i™ H»a n \a* ^ Si°h erinncrh kann' den Lehrer betreffen, beweist
Tai ul f oße Autoritäten seiner Kindheit diese ersten Eindrücke ver-
mittelt haben. Wer sind diese Autoritäten? Darüber haben wir nur Ver-
mutungen. Wir müssen geduldig den weiteren Verlauf der Analyse abwarten.
Er klagt, daß er häßlich aussehe, weil ihm alles herunterhänge; es'
komme ihm das ganze Gesicht weiblich, schwammig, gedunsen vor. Er blickt
J) Diese Vorstellung peinigt viele Neurotiker. Das ist die Art, wie sie Personen
herabsetzen, die ihnen imponieren und sie ihre eigene Minderwertigkeit peinlich empfinden
lassen.
Analyse eines Homosexuellen. 44.5
•ft in den Spiegel und betrachtet sich. Wie im Bilde des „Dorian Gray"
findet er die Spuren seiner Paraphilie in seinem Gesichte ausgedrückt. Er eym-
bolysiert die seelischen Vorgänge und legt sie in sein Gesicht hinein. " Er
kämpft ja einen harten Kampf gegen seine skatologischen Phantasien und
Triebe, er kommt sich schwach, weiblich, häßlich vor. Laster, niedrige Den-
kungsart, tierische Triebe, häßliche Leidenschaften — all das liest er in
seinem Gesichte.
Seine erste Erinnerung an die Paraphilie ist zu notieren. Er spielt mit
einem kleinen Freunde, einem Vetter, der seinen Stuhl in der Nähe der Straße
absetzen will. Er bedeutet ihm, daß Leute kommen könnten, und hält ihn zu-
rück . . . Schon in dieser Erinnerung drücken sich beide Tendenzen aus:
die koprophile Neigung und der Kampf dagegen.
Allerdings geht seine Paraphilie noch weiter, als er mir bisher einge-
standen hat. Wir erfahren heute, daß Ansätze zuKoprophagie vorhanden
sind, daß es sich um eine Kombination von Homosexualität und argem In-
fantilisnms handelt. Er möchte auch gerne den Partner über sich defäzicren
lassen. Identifizierungen mit einem Klosett kommen vor. Die Stelle der er-
wünschten Defäkation ist der Bauch, hie und da der Mund. Auch Phantasien,
aktiv und passiv Pellatio zu machen, sind häufig. Durch die Lektüre von ver-
schiedenen medizinischen und populären Büchern wurde seine Phantasie an-
1 geregt und seine Paraphilie immer aufs neue ausgebaut.
Er berichtet über zwei Träume. In dem ersten lief er einer Elektrischen
nach, die er nicht erreichen konnte. Er versuchte vergeblich einzusteigen, sie
rühr ihm vor der Nase davon. Im zweiten führte er seinen Hund spazieren,
der sich mit einem anderen Hunde vereinigte, während er davonlief. Der erste
Traum zeigt uns ein unerreichbares Ideal. Der zweite jedoch das Bestreben,
eich von dem Animalischen (von dem Tiere in sich) zu trennen. So läuft er
auch vor dem Koitus mit einem Weibe davon.
Er erzählt, daß er schon lange die Gewohnheit habe, phantastische
homosexuelle Orgien aufzuschreiben und daß er diese erotischen Novellen
dann viele Monate mit sich herum trägt. Die letzte Novelle habe er vor
14 Tagen geschrieben. An diesen Aufzeichnungen habe er ein besonderes
Interesse, weil ihn schon das Niederschreiben und dann auch die Lektüre
sehr aufregen. Den Inhalt der letztbn Phantasie, die er aufgeschrieben hat
teilt er mit: Es ist eine Tafelrunde von zechenden Soldaten. Einer hält
ein nacktes Weib (!) auf dem Schoß. Sie muß in ein Glas urinieren. In
dieses Glas schüttet der Soldat sein Bier. Sie trinken dann alle von diesem
Biere.1)
Er gesteht dann, daß er schon einige Male mit großem Genüsse uro-
Iagnistische Akte ausgeführt hat. Eigentlich hatte er vor allen diesen Trieben
nur so lange Ruhe, als der Freund täglich zu ihm kam und er ihn seelisch
liebte. Deshalb war er so unglücklich, daß seine Mutter ihm diesen Freund
entzogen hatte.
■ Er macht einige Mitteilungen über seine Art, sich als Voyeur zu be-
tätigen. Es reizten ihn ursprünglich nur Männer im reifen Mannesalter. Sie
*) Die sadistische Bedeutung dieser Phantasie werden wir erst, später kennen
lernen. Urin vertritt im Traume häufig das Blut . .
446 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
mußten sehr schöne reine Wäsche haben. Die Ejakulation erfolgte, wenn er
Gelegenheit hatte, den Mann nackt zu sehen, wobei ihn der Phallus mehr
interessierte als der Podex.
■ Er gibt auch zu, daß er Phantasien hatte, die seinen Vater betrafen.
Doch wären ihm diese Phantasien unerträglich und zum mindesten unan-
genehm gewesen, so daß er sie beiseite geschoben habe. Dagegen wisse er sich
bestimmt zu erinnern, daß seine Mutter als erotisches Objekt für ihn nie in
Betracht gekommen sei.
Er wundert sich als echter Homosexueller sehr, was in der letzten
Phantasie das „nackte Weib" zu tun habe, und könne sich das nicht erklären.
Aber er teile mir alle Tatsachen ohne jede Schminke mit
Er fürchtet, daß die Mutter sich mit mir ins Einvernehmen gesetzt
habe. Sie komme ihm doch hinter alle seine Geheimnisse ... Ich verweise
auf die Tatsache, daß mir die Mütter aller Homosexuellen immer den größten
Widerstand gegen jede Analyse gezeigt haben, wenn sie merkten, daß ihre
Söhne frei wurden und sich an mich attachierten. Auch die Mutter Sigmas, die
ihn nach Wien begleitet hatte, duldet, wie wir wissen, kein intimeres
Verhältnis. So erzählt er, daß sie ihm erst gestern Vorwürfe machte, weil er
sie am Sonntag allein gelassen habe. Sie will ihm alles sein. Sie versucht
auch, mit ihm zärtlich zu sein, ihn zu streicheln, was er immer energisch ab-
wehrt. (Er glaubt, daß diese Abwehr auf die Einstellung gegen alle Frauen
zurückzuführen ist. Sie ist eine Art von Schutz gegen alle Zärtlichkeiten der
Mutter und findet sich typisch bei allen Söhnen, die an ihre Mutter inzestuös
fixiert sind.)
Er erzählt, wie ihm seine Mutter einmal anvertraute, daß sie an dem
Vater keine Stütze habe und eigentlich allein im Leben dastehe. Damals
weinte er über das Unglück seiner Mutter und verbrachte eine schlaflose
Nacht . . . Seine weiteren Assoziationen gehen auf die Todeskrankheit des
Vaters, der längere Zeit an einem Krebsleiden dahinsiechte. Er konnte den
Vater nicht pflegen, ihm gar nicht behilflich sein. Es war kurze Zeit, nachdem
der Vater seinem Freunde abgeschrieben hatte. Er hatte noch zu viel mit sich
zu tun. Er folgte teilnahmslos den furchtbaren Phasen des letzten Kampfes.
Einige Tage vor dem Tode träumte er, daß er den Vater tot und friedlich
auf der Bahre liegen sah. Es war ■ dies ein Ungeduldstraum. Er konnte den
Tod des Vaters kaum erwarten. Er erzählt, daß er damals den Vater heftig
haßte, weil er sich von der Mutter hatte den Brief an den Freund befehlen
lassen. Merkwürdigerweise zürnte er der starken Mutter nie so heftig wie dem
schwachen Vater. Bei dem Leichenbegängnis des Vaters und auch zu Hause
konnte er nicht weinen. Dieser Vorgang ist typisch für solche Menschen,
denen der Tod die Erfüllung eines alten Wunsches bedeutet. In der Tat war
der schwerkranke Vater eine arge Last im Hause. Die Mutter opferte sich auf
und der Tod war für alle Teile eine Erlösung. Auch stand er zum Vater
immer in einem ganz fremden Verhältnis. Sie hatten einander nie gefunden . . .
Er berichtet eine Menge kleiner Züge, welche alle beweisen, wie uner-
müdlich die Mutter bestrebt ist, ihn an sich zu binden. Er war gestern Nach-
mittag im Theater und dann im Prater. Abends fand er die Mutter traurig
Analyse eines Homosexuellen. . 447
im Zimmer. Sie sah ihn vorwurfsvoll an und sagte: Hast du während deines
Vergnügens nicht bedacht, daß du die Mutter allein zu Hause läßt? . . .
Er soll immer an seine Mutter denken und immer fühlen, daß er ewig
an sie gebunden ist. Immerwährend kommen Tanten und Nachbarinnen und
erzählen ihm, was die Mutter leidet, wenn er sie vernachlässigt. Die Mutter
müßte ihm doch näher stehen als die Fremden. Als er noch so heftig darunter
litt, daß die Mutter ihm den Verkehr mit dem Freunde untersagt hatte, traf
er den Freund einmal heimlich und sie besuchten ein Theater. Er traf die
Mutter, die irgendwie davon erfahren hatte, nachts mit verbundenem Kopfe
im Bette. Sie war krank vor Aufregung und blieb noch eine Woche im Bette
liegen. Schließlich erklärte ihm eine Tante, er wäre der Mörder seiner Mutter.
Sie könne sich seine Leidenschaft für den Freund nicht erklären. Ob er nicht
die Schwester des Freundes liebe? Er war glücklich, diesen Ausweg gefunden
zu haben und bejahte. Nun stieg die Eifersucht seiner Mutter aufs höchste.
Bald aber überzeugte sie sich, daß er sie betrogen hatte und daß ihm das
Mädchen ganz gleichgültig war.
Er empfand die Fessel des Hauses so bitter, daß er schon einmal den
Plan gefaßt hatte, die Eltern niederzuschießen und sich dann sofort auch zu
entleiben. Es kam oft zu Streitigkeiten, in denen er plötzlich unvermutet heftig
werden konnte und einen fürchterlichen Haß gegen die Mutter aufsteigen
fühlte. Doch gingen solche Episoden bald vorüber und er fügte sich in die
Tyrannis ihrer Liebe. Vielleicht nicht so ungern, wie er es darstellt. Denn
Gelegenheiten zur Befreiung gab es . . . und er ergriff sie nicht. Er blieb
untätig zu Hause und ließ sich erhalten und die Mutter für sieh sorgen.
Er träumte, daß er viele Pissoire besuchte und von einem zum anderen
lief. Dieser Traum zeigt ihn als Suchenden. Es ist, als ob er einer bestimmten
Szene der Kindheit nachlaufen würde. Er schildert, wie unwiderstehlich der
Drang über ihn kommt, daß er von einem Klosett in das andere geht, bis er
endlich den erwünschten Anblick genossen hat. Selten ist er befriedigt. Oft
ein Gefühl des Überdrusses und Ekeis nachher. Hie und da eine köstliche
Ruhe, in der er seine Gedanken wieder sammeln kann.
„Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt, als ich einen Verkleidungs-
trieb leugnete. Ich hatte oft derartige Phantasien. Besonders gern wäre ich
Salome gewesen und spielte mich in diese Rolle mit- großer Intensität hinein.
Meine Lehrer waren dann die Propheten, deren kaltes abgeschlagenes Haupt
ich küßte . . ."
Diese deutlich sadistische Veranlagung wird durch andere kleine Züge
bestätigt. Er ist eifersüchtig. Einmal sah er den Freund mit einer Dame
längere Zeit freundlich sprechen und schöpfte Verdacht, der Freund könnte in
diese Dame verliebt sein. Er sagte sich, daß er das Recht habe, den Freund
umzubringen, weil er ihn mehr liebe als jemand anderer in dieser Welt. Er
malte sich auch seinen Tod aus und was er mit ihm machen würde. Das
Hauptmotiv gesteht er zögernd: Ich würde seine Leiche sexuell mißbrauchen.
Dann spiele auch die Vorstellung einer immensen Trauer hinein.
Diese beiden Momente, die er heute erwähnte, finden sich im „Kaufmann
von Venedig". Eine Verkleidungsszene, die ihn immer sehr erregt hat, Porzio
ab Richter und der ein Stück Fleisch ausschneidende Jude. Shylock und
448 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Salome! Der blutige Kopf des Jochanaan ist verräterisch genug. Auch heute
hat er keine Zeit und muß rasch weggehen. Er ist immer glücklich, wenn
die Stunde vorüber ist. Das läßt uns auf weitere wichtige Enthüllungen
schließen.
Er trägt einiges über seine Mordideen gegen den Freund nach. Die liebste
Phantasie ist es ihm, wenn er sich vorstellt, daß er den Freund in die Tiefe
stürzt. Sie gehen häufig am Meere spazieren. An einer Stelle 6ind die Felsen
sehr steil und der Sturz in die Tiefe wäre der sichere Tod. Er kämpft gegen
den Gedanken, den Freund hinunterzustürzen. Auch beschäftigt ihn die Idee,
was er dann machen würde? Weggehen? Nein . . . Nachspringen und mit
ihm vereint sterben . . .
Tief in das Rätsel seiner Homosexualität bringt uns der nächste Traum.
Er erzählt erst diesen Traum, den er aufgeschrieben mitbringt, und setzt dann
zögernd den Teil hinzu, der als Nachtrag angemerkt ist. Dieser Nachtrag ent-
hält in den meisten Fällen das Wichtigste.
Der Traum im Eindämmern, noch vor dem Schlaf. Schauplatz : Die
Grotte gegenüber dem Schloß Schönbrunn. Ich stieg über die Felsen
hinunter und bei dem letzten Abhang angelangt, fürchtete ich mich sehr
vor dem Sprung ins leere Bassin. Ich überlegte, was mir zu tun bliebe,
und hatte die Vorstellung, daß hinter meinem Rücken nicht mehr Felsen,
sondern hoho Stufen waren, die ich nie und nimmer zu erklimmen ver-
mochte. Plötzlich stand ich dennoch auf ebener Erde, außerhalb des
Teiches. Blitzschnell und lautlos glitt ein Automobil an mir vorbei
und verschwand spukhaft in den Büschen. Von einem Lenker hatte ich
nichts gesehen, auch keine Insassen. Mir war sehr seltsam zu Mute, doch
wußte ich wieder, daß ich zu Hause und in meinem Bette war. Ich hätte
gern weitergeträumt, doch überwog der Wunsch, das Bisherige festzu-
halten, alle übrigen Wünsche. Ich fürchtete, meine Phantasie zu ver-
gessen, soweit sie bis jetzt gediehen war, und meinem Arzt nichts erzählen
zu können.
Bald darauf schlief ich wirklich ein und träumte noch sehr viel. Einiges
habe ich nach dem Erwachen am Morgen zu rekonstruieren versucht. Bezeich-
nend scheint mir, daß die meisten Träume mehr angedeutet als ausgeführt
waren, daß eigentlich immer noch etwas hätte geschehen müssen und daß
sich offenbar schon das nächste Traumbild vordrängte, bevor das eine ausge-
reift war.
I
Einmal befand ich mich in einem Theater in der ersten Reihe
eines höheren Stockwerkes. Es sollte „Tristan" gegeben werden. An Stelle
des Kapellmeiters dirigierte Arnold Rose. Den Tristan sang im Stil
des modernen Deklamationsgesanges ein hübscher Einjährig-Freiwilliger
hinter mir in der zweiten Reihe. Neben mir saß meine Tante aus der
Kindergartenzeit. Ich hatte die unangenehme Empfindung, als müßte ich
gegen meinen Willen ins Parkett hinunterspringen, und lehnte mich des-
halb fest in meinen Sitz zurück, so zwar,, daß ich die Beine weit aus-
streckte und mit den Fußspitzen an die Brüstung stieß (die Bettwand?).
Nun wurde mir immer unheimlicher bei dem Gedanken, daß die Brüstung
nachgeben und wie ein Stück Pappe abfallen könnte. Ich bat meine Tante,
z
Analyse eines Homosexuellen. 4.49
mich langsam wieder aufzurichten. Mir war dabei wie einem Schwer-
kranken. Wieder aufrecht sitzend, fühlte ich mich frisch und gesund und
«ah gerade, wie sich der Vorhang vor der Bühne senkte und einige
Leute davor erschienen, darunter auch einige befrackte Herren. Also
wieder eine Absage bevorstehend. Das Publikum brach in ironischen
Applaus aus, pfiff und johlte.
Ein anderer Traum: Spät abends in einem großen Garten. Viele
Leute, so wie zum Abschied nach einem mit inhaltslosem Geschwätz ver-
brachten Nachmittag. Meine Eltern waren auch anwesend. Mein Vater
hat es eilig, in die Stadt zu kommen. Er geht. Es ist ganz dunkel. Gleich
darauf eine Bahnhofsglocke, der Pfiff einer Lokomotive. Ich sage in die
Nacht hinein, nicht wissend, ob noch jemand neben mir ist oder nicht:
Er hat Glück gehabt. Er hat den Zug a tempo getroffen. Und denke mir,
in einer Stunde nachzukommen. Ich bin sehr müde. Ich freue mich auf
mein Bett daheim.
Sonniger Nachmittag in einer ärmlichen Vorstadt. Unter einem
Parterrefenster stehen einige Blechgeschirre, von denen ich weiß, daß
sie der Frau, die da oben wohnt, gehören. Ein altes Weib macht eich
damit zu schaffen, prüft die Sachen, hält sie einmal hoch, dann wieder nah,
wie zum Scherz, doch weiß ich, daß sie nur die Gelegenheit abwartet, um
unbemerkt mit ihnen zu verschwinden. Im Nachbarhaus wird ein Fenster
aufgerissen, eine gewöhnliche Frauensperson ruft der Unbekannten, die
hinter dem Fenster wohnt, unter dem das Geschirr steht, zu, sie solle
-üch vor der Diebin in Acht nehmen. Hierauf stehe ich selbst im Zimmer
der Besitzerin des Geschirres. Sie legt gerade ihren besten Putz an.
Die warnende Nachbarin erscheint und frotzelt die Putzsüchtige, die über
ihrer' Eitelkeit darauf vergißt, ihre Sachen zu hüten.
Nachtrag :
Ich befand mich in dem Nebenzimmer. Die Frau hatte ein kleines
Mädchen bei sich. Ich hielt meinen Penis in der Hand, jagte den beiden
nach und wollte, daß sie ihn in die Hände nehmen, und verspritzte so
meinen Samen ...
Vor den Händen der Frau hat mir gegraut, weil sie schmutzig waren.
Eine Analyse des ganzen Traumes wird hier kaum am Platze sein. Der
erste Teil, das Springen in ein tiefes Bassin, ist ein hypnagoges Bild und
schildert das Einschlafen, den Sturz in die Tiefe des Triebmenschen. Das rasch
vorbeisausende Automobil die Gefahr . . . Die Aufführung von Tristan deutet
auf eine große Leidenschaft zu einer Königin. Schon Schönbrunn, die Sommer-
residenz des Kaiser, geht auf das Elternhaus. Isolde ist auch eine Königin, die
für Tristan ewig verloren ist. Ist es nicht merkwürdig, daß er von „Tristan
und Isolde", dem Hohenlied der heterosexuellen Liebe, träumt? Und gilt die
Absage nicht der Entsagung dieses geheimen Wunsches. Immer wieder die
Gedanken von einem Sturz in die Tiefe und die morschen Hemmungen. (Hier
die Brüstung.) Der befrackte Herr der Gegensatz der Liebe eines modernen
Kulturmenschen zu einem Tristan. (Er ist Tristan, der Zuschauer und der
mitsingende Einjährig-Freiwillige.) Endlich ein anderes Bild: Die Abreise
(lies der Tod des Vaters). „Er hat Glück gehabt." Was soll das bedeuten? Er
hat den Zug a tempo getroffen? Denken wir daran, daß er in einem seiner
vorherigen Träume die Elektrische nicht einholen konnte, so können wir er-
Stekel, Störung«!! dos Trieb- und Affektlebens. II. 2. Aufl. 29
450 Zweiter Teil. Die Homosexualität,
kennen, daß der Vater sein Ziel zur rechten Zeit (a terapo) gefunden hat,
während er es versäumt. Wir werden bald hören, was dieses Ziel bedeutet.
Und über alle Hindernisse bricht sich ein anderes Bild Bahn: eine alte Frau,
der er mit erigiertem Penis nachläuft. (Das Kind ein Symbol des Genitales.)
Vergl. Die Sprache des Traumes das Kapitel „Die Kinder im Traume", S. 163.)
Er wundert sich nicht wenig, daß er im Traum heterosexuelle Gefühle
produziert. Er hat bisher nie auf die Träume geachtet.
Noch habe ich nicht gesagt, wen die alte Frau darstellen sollte. Er wird
aufgefordert, eine Frau zu nennen, die ihm dazu einfällt, und sagt nach einigem
Zögern : Meine Mutter.
Wir sind hier auf eine der Wurzeln der Homosexualität gestoßen, die
wir vielleicht a priori erwartet haben. Ich habe mich bisher wohl gehütet,
irgend eine Anspielung auf sein Verhältnis zur Mutter zu machen.
Was bedeutet der Teil des Traumes, in dem von den Blechgeschirren
die Rede ist? Ich stelle mir das so vor: Er hat nicht viele Schätze, es ist
leerer Tand, aber es gehört alles der Besitzerin da oben ... der Mutter.
Die Nachbarin warnt die Mutter, daß ihr ein anderes Weib die Liebe des
Sohnes stehlen könnte. Die Mutter ist sehr putzsüchtig und verwendet viel
Zeit auf ihre Toilette.
Der Schluß des Traumes bringt die Pollution und den höchsten Affekt:
das Grauen vor den schmutzigen Händen der Frau da oben.
Wir sehen, wie langsam sich die Pollution vorbereitet. Erst wird die
heterosexuelle Liebe (Tristan) vorgeführt. Aber seine inneren Stimmen (das
Publikum!) wehren sich gegen diese Liebe, sie entwerten sie (johlen und
pfeifen, ironischer Applaus!). Dann tritt der Vater in Aktion. Er läßt ihn ab-
fahren. Es treten andere Frauen auf (das alte Weib — die Nachbarin). Aber
erst der „Frau da oben" — der Mutter gelingt es, den Orgasmus durchzusetzen.
Vor dieser Art von Pollution, die doch nur eine unbewußte Onanie darstellt
(schmutzige Hände!), graut es ihm.
Der nächste Traum bringt eine Situation, in der ein Mann von seinem
Sohne spricht. Die Szene spielt in einer Bedürfnisanstalt. Wahrscheinlich
handelt es sich um Reproduktion einer infantilen Szene, in der er seinen Vater
bei der Notdurft beobachtet hat. Viel bedeutsamer ist der zweite Traum. Ich
lasse beide jetzt folgen :
Ich befand mich in dem Abteil einer Bedürfnisanstalt und beobachtete
mein „Opfer". Der Mann kehrte mir den Rücken zu und sprach mit sich
eelbst von seinem Sohne. Ich merkte, daß die Wärterin mich von außen
beobachtete, und schickte mich, den Hut ergreifend, in dem Augenblicke
zum Gehen an, als sie die Tür öffnete, um mich auf meinem Seherposten zu
ertappen. Ich spielte den Unbefangenen, nahm in aller Ruhe das Taschen-
tuch zu mir, auf dem ich gekniet war, las die Unmenge von anderen
Dingen auf, die noch am Boden verstreut lagen (Handschuhe, Kragen-
schoner etc.) und ging mit der Genugtuung, daß ich durch meine Fassung
die Frau in ihrem Verdacht schwankend gemacht und einen Skandal abge-
wehrt hatte . . .
Ich stieg die Stufen zu einem weitoffenen Laden hinan. Auf halbem
Wege erblicke ich in einem Winkel die Verkäuferin. Bei ihrem Anblick
befällt mich ein heilloses Bauchgrimmen. Ich kehre um und entleere mich
Analyse eines Homosexuellen. 451
vor dem Hause in aller Öffentlichkeit. Die Frau dort oben wird mich ja
doch nicht sehen?
Ihm fällt die schon erwähnte Erinnerung zu diesem Traum ein (S. 357) :
Er war zwei Jahre alt, da ging er mit einem Knaben, der sich auf die
Straße setzte und seine Notdurft verrichtete. Er gesteht jetzt, daß es ihm auch
dio Libido steigere, wenn er sich vorstelle, daß man ihm bei der Defäkation
zusehe. Das ist ein typischer Fall von sexuellem Infantilismus. Er ist nicht
nur Voyeur, er ist auch Exhibitionist.
Der erste Traum enthüllt die Angst, die Mutter (die AVärterin!) könnte
seine skatologischen Tendenzen erfahren. Im zweiten wird die „Frau da oben"
die Zuseherin einer Szene infantilen Charakters. Sie dürfte eine Reproduktion
einer der zahllosen ähnlichen Szenen der Kindheit darstellen.
Er hat schon einige homosexuelle Akte in Bädern vollzogen. In Däne-
mark baden die Männer nackt in den Dampfbädern. So kam es, daß er sich
von einigen Männern anrühren und bis zur Ejakulation reizen ließ. Er hat
auch zu dem gestrigen Traum von der Defäkation einen Nachtrag zu liefern.
Er hörte einmal am Meeresstrande in dem Aborte einen Mann stöhnen. Er stieg
auf die Scheidewand und sah einen Mann onanieren. Sofort wurde er so er-
regt, daß er dann zurückstieg und auch zu onanieren anfing. Der Mann revan-
chierte sich und sah ihm dann zu, was seine Libido außerordentlich steigerte.
Seine heutigen Träume sind sehr charakteristisch.
Ich bin in einem Waggon und spiele mit einem Wickelkinde, das
ich gerne los sein möchte. Da gab mir ein Herr den Rat, das Kind in eine
Blechschachtel1) einzupacken, und das tat ich auch.
Deutung: Er will seinen Infantilimus los werden; er konserviert ihn
in einer Blechschachtel. Kompromiß aus beiden Strömungen. Der nächste
Traum erzählt von einem Geistlichen, der vor einem großen Loch in der Erde
steht und bedeutet, dieses Loch beweise, daß eine Askese unmöglich sei. Man
müsse wenigstens von Zeit zu Zeit onanieren. Im Loche sah man Wurzeln,
die wie Haare aussahen. Dann ist er mit der Mutter in einem Wagen. Die
Mutter verwandelt sich in eine heilige Madonna oder in die heilige Zara (?).
Auch die Erde steht für die Mutter. (Mutter Erde.) Das Loch deutet
auf Geburt und Tod. Man kommt von der Mutter und geht zur Mutter. Die
Mutter erscheint wieder als Heilige und als Zarin, wofür das rätselhafte Zara
steht. Der Vater ist der Zar, wie er im Tristantraumo den König Marke re-
präsentierte. Die Folgerungen ergeben sich von selbst.
Zu den Haaren hat er eine eigene Einstellung. Die Haare der Frauen
sind ihm ekelhaft. Die Mutter hat lange blonde Haare. Der Vater war sehr
stark behaart. Früher waren ihm die behaarten Männer alle ekelhaft. Sein
Ideal sind flaumige, junge, weibliche Männer. Er sucht eben immer wieder das
Weib im Manne . . .
Er kommt noch einmal auf den Traum von der Erde und dem Loche
in 'der Erde zurück. Er erinnert sich jetzt an ihn ganz deutlich:
*) Vergleiche die Kästchen („Kaufmann von Venedig") im ersten Traume.
29*
452 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich bin wieder Mittelschüler und soll mit meinen Kameraden zur
Beichte geführt werden. Wir stehen in einem weiten, kreisrunden, aus
der Erde gegrabenen Platz. Die natürliche Erdmauer zieht sich in der
Höhe von 2 m ringsherum. Darüber baut sich eine prächtige, tempel-
artige Halle auf. Ein Mönch weist auf die nassen Flecke im Erdwall
und vergleicht sie mit den erotischen Gedanken, die auch aus dem Leben
eines der Kirche Geweihten nicht auszuschalten sind. Darauf erblicke
ich ein Wurzelgestrüpp an der Wand und denke unwillkürlich an Scham-
haare. Der Mönch verurteilt die Askese.
Ein Traum, der überwiegend religiöse Bedeutung hat. Schon in den
früheren Träumen war „die Frau da oben" in der religiösen Überdetermination
als „Mutter Maria" aufzufassen, der seine Liebe gehört, die keine irdische
Frau ihr rauben dürfe. Er sieht sein Grab, das ihn wie ein „Memento mori!"
auffordert, sein Leben als Vorbereitung für das Jenseits aufzufassen.
Es ist, als ob ihm das Weib der Inbegriff der Sünde wäre. Jetzt wissen
wir, warum die „Frau da oben" ein Kindlein hat. Es ist das Jesukindlein.
Er hat seinen reinen Glauben befleckt. Der Wall seines Glaubens (die Erd-
mauer!) ist gleichfalls von seinen sündigen erotischen Gedanken beschmutzt.
Der große Wall um den Platz in der Höhe von zwei Metern symboli-
• siert alle Hemmungen. Er ist der Mönch selbst, er wollte doch vorübergehend
Geistlicher werden, er ist ein heterosexueller Asket ...
Heute Nacht viele Träume von Wanderungen durch Pissoirs. In einem
Pissoir traf er einen Mann, der statt des Phallus eine Vagina hatte.
Wüste Träume. Unter anderen ein Traum, in dem er einem fremden
Manne podicem lambit. Solche Wünsche hat er auch im Wachen . . . Ferner
Träume, in denen er mit einem fremden Manne gemeinsam onaniert. Schließ-
lich aber münden die kleinen Träume in einen großen, in dem er sich mit
dem M ä d c h e n befindet, die er in seiner Jugend verehrt hat. Die ganze
Nacht geht der Kampf gegen die heterosexuellen Tendenzen, bis er schließlich
unterliegt.
Deutlicher Widerstand gegen die Aufdeckung der heterosexuellen Ten-
denzen.
Ein Traum verdient aus einer langen Reihe hervorgehoben zu werden:
Ich gehe mit meiner Mutter spazieren. Wir sind zärtlich miteinander
und sie sagt mir liebe Worte. Ich pflücke an einem Bache wundervolle
Anemonen und will daraus einen Strauß machen und ihn meiner Mutter
verehren. Die Blüten fallen aber alle ab und nur der leere grüne Stengel
bleibt in meiner Hand.
Wer die Symbolik des Blumenpflückens *) kennt, wird leicht erkennen,
daß es sich um Genüsse erotischer Natur handelt. Es werden aus diesen Lieb-
kosungen leere Stengel. Die Liebe kann keine Blüte- und keine Frucht zeitigen.
Er verbreitet sich über sein Verhältnis zur Mutter. Es ist eigentlich
eine Ehe ohne jede erotische Beziehung. Denn Zärtlichkeiten von Seite der
J) Sprache des Traumes Seite 148.
Analyse eines Homosexuellen. 453
Mutter verträgt er nicht und hat sie sich längst ausgebeten. Es herrscht jetzt
zwischen ihnen eine deutliche Scheu. Das Erotische wird gar nicht berührt.
Er hat sich gegen seine Inzestgedanken durch eine Schranke von scheinbarer
Kälte gesichert. Aber sie leben zusammen, sie gehen zusammen aus, sie teilen
alle geistigen Genüsse. Er hat an seiner Mutter eine Frau gefunden, die sein
ganzes Leben in Beschlag genommen hat. Und er ist ihr eigentlich nicht
böse, daß sie ihn vom Freunde getrennt hat. Er versteht sie und das heißt,
er fühlt mit ihr. Der Freund bedeutete einen Versuch, sich von der Mutter
vollkommen zu befreien. Die Mutter handelte instinktiv richtig, wenn sie ihn
zu trennen versuchte. Er will auch ernstlich keine Befreiimg aus dieser
Sklaverei der Liebe. Er läßt sich gerne leiten und als Kind behandeln. Er stellt
sich so, als ob ihm die Liebe und das Band unangenehm wären. Beide Strö-
mungen — zur Mutter! und von der Mutter weg! — leben in seiner Seele.
(Bipolarität!)
Die Behandlung soll ihm auch nur Besserung seiner neurotischen Be-
schwerden und keineswegs Befreiung von der Mutter bringen. Er träumt, daß
er genesen ist und der Mutter mitteilt, er wäre nun gesund, sie würden viel
glücklicher zusammen leben als bisher.
Im Anschluß an einen Traum kommt eine neue Liebesaffäre zum Vor-
schein, die er mit 16 Jahren durchmachte. Er machte einem Mädchen den Hof
und schickte ihr einige Gedichte. Er glaubt, daß es nur ein Spiel war, um
sich „einzureden", daß er auch Mädchen lieben könnte. Auf diese Weise will
er die Tatsache seiner heterosexuellen Strömungen aus der Welt schaffen. Er
meint aber, Liebesgedichte hätten nichts zu sagen. Er hätte auch an seine
Mutter Gedichte gemacht, als er einige Zeit vom Hause weg war.
„Du meines keuschen Herzens Allgebieterin.
Der ich mich neige in tiefer Demut . . ."
Die Gedichte sind voller Sehnsucht und Leidenschaft. „Sein Blut schreit
nach ihr, sein Herz ist von ihr allein erfüllt." So dichtet nur ein sinnlos Ver-
liebter sein Liebesobjekt an.
Wir sehen aus diesem Falle den klaren Beweis, wie die Monosexualität
der Homosexuellen beschaffen ist. Er wollte aber von diesen Beziehungen nichts
wissen. Alles, was er an Kräften der Sublimierung zur Verfügung hatte,
wurde auf die Mutterliebe verwendet. Daher mußte ein Teil seiner Schmutz-
liebe (Mysophilie) erhalten bleiben. Was er auf der einen Seite
an Reinheit übertrieb, mußte auf der anderen Seite
als Versinken in den Schmutz zum Vorschein kommen.
Zu betonen ist aber, daß er seine Homosexualität nicht verlieren will. Er be-
trachtet sie als einen Schutz und als eine Auszeichnung vor anderen Menschen.
Das beweist wieder die Trostlosigkeit therapeutischer Bemühungen in den
meisten dieser Fälle.
Er ist erstaunt, seit er seine Träume . kontrolliert, wie häufig hetero-
sexuelle Regungen auftreten. Heute Nacht träumte er zuerst, daß er einer
nackten, wunderbar gebauten Frau den Finger in vaginam et in anum immissit.
Ferner einen zweiten sonderbaren Traum, der in der Auflösung seine \-
Neurose eine große Rolle spielen sollte: •
454 Zweiter Teil. Die Homosexualität
Ich bin mit meiner Mutter in der Oper. Mir fällt ein langer Gang
auf, an dessen Ende man eine Aussicht auf Wien hat. Man sieht den mäch-
tigen Stephansturm, von dessen Spitze ein feiner Nebel, wie ein Rauch
oder wie eine fein zerstäubte Wassersäule ausgeht. In der Oper ist die
Vorstellung geändert. Man gibt statt Don Juan die Donna carissima.
Zeigt schon der erste Traum eine deutliche Einstellung zur Frau, so
verrät der Programmwechsel im zweiten die Entstehung seiner Neurose. Ich
ersuche ihn um eine Schilderung der Frau aus dem ersten Traume. Er sah
ihr Gesicht gar nicht. Er sah nur den blendend weißen, herrlichen Körper.
Solche Träume (Figuren ohne Gesicht!) sind sehr häufig und dienen
dazu, das geheime Liebesobjekt zu verhüllen und nicht erkennen zu lassen.
Ich kenne Träumer, die mit solchen Halbfiguren Pollutionen träumen. Das
Gesicht ist nie zu sehen. Oft nur ein Teil des Körpers. Wir können aus dem
zweiten Traume annehmen, daß es sich um die Mutter handelt. Sonst wäre es
kaum zu erklären, warum das Gesicht der Traumzensur verfallen wäre.
Der zweite Traum gehört in die Kategorie der Mutterleibsträume. Er
ist im Mutterleibe. (Zum langen Gang fällt ihm der Lebensweg ein. Es ist in
der Tat der Weg, auf der er zum Leben gekommen ist.) Der Stephansturm ist
ein phallisches Symbol. Die Rauchsäule die Ejakulation oder die Mictio. Es
ist die Vorstellung, daß er sich im Mutterleibe befindet und von dort den
Vorgang der Begattung beobachten kann. Noch durchsichtiger wird der Traum,
wenn man weiß, daß der Vater Stephan heißt.1)
Nun wird sein sexueller Infantilismus verständlich. Er leidet an der
„Mutterleibsphantasio". Jedes Klosett wird ihm zum Symbol des Mutterleibes.
Dort beobachtet er den urinierenden Mann, wie er den Vater im Mutterleibe
hätte beobachten können, wenn er nur damals als Embryo genug Verstand
gehabt hätte! Man würde es nicht für möglich halten, daß intelligente Men-
schen Opfer einer so kindischen Phantasie werden. Die Praxis bestätigt immer
Wieder die eminente Bedeutung dieser Phantasie. In diesem Falle bestand Un-
lust und Abneigung gegen enge geschlossene Räume, ferner eine Reihe von
paraphilen Neigungen, die eich aus der Phantasie erklären ließen. Er schwelgte
in dem Gedanken, sich vom Sperma des geliebten Mannes anspritzen zu lassen ;
er hatte das Verlangen membrum erreetum amati viri fellare; auch seine
urolagnistischen und koprolagnistischen Gelüste standen unter der Herr-
schaft der einen Phantasie. Er benimmt sich, als ob er im Mutterleibe wäre.
Der Traum sagt aber deutlich, daß in dem Theaterstücke seines Lebens
ein Programmwechsel stattgefunden habe. Aus einem Don Juan ist eine Donna
geworden. (Carissima . . . eine, die ihm am teuersten ist.) Er hat einen Pro-
grammwechsel vollzogen und die Liebe zum Vater auf die Mutter übertragen.
Diese Donna ist seine vollkommene Identifizierung mit der Mutter. Er ist im
Mutterleibe und ist die Mutter selbst. Er ist sich am liebsten, er ist sich das
liebste Weib, er liebt das Weib in sich. Die nie fehlende Verliebtheit der
Homosexuellen in sich selbst (Narzissmus).
Verschiedene Erinnerungen werden lebendig, die alle beweisen, daß seine
ursprüngliche Einstellung heterosexuell war. So verliebte er sich mit fünf
Jahren in ein Mädchen, wollte sie heiraten und nannte sie seine Braut. Aus
l) Vergleiche „Die Sprache des Traumes" das Kapitel „Mutterleibsträume" S. 281.
Analyse eines Homosexuellen.
455
eeinem späteren Alter kennen wir nur drei heterosexuelle Episoden. Es ist
noch nicht verständlich, warum diese vollkommene Abkehr vom Weibe er-
folgte. Weitere Aufklärungen bringen uns Träume, aus denen ich nur Bruch-
teile berichte. So träumt er:
Ich wohne einer Unterrichtsstunde bei. In meinem Lehrbuch steht
von physikalischen Versuchen geschrieben, im weiteren Verlaufe wird es
zur Historie. Es wird etwas von der Geschichte der alten Bayern erzählt.
Die Jahreszahl 4005 spielt eine Rolle. Die Sache endigt mit einem Märchen
von drei Fichten, die am Winterabend vor dem Hause stehen und drei tote
Frauen bedeuten.
Später produziere ich mich mit Erfolg als Damenimitator.
Zur Zahl 4005 fällt ihm ein: 00 bezeichnet man einen Abort. 45 ist
die Opuszahl einer Lieblingsoper von mir, der Salome von Richard Strauß.
4 und 5 sind die schlechten Noten in der Schule . . .
Die Salome von Strauß sowie ein früherer Traum führen uns auf seine
sadistischen Instinkte. Immer deutlicher wird es, daß sein ursprünglicher
Sadismus außerordentlich groß war. Noch heute schwelgt er in Phantasien
von Sexualverbrechen, Totenschändung usw. ... Er spielte mit dem Plane,
sieh und die ganze Familie zu töten. Ein Widerstand im Hause löst sofort
Mordgedanken aus. Seine ursprüngliche Stellung zum Weibe war auch
sadistisch. (Das Hauptmotiv der Salome der abgehauene Kopf des Propheten.
Auch das herauszuschneidende Pfund Fleisch des Shylock im ersten Traume
bezieht sich auf diese Triebrichtung. Ferner der Traum von der Wanze!)
Schon früh setzte seine Frömmigkeit ein und schützte ihn gegen da's wilde
Tier in sich. Mit sechs Jahren spielte er Prediger und hatte seinen eigenen
Altar. Er floh vor dem Weibe, weil er seiner selbst nicht sicher war . . .
Er hat eine ganze Menge von Idiosynkrasien, welche sich durch einen
verdrängten Sadismus erklären lassen. Er kann keine Pfirsiche essen, weil die
Haut ihn an eine menschliche Haut erinnert ; er verträgt nicht „Haut in der
Milch", 'sie erregt bei ihm Ekel und Brechreiz; er hat oft Abneigung gegen
Fleisch und hatte eine lange vegetarische Periode. Fleisch bezeichnet er als
Tierleiche. Die Vorstellung einer menstruierenden Frau ist außerordentlich
ekelbetont. Alle Zusammenhänge mjt Blut sind sehr affektbetont, teils positiv,
teils negativ.
Was bedeuten die drei Fichten, die Symbole toter Frauen darstellen?
Sind ihm drei weibliche Ideale gestorben? Er assoziiert „Ein Fichtenbaum
stand einsam im Norden auf kalter Höhe . . . usw." Dieser Fichtenbaum
träumt von Palmen in der Gluthitze des heißen Südens. Weitere Einfälle
bleiben aus. Große Hemmung beim Thema der „toten Frauen".
Ich übergehe eine ganze Menge von Tagen, die nur eine Vorbereitung
zu der kommenden Lösung bedeuten. Auch will ich nur das wichtigste
Traummaterial mitteilen.
Von großer Bedeutung scheint mir der nächste Traum zu sein:
Stehe mit meinem Vater an einem Strom. Ein kleiner weißer
Dampfer entfernt sich von uns und dreht sich und wendet sich wie ein
Reptil. Es hätte mir viel Vergnügen gemacht, auf ihm zu fahren (ich
weiß auch nicht, wie ich hineingekommen wäre, denn er ist wie im
456 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Mikrokosmos). Nun ist das Schiff versäumt und wir müssen auf den
Schnellzug warten. Daß wir mit dem Schiri auch schneller daran gewesen
wären, dieBe Meinung kann ich mit meinem Vater nicht teilen.
Hierauf biege ich in eine Grotte ein, wo noch viele andere Leute
vorwärts wandern. Der Weg ist vielfach gewunden und ansteigend. Wer
von meinen Bekannten mit mir geht, weiß ich nicht. Ich habe meine ganz«
Aufmerksamkeit auf Schlangen gerichtet, die ich an einer Leine führe.
Sie haben sehr freundliche Köpfe und manchmal kommt es mir vor, als
hätten sie Beißkörbe um. Zu jemandem in meiner Umgebung mutmaße
ich, daß man ihnen das Gift schon ausgedrückt hat. Als ich endlich hoch
oben in einem taghellen Haus ankomme, sind aus ihnen Hunde geworden,
die meiner Führung entgleiten und blitzschnell die tiefen Treppen hin-
untersausen. Gleich darauf sind sie wieder bei mir und lassen sich ganz
ruhig an die Leine nehmen.
Ich finde in meiner Wohnung einen Pack Taschentücher, wohl-
verwahrt in Seidenpapier.
Dieser Traum ist eine Kombination von einem Spermatozoentraum und
einer Mutterleibsphantasie. Der Strom, in dem sich das Schiffchen bewegt,
der Lebensstrom, der Strom des Sperma trägt einen bestimmten Samenfaden,
ihn selbst. Er, der Große, möchte wieder in das kleine, sich wie ein Reptil
windende Schiffchen zurück. Er möchte wieder klein sein, nicht ein Kind, nein,
der Samenfaden. Er ist mit seinem Leben unzufrieden und möchte sein Leben
noch einmal beginnen. Der Weg führt aus dem Strom in eine Grotte (den
Leib der Mutter). Zugleich symbolisiert dieser Traum sein ganzes Leben,
das ihn aufwärts führt zu lichten Höhen über Mühen und Gefahren. Seine
Gedanken sind hier als Schlangen dargestellt. Sie haben wohl freundliche
Köpfe (d. h. die Sünde lockt!), aber er hat sie alle gebändigt. Alle Sünden
sind überwunden, alle Schlangen sind gebändigt und tragen Beißkörbe. Das
lichte Haus ist die Kirche. So zeigt dieser Traum Anfang und Ende des
Lebens.
Der nächste Traum von den Taschentüchern wird verständlich, wenn
man weiß, daß er seine Onanieakte in Taschentüchern vollzieht. Die Ver-
wahrung in Seidenpapier zeigt uns, daß er die spezifische Onaniephantasie
verbirgt.
Der Traum beschäftigt sich mit dem Vater. In den letzten Tagen kamen
seine Gedanken immer wieder auf den Vater zurück. Er sagt mir darüber:
„Ich habe sehr schwere Tage gehabt und merkte erst, wie sehr ich an
den Vater fixiert war und welche überragende Rolle er in meinem Leben ge-
spielt hat. Ich fühlte gestern den ganzen schweren Haß gegen meinen Vater,
den ich durch viele Jahre getragen habe."
„Warum haßten Sie den Vater?"
„Erstens weil er mich gezeugt hat und mir seine schwächlichen Anlagen
vererbte. Solche Männer dürfen keine Kinder haben. Ich habe alle seine
Krankheitsanlagen übernommen. Dann haßte ich ihn, als er mich durch den
von der Mutter anbefohlenen Brief von meinem Vetter trennte."
„Da müßten Sie ja die Mutter hassen ! Ist es nicht merkwürdig, daß Sie
den gleichen Vorfall bei der Mutter verstehen und beim Vater nicht? Bei der
Mutter fühlen Sie sich ein, beim Vater sind Sie das nicht imstande."
Analyse eines Homosexuellen. 4.57
„Freilich, wenn Sie das auseinandersetzen, 'so merke ich, daß ich dem
Vater großes Unrecht getan habe. Der Brief war nur ein Vorwand, uni einen
Grund zum Haß zu haben. Ich erinnere mich mit Grauen aTi seinen Todestag.
Ich hatte den Eindruck, daß der Vater vor mir Angst hatte. Er sah mich
mit großen, glasigen Augen an und hielt immer die Hand der Mutter. Ich
fühlt« damals etwas wie Eifersucht gegen die Mutter, versteh»
jetzt, daß ich immer eifersüchtig war. Meine Mutterleibsphantasie heißt ja,
daß ich bei den Liebesakten der Eltern dabei sein will. Ich will dem Vater die
Mutter ersetzen. Ich liebte ihn als kleines Kind mit großer Leidenschaft und
litt dann unter seiner Kälte. Er war immer übermäßig lieb und freundlich zu
mir, aber ich fühlte doch, daß mir etwas fehlte."
Er hatte vom Vater Zärtlichkeiten erwartet. Er spielt noch jetzt in
seinen sexuellen Akten zwei Phantasien. Er ist der Knabe, der den Vater
beim Koitus belauscht. Das ist die eine Abortphantasie, wenn er ältere Männer
beobachtet. Er läßt sich von einer Respektsperson als reeeptaculum seminis
benützen. (Starker Wunsch, Lehrern Fellati 0 zu machen oder sich päderastieren
zu lassen!) Er ist im Mutterleibe und wird vom Vater päderastiert oder
felliert. Oder er ist selbst der Vater, er identifiziert sich mit dem Vater, dann
sucht ei- junge Knaben, welche ihn selbst repräsentieren.
Man wird aber einsehen, daß diese Phantasien so weit von der Realität
abweichen, als es überhaupt möglich ist. Er ist nicht imstande, den Übergang
in die Realität zu finden, weil er immer wieder der Mutterleibsphantasie er-
liegt, die in Form der Klosettbeobachtungen auftritt.
Die Liebe zum Vater erweist sich als die stärkste
Wurzel seiner Homosexualität. Er wollte seinem
Vater die Mutter ersetzen. Er istin seinen Phantasien
bald Vater, bald Mutter und hat seine eigene Indi-
vidualität nicht erreicht. Er liebt sich bald mit väterlichen,
bald mit mütterlichen Gefühlen.
Aus verschiedenen Träumen hebe ich nur den einen hervor. Er zeigt
uns die bekannte Einstellung zur Mutter:
Fahre mit meiner Mutter aufs Land, wo wir einige Tage zur Er-
holung verbleiben wollen. Gegend: Waldgebirge. Teils nach der Natur,
teils aus früheren Träumen bekannte Bahnfahrt, Umsteigstelle, Fuß-
wanderung. Wundervolle Wälder mit reichblühenden Bäumen. Doch dia
Blüten vielfach braun gefault, wie nach zu viel Regen. Fliederbüsche,
doch schon arg zerzaust vom Wetter und von plündernden Menschen. Der
Weg mündet auf eine Bergwiese mit der Aussicht auf viele Villen im
Tal. Ich erkenne, daß wir uns vergangen haben, wir hätten
auf halbem Wege nach rechts abzweigen müssen, um an jenen Ort zu ge-
langen, wo wir uns dauernd niederlassen wollten.
Es ist eine Liebe, bei der die Blüten angefault sind. Sie haben sich
vergangen (man achte auf den Doppelsinn) und sind vom rechten Wege ab-
gekommen.
Sein Sinnen in die Vergangenheit erhellt aber nicht nur aus seinen
Träumen. Er findet unter seinen Jugendgedichten eines, das vollkommen der
Vaterleibsphantasie entspricht und das von den Zeiten spricht, als er noch
.,ungeformt und leise im Vaterschoße ruhte" . . . .
458 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Auf lKue Zusammenhänge bringen uns die nächsten Tage. Immer tastet
er die Vergangenheit ab und träumt sich um viele Generationen zurück. Er ist
vornehmer Abstammung, ist gar nicht der Sohn seines Vaters, ist ein von
Zigeunern ausgetauschtes Kind, er ist nur zufällig in diese Familie hinein-
geraten.
Nun zeigt es sich, daß zwei Schicksale in der Familie viel besprochen
wurden, welche sein Leben determiniert und ihm eine Angst vor dem Weibe
erzeugt hatten. Das eine ist das Schicksal seines Vaters. Er war vor der
jetzigen Ehe mit einer anderen Frau verheiratet, die er auf frischer Untreue
ertappte, so daß er sich duellieren mußte. Eine Narbe auf der Stirne gab
davon Kunde. Ein Onkel aber nahm sich das Leben, weil er erfuhr, daß seine
Frau, die er für ein treues Weib gehalten, ihn betrogen hatte.
Diese Beispiele standen schon als Knabe vor seinen Augen. Sie waren
furchtbare Drohungen: Hüte dich vor dem Weibe!
Die nächsten Tage handeln von seiner Angst vor dem Weibe. Wie eine
ewige Warnung stehen das Schicksal seines Vaters und seines Onkels vor ihm.
Schon in frühester Kindheit setzte sich bei ihm der Gedanke fest: Hüte dich
vor den Frauen ! Seine Mutter tat alles, um diesen Gedanken für ewige Zeiten
zu fixieren.
Doch jede Angst ist die Angst vor sich selbst. Die Angst vor den Frauen
muß noch eine tiefere Determination aufweisen. Auf neue Zusammenhänge
bringt uns der nächste Traum :
Ich stehe zur Abendzeit auf der Straße. Mir gegenüber ist das
Pflaster aufgerissen. Ein Wagen kommt angefahren. Er kommt aus der
Dämmerung, während es die Straße hinunter schon stark dunkelt. Pferd
und Kutscher werden es übersehen, daß die Straße aufgerissen ist. Da
springt ein mächtiger Bär zur Warnung auf das Pferd los, der Kutscher
zieht die Zügel straff an sich, das Tier macht einen Bogen um das auf-
gerissene Pflaster, wendet auch den Kopf ängstlich davon ab und lenkt
dann wieder in die gerade Richtung ein. Bevor der Wagen in die Nacht
entschwindet, springt noch einmal der starke Bär an ihm hinauf.
Ich bin heftig darüber entrüstet, daß man so wilde Tiere zur
Warnung ausschickt. Es könnten kleine Kinder auf dem Wagen sein,
die vor Schreck der Schlag trifft.
Jeder Satz in diesem Traume ist ein psychischer Verrat. Der Traum
schildert seine Lebensfahrt. Eine Hälfte der Straße ist aufgerissen und un-
fahrbar. Er kann nur den homosexuellen Weg gehen. Der heterosexuelle ist
so aufgerissen, daß er unfahrbar ist. Es ist dunkel und sein Lebenswagen
könnte leicht auf diesem Wege verunglücken. Die Dunkelheit symbolisiert das
Vergessen der ursprünglichen Einstellungen; der Kutscher ist das Bewußtsein,
die Pferde sind die Triebe.
Da warnt ihn ein Bär vor dem Befahren des zerstörten Weges. Er Ist-
empört über diese Form der Warnung. Der Hinweis auf die kleinen Kinder
zeigt, daß die Warnungen bis auf die Kindheit zurückgehen, in der er mit
einem Bären geschreckt wurde.
„Es könnten kleine Kinder auf dem Wagen sein, die vor Schreck der
Schlag trifft", erzählt der Traum. Als Kind hörte er immer wieder die Ge-
schichte vom Selbstmorde des Onkels, der sich wegen der Untreue der Frau
Analyse eines Homosexuellen. 459
das Leben genommen hatte. Mußte diese Erzählung nicht wie eine ewige
Warnung vor den Frauen in seiner Seele leben? Auch das Duell des Vaters,
die vorhandene Narbe beeinflußte ihn und füllt ihn mit Furcht vor den
Frauen.1) Mußte er sich vornehmen, keiner Frau zu erliegen? Und schützte
ihn nicht der Haß am sichersten gegen die gefährliche Liebe?
Wer ist der mysteriöse Bär des Traumes? Natürlich — wie jede Figur
des Traumes — er selbst. In ihm lebt die Gewalt eines wilden Tieres. (Wir
erinnern uns, daß ein Traum in Schönbrunn spielte, dem Wiener Tiergarten,
in dem alle wilden Tiere zu sehen sind.) Wir erinnern uns an Shylock (das
Pfund Fleisch) und an die verschiedenen sadistischen Motive seiner Neurose.
Nun schreiten wir zum Zentrum seiner homosexuellen Neurose vor,
welche sich als mächtiger Schutzwall gegen seine Verbrechernatur erweist. Er
ist zuni Weibe mit furchtbarem Haß eingestellt. Er ist der Lustmörder, der
"wilde Bär, der sich auf die Frauen stürzen, sie ermorden und ihr Blut trinken
will. Der Bär zeigt ihm sein eigenes Bild als furchtbare Warnung.
Hüte dich vor den Frauen! Da mußt du zum Mörder werden. Bleibe
lieber ein Kind, freue dich an allem, was den Kindern Lust bereitet. Wehe,
Wenn dein Wagen die Straße fährt, wo alle wilden Leidenschaften auf dich
lauern, die dich schon als Kind erfüllt haben. 0 — wärest du nie geboren oder
könntest du dein Leben als ein neuer Mensch mit friedlichen Trieben beginnen!
Blut ist sein einziges Verlangen. Sperma, Urin, Kot, sie sind ihm sym-
bolischer Ersatz des Blutes. ')
Nun begreifen wir erst, daß er kein Mann sein darf und ein Weib sein
will. Seine große Aggressionskraft mündet in den Begriff des Mannes. Alle?
Passive, Leidende, Erduldende wird als weiblich gewertet.
Einige Tage nach diesen Enthüllungen, die durch eine Fülle von Er-
innerungen gestützt werden, bleibt der Patient aus. Dann aber erscheint er
und teilt mir mit, er habe bei einer Puella publica einen Koitus vollzogen.
Er glaube, er könne nun seine Homosexualität überwinden. Er habe aber ein
Telegramm erhalten, das ihn nach Dänemark gerufen habe.
Von seinen weiteren Schicksalen habe ich nichts gehört. Ist er ein Bi-
sexueller geworden? Hat er seinen Infantilismus überwunden? Ist der aufge-
rissene Teil der Lebensstraße wirklich fahrbar geworden?
Ich kann darauf noch keine Antwort geben. Wir haben einen tiefen
Blick in die Psychogenese der Homosexualität getan und gesehen, wie viele
Kräfte vereint wirken, um diese Vergewaltigung der ursprünglichen Anlage
zustandezubringen.
Heben wir die wichtigsten Momente dieser Krankengeschichte her
vor. Man kann sie in der Tat nur als ein „Bruchstück einer Analyse"
betrachten. Aber sie schreitet unaufhaltsam zum Zentrum der Neurose
vor und enthüllt die inneren Einstellungen des Kranken, die sich zu
seinen bewußten im schroffen Gegensatz befinden.
') Im Tristan-Traume (S. 360) kehren diese Reminiszenzen wieder. Der Vater ist
der König Marke, der betrogen wurde. Die Episode, der Abreise des Vaters in diesem
Traume erklärt sich jetzt erst. Er starb rechtzeitig, ehe er eine zweite Enttäuschung
in der Liebe erleben mußte.
*) Vgl. meine ..symbolischen Gleichungen" in der „Sprache des Traumes": „Alle
Sekrete und Exkrete sind als Symbole einander gleich."
460
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Dieser Mensch trägt die Urinstinkte der Menschheit in sich. Nicht
ohne Grund gehen seine Träume bis auf den Vaterleib zurück, bis auf
die Vorgeschichte seines Werdens. Er trägt die Engramme versunkener
Jahrtausende in sich, die wildesten Instinkte des Urmenschen. Der
Phylogenese seines Seins entspricht die Ontogenese. Was fehlt ihm zum
Urmenschen"? Er zeigt in seinen Träumen und Phantasien die fürchter-
liche Blutgier, die Schrank enlosigkeit der Wünsche, den brutalen
Egoismus einer längstvergangenen Zeit. Es fehlt selbst die primäre
Schmutzliebe der Menschheit nicht; in der Krankengeschichte stoßen
wir auf urolagnistische und koprophage Tendenzen.
Man halte sich den Gegensatz seines triebhaften und kulturellen
Ich vor Augen! Es handelt sich um einen feinen stillen Menschen von
vornehmem Charakter, um einen echten Künstler, einen Schätzer alles
Schönen, einen Menschen, der bei einer Aufführung des Tristan, vor
einem Gemälde, vor den Schönheiten der Natur in Ekstase gerät, der
befähigt erscheint, der Kunst einmal große Werke zu schenken!
Mit absoluter Eindeutigkeit beweist dieser Fall, daß meine An-
schauung, der Homosexuelle repräsentiere eine Rückschlagserscheinung,
richtig ist. Andere Ärzte werden von Degeneration sprechen. Ja,
aber es findet sich- bei ihm kein objektives Zeichen körperlicher De-
generation, es findet sich nicht die pathologische Aszendenz, die eine
solche Entartung prädisponiert. Dann wären alle Künstler Degenerierte,
denn alle Künstler zeigen dieses übermächtige Triebleben, das wir bei
unserem Kranken beobachten konnten. Gerade der Umstand, daß
aller Fortschritt der Menschheit durch Individuen zustande kommt, die
Rückschlagserscheinungen repräsentieren, sollte uns bewegen, mit dem
Begriff der Entartung vorsichtiger umzugehen und für jene Fälle zu
reservieren, in denen körperliche Degenerationszeichen und moralische
Minderwertigkeit eine unzweideutige Sprache reden.
Wir stehen hier dem Phänomen des Urhasses gegenüber, der die
Ventile der Seele zu sprengen droht und nach Entladung verlangt. Ein
Teil des Hasses mag sich in Liebe verwandeln und solche Menschen
die Wege der Propheten, Religionsstifter, Volksfreunde, Philantropen
wandeln lassen. Ein anderer bleibt bestehen und besetzt infantile
Positionen.
Wie ist Sigma bewußt eingestellt? Mit Liebe zu den Männern, mit
Gleichgültigkeit zu den Frauen, mit Haß zu dem Vater und mit bi-
polarer Schwankung zu seiner Mutter. (Liebe und Haß.) Im Un-
bewußten aber liebt er den Vater und haßt alle Frauen, vielleicht weil
er sie lieben muß. Die normale Einstellung verlangt die Projektion der
Liebesempfindung in bipolarer Form auf das jeweilige Liebesobjekt.
Man liebt und haßt einen Menschen zugleich. Er aber haßt nur die
Analyse eines Homosexuellen. 4g i
Frauen! Wie mag es zu dieser Umformung des Urhasses gekommen
sein? Warum kann er eich zu den Frauen nicht bipolar einstellen?
Wir müssen weit auf seine ersten Kinderjahre zurückgehen, um zu
erkennen, daß er den Vater liebte und1 auf die Mutter eifersüchtig war.
Alle Frauen waren damals Rivalinnen in der Liebe zu seinem Vater. Er
aber wollte ein Weib sein, ein Weib, das der Vater hebte. Diese Vater-
imago suchte er noch heute in allen Lehrern, älteren Freunden, Vorge-
setzten. Zu diesen muß er sich- notgedrungen homosexuell einstellen,
wenn er nicht imstande ist, die infantilen Konstellationen zu über-
winden. Was er als Mutterliebe innehat, geht auf die Identifizierung mit.
dem Vater zurück. Von ihm hat er das stille, scheue, duldende Wesen.
die Passivität, hinter der sich eine übergewaltige Aggressivität ver-
birgt. Diese' infantile Einstellung bedingt, daß sich alle infantilen
Sexualregungen in seine vita sexualis drängen.
Wie kann die Heilung Zustandekommen? Er muß erkennen, daß er
nie das Verbrechen ausführen wird, zu dem es ihn bei den Frauen
drängt. Er muß seine Liebe wieder in bipolarer Gestalt den Frauen und
den Männern zuwenden. Seine reichen seelischen Antriebe werden es
ihm ermöglichen, die bisher arg vernachlässigte seelische Komponente
der Liebe den Frauen zuzuwenden. Vor der Analyse strömte alles
Erotische den Freunden zu. Die Heilung führt über die Eroberung des
Weibes als Freundin. Erst Freundin, dann erst — nach langem Suchen
und Kämpfen — die Geliebte. Er muß Vater einem fremden Weibe
gegenüber werden.
Ob die Analyse der richtige Weg ist? Wer wüßte denn jetzt einen
anderen ? Was wäre mit Ablenkung, mit Strafe, mit Erziehung, mit
Hypnose zu leisten? Nur über die grausame Selbsterkenntnis der Ur-
triebe und des Urhasses kann die Urliebe über ihn Gewalt gewinnen.
Diese Urliebe hatte sich ganz auf die eigene Person konzentriert.
Wie alle Homosexuellen liebte er nur sich. Auch diese Eigen-
schaft teilte er mit den Urmenschen. Kannte der Urmensch eine andere
Liebe als die zu sich selbst?1)
Ich habe schon betont, daß die Urninge sich suchen und dann
eine andere Person spielen oder daß sie in dem Manne andere Spiegel-
bilder der Kindheit finden wollen. Das Gleiche gilt für die Urlinden.
Lieben heißt wohl immer sich in dem anderen finden. Aber warum
finden die Urninge sich nicht in dem weiblichen Spiegelbilde? Nicht
J) Rafialovich, der ein kleines Büchlein über „Die Entwicklung der Homosexua-
lität" (Berlin 1895) geschrieben hat, sagt in den paar Seiten seiner Abhandlung mehr
Wahrheiten als andere Autoren in dickleibigen Folianten. So findet sich bei ihm der
Satz: „Es gibt keine Grenzlinie zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen." Er
betont die Eigenliebe der Homosexuellen. „Sie haben die Leidenschaft der Ähnlichkeit."
■
462 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
für alle Fälle läßt sich diese Frage gleichartig beantworten. Bei den
letzten zwei analysierten Fällen kommt in Betracht, daß sie sich als
häßlich bezeichneten. Dem Weibe gegenüber hatten sie ein Gefühl der
Minderwertigkeit und des Neides. Die Selbstliebe stieß immer auf
diese Häßlichkeit und fürchtete die Niederlage beim Weibe. Wie konnten
sie mit ihrer Häßlichkeit sich die Eroberung eines Weibes zutrauen?
Wie die Rolle eines Don Juan spielen, zu der sie die latente Homo-
sexualität getrieben hätte? Unter Männern stand Männerschönheit
nicht in Frage. Da kam es auf die Gestaltung der Genitalien an.
Wenn jede Liebe ein Messen der Genitalien sein sollte, so konnte
sich der Kranke Delta (Nr. 86) mit jedem messen. Er hatte den lächer-
lichen Stolz auf den großen Penis, den so viele Männer zeigen. Seine
ganze Sexualität konzentrierte sich auf dies Symbol der Männlichkeit.
Ganz anders bei Sigma, bei dem der Penis eine nebensächliche Rolle
spielte. Sieht Sadger in dem Narzissmus die Liebe zu den eigenen
Genitalien, so könnte ihm der erste Fall recht geben, der zweite zeigt
gar keine Spur dieser Penisliebe.
In seiner Broschüre „Das Problem der Homosexualität" (Ernst
Reinhardt, München 1917) sucht Adler das Gemeinsame bei allen Para-
philien (dazu rechnet er Sadismus, Masochismus, Masturbation, Feti-
schismus, Homosexualität usw.) in folgenden Erscheinungen: 1. Jede
Perversion ist ein Ausdruck einer vergrößerten seelischen Distanz
zwischen Mann und Frau. 2. Sie deutet gleichzeitig eine Revolte gegen
das Einfügen in die normale Geschlechtsrolle an und äußert sich als
ein planmäßiger, aber unbewußter Kunstgriff zur Erhöhung des
eigenen gesunkenen Persönlichkeitsgefühles. 3. Niemals fehlt dabei die
Tendenz der Entwertung des normal zu erwartenden Partners. 4. Per-
versionsneigungen der Männer erweisen sich als kompensatorische Be-
strebungen, die zur Behebung eines Gefühles der Minderwertigkeit
gegenüber der überschätzten Macht der Frau eingeleitet und erprobt
werden .... 5. Perversion erwächst regelmäßig aus einem Seelenleben,
das durchwegs Züge verstärkter Uberempfindlichkeit, überstiegenen
Ehrgeizes und Trotzes aufweist . . . Mangel tieferer Kameradschaft-
lichkeit, gegenseitigen Wohlwollens." — Sehr treffend bemerkt Paul
Federn in der Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. V, H. 3: „Adler ist
noch so sehr bestrebt, seinen eigenen Fund immer wieder vor vAugen
zu führen, daß er darüber vergißt, daß doch derselbe überall wieder-
kehrende Ursachenkomplex — ohne Kombination mit anderen Ur-
sachen — nicht imstande sein kann, alle Neurosenarten, Angstzustände,
Verstimmungen und noch mehr, zu erklären. An dieser mangelnden
Selbstkritik und an dieser Übertreibung ist die eigene Sicherungs-
tendenz des Autors gegen alles, was Freud mittelst Psychanalyse ent-
r
Analyse eines Homosexuellen. 4.(53
deckt hat, schuld. Er geht so sehr darauf aus, die durch die psych-
analytische Methode aufgedeckte und in jedem einzelnen Falle wieder
aufzufindende infantile libidinöse Komponente nicht zu finden, daß
er sie selbst dort leugnet, wo sie manifest geblieben ist. Das Studium
der kindlichen Sexualität verlangt vorurteilsfreie Beobachter; solche
werden sie in jedem Falle feststellen."
Der erste Fall weist die Mechanismen yon Adler auf, der zweite
deutet sie kaum an. Man ersieht daraus, wie leicht es möglich ist,
durch eine einseitige Auswahl der Fälle eigene Annahmen zu be-
weisen. x) Es ist klar, daß jeder ehrliche Forscher irgend einer Wahr-
heit nahegekommen ist. Es handelt sich immer um Querschnitte durch
die Figur der Homosexualität. Aber ein Querschnitt gibt nur das
Bild der Schnittfläche. Erst die Vereinigung aller dieser Schnitte
kann uns das Bild der Figur rekonstruieren.
In beiden Fällen wirkten infantile Eindrücke mit, um eine dauernde
Angst vor dem Weibe und vor der heterosexuellen Liebe zu formen.
Delta war als Kind Zeuge einer unglücklichen Ehe, Sigma hörte von
der Falschheit und Treulosigkeit der Frauen. Beiden, gemeinsam war
auch der starke Sadismus, den wir in allen analysierten Fällen von
Homosexualität konstatieren konnten.
Wir kommen somit zu einer einheitlichen Formel der männ-
lichen Homosexualität, die sich in verkehrter Form auch für die
Frauen anwenden läßt:
Die homosexuelle Neurose ist eine durch die
sadistische Einstellung zum entgegengesetzten
Geschlechte motivierte Flucht in das eigene Ge-
schlecht.2)
*") Zu ähnlichen Resultaten ist auch Kläsi (1. c.) gekommen.
2) Eine vollständige Analyse eines Homosexuellen, die sehr deutlich die sadi-
stische Komponente der Homosexualität aufweist, findet sich in Band IV (Die Im-
potenz de6 Mannes) im Kapitel „Impotenz und Homosexualität".
Die Homosexualität.
XIV.
Ergänzungen.
Bei der Erklärung der Liebe muß ein
physikalisches Phänomen, oder ein historisches
Faktum angenommen werden. Ist es Sympathie,
wie der dumme Magnet das rohe Eisen anzieht?
Oder ist eine Vorgeschichte vorhanden,
deren dunkles Bewußtsein ans blieb
, und in unerklärlicher Anziehung und
Abstoßung sich ausspricht? Heine.
Einen interessanten Fall von weiblicher Homosexualität ver-
öffentlicht Freud in seiner Arbeit „Über die Psych ogenese
eines Falles von weiblicher Homosexualität".
(Int. Z. f. P. A. B. VI. H. 1. 1920) . Es handelt sich um ein 18jähriges
Mädchen, das eine leidenschaftliche Liebe zu einer bekannten Kokotte
faßte, welche auch als Urlinde bekannt war. Sie verehrte und bemit-
leidete diese Dame. Es war ihr größtes Vergnügen, sich mit dieser
„Dame" öffentlich zu zeigen. Sie ging mit ihr auf eine Promenade, wo sie
der Vater, der diesen Umgang streng tadelte und sie schon einmal
für eine homosexuelle Schwärmerei gezüchtigt hatte, treffen mußte.
Bei der arrangierten Begegnung warf ihr der Vater einen zornerfüllten
Blick zu, worauf sie sich über die Mauer in den Schacht einer Eisenbahn
warf und schwer verletzte. Nach ihrer Wiederherstellung wurde sie auf
Wunsch der Eltern einer Analyse unterzogen, die folgende Tatsachen
zutage förderte. Mit 13 und 14 Jahren zeigte sich eine übertrieben
starke Vorliebe für einen dreijährigen Jungen, was auf deutliche Mutter-
gefühle schließen ließ. Dies Interesse ließ nach, als die Mutter gravid
wurde und einen dritten Bruder zur Welt brachte. Sie war damals
schon 16 Jahre alt. Da ging in ihr eine Wandlung vor sich. Sie begann
eich für jugendliche Frauen zwischen 30 und 35 Jahren zu inter-
essieren und sie zu verehren. Es waren dies Mutter-Imagines. Die
Kokotte war wohl keine Mutter aber soll die Züge des geliebten älteren
Bruders tragen. Den Selbstmordversuch sieht Freud als Zeichen einer
_
Ergänzungen. 4g5
Mordabsicht an und schließt sich meiner Formel an, die ich zuerst
in meinem Beitrag zu den „Diskussionen des Wiener psychoanalytischen
Vereines „Über den Selbstmord, insbesondere über den Schülerselbst-
mord" (I. F. Bergmann, Wiesbaden 1910) ausgesprochen habe: „Nie-
mand tötet sich selbst, der nicht einen anderen töten wollte." Der
Selbstmord ist die selbst diktierte Strafe für Todeswünsche oder
Mordimpulse.
Wem sollen, diese Mordimpulse gegolten haben? Freud glaubt
wohl der Mutter, von der sich das Mädchen in Eifersucht abwandte.
Ich glaube auch dem Vater, den sie mit diesen Liebschaften tödlich
treffen und verletzen wollte. Es scheint mir, daß der Selbstmord in dem
Momente ausgeführt wurde, als ihr klar wurde, wie sie den Vater liebte
und wie weh sie ihm getan hatte. Sie verliebte sich in die verschiedenen
weiblichen Objekte, um dem Vater zu zeigen, wie Frauen aussehen, die
man lieben könne. Auch die Angst vor Gravidität und die rechtzeitige
Einstellung gegen eine Gravidität scheint von großer Bedeutung zu
sein. Freud sucht nach den psychischen Ursachen ihres Ausweichens
in das Homosexuelle und kann sie nicht finden. Er verweist auf die
Forschungen von Steinach und gesteht, daß die Psychanalyse allein
nicht imstande ist, das Rätsel der gleichgeschlechtlichen Liebe voll-
kommen zu lösen. (!) Diese Erklärung mag er für sich und seinen
engeren Kreis abgeben. Ich stehe auf dem Standpunkte, daß sich das
Rätsel der Homosexualität nur psychisch lösen läßt, da körperliche
Bisexualität und körperliche Merkmale des entgegengesetzten Ge-
schlechtes - wie auch Freud zugibt - bei Heterosexuellen vorkommen
wahrend Homosexuelle oft Vollmänner und Vollweiber in ieder Hin-
sicht des Wortes sind.
Befassen wir uns noch einmal mit der Patientin von Freud
Mot ve ?Th rCh,die HÜllen ^ Leidenß«ten die tieferen
Kinde den Tod gewünscht zu haben. Das erklärt ihre Liebe zu jungen
Muttern. Eine Mutter imd ein Kind haßte sie und als Kom-
pensation zeigte sie, »daß sie andere Mütter und andere Kinder lieben
konnte.
Da der Vater sie nicht beachtete und die Mutter gravid machte,
bestrebte sie sich immer wieder, ihm andere Liebesobjekte in den
Kreis seiner Beobachtung zu stellen. Jede junge Frau, in die sie sich
verliebte, sollte dem Vater sagen: „Siehst du nicht, wie schön andere
sind?"
Sie identifizierte sich mit dem Vater und fand jede fremde Frau
schöner als die Mutter. Auch die Liebe zu den Kokotten hatte den
geheimen Sinn: Dirnen bekommen keine Kinder. Wieder eine Mahnung
Stekol, Störungen dos Trieb- und Affoktlubons. IT. 2. Aufl. dq
466 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
an den Vater. Kannst du nicht lieber zu Dirnen gehen, als der Mutter
ein Kind machen, das mir ein lästiger Konkurrent in der Liebe meiner
Eltern wird?
Freud sucht immer nach den infantilen Traumen und übersieht
ein sehr schweres Trauma seiner Patientin, 60 daß er es nicht in
Rechnung stellt. Die Kranke wurde mit 16 Jahren von ihrem (eifer-
süchtigen!) Vater für eine homosexuelle Schwärmerei empfindlich ge-
züchtigt. Man stelle sich ein ehrgeiziges, etwas männlich geartetes,
6tolzes, kampfbereites Wesen vor, dem im erwachsenen Alter, wo man
nur nach einem Ziel tendiert: Dame zu sein — eine solche Demütigung
bereitet wird! Mußte diese Patientin nicht einen tödlichen Haß gegen
den Vater hegen und ihm den Tod wünschen? Mußte sich dieser Haß
nicht auf alleMänner übertragen? Mußte sienichtzumSclilussekommen:
alle Männer sind roh und gewalttätig und wollen über uns triumphieren,
uns beherrschen, uns demütigen, wenn schon das Ideal aller Männer
— ihr Vater — sie so schmachvoll behandeln konnte? Mußte sie nicht
in die Frauenliebe flüchten? Welches Mädchen von 16 Jahren macht
nicht ihre homosexuelle Schwärmerei durch? Aus Trotz gegen den Vater
hielt sie an dieser Einstellung fest und übertrug diesen Trotz auf alle
Männer, auch auf den Analytiker. Freud trat dann diese Kranke einem
weiblichen Arzt ab. Das kommt mir wie eine Kapitulation vor. Sache
des Analytikers wäre es gewesen, diesen Trotz zu entlarven, den Haß
in Liebe zu konvertieren und den Weg zum Manne frei zu machen.
Diese Kranice hatte ein großes Geheimnis, das sie sich nicht
gestehen wollte : ihre heterosexuelle Liebe zu ihrem
Vater. Die identische Einstellung verwendete sie gegen den Ana-
lytiker. Es wäre eben die schwierige Aufgabe der Analyse gewesen,
ihr den Haß gegen die Mutter (vielleicht Todeswünsche bei der Ge-
burt) und den Haß gegen den Vater und die ursprünglich sadistische
Anlage gegen alle Mütter (Folge ihrer Eifersucht!) aufzulösen und
sie sehend zu machen. Diese Aufgabe ist nicht gelungen.1)
Man wird immer die Beobachtung machen können, daß Ana-
lysierte, die sich irgend eine Liebe — aus Stolz! — nicht eingestehen
wollen, diese Einstellung auch gegen den Arzt beibehalten und das
immer eintretende Phänomen der Übertragung nicht zugeben wollen.
Sie gestehen es sowohl s i c h als auch dem Arzte nicht ein !
Sie verbergen diese Liebe vor ihrem Bewußtsein und ergreifen
lieber die Flucht, ehe sie sich entlarven lassen. Besonders weibliche
*) Bedauerlich ist, daß Freud die Träume dieser Patientin nicht mitteilt, sondern
die Bemerkung macht, daß aus einer Reihe von wohlgedeuteten Träumen die folgenden
Erkenntnisse geschöpft wurden.
■
Ergänzungen. 467
Homosexuelle sind stets bereit, die Übertragung zu verdrängen und
mit Gleichgültigkeit, Abneigung, Sympathie usw. zu maskieren.
Auch männliche Homosexuelle, die mit ihrem Vater in Feindschaft
leben, wollen oft die "Übertragung nicht eingestehen, obwolü sie sonst
bereit sind, sich in jeden Arzt zu verlieben. Sie finden den Arzt z. B.
zu alt, zu häßlich, zu unsympathisch.
Diese Einstellung stammt gleichfalls aus infantilen Quellen und
wiederholt eine infantile Attitüde. Sie wollten sich auch die homo-
sexuelle Liebe zum Vater nicht eingestehen.
In der Psychotherapie gibt es keine alleinseligmachende Methode
und der Arzt muß im Kampfe mit dem Homosexuellen alle Feinheiten
und Finten anwenden, um zum Ziele zu gelangen. In dieser Hinsicht ist
der Fall sehr lehrreich, den ich in der Wiener Gesellschaft der Ärzte
am 25. Juni 1920 vorgestellt habe.
Ich zitiere das offizielle Protokoll. (Wiener klin. Wochenschrift
1920, S. 618) :
Fall Nr. 88. Es handelt sich um einen 39jährigen Serben, der mir von
einem Belgrader Kollegen zur psychotherapeutischen Behandlung überwiesen
wurde. Da der Patient nur wenig Deutsch verstand, wollte ich ihn erst nicht
in Behandlung nehmen. Ich entschloß mich dazu nur über sein dringendes
Bitten und weil er meinte, er habe schon einmal ziemlich gut Deutsch ge-
sprochen und werde sich bemühen, seine alten Kenntnisse rasch wieder zu
erwerben. Aus dem Kriegsspital VI war mir die enorme Suggestibihtat der
slawischen Rasse bekannt, da ich sehr viele Zitterneurosen und Falle von
Mutismus durch Hypnose geheilt hatte, ohne mich mit den Patienten fließend
verständigen zu können.
Ich legte mir für den Fall ein eigenes Verfahren zurecht: eine Kom-
bination von analytischer Erforschung (vertiefter Anamnese) und suggestiver
Beeinflussung. Der Kranke war nicht hypnotisierbar wie alle Fälle von
Homosexualität, die ich zu behandeln Gelegenheit hatte. Dagegen war er
der analytischen Forschung ziemlich leicht zugänglich. Er berichtete, daß
seine homo'sexuelle Einstellung seit der Kindheit bestand. Er hatte immer
onaniert mit der Phantasie, mit einem gigantischen Phallus zu spielen.
Seine Phantasien und Träume beziehen sich nur auf Männer und ihren
Phallus. Er hat nie eine Empfindung bei Frauen gehabt, nie einen Pollutions-
traum, der sich mit Frauen beschäftigte, bekanntlich nach Näcke das sicherste
Kennzeichen einer „angeborenen Homosexualität". Seit dem 14. Lebensjahre
habe er mit Männern verkehrt, nie Päderastie betrieben, die Akte beschränkten
sich auf gegenseitiges Spielen mit den Geschlechtsteilen. Seit dieser Zeit
hatte er immer Verhältnisse mit Männern, immer ein brennendes Verlangen,
mit Männern zu spielen. Wenn ihm keine Freunde zur Verfügung standen, so
onanierte er mit der Phantasie von einem gigantischen Phallus.
Alle Versuche, mit Frauen zu einem sexuellen Verkehr zu gelangen,
mißlangen. Es kam zu keiner Erektion, er zitterte am ganzen Körper,
hatte profusen Schweißausbruch. Im besten Falle kam er zu einer Ejaculatio
ante vaginam ohne einen Orgasmus.
30*
i
468 y Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Er machte den ganzen Krieg als Soldat mit, auch den Rückzug aus
Albanien. Wahrend des ganzen Krieges (1914 bis 1919) nur Onanie, keine
homosexuellen Akte, weil er keinen Freund finden konnte.
Seit der Rückkehr aus dem Felde bestanden schwere Depressionen und
Suizidgedanken da neuerliche Versuche, mit Frauen zu verkehren, mißlangen
Die analytische Erforschung dieses Falles ergab folgende Tatsachen:'
Er wuchs m männlicher Gesellschaft auf, da sejne Mutter starb, als er noch
nicht ganz zwei Jahre alt war. Den Haushalt betreute ein alter Diener. Im
siebenten Lebensjahre wurde er von seinem um fünf Jahre älteren Bruder ins
fl gS?Ten-' Ta£f der Bruder mit seinen Genitalien spielte und ihm
SSLfSX8 t\ ??ndiab' d6r ihm damals enorm ^oß erschien. Das
t Z L * ge- l \ Der Beginn der °nanie 'ßchloß sich a" diese P«iode.
Er erinnert sich auch an eine flüchtige heterosexuelle Episode, die einzige
ITmZ a Er fPiflte ^ Zehnten ^^jahre mit seiner Kusine Vater
und Mutter und wurde bei diesem Spiele sexuell erregt.
c. J" de/ Analyse trat zutage, daß er immer wieder das Erlebnis mit
seinem Bruder zu reaktivieren trachtet. Dieses Erlebnis spielt auch in seinen
Unaniephantasien eine große Rolle.
t™ J5 ?en F,ralen, hatte er iene ängstlich? Einstellung, welche Kläsi als
;'nXr ^ b+ezejchnet- (Beitrag zur Differentialdiagnose zwischen
angeborener und hysteriform erworbener Homosexualität. Zschr. f. Neur. u.
TA T' ? VV1" 2/3i KläSi Siebt in der A^et vor der Impotenz dl
Ursache der „hystenformen Homosexualität" und übersieht, daß diese Angst
der sadistischen Einstellung zum Weibe entspringt, wie ich sie in meinem
. Buche Onanie und Homosexualität" nachgewiesen habe. Diese sadistische
Einstellung welche zur Angst vor sich selbst führt, war in diesem Falle sehr
deutlich und durch die Erlebnisse des Krieges verstärkt worden.
Mlt der analytisch-aufklärenden Behandlung kombinierte ich eine Sugge-
stivbehandlung. (Hydrotherapie, Psychrophor, durch den ein faradischer Strom
geleitet wurde.)
In den ersten zwei Wochen klagte Patient, daß er in Gegenwart seiner
l'reunde an Erektionen leide. Es wurde ihm Frauengesellschaft angeraten
und verboten, sich mit Männern einzulassen, wozu er großes Verlangen fühlte
In der dritten Woche berichtete er, daß das erste Mal im Leben bei einem
bpaziergang mit einer Dame, die er kennen gelernt hatte, eine Erektion auf-
getreten war. Es wurde der bekannte Kunstgriff angewendet, ihm in dem
Stadium der Behandlung einen Koitus zu verbieten, was sehr oft zu einer
Übertretung des Verbotes und zu einem voUen Erfolg führt So war es
auch m diesem Falle. Er kam triumphierend zu mir und erzählte, daß er
innerhalb kurzer Zeit den Koitus dreimal mit gutem Erfolg und mit großem
Orgasmus ausgeführt hatte. •
Seit diesem Erfolg besteht große Neigung zu Frauen, Selbstvertrauen
Verlangen nach einer Ehefrau; weitere Versuche gelangen alle Die De-
pressionen sind geschwunden, er fährt nach Hause mit der Absicht eich sehr
bald zu verheiraten.
Der Fall ist deshalb so wichtig, weil er beweist, daß es eine
Psychogenie der Homosexualität gibt, und daß wir uns hüten müssen,
die Homosexualität im Sinne der Forschungen von Steinach und der
operativen Erfolge von Lichtenstern, in jedem Falle operativ anzugehen.
Ergänzungen. 4ß9
Es. empfiehlt sich, die Operation, deren suggestive Wirkung bisher nicht
diskutiert wurde, erst nach Mißlingen einer sachgemäßen psychothera-
peutischen Behandlung anzuempfehlen.
Dieser Fall entscheidet die Diskussion zwischen Kräpelin und
Magnus Hirschfeld, der im Gegensatz zu Kräpelin die Homosexualität
als einen endogen bedingten Zustand ansieht (das dritte Geschlecht),
zugunsten Kräpelins. Was wäre aus dem Patienten geworden, wenn er
zum Beispiel zu Hirschfeld oder Blüher gekommen wäre? Sie hätten
ihn auf die Bahn der Homosexualität gedrängt, die heterosexuelle
Komponente seines Wesens wäre nie zum Vorschein gekommen, die
Depressionen hätten sich wahrscheinlich verstärkt. Die bisexuelle Seite
des Mannes gestattet immer ein Ausweichen nach der homosexuellen
Seite, eine Erscheinung, die im Kriege häufig beobachtet wurde.
Diesem Sitzungsberichte der „Wiener klin. Wochenschrift" möchte
ich noch einige Worte hinzufügen. Ich stehe und falle mit der Ansicht,
daß es eine Psychogenese der Homosexualität gibt, daß die Hypothese
Hirschfelde von der angeborenen Homosexualität ein wissenschaftliches
Märchen und sogar ein sehr gefährliches wissenschaftliches Märchen
ist. Ich halte alle Operationen an Homosexuellen für überflüssig, grau-
sam und wissenschaftlich nicht indiziert. Ich habe seit der ersten Auf-
lage dieses Werkes sehr viele Homosexuelle gesehen und konnte mich
immer wieder überzeugen, daß organische Grundlagen der Homo-
sexualität nicht vorhanden sind, daß aber immer ein Ausweichen vor
dem Weibe besteht, welches den parapathischen Homosexuellen zu den
groteskesten Umwegen verleitet. Es gelang mir immer, die sadistische
Komponente nachzuweisen, die Einstellung des Homosexuellen zum
Weibe mit Haß. Dieser Haß entsprang oft einer infantilen Eifersucht,
oft anderen Quellen.
Es ist aber' gefährlich, immer wieder eine einzige Psychogenese
der Homosexualität anzunehmen. Es führen die verschiedensten Wege
zu diesem Leiden. Der eine erkrankt, nachdem er nur in Weiber-
gesellschaft aufgewachsen ist, der andere (wie der letzte Fall), nach-
dem er seine ganze Jugend unter Männern verbracht hat. Den einen
treibt ein Trauma zur Wiederholung und zur Homosexualität, den
anderen lenkt es von diesem Wege ab.
Der Psychotherapeut muß an jeden Fall unvoreingenommen
herantreten und sich auf neue Überraschungen gefaßt machen.
Ich kann aber dieses Kapitel nicht schließen, ohne die Kollegen
nochmals darauf aufmerksam zu machen, wie hinterhältig sich der
Homosexuelle in der Behandlung benimmt und wie er alles darauf an-
legt, den Psychotherapeuten hinters Licht zu führen und um den
Erfolg zu bringen.
470
Zweiter Teil. Die Homosexualiät.
Nur, wo wirklich der Wille zu Genesung und Änderung vor-
handen ist, kann ein Erfolg erzielt werden, wie bei dem letzten ge-
schilderten Falle. Der Mann litt unter seiner Homosexualität. Wenn
aber die Männer unter dem Einflüsse der Schriften von Blüher stehen,
der in dem „Männerhelden" den höchsten Typus Mensch idealisiert
und alle sozialen Bewegungen auf die Männerbünde zurückführt, oder
wenn so ein Kranker unter der Herrschaft der Ideen Hirschfelde steht,
dessen Propaganda neben ihrem wissenschaftlichen Verdienste zur Er-
forschung der Homosexualität vielen Leidenden die Aussichtslosigkeit
einer Änderung predigt, — dann freilich tritt er an die Behandlung
mit Skepsis und dem geheimen Willen zur Krankheit heran. Er ist
„anders als die anderen", — er ist ein Eigener, — er ist der „Un-
glückliche, vom Schicksal zum Leiden Verdammte", — er ist „ewig an
den Felsen seiner unglückseligen Veranlagung geschmiedet".
Daß er nur durch einen operativen Eingriff diese organische Ver-
änderung erzielen kann, das schmeichelt seiner Eigenliebe und enthebt
ihn des geheimen Schuldbewußtseins, er hätte sich selbst die Wege
zum anderen Geschlechte verschlossen.
Furchtbar ist es, wenn die Lebenslüge des
Homosexuellen zusammenbricht. Je älter er wird,
desto trauriger wird sein Schicksal. D a^n n klagt
er immer wieder, wie schwer er es empfindet, daß
er allein von Familie und Kindersegen ausge-
schlossen ist. Ich wiederhole, was ich an anderen
Stellen gesagt habe: Ich habe noch nie einen ge-
sunden und noch nie einen glücklichen Homo-
sexuellen gesehen!
Ich denke wieder an einen schon erwähnten herrlichen Künstler,
einen der ersten Meister seines Faches, mit allen Gaben des Geistes
und des Körpers ausgestattet. Er vertraute mir sein großes Geheimnis,
seine Homosexualität, an. Aber er wollte nichts von Genesung wissen.
Sein Zimmer schmückten die Photographien seiner Lieblinge, darunter
sogar gekrönte Häupter. Er litt an einer Unmenge neurotischer Be-
schwerden, die ihm das Leben verbitterten. Eines Tages ließ er mich
rufen und teilte mir seinen Entschluß zu sterben mit. Er hatte gerade
sein Ideal gefunden und das höchste Glück der homosexuellen Liebe
genossen. Plötzlich begannen ihn ordinäre Melodien zu verfolgen, die
ihn fast wahnsinnig machten. Immer wieder hörte er diese schrecklichen
Gassenhauer, er — der große Künstler, der bisher nur den feinsten
und erlesensten Harmonien lauschen konnte. Nun verfolgten ihn die
Vorwürfe in der Gestalt der Melodien und riefen ihm zu: „Du bist ein
ordinärer Mensch!" Er teilte mir mit, daß er sein Leben abschließen
Ergänzungen.
471
wolle und verstand es selbst nicht, daß er es in einer Zeit tat, in der
er das höchste Glück der marin-männlichen Liebe genossen hatte.
Dieses Glück zeigte ihm, daß sein ganzes Leben eine große Lüge ge-
wesen. Er ging aber lieber in- den Tod, ehe er den Versuch machte,
die furchtbare "Wahrheit „Das Haupt der Medusa" zu sehen. Er wollte
niemals auf eine analytische Behandlung eingehen. Es beruhigte ihn
nur, daß er mir sein Geheimnis anvertrauen und mir seine verschiedenen
Angstvorstellungen mitteilen konnte. Seine Hauptangst war die Angst
vor dem Erkälten und Erhitzen, die ich bald als Angst vor .der hetero-
sexuellen Liebe durchschaute.
Andere Homosexuelle arrangieren die Behandlung schon im Be-
ginne so, daß sie unglücklich ausfallen muß. Es wird mir ein 21jähriger
Patient aus Kroatien von seinem Bruder, der Arzt ist, zugeschickt.
Ich finde einen Vollmann ohne jede Spur eines weiblichen Einschlages.
Auch die Anamnese ergibt eine gute Prognose. Ich verlange aber von
ihm, daß er in Wien nichts erlebe und sich in keine homosexuellen
Beziehungen einlassen solle. Wie soll man einen Homosexuellen heilen,
wenn er während der Behandlung seine Beziehungen fortsetzt? Ich
warne ihn auch vor allen aktuellen Begebenheiten, die eine empfindliche
Störung der Behandlung nach sich ziehen würden. Er verspricht hoch
und heilig, 6ich nur der Behandlung und dem Studium der Kunst-
sammlungen zu widmen. Schon am vierten Tage der Behandlung sucht
er ein Kaffeehaus auf, in dem sich die Homosexuellen treffen. Er macht
natürlich einige Bekanntschaften. Am sechsten Tage zeigt er mir den
leidenschaftlichen Brief eines „vornehmen" (!) Freundes, den er dort
im Kaffeehause kennen gelernt hatte. Ich muß gestehen, daß ich einen
solch schönen Liebesbrief noch nie gelesen hatte. Er übertraf die
Liebesbriefe der portugiesischen Nonne. Trotz meiner Warnung ließ
er sich in das Verhältnis ein. Schon einige Tage später verlangte der
vornehme Freund, er möge ihm Geld borgen, er sei zufällig in Ver-
legenheit; er ließ sich Geschenke machen usw. Mein Patient hatte
bald eine ganze Tafelrunde von Parasiten, die er ausführte und für
die er die ganze Zeche begleichen mußte. Obwohl er ein sehr reicher
Mann war, reichten seine Mittel für dieses verschwenderische Leben
. nicht aus. Am 10. Tage der Behandlung gestand er mir, daß er nun
abreisen müsse, weil er sonst ohne Geld bleiben würde. Er habe jetzt
die Wiener Homos kennen gelernt. Es wären lauter verkommene
Existenzen gewesen, die sich als seine Freunde ausgaben.1) Er sei um
h
*) Selbstverständlich ist das nicht meine Ansicht. Es gibt viele edle, stille
Naturen unter den Homo6.
472
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
eme Erfahrung reicher. Vergebens hatte ich ihn gewarnt und ihm
s LgH f' tS ^r™11™ ^ 6Chten Liebe ™ wohl der Um-
And^ ato H- Tl te kein-?el1 VGrlange' aUCh ^ Geschenke «
Andenken also die Uneigennutzigkeit der Liebe. Aber er wollte nicht
wollt "Dl W*?^ UmnÖgliCh ^^ Sie k*^«-
voll e^ Dann klagte und jammerte er und versprach wieder zu kommen
Ich lehnte einen zweiten Versuch ab. Ich hatte genug gesehen;
zu wissen daß dieser Kranke nicht genesen wollte und daß er ' si
immer aktuelle Erlebnisse konstruieren werde.
Ein dritter, hochintelligenter Patient hatte angeblich den festen
IdTYc Z T f E[ maCht6 ZU mir die Weite ** -"em
tracrsie t> r ^ t ?^ ** Behandl™g Abstinenz. Er ver-
fcht gkeTt des Pat t dTDf 'f BehandlUng iSt vollkommene Auf-
ricntigkeit des Patienten. Es darf kein Geheimnis zwischen Arzt und
S^ÄJ" eirtGteimnis ^ * - verschweig wm
Arztf LZ L t * r Jtrhen Behandlun8 unterziehen. Wer dem
ktnt Td wol Hdaß;%Sach,en gäbe' ^er die er nicht sprechen
uZp^rvlLt\ f -ft ^'Behandlung genommen werden.
Zufell ftT Tn alS° AbStinenZ Und Volle Aufrichtigkeit. Ein
™ d AK ' ^ ^ ^ ^ Krante^ger gefesselt war. Einen Tag
Ztte R2 TUnd P rT' ^ " lm Dampfbade <der LÄ
Stof h! fT S)neme Betka-tsch^ ^macht und Beziehungen an-
geknüpft hatte. Diese Tatsache hatte er mir während der ganzen
Behandlung verschwiegen! ganzen
vnm Df 5H« der Analyse hängt also von .der Aufrichtigkeit und
vom guten Willen der Kranken ab. Freuds Patientin kam nicht frei-
C t f l W^rdeTTVOm Vater gebracht. Das gibt schon schlechte
Chancen für die Heilung. Mein serbischer Patient kam mit dem .
glühenden Wunsche, gesund zu werden. Das gestattet schon eine
günstige Prognose. Aber ich habe auch Fälle geheilt, die durch äußere
Umstände gezwungen waren, eine Behandlung einzugehen. Es ist eben
die Kunst des Arztes, diese Kranken mit dem „psychischen Lasso"
emzufangen, ihre Finten zu durchschauen, sie immer wieder auf den
Gregenwillen aufmerksam zu machen und sie langsam, langsam wieder
bisexuell zu machen.
Man begegnet in der Analyse Homosexuellen, die angeblich eine
Analyse ohne Erfolg durchgemacht haben und homosexuell geblieben
sind. Erkundigt man sich nach den näheren Details der Analyse so
hört man mit Erstaunen, daß diese Kranken einige Wochen oder sogar
nur einige Tage bei einem Arzte gewesen sind oder sich von einem
bekannten „analysieren" haben lassen.
Ergänzungen. 473
• Leider ist die Analyse zum Gesellschaftsspiel geworden. Jeder-
mann analysiert ' und die vielen Unberufenen bringen die herrlichste
aller Heilmethoden in Verruf.
Ein Patient schrieb schon seit Jahren Jammerbriefe. Er wolle
in meine Behandlung kommen und sich von seiner unglückseligen
Homosexualität heilen lassen. Patienten, die sehr lange herum-
korrespondieren, taugen gewöhnlich nicht viel. Sie sind zu sehr durch
innere Widersprüche gehemmt.
Endlich sollte der Kranke zu mir kommen. Er hatte geheiratet
und lebte in der Ehe unglücklich. Wie diese Ehe aussah, erfuhr ich
aus einem Briefe seiner Frau, den ich im Auszuge hier wiedergebe.
Er enthält eine objektive Schilderung eines Homosexuellen in- seiner
Ehe. Es handelt sich um eine hochintelligente» Dame, die vor dieser
Ehe mit einem Psychiater verheiratet war. Dieser hatte im Kriege
seinen Charakter geändert, so daß sie tiefunglücklich und ganz zerrüttet
wurde. Der Anfang des Briefes enthält die Schilderung der ersten
Ehe. Sie ist nach allen Aufregungen namenlos unglücklich und sehnt
eich nur nach Ruhe und Frieden. Da lernt sie meinen Patienten in spe,
Herrn E. keimen. — Nun lasse ich ihr das Wort:
... Wir unterhielten uns ausgezeichnet, und ich fühlte mich in seiner
Gesellschaft erleichtert und befreit. E. sah mich damals in meiner schlechten
Zeit, viel mit Tränen und klagend. Als ich in Basel war, 'schrieb mir E.
und suchte mich auf; wir korrespondierten und sahen uns öfters und wir
erlebten eine entzückende Zeit. Ich kannte seine Homosexualität wohl
und er sprach auch offen und ehrlich mit mir darüber, aber „erlebt" und
„gesehen" hatte ich noch niemals etwas davon. E. bat mich, seine Frau zu
werden und ich ging darauf ein. Ich dachte, daß wir uns seelisch so nahe
stünden, daß unsere Interessen so sehr die gleichen seien und daß wir uns
so gut verstünden, daß alles Erotische und Sexuelle ohnedies wegfalle, da
ich selbst keine Ahnung meiner eigenen Erotik hatte, die vollkommen schlief,
und ich damit bestimmt rechnete, daß auch E. niemals in dieser Weise auf
mich übertragen würde. Es kam aber alles anders. Ich besuchte meinen
Mann auch harmlos in Zürich in seiner eigenen Wohnung, aber E.fand den
erotischen Weg zu mir, übertrug sehr stark auf mich und weckte meine
eigene Leidenschaft. Daneben hatte er auch seine Freunde. E. schuf nun
menschlich unmögliche Situationen: Sein neuester Freund und Geliebter,
ein bekannt brutaler und verbrecherischer Mensch und Homosexueller, sollte
mit uns unser Verlobungsfest feiern!! Dessen Frau nahm auch teil und es
gab die ekelhaftesten Situationen. Der „Freund" sang in meiner Gegenwart
Liebeslieder an meinen Mann, heulte und flennte wie ein Weib und machte
mir unerhörte Szenen. Mein Mann stellte sich auf meine Seite und ent-
zweite sich mit ihm. (Nachher aber versöhnten sie sich wieder.) Ich wußte,
daß es auf diese Weise über menschliche Kraft gehe, solche Sachen mit-
anzusehen; wenn ich diese Leute nicht sah und meinen Mann in diesem
„Rausch" nicht sehen mußte, ging es. Wir heirateten — einige Tage
vor unserem Hochzeitsfeste verliebte sich mein Mann
474
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
an einem Tage in einen Südamerikaner, es war nichts
mehr zu retten, und ich selbst gestattete meinem
Manne die sexuellen Beziehungen zu diesem Manne;
in unserer Hochzeitsnacht vollzogen sich auch diese.
Sehr verehrter Herr Doktor! Es ist wahr, daß ich meinem Manne die Auf-
rechterhaltung seiner homosexuellen Beziehungen gestattet habe. Allerdings
unter ganz anderen Gesichtspunkten, als er nachher zugab. Einmal hatte
sich das Bild dadurch verschoben, daß mein Mann sehr stark erotisch und
sexuell auf mich übertrug und man denken sollte, daß damit selbst das
größte Maß Sinnlichkeit auskommen müßte. Zweitens hatte ich nie damit
gerechnet, diese Leute zu sehen, zu empfangen und alle die Zeichen der
Verständigung mitansehen zu müssen, von denen man sich keine Vorstellung
machen kann, drittens hatte mein Mann mich zahllose Male versichert, daß
er da nur seine grobe Sinnlichkeit auslebe, die Seele damit nichts zu tun
habe und diese mir gan« und gar verbleibe. Ich sah aber, daß mein Mann
stets von einem solch ungeheuren Rausch erfüllt war, daß er sich auf diese
Menschen mit all seinen Kräften stürzte. und daß die Seele ebenso be-
ansprucht war wie alles andere. Mein Mann hatte mir absolute Offenheit
und Wahrheit versprochen; ich habe aber gesehen, daß kein Mensch der
v\ elt diese Dinge vereinen kann und daß es unmöglich ist, nach menschlichen
Gesetzen offen und wahr zu sein, wenn alles lichterloh in einem brennt.
Die Ehe fing schlecht an, weil ich natürlich versagte, ich weinte —
das machte meinen Mann rasend — , er fühlte sich schuldig und warf dieses
Schuldbewußtsein auf mich, er liebte mich und haßte mich als den Stein
des Anstoßes und ich litt unsäglich; Szenen, Auftritte, bei denen E.jede
Besinnung verlor und wie ein Geisteskranker tobte, waren an der Tages-
ordnung. Mein Mann behandelte mich furchtbar. Er stellte mich nirgends
vor, zeigte sich nicht mit mir, ging keinen Schritt mit mir aus, verleugnete
mich gänzlich, kein Mensch wußte, daß er verheiratet sei, er schrieb in der
Nacht seitenlange Liebesbriefe an seinen Freund, versteckte alle Briefe,
schloß alles vor meinen Augen weg; ich lebte in unerträglichen Demütigungen,
Kränkungen, Unwahrheiten, Geheimnissen, ich war an Leib und Seele elend
und krank, denn ich liebte E. mit allen meinen Zärtlichkeiten und aller Hin-
gabe, deren eine Frau fähig ist. Zahllose Male packte ich zusammen, um
weg zu gehen. E. hielt mich immer wieder zurück. Prof. H. nahm E. in Be-
handlung, nachdem er ihm die Bedingung gestellt hatte, die Homosexualität
aufzugeben; er war kein Arzt. E. machte eine sehr kurze Behandlung durch
und Prof. H. ließ sich meiner Meinung nach blenden durch die frappante
psychologische Erkenntnis und Selbsterkenntnis meines Mannes; er be-
wunderte ihn. Alle Menschen, die mit E. oberflächlich oder sogar intim mit
ihm verkehren, unterliegen vollkommen seinem ungeheuren Reiz und Zauber
und dem ganzen Scharme seiner Persönlichkeit. Eine ungeheure Aufrichtig-
keit in Dingen, die andere Menschen verschweigen, verleitet den Unwissenden
zu der Annahme dieser Eigenschaft überhaupt; da, wo es aber wirklich
darauf ankommt und E. einen Nachteil psychischer oder äußerer Art hat,
versagt die Aufrichtigkeit vollkommen.
E. verkehrte auch mit Frauen in einer Art, von der ich keine Ahnung
hatte; er küßt jedes Weib, und wenn bei ihm die Sache auch durchaus
harmlos ist,, so bleibt sie bei diesen Frauen es nicht. Hinter meinem Rücken
Ergänzungen. 475
lief mir zuletzt seine Freundin ins Haus, und als ick nach Hause kam fand
ich sie am Bette meines Mannes sitzen; er ging ^*™*J?*™ *g
war täelich mit ihr zusammen und blamierte und demutigte mich aui alle
Weise Ich war nicht eifersüchtig, aber ich war beleidigt und gekrankt.
Nach 2 Monaten versöhnten wir uns und wir lebten vom Mai bis
Dezember vollkommen glücklich. Mein Mann war gut und rührend zu
mir er ging fast keinen Augenblick von mir weg und er sagte auch zu
anderen Menschen, die es bezeugen, daß er so glücklich wie nie in sem m
Leben sei. Ich bekam ein Kindchen alles war gut. - Nun starb der Vater
meines Mannes und E. brachte die Mutter mit. E war nach B-^^T
Beerdigung und ließ mich nachkommen, weil er ohne mich nicht se minm
Schon im Hause dieser Frau befiel mich ein ungeheurer Schrecken. Es
ptTert" Dmge, die ganz gewiß nicht zu den in Familien üblichen gehöre.
Diese Frau zeigte sich Knackt von oben bis unten
und verrichtete alle To ilettengeheimnis se v 01 ihm.
E. hatte mir auch gesagt, daß 'sie znsammeii Jn einem Bett geschlafen hatten
bis ich kam. Diese merkwürdige Mutter hat eine Liebe zu ihrem ^ Sota»,
die mit Mutterliebe und Frauenwürde nichts mehr zu tun hat. bie ist in
den Sohn absolut verliebt. E. wird Ihnen selbst von Beiner ^fW. sprechen
Die Mutter ißt die Wurzel seiner Homosexualität und Prof. H. hatte E.vor
dieser Mutter gewarnt und ihm gesagt, welche Rolle sie in seinem Leben spiele
E. weiß das alles, trotzdem brachte er die Mutter mit in unser Haus, es war
durchaus nicht nötig.
Der Brief bringt eine Menge von Details, die mir nicht das erste
Mal hegegnen. Ich kenne auch andere „Bisexuelle", die sich als Über-
menschen" bezeichnen, welche in der Brautnach das Bedürfnis hatten
bisexuell zu verkehren. Ich kenne Männer, welchem der Brautnacht
die Geliebte aufsuchten, usw. ... Ich kenne auch diese Art der scham-
losen Mütter, wie sie der Brief der armen Frau schildert.
Aber der Leser kann sich aus diesen Schilderungen eine Vor-
stellung von dem modernen Sexualleben machen, das sich zufällig in
der prüden Schweiz abspielt. Es ist dort nicht anders als in allen
anderen Kulturzentren, wo sich die Snobs und Übermenschen bemüßigt
sehen, ihre Triebe auszuleben ... Ich habe das Land der Begebenheiten
genannt, weil mir einmal vorgehalten wurde, meine Krankengeschichten
zeigten in ihrer Sinnlichkeit das Wiener Milieu, den Genius loci. Nun,
dieser Genius loci bleibt sich überall gleich.
Doch kehren wir zu meinem Patienten zurück. Er schreibt und
telegraphiert, er ist ungeduldig, er kann den Tag nicht erwarten, an
dem ich von meinem Urlaube zurückkommen werde.
Doch siehe da! Ich bin zu Hause und warte einige Wochen, über
einen Monat vergebens. Eines Tages erscheint er - 6 Wochen nach
dem Briefe seiner Gattin - und teilt mir mit, er habe sein Geld leicht-
sinnig ausgegeben, er habe die Zeit vertrödelt, kurz, er könne nur
2 Wochen in Wien bleiben.
476
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
\
nicht Ä!S?^? nahm [tnie Behandl™S nicht an. Ich wollte
nicht, daß er wieder von einem Mißerfolg der Analyse sprechen könnte
einem Werfolg den er schon im vorhinein schlau arrangiert hat"'
Selbstverständlich war E. ein großer Männerheld, hochbegabt
genial, von sich sehr eingenommen, unzufrieden mit seinen S
und von seiner Unheilbarkeit im Innern fest überzeugt &
W~ SemMVl nlS TZTUF Mutt6^ Zeigt uns die Wurz^ seines kranken
ZTr* * Semer uHelmreiSe tdlte er Wieder das **t ^iner MuUe
so daß die Frau sich entschloß, sich von ihm scheiden zu lassen
Nicht nur die zärtliche Mutter kann ihren Sohn in eine Para-
pathie brmgen Auch die strenge Mutter kann die Wurzel eineT Homo-
sexualität werden. Ebenso der strenge Vater
Im Anschluß an die Krankengeschichte von Freud möchte ich
genT dorn ^ !?*"?*» **** *» ^ £ft£
hTndeft ^Sfor8eXUailtätweine BeaChtUng Runden ^■■*-
t;iCh;,m d\e Wirkung der Schläge auf die
u?£ *W* haben gehört> daß » *Ws Fall der Vater die
t: S22 geschlasei? ft Es ist anzunehmen' ȀS
J^Ä T?n' Welche das Mädchen erhalten hatte, und daß
vielmehr du3 Wiederholung einer infantilen Szene stattfand. Ich habe
.Mutter haben. Nun gelang es mir im letzten Jahre' oft nachzuweisen
leider habe ich vorher diese Tatsache nicht beachtet -, daß diese
Homosexuel en in der Kindheit von ihrer Mutter und die Urlinden
von ihren Vätern empfindlich gezüchtigt wurden. Ich möchte be-
tonen, daß wahrscheinlich auch Ausnahmen vorkommen, aber daß wir
bei unseren Forschungen darauf Rücksicht nehmen sollen, ob das
Kind m der Jugend empfindlich geschlagen wurde. Die Schläge an und
iur sich müssen gar nicht sehr schmerzhaft gewesen sein. Es kommt
nur darauf an, daß sie das Kind als demütigend und als herabsetzend
empfunden hat. Als Reaktion auf die Prügelstrafe treten dann Haß-
gefuhle gegen den Elternteil auf, der die Strafe vollzogen hat Nun
fand ich wiederholt, daß mir Homosexuelle berichteten, sie wären von
der Mutter oder von einer Tante sehr energisch geschlagen worden
Ein Musterbeispiel, wie man die Homosexualität künstlich züchten
kann bietet die nächste Beobachtung. Ein 28jähriger Homosexueller
erzahlt, daß seine Mutter und sein Vater immer im Streite lagen Bei
diesen Streitereien erwies sich die Mutter immer als die Stärkere
Der verschüchterte Mann mußte kleinweise nachgeben. Dieses Unter-
hegen des Mannes scheint auf den 5jährigen Knaben einen großen
Eindruck gemacht zu haben. Denn er nahm einmal für den Vater
Partei. Die Mutter rief ihm zu: „Schweig, du kleiner Mistbub'"
Ergänzungen.
477
worauf der Kleiner frech erwiderte: „Schweig du! Du Mistbub —
Mistfrau — nicht ich Mistbub!" Der Vater lachte und meinte:
„Kinder und Narren sprechen die Wahrheit !" Darauf stürzte sich das
entmenschte Weib auf den Knaben und schlug ihn so mörderisch, daß
er wahrscheinlich tot" liegen geblieben wäre, wenn sich nicht Gehilfen
und Nachbarn eingemengt und das Kind den Händen der Furie ent-
rissen hätten. i >
Wie steht aber jetzt dieser Homosexuelle in der Familie? Er
lebt mit dem gütigen Vater in Zwist. Sie haben alle Beziehungen ab-
gebrochen und reden fast gar kein Wort miteinander. Aber die Mutter
verehrt er leidenschaftlich, obwohl sie schwer pathologisch ist und
schon mehrere Jahre in einer Irrenanstalt interniert war.
Die ursprüngliche Haßeinstellung gegen die Mutter wurde in-
folge des Schuldbewußtseins in Liebe konvertiert. Er verschob aber
den Haß gegen die Mutter auf alle Frauen, vor denen er sich fürchtet.
Der unauslöschliche Eindruck der Schläge durch ein Weib scheint
diese Haßeinstellung und die Unüberwindlichkeit seiner Angst be-
gründet zu haben.
Vielleicht ist diese Beobachtung imstande, uns die oft geschil-
derte Haßeinstellung des Homosexuellen gegen das Weib zu erklären.
Viele Beobachter wiesen auf die Tatsache hin, daß oft Homosexuelle
aus einer Kinderstube stammen, in der sie von lauter Frauen umgeben
waren. Wir haben in dem Falle des Serben das Gegenteil gesehen.
Aber es läßt sich nicht leugnen, daß- die ewige Bemutterung, Bestrafung
und Erziehung durch Frauen das Kind in eine Trotzeinstellung zu
allen Frauen bringen kann. Für die Prophylaxe der Homosexualität
ergeben sich aus dieser Tatsache sehr wichtige Schlußfolgerungen.
XV.
Rückblick und Ausblick.
Im Haß ist Furcht, ein großer, guter
Teil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir geisti-
- geren Menschen dieses Zeitalters, wir kennen
unseren Vorteil gut genug, um gerade als die
Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne
Furcht zu leben. Man wird uns schwerlich
köpfen, einsperren, verbrennen ; man wird nicht
einmal unsere Bücher verbieten und verbren-
nen. — Man ist Mann seines Faches um den
Preis, auch das Opfer seines Faches zu sein.
Nietzsche.
Wir haben gesehen, wie gewaltig der Haß ist, mit dem der Homo-
sexuelle seine Mitwelt bedenkt. Mag er den Haß auf das andere Ge-
schlecht ablenken, auf das eigene richten, oder unter Umständen gegen
sich selbst, er bleibt der starke Hasser, der die primitiven Gefühle der
Urzeit vergebens mit den ethischen Forderungen der Kultur zu ver-
binden trachtet. Es wirft sich die Frage auf, ob er überhaupt fähig
ist zu lieben. Man könnte dem entgegnen, daß er unter Umständen
seine Mutter, seinen Vater, einen Freund oder einen wirklich „Ge-
liebten" liebt. Es hat aber nur den Anschein, als wenn er sie lieben
würde. In Wahrheit leidet er an der Unfähigkeit zur Liebe. Er teilt
diese Eigenschaft mit allen Künstlern, die eigentlich auch unfähig zur
Liebe sind. Ich müßte mich wiederholen und die Ausführungen, die
ich in meinem Buche „Die Träume der Dichter" niedergelegt habe,
an diese Stelle setzen.1)
Alle meine Untersuchungen über die Psychogenese der Neurose
führen mich zu dem Phänomen des Hasses. Schon in meinem Buche
„Die Sprache des Traumes" konnte ich den Haß als das primäre Ge-
fühl im Menschen bezeichnen, der bei ethischen Menschen zur Neurose
*) Seite 248. „Die Liebe der Neurotiker zur Familie ist eine von Reue diktierte
Korrektur einstiger Lieblosigkeit." „Bei den Dichtern bildet sich aus der Unfähigkeit
zur Liebe eine Sehnsucht nach der Liebe aus, die sie zu einer immerwährenden Jagd
nach Liebe treibt. Die Liebe ist die überwertige Idee und das unerreichbare "Ideal der
Dichter geworden." „Den Dichter scheidet vom Verbrecher, daß er den Mangel an
Liebe als Fehler fühlt und sich aus Haß und Verachtung der Menschheit zur Liebe
und Nächstenliebe durchringt.' ,
Rückblick und Ausblick. 479
führen muß, wenn ihnen ein starkes Triebleben eigen ist. „Die Neurose
ist die endopsychische Wahrnehmung des Hasses durch die Brille des
Schuldbewußtseins." x)
Ich glaube den Beweis geliefert zu haben, daß der Homosexuelle
ein Neurotiker ist, daß er in bezug auf sein Triebleben eine Rück-
schlagserscheinung darstellt und daß die Homosexualität eine Art
Heilungsprozeß einer zwischen abnormem Trieb und kultureller
Hemmung kämpfenden Psyche darstellt.
Nun darf man nicht glauben, daß der Homosexuelle wie der
Neurotiker arm an Liebe seien. Allein all ihre Liebe ist Eigenliebe.
Beruht doch jeder kulturelle Fortschritt darauf, die Eigenliebe in eine
soziale Liebe umzuwandeln. Das erklärt uns das herrliche Gebot der
Nächstenliebe: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Da der Homosexuelle eigentlich nur sich liebt, so sucht er nur
sich in dem anderen. Diese Erscheinung ist jeder Liebe eigen. Was
scheinbar die extremste Regung altruistisoher Gefühle darstellt, ist
in Wahrheit eine Umformung egoistischer Regungen. Liebe ist
potenzierter Egoismus. An Narzissmus leidet jeder Neurotiker. Er
ist ein Sklave seines Ich und kommt von sich nie los. Daß der Homo-
sexuelle sein eigenes Geschlecht liebt oder zu lieben scheint, hängt
nur bei oberflächlicher Betrachtung mit seinem Narzissmu6 zusammen.
Er liebt im Grunde genommen weder den Mann noch das Weib. Er
nahte aber einen Haß zu bewältigen, der stärker war als der Haß des
Normalmenschen. Dieser Haß war das Problem seiner Kindheit. Als
ein ewiges Kind ist es ihm noch nicht gelungen, diesen Haß vollkommen
zu sublimieren oder ihn an Objekte zu fixieren, die zu hassen die
Kultur gestattet.
Alle Beobachter von Homosexuellen betonen, daß bei diesen der
Geschlechtstrieb sehr früh erwacht. Vielleicht ist es neben der Fort-
pflanzung die größte soziale Mission des Geschlechtstriebes, daß er
dazu dient, den Haß zu überwinden. Mit Hilfe der Sexualität wird
aus dem egoistischen Kinde ein liebender Mensch.. Denn die Liebe des
Kindes ist noch absolut egoistisch. Es liebt die Personen, die ihm
Gutes erweisen. Vergebens bemüht man sich, ihm beizubringen, daß
es auch Lehrer lieben müsse, die streng sind, aber es gut meinen, daß
Eltern strafen müssen, wenn sie es erziehen wollen. Diese Einsicht
erwächst erst dem Reifen und läßt ihn die kindlichen Rachegefühle
vergessen, die ihn einmal beim Erdulden von Strafen, die immer als
ungerecht empfunden werden, überkommen, wenn das Schuldgefühl noch
nicht eine Umwertung dieses Urteils vorgenommen hat. Aber die sexuelle
*■) Die Sprache des Traumes, Seite 563.
-480 Zneiter Teil. Die Homosexualität.
Frühreife bringt schon in erster Jugend beim Neurotiker, also auch beim
Homosexuellen Begierden zum Vorschein, welche die Liebe der Um-
gebung erstreben und bereit sind, dafür auf den Haß zu verzichten
las w.rd dann einer geliebten Person der relative Anteil an Haß ent-
zogen und auf die anderen verschoben. Diese infantilen Einstellungen
hZT vT tVnd die MuWer haseen' weiI ei° r™1» m der
L eb d s Vaters ist. Zugleich werden die Schwestern gehaßt weil sb
Shlt eK:r f eiI dHr niebe entziehen- di° d- egoistischr ,
T U u ! vF S1Ch alIdn in AnsPruch ™'- Später werden
ittfrg^d 6 SChW6Stem geUebtU"d d6r V«« - to •
teren ^L^T^VI '*******. ö«^ Ihr Erwachen in spä-
Dfese Vel , , 5* 6me EeSreesi°n •"« ^antile Einstellungen.
NeZen w »n ST f "T *"* *" ^ Ge3C"leCht ™5eh°b-
tftftTwM ,' V r den Vater' S° WeU er *ben "<*•» ^nn. Die
werden a, „ * * '" 8BWBrtet Zugleich ffiit d«sw Einstellung
Z Vate ri U6n l'eicMallS R™Iin™h die ihm die Liebt
des Vaters rauben können. Er haßt dann alle Frauen und der Weg
ur homosexuellen Neurose ist ihm eröffnet. Am Anfange der Homo"
nfaSit W t' "« "*<*» ^ * das ganze Lebenire
mlantile Wertung beibehält.
Ich habe schon betont, daß es die Aufgabe der Sexualität ist, den
lomLen U^e™de\Allei^ diese .Überwältigung gelingt nicht voll-
teZ R1>}fW1Sf n b^den,Ge8^chtern bleibt eine ewige Rivalität,
welche sich m dem „Kampf der Geschlechter" äußert. Es besteht für
mich gar kein Zweifel, daß die Fähigkeit des Menschen zu lieben im
w ! ^ taUSende zugenommen hat. Welche subtile Verfeinerung
hat die Erotik erfahren! Wie kompliziert sind die Seelenvorgänge
geworden, die sich zwischen dem liebenden Mann und dem liebenden
Weib abspielen! Aber in dem gleichen Maße ist der Haß gewachsen
der beide Geschlechter trennt. Aus dieser Überwindung des Hasses'
aus diesem zeitweiligen Zurückfallen in die Haßeinstellung und aus
der stets erneuten Überwindung bezieht die moderne Liebe ihre reichste
Affektivität.
Es wirft sich eine Frage auf: Gibt es in der Tat einen Beweis
daiur, daß die polare Geschlechtsspannung zwischen Mann und Weib
zugenommen hat? Wer in dem Vordrängen der Frau auf sozialem
Gebiete, in ihrem Kampfe um die Gleichberechtigung noch keine Be-
stätigung dieser Annahme ersehen mag, muß sich an biologische Tat-
sachen halfen Dipra hir.lrt„j„„T,.._ m _ .
Sachen halten. Diese biologiechen Tatsachen b e-
j
Rückblick und Ausblick. 4g j^
weisen, daß die Geschlechtsdifferenzierung zwi-
schen Mann und Weib durch die Kultur zunimmt.
Das Weib der Urzeit war früher nicht so weiblich, der Mami nicht so
männlich, wie das Kulturweib und der Kulturmann. Fehlinger1) führt
durch Vergleich der Naturvölker mit den Europäern den Nachweis,
daß die sekundären Geschlechtsmerkmale bei den
domestizierten Völkern viel ausgeprägter sind
als bei den wilden. Es seien immer stärkere Reize notwendig,
um den domestizierten Geschlechtstrieb aufzustacheln. Die weiter-
gehende Geschlechtsdifferenzierung der Europäer finde auch darin
Ausdruck, daß bei ihnen vom Zeitpunkte des Eintrittes der geschlecht-
lichen Reife bis zur Erlangung der vollen körperlichen Reife eine
längere Periode verstreiche als bei den farbigen Rassen. Die Natur-
völker zeigten eine viel größere Ähnlichkeit zwischen Mann und Weib,
die bei den verschiedenen Pygmäenrassen am ausgeprägtesten sei.
Diese zeichneten sich durch infantile Körperformen aus, die ja be-
kanntlich geschlechtlich' sehr wenig differenziert sind.
Da der Homosexuelle als Rückschlagserschei-
nung eine Stufe der Menschheit repräsentiert, in
der die bisexuelle Gestaltung des Organismus
viel ausgeprägter war, so bringt er schon die Dis-
position zur Einfühlung in beide Geschlechter ab
ovo mit. Er tritt in die Welt der Geechlechtsdifferenzierung wie
etwas Fremdes, ihr Feindliches ein. Er entstammt einer Zeit, in der
ein Mann unter Umständen eine Frau ersetz en'konnte. Seine Engramme
sehen im homosexuellen Fühlen etwas so Selbstverständliches, als wäre
er viele hunderttausende Jahre vorher auf die Welt gekommen. Allein
er bringt auch den Haß versunkener Zeiten in die Kulturwelt, in der
die Liebe eine so große Rolle spielt. Dieser Haß wird zum kräftigen
Antrieb in dem Kampf der Geschlechter. Er steht physisch als Ver-
mittler zwischen Mann und Weib, ist aber dieser Vermittlerrolle nicht
gewachsen, weil er die ewige Spannung zwischen Mann und Weib in
sich nicht verträgt. Er zersetzt das Liebesgefühl, das aus Liebe und
Haß besteht, m seine zwei Komponenten und verteilt sie auf die Ge-
schlechter. Er haßt die Frau wie ein Urmensch und liebt den Mann
als Kulturmensch. Erwachsen muß dieser tödliche Haß verdrängt
werden und zwischen ihm und dem Weibe stehen. Weil er unfähig
ist, ein ganzer Mann zu sein, weil er aus dem In-
fantilen nicht herauskommen kann, haßt er auch
*) Domestikation und die Bekundären Geschlechtsmerkmale. Zeitschrift für
Sexualwissenschaft, III. Bd., 6./7.Heft, 1916.
Stekel, Stürnngon des Trieb- und A.Ü\,ktlt>bens. II. 2. Aufl. 31
482
Zweiter Teil. Die Homosexualität,
das Weibische in sich. Er überschätzt die Männlichkeit und
wendet ihr mit dieser Wertschätzung seine ganze Liebe zu. Der Haß
gegen alle Frauen entspringt aus dem Haß gegen das eigene Weibliche
— als Reaktion gegen die persönliche Ohnmacht, das Weib in sich
zu überwinden und ein ganzer Mann zu sein. Er kann schließlich in
dem Bestreben zur Beendigung des inneren Kampfes zwischen Mann
und Weib sich als Weib fühlen. Das heißt: er nimmt dann nur ein
Weib von dem Hasse aus . . . sich selbst. Auf diesem Wege wird er
dann zum Transvestiten. Er kann sich heterosexuell betätigen, schein-
bar die Homosexualität überwinden und zur Buße für seinen Haß jenes
Kleid anlegen, das ihm so verächtlich erschienen ist. Nur über
die Brücke des Schuldbewußtseins wird der la-
tent Homosexuelle zum Transvestiten.
Unsere Untersuchungen haben uns bewiesen, daß es eigentlich
keine einheitliche Psychogenese der Homosexualität gibt. Aber allen
Fällen war die archaistische Betonung der Bisexualität gemeinsam.
Wenn ich aber von Rückschlagserscheinung spreche, so möchte ich es
doch vermieden sehen, diese Auffassung als Entartung oder De-
generation anzusprechen. Denn meine Untersuchungen der Künstler
haben mir bewiesen, daß sie die gleichen Anlagen haben wie die Homo-
sexuellen. Sie sind alle Neurotiker. In der Tat ist die Liste der homo-
sexuellen Künstler, ja sogar der homosexuellen Genies, wie sie bei
ilirschfeld zu finden ist, geradezu imponierend. Ich stehe auf dem
Standpunkte, daß alles Große von diesen Rückschlagserscheinungen
geschaffen wurde und wird. Als ob sich die Natur durch einen Griff
in die gärende Kraft der Urzeit verjüngen und neu gebären wollte.
Es wäre vielleicht eher gestattet, im Sinne von Magnan von „De-
generes superieurs" zu sprechen. Mir scheint die wirkliche Entartung,
wie sie sich in physischen Degenerationszeichen offenbart und in einer
mangelnden Anpassung an die ethischen Forderungen der Gesellschaft
äußert, eher der Schlußpunkt einer sich erschöpfenden Reihe zu sein,
die nach abwärts gerichtet ist, während der Neurotiker einen Aufstieg
bedeutet. Degeneration und Rückschlagserscheinung haben gewiß viel
Gemeinsames. Aber gleiche Ursachen haben oft verschiedene Wir-
kungen. Ich verweise nur auf die jetzt gut gekannten Gesetze der In-
zucht. Verwandtenehen können durch Summierung der guten Anlagen
zur Bildung eines Genies, aber auch durch Verstärkung krankhafter
Dispositionen zur mehr oder minder pathologischen Entartung führen.
Steinach hat fünf Hoden von Homosexuellen untersucht1) und
einen gewissen Degenerationstypus nachweisen können. Nach seinen
*) Histologische Beschaffenheit der Keimdrüse bei homosexuellen Männern. Aren.
f. Entwicklungsmechanik der Organismen. Bd. 46. H. 1.
Rückblick und Ausblick. 483
Feststellungen ist der Hode solcher Mensehen charakterisiert durch
einen gewissen Degenerations- oder atrophischen Zustand der Samen-
kanälchen, durch Verringerung und teilweise Degeneration der Leydig-
schen Zellen und das Vorhandensein von großen interstitiellen Zellen,
die Steinach nach Aussehen und Bau als den Luteinzellen nahestehende
Elemente bezeichnet hat. Der Autor hält die mikroskopischen Bilder
— ganz besonders die der Degenerationserscheinungen — für so auf-
fallend, „daß die Kriterien der angeborenen Homo-
sexualität auch von dem histologisch nicht sehr
geübten Arzt sofort erkannt und sowohl für die
Entschließung zur operativen Behandlung wie
auch zur etwaigen forensischen Begutachtung
verwertet werden können."
Sehr treffend kritisiert Kyrie diese Behauptung in der „Wiener
klin. Wochenschrift" (1920, Nr. 4) :
Diesen Schlußfolgerungen Steinachs kann der Referent nicht bei-
pflichten und wohl jeder, der sich mit systematischen Studien der
Strukturverhältnisse des Hodens beschäftigt und die Schwierigkeiten,
welche sich der Deutung all der mannigfachen pathologischen Vorkomm-
nisse in diesem Organ entgegenstellen, kennen gelernt hat, wird zu dem
gleichen ablehnenden Urteil kommen müssen. Die Dinge liegen durchaus
nicht so einfach, daß man auf Grund der Untersuchung einzelner Testikel
von bestimmten Krankheitsgruppen, durch Vergleich derselben mit nor-
malen und gewissen pathologischen Zuständen ohneweiters charak-
teristische Merkmale der Organläsion für die betreffende Erkrankung
ableiten kann. Jedem Pathologen ist bekannt, daß die verschiedensten
Noxen Degenerationszustände im Hodenparenclrym bedingen können, die
sich prinzipiell immer wieder gleichen. Jeder Insult, mag er auch noch
so verschiedener Qualität sein, der den Testikel trifft, bewirkt grund-
sätzlich dasselbe: Degenerationserscheinungen am Samen bildenden
Apparat, deren höchstes Stadium durch die totale Atrophie des Organes
ausgedrückt ist; die Zwischenzellen verhalten sich hiebei verschieden,
je nach dem Grade der Läsion befinden sie sich in einem hypertrophischen
oder atrophischen Zustand. Da es nun kaum eine Allgemeinerkrankung
gibt, die den Hoden nicht schädigen würde, sind auch Degenerations-
zustände im Hodenparenchym ein ungemein häufiges Vorkommnis. Be-
kanntlich stoßt man bei Reihenuntersuchungen oft genug auf Testikel
jugendlicher, vollkräftig entwickelter Individuen (beispielsweise Material
von Selbstmördern, von Individuen, welche bei Unglücksfällen zugrunde
gegangen sind), die bedeutende Parenchymläsionen im Sinne von Organ-
degeneration oder -atrophie erkennen lassen, ohne daß sich eine direkte
Ursache hiefür aufdecken ließe. Man erwartet in solchen Fällen normale
Organe und findet pathologische vor. Durch das ganze Organ gleich-
mäßig entwickelte normale Verhältnisse sind bekanntlich überhaupt
nur relativ selten anzutreffea
Diese, im Rahmen eines Referates nur kurz skizzierbaren Tat-
sachen müssen bei Beurteilung pathologischer Hodenzustände im all-
31*
484 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
gemeinen zur Vorsicht mahnen; und dieses gilt auch für das vor-
liegende Material. Steinach hat bei homosexuellen Männern De^ene-
rationszustände im Hoden gefunden ; d a ß d i e s e L ä s i o n e n d ur c h
die Homosexualität bedingt sind, ist damit noch
keineswegs bewiesen. Die Degenerationserscheinungen, wie sie
Stemach beschreibt und für das Wesentliche hält, unterscheiden sich
in gar nichts von solchen, wie man sie bei systematischer Untersuchung
der Keimdrüsen überhaupt häufig antrifft.
Bezüglich der Deutung der großen, 'im Zwischengewebe liegenden
Elemente öieSleinach als mit Luteinzellen übereinstimmende, bzw. weib-
liche Pubertatsdrüsenzellen anspricht und deren Vorkommen er mit dem
Atrophierungsprozeß des Organs in ursächlichen Zusammenhang bringt
erscheint wohl auch noch entsprechende Reserve geboten. Die Variations-
S*S£ i? ei" ^wis^henzellen ißt eine so große, die Bilder, unter denen
sich dieselben bei Degenerationszuständen des Organs präsentieren, sind
so manmgfache, daß der Versuch einer Agnoszierung in der Richtung,
wie »xe hier von Steinach eingeschlagen wird, doch kaum anders als im
r,7 ^tiven Eindruckes gewertet werden kann. Unter keinen
Umstanden liegen die Dinge so einfach, daß „der histologisch auch
Art &f^i ,ArZ X TaJf hältniSSen der VOn SUi™h geschilderten
Art iigend welche Schlußfolgerungen bezüglich etwaig bestehender
Homosexualität bei dem betreffenden Individuum wagen dürfte
Ich neige auch zur Ansicht, daß Steinach Degenerationserschei-
nungen beschrieben hat, wie man sie wahrscheinlich bei vielen anderen
JNeurotikern und Verbrechern finden wird. Steinach müßte noch viel
exaktere Beweise erbringen. Und schließlich beweisen diese histo-
logischen Befunde, was ich immer angenommen habe: daß der Homo-
sexuelle eine Rückschlagserscheinung ist.
In dieser atavistischen Anlage sehe ich die Disposition zur
Homosexualität, die jedem Neurotiker eigen ist. Vielleicht daß noch
organische Veränderungen eine Bedeutung haben, wie ich sie bei
vielen Homosexuellen mehr oder minder ausgeprägt beobachten konnte.
Daß Menschen von ausgesprochen bisexuellem Typus nicht homo-
sexuell werden, beweist nichts gegen diese organische Grundlage. Das
ist die Stelle, wo ich mit Hirschfelds Zwischenstufentheorie zusammen-
treffe. Von hier aus scheiden sich unsere Wege. Diese organischen
Zusammenhänge sind einer späteren Untersuchung vorbehalten. Stehen
wir doch auch in der Erforschung der organischen Bisexualität erst im
Beginne neuer Erkenntnisse. Besonders die Konstatierung des Halb-
seitenhermaphroditismus scheint. mir für die Zukunft eine besondere
Bedeutung zu haben. Ist mir doch jetzt bei der Untersuchung eines
großen Menschenmaterials, wie es mir in der Kriegszeit zur Verfügung
stand, aufgefallen, wie oft sich eine gegengeschlechtliche Anlage speziell
auf der linken Seite nachweisen läßt. (Bei Männern einseitige Gynäko-
mastie, mangelnder Haarwuchs, asymmetrische Gesichtsbildung, die
I
Rückblick und Ausblick. 485
links mehr weiblichen Typus aufweist.) Auch der Nachweis des in-
fantilen Typus dürfte für die Konstatierung einer organischen Dis-
position zur Homosexualität von Bedeutung sein.
Doch dieser Nachweis enthebt uns nicht der Verpflichtung, eine
Psychogenese der Homosexualität zu begründen. Ich glaube es deutlich
bewiesen zu haben, daß es eine solche Psychogenese gibt. Aber in der
verwirrenden Fülle der Möglichkeiten, die zur homosexuellen Neurose
führen, gibt es keine Regeln! Jeder einzelne Fall ist eine Aufgabe für
sieh und gerade in diesem Falle heißt es strenge individualisieren und
sich davor hüten, durch ein bestimmtes Schema die künftige Forschung
zu hemmen.
Eine Frage, die kein Sexualforscher bis heute erschöpfend be-
antworten konnte, wirft sich auf: Wie kommt es, daß gerade die Homo-
sexualität und besonders die männliche Homosexualität sozial so ver-
pönt ist? Wie kommt es, daß unsere Gesetzbücher in dieser Frage
meistens rückständig sind?
Wir können die Ursachen dieser Erscheinung nur verstehen, wenn
wir die historische Forschung zu Hilfe nehmen. Auffallend ist der
Umstand, daß die weibliche Homosexualität immer nur neben der
männlichen einhergeht, aber lange nicht so verpönt, eher stillschweigend
geduldet ist. Ist doch Österreich das einzige Land, das sexuellen Um-
gang zwischen Frauen als Unzucht bestraft. Wir sehen hier einen Zu-
sammenhang mit dem Problem der Fortpflanzung, für die der Mann
als Zeuger mehr in Betracht kommt als das Weib.1) (Der Samen, das
kostbarste Gut, mit dem ein Mann mehrere Frauen befruchten kann,
darf nicht nutzlos verschleudert werden.)
Der energische Kampf gegen die Homosexualität fängt mit dem
Judentum an. Mit dem Monotheismus entwickelte sich der Mono-
sexualismus. Die Bibel erwähnt die Homosexualität kaum. Kinder-
segen, Fortpflanzung, Menschenreichtum waren Notwendigkeiten, denen
sich die sexuellen Triebrichtungen unterordnen mußten. Wir können
daher mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß das Judentum
die Homosexualität aus sozialen Motiven bekämpft hat. Andrerseits
war die Homosexualität in Griechenland aus sozialen Motiven geduldet,
ja sogar gestattet und eingeführt. Aristoteles ist der Ansicht, daß die
Dorier in ihren Sitten die Tendenz hatten, durch Begünstigung der
Knabenliebe und Trennung der Weiber von der Gesellschaft die Be-
*) Eine treffliche Darstellung der Geschichte der Homosexualität findet sich bei
HirschfeU (I.e.).
486 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Völkerungszunahme einzuschränken.1) Aber diese Tendenz allein würde
uns die Wertschätzung der Homosexualität in Griechenland nicht er-
klären.
Ich verweise auf die lesenswerte Arbeit eines Philologen, Professor
E. Bethe.*)
Der Verfasser führt den Nachweis, daß die Knabenliebe im Hellas
von den Doriern eingeführt wurde. Wenngleich sich Spuren der Knabenliebe
auch bei den Ioniern finden, so wurde sie, wie das Rittertum in Griechenland
durch die „Dorier", zur Mode. Sie war nur dem freien Manne, dem Ritter
vorbehalten, dem Sklaven (oft bei Todesstrafe!) verboten. Diese Liebe war
in festen Formeln geregelt und eine staatliche Institution. In Sparta, Kreta,
Theben beruhte die Erziehung zur äps-n} in der Herrenkaste auf Päderastie.
„In Sparta waren die Liebhaber für die Geliebten, die vom zwölften Jahre
an mit ihnen verkehrten, so sehr verantwortlich, daß für eine unschamhafte
Handlung ihres Geliebten sie, nicht diese gestraft wurden." „Das Schlachtfeld
von Chaironeia deckten die Liebespaare der heiligen Schar der Thebaner Mann
für Mann." In Kreta ging die Liebeswahl der Knaben in der Form des
Brautraubes vor sich. Der Liebhaber kündigte der Familie den Raub
an. War diese mit der Wahl nicht einverstanden, so trachtete sie den Raub
zu verhindern. Je höher der Liebende stand, desto größer die Ehre für die
Familie und den Knaben. Der Erwählte wurde dann von seinem Gönner
bei seiner Rückkehr aus dem fremden Hause mit einer Kriegsrüstung, Becher
und Rind beschenkt.
Ja, in Theben, Thera und Kreta entbehrte diese Verein i-
gungnicht der religiösen Weihe. „Die Verlobung oder vielmehr
die fleischliche Vereinigung am heiligen Orte selbst unter dem Schutze eines
Gottes oder Heros steht bei Thera und für Theben sicher. In Thera reden
eine nicht mißverständliche Sprache die hocharchalischen Felsin'schriften doch
wohl des siebenten Jahrhunderts, mit gewaltigen Buchstaben eingemeißelt
auf dem Götterberg unmittelbar nahe der Stadt, in 50—70 Meter vom Tempel
des Apollon Karneies und an den heiligen Stätten des Zeus. Da heißt es:
„An heiliger Stätte, unter Anrufung des Zeus hat hier Krion seine Ver-
bindung mit dem Sohne des Bathykles vollzogen und er hat sie stolz der
Welt verkündet und ihr ein unverwüstliches Denkmal gesetzt. Und viele
Theräer mit ihm und nach ihm haben an derselben heiligen Stelle denselben
heiligen Bund mit ihren Knaben geschlossen."
In Kreta galt es für eine Schande, wenn ein Knabe aus „ritterlichem"
Hause keinen Liebhaber fand. Umgekehrt galt es als Ehre, wenn sehr viele
Männer sich um ihn bewarben.
Dieses Verhältnis hatte für Liebhaber und Knaben die besten Folgen.
Jeder wollte das Höchste leisten, um seine Tüchtigkeit zu beweisen und
als äyaO-6; &v^p dazustehen. Selbst die Heldensagen mußten auf diese Liebe
Rücksicht nehmen. Die Ruhmestaten eines Herakles geschahen dem männ-
lichen Liebling Eurystheus zu Ehren. Die Abweisung eines werbenden Mannes
*) Politik. II. Zitiert nach Havelock Ellis und I.A.Symonds, Das konträre Ge-
schlechtsgefühl. Leipzig, Georg H. Wigands Verlag, 1896.
a) Die dorische Knabenliebe. (Ihre Ethik und ihre Idee.) Rheinisches
Museum für Philologie. Neue Folge. Band 62, 1907.
Rückblick und Ausblick. 487
galt als Schmach, welche die Ehre befleckte. Plutarch erzählt die Geschichte,
wie Aristodamus einen sich widersetzenden Knaben mit dem Schwerte nieder-
stößt. „Man gerät unwillkürlich in die Sprache unseres ritterlichen Ehren-
komments" — sagt Bethe.
Durch diesen Akt übertrug der Ritter seine Ritterlichkeit (äp"r^ auf den .
Knaben. Das hatte einen symbolischen Sinn. Bei den Spartanern hieß der
Päderasts<:o-vT,vxc. der" etwas einbläst (von siowveW). Was aber hauchte der Ge-
liebte dem Knaben ein? — wohl nur das -vs^.xdie Seele, ein Glaube, der von
den ältesten Zeiten (Bibel!) bis ins Christentum hinein lebendig war. Die Seele
des Menschen waren jedoch nach primitiver Anschauung seine verschiedenen
Se- und Exkrete. In Urin, Kot, Blut, Samen steckte die Lebenskraft und ein
großer Zauber. Mit dem männlichen Samen also flößte der Dorier seinem
Knaben die Heldenkraft ein. (Ähnlich wie die Wilden in Neuguinea den Urin
des Häuptlings trinken, um seine Kraft und Tapferkeit zu erwerben. Eine
Menge ähnlicher Beispiele führt Bethe an.) Der Samen wurde als Seele
angesehen.
(Bethe weist darauf hin, daß die Leber, das Herz und besonders der
Phallus ebenfalls als Seele aufgefaßt wurden. Näheres ist beim Autor nach-
zulesen!)
Die sonderbare Vorstellung, seine Seele a posteriori einzuflößen, führt
der Autor auf die primitiven Anschauungen zurück. Die Tiere hatten keinen
Widerwillen gegen diese Liebesopferungen, und Menschen, die dem Urin und
dem Kote zauberhafte Wirkungen zuschrieben, könnten keine Ekelvorstel-
lungen haben. Wenn der Anus als Eingangspforte für böse Damone gegolten
habe, warum sollte nicht der gute Zauber der Heldenkraft da hmem schlupfen
können?
Die Idee aus der sich die Päderastie als staatliche Institution bei den
Dörfern entwickelt hatte, konnte sich auf die Dauer nicht halten. Sie mußte
mit ihnen zusammenbrechen . . . Aber es blieb die Knabenliebe als die all-
gemein geübte Lust und galt durch das ganze Altertum und im ganzen weiten
hellenischen Kulturgebiet geradezu als ein notwendiges Element des dezenten,
griechisch gebildeten Lebens. Erst die christliche Kirche, die von jeher gegen
dieses Heidenlaster besonders geeifert, hat die Päderastie aus der christlichen
Gesellschaft verbannt und da sie es nicht durch geistige Mittel vermochte, im
Jahre 342 ihre kriminelle Bestrafung durchgesetzt."
So weit der Philologe, der noch betont, daß in der vordorischen Zeit
(z. B. bei Homer) 6ich keine Anhaltspunkte für die Institution der Knaben-
liebe finden.
Bethe verfällt in den Fehler vieler Geschichtsforscher und Philo-
sophen, die christliche Kirche für die Neuorientierung der sexuellen
Moral verantwortlich zu machen. Auch Nietzsche ist der gleichen An-
sicht. In erster Linie übersehen diese Autoren, daß die Neuorientierung
schon mit dem Judentum einsetzt. Zweitens, daß Religionen auch nur
die Resultate sozialer Notwendigkeiten sind. Die Religionen wußten
sich noch immer den sozialen Forderungen ihrer Zeit anzupassen, ja
sie sogar durchzusetzen. Unter den Imperativen der Religion leiden nur
de Über den Durchschnitt emporragenden, die Freien, die Empörer, die
488 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ungebändigten. Für die große Masse wird es immer eine Religion und
wird es auch sexuelle Hemmungen religiöser Natur geben müssen.
Die Sexualität ändert sich stetig und strebt einer Verfeinerung zu.
Das kann kein Einsichtiger leugnen. Es ward immer mehr von der Trieb-
kraft gedrosselt. Nur wenn die Drosselung zu arg wird, kommt es zu
Rückschlägen, wie sie sich in den letzten Jahrzehriten in Forderungen
nach freier Liebe und offener Besprechung der Sexualfragen geäußert
haben. Aber wenn nicht alle Zeichen trügen, ist der Wellenberg der
sexuellen Freiheit schon im Abstieg und wandelt sich zum Wellentale.
Vorkämpfer freier Sexualbetätigung treten für Monogamie ein, die Frage
der Fruchtbarkeit dürfte nach dem Weltkriege einer Erlösung der Homo-
sexuellen von der sozialen und gesetzlichen Ächtung nicht günstig sein.
Im Gegenteil! Wir dürfen uns bald auf schärfere Bestimmungen gegen
die Homosexualität gefaßt machen, da wir ja wieder auf den alttesta-
mentarischen Standpunkt der Fruchtbarkeit um jeden Preis zurück-
kommen werden.
Man sollte annehmen, daß die drückende Wohnungsnot und die
noch immer zunehmende Arbeitslosigkeit zu einer Beschränkung der
Kinderzahl auffordern würden. Statt dessen sehen wir überall die
„nationalen Kräfte" an der Arbeit, welche eine Vermehrung der Volks-
zahl fordern. Die erwähnte Arbeit von Kraepelin war der erste Vor-
stoß der Wissenschaft gegen die Homosexualität und Onanie als be-
völkerungseinschränkende Tendenzen. Weitere Arbeiten werden folgen,
obwohl man froh sein sollte, daß die Auto-Erotiker und Homosexuellen
sich freiwillig von der Fortpflanzung ausschließen.
Ich habe schon aufmerksam gemacht, daß sich die sekundären Ge-
schlechtsmerkmale durch die Kultur mehr ausgeprägt haben. Das vor-
historische Stadium mag wahrscheinlich ein indifferenziertes Ge-
schlechtsgefühl, wie es Dessoir1) der Vorpubertät zuschreibt, aufge-
wiesen haben. Die polare Spannung zwischen Mann
und Weib ist gewachsen! Das erklärt uns den Unterschied
zwischen der griechischen Homosexualität und der modernen. Der
Grieche war bisexuell. Er konnte neben dem Knaben noch den Freund
und die Frau und Sklavin lieben. Der moderne Homosexuelle, der die
bisexuellen Instinkte der archaistischen Zeit in sich trägt, findet ein
anderes Geschlecht vor. Er wird sozusagen vor die Wahl gestellt und
sucht dann immer den Typus, dem er selbst angehört, den Mann, der ein
Weib ist, oder das Weib, das ein Mann ist. Ausnahmen beweisen nichts
gegen die Regel. In dem Maße aber, als die polare Geschlechtsspannung
zugenommen hat, ist auch der Haß zwischen Mann und Weib stärker
') Zur Psychologie der Vita sexualie. Allg. Zeitschr. f. Psych., 1894.
Rückblick und Ausblick.
489
geworden. Wie wir gesehen haben - besonders die letzten Fälle waren
ja außerordentlich beweisend — , nimmt der Homosexuelle, der scheinbar
abseits von diesem Kampfe zu stehen scheint, in seinem Innern die
feindlichste Stellung ein. Er haßt das Weib mit so grimmiger Leiden-
schaft, daß er aus Angst vor dieser Leidenschaft das Weib fliehen muß.
Sein Haß ist der Wille zur Vernichtung! Aber diesem Hasse entspricht
auch das polare Gegenstück: Die Liebe bis zur eigenen Vernichtung.
Der absolute Wille zur Unterwerfung. Der Kranke Nr. 86 hat uns dieses
Kräftespiel in vollkommener Klarheit gezeigt.
Die moderne monosexuelle Homosexualität ist also eine Form, in
der sich der Kampf der Geschlechter ausdrückt. Die Fülle angeborenen
Hasses gestattet es dem Homosexuellen nicht, diesen Haß als Resonanz
der Liebe nach Belieben umzugestalten; er muß ihn dem entgegen-
. gesetzten Geschlechte zuwenden. Dadurch wird allen Homosexuellen
der Stolz auf das gleiche Geschlecht eigen. Sie nennen sich die
„Eigenen", sie blicken mit Verachtung auf die Frauenknechte und
„weibisch'-' gilt manchen männlichen Homosexuellen als Schmähung,
ausgenommen die Typen, die Frauenkleider tragen oder sich als männ-
liche Weiber gebärden. Den gleichen Haß können wir bei den weiblichen
Homosexuellen finden. Die Suffragettenbewegung hat uns genug der
Beweise geliefert.
Es ist aber klar, daß die Zahl der Homosexuellen nicht abnehmen
wird. Im Gegenteil! Ich bin der Ansicht, daß die Tat-
sache der extremen polaren Spannung zwischen
Mann und Weib unter bestimmten Umständen
immer gewisse Individuen mit entsprechender
bisexuellerAnlage in die Homosexualität treiben
und daß die Zahl der Homosexuellen zunehmen
wird. Da ach die Homosexualität als eine Neurose - wenn man also
will, als einen krankhaften Zustand auffasse, so muß ich mich mit aller
Entschiedenheit gegen eine Bestrafung der Homosexuellen, gegen die ver-
schiedenen berüchtigten Paragraphen aussprechen, die die Ursache von
namenlosem Elend geworden sind. Es fällt auf, daß in Frankreich und
Italien die Homosexualität eine geringere Rolle spielt als z B in
Deutschland, obwohl sie in diesen Ländern nicht bestraft wird. Oft ent-
falten Gefahren und Verbote die größte Anziehungskraft und gerade
der Neurotlker neigt dazu, eich zum Märtyrer zu machen. Homosexuelle
Beziehungen und Akte, die unter gegenseitiger Zustimmung vor sich
gehen, sollten außerhalb jedes Gesetzes stehen, wie es der Code
Napoleon auch' verfügt hat. Er kennt nur Strafen für ein öffentliches
Ärgernis (outrage ä la pudeur) , d. h. wenn die Handlung an einem öffent-
lichen Orte oder vor Zeugen vor sich gegangen ist; er bestraft die An-
AnQ Zweiter Teil. Die Homosexualität.
wendung von Gewalt und schützt die Minderjährigen und Geistes-
schwachen.
Mit diesen Einschränkungen ist aber auch Allem Genüge getan,
was die moderne Ethik erfordert. Ich begreife es nicht, daß der Staat
die Homosexuellen zur Fortpflanzung zwingen will. Wenn ich auch
nicht wie Tarnowsky auf dem Standpunkte stehe, daß ihre Nachkommen-
schaft degeneriert ist, weil die Erfahrung mir oft das Gegenteil bewiesen
hat — , so sehe ich doch in dem Entstehen der homosexuellen Neurose
eine Art sozialen Instinktes. Der Homosexuelle hat die endopsychische
Erkenntnis seiner asozialen Triebe. Er fühlt sich als außerhalb der
Gesellschaft. Er sträubt sich gegen die Fortpflanzung vielleicht im
Dienste der Gesellschaft. Bedenken wir die Stärke seiner sadistischen'
Triebe, so werden wir begreifen, daß er unter Umständen der Gesell-
schaft durch die freiwillige Sterilisierung einen großen Dienst erweist.
Es wirft sich die Frage auf, ob wir gut daran tun, durch eine
Analyse dem Homosexuellen den Weg zum Weibe zu eröffnen. Das führt
uns zu der wichtigen Frage, ob es eine Therapie der Homosexualität
überhaupt gibt.
Wie meine Erfahrungen beweisen, kann die Analyse hier und da
zum Erfolg führen. Allerdings nur unter gewissen Bedingungen. Der
Homosexuelle muß den Willen zur Gesundheit haben. Er muß eine
Änderung seiner Einstellung wirklich anstreben.
Und da zeigt unsere Erfahrung, daß dieser Wille zur Gesundheit
nur bei den leichteren Formen der Homosexualität vorkommt, in denen
der latente Sadismus nicht das Krankheitsbild beherrscht.1) Daß eine
solche Heilung des Homosexuellen in gewissem Sinne möglich ist, möchte
ich nach meinen letzten Erfahrungen betonen. Die Heilung kann
*) Ich kann die Behauptung von Ferenczi („Zur Nosologie der männlichen
Homosexualität" (Homoerotik), Int. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, 2. Bd., 1914) nicht
bestätigen, der zwei Arten von Homosexualität annimmt: 1. den pas si ven „Subjekt-
Homocrotiker", der einen angeborenen Zustand repräsentiere, eine Zwischenstufe im
Sinne von Ilirschfeld darstelle und unheilbar sei, und 2. den aktiven „Objekt-Homo-
erotiker", den er als eine besondere Form der Zwangsneurose bezeichnet. Der passive
wende sich nie an den Arzt, er sei eben ein „echter" Homosexueller; der aktive eei
über seinen Zustand unglücklich, er zeige die typische Reihenbildung. Beiden sei es
eigen, daß ihnen das gleiche Genitale zeitlebens Liebesbedingung bleibe.
Ich habe viele Homosexuelle gesehen, die sich abwechselnd aktiv oder passiv
betätigen. Andrerseits sah ich „Aktiv-Homosexuelle", die über ihren Zustand sehr
unglücklich waren, und „Passiv-Homosexuelle", die geheilt werden wollten. Nur nebenbei
möchte ich erwähnen, daß Ferenczi Gedanken meines Aufsatzes „Masken der Homo-
sexualität" (Zentralbl. f. Psychoanalyse, 1912) benützt, ohne die Quelle zu nennen. Seit
mich Freud mit dem großen Banne belegt hat, betrachtet die engere Freud-Schule
meine Erkenntnisse als Strandgut, über daB man nach Belieben verfügen kann
Rückblick und Ausblick. 491
spontan erfolgen, sie kann aber durch eine psychotherapeutische Be-
handlung angebahnt und ausgebaut werden.
Gerade im letzten Jahre gelang es mir, einige schwere Fälle voll-
kommen zu heilen.
Diese psychotherapeutische Behandlung kann niemals die Hyp-
nose sein. Was soll auch die Hypnose nützen, wenn der Homosexuelle
nicht selbst klaren Geistes seine falschen Positionen erkennt, wenn er
nicht lernt, all das Verdrängte offen zu sehen, was er so lange nicht
sehen wollte? Im Gegensatz zu Krafft-Ebing, Schrenck-N otzing und
Alfred Fuchs habe ich von einer hypnotischen Behandlung der Homo-
sexualität nie einen dauernden Erfolg gesehen. Wir müssen auch jenen
Homosexuellen gegenüber vorsichtig sein, welche uns bestätigen, daß
sie durch uns geheilt worden sind. Der erste Fall im neunten Kapitel
zeigt uns ja, daß manche Homosexuelle, um dem Arzte einen Gefallen
zu erweisen und mit Ehren aus der Behandlung zu kommen, schließlich
behaupten, sie wären gesund, ohne dabei ihre eingewurzelten Ein-
stellungen im geringsten zu verändern. Auch der A s s o z i a t io n s-
t h e r a p i e von Moll kann ich nicht das Wort reden. Diese Be-
handlung besteht in einer methodischen Ausbildung der normalen und
in der methodischen Unterdrückung der perversen Assoziationen. Moll,
der diese Therapie vorgeschlagen und ihr den Namen gegeben hat,
läßt die Homosexuellen fleißig in weiblicher Gesellschaft verkehren,
damit der spezifische Reiz des Weibes ausgiebig wirken kann, er
regelt die Lektüre des Kranken, er bekämpft die homosexuellen
Fhantasien. Der Patient muß sich selbst vor dem Einschlafen „normale
Bilder" vorstellen, um auf diese Weise auch sein Traumleben zu beein-
flussen.1) Allerdings darf man sich nicht wie Moll vorstellen, daß die
heterosexuellen Traumbilder durch die Assoziationstherapie hervorge-
rufen werden. Sie werden nur bewußtseinsfähig gemacht. Sie waren
immer vorhanden. Dem Kranken fehlte vorher der Mut, sich dazu
zu bekennen.
Ich will den relativen Wert der Assoziationsmethode nicht be-
streiten. Sicher ist es für den Homosexuellen, der genesen will, nicht,
von Vorteil, wenn er sich in homosexuellen Zirkeln bewegt, dort immer
wieder hören muß, daß der Zustand angeboren und ein Fatum sei. Ich
habe ja auf Beispiele hingewiesen, die uns zeigen, wie die latente Homo-
sexualität durch das Beispiel und den Verkehr mit den Homosexuellen
manifest wurde und der heterosexuelle Stromanteil verödete. Damit
wollte ich nicht irgend welchen Zwangsmaßregeln das Wort reden und
den Homosexuellen ihre Bewegungs- und Versammlungsfreiheit rauben.
l) Handbuch der Sexualwissenschaften, S. 664.
492
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich habe mich schon einmal gegen alle Einschränkungen und Bestra-
fungen erklärt. Man tut aber gut. seinen Kranken, welche eine Änderung
ihres Zustandes anstreben, zuerst jeden Verkehr mit Homosexuellen zu
verbieten.
Ich möchte aber bezweifeln, ob die Assoziationstherapie allein
imstande ist, einen vollen Erfolg zu erzielen. Der Kranke muß sich
selbst erst erkennen und genau sehen, wo der Feind sitzt, den er zu be-
kämpfen hat. Denken wir an die vielen Kranken zurück, bei denen ein
verdrängter Sadismus die Ursache der Angst vor dem Weibe war. Diese
Menschen müssen doch erst diesen Sadismus bewußt überwinden, müssen
einsehen, daß die Angst eine überflüssige Sicherung gegen Triebe ist,
welche unter normalen Verhältnissen nie durchbrechen.
Zur Heilung einer Homosexualität gehört in
erster Linie volle Selbsterkenntnis. Diese kann aber
nur durch eine längere Analyse gewonnen werden. x) Der Arzt muß
sich einige Monate eingehend mit dem Patienten beschäftigen, bis alle
jene bei Seite geschobenen Einstellungen in das Blickfeld des Bewußt-
seins treten und scharf erkannt werden, welche der Kranke beharrlich
übersehen hat. Diese Erziehung zum Sehen von Tatsachen, die der
Kranke nicht sehen wollte, ist die heilpädagogische Aufgabe des Arztes.
Der Kranice gleicht einem Menschen mit Torticolliß, der konstant in
eine bestimmte Richtung sieht und den Blick in die andere Richtung
meidet, weil er sofort Unlustempfindungen erleidet. Dieser seelische
Torticollis muß überwunden werden. Der Homosexuelle muß — will
er genesen — seinen ganzen geistigen Horizont ungehindert über-
blicken können.
Diese Aufgabe ist keineswegs eine leichte. Sie fordert die ganze
ärztliche Kunst, Scharfsinn, Energie, Diplomatie, Zartgefühl, Freund-
schaft und Ausdauer. Zu dieser Aufgabe sind nur wenige Ärzte berufen.
Vielleicht wäre die Gegnerschaft gegen die Psychanalyse viel geringer
gewesen, wenn sie nur von sehr guten Psychotherapeuten und gewiegten
Menschenkennern mit künstlerischem Einschlag geübt worden wäre.
Denn wenn schon die Medizin eine Kunst und kein Handwerk ist, so ist
die Psychotherapie, welche mit der Analyse arbeitet, die schwerste aller
Künste. Der Arzt gleicht dann dem Bildhauer, der aus sprödem Material
eine bestimmte Form schaffen muß.
Leider muß ich es an dieser Stelle betonen, daß die von Freud
inaugurierte Psychanalyse in Gefahr ist, durch leichtsinnige Anwendung
in Mißkredit zu geraten. Einerseits haben die maßlosen Übertreibungen
des Meisters und seiner Anhänger viele Ärzte kopfscheu gemacht, andrer-
*) Der Fall Nr. 88 ist eine Ausnahme!
Rückblick und Ausblick. 493
1
seits sind viele geheilte Patienten selbst Analytiker geworden, ohne
tatsächlich vollkommen gesund zu sein. Was würde man von einem
Badearzte, der in seinem internen Fache sein* tüchtig ist, sagen, wenn er
sich plötzlich unterfängt, eine schwierige Laparotomie zu machen? Eine
Analyse ist einer komplizierten Operation zu vergleichen, in der das
Messer von sicheren, gewandten und künstlerischen Händen geführt
werden muß. In der Analyse kann man nicht wie in der Hypnose dilet-
tieren. Nur an der Hand eines erfahrenen Meisters kann man die
schwierige Kunst lernen und selbst zum Meister werden.
Wahrscheinlich wird die Analyse, die wir heute betreiben, in der
Zukunft als rohes Anfängertum bespöttelt werden. Die verschiedenen
Feinheiten und Abstufungen werden erst von einer künftigen Generation
festgestellt werden können.
Noch ist der analytische Besitzstand nicht gesichert.
Wie fest war ich von allen Freudschen Mechanismen überzeugt,
so lange die verführerische Nähe des großen Entdeckers meinen klaren
Blick verwirrte! Wie viel mußte ich umlernen, korrigieren, besänftigen,
unterstreichen, überwinden, vergessen, mit anderen Augen ansehen, um
zu erkennen, daß wir erst im Beginne der Erkenntnis sind und daß wir
unsere Wahrheiten nur als Sprungbretter benützen dürfen, um über sie
hinwegzukommen! Schließlich bildet sich jeder Psychotherapeut seine
Technik selbst. Die wichtigste aller Voraussetzungen
für die Analyse — und für jede Forschung — ist es,
keine Voraussetzungen zu haben, jeden Kranken
als ein Novum zu betrachten und sich darauf ge-
faßt zu machen, daß er in eines unserer fertigen
Schemen nicht hineinpaßt, irgend eines unserer
Ergebnisse über den Haufen wirft. Denn von der
Vielgestaltigkeit der Neurose wird selbst der
Arzt verblüfft, der sich Jahrzehnte mit ihrer Er-
forschung befaßt.
Aber trotz dieser Buntheit der Bilder, dieser verwirrenden Fülle
der Ursachen, die zu einer Krankheit führen, bleibt ein Sicheres und
Unerschütterliches : Das Nichtsehenwollen der Neurotiker, jene Er-
scheinung, die Freud die „Verdrängung" genannt hat - und der
„psychische Konflikt". Verstehen wir erst, daß der Kranke an der Un-
löslichkeit eines Konfliktes gescheitert ist und daß seine Neurose ein
Notverband ist, bestimmt, ihm schlecht und recht über die Schwierig-
keiten hinwegzuhelfen, wobei er einerseits die Wunde lindernd verbirgt,
andrerseits aller Welt die Krankheit verrät, so lernen wir schon lang-
sam die feine Fertigkeit, diesen Verband leise zu lösen und die Wunde
freizulegen. Dann kommt die viel schwierigere Aufgabe. Wir sehen
494
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
die Wunde, aber der Kranke will, er kann sie nicht sehen. Er kann so
weit gehen, daß er behauptet, er hätte keine Wunde und wäre gesund.
Er wäre schon mit dem Verband oder mit der Wunde auf die Welt
gekommen.
Diese Schwierigkeiten sind bei keiner Neurose so große wie bei der
Homosexualität. Wir haben ja ausgesprochen: Die homosexuelle Neu-
rose ist die Flucht in das gleiche Geschlecht, hervorgerufen durch die
sadistische Einstellung zum entgegengesetzten. Die Aufgabe der
Analyse ist es, erst den Seelenkonflikt herauszufinden, der in dieser Ein-
seitigkeit seinen Ausdruck gefunden hat ... und den Kranken zur Er-
kenntnis dieser Grausamkeit zu bringen, die er aus der Kinderzeit der
Menschheit über die eigene Kindheit in sein Leben übernommen hat.
Sieht der Homosexuelle seine Bisexualität und
die Ursachen seiner Monosexualität ein, so haben
wir die notwendige Erziehungsarbeit geleistet.
Den letzten Rest der Arbeit muß der Kranke
selbst leisten. Hat er den Willen zur Genesung,
so wird er diese Aufgabe vollbringen, ohne daß
wir ihn dazu drängen. Fehlt dieser innere An-
trieb, so bleiben wir trotz der Analyse machtlos.
Ich bin aus diesem Grunde gegen die praktische Therapie der
Homosexualität, wie sie viele Ärzte und besonders manche Psych-
analytiker betreiben. Sie treiben den Homosexuellen an, sich hetero-
sexuell zu betätigen, und betrachten ihn als geheilt, weil ihm einmal
oder mehrere Male ein Koitus gelungen ist. Leider sieht man oft nach
solchen Augenbückserfolgen, wie sie auch die Überredung und die
Hypnose zustandebringen, eine schlimme Reaktion eintreten. Der
Homosexuelle gibt alle weiteren Versuche auf und zieht seine ur-
sprüngliche monosexuelle Einstellung vor.
Wir dürfen erst von einer Heilung sprechen, wenn der Behandelte
sich in eine Person des anderen Geschlechtes verliebt. Mit der Potentia
coeundi ist nur ein kleiner Erfolg erzielt worden. Er muß die Teilung
des Gefühlskomplexes Haß-Liebe auf beide Geschlechter aufgeben
können und die bipolare Einstellung „Haß und Liebe" zum entgegen-
gesetzten Geschlechte erlangen. Dieses Wunder kann nur die Liebe voll-
bringen Die Erfahrung zeigt, daß der Homosexuelle vor der hetero-
sexuellen Liebe geflohen ist. Sie ist ihm zum Machtproblem geworden,
in dem er den Sieger darstellen will, selbst um den Preis der Vernichtung
seines heterosexuellen Partners. Er muß die Unterwerfung unter das
WTeib lernen und einsehen, daß in der wahren Liebe beide Teile
herrschen und beide sich unterwerfen. Er muß auch Erotik und
Sexualität zu einem Ganzen zusammenfügen. Erst wenn der Homo-
Rückblick und Ausblick. 495
sexuelle die Möglichkeit hat, Erotik und Sexualität auf ein Individuum
des entgegengesetzten Geschlechtes zu fixieren, mit einem Worte, im
Sinne des Kulturmenschen zu lieben, haben wir das Recht, von Heilung
zu sprechen. Dann allerdings trägt der größte Heilkünstler aller Zeiten,
„die Liebe", einen leichten Sieg davon und der Geheilte wird wie alle
Neurotiker seine Heilung dem Umstände zuschreiben, daß ihm der Zu-
fall ein Ideal zugeführt hat. Zu diesem Behufe müssen die Fixierungen
an die Familie, durch die der Homosexuelle seine erotische Bewegungs-
freiheit verloren hat — mitunter auch die sexuelle — getrennt werden.
Ich habe eingehend begründet, daß wir den Homosexuellen eigentlich
bisexuell machen müßten, um ihn zu heilen. Die praktische Erfahrung
spricht nicht zugunsten der Bisexualität. Wir müssen uns damit ab-
finden, daß wir in einer monosexuellen Zeit leben. Der Homosexuelle
muß seine gesamte Sexualität transponieren und. sich bemühen, seine
gleichgeschlechtlichen Kräfte zu sublimieren oder offen zu überwinden.
Diese Erziehungsarbeit erfordert eine lange Spanne Zeit. Die Be-
handung der Homosexualität stellt daher an Arzt und Patienten große
Ansprüche. Das endgültige Urteil über die Dauer dieser Erfolge kann
erst nach vielen Jahren gefällt werden.
Ich habe mich bemüht, in den einzelnen Krankengeschichten die
Technik der Analyse wiederzugeben. Aus den einzelnen Angaben kann
sich der Leser ungefähr ein Bild von den Schwierigkeiten machen. Eine
zusammenhängende Darstellung der Technik würde ein Buch für sich
erfordern. Vielleicht werde ich nach Vollendung der „Störungen des
Trieb- und Affektlebens" dieses Buch schreiben, um meine Erfahrungen
allen jenen Ärzten zu übergeben, welche den gleichen schwierigen Weg
beschreiten wollen.
Eine neue Generation von Ärzten, die nicht in den Vorurteilen
aufgewachsen ist wie die alte, dürfte die psychologische Erforschung
der Neurosen' fortsetzen.
Freilich wird die Hochschule ihre Stellung zur Sexualforschung
ändern müssen. Lehrkanzeln für Sexualogie und Psychotherapie sind
notwendig, um dem jungen Mediziner die notwendigsten Kenntnisse
über das Geschlechtsleben und seine krankhaften Verirrungen beizu-
bringen und um ihn in der Kunst zu unterweisen, diese Leiden, denen
man bisher wie einem Fatum gegenüber machtlos dagestanden ist, zu
heilen. Die nächsten Bände dieses Werkes werden den Beweis er-
bringen, wie wenig von den Paraphilien angeboren und wieviel davon
anerzogen und konstruiert ist. Was aber anerzogen ist, kann trotzdem
durch Erziehung überwunden werden, auch wenn die Macht des In-
fantilen schier unüberwindlich scheint.
496 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich habe die Paraphilien den „Kampf des Rückenmarkes
mit dem Gehirn" genannt. Sie sind noch mehr: „Der Kampf
des Kindes mit dem Erwachsene n"1) Denn im Grunde
genommen handelt es sich in diesen Neurosen um Infantilismen, die ihre
Existenz verteidigen. Der Erwachsene kämpft gegen das Kind, die
erwachsene, zur Monosexualität reife Menschheit gegen ihre Kindheit,
die sich in der Bisexualität und im Sadismus äußert. Der Arzt kann
dazu beitragen, daß dieser Kampf in humaner Weise vor sich geht und
mit Mitteln, die der Zivilisation würdig sind. Er kann den versteckten
Kampf in einen offenen verwandeln. Verdrängungen frei machen, heißt
nicht dem Laster die Wege ebnen. Es heißt, das Laster — oder die
Erscheinung, welche die Moralisten Laster nennen — durch die volle
Erkenntnis überwinden.
Wer noch mehr als einige Worte über die Prophylaxe der Homo-
sexualität und Onanie erwartet, der wird kaum auf seine Rechnung
kommen. Ich glaube, wir tun am besten, wenn wir uns um beide Aus-
drucksformen des Geschlechtslebens nur kümmern, wenn wir als Ärzte
in Frage kommen. Ich rate allen Eltern und Erziehern, nicht darauf zu
achten, ob ein Kind onaniert oder nicht. Es hört selbst auf, wenn der
Drang andere Wege gefunden hat. Und daß die Verhütung einer Homo-
sexualität schier unmöglich ist, haben uns unsere Analysen zur Genüge
gezeigt. Welches Unheil in der Seele des Kindes die Teilnahme an
ehelichen Zwistigkeiten, das Auffangen von affektativen Werturteilen
über Frauen und Männer, die Art, wie Eltern ihre Konflikte auf das
Kind abreagieren, die verderbliche Unsitte, Kinder zu schlagen, sie
zu demütigen, anrichten können, das erzählen die mitgeteilten Lebens-
geschichten der Homosexuellen jedem, der. es sehen will, mit aller
Deutlichkeit. Noch immer ist es uns nicht ganz klar, wie vorsichtig
wir im Umgange mit Kindern sein müssen. Noch immer geschehen die
größten Fehler von Seiten der Erzieher, welche ihre Aufgabe darin
erblicken, durch Angst die kindliche Seele zum Guten zu lenken. Es
gibt aber nur zwei Erziehungsprinzipien: das eigene Beispiel und die
Liebe. Aus glücklichen Ehen kommen die gesündesten Kinder. Die
Liebe ist es, die darüber entscheidet, ob eine Ehe glücklich wird und
ob die Nachkommenschaft gesund oder krank ist. Der unbewußte Ge-
schlechtsinstinkt, der sich in der Liebe äußert, ist der Wegweiser zur
Regeneration der Menschheit. 2) Soziale Verhältnisse, die Ehe-
l) Otto Groß nennt sie den Kampf des Eigenen gegen das Fremde. (Drei
Aufsätze zum inneren Konflikt, 1919.)
s) Eine Neuorientierung der sexuellen Moral scheint sich trotz aller Gegen-
strömungen anzubahnen. Ich verweise auf die treffliche Schrift von Eulenburg „Moral
und Sexualität" (Verlag von Marcus & Webster, Bonn 1916).
Rückblick uiid Ausblick.' 497
Schließungen aus Liebe in jungen Jahren begünstigen und „Eltern-
schulen" wären meiner Ansicht nach die beiden wirksamen prophylak-
tischen Maßnahmen, von denen ich mir Erfolg verspreche.
In den Elternschulen müßten die Eltern die notwendige Er-
ziehung für ihren Beruf erhalten. Wie schwer wird in der Kinderstube
gesündigt! Knaben werden lange Jahre in Mädchenkleidern gehalten,
tragen schöne Locken, so daß alle Welt ausruft: Ist das ein schönes
Mädel! — nur um der Eitelkeit der Mutter Genüge zu leisten. Solche
Knaben neigen leicht zur Homosexualität. Auch das überflüssige
Klistieren der kleinen Kinder, die von überängstlichen Müttern täglich
immer wieder vorgenommene Aftermessung der Temperatur, Maß-
nahmen, die einen Reizzustand der analen Zonen veranlassen — wie
er auch durch Oxyuren zustande kommt — , wären zu vermeiden. In
der Elternschule müßte der Unterricht von einem erfalirenen Sexuo-
logen und Kinderarzt erteilt werden.
Den Eltern muß es einmal klar werden, daß sie mit der Zeugung
eines Kindes eine wichtige Verantwortung übernommen haben. Leider
sind die Kinder in den meisten Fällen nur das schuldlose Objekt,
an dem die Erzieher aus rationalistischen Motiven ihren „Willen zur
Macht" üben, wobei der Vorwand der Erziehung die brutalen Instinkte
verbergen muß. Wie viel üble Laune und eigenes Unglück wird bei
den Kindern abreagiert! Die Erziehung der Menschheit zu Glück und
Seelenfrieden muß in der Schule beginnen, die eigentlich die Aufgabe
hat, Eltern und Kinder heranzubilden. In dieser Hinsicht muß sich
der' Arzt als Erzieher bewähren. Er hat die Möglichkeit, die Eltern
auf Fehler aufmerksam zu machen und aus den -ersten par apathischen
Erscheinungen der Kinder den Keim des kommenden Leidens zu er-
kennen. Zu diesem Behufe ist es notwendig, die Ärzte heranzubilden.
Die wichtigste Aufgabe der ärztlichen Schule ist der Unterricht in
der menschlichen Psychologie. Nur ein guter Menschenkenner kann
ein guter Arzt sein.
Stekel, Störungen des Trieb- und Affoktlebens. II. 2. Aufl.
32
XVI.
Depression und Homosexualität.
(Depressionen, ihr Wesen und ihre Behandlung. *)
Was ist Tugend? Ein schöner Name
für das einfachste Ding: Gesundheit.
Hebbel.
Die Depression ist eine der häufigsten Parapathien, die der
praktische Arzt zu Gesicht bekommt. Er sieht sie in den ersten Stadien,
in denen eine rationelle Therapie noch viel leisten kann. Je länger
die Depression besteht, desto schwieriger wird ihre Behandlung. Die
physikalischen und medikamentösen Mittel versagen vollkommen. Es
gibt nur eine Methode der Wahl: die Psychotherapie. Eine Seelen-
krankheit — und das ist eine jede Depression — kann nur seelisch
behandelt werden.
Um aber ein solches Leiden behandeln zu können, muß man es
verstehen. Gerade die Depression fordert den ganzen Scharfsinn und
die überlegene Kunst des Seelenarztes heraus. Denn die Kranken ge-
hören zu jener Art von Menschen, die nicht wissen, warum sie traurig
sind. Sie erzählen meist in den ersten Stunden, daß sie keinen Grund
für ihre Trauer wüßten.
Es gibt jedoch keine grundlose Depression! Die Aufgabe des
Psychotherapeuten ist es, den versteckten Grund der Trauer ausfindig
zu machen.
Den Übergang zu den schweren Fällen von Depressionen, als
deren Endglied schon eine Psychose, die Melancholie, gelten kann, bilden
die leichten Formen von vorübergehender Depression, die flüchtigen
Verstimmungen, welche manchen Menschen scheinbar grundlos beim
besten Wohlbefinden überfallen. Die Diagnose der Depression ist
leicht zu stellen: Der Kranke ist verstimmt und kann keinen Grund
dafür angeben. Eine motivierte Trauer ist keine Depression im neu-
rotischen Sinne. Allerdings werden oft Motive vorgeschoben, deren
Zweck als „Ersatzvorstellung" leicht erkannt werden kann. Wenn im
*) Erschienen in der „Therapie der Gegenwart", 1920.
Depression uud Homosexualität. 499
Krieg ein mehrfacher Millionär an der Angst vor Verarmung erkrankte
und seine Depressionen auf diese Angst zurückführte, konnte auch der
Anfänger in der Seelenheilkunde feststellen, daß diese Angst und Ver-
stimmung unberechtigt waren.
Das Charakteristische einer jeden Depression ißt der Umstand,
daß der wahre Grund der Trauer dem Kranken nicht bemißt ist. Er
drückt sich um eine Wahrheit herum. Er will etwas nicht sehen und
nationalisiert" seine Trauer, oder er will nicht wissen, warum er
traurig ist. Das gilt auch für die schwersten Fälle von Melancholie.
Den Übergang zu diesen schweren Zuständen liefern uns die grund-
losen Verstimmungen des Normalmenschen und der Neuro tiker. In
solchen Fällen gelingt es der Analyse leicht, eine Assoziation nach-
zuweisen, durch die sich die Verstimmung motivieren läßt.
Fall Nr. 89. Ein Beamter klagt darüber, daß er an bestimmten Tagen
an einer schweren Depression erkrankt, für die er keine Motivierung finden
könne Ich ersuche ihn an einem solchen Tage zu mir zu kommen. Der sonst
lebensfrohe Mensch bietet ein jammervolles Bild, als er sich an einem solchen
kritischen Tage bei mir meldet. Sein Gesicht, sonst glatt und strahlend, hat
einen tiefernsten Ausdruck und zeigt viele Falten. Wie lange die Depression
schon andauert? Seit dem Erwachen. Ob er gestern noch guter Laune war.-'
Ja' Bei bester Laune. Nun beginne ich nachzuforschen. Es ergibt sich kein
aktueller Anlaß. In solchen Fällen tut man gut, sich der Tatsache zu erinnern,
daß Neurotiker einen „geheimen Kalender" haben und ihre Trauer und Buß-
tage durch Depressionen feiern, ohne sich über die Motive Rechenschaft zu
geben Ich bücke auf den Kalender. Wir zählten den 17. Mai. Ich erkundige
mich ob der Tag für ihn eine besondere Beziehung habe. Erst verneint er, dann
schlägt er sich auf die Stirne. Natürlich! Es ist der Todestag seines Vaters,
der ihm angeblich ganz entschwunden war. Dieser Tag bedeutet für ihn eine
peinliche Erinnerung. Er war elf Jahre alt, als der Vater starb. Er erinnert
eich, daß er nicht geweint hat und laut lärmte und sogar auf dem Klavier
klimperte, so daß ihm das Fräulein bemerkte, sie habe einen so herzlosen
Knaben noch nicht gesehen.
Seine Depressiori erklärt sich als das oft vorkommende Phänomen der
„nachträglichen Trauer".
Es zeigte 6ich, daß die anderen Tage seiner „unmotivierten" Depres-
sionen sich gleichfalls auf einen geheimen Kalender zurückführen ließen.
Er trauerte am Todestage seiner Mutter und seiner Geschwister, von denen
er sieben verloren hatte. Diese Todesfälle hatten ihn zum Erben eines großen
Vermögens gemacht. Er hatte allen Grund, seine geheime Schadenfreude und
Genugtuung über den Tod der Brüder durch Bußtage zu kompensieren, in
denen die Kraft seines bösen Gewissens zutage trat.
Ähnlich lassen sich andere temporäre Tagesdepressionen moti-
vieren Dr. Ferenczi hat in einem Artikel „Sonntagsneurosen" (Intern.
Zschr. f. Psychoanal, 1919, Nr. 1) diese Neurosen auf sexuelle Er-
• innerungsbilder zurückgeführt. Ein jüdischer Patient habe jeden Sonn-
32*
9
H
500
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
abend den Koitus seiner Eltern belauscht. Die Erinnerung daran
hätten den Sonntag zu einem unangenehmen Tag gemacht. Ein anderer
wäre am Sonntag von seiner Mutter verzärtelt worden. Ich habe in
der Zschr. f. Sexualwissenschaft, 1919, Nr. 5, bei Besprechung der Aus-
führungen von Ferenczi die Sonntagsneurosen auf mangelnde Be-
schäftigung zurückgeführt.
„Nervös sein, heißt: etwas nicht sehen wollen. Nervosität ist Ein-
schränkung des geistigen Blickfeldes! Alle Neurotiker benutzen die Arbeit
als Ablenkung. Wo die Arbeit fehlt, werden neurotische Symptome zur Ab-
lenkung benutzt, werden Aufregungen geschaffen, Konflikte herbeigeführt.
(So benützten unzählige Neurotiker den Krieg als Mittel zur Ablenkung und
stürzten sich auf die Kriegsberichte in fieberhafter Spannung; anderen dienen
die Politik, die Kunst oder die Liebe diesem Zwecke.) Selbst Zwangsvorstel-
lungen, Zweifel, Angstzustände verdecken das „Nichtsehenwollen", schaffen
aktuelle Schwierigkeiten, heben über die leeren Stunden hinweg. Der größte
Segen aber ist die Arbeit. Arbeitsfanatiker sind häufig Neurotiker, die sich
fortwährend mit Aufgaben belasten, um keine freie Minute zum Nachdenken zu
haben. Sie arbeiten auf der Elektrischen, sie arbeiten bis in die späte Nacht
hinein, sie werden nie fertig, sie bürden sich trotzdem stets neue Lasten auf.
Vom normalen Menschen unterscheidet diese Arbeitsfanatiker der Sonntag und
der Urlaub. Der Gesunde wird Sonntag ausspannen, wird allein sein können,
wird sich Rechenschaft geben über die Fragen der "Woche, er wird auch nichts
tun können, sich seiner Faulheit freuen, die er sich so schwer errungen hat. Der
neurotische Arbeitsfanatiker wird die Sonntagsruhe als eine neue Form der
Arbeit betreiben. Er wird Riesentouren machen, wobei er fortwährend mit dem
Fahrplan oder der Karte beschäftigt ist. Er braucht immer Gesellschaft,
immer Ablenkung vom Ich, wird sich immer eine solche Leistung aufbiirden,
daß es am Schlüsse zu einer Hetzjagd kommt. Die vielen Unbefriedigten, Un-
glücklichen, Enttäuschten, Erbitterten, Empörten, die im Innern noch nicht
auf ihre weiten Ziele und großen Pläne verzichtet haben, die Liebessucher, die
noch immer nicht ihre Ergänzung gefunden oder sieh falsch gebunden haben
— wohlgemerkt alle ohne es sich eingestehen zu wollen! — sie alle werden
an ihren Sonn- und Festtagen, an ihren Urlauben, bei jeder Pause ihrer Arbeit
und des Lebens sich unglücklich, müde, abgespannt fühlen und einen heftigen
Kampf gegen die „begrabenen Wünsche" führen, die sich ins Bewußtsein
drängen wollen. Der Kopfschmerz ist immer eine Folge solcher Vergewalti-
gung des eigenen Denkens. Dazu kommt der lange Schlaf am Sonntag, der
unsere Traumgedanken übermäßig lang ausspinnt, ihnen zu viel Raum zur
Entfaltung bietet, so daß sie in die Wachgedanken eindringen und die Stim-
mung des Tages beeinflussen."
Am Sonntag quälen den Neurotiker viele Schuldgefühle, er er-
innert sich an seine geheimen Sünden.
In allen Fällen von temporären Depressionen ist nach dem „ge-
heimen Kalender" zu fahnden.
*) Vgl. meine Ausführungen über Melancholie in „Nervöse Angstzustände und
ihre Behandlung". III. Auflage.
Depression und Homosexualität. 501
Oft sind es andere Assoziationen. Der angeblich grundlos Ver-
stimmte hat die erste Frau gesehen, von der er sich hat scheiden lassen.
Ein Büchertitel („Briefe, die ihn nicht erreichten") erinnerte sein Un-
bewußtes, daß ihm vor einigen Wochen eine angebetete Frau die letzten
Briefe uneröffnet zurückgeschickt hat. Oder: Eine sehr elegante Dame
hatte durch eine gewisse Ähnlichkeit die Assoziation zu seinem
traurigen Roman, den er vor vielen Jahren erlebt hatte, geweckt. Em
eigentümliches Parfüm kann gewisse verdrängte Bilder ms Vorbewußte
heben, Gerüche wecken leicht Assoziationen1) (ein Student wurde m
der heitersten Stimmung deprimiert, wenn Geruch von Kiefernadelol
die Erinnerung an Föhrenwälder brachte, nach denen er sich aus dem
Lärm der Stadt sehnte) . <■ .
Musik ist die wichtigste Quelle der Depressionen. Das ist ja
vielen Menschen bewußt. Ein Lied weckt Erinnerungen und Seimsucht
nach Unerfülltem. Oft werden Melodien gehört, die Menschen geben
sich keine Rechenschaft über den Text, der zur Melodie gehört, ja sie
kennen diesen Text gar nicht, sie kennen nur die Melodie und werden
tief verstimmt. Eine sich nach Liebe seimende Dame hörte die Melodie
des Liedes „War es auch nur ein Traum von Glück" und wurde ver-
stimmt. Den Text wußte sie angeblich nicht. Sie konnte nur die
Melodie vor sich hinsummen. Sie mußte mir aber dann gestehen, daß
sie das Lied oft gehört und den Text auch mitgesungen hatte.
Immer wieder bestätigt die Analyse den Grundsatz: Es gibt
keine unmotivierten Verstimmungen. Das gilt für die kleinen De-
pressionen des Normalmenschen bis zu der selbstmörderischen \er-
zweiflung des Melancholikers.
Der Wechsel von Melancholie und Manie, von Trauer und Fröh-
lichkeit, von Verzweiflung und Übermut, von Verstimmung und Froh-
sinn mußte viele Ärzte auf den Gedanken bringen, beide Bilder zu
einer Einheit zu vereinen. So entstanden die Krankheitsbilder des
„manisch-depressiven Irreseins" und der „Cyclothymie" als ihrer
milderen Ausdrucksform. In der Praxis kann man den Satz nicht be-
stätigen, daß jede Melancholie das depressive Stadium eines manisch-
depressiven Irreseins wäre. Der Praktiker sieht oft genug reine Me-
lancholien ohne die manische Reaktion und manische Bilder ohne das
depressive Stadium.
Trotzdem läßt es sich nicht bestreiten, daß die depressiven
Krankheitsbilder einen, gewissen periodischen Verlauf zeigen. Es gibt
Verstimmungen, die in regelmäßigen Intervallen wiederkehren. Frauen
J) Eine solche Pßychogenese der Depression beschreibt Grillparzer in seinen
Tagebüchern.
i
502
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
erkranken oft vor und nach der Menstruation an Depressionen. Schon
die sogenannte Tagesdepression zeigt deutlich den periodischen
Charakter. So gibt es Menschen, die nach dem Erwachen einige Stunden
deprimiert sind. Ein Kranker schildert den Zustand: „Am Morgen
ist es mir, als wenn man einen Sack über meinen Kopf geworfen hätte.
Das dauert bis zehn Uhr, dann wird es besser, der Sack wird langsam
zurückgezogen. Abends bin ich dann ganz gesund und kein Mensch
würde in mir einen Depressionisten erkennen."
Diese Morgendepression erklärt sich als Nachwirkung des Traumes.
Forscht man nach den Träumen, so erkennt man bald, daß sich der
Kranke in seinen Traumbildern in eine Welt der Illusionen und Er-
füllungen flüchtet, aus der ihn das Erwachen grausam reißt, so daß
ihm das Differenzgefühl zwischen Phantasie (Traum) und Realität die
Unertraghehkeit der Realität vor Augen führt. Diese Traum-
menschen, welche auch am Tage gern ihren Wachträumen erliegen und
gern am Morgen im Bett im Halbschlaf duseln (das heißt immer:
Phantasieren) , zeichnen sich alle durch die Morgendepression aus. Es
gibt aber Menschen, die um zehn Uhr vormittags, am Nachmittag,
gegen Abend ihre tägliche Depression durchmachen. Reiche Frauen
pflegen sich um diese bestimmte Stunde in ihr Zimmer einzusperren
und sind nicht zu sprechen, bis die böse Zeit vorüber ist. Die Mehr-
zahl der Fälle zeigt folgendes Verhalten: Am Morgen ist die Ver-
stimmung am schlimmsten. Die Stimmung bessert sich während des
Tages und erst des Abends und des Nachts fühlen sich die Kranken
wohler. Diese Menschen neigen dazu, bis spät in die Nacht aufzu-
bleiben, um den bösen Vormittag zu verschlafen. Sie gehen lange nicht
zu Bett, lesen und plaudern bis zwei oder drei Uhr, schlafen dann spät
in den Vormittag hinein, um über die böse Zeit zu schlafen. Das ist
eine Selbsttäuschung, denn die Depression bleibt gewöhnlich nicht
aus, auch wenn sie um zwölf Uhr vormittags erwachen. Sie haben nur
den Rhythmus der Depression verändert.
Sehr häufig hört man, daß die Depression jeden zweiten Tag
einsetzt. Einem guten Tag folgt ein schlechter, wie das Amen dem
Gebete. Die Kranken lassen sich diese Einstellung nicht ausreden.
Haben sie heute einen guten Tag, so wissen sie bestimmt, daß morgen
ein schlechter Tag folgen wird. Bei dieser Neurose spielt das Schuld-
gefühl eine große Rolle. Die Autosuggestion erzeugt scrion den
schlechten Tag dadurch, daß man ihn erwartet. Hinter dieser Erwar-
tung verbirgt sich ein böses Gewissen. Man verdient es nicht, daß es
einem gut geht. Man steht unter der Herrschaft von „Versündigungs-
ideen", die meistens unbewußt sind, nur in seltenen Fällen offen zu-
tage liegen.
Depression und Homosexualität. 503
Fall Nr. 90. Ein 31jähriger Mann konsultierte mich wegen einer De-
pression, die jeden zweiten Tag mit mathematischer Präzision auftrat. An
dem freien Tage war er sehr erotisch und konnte seiner Paraphilie nicht wider-
stehen Diese Paraphilie bestand in einer Neigung zu Mädchen zwischen zehn
und dreizehn Jahren, die gut entwickelt waren und schöne Waden sehen ließen
Er suchte an solchen Tagen im Sommer einen Kinderpark auf und ließ sich
mit den Kindern und ihren Bonnen in ein Gespräch ein und verteilte Naschereien
(alle Kinderfreunde, die immer Zuckerln bei sich tragen und an Kinder ver-
teilen sind auf Pädophilie verdächtig. Man hüte die Kinder vor auffälligen
Kinderfreunden, auch wenn sie alte Herren sind. Gerade im Alter meldet sich
als eine Regression auf das Infantile bei vielen Menschen eine pathologische
Pädophilie). An gesunden Tagen pflegte er auch mit Mädchen ein Hotel auf-
zusuchen. Er weidete sich an der Entkleidung, die ihm einen großen Reiz er-
regte ließ es aber nie zu einem Koitus kommen. Es handelte sich immer um
sogenannte „anständige Mädchen", denen er versprochen hatte, sie nicht der
Virginität zu berauben. Diese moralische Zurückhaltung war nur die Ratio-
nalisierung seiner Paraphilie.
Wie er mir gestand, konnte er auch bei Dirnen trotz heftiger Erektion
we°-en eines inneren Widerstandes niemals einen Kongressus ausführen. Er
begnügte sich mit der Entkleidung und der Reizung des äußeren Genitales.
Run schwebte immer ein Kind vor und er benahm sich mit den Erwachsenen,
die er mit infantilem Typus wählte, immer so, als ob er ein Kind vor sich
haben würde. Die Depression am zweiten Tage war die Strafe für die Liber-
tinage am vorhergehenden. Zugleich aber die Verzweiflung darüber, daß er
seine krankhaften Triebe nie werde ausleben können.
Jede Depression ist die moralische Reaktion
auf unmoralische Regungen und dokumentiert
die Aussichtslosigkeit der geheimen sexuellen
Zielbestrebungen.
Diesen Wechsel zwischen erotischer Erregung und sexueller
Apathie können wir in allen Fällen von periodischer Depression, bei
allen Cyclothymien nachweisen. Er spielt wahrscheinlich in der Psycho-
genese neben einem zweiten Faktor, den ich später erwähnen werde,
eine große Rolle.
Fall Nr. 91. Ein Mädchen erkrankt alle paar Monate an einer schweren
Depression. Während ihrer glücklichen Zeit ist sie erotomanisch. Sie spricht
nur von Liebe, onaniert mehrere Male täglich, kokettiert mit allen Männern.
In den Zeiten der Depression ist sie vollkommen anerotisch. Sie zeigt Ekel
vor allen sexuellen Dingen, wird fromm und heilig, geht in die Kirche, kasteit
sich, bemüht 6ich geduldig zu sein, was ihr nicht immer gelingt. Zeitweise
kommt es zu bösen Wutanfällen, in denen sie die Umgebung, besonders die
Mutter bedroht. Die Mutter ist angeblich schuldig an ihrem Unglück. Diese
periodischen Depressionen schlössen sich an eine Liebesenttäuschung an, die
sie angeblich sehr gut vertragen hatte. Sie war verlobt und liebte ihren Bräu-
tigam über alles. Es kam auch zu allerlei Intimitäten. Sie ließ es zwar nicht
zum Koitus kommen. Aber sie wurde in der Verlobung eine ausgebildete
,Halbjungfrau". Plötzlich verlangte der Bräutigam die Verdoppelung der Mit-
504
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
AT * Verlobung als die Eltern empört diese Zumutung zurück-
; i;euWa' alS/nlZlgeS Xmd Erbin eines g»'oßen Vermögens und sollte
SJ^SSJ^f1^ Dcr ?rautigam hatte aber eine noch reich
F fern Wt g ^^ ^ Z°f T dieSer Tatsache seine Konsequenzen. Die
?2ÄS ^ h* f ^^f' ? Sie die Verlobung aufiösten> ^ er sich
als em so nabgxeriger und egoistischer Mensch erwies, der ihr Kind nur des
Geldes wegen heimführen wollte. Sie aber grollte den Eltern. Ihre Sexualität
war furchtbar gereizt, sie war der Ansicht, daß sie keinem anderen Mann at-
gehoren konnte sie fühlte sich nicht mehr als reines, unberührtes Wesen wie
benahm sie sich nach der Auflösung? Sie war angeblich überglücldich lachte
#elfaZl«ag'ging- die f°lgenden W0C,ien in alle Geschäften, so daß aile
SstrSr 2? T eiQem ,A1P?UCk erlÖSt Ihre Fröhlichkeit hatte
halben Jahre n;ii1S1t * "?i Die DePression ^ erst nach einem
&tÄ„rh emer Inör Za- SiG War ZU ßtolz> um ihre gfoße
sShSSÄfeS!^ ZUt ZT^ Sie Vßrbarg Sie hinter einer gesteigerten
nrifedkriri iS r fetteiie;. In de' DePression rationalisierte sie ihre Trauer
2d häßl ch t * T M0tTn- .Si6 T* ZU dick g6Worden- Sie ^i plump
Nonne ! t 1? "? heirate^ 7Sie ™»e ins Kloster gehen und eine
Sl mittin? f^1'*! ^g^Wochen, dann trat wieder das manische
btadmm mit semer gesteigerten Erotik auf. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe
ÄSSr jhrRin t Derssion in 2*Ä
Am^hFvInn DepresS'on bieß: »Niemals, niemals werde ich ihn erreichen!"
atlten WeTT Z ^ 'T* eine Depression undWutenfälie
auslosen. Wenn sie in der Zeitung den Namen eines seiner Regiments-
kameraden las, kam sicher die Depression hervor. Auch die Heirat 2Ze-
treuen Mannes war - allerdings nach drei Monaten Schauspielerin - von einer
schweren Depression gefolgt, die viele Monate dauerte, nachdem eine Sana-
toriumbehandlung das Leiden bedeutend verschlimmert hatte. Es folgten zwei
belDstmordversuche, worauf sie in meine Behandlung kam. Die pädagogische
Psychanalyse hatte einen vollen Erfolg. Nach viermonatlieher Behandlung
kam sie genesen nach Hause, heiratete bald und ist jetzt glückliche und ge-
sunde Mutter von zwei Kindern. Das Puerperium wurde anstandslos ertragen
uie Heilung ist vollkommen, Sie hat einen sehr guten und sehr potenten Mann
gefunden, der sie vergöttert. Ihre Befürchtungen, sie werde keinem Manne
T ü, können, sie benötige ein halbes Dutzend Männer, haben eich
als grundlos erwiesen. Diese Zwangsbefürchtungen waren nur die Reaktion
auf die furchtbare Enttäuschung und eine Flucht vor der seelischen Liebe in
den körperlichen Rausch.
Doch kehren wir zum Thema der Periodizität der Depressionen
zurück. Es gibt Depressionen von monatlichem Typus, die sich auf
bestimmte Monate beziehen. Mancher wird im Frühjahr verstimmt,
andere im Herbst. Goethe litt bekanntlich am Ende des Herbstes und
im Beginne des Winters an ziemlich schweren Depressionen.
Möbius berichtet daß Goethe bis zum kürzesten Tage einige Wochen
hindurch sehr deprimiert war. Möbius konnte auch eine siebenjährige Periode
im Liebesleben Goethes nachweisen, in der Depressionen sich an eine neue
Liebe und an eine neue Schaffensperiode anschlössen. Es kam zuerst ein
Liebesrausch, währenddem die Schaffenskraft stieg, so daß alle großen Werke
Depression und Homosexualität. 505
in diesem manischen Stadium geschrieben wurden. Dieses Schaffen zahlte er
dann mit einer mehr oder minder schweren Depression. Sein Hausarzt Doktor
Vogel berichtet: „Kühmte Goethe seine Produktivität, so machte mich das
ßtets besorgt, weil die vermehrte Produktivität seines Geistes gewöhnlich mit
einer krankhaften Affektion seiner produktiven Organe endete. Das war ßo
sehr in der Ordnung, daß mich schon im Anfange meiner Bekanntschaft mit
Goethe dessen Sohn darauf aufmerksam machte, wie, soweit 6eine Erinnerung
reiche, sein Vater nach längerem geistigen Produzieren noch jedesmal eine
bedeutende Krankheit davongetragen habe." Goethe selbst nannte diesen Zu-
stand seine wiederholtePubertät und erkannte die sexuelle Grundlage
dieser Zeiten. Er äußerte sich zu Eckermann: „Solche Männer und ihres-
gleichen sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie
erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung
sind."
Einen sehr interessanten schweren Typus zeigt der folgende Fall
eigenen Beobachtens.
Fall Nr. 92. Ein Mädchen von 32 Jahren leidet seit drei Jahren an einer
im Frühjahr einsetzenden Depression, die mit Appetitverlust und starker Ab-
magerung vor sich geht. Während der ganzen Zeit der Trauer ist sie keines-
wegs schweigsam und negativistisch. Im Gegenteil! Es bemächtigt sich ihrer
eine leichte manische Unruhe. Ihr Schlaf wird gestört, sie muß viel herum-
laufen, kann nirgends lange bleiben, ist ruhelos, sucht bald die einen, bald die
anderen Verwandten auf, ißt den ganzen Tag fast gar nichts, hat vor Fleisch
einen Abscheu und nährt sich nur vegetarisch. Ein längerer Aufenthalt in
einem Sanatorium, Luftveränderung, Mastkur bringen keine Besserung.
Die psychologische Erforschung des Falles ergibt eine merkwürdige
Genese. Vor 3 Jahren hatte sie ihren Schwager auf dem Lande besucht und
war dort längere Zeit zu Gaste. Sie fuhren dann mit seinem achtjährigen
Kinde nach Wien. In Wien fanden sie nach langem Suchen in einem Hotel nur
ein Zimmer mit zwei nebeneianderstehenden Betten. Sie scherzte noch über
dies Ehebett und legte sich schlafen. Daß achtjährige Kind lag zwischen ihr
und dem Schwager. Sie war angeblich vollkommen unaufgeklärt und wußte
noch gar nicht, was sich zwischen Mann und Frau zutragen kann, glaubte, die
Kinder kämen durch eine äußere Berührung zustande. So ihre Aussage. Sie
war in jener kritischen Nacht schlaflos. Gegen Morgen fragte sie der Schwager
— es mochte gegen vier Uhr gewesen 6ein — , warum sie nicht schlafe. Er
kam zu ihr ins Bett und begann ein Gespräch über geschlechtliche Aufklärung,
dem sie anfangs gern und neugierig folgte. Er gab ihr auch den Phallus in
die Hand, was sie sehr erregte. Dann meinte er, er werde ihr den Verkehr
•zeigen, ohne ihr etwas zu machen. Es kam zu einem regelrechten Koitus, bei
dem sie defloriert wurde. Am nächsten Tage war sie verzweifelt. Es bedurfte
der ganzen Überredungskunst des Schwagers, um sie abzuhalten, die ganze
Geschichte ihren Eltern mitzuteilen. Er heuchelte ihr eine Liebe vor, die
gar nicht vorhanden war, wie es sich später herausstellte (das Mädchen war
weder liebreizend noch begehrenswert, eher häßlich, mager, unfreundlich). Sie
hatte sich nun in den Kopf gesetzt, daß der Schwager sich von der Schwester
scheiden und sie heiraten werde. Sie dachte es sich aus, was geschehen würde,
wenn die Schwester sterben würde.
Es bildeten sich in der Phantasie Todeswünsche gegen die Schwester.
506
Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Die Todeswünsche spielen in der Psychogenese der Depression
eine große Rolle und erklären das tiefe Schuldbewußtsein, an dem viele
Depressionisten leiden. Sie klagen sich leidenschaftlich verschiedener
Verbrechen an, die alle nur Gedankensünden sind.
Sie erlebte ihre erste Depression im Anschluß an das traumatische Er-
lebnis und die Depression kehrt mathematisch mit dem Tage wieder, an dem
sie defloriert wurde. Sie zählt die Tage bis zu dem Moment, da der Schwager
vor sie hintreten und sie rehabilitieren werde. Aber sie wird mit jedem Tage
älter. Diese Tatsache annulliert sie durch eine forcierte Jugend während der
Depression. Sie trägt kurze Kleider, einen Backfischzopf, spricht kindisch
und benimmt sich kindisch.
^Mirdfem Eintritfc des Winters überwindet sie ihre Depression und hofft
5 ... T? Lrfü.llung ihrer geheimen Wünsche im nächsten Frühling. Um diese
Zeit längt sie wieder zu onanieren an.
Wir können immer wieder sehen, wie das Aufhören der Onanie
eine Depression einleitet. Kranke, die onanieren, sind enorm selten.
Das Aufgeben der Onanie verstärkt die Depression. Abstinenz von
Onanie ist eine häufige Ursache der Depressionen. Dann wird die De-
pression als Folge der Onanie statt als Folge der Abstinenz aufgefaßt.
Bei unserer Kranken kommt noch die verlorene Virginität in Be-
tracht. „Du kannst keinen mehr heiraten außer deinen Schwager!" —
Dieser Imperativ läßt ihre Lage so hoffnungslos erscheinen, daß die
Depression eintreten. muß.
Eine Depression bedeutet Hoffnungslosigkeit und Verzicht auf
Erfüllung der geheimen sexuellen Ziele und Wünsche.
Diese sexuelle Hoffnungslosigkeit verbündet sich mit einem ge-
kränkten Ehrgeiz, mit einer empfindlichen Herabsetzung des Persön-
lichkeitsgefühles. Deshalb sieht man Depressionen sehr häufig bei
Beamten auftreten, die im Amt übergangen wurden, oder bei hohen
Beamten, die plötzlich pensioniert wurden. Ein Professor, der eine
Berufung erwartet, und übergangen wird, ein Offizier, der nach einem
mißlungenen Manöver mit dem blauen Bogen heimgeschickt wird, sie
alle können an Depressionen erkranken, wobei jedoch das Motiv der
Depression verschleiert wird, weil das Persönlichkeitsgefühl sich sträubt,
die Kränkung zuzugeben. Sie stellen es schließlich so dar, daß sie
mit dem Ausgange zufrieden seien. Jetzt hätten sie die erwünschte
Ruhe, es wäre schon längst ihr Wunsch gewesen.
Sie lassen sich eine Latenzperiode bis zum Ausbruche der mani-
festen Depression, die dann auf andere Ursachen geschoben wird oder
als grundlose Verstimmung aufgefaßt wird.
Selten wird aber ein Mensch an einer so schweren Depression
erkranken, wenn nicht zugleich die Aussichtslosigkeit seiner sexuellen
Wünsche die Umwertung von Ehrgeiz in Liebe verhindert.
Depression und Homosexualität, 507
Ein gutes Beispiel bietet der nächste Fall, der uns zugleich tiefer
in das Wesen der Depression einführt.
Fall Nr. 93. Ein 59jähriger Mann in hervorragender leitender Stellung
leidet schon seit zwei Jahren an Depressionen. Er nimmt täglich Schlafmittel
und Abführmittel, wagt es nicht auszugehen, da er ein „schwaches Herz" habe.
Er leidet an Arteriosklerose. Überdies ist er sicher, daß bei ihm bald die
Paralyse ausbrechen wird. Eigentlich ist er schon paralytisch. Er hat das
Gedächtnis verloren, kann nicht lesen, hat kein Interesse für alle Vorgänge
der Umwelt (Lues vor 15 Jahren, Wassermann stets negativ!).
Die Behandlung eines solchen Kranken ist außerordentlich schwer.
Die Kranken lassen sich nicht gern in die Karten blicken und sind
psychisch sehr schwer zugänglich. Sie jammern immer wieder, sprechen
von ihren namenlosen Qualen. Kein Mensch ist so schwer krank wie
sie. Es sei nicht möglich, das Leben zu ertragen. Wenn sie nicht so
feige wären, hätten sie sich längst das Leben genommen. Das beste
wäre es, wenn der Arzt ihnen eine tüchtige Dosis Gift geben möchte.
Viele ersuchen direkt um Gift, sind dem Arzte böse, daß er sie nicht
erlösen will.
Alle betonen das Hoffnungslose und Aussichtslose ihres Leidens.
Alle haben die Hoffnung verloren! Alle lächeln überlegen, wenn der
Arzt ihnen Heilung verspricht.
Sie haben den ausgesprochensten „Willen zur Krank-
heit". Das heißt: Sie wollen nicht gesund werden. Sie sind aus-
gesprochen Zerrissene, welche aus zwei oder drei Persönlichkeiten
bestehen. Der eine möchte gesund werden, hängt an dem Leben, lauert
auf jedes Wort des Arztes, beobachtet ängstlich seine Miene, ob er
ihm widerspricht und wie er ihm widerspricht, wenn er von der Hoff-
nungslosigkeit des Leidens spricht. Der andere aber will nicht gesund
werden. Er leidet an einem schweren Schuldgefühl.
Das Schuldgefühl steht im Mittelpunkte der ganzen Neurose und
der melancholischen Psychosen. Dieses Schuldgefühl stammt aus einem
geheimen Schuldbewußtsein. Daher machen sich alle Depressionisten
Vorwürfe. Diese Vorwürfe enthalten aber die Schuld nur in versteckter
Form. Erst die Analyse deckt die tieferen Motive deß Schuldbewußt-
seins auf und zeigt, an welchen Vorwürfen das Bewußtsein vorbeigeht,
um andere zu erblicken und aufzugreifen, die einen gewissen Ersatz
bieten können. Man kann daher in diesen Fällen von „Ersatzschuld'1
und „Ersatzvorwürfen" sprechen.
Kehren wir zu unserem Kranken zurück. Seine Vorwürfe gehen auf
wiederholte Untreue in der Ehe zurück, die ihm eine Lues einbrachte, als
deren Folge er eine Paralyse fürchtet. Seine Frau ist leidend, launisch — kurz
er hat mit ihr keine seelischen Beziehungen. Die körperlichen sind wegen
eines Frauenleidens längst aufgegeben. Er hat deutliche Beseitigungsideen
508 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
und Todeswünsche, welche allein die Ursache einer Depression und eines
Schuldbewußtseins werden können, überdies kam ihm seine Frau auf eine
J^iebesaffare mit einer Nichte, die bis knapp vor Ausbruch der Depression
spielte. Den Anlaß zum Ausbruche gab eine Zurücksetzung in der Stellung
und die Kränkung durch einen Vorgesetzten. Er hörte auf ins Amt zu gehen
das ihm soviel Ablenkung geboten hatte. Aber diese Ablenkung gestattete ihm
die Uberdeckung und Sublimierung seiner sexuellen Triebkräfte. Nun wurde
alles m ihm frei.
Was tat er aber? Er löste die Beziehungen zur Nichte und begann ab-
stinent zu leben, weil er einen Herzschlag während der Eohabitation fürchtete.
Er fürchtete die Strafe Gottes für die sündigen Beziehungen. Er wollte eich
bessern und sich seiner Familie widmen.
Unter seinen Kindern war es die älteste Tochter, die ihm ans Herz ge-
TO^sea war C die Nichte war die Tochter-Image !). Dieses Mädchen ver-
fXJ IT den Vater' der alle Körungen auf sie gesetzt hatte, auf-
fallend zu vernachlässigen. Sie hatte von dem Verhältnis zur Nichte erfahren,
war eifersuchtig und wendete sich nun vom Vater ab. Mit dieser Verlobung
SrLTon ein immimgen ^ kimPP V°P ihr6r Heirat Setzte die Schwe™
oii tjP1% Analyse brachte verhältnismäßig rasche Heilung. Zuerst wurden
ohne aSSSu r6686^' ?6r Jfnke hatte bald » StuH konnte
ÄS^^VT26^6* SCWafen' WUrde aUSgiebig beschäftigt, lernte
taglich mehrere Stunden Bewegung machen, faßte wieder Interesse für Lek-
fatt dnr tate" *" ™** BeSChäftigUng' die *" ***** Selbstendig-
Todeswünsche gegen teure Angehörige kommen in der Psycho-
genese der Depression häufig vor, weil sie die Folge einer unglücklichen
Liebe sind. Ich könnte einige Dutzend solcher Fälle aus meiner Er-
fahrung anführen. Ein älterer Herr verliebt sich in seinem Bureau in
eine Typmamsell. Diese Liebe gesteht er sich nicht. Es bleibt eine
unbewußte Liebe. Er erkrankt an Herzschmerzen.1) Zugleich treten
Befürchtungen auf, seine Frau könnte überfahren werden, sie sei so
leichtsinnig usw. Hinter dieser neurotischen Angst verbergen sich dio
verbrecherischen Wünsche. Er erkrankt an einer schweren Depression.
Die Analyse läßt die verdrängte Liebe zum Vorschein kommen.
Auch Inzestgedanken, die vom Bewußtsein abgedrängt werden,
lassen sich sehr häufig konstatieren. Oft übernimmt, wie in dem vor-
erwähnten Fall, ein anderes Objekt die Wertung des Inzestobjektes.
Oft flieht der Kranke vor dem Inzest in eine neue Liebe. Diese Inzest-
wünsche brechen in schweren Psychosen offen durch. Die Kranken be-
zichtigen sich dann des Verkehrs mit den Angehörigen und verlangen
strenge Bestrafung. Oder sie projizieren den eigenen Wunsch nach
außen und behaupten, man hätte sie zu einem Inzest verleiten wollen,
sie beginnen ein Familienmitglied heftig zu hassen, es dürfen bestimmte
l) Vgl. meine Broschüre „Das nervöse Herz" (Verlag Paul Kneplör, Wien).
Depression und Homosexualität. 509
Familienmitglieder nicht im ihre Nähe kommen. Mitunter wird die
ganze Familie in den Haß einbezogen.
Eine der Hauptlirsachen der Depression ist die Zerstörung einer
geheimen inzestuösen Hoffnung. Mütter erkranken, wenn ihre Töchter
oder Söhne heiraten, Vätern ergeht es ebenso. Aber auch die Töchter
können vor der Ehe mit dem geliebten Manne an Depressionen er-
kranken, wenn sie ihren Vater oder Bruder, ihre Mutter oder Schwester
verlassen sollen, an die sie fixiert sind.
Der Abbruch einer inzestuösen (unbewußten) Beiziehung findet
sich fast in jeder Depression. Meistens hat sich der Gegenstand der
Liebe anderweitig durch eine neue Liebe gebunden. Diese Liebe wird
dann als Treulosigkeit gewertet.
Oft kämpfen die Eltern gegen die Neigung ihrer Kinder und! finden
allerlei an den Haaren herbeigezogene Motive für die Ablehnung. Meist
klagen sie dann über Vernachlässigung und finden, das Kind habe sie
nicht mehr lieb. Oft sieht man nach Hochzeiten bei den Nahverwandten
leichte manische Zustände auftreten, welche eine Flucht in eine gewollte
Fröhlichkeit und übertriebene Tätigkeit darstellen und denen dann ge-
wöhnlich eine Depression folgt, was fälschlich zur Diagnose einer
Cyclo thymie führen könnte.
In dem letzten Falle klagte der Patient, daß die Tochter für die
Schwere seines Leidens kein Verständnis habe. Sie lache ihn aus und
berufe sich auf die Ärzte, die gesagt hätten, an einer Depression sterbe
man nicht. Er will wie alle diese Kranken ihre Liebe in Form von Mit-
leid erpressen! Er wird Egoist und liebt nicht mehr, er kann nicht
mehr lieben.
Er liebt nicht . sich selbst, wie es Freud behauptet, der in der
Melancholie eine „narzißtische Psychose" erblickt, ein Rückströmen der
Libido auf das eigene Ich. Man muß viel eher in der Melancholie und
in der Depression Umkehrungsphänomene sehen. Die ganze „Liebes-
bereitschaft" ist in „Haßbereitschaft" verwandelt. Der Kranke kann
nur hassen und haßt sich selbst. Dieser Haß gegen sich selbst steigert
sich zum Taedium vitae. Er verstümmelt sich, quält sich, legt Hand an
sieh. Meistens wird geklagt, daß jedes Gefühl erstorben sei, daß ein
Stein im Herzen liege usw. Das verbirgt nur die Tatsache, daß der Haß
den Kranken vollkommen beherrscht. Er kann nicht lieben, weil er sich
und die ganze Welt haßt. Deshalb quält er die Umgebung, weckt sie
des Nachts, tyrannisiert sie, läßt sie nicht zur Ruhe kommen. Seine Ent-
fernung in eine Heilanstalt betrachtet er als tiefe Kränkung, weil er die
Familie nicht mellT quälen kann. Er ist von Neid gegen die ganze Welt
erfüllt. Er beneidet jeden Menschen, der lachen kann, der sich guten
Appetits erfreut, er beneidet jeden Glücklichen.
■
510 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Die Depression ist eine Haßneu rose. Die Kran-
ken glauben oft, daß sie deprimiert sind, weil sie hassen. Sie ver-
wechseln die Tatsachen. Sie hassen, weil sie deprimiert sind'. Man sieht
Mutter, die in tiefe Depression verfallen, weil sie ihre Kinder hassen-
man sieht Frauen, die ihre Depression auf Haßregungen gegen den Mann
zurückführen. In allen Fällen beginnt das Leiden mit einer Liebes-
S, rSn Je WGlter die DePressi°n fortschreitet, desto deutlicher wird
die Haßemstellung gegen die Umgebung, die sich sogar in Tätlichkeiten
äußern kann. Mit dem Haß meldet sich der verdrängte Sadismus, der
sich sowohl nach außen als nach innen richtet. Daß dieser Haß auf
andere Ursachen zurückgeht, werden uns weitere Beispiele zeigen
Im psychischen Gefüge der Depression gibt es immer einen Kern
den ich als treibenden Wunsch oder als „unerfüllten Wunsch" be-
zeichnen möchte. Jeder Wunsch und jede Phantasie hat einen gewissen
Anspruch auf Realität (auf Verwirklichung). Ich nenne diesen An-
spruch „Realitätskoeffizienten». Wenn der Realitätskoef-
hzient auf den Nullpunkt heruntersinkt, so daß die Hoffnung auf Er-
füllung der unerfüllten Sehnsucht auf Null gesunken ist, so ist der
psychologische Moment für das Zustandekommen der Depression ge-
kommen. Da dieser „unerfüllte Wunsch" meist unbewußt ist, so ist
dann che Ursache der Depression gleichfalls dem geistigen Blickfelde
des Bewußtseins entzogen. Die Depression stellt also den
endgültigen Sieg der Realität über die Phanta-
sien dar. Sie ist der vollkommene Bankerott der Phantasiewelt. Der
Neurotiker arbeitet mit zwei Währungen: mit dem Lustprinzip und
dem Realitäteprinzip (Freud). In der Depression ist die Lustwährung
ganz außer Kurs gesetzt. Aber auch die Realitätswährung leidet unter
der Entwertung. Der Kranke entwertet die ganze Welt, seinen ganzen
Besitz, aUes verliert seinen Wert. Das heißt: Nichts kann ihm mehr
Freude machen!
Mit dem Bankerott der Phantasien und der bitteren Erkenntnis
von der Unerfüllbarkeit der unbewußten Zielvorstellungen kommt es
zu einer Einschränkung der Interessen. Das Interesse und die Auf-
merksamkeit sind ein Problem der Affektivität (Bleuler). Die ganze
Affektivität des Kranken ist in Haß verwandelt. Damit schränkt sich
sein geistiger Horizont auf alle Haßobjekte (die nächste Umgebung)
ein. Der Kranke hat schließlich nur ein Objekt, das ihn interessiert:
das eigene Ich und das eigene Unglück. Die alte Erfahrung, daß jedes
Unglück egoistisch macht, bestätigt sich aufs neue. Freud meint, die
Libido ströme ganz auf das Ich zurück. Nur im gewissen Sinne wäre
diese Annahme, mit einer Einschränkung richtig. Es wäre nur zu be-
weisen, daß es sich um eine Libidostörung handelt, daß die verhinderte
Depression und Homosexualität. 511
Objektsbesetzung zu einer Fixierung an das Ich, also zu einer Rück-
bildung im infantilen Sinne führt.
Sicher ist nur, daß die Einschränkung des Interessenkreises das
sichere Charakteristikum bildet. Fängt der Kranke sich für die Um-
gebung und für die Ereignisse der Welt zu interessieren an, so ist der
erste Fortschritt gegeben. Ebenso wenn er über vollkommene Gleich-
gültigkeit klagt. Er muß eben nach der Periode des Hasses eine in-
differente Zone der Gleichgültigkeit durchschreiten, ehe er wieder lieben
kann. Geheilt ist er, wenn er wieder liebt!
Allen Beobachtern ist die starke Neigung der Kranken zum
Jammern aufgefallen. In leichteren Stadien reden sie unaufhörlich und
beschäftigen sich mit 'ihren Leiden. Erst in schweren Stadien treten
die Vorwürfe offen zutage. Es gibt aber keine Depression,
in der sich der Kranke nicht Vorwürfe machen
würde. Wenn er verstummt und nicht mehr klagt, so denkt er über
seine Fehler nach. Die ganze Vergangenheit wird durchforscht, um
die Sünden zu finden, als deren Folge er die Krankheit empfindet. Die
Krankheit wird dann als gerechte Strafe des Himmels aufgefaßt. Die
Kranken werden oft fromm oder geben ihre frühere Frömmigkeit auf,
„weil es angeblich keinen Gott gibt", — sonst könnte er sie nicht so leiden
leiden lassen". Im Innern sind sie alle fromm, selbst wenn es sich um
Freigeister und Atheisten handelt. Sie gestehen, daß sie vergeblich
versuchen zu beten. Sie haben zu Gott auch die Haßeinstellung, die
sie gegen die ganze Welt beherrscht. Oft setzt das Leiden mit einer
Blasphemie oder einer Empörung gegen Gott ein. Depressionen, die
sich im Kriege an den Verlust eines teuren Wesens schlössen, zeigten
oft diese Empörung gegen die göttliche Allgewalt.
Fall Nr. 94. Eine Patientin kam in meine Behandlung, die schon drei
Jahre an schwerer Melancholie litt. Ich hörte im Laufe der psychischen Be-
handlung, daß sie vorher fromm war und jetzt den Glauben ganz verloren
habe. Sie besuchte seit der Melancholie keine Kirche mehr, während sie vorher
sehr fleißig in die Kirche gegangen war und jeden Monat gebeichtet hatte.
Gründe für diesen Abfall hat sie gleich bei der Hand: Weil ßie so unglücklich
sei wegen ihrer Krankheit, die sie grundlos befallen hätte. Die Analyse ergab,
daß sie sich in einen Vetter verliebt und diese Liebe tapfer überwunden hatte.
Sie bat den Vetter, ihr Haus zu verlassen, sie wolle ihrem guten Manne (der
sie weder seelisch noch körperlich befriedigen konnte) nicht die Treue brechen.
Nach seiner Abreise ging sie in die Kirche. Während des Gebets passierte es
ihr, daß sich ein Flatus einstellte, den sie mit einem Fluche gegen die Gottheit
herausließ. Nun traute sie sich nie mehr in die Kirche, weil sie sich als schwere
Süiuteröl betrachtete. Auch fürchtete sie die Beichte. Ich empfahl sie einem
von mir unterrichtaleü BßÄater, der sie absolvierte. Rasche Genesung.
512 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
Ich habe erwähnt, daß alle Kranken die Neigung zum Jammern
haben. Sie erpressen die Liebe der Umgebung in Form von Mitleid und
werden wütend, wenn man ihnen ihre Beschwerden und Qualen nicht
glaubt. Lachen sie über einen Witz oder in einem Theater, so erklären
sie gleich: es wäre kein rechtes Lachen gewesen. Sie hätten nur me-
chanisch gelacht. Und sofort setzt das Jammern wieder ein.
Die bisherigen Ausführungen haben uns dem Verständnis vieler
Symptome näher gebracht. Die Vorwürfe, die die Kranken sich machen,
sind berechtigt. Ihr böses Gewissen läßt ihnen keine Ruhe. Ihr Leiden
ist eine selbstdiktierte Strafe. Deshalb glauben sie nicht an ihre
Genesung. Sie wollen nicht gesund werden! Sie lächeln
daher überlegen, wenn der Arzt von ihrer Heilung spricht. Sie wissen
es besser. Sie sind unheilbar. Ihr Selbstmord ist dann die Strafe für
die Beseitigungsideen. Ich habe einmal den Satz geprägt: Niemand
tötet sich selbst, der nicht einen anderen töten
wollte! Das gilt auch für den so oft eine Depression abschließenden
Selbstmord.
Freud hat in einem interessanten Aufsatze: „Melancholie und
Trauer" die Behauptung aufgestellt, daß die Vorwürfe ursprünglich
einer geliebten Person gelten und dann erst sekundär auf das eigene
Ich verschoben werden. — Diese Behauptung ist nach meiner Erfahrung
nicht für alle Fälle richtig. Sie trifft nur für einen bestimmten Tjrpus zu.
Ganz falsch ist es aber, in der Ablehnung der Nahrung etwas anderes
zu sehen als einen „chronischen Selbstmord". Freud unterstreicht die
Behauptung von Abraham, daß die Ablehnung der Nahrung eine Folge
der „Regression auf die kannibalistische Phase der Libidoentwicklung"
sei. Diesen Verstiegenheiten und Spitzfindigkeiten kann ich keinen
Geschmack abgewinnen. Sie verwirren das Krankheitebild anstatt es
aufzuhellen. . . .
Die Kranken sind liebesarm geworden. Die Angst zu verarmen
bedeutet die Angst, an Liebe zu verarmen. Geld ist in der Sprache der
Depression Liebe .Sie wollen auch kein Geld ausgeben, sich nichts
anschaffen, es sei ja alles vergeblich, es hätte keinen Wert usw. . . Sie
finden die Umgebung und den Arzt herzlos. Niemand leide so wie sie.
Ob der Arzt schon so einen schweren Fall geheilt habe? Ob er auch
fühlen könne, wie schwer sie leiden? Sie lauern auf jedes Wort des
Arztes und entwickeln eine Genialität, seine Worte 'zu verdrehen und
sie zu ihren Ungunsten zu deuten. Sie sind sehr empfindlich und be-
merken mit unheimlicher Beobachtungsgabe jede Geste, jeden Tonfall
des Arztes und der Umgebung. Sie haben das Interesse für die Umwelt
verloren, aber sie sind scharfsichtiger geworden in allen Beziehungen
zu ihrem Ich.
_
Depression und Homosexualität. 52 g
Im ganzen Krankheitsbilde tritt eine deutliche masochistische
Tendenz hervor. Der Haß richtet sich gegen das eigene Ich und aus
der Selbstquälerei strömt ihnen geheime Lust.
Das merkt man besonders in jenen Fällen von Depressionen, die
sich dem hypochondrischen Krankheitsbilde nähern. Die Hypochondrie
befällt immer eine „erogene" Zone. Diese Zonen zeigen sich bei ober-
flächlicher Betrachtung als Angstakkumulatoren, während
sie m Wahrheit Lustakkumulatoren sind.
Ich komme nun zum wichtigsten Teil meiner Ausführungen.
Männer machen in diesem Leiden einen weibischen Eindruck, so daß
Mendl1) mit Recht von einem Klimakterium virile sprechen konnte. Es
handelt sich wie beim weiblichen kritischen Alter der Frau um einen
Bankerott aller erotischen Hoffnungen. Der Mann ist alt, fühlt sich alt
und klagt darüber, daß er nun sterben soll, ohne sich ausgelebt zu haben
In jedem Menschen lebt ein heimlicher „sexueller Imperativ" der ihn
drängt, seine Erfüllung zu suchen. Ohne diese Erfüllung können die
Menschen nicht sterben, oder sie sterben mit dem Ausrufe daß sie
eigentlich nicht gelebt hätten.
Im Klimakterium des Mannes tritt aber seine Verweiblichung sehr
deutlich hervor. Er verliert alle -Energie, wird entschlußunfähig ( wie
ein altes Weib"), jammert und klagt direkt, er habe seine Männlichkeit
verloren. 2)
Es ist eine sichere Tatsache, die ich immer
wieder. beobachten konnte, daß die Depressionen
mit einer Verstärkung der gleichgeschlechtlichen
Komponente einsetzen. Die Männer werden weib-
lich und die Frauen männlich.
Ich kann nicht entscheiden, wie weit dabei organische Störungen
der inneren Sekretion eine Rolle spielen. Der Erfolg der Psychotherapie
spricht gegen die rein organische Grundlage. Wahrscheinlich erfolgt
wegen der heterosexuellen Enttäuschung eine Flucht in die Homo-
sexualität.
Frauen, die an Depressionen erkranken, die 'bei ihnen fast immer
das typische Bild der Melancholie bieten, zeigen plötzlich eine Neigung
zu männlichen Beschäftigungen. Sie beginnen zu rauchen, weil die
Zigarette sie wie ein Narkoticüm beruhigt. Sie tragen Männerblusen
mit Kragen. Manche lassen sich scheinbar unmotiviert das Haar
*) Die Wechseljahre des Mannes. (Neurol. ZW., 1910.)
s) Siehe auch Löwenfeld: „Sexualleben oder Nervenleiden", 4. Aufl., Wiesbaden
1914. Kapitel: Klimakterium virile.
Stekol, Störungen des Trieb- und Affelttlobens. II. ü.Aufl. dq
514 Zweiter Teil. Die Homosexualität.
schneiden. Sie suchen die Ruhe der Natur in Ausflügen und ziehen
Männerhosen an.
Mitunter läßt sich sogar eine stärkere Behaarung im Gesicht
nachweisen, die während der Depression auftritt. Die Menses werden
spärlicher oder bleiben ganz aus. Die Schilddrüse schwillt an, -es zeigen
sich Störungen der inneren Sekretion. Der Organismus beteiligt sich
an der ganzen Umstimmung in das Gegengeschlechtliche.
Bei den periodischen Depressionen läßt sich dieser Wechsel
zwischen heterosexueller und homosexueller Einstellung sehr deutlich
nachweisen. Eugen Steinach hat in seiner hochinteressanten und
fundamentalen Arbeit „Pubertätsdrüsen und Zwitterbildung" (Arch.
f. Entwicklungsmechanik, Bd. 13, 3. Heft) beobachtet, daß bei seinen
künstlichen Zwittern männliche und weibliche Perioden wechselten.
Ich bringe diese Stelle wegen ihrer Wichtigkeit wörtlich wieder:
„Bei der Entwicklung des Geschlechtstriebes macht sich zunächst
männliche Art geltend. Das Tier ist mutig, stellt sich einem fremden
gleichaltrigen Männchen zum Kampf und läßt dabei den gurgelnden Laut
vernehmen, welcher beim Weibchen und beim männlichen Frühkastraten
fehlt, der beim normalen Bock jede Aktion einleitet oder begleitet, sei
es Kampf oder Werbung. Auch normalen Weibchen gegenüber gebärdet
es sich als Männchen. Es findet sofort ein brünstiges Weibchen heraus,
verfolgt unaufhörlich und bespringt. Würde man sich mit einigen
Prüfungen in der ersten Zeit der Reife begnügen, so würde man schließen,
der Zwitter sei in männlicher Richtung erotisiert.
Bei regelmäßig wiederkehrenden Ermittlungen kommt man aber zu
einem Zeitpunkte, wo das Tier ganz veränderten Charakter zeigt. Das
Tier ist mehr scheu und furchtsam. Bringt man ein fremdes Männchen
in sein Abteil, so stellt er sich nicht mehr, sträubt nicht mehr die Haare,
sondern bleibt stumm und läuft davon. Bringt man ein oder das andere
Weibchen in sein Abteil, so verhält es sich nach dem ersten Beschnuppern
ruhig und vollkommen gleichgültig, auch wenn das Weibchen brünstig
ist. Der männliche Trieb scheint wie erloschen.
Im Gegenteil, das Tier hat weiblichen Reiz gewonnen. Dasselbe
normale Männchen, welches in ihm bisher ein Kampfobjekt erblickt hat,
findet in ihm ein Objekt der Werbung. Der Zwitter wird nun fort und fort
verfolgt, berochen und besprungen, und wehrt sich oft vor heftigem Auf-
sprung durch Heben des Hinterfußes, wie ein normales Weibchen — kurz
es ist beim Zwitter eine Periode weiblicher Erotisierung eingetreten.
Diese Periode dauert etwa zwei bis vier Wochen. Bei den Exem-
plaren, bei welchen die Mammahyperplasie bis zur Milehsekretion ge-
diehen ist. fällt sie zusammen mit der Periode derMilchsekretion und kehrt
wieder, sobald neuerdings Milch drüsenschwellung und Milchsekretion ent-
steht. In diesen zwei- bis dreimonatelangen Zwischenpausen benimmt sich
das Tier zunächst indifferent, dann wieder ausgesprochen männlich. Die
Übergänge von der weiblichen zur männlichen Erotisierung nehmen bei
den einzelnen Perioden verschiedene Zeiten in Anspruch;
- ,i
Depression und Homosexualität. • 515
Die Koinzidenz Yon weiblicher Sexualstimmung und Milchsekretion
hat mich veranlaßt, eben einen solchen Zwitter zur histologischen Unter-
suchung der Transplantate zu opfern. Der gesunde beträchtliche Hodenrest
bietet das Bild der gewucherten männlichen Pubertätsdrüse. Mächtige
Lager oder Stränge Leydigscher Zellen umgeben die atrophischen oder
schon zerfallenen Samenkanälchen. Das Ovarium ist noch ganz in alter
Form erhalten und zeigt eine massenhafte Oblitierung der Follikel, die
von luteinzellartigen Elementen gefüllt sind und die in ihrer Zahl und
Üppigkeit eine besonders reich entwickelte weibliche Pubertätsdrüse
darstellen.
Durch diesen Befund wird die Periode der weiblichen Erotisierung
tatsächlich aufgeklärt. Sie wird hervorgerufen durch periodisch ausgelöste
Höchstleistung der weiblichen Pubertätsdrüse, welche in diesen Zeit-
läuften soviel weibliches Sexualhormon produziert, daß einerseits die
weiblichen Geschlechtsmerkmale ihre höchste Entfaltung erfahren, was
in der Mammahyperplasie und Milchsekretion zum Ausdruck kommt, und
daß andererseits die zentrale Nervensubstanz so reichlich mit diesem
Hormon durchspült wird, daß die psycho sexuelle Stimmung und das von
ihr beherrschte funktionelle Verhalten vollständig nach der weiblichen
Richtung umschlägt.
Wird das ovariale Transplantat innerhalb der Periode männlicher
Sexualstimmung exstirpiert, so fällt die Periode der Mammahyperplasie
und der weiblichen Erotisierung ein für allemal aus, ein Kontrollversuch,
welcher den Zusammenhang zwischen dem psychischen Gesehlechts-
eharakter und der spezifischen Wirksamkeit der Sexualhormone wieder in
zwingender Weise erhärtet.
Daß die Pubertätsdrüse des transplantierten Ovariums in bezug
auf Ausbreitung und Tätigkeit starkem Wechsel unterliegt, war mir aus
der bis in die Gegenwart fortgesetzten Beobachtungen an feministischen
Männchen geläufig; bei denselben haften, wie schon eben mitgeteilt, die
in frühester Jugend eingepflanzten Ovarien jahrelang, ja bis zum Lebens-
ende, und sind imstande, durch die von Zeit zu Zeit wiederkehrende,
histologisch nachweisbare Steigerung der Follikelobliteration beziehungs-
weise Pubertätsdrüsenwucherung, jene periodisch erfolgenden Erschei-
nungen, der weiblichen Brunst, der Mammahyperplasie und Milchsekretion
auszulösen. Neu aber und von Bedeutung ist die durch vorliegende
Experimente ermittelte Tatsache, daß das zentrale Nervensystem auf die
Schwankungen im Zuflüsse der beiden Sexualhormone so scharf reagiert
und daß es wiederholt im Laufe des individuellen Lebens je nach der
Speicherung des spezifischen Hormons bald in männlicher, bald in weib-
licher Richtung erotisiert werden kann."
Steinach weist auf die Forschungen von Moll hin, der als der erste
die Periodizität im Auftreten homosexueller Neigungen konstatiert
hat (Die konträre Sexualempfindung, Berlin 1891). Aber auch bei
Krafft-Ebing, bei Tarnowsky, bei Magnus Hirschfeld und bei Bloch
finden sich deutliche Hinweise auf diese Tatsache.
Krafft-Ebing beschreibt im Jahrb. f. sex. Zwischenstufen Bd. 3,
S. 27, einen Fall von periodischer Bisexualität, der den von mir oft beob-
achteten Verlauf nimmt. In der Depression, derentwegen ein Sanatorium auf -
33*
516 • Zweiter Teil. Die Homosexualität,
gesucht wird, homosexuelle Neigungen. Im Sanatorium regelmäßig Liebes-
regungen zu den Ärzten, die sich bis zum Verliebtsein steigern, so daß es
zu Heirategedanken kommt Mit der Besserung der Neurose tritt das
heterosexuelle Fühlen wieder in den Vordergrund. Krafft-Ebing beob-
achtete einen Anfall (hysterische Psychose), in dem beide Tendenzen mit-
einander rangen, und behauptet, die Kranke durch eine suggestive Kur
dauernd geheilt zu haben.
m^ATmAHirSChiit GrW?hnt in seinem Buche »Die Homosexualität"
i« i Ü ' iß YCUS) emen FaU Von P^iodischcr Bisexualität, der
mit cydothymen Symptomen einherging. Er sagt: „Er betrifft einen an
manisch-depressiven Stimmungsschwankungen leidenden Gymnasialpro"
fessor, der m einer Heilanstalt Morphinist geworden ist. Er fühlt im De-
pressionszustande homosexuell, im Exaltationszustand und im Morphium-
StU-n^SeXUe11 V Df S rkWÜrdige aber ist> daß in homosex'u S
STXfe t* ^ iS\°ft UmSChlägt' aöch 6eine Bewegungsart
Ä rlWarnd f m h^rosexue11^ Zeiten viel tiefer spricht
und auch m Gang und Gesten viel viriler wirkt" (S. 212).1)
Eine ähnliche Beobachtung habe ich in allen meinen Fällen ge-
macht. Mit, dem Durchbruch der gleichgeschlechtlichen Regungen setzte
die Depression ein.
den F^r^f!,6118?6? T^eaden, alle meine Erfahrungen über
IS! 6n,Fa schildert Max Marcuse in der Mschr f. Psych.
Bd 41 FrfrT Pen,0dlSr]c,;:alte!;nierender ^ro-Homosexualität, 1917,
SrhriLS °a l nddt Slch!um4inen 31iährigen, erblich belasteten
bcü nlteteller, der sich nur in der Homosexuellenperiode richtig wohl
lulilt und nur in ihr schriftstellerisch und produktiv ist, dagegen zur
£eit des normalen Empfindens dauernd unter einer gewissen Depression
leidet und nichts schaffen kann. Körperlich zeigt er keine Zeichen einer
betonten Bisexualität. Seine Perioden schilderte Marcus folgendermaßen-
In der homosexuellen Periode lebt er als der maskuline Teil jeweilig
mit einem, jungen Freunde zusammen, ist in seinem Glücksgefühl nur durch
flW V01'a ememJKonJflikte ™& Polizei und Gericht beeinträchtigt, dies
allerdmgs dauernd und erheblich, und er befindet sich zurzeit offenbar in
tZTt- J in Adif Sem Zeitabschaitte schreibt und veröffentlicht er
be eite t^r en ^r^it6Jn- Fa8t Über Nacht' aber doch im™r nach
iZ££ voll! tahf ■ &&*&** daß d6r "Umsehwung" bald eintreten
Elf*8? daniJ die Änderung mit ihm: aus froher, schaffender
PaE LT TrauTri?eit Und Arbeitsunlust; nicht selten kämpft
demnächst ZZT n LebeDsübe^uß; und er fürchtet, diesem Kampfe
üemnachst einmal zu erliegen. Er kann in solcher Zeit nicht begreifen
H r J6", f* homosexuen ™ betätigen imstande sei, da ihm s hon
der Gedanke daran Ekel bereite; er flieht seine homosexuelln Freunde
und das ganze Milieu, meist indem er auf Reisen geht, bei denen er fast
niemals ein bestimmtes Ziel hat, sondern sich vom Zufall und einem
dumpfen Drange leiten läßt. Er sehnt sich nach den Umarmungen S
_Weibes, ist leicht von den Reizen eines solchen entflammt und verbebt
_ ■) Auch L^enfM 0. c.S 431) schildert eine periodische homosexuelle Zwangs-
neigung mit Wechsel der Stimmlage. fe
Depression und Homosexualität. ,-^17
sich fast in jede üppige Frau. Der Koitus als solcher reizt ihn wenig und
befriedigt ihn noch weniger. Er ist in dieser Periode liederlich und völlig
S^S?1 ' weil doch "alles unnütz" sei und lebt -**
Aus dieser Schilderung ergibt sich, daß er auch in den homo-
sexuellen Perioden leidet. Er fühlt sich dauernd und erheblich durch
den Konflikt mit Gericht und Polizei beeinträchtigt und scheint Er-
pressern ausgeliefert. Es ist ja möglich, daß der starke Wille zur Homo-
sexualität, den ich in allen Fällen von Homosexualität konstatieren
konnte, den Typus der Depression verändert hat. Ich habe in den
früheren Kapiteln auf die wichtigen Zusammenhänge zwischen Sadis-
mus und Homosexualität aufmerksam gemacht. Der Homosexuelle ist
zum Weibe mit Haß eingestellt und. flüchtet vor seinem verbrecherischen
.Sadismus in die gleichgeschlechtliche Liebe. Besonders instruktiv ist
ein Fall m den t sich tiefe Depressionen einstellten, derentwegen sich der
kranke keine Rechenschaft geben konnte. Aber in den Depressionen
17-m ™A SGgtn dle ganZe Welt Und beS0nders BW* seine Mutter
erfüllt, so daß er sich vor sich selber fürchtete.
Viele Menschen greifen zum Morphium und zu anderen Narkotieis
um dem Sadismus zu entfliehen. Ein Opiomane, der 20 bis 30 g Opium
täglich einnehmen mußte, gestand mir, er müsse das Opium täglich ein-
nehmen, um „gut zu sein". Er karikierte die Nächstenliebe, so daß
deutlich zu erkennen war, daß es sich um einen überkompensierten
Sadismus handelte. Er machte nur eine Ausnahme. Er haßte die Homo-
sexuellen, obwohl seine Weltanschauung sonst eine vollkommen anar-
chistische war. Homosexuelle könnte ich ruhig insgesamt verbrennen
oder aufhangen lassen", pflegte er sich zu äußern. Es war klar, daß or
auch seine homosexuelle Komponente im Opium ertränken wollte. Diese
Erscheinung erklärt sich durch die Tatsache, daß die periodische
Dipsomanie (Quartalssäuferei) auf eine periodisch wiederkehrende
homosexuelle Periode zurückzuführen ist, wie meine Analysen beweisen
Bei einem homosexuellen Quartalssäufer war offenkundig zu konsta-
tieren, daß der Durchbrach der heterosexuellen Neigungen im Alkohol
zur Inaktivität verurteilt wurde. (Andererseits sehen wir bei soge-
nannten Normalen im Rausche plötzlich homosexuelle Regungen auf-
treten.)
Es gibt aber Krankheitsfälle, welche deutlich die Kombination
von Homosexualität und Sadismus klarlegen. Ich verweise auf die
nächste Beobachtung.
Fall Nr. 95. Eine 34jährige Arztensgattin wird mir von Prof. Eppinger
zur psychanalytischen Behandlung zugewiesen. Sie stammt aus gesunder
* amilie, zeigt aber infantilen Typus und zeichnet sich durch einen auffallend
starken Bartwuchs im Gesicht aus, der ihr das Profil eines interessanten
518
Zweiter Teil. L>ie Homosexualität.
blassen Jünglings verleiht. Menses regelmäßig. Sie leidet seit der Ehe an
regelmäßig wiederkehrenden schweren Depressionen, die zwei bis drei Monate
dauern. Sonst sanft und milde und ihrem Manne sehr ergeben, wird sie in den
Depressionszuständen wild und jähzornig. Sie läßt sich immer wieder trotz
guter Vorsätze hinreißen, ihren Mann zu schlagen. Sie ist eine frigide Frau,
die nicht zum Orgasmus kommt. In den Depressionszuständen wird sie geradezu
nymphomanisch. Sie verlangt immer wieder von ihrem Manne den Koitus,
gerät in hochgradige Aufregung, ohne zum Orgasmus zu gelangen. Sie wirft
ihm vor, er habe vor der Ehe zuviel gelebt. Sie hat sich alle seine Erlebnisse
vor der Ehe genau berichten lassen und hat jene verderbliche „Eifersucht auf
die Vergangenheit", welche jede Ehe zur Hölle macht.
Auf diese Zusammenhänge zwischen Eifersucht, Sadismus und
Homosexualität habe ich ja meine Theorie der Homosexualität be-
gründet. Ich will mich hier nicht wiederholen und nur aufmerksam
machen, daß die homosexuelle Wurzel der Eifersucht immer nachzu-
weisen ist. Man ist nur (pathologisch) eifersüchtig,
wenn man das Objekt; der Eifersucht begehrens-
wert findet. Dazu ist aber die homosexuelle Einfühlung unbedingt
notwendig. Die Eifersucht ist auch ein Vorwand für den Haß, der auf
diese Weise rationalisiert wird. Die Depression wird vom Haß, der die
treibende Kraft des Sadismus darstellt, beherrscht. Sie ist eine aus-
gesprochene Haßneurose.
Von besonderem Interesse sind die Beziehungen der Depression
und des Wahnes überhaupt zum Hermaphroditismus. Der erste Fall,
den ich beobachten konnte, war merkwürdig genug.
Fall Nr. 96. Es handelte sich um eine 42jährige Bäuerin, die auf der
urologischen Station als Mann erkannt wurde. Es wurde ihm durch eine
Operation ein sehr gelungener Penis geschaffen, durch den er tadellos uri-
nieren konnte. Auch erhielt er Männerkleider (er war bisher als Magd auf
einem Bauernhof tätig gewesen). An die Operation schloß sich eine schwere
Depression an, die drei Monate währte.
Die Vorstellung „Du bist kein Weib mehr!" war offenbar die aus-
lösende Ursache der Depression, welche ja nach meiner Ansicht die
Reaktion auf ein aussichtsloses sexuelles Begehren darstellt.
Wie wir in vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, läßt sich die
Entstehung der Paranoia auf eine verdrängte Homosexualität zurück-
führen. Es kommt aber auch zu Wahnvorstellungen, bei denen der
Kranke sich einbildet, ein „Zwitter" zu sein. Wir müssen diese Wahn-
bildung als einen Heilungsversuch, als ein Kompromiß aus dem un-
löslichen Konflikt: „Mann oder Weib?" ansehen.
Sehr interessant ist ein diesbezüglicher Fall, den Kielholz in seiner
Broschüre: „Jakob Boehme" (Ein pathologischer Beitrag zur Psychologie
der Mystik. Schriften zur angewandten Seelenkunde, 17. Heft, Leipzig und
Wien 1919, Franz Deuticke) publiziert. Es handelt sich um ein wegen
Muttermord (!) interniertes Mädchen, dessen Erkrankung einen zirkulären
Verlauf zeigte. Sie schildert ihren Zustand mit folgenden Worten :
Depression und Homosexualität. 519
Ich hatte verschiedene Stadien durchzumachen, nämlich ein be-
stimmtes, das keinen Zweifel zuließ, und ein unbestimmtes Neutrum-
stadium, wo die Zweifel ob der Richtigkeit dieses Seins sich einstellten.
Ich erinnere mich des Moments, da die Entwicklung vor sich ging. Ich litt
an der Täuschung, Mann geworden zu sein. Die körperlichen Bewegungen
wurden freier, die Muskel gewannen an Spannkraft, kräftig rollte das Blut
durch die Adern, die Geistes- und Körpertätigkeit mächtig fördernd. Das
Allgemeinbefinden war ein leichtes, wohliges, die Denkungsart eine unge-
hemmtere, kühnere, die Fähigkeiten waren verschärft und die Tatkraft
fühlte ich sich verdoppeln. Ein freudiges Selbstbewußtsein hob das
seelische Empfinden und trat an die Stelle des Sichkleinfühlens. Ich hätte
mich in allen diesen Vorteilen sehr glücklich geschätzt, wenn ich nicht
unter den (vermeintlichen) Anspielungen der Wärterinnen sowie der
Insassen des Männerpavillons gelitten hätte. Ich machte aus diesem
Grunde einen Selbstmordversuch. Es folgte das Stadium des unbestimmten
Wesens bei zunehmender Besserung des Allgemeinbefindens, das mich ob
des Bestehens der physischen Veränderungen im Zweifel und beängstigen-
der Ungewißheit ließ. Mi,t der langsam fortschreitenden Besserung ver-
schwanden auch diese Ideen wie auch die Empfindung allmählich, bis
sie schließlich ganz weggeblieben.
Wir sehen in diesem Falle die sadistische Komponente (Mutter-
mord!), welche sich in eine ausgesprochen altruistische umwandelte.
Sie wollte als Hermaphrodit alle Kranken heilen und fühlte die Kraft
dazu in sich. „Christus ist Hermaphrodit . . .", was die deutlichen An-
sätze zur „Christusneurose" und zur „großen historischen Mission"
zeigen, die ich an anderer Stelle beschrieben habe.
Auffallend ist, wie oft die Wahnkranken über Kastrationen be-
richten. So berichtet Kielfeld von einem Fabrikarbeiter, der sich von
seinen Arbeitgebern verfolgt fühlte. Sie hätten ihn veranlassen wollen,
Kellnerin zu werden. Er sollte kastriert werden, ihm sollte die Gebär-
mutter eines Affen eingesetzt werden.
Ich habe einen Fall von manisch-depressivem Irresein beob-
achtet, in dessen Verlauf sich während der Depressionen immer wieder
Kastrationstendenzen zeigten. Er wolle sich das Glied abschneiden,
dann werde es besser werden. Vielleicht geht die Kastrationsmanie
der Skopzen auf solche homosexuelle Regungen zurück, wie sie im Kli-
makterium und Senium des Mannes regelmäßig auftreten.
Durch diese Tatsachen erklärt sich das Rätsel der Cyclothymie
und aller periodischer Psychosen. Sie hängen mit dem periodischen
Wechsel von heterosexueller und homosexueller Einstellung zusammen.
Die starke Bisexualität würde dann die Disposition zu diesem Leiden
abgeben.
In dem erwähnten Falle der Arztensgattin zeigte sich in der De-
pression ein geradezu nymphomanischer Drang. Man lasse sich nicht
von dieser oft beobachteten Tatsache irre machen. Wie ich nach-
gewiesen habe, ist die Nymphomanin ebenso wie der an Satyriasis
520
Zweitor TeH. Die Homosexualität.
\
leidende Mann eigentlich latent-homosexuell. Weil der normale Akt
keine Befriedigung bringen kann, wird die Wiederholung verlangt.
Auch der Don Juan ist ein Latent-Homosexueller. Auch die Messalina1)
erweist sich als eine ausgesprochene Bisexuelle, mit starker Neigung
zur offen bekannten Homosexualität. Deshalb werden wir oft im Be-
ginne der Depressionszustände, sofern der Geschlechtstrieb nicht ganz
erlischt, eine Neigung zum Objektwechsel beobachten können. Frauen
begehen ihre Treubrüche, Männer laufen in die Bordelle. Es sind
krampfhafte Heilunge versuche, aus der Homo-
sexualität in die Heterosexualität zu gelangen.
Auch das plötzliche Verlieben der Männer im hohen Alter kann
eine Flucht vor der Homosexualität bedeuten. Je pathologischer und
unwahrscheinlicher diese Liebe erscheint, desto größer ist die Wahr-
scheinlichkeit, daß es sich um den Versuch einer Heilung, um eine
Iransponierung der Homosexualität auf ein heterosexuelles Objekt
handelt. • J
Vr «55 %9\Jm ßliätap* Mann verliebte sich in ein Bureaufräulein.
PrnRvil Bem\F™ihe>hf s[ch scheiden, obgleich er schon mehrfacher
Großvater war. In der Ehe brach eine Depression aus. In der Analyse kam
zutage, daß er sich m den Bruder der Frau verliebt hatte und diese Neigung
auf das Madchen übertragen hatte. * *
Es fragt sich, ob wir diese Funde therapeutisch verwerten können.
Ich möchte vorweg betonen : DieBehandlungmitHormonen
hat mich glatt im Stich gelassen. Ob eine Operation im
Sinne Steinachs, welche die heterosexuellen endokrinen Triebkräfte
verstärken würde (Einpflanzung einer gleichgeschlechtlichen Pubertäts-
drüse) von Erfolg sein werden, das muß erst die Zukunft lehren. Viel-
leicht ergibt sich eine operative Therapie der Psychosen, der Dipso-
manie, des manisch-depressiven Irreseins und der Paranoia.
Die seelische Behandlung gibt gute Resultate, wobei sich die
Patientinnen stürmisch in den Arzt verlieben2), das heißt ihre homo-
sexuellen Neigungen zurückdrängen und sich eine aktuelle hetero-
sexuelle Leidenschaft arrangieren. Die Zurückweisung dieser oft un-
bändigen Leidenschaft ruft eine tiefe Depression hervor.
Es bedarf großer psychotherapeutischer Kunst, um einer De-
pression Herr zu werden. Die Kranken jammern unaufhörlich und ver-
stecken ihre unbewußten Motive. Sie wollen nicht von den tieferen
Motiven sprechen, die zur Erkrankung geführt haben. Oft muß man
sich auf reine Persuasion und liebevolles Zusprechen beschränken.
Aber m manchen Fällen kommt man mit der Psychanalyse rasch vor-
wärts, man öffnet dem Kranken die Augen, man entlastet ihn von dem
J) Vgl. Bd. IV, die „Analyse einer Messalina".
2) Vgl. den erwähnten Fall Krajft-Ebing.
Depression und Homosexualität. 521
drückenden Schuldbewußtsein, das infolge seiner Haßgedanken und
Beseitigungsideen unaufhörlich an seiner Seele nagt. In einem größeren
Werke, zu dem diese Studie ein Vorläufer sein soll, will ich die Psycho-
therapie und Genese der Depression ausführlich besprechen.
Ich möchte aber ganz besonders auf die Gefahren der Behand-
lung mit Narkoticis aufmerksam machen. Man erzeugt unzählige Opio-
manen, Veronal- und Adalinisten; die vielen Toximanen sind zum Teil
Kunstprodukte einer falschen Therapie. Für die schwersten Fälle,
welche unter ständiger Selbstmorddrohung stehen, bei denen die Angst-
entwicklung zu einem Raptus melancholicus führen kann, greife ich zur
Opiumbehandlung, welche eine vorübergehende Beruhigung erzwingt.
Diese Fälle werden immer seltener. Ich habe gelernt, ohne nar-
kotische Mittel auszukommen. Ich wende weder Veronal, noch Adalin,
Bromural, Luminal, Brom usw. an. Die Kranken sind am nächsten Tage
noch apathischer und mürrischer, ihre Abulie verstärkt sich. Ich nehme
von allen diesen Mitteln Abstand.
Ich fürchte die Schlaflosigkeit der Depressionisten nicht mehr.
Ich habe gelernt, daß in der Schlaflosigkeit eine Art Heilungstendenz
und Schutzvorrichtung steckt. Die Kranken fürchten ihren Schlaf,
weil sie nicht in ihre pathologischen Komplexe verfallen wollen.1) Viele
zeigen die merkwürdige Schlafstörung, sofort nach einigen Minuten
Schlaf mit einem Schrei oder mit Herzklopfen aufzuwachen, mit der
Empfindung, daß sie in einen Abgrund hinunterstürzen. Es ist der
Sturz in die Tiefe ihrer Verbrechernatur, in die Abgründe ihrer ge-
heimen Wünsche. . . In der Analyse bessert sich erst die Schlafstörung.
Die offene Besprechung ihrer Konflikte, deren Reichhaltigkeit ich in
diesem Aufsatz • eben noch andeuten konnte, führt eine seelische Ent-
lastung herbei und verringert die Angst vor dem Schlaf und die Furcht
vor den verbotenen Träumen.2)
Eine wertvolle Unterstützung leistet die Hydrotherapie. Man
hat ja die Aufgabe, den Kranken den ganzen Tag zu beschäftigen, ihn
von seinen Grübeleien abzulenken. Auch will er auf die seelischen
Wurzeln nicht eingehen und das Gefühl haben, daß „etwas Verderb-
liches zu seiner Heilung geschieht". Feuchte Einpackungen, die bis zu
einer Stunde ausgedehnt werden, denen sich ein nicht allzu warmes
Halbbad anschließen soll (um eine kräftige Hautreaktion zu erzeugen) ,
werden sehr gut vertragen. Die Temperatur der Einpackung sei mög-
lichst kalt, etwa 14—16°. Das Halbbad womöglich von 18 auf 16°.
') Vgl. meine Broschüre „Der Wille zum Schlaf". Verlag J. F. Bergmann.
J) Schilder und Herschmann haben nachgewiesen, daß die Melancholischen auch
auffallend häufig lustbetonte, euphorische Träume berichten. Möglicherweise hängt die
Schlaflosigkeit auch mit der Trotzeinstellung der Kranken gegen die Freuden der Welt
zusammen. Sie wollen nicht glücklich sein, sie wollen nicht sehen, daß es ein Glück
gibt, sie wollen nicht aus der Trotzeinstellung gegen die Welt gerissen werden.
522 Zweiter Teil. Die Homosexualität. — Depression und Homosexualität.
Wenn der Kranke sich in der Einpackung nicht erwärmt, ist er vorher
abzureiben oder es sind Wärmeflaschen, elektrische Bettwärmer zu den
Füßen zu applizieren.
Man trachte immer wieder, die Kranken zur Arbeit zu bewegen.
Beamte müssen ins Amt gehen, so sehr sie sich auch sträuben und
ihre Unfähigkeit zur Arbeit betonen, Kaufleute müssen in ihr Bureau
oder in ihren Laden, die Hausfrauen in die Küche. Es ist falsch, ihnen
die Sorgen um den Haushalt abzunehmen. Sie brauchen die Arbeit
als Heilmittel. Für leichte, anregende Lektüre ist zu sorgen, der Be-
such heiterer, harmloser Theaterstücke ist zu empfehlen (das Kino
wirkt immer schlecht, nur die wissenschaftlichen Uraniavorstellungen
werden gut vertragen) . Kartenspiele mit geringem Einsätze, Spazier-
gänge, Müllern, Gymnastik sind in leichten Fällen zu empfehlen.
Die Kunst des Arztes zeigt sich in den ersten Stadien der De-
pression. Neben der psychologischen Erforschung muß auch die Be-
ruhigung und die Anleitung zur Arbeit erfolgen. Sehr gefährlich sind
Urlaube, welche die Depression fast immer verschlimmern. Der Erfolg
der Sanatoriumsbehandlung hängt von der Tüchtigkeit des Arztes ab.
Ich kann diese Ausführungen nicht schließen, ohne auf die
eminente Selbstmordgefahr aufmerksam gemacht zu haben, die bei
diesen Kranken besteht. Im Beginne meiner psychotherapeutischen
Praxis habe ich diese Gefahr 'sehr gefürchtet. Die Erfahrung hat mich
belehrt, daß bei richtiger psychotherapeutischer Behandlung, welche
dem Kranken stets die Hoffnung auf Genesung betont und sich von
seiner Jammerei nicht beirren läßt, die Gefahr nicht besteht. W ä h-
rend der Analyse kommt ein Selbstmord nicht vor.
Die Kranken drohen, wenn sie aber an dem Arzt hängen, so führen
sie die Drohung nicht aus. Allerdings ist es wichtig, die Kranken
zu beschäftigen und sie aus dem Nichtstun und Vorsichhindämmern
herauszureißen. Man lasse die Frauen im Hause arbeiten, die Männer
müssen Gartenarbeit, Zimmergymnastik betreiben, etwas lernen, wo-
möglich ihrem Berufe nachgehen, man sorge für leichte Anregung,
harmlose Theaterstücke (kein Kino!), leichte Lektüre, die anfangs
verschmäht und dann in leichteren Fällen gern genommen wird. Man
beginne die Kur mit einem Verbote, das sehr segensreich wirkt. Die
Kranken dürfen über ihr Leiden zu keinem Menschen aus der Um-
gebung sprechen. Sie dürfen nur dem Arzte klagen. Damit beginnt
die Schule der Selbsterziehung und Selbstbeherrschung, welche die
schönsten Erfolge zeitigt.
Die Behandlung ist schwierig und sehr anstrengend, ermüdend
und zeitraubend. Aber sie rettet viele Menschen und führt sie mit
sanfter Hand ins Leben zurück.
523
Verlag von Urban & Schwarzenberg, Berlin .Wien,
Störungen
des
Trieb- und Affektlebens.
(Die parapathischen Erkrankungen.)
Von
Dr. Wilhelm Stekel,
Nervenarzt in Wien.
Das großangelegte Werk ist aus der Praxis für die Praxis geschrieben.
Es wendet sich vor allem an die Praktiker und bietet ihnen einen sicheren
Führer in das schwierige Gebiet der Psychotherapie. Denn Stekels Arbeits-
weise beschränkt sich nicht auf die orthodoxe Analyse, wie sie Freud und
seine Schüler üben. Er bietet sozusagen eine gereinigte, von allen Übertrei-
bungen und Künsteleien freie Analyse. Er wandelt meist eigene Wege oder
nimmt das Gute aus allen Schulen. Der Arzt findet alle Auffassungen und
Feinheiten der modernen Psychotherapie an zahlreichen Beispielen erörtert
Stekels Werke sind nicht theoretische Betrachtungen, kühne Hypothesen,
gewagte Schlüsse aus vereinzelten Beobachtungen. Er entrollt erst eine Fülle
von Beobachtungen, läßt zahlreiche Kranke an unserem Geiste vorbeiziehen,
zerfasert ihre Leiden, zeigt überall die seelischen Konflikte und wie sie sich
als organische Symptome äußern, und zieht erst aus den Tatsachen seine
Schlüsse. Seine Arbeitsweise ist eine deduktive, wobei der Leser den Vorteil
hat, einen Blick in die Werkstatt des Seelenarztes zu werfen und seine Er-
kenntnisse zu kontrollieren.
Die analytische Literatur ist so angewachsen, daß es dem Anfänger nicht
möglich ist, sich durch eigenes Studium die notwendigen Kenntnisse anzueignen.
Stekels Bücher sind die beste Einführung in die Analyse. Sie erleichtern das
Verständnis der Werke Freuds, ohne Auszüge aus Freud zu sein. Sie sind in
erster Linie didaktisch gedacht und bilden in ihrer Gesamtheit eine Schule der
modernen Psychotherapie. .
Die gesammelten zehn Bände bringen auch eine neue Fundierung der
Sexualwissenschaft. Während die Werke von Krafft-Ebing und anderen Sexual-
forschern rein deskriptiv waren und sich nur hie und da psychologische Ansätze
zeigen wird in diesen Büchern die Psychogenese der verschiedenen Perver-
sionen, die Stekel Paraphilien nennt, klargelegt, so daß sich der Therapie
«ranz neue Wege ebnen. '
Die Bücher bilden in ihrer Gesamtheit eine wertvolle Ergänzung zur
klinischen Ausbildung. So lange es keine Lehrkanzeln für Psychotherapie und
524
Sexualwissenschaft gibt, sind die Ärzte darauf angewiesen, ihre Kenntnisse
ihres ÄiT "" SPeZiaHStCn ßnden gCnÜgend BekhrUng Und B-^her«ng
Bisher sind erschienen :
Teil I: Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung. Dritte, ver-
mehrte Auflage (im Druck) M 70.- geb. M 90.-
T ., „ _ | Auslandpreis M 105.-, „ M 135.-
?^#Te " £°T?Malitä<- (Die *°»««««Ile Neurose.)
Ä»f/e. „ermenr/e Au/%e (im Druck) . M 60.-, geb. M 80.-
Auslandpreis . M 90.—, M 120 —
TeÜ "I: w!thrGe,SChreCitSkäIte dCF FraU- (Eine P^chopathologie des
weiblichen Liebeslebens.) Zweite, vermehrte Auflage im Druck
M 42.—, geb. M 60.—
T ., ... _, , Auslandpreis . M 60.-, „ M 90.-
nl rPH°tenc deS ManneS' (Die P^chis^en Störungen der
männlichen Sexualfunktion) M 50.-, geb. M 68.-
Auslandpreis . M 75.-, „ M 102.-
In Vorbereitung befinden sich:
TeilVu.VI:Psychosexueller Infantilismus. (Infantilismus, Exhibitio.
nismus, Fetischismus, Kleptomanie usw.)
Teil VII: Masochismus und Sadismus.
Teil VIII u. IX: Zwangsneurosen.
Teil X: Epilepsie.
Ein Ergänzungsband (Technik der Psychotherapie, Sachregister, zusanv
menfassende Erkenntnisse) soll folgen.
Teile ta Werl?eaC,htrg °nd VleIfaChe Würdi*un*' di* ^e bisher erschienenen
lf^-t T CrfUhren' ZeigCn die auf den f°lg^den Seiten abgedruckten
Auszuge aus den in- und ausländischen
Urteilen der Fachpresse*
Teil I: Nervdae Angstzustände and Ihre Behandlung.
„nH ™1 " " ^ Bwk " dietiefen Abgründe der menschliehen Seele ist viel zu unbewohnt
^2\72ZT- 1 "■*,*-" RiChtUnS MD ** Zn S6hr - Heuchele urch-
Ab ' d Sil Ahth daS,V°rbeSende S°f0rt anf freQdi^ Stimmung stoßen könnte.
Aber der heftigen Ablehnung, die es gelegentlich erfährt, mjjchie ich entgegenhalten d,ß
wir dem durch keine noch so leidenschaftliche Diskussion aus der Welt TSSL tI
sachenmatenal gegenüber die Pflicht haben, die Augen zu öffnen
(„Monatsschrift für pbysikal.-diätet. Heilmethoden.")
eSsant.*dV Dk ^^d^te- *• V<*^er gibt, sind als klinisches Material inter-
Psvcho, aDgeffebrD theraPeUÜSchen «Nahmen haften durchaus nicht einseitig an der
EÄJ3" weisen ™flich ancL für die Pro^e * n~ «*
(^Zeitschrift für Psychiatrie.")
525
. . . Bisher hat uns die Kasuistik der Freudschcn Analytik sehr gefehlt. Stekels
Buch füllt diese Lücke aus. Es ist sehr anregend und frisch geschrieben und ist darum
allen praktischen Ärzten, nicht nur den Spezialisten, aufs wärmste zu empfehlen, da der
offenen und verkappten Neurosen Legion ist und darum jeder Arzt mit ihnen zu rechnen hat.
(Jung in „Medizinische Klinik".)
... Es kann nicht schaden, wenn ein großer Kreis ärztlicher Leser sich ein eigenes
Urteil über die Methode bildet, wozu gerade die Lektüre dieses Buches des schriftstellerisch
begabten Verfassers besonders geeignet ist. (-„Berliner klinische Wochenschrift.")
. . . Fragen der Prophylaxe, insbesonders Nutzanwendungen der Freudschan Se-
xualtheorie auf die Pädagogik der frühesten Kindheit bilden den Schluß dieses reichhaltigen,
einem Gebiete von höchster Wichtigkeit gewidmeten Buches. („Fortschritte der Medizin.")
Dem Buche liegt ein großes und interessantes kasuistisches Material zugrunde. Die
Darstellung des Verfassers ist so gewandt und fesselnd, daß man ihm bei seinen Ausführungen
gerne folgt .... („Deutsche mediz. Wochenschrift.")
. . . Nell'insieme, lo studio del dott. Stekel rivela una conoscenza perfetta della
macchina „uomo"; e di una evidenza estrema; porta ad applicazioni terapeutiche e profi-
lattjche di un valore indiscutibile ; ha il merito di uno stile fluido ed elegante, il quäle
obbliga quasi a divorare il libro di un fiato. ... ,u p0ij0ij ■ u\
Auch der praktische Arzt findet in dem geistvollen und gescheiten Buche eine Menge
nützlicher Hinweise. Wichtig genug sind diese Zustände für den praktischen Arzt, umfassen
sie doch nach Stekel zugleich fast alle Krankheitsbilder, die bisher Neurasthenie bezeichnet
wurden. (liohrsoliacJi im „Correspondenzblatt für Schweizer Ärzte".)
Ebensowenig wie die Leistungen Freuds sollen die Arbeiten seines ebenbürtigsten
Schülers verkleinert werden. Sie alle sind mit ihren Vorzügen und Fehlern auf dem Wege
zu einer fortschreitenden Erkenntnis gelegen. Wer mit kritischem Geiste und ohne Vorurteil
den in sich widerspruchsvollen Arbeiten Stekels folgen will, wird immer Anregung,
manchmal Bereicherung seines Wissens erfahren' und darüber die nicht seltenen Widersprüche
geringer einschätzen. Deshalb wird das vorliegende Buch' dem erfahrenen Neuropsychologen
willkommen sein. iAifrtA Adler Jn jiSexnalproblemeuj Juni m3 }
Ich halte Stekels Buch für eine hochwichtige Erscheinung.
(Bleuler in der „Münchener med. Wochenschrift".)
Cet apercu nous permet de nous borner ä signaler cet ouvrage comme un recueil
interessant d'observations de difförentes modalites de l'angoisse.
(Jf. Ternel in „Kevne Nenrologique".)
All kinds of neurotic and hysterical Symptoms are most ingeniously traced by
analysis, and the results recorded testify to the value of Freud's methods. even if one is
not convinced as to tbe accuracy of the theories and interpretations.
(„New York rnedical Journal.")
Ich halte Stekels Buch über Angstzustände für ein Standard work, einen Markstein
in der psychiatrischen, speziell psychotherapeutischen Literatur.
(Geheimrat Dr. Gerskr in „Die neue Generation".)
Teil II: Onanie and Homosexualität.
... Es wäre lebhaft zu bedauern, wenn das vorliegende Werk nicht die volle
Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt fände, denn mit seinem tiefen Ernst und
seiner Fülle von kasuistischen Einzelheiten ist es eine Fundgrube der Erkenntnis, deren
526
Bedeutung wohl in erster Linie für den Arzt, aber in weitgehendem Maße auch für den
Erzieher, den Lehrer, den Geistlichen und nicht zuletzt für den Kriminalogen gegeben
ist . . . Das geistvolle, überall von dem Ernste des wissenschaftlichen Forschers durch-
drungene Werk, das zugleich eine feinfühlige universelle Bildung zum Ausdruck bringt,
verdient auch für das Gebiet der Kriminalogie eine weitgchonde Beachtung.
{Horch im „Archiv für Kriminalogie".)
Bin Werk eigenartigen, größtenteils aus dem Bahmen der gewohnten Anschauung nnd
Darstellung tretenden Inhaltes, der nicht ohne Widersprüche bleiben wird, aber nicht minder
die Vorzüge genußvoller Belehrung seitens eines vielerfahrenen Nervenarztes birgt. Ein
näheres Eingehen auf den speziellen Inhalt müssen wir uns bei der schier unerschöpflichen
Fülle des Gebotenen versagen. {Färbrlnger in der „Deutschen modiz. Wochenschrift".)
Auch wem diese Dinge gänzlich gleichgültig sind, der wird in diesem Buche eine
Fülle von Beobachtungen finden, die ihm die Tiefen des menschlichen Seelenlebens auf-
decken, so daß wir auf jeder Seite aufs neue gefesselt werden durch das Filigran werk der
Zusammenhänge, die sich vor uns auftun. (Marcinowski in der „Neuen Generation".)
Erfahrungen wie die Stekels müssen zur Kenntnis genommen werden. Jedenfalls
schreiten wir fort. Dies zeigt das Buch Stekels im Vergleich zu klassischen Werken über
Sexualpathologio. (Raimann in „Jahrbücher für Psychiatrie".)
Der Wert und die Bedeutung des Stekelschen Buches liegen aber weniger in
diesen theoretischen Auseinandersetzungen, als in den zahlreichen mitgeteilten eigenen
Beobachtungen mit meist sehr ausführlicher und sorgfältiger psychoanalytischer Dar-
legung. Diese Krankengeschichten wird wohl jeder, auch der Psychoanalyse mit Zurück-
haltung gegenüberstehende Arzt mit großem Interesse lesen.
(Eulenburg in „Mediz. Klinik".)
Teil III : Die Geschlcchtskülte der Iran.
Jeder, der ein wahrer Frauenarzt ist, sollte sich in dieses Buch vertiefen. Eine ge-
waltige Erfahrung spricht aus Stekels Buch; eingehende Krankenschilderung, fesselnde Dar-
stellung, überlegene Entwirrung verwickeltster und verfahrenster Seelenvorgänge stempeln
es zu einer bedeutenden Erscheinung des Büchermarktes und ziehen auch den, der nicht
allen Folgerungen des grundgescheiten , belesenen Autors folgen mag, von der ersten bis
zur letzten Seite in den Bann der meisterhaften Verarbeitung.
(Krittler in der „Med. Klinik".)
Het belangrijke van dit boek blijft dan ok het diep gaande inzicht, dat Stekel
ons geeft in het ontstaan en wezen der dysparennie en het feit, dat hij ongekende per-
spectieven opent bij de bestrijding dezer afwijking. Dj het bijzonder moeten deze
vraagstukken den vrouwenartsen ter harte gaan.
(Van der Cliijs in „Neederlandsch Tijschr. voor Geneeskundo".)
Stekels außergewöhnliches Verdienst ist es, daß er uns zwingt, von einer er-
drückenden Fülle von Tatsachen Kenntnis zu nehmen, die er uns mit leider noch immer
beispiellosem wissenschaftlichen Mut zur öffentlichen Beachtung unterbreitet, Beobach-
tungen, die so ins Einzelne gehen, so lebenswahr sind, daß es oft eines besonderen
Beweises für daraus zn ziehende Schlußfolgerungen nicht mehr bedarf.
(„Die neue Generation.")
Ein sehr lesenswertes und trotz mancher Längen in den Lebensberichten inter-
essantes Buch, das sicher zu den besten Büchern über die sexuelle Seite der Frauen-
527
psycho gehört. Die modernsten Fragen werden berührt, neue Gesichtspunkte gesucht,
Übertreibungen in Methodik und Deutung der Psychoanalyse früherer Perioden ver-
mieden. (Kermauner in „Wiener klinische Wochenschrift".)
Alles in allem ist das Buch Stekels ein Werk, dem ich -weiteste Verbreitung
wünsche, nicht nur in den Kreisen der Ärzte, sondern auch in den Kreisen der Joristen
und Pädagogen, der Natioualökonomen und Theologen. Erst das Verständnis des Seelen-
lebens des Individuums kann Verständnis für die Seele der Völker erwecken.
(Liepmann i. ä. „Zeit6chr. f. Soxualwissonsch ".)
Von Dr. Wilhelm Stekel erschien im Verlage von J. F. Bergmann in Wiesbaden:
Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes.
Die Sprache des Traumes. Eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in
ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele.
Die Träume der Dichter. Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Triebkräfte
bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern.
Der Wille zum Schlaf. Altes und Neues über Schlaf und Schlaflosigkeit.
Äskulap als Harlekin. Humor, Satire und Phantasie aus der ärztlichen Praxis. (Unter
dem Pseudonym: Dr. Serenus.)
Im Verlage von Paul Knepler in Wien:
Was im Grund der Seele ruht. II. und III. Auflage.
Nervöse Leute. (Kleine Federzeichnungen aus der Praxis.)
Masken der Sexualität. (Der innere Mensch.)
Die Broschüren: „Ursachen der Nervosität." — „Keuschheit und Gesundheit." —
„Das nervöse Herz." — „Der nervöse Magen."
Im Verlage von Otto 8 alle, Berlin:
Das liebe Ich. Grundrisse einer neuen Diätetik der Seele. H.Auflage.
Der Wille zum Leben. (Neue und alte Wege zum Glück.)
Druck von Gottlieb Glstel & Cle., Wien, m., MünzgaBsc 6.
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Verlag von Urüan & Sehwarzenberg in Berlin und Wien.
Lehrbuch der Nervenkrankheiten
für Studierende und praktische Ärzte
in 30 Vorlesungen.
Von Prof. Dr. Robert Bing-Basel.
Zweite, vermehrte und vollständig umgearbeitete Auflage.
Mit 162 zum Teil mehrfarbigen Textabbildungen. Etwa M 72.—, geb. M 90.
Kompendium "
der
topischen Hirn- und Rückenmarksdiagnostik.
Kurzgefaßte Anleitung zur klinischen Lokalisation der Erkrankungen u. Verletzungen der Nervenzentren.
Von Dr. Robert Bing,
Professor an der Universität Basel.
Vierte, verbesserte und vermehrte Auflage.
Mit 97 zum Teil mehrfarbigen Abbildungen. M 30.—, geb. M 48.—.
Diagnose
der
Simulation nervöser Symptome
anf Grand einer differentialdiagnostiscüen Bearbeitung der einzelnen Phänomene.
Ein Lehrbuch für den Praktiker.
Von Prof. Dr. Siegmund Erben - Wien.
Zweite, vielfach ergänzte und erweiterte Auflage.
Mit 25 Textabbildungen und 3 Tafeln. M 38--> 8eb- M 50_*
Verlag von Man & Schwarzenberg, Berlin und Wien.
Die Therapie der Haut- und venerischen Krankheiten
• mit besonderer Berücksichtigung: der Behandlungstechnik
für Ärzte und Studierende.
D Von. Prof. Dr. J. Schaeffer-Breslau.
Vierte, vermehrte und verbesserte Auflage.
Mit 90 Abbildungen im Texte. \ Geb. M 36.—.
Grundzüge der Behandlung von Haut-
und Geschlechtskrankheiten
dargestellt von Dr. Leopold Pulvermacher, Berlin.
Kart. M 18.—.
Syphilis und syphilisähnliche
Erkrankungen des Mundes
für Ärzte, Zahnärzte und Studierende.
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Von Dr. Ferd. Zinsser,
t o. Prof. und Direktor der Universitätsklinik für Hautkrankheiten zu Köln.
Zweite, durchgesehene Auflage.
Mit 51 mehrfarbigen und 17 schwarzen Abbildungen auf 44 Tafeln. Etwa M 60. — , geb. M 90. .
Urologisches Praktikum
mit besonderer Berücksichtigung der instrumentellen Technik
für Ärzte und Studierende.
Von Sanitätsrat Prof. Dr. J. Colin, Berlin.
Mit 79 zum Teil farbigen Abbildungen im Texte und auf 3 Tafeln. Kart M 24
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Druck von Göttlich QiBtel * Cie., Wien, in., Münzgasse 6. %