INFORMATIONSDIENST
SOZIALARBEIT
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Offenbach im April 1981
Doppelnummer — Preis DM 9,--
Dieser Informationsdienst Sozialarbeit wird im Sozialistischen Büro von Gruppen,
die im Sozialisationsbereich arbeiten, herausgegeben. Der Info dient der Kommu-
nikation und Kooperation von Genossen, die mit sozialistischem Anspruch im
Feld der sozialen Arbeit tätig sind.
Folgende Hefte sind noch lieferbar:
Heft 5: Organisierung im Sozialbereich e 7:Jugendhilfetag und Sozialistische
Aktion 1974 e 8: Reformismus in der Sozialarbeit e 10:Sozialarbeit im Knast ©
12: Stadtteilbezogene Sozjalarbeit e 13: Sozialarbeit und Jugendarbeitslosigkeit ©
14: Alternative Psychiatrie — Sonderpreis: jedes Heft DM 2,--
Heft 16: Gewerkschaftsarbeit in der ÖTV (88 Seiten, DM 5,--)
Heft : Kindergartenarbeit (96 Seiten, DM 5,--)
Heft 18: Jugendhilferecht — Jugendhilfetag (96 Seiten, DM 6,--)
Heft 19: Heimerziehung (168 Seiten, DM 8,--)
Heft 20: Sozialarbeiterausbildung (104 Seiten, DM 7,--)
Heft 21: Familienfürsorge (80 Seiten, DM 5,--)
Heft 22: Jugendhilfetag 1978 in Köln/Geschlossene Heimerziehung (DM 7,--)
Heft 23: Frauen und Sozialarbeit (144 Seiten, DM 8,--)
Heft 24: Psycho-Methoden in der Sozialarbeit (96 Seiten, DM 6,--)
Heft 25: Materialien zur Sozialhilfe-Aktion (96 Seiten, DM 6,--)
Heft 26: Kritik zur psychosozialen Versorgung (80 Seiten, DM 6,--)
Heft 27: Neuorganisierung sozialer Dienste (112 Seiten, DM 8,--)
Herausgeber: Sozialistisches Büro
Postfach 591, Ludwigstr.33, 605 Offenbach 4
Verleger: Verlag 2000 GmbH Offenbach
Erste Auflage: April 1981, 5000 Exemplare
Alle Rechte bei dem Herausgeber
Vertrieb: Verlag 2000 GmbH, 605 Offenbach 4
Postfach 591 — Telefon: 0611/885006
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Abonnement 1981 (Heft 28 - 31): DM 15,-- + 4,-- Versand
Verantwortlich: Redaktion Info Sozialarbeit
Presserechtlich
verantwortlich: Günter Pabst, Offenbach
Druck: hbo-druck, Einhausen
ISSN: 0170 - 2688
ISBN: 3-88534-019-4
INFO SOZIALARBEIT, HEFT 28/29
Vorbemerkung zu dieser Ausgabe 3
Rolf Schwendter
ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT 5
Peter Ahlheit
KOMMENTAR ZU DER EXPERTISE "ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT" 25
Christel Neusüß
DIE KRITIK DER ALTERNATIVBEWEGUNG AM SOZIALSTAAT 29
Heinz Steinert
"ALTERNATIV'"-BEWEGUNG UND SOZIALARBEIT
ODER WIE "DER STAAT" DIE PROBLEME ENTEIGNET UND WARUM MAN IHN
TROTZDEM NICHT EINFACH RECHTS LIEGEN LASSEN KANN 45
Ilona Kickbusch
VON DER GEBRECHLICHKEIT DER SONNE -
EINIGE GEDANKEN ZU SELBSTHILFEGRUPPEN 67
Hans Drake
ÖKOLOGISCHE STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA 79
Detlev Lecke/Thomas Tschöke/Manfred Wittmeier
ÖKOLOGIE UND JUGENDARBEIT - BORKEN 6 UND BORKEN 9
SKIZZEN EINES PROJEKTES DER BILDUNGSARBEIT AUF DEM LAND 93
Roland Roth
MÖGLICHKEITEN POLITISCHER BILDUNG IM STADTTEIL 103
Rolf Schwendter
ÖKOLOGIE, SOZIALARBEIT, ARBEITSFELDER
-EINIGE DEPRIMIERTE NOTATE - in
BERICHTE -~ HINWEISE - MATERIALIEN 127
Seit über einem Jahrzehnt erscheinen im
Verlag 2000 des Sozialistischen Büros Bro-
schüren, insbesondere für die verschiede -
nen Arbeitsfelder. Dieses Programm wird
jetzt durch eine breit konzipierte Taschen-
buchreihe ergänzt.
ur konkreten Utopie
der gesellschaftlichen
Arbeit
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gesellschaftlicher Arbeit
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schluß an die ersten Ernst-Bloch-Tage
1979 160 Seiten, DM 10,--
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schaftlichen, und das heißt auch der indu-
striellen Arbeit entwickeln? Mit dieser The-
matik wurde an die Bloch-Tage
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Verlag 2000 veröffentlicht wurden und in
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Band 2: Erfahrungen — Sozialisten
bearbeiten ihre politische Sozialisation
Hrsg. von G. Koch und V. Brandes
Mit Beiträgen von H. Stubenrauch, H.
Obenland, S. Tesch, H. Mühleisen u.a.
216 Seiten, DM 12,--
Das Wort von der Krise der Linken macht
die Runde. Zeit also, eine Bestandsaufnah-
me zu versuchen und sich mit den eigenen
Erfahrungen auseinanderzusetzen.
Band 3: Ellen Diederich
“Und eines Tages merkte ich,
ich war nicht mehr ich selber,
ich war ja mein Mann”
Eine politische Autobiographie
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Band 4:Teufel, Teufel! Trau keiner
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GmbH zum Kampf um die 35-Stunden- Wo-
che. Theater, Lieder, Film und Video im Ar-
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tel sind im linken Buchhandel erhältlich,
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VORBEMERKUNG ZU DIESER AUSGABE
Unter den Bedingungen einer strukturellen ökonomischen Krise, ver-
schlechterten Reproduktionsbedingungen und des Zurückdrängens von
Reformmodellen und - vorstellungen veränderten sich politischer
Spielraum und Arbeitsbedingungen auch für linke Sozialarbeiter,Lehrer
und Gesundheitsarbeiter. Das Selbstverständnis einer politisch ver-
standenen Sozialarbeit war das der Parteilichkeit für und mit den
Betroffenen, war Sozialarbeit als politische Praxis zu begreifen,die
gemeinsam mit den Betroffenen Bedingungen zur gesellschaftlichen Ver-
änderung herstellt: Erziehung zum Klassenkampf und revolutionäre Be-
rufspraxis. Die Arbeit in Projekten, Modellen, Reforminstitutionen
schien eine weitgehende Identifikation von beruflicher Praxis und
politischer Praxis zu ermöglichen.
Hier lag auch die politische Sprengkraft des Arbeitsfeldansatzes. Er
beharrte auf der Notwendigkeit sozialistischer Politik im Reproduk-
tionsbereich, weil die geschichtliche Erfahrung wie auch die Kämpfe
der 60er Jahre zeigten, daß der Kapitalismus nicht auf die Fabrik
zu reduzieren ist. Weil der Bezug zur Gesamtgesellschaft nicht über
die Moral des "Dem Volke dienen" hergestellt werden sollte, sondern
über die "eigenen" im jeweiligen gesellschaftlichen Bereich erfahrenen
Widersprüche.
Theoretisch wurde zwar in allen Analysen die Herrschafts- und Kon-
trollfunktion von Sozialarbeit herausgearbeitet , auf der praktischen
Ebene aber kaum berücksichtigt, weder in der politischen Arbeit, noch
in den Reformprojekten, noch in der institutionellen Arbeit.
Im Nachhinein besehen, verwundert es nicht, daß viele Vorhaben und
Vorstellungen in die sozialliberalen technokratischen Reformen einge-
fangen wurden.
Eine Antwort auf das Zurückdrängen von Reformen, auf staatliche Re-
pression war eine verstärkte Hinwendung und Suche nach Alternativen
und das Aussteigen aus der Sozialarbeit. Im Arbeitsfeld - als organi-
sierter Ausdruck politisch miteinander kooperierender und handelnder
Gruppen und Individuen - begann vor zwei Jahren eine "Aussteigerdis-
kussion' Die Aussteigerdiskussion reflektiert dabei nicht nur die
Suche nach Alternativen im und außerhalb des sozialpädagogischen Be-
reichs, sie reflektiert auch die sogenannten "neuen sozialen Bewe-
gungen", vor allem die Ökologiebewegung und Alternativbewegungen.
Für viele war dies der Hoffnungsschimmer, um aus dem Dilemma der Be-
rufsfeldbornierung herauszukommen. Anti-AKW-Arbeit wurde von vielen
als Versuch verstanden, sich als linker Sozialarbeiter wieder in einen
gesamtgesellschaftlich-allgemeinpolitischen Zusammenhang zu begeben
(und ganz nebenbei die Auseinandersetzung um die politische Praxis
im Sozialbereich aufzugeben). Diese Bewegungen sind für viele des-
wegen so wichtig, weil in ihnen ja mehr thematisiert wird als die
Gegenerschaft zum bundesrepublikanischen Atomprogramm. Es geht -
teils bewußt teils unbewußt - um die Kritik am gesellschaftlichen
(Produktions-) Verhältnis zur äußeren und inneren Natur. Es geht bei
Teilen dieser Bewegung um eine neue direkte Betroffenheit in dem
Sinne, daß die Verbindung thematisiert wird von "Leben" und "Politik",
3
daß eine sogenannte "Politik der ersten Person" gemacht wird.(z.T.
äußern sich diese Interessen allerdings in recht diffusen, romantisch-
konservativen Vorstellungen von "Ganzheit"). Es geht - gerade den Al-
ternativen - um die Abkehr von der als entfremdet erfahrenen Arbeits-
und Lebenssituation, auch der des politischen Lebens.
Diese Thematisierung von Arbeit, Leben, Politik war ja gerade unter
den linken Kritikern der Sozialarbeit verbreitet gewesen - wenn auch
nicht unter "ökologischen" Vorzeichen. 2 À
Durch diese Bewegungen wurde den in der Sozialarbeit Tätigen die eig-
ene Entfremdung nochmals als Diskussionsgegenstand aufgezwungen:
die Reduktion auf den/die Beziehungsarbeiter(in) bzw. den/die Kom-
munikationsexperten(in). Von daher läßt sich die Aussteigetendenz
gerade in mehr handwerklich-handgreifliche Arbeitszusammenhänge er-
klären.
Das von der Ökologie- und Alternativbewegung geäußerte Unbehagen am
gegenwärtigen (kapitalistischen) Zivilisationsmodell heißt auf die
Sozialarbeit bezogen vor allem Kritik an Bürokratisierung, Zentral-
isierung, Sozialtechnisierung, Kontrolle und Verwaltung von Menschen
und fordert Selbsthilfe, Deprofessionalisierung - oft naive Rückkehr
zu "natürlicher Menschlichkeit". Hierbei besteht die große Gefahr,
an den Ursachen vorbei, die sozialpädagogische Intervention aller-
erst notwendig machen, zu Perspektiven zu gelangen, die u.E. nach für
sozialistische Politik nicht gangbar sind. Es besteht aber auch die
Gefahr, daß bei einem Teil der Linken staatliche Sozialarbeit ins-
gesamt als nicht mehr relevant angesehen wird.
So schreiben z.B. in der neuesten Ausgabe von päd.extra Sozialarbeit,
Heft 3/1981 Studenten der Fachhochschule Frankfurt in einem Beitrag
"Sozialarbeit und Startbahn West", daß der "Staat als späterer Ar-
beitgeber für sie nicht mehr in Frage kommt". Sie wollen nicht mehr
als "soziales Schmieröl" funktionieren". Für sie ist "der Staat, der
den Ausbau des Flughafens betreibt und dann seine sozialpolitischen
Tätigkeiten als Folge der durch ihn mit hervorgerufenen Schäden aus-
dehnt, nicht mehr glaubwürdig".
Die Analyse greift aber zu kurz, wenn sie eigenes Handeln davon ab-
hängig macht, ob staatliches Handeln noch glaubwürdig ist. Festzu-
stellen ist, daß die Vergesellschaftung des ökonomischen und sozialen
Lebens sich als fortschreitende Durchstaatlichung darstellt und d.h.
auch Entmündigung des Einzelnen und Verarmung des sozialen Lebens.
Sie geht einher mit einer Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit
ökonomischer und sozialer Funktionen, die zu wachsender Inkompetenz
und Abhängigkeit des Einzelnen vom Staat führt. Die Ausweitung des
Staates, die Ausdehnung seiner Kontrollagenturen bedeutet aber nicht
nur Stärke und Stabilität, wie Joachim Hirsch in seinem Buch " Der
Sicherheitsstaat - Das Modell Deutschland und seine Krise und die
neuen sozialen Bewegungen" richtig feststellt. Sie bedeutet auch, daß
sich um staatliche Politik - auch im Reproduktionsbereich - neue
soziale und politische Auseinandersetzungen entwickeln.
Mit dem Heft "Alternativbewegungen, Ökologie und Sozialarbeit" wollen
wir dazu beitragen, die schlechte Trennung: hier "Alternative Sozial-
arbeit und da "Institutionelle" Sozialarbeit, versuchen ein Stück weit
aufzuheben, Kommunikation möglich zu machen, um politisch wieder
handlungsfähig zu werden bzw. zu bleiben. Gilt es doch der Einbindung
von Selbsthilfe in ein Konzept von Entstaatlichung und gesellschaft-
licher Refeudalisierung ebenso entgegenzutreten, wie der Funktionali-
sierung von Selbsthilfe als Effektivierung bestimmer sozialer Dienste.
Rolf Schwendter
ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT
BESTANDSAUFNAHME
Im letzten Jahrzehnt ist es im überwiegenden Teil der industriali-
sierten Länder privatkapitalistischer Wirtschaftsordnung zu einer
breiten Entwicklung selbstorganisierter, basisbezogener, alterna-
tiver Projekte gekommen. Auch wenn in der Literatur zumindest Einig-
keit darüber besteht, daß die weltweiten außerparlamentarischer Be-
wegungen 1967 bis 1969 hierfür eine Auslöserfunktion innehatten,
wird zum anderen häufig darauf hingewiesen, daß in allen langfristigen
Wirtschaftsabschwüngen der letzten beiden Jahrhunderte (1823 bis 1848,
1873 bis 1896, 1918 bis 1940, ab 1967) die Neigung zur Verstärkung
von Selbstorganisation und Selbsthilfe angestiegen ist.
Bei meiner Kurzübersicht über die Felder alternativer Sozialar-
beit/Sozialpädagogik beschränke ich mich zum einen (neben der ge-
legentlichen Nennung exemplarischer ausländischer Projekte) auf
die BRD unter besonderer Berücksichtigung Westberlins, zum anderen
auf Projekte, die zumindest vermittelt (s.dazu ausführlich unten)
auf Sozialarbeit/Sozialpädagogik sich beziehen. (Also nicht auf den
Großteil der Landkommunen, ökologischen Projekte, Bürgerinitiativen
gegen AKW, Mediengruppen etc.)
Daß ich-entgegen der "allgemeinen Gesichtspunkte"-mit der Behand-
lung "einzelner Felder" zu beginnen mich gezwungen sehe, resultiert
aus einem konsensfähigen Paradigma innerhalb der alternativen Be-
wegung (und den diesen nahestehenden Theoretikern) selbst: Es wird
von der Aktivität der Felder in der alternativen Praxis ausgegangen,
in der sich dann die strukturellen Probleme (und ihre Widersprüche)
vorfinden lassen , um sich letztlich (wengstens dem Anspruch nach)
in einer Totalität zu vernetzen, zu vereinigen (oder wie immer).
(Letztlich bei so verschiedenen Autoren wie Foucault, Illich, Negt,
Ohsawa wiederzufinden.)
Die Kinderläden (heute heißen sie nicht immer unbedingt so) waren
eine der ersten sozialen Innovationen, die 1968 entstanden sind.
Auch wenn sich ihre Ausbreitung in den letzten Jahren nicht linear
fortgesetzt hat, gibt es wohl weit über loo von ihnen; zusätzlich
eine Reihe von Kinderhäusern in größeren Städten (z.B.Hamburg,
München, Osnabrück). Gemeinsam ist ihnen das Entstehen aus Eltern-
Initiativen und eine ansatzweise Professionalisierung der Bezugs-
personen.
In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Kleinstheimen eingerichtet,
teils als Alternative zu Kinderheimen, teils zu Fürsorgeeinrichtungen.
Ihre Zahl entzieht sich meiner Kenntnis, da dieser Bereich in der
Forschung nur ungenügend dokumentiert ist (zusätzlich zum allgemeinen
Problem, daß es nur in wenigen Bereichen eine einigermaßen stimmige
Übersicht aller Projekte gibt, ich daher aus dem notwendigerweise
stets lückenhaften Material zu Schätzungen gezwungen bin). Sie
sind meist von einzelnen Sozialarbeitern oder Sozialpädagogen ins
Leben gerufen worden: daher (das konsensuelle Paradigma bezieht sich
zumeist auf Kollektivität) sind sie in der alternativen Bewegung
wenig beliebt und werden häufig vernachlässigt. (Siehe auch den
Meineringhausen-Konflikt in den Netzwerken Selbsthilfe Berlin und
Nordhessen.)
Die Schüler betreffend, ist der Strang der Schül ä (z.B. Schüler-
laden Rote Freiheit um 1970) nicht weiterentwickelt worden. In den
freien Schulen findet ansatzweise eine integrierte Schulsozialarbeit
statt. Diese leidet (wie überhaupt das freie Schulwesen in der BRD)-
etwa im Gegensatz zu Tvind (Dänemark) und den über 500 freien Schulen
in den USA-unter der restriktiven bundesdeutschen Schulgesetzgebung,
die auf diesem Feld zu einem faktischen Monopol der Waldorf-Schulen
geführt hat. (Hier stellt sich dann Rudolf Steiners Didaktik in Wi-
derspruch zu seiner Gesellschaftstheorie.)Da die Nachfrage unverändert
vehement steigt, ist in so gut wie allen alternativen Schulprojekten
eine Vorverlagerung des Numerus clausus auf das 3. bis 6. Lebens-
jahr die Folge. Der Professionalisierungsgrad entspricht zumeist dem
der Kinderläden.
Weiterhin bestehen in der BRD als Alternativen zu Heimerziehung zu-
mindest 50 Jugendwohngemeinschaften, die sich in der Koordinations-
stelle für Jugendwohngemeinschaften e.V. (bei der AG SPAK angesiedelt)
vereinigt haben. Die Bandbreite der Struktur dieser Jugendwohngemein-
schaften scheint ziemlich groß zu sein: von stärker strukturierten
JWGs mit hauptamtlichem Sozialarbeiter bis zur (gleichzeitig als
eingetragener Verein fungierenden) Landkommune mit l-2 Heimjugend-
lichen ist alles vorfindbar.
Verhältnismäßig deutliche Aussagen sind zum Feld der Jugendzentren
in Selbstverwaltung zu machen. Von diesen gibt es ungefähr looo bis
1200 Vereine oder Initiativen, die sich in etwa 50 Regionalzusammen-
Schlüssen organisiert haben (Region wird hier meist eher kleinrahmig
verstanden), eine gemeinsame "Wandzeitung'' herausgeben, und in Kon-
takten vor allem zur AG SPAK, zum Bund deutscher Pfadfinder, zu den
Jungdemokraten stehen. (Hier gibt es auch deutliche regionale Unter-
schiede.) Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig in der Provinz (z.B. Lüne-
burger Heide, Saarland, Baden-Württemberg), und wo sie erfolgreich
gearbeitet haben, besteht die Tendenz zur Ausweitung zur Provinz-
Gemeinwesen-Arbeit (exemplarisch hier der Traum-a-Land e.V. Wertheim).
Die Hauptamtlichenfrage macht traditionell einen Konfliktpunkt in der
Jugendzentrenbewegung aus (s.unten).
Den Sgzialtherapeutischen Bereich betreffend kann ich mich bei allen
jenen (zielgruppenbezogenen rbeitsfeldern kurz fassen, in welchen
Alternativen erst ansatzweise bestehen. In der Altenarbeit stehen
die Grauen Panther" (d.h. die Selbsthilfegruppen alter Menschen)-
ya Gegensatz zur USA-in der BRD erst am Beginn (Wuppertal). Im
trafvollzugswesen beschränken sich (neben vereinzelten Entlassungs-
Bau en”z.B. Mannheim-und Wohngemeinschaften-z.B. Stuttgart) die
Ef auf Laienhelferarbeit in den Jugendvollzugsanstalten,
T in den vergangenen Jahren in den einzelnen Bundesländern
a s lgemeine Verfügungen (AV) noch weiter eingeschränkt worden
Sozialteaı „reichende Möglichkeiten sähe ich in den Gruppen des
Selbsthilg. 8° Berlin-Tegel-und in einer Analogie zur norwegischen
art !lfeorganisation KROM; an eine alternative sozialtherapeutische
t ist infolge des staatlichen Gewaltmonopols nicht zu denken).
In der Behindertenarbeit finden seitens des Clubs Behinderter und
ihrer Freunde Basisaktivitäten (eine Mischung aus-Laienhilfe und
Selbsthilfe) statt; weitergehende alternative Einrichtungen (Ambu-
lanzen) fehlen hingegen zumeist. Das Interesse an Basisaktivi-
täten in der Ausländerarbeit ist nach einem Hoch zu Beginn der 7oer
Jahre (wohl bewirkt durch die Theorie vom "multinationalen Massen-
arbeiter" als Subjekt gesellschaftlicher Veränderung) etwas zurück-
gegangen: es wirken Ausländervereine und der "Verband der Initiativen
in der Ausländerarbeit'" (VIA).
Hingegen ist durch die erfolgte Verbreitung der Frauenbewegung ein
großer Schritt nach vorne in der selbstorganisierten Frauensozial-
arbeit gemacht worden. Es bestehen (einschl. der Initiativen) über
2ọ Frauenhäuser, an die 80 Frauenzentren, von diesen ausgehend eine
große Zahl von Frauenselbsthilfegruppen und Frauenselbsterfahrungs-
gruppen (vor allem im gynäkologischen und psychotherapeutischen Bereich),
eine unterschiedlich weitreichende feministische Infrastruktur (Buch-
läden, Cafes, Kneipen, Läden, Tagungshäuser, Verlage, Zeitschriften),
in Berlin auch das Frauengesundheitszentrum FFGZ. Darüber hinaus wirkt
die Frauenbewegung auch in andere alternative Projekte (etwa durch
Frauengruppen in Jugendzentren, Patientenclubs, Kommunikationszentren)
und in offenere etablierte Einrichtungen (z.B. Pro Familia e.V.)
hinein. Im Gegensatz etwa zu den Jugendzentren (deren Selbstverwaltungs-
anspruch ein hauptamtlicher Sozialarbeiter häufig als aufgeherrschtes
Organ staatlich-kommunaler Kontrolle erscheint) wird hier mehr Pro-
fessionalisierung angestrebt, als bislang von staatlich-kommunaler
Seite zugestanden und finanziert wird (s. den fast bundesweiten Kon-
flikt um die Finanzierung der Frauenhäuser),
Hier kann ich auch dem Anspruch genüge tun, "unter besonderer Berück-
sichtigung Berlins" zu verfahren. Während in den vorgenannten Feldern
nur zu sagen ist, daß es das halt auch in Berlin gibt, ist die fe-
ministische Infrastruktur in Berlin wohl die bislang bestausgebaute
im bundesdeutschen Raum. Erkauft wird dies mit einer besonders in
Berlin feststellbaren Fragmentierung der alternativen Bewegung, die
keinesfalls auf die Basisaktivitäten der Frauen zu beschränken ist
und auf die unten noch weiter eingegangen werden muß.
Ähnliches ist auch für das Feld des Gesundheitswesens zu sagen. Im
allgemein-medizinischen Bereich bildet Berlin mit seinen beiden großen
alternativen Gruppenpraxen/Gesundheitsze (Gropiusstadt, Heer-
straße) den einzigen Schwerpunkt neben dem Rhein-Main-Raum (Ried-
stadt, Frankfurt, zahnärztliche Gruppenpraxis Pfungstadt/Weiterstadt),
mit seinem Gesundheitsladen (der sich der gigantischen organisatorischen
Aufgabe des "Gesundheitstages 1980'' gewachsen erwies), dem einzigen
neben Bayern (München, Würzburg-Zellerau), mit seinen Ansätzen alter-
nativer medizinischer Prävention in der " Fabrik für Kultur, Hand-
werk und Sport" den gleichfalls im Geltungsbereich des Grundgesetzes
führenden Zusammenhang. Dabei ist zu erwähnen, daß dieser Bereich
zwar eher stark professionalisiert, die Gründung von Selbsthilfe-
gruppen jedoch in allen genannten alternativen Einrichtungen pro-
grammatisch ist. Nichtsdestoweniger darf aber nicht verschwiegen
werden, daß die Alternativen der Sozialmedizin noch bundesweit
ganz am Anfang stehen, und einer starken Ausdehnung im Laufe der
8oer und 90er Jahre bedürfen.
Im Bereich der Arbeit mit Drogenabhängigen (auch hier besitzt Berlin
mit dem Synanon e.V. einen bedeutenden Träger mit alternativem An-
spruch) ist bedauerlicherweise die Prognose voll eingetroffen, die
ich zu Beginn des Jahrzehnts (in "Subkultur und städtische Kultur-
politik" bzw. "Subkultur und Subvention") angedeutet habe. Die Subven-
tionierung alternativer Träger ist durch die Subventionierung weniger
alternativer Träger abgelöst worden; den Rest gab manchem Projekt
die Eistellung der ( zudem neopositivistisch ausgewerteten) staat-
lichen Modellförderung. (Mit der Folge, daß heute auch die nach langem
Kampf noch bestehende Free Clinic Heidelberg eher den Gruppenpraxen
allgemeinmedizinischer Art als der Drogenarbeit zuzurechnen ist.)
Zum Teil deshalb (zum Teil aus inneren Widersprüchen, die nie auf-
gearbeitet worden sind) ist die auf Selbsthilfe bezogene "reiche"
Release-Bewegung (1973 an die 30 Gruppen umfassend) durch eher fremd-
bestimmte, "harte" Therapie-Ketten (Niedersachsen, Daytop, Synanon)
abgelöst worden. So daß die Drogenarbeit derzeit ihren alternativen
Scherbenhaufen darstellen kann, anstatt einer "mittleren" Selbsthilfe-
bewegung. (Nicht zu reden von den Alkoholabhängigen: hier gibt es
zwar eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen, die sehr rührig arbeiten,
jedoch ausnahmslos mehr oder weniger christlich geprägt sind. Selbst-
hilfegruppen für nicht christlich orientierte Alkoholabhängige fehlen
allerorts.)
Schließlich die Sozialarbeit mit psychisch Kranken. Auch hier sind-
insbesondere nach dem Erscheinen der Psy-chiatrie-Enquete 1975-
viele alternative Einrichtungen und Basisinitiativen entstanden;
auch hier liegt derzeit ein Vorsprung Berlins (mit der Theta Wedding
als erster therapeutischer Tagesstätte, dem Kommrum als umfassendem
zielgruppenbezogenem Kommunikationszentrum-beide haben den selben
Trägerverein-und einer alternativenfreundlichen Berliner Gesell-
schaft für Soziale Psychiatrie) vor. Zu nennen sind Therapeutische
Wohngemeinschaften, Patientenclubs, Beschwerdezentren, Beratungs-
stellen, Kriseninterventionsdienste, Laienhelfervereine, Selbst-
hilfegruppen, humanistische Therapieinstitute (was bislang leider
völlig fehlt, sind Alternativen zu den "Beschützenden Werkstätten").
Wie bei den Jugendwohngemeinschaften ist hier der Grad der Pro-
fessionalisierung außerordentlich unterschiedlich und widersprüch-
lich: von ihrer brachialen Ablehnung ("Iatrokratie")durch die "Patien-
tenfront" bis zur affirmativen Stellung zu staatlichen Großprojekten
(z.B. Verein Freundeskreis Treysa e.V.) oder zum Markt ("'Psycho-Boom")
lst alles vorhanden. Koordinationsmöglichkeiten bestehen gleich
mehrfach: DGSP, AG SPAK, Bundesverband Selbsthilfegruppen, Sensus e.V.,
Dachverband psychosozialer Hilfsvereine.
Wie bei den Schulen besteht auch bei den Krankenhäusern gleichsam
Es dullroposophisches Monopol (am bekanntesten Herdecke).
isan Pie aa daß die Arbeitslosigkeit (einschl. ihrer sekun-
ET eE wie Arbeitshetze) sowohl für die Sozialpäda-
an einge als auch für die Enstehung alternativer Projekte
auf alle a e spielt. Abgesehen vom Einfluß der Arbeitslosigkeit
die Rede regen alternativer Ökonomie (von velener hier nur soweit
sind) haben a die sozialpolitischen Projekte betroffen
explizit als ae ig ee TZ Dis zu 50 Projekte beansprucht,
Psychiatri ernative ür arbeits ose Jugendliche, Trebegänger,
eentlassene, Fürsorgejugend etc. zu arbeiten. Ein großer
Teil dieser Projekte scheiterte (z.B. Selbsthilfe Kassel) oder
verlagerte seine Ansprüche von der Arbeit mit Arbeitslosen weg zum
Kontakt mit der Arbeiterbewegung (z.B. Arbeiterselbsthilfe Frank-
furt). Die verbleibenden Projekte ( am bekanntesten die Sozialistische
Selbsthilfe Köln; in Berlin wäre das Thomas-Weisbecker-Haus zu nennen)
sind weithin am Markt (teils an privaten Revenuen) orientiert, und
lehnen eine sozialarbeiterische Professionalisierung strikt ab.
Jedenfalls ist hier das bei den psychisch Kranken Gesagte zu wieder-
holen: es mangelt deutlich an alternativen Produktions-und Repro-
duktionsmöglichkeiten für Arbeitslose.
Blieben die Bereiche aus dem Umkreis der gemeinwesenbezogenen Bildungs-
arbeit wie der Gemeinwesenarbeit. In letzter Zeit entstanden zunehmend
Kreativhäuser (z.B, Münster - in den Niederlanden ist diese Form
längst etabliert und staatlich gut subventioniert, wenngleich Inhalte
und Verkehrsformen weithin alternativen Ansprüchen genügen) und
Reisende Schulen nach dem Vorbild von Tvind (Streitberg,Ayershausen,
Scholen). Analog zur Entwicklung in der Arbeiterbewegung (Natur-
freundejugend) hat eine Vielzahl (etwa 50) kleinerer Kollektive
alternative Tagungshäuser aufgebaut - 12 von ihnen koordinieren
sich selbst in der "Vereinigung selbstoganisierter Begegnungsstätten".
Hingegen wurden manche Stränge aus der Weimarer Republik (z.B. Arbeits-
schullager) nicht wieder aufgegriffen; auch werden Formen selbst-
organisierter dezentraler Erwachsenenbildungsarbeit, wie Lernbörsen,
Bildungsnetzwerk etc. im Anschluß an Illich und Dabholkar zwar dis-
kutiert (z.B. bei Dauber/Verne), doch ist noch keine einzige von ihnen
in der bundesdeutschen Praxis entstanden.
Die Kommunikationszentren, zuweilen auch (städtisch dezentral) sozio-
kulturelle Zentren und Kulturläden, meistens eingetragene Vereine,
manchmal in kommunaler Trägerschaft, mischen Anforderungen an eine
Vielzahl von ehrenamtlichen Mitarbeiter(innen) mit jeweils einem bis
einigen städtisch finanzierten Hauptamtlichen. Es gibt ca. 20 Kommu-
nikationszentren, die auch über einen bundesweiten Koordinations-
verein verfügen. Auch für die soziokulturelle Arbeit gibt es einen
Verband; beide sind ihrerseits mit der Kulturpolitischen Gesell-
schaft e.V. vernetzt.
An größeren Kommunikationsarealen gibt es meines Wissens die einzige,
bereits genannte "Fabrik" in Berlin-Tempelhof (im sozialarbeiterischen
Sinne strikt antiprofessionell), und auch die nur infolge kommunaler
Unterstützung (etwa in der Mietfrage) als auch infolge kommunaler
Subventionen (die im Falle des Netzwerks Selbsthilfe Berlin bereits
eine 6stellige Zahl erreicht hat). (An Vorbildern ist hier der Ko-
penhagener "Freistaat Christiana" - eine in vielem marktorientierte
Alternative - und die 1976 entstandene, geräumte und auf das Ausmaß
eines Kommunikationszentrums beschnittene Wiener "Arena" zu nennen.)
In der Gemeinwesenarbeit überwiegen wiederum (zumal nach der drastischen
Reduktion der trägerorientierten bzw. mödeTlversuchbezogenen haupt-
amtlichen Gemeinwesenarbeit der frühen 70er Jahre, einschl. der
Schließung der Viktor-Gollancz-Stiftung) die ehrenamtlichen selbst-
organisierten Basisaktivitäten. Dies betrifft sowohl die Arbeit von
Laienhelfern in Obdachlosensiedlungen (auf die Probleme, die entste-
hen, wenn jemand aus der Initiativgruppe als Hauptamtlicher eingestellt
wird, geht Horst Eberhard Richter ausführlich ein), als auch die
Entstehung von Mieterinitiativen, Bürgerinitiativen für/gegen Ver-
kehrsmaßnahmen, für Abenteuerspielplätze etc. Auf die Frage alter-
nativer Hauptamtlichenfinanzierung geht m. E. einzig Theodor Ebert
ein, der (Modellen aus den USA folgend) die Finanzierung von "community
organizers" durch jeweils lo-12 Familien diskutiert - bislang ohne
sichtbare Folgerungen.
Nicht zu vergessen bei der Erörterung von Gemeinwesenarbeit ist,
daß sich in den letzten lo Jahren die Wohngemeinschaften massenweise
durchgesetzt haben (schätzungsweise 10.000 Wohngemeinschaften mit
hoch über 100.000 Bewohnern). Längst haben sie das Umfeld des bloß
Studentischen überschritten, längst wohnen Tausende von Beamten,
Angestellten, Lehrlingen/Jungarbeitern, Schülern, Hausfrauen, Kin-
dern in Wohngemeinschaften. Auch hier ist die Vorrangstellung Ber-
lins unumstritten. Auch abgesehen von den bereits genannten Jugend-
wohngemeinschaften und Therapeutischen Wohngemeinschaften haben die
Wohngemeinschaften unzweifelbare Funktionen in der dezentralen "Er-
wachsenenbildung" (vor allem hinsichtlich des sozialen Lernens),
in der psycho-sozialen Prävention, in der Herstellung von sozialer
Infrastruktur in den betroffenen Stadtteilen (Läden, Teestuben, Medien,
Stadtteilfeste ...). Zum anderen stoßen Wohngemeinschaften (und
hier besteht von Ort zu Ort eine gewaltige Ungleichzeitigkeit) so-
eben mehr oder minder an die Grenzen ihrer Gemeinwesenarbeit: einer-
seits durch die Knappheit an jeweils lokal verfügbarer wohngemein-
schaftsgeeigneter Bausubstanz (jedenfalls Münster, Heidelberg, Mün-
chen), andererseits ist das Bestreben der Wohnungsspekulation, die
hierfür geeignete Bausubstanz durch Verwandlung von Mietwohnungen
in Eigentumswohnungen noch weiter zu vermindern.
Eine Folge dieser Entwicklung ist das Bestreben, sich über Miet-
vertrag oder Kaufobjekte zu sichern, die geeigneten Wohnraum für
gemeinsames Wohnen und gemeinsame häusliche Infrastruktur abgeben.
Hierzu ist der Mustermietvertrag der Mietgemeinschaft Haynstraße 1-3
(Hamburg) ebenso zu zählen wie das gemeinsam gekaufte Haus Breisa-
cherstraße 12 (München Heidhausen), die Bestrebungen der Artillerie-
straße 7 (München-Westschwabing), des "Urbanes Wohnen e.V." in München
und des Neubauprojekts in Graz-Raabe. (Zu ähnlichen Bestrebungen
sind zwischenzeitlich nach der vorerst nicht revidierten Räumung
des selbstverwalteten Studentenheims Collegium Academicum in Hei-
delberg auch Alt-Kollegiatenverein und Verein für die Wiedergründung
des CA gelangt).
Ahnlich den Lernbörsen und Bildungsnetzwerken (das Bemühen des al-
ternativen Vorlesungs-Verzeichnisses sei hier nachzutragen) muß
erwähnt werden, daß eine alternative Einrichtung in den letzten
Jahren ausgiebig diskutiert wurde (z.B. von Bierter, von Weizsäcker,
Huber, Geissberger), ohne daß es bislang zu den geringsten wahrnehm-
varen praktischen Folgen kam. Die Idee einer sekundärökonomischen
nüpfung von ca. 8o Personen/Familien zu gegenseitiger Hilfe,
gemeinsamem Gartenbau oder Handwerk, sozialtherapeutischer Inte-
re bislang ausgegrenzter Personen fasziniert zwar
en rue in die Praxis umgesetzt wurde sie aufgrund dieser Dis-
a Jedenfalls nicht. (Ich spreche hier nicht von Orten, wo
adıtıonelle Nachbarschaftshilfe noch aufgrund traditioneller
Überlieferung besteht, wie Schwerte oder Ghel/Belgien).
Zur ideellen Unterstützung bestehender, wie neu beginnender, al-
ternativer Projekte, wie zur Sammlung und (materiellen) Umvertei-
lung von Revenüen ist vor 2 Jahren das Netzwerk Selbsthilfe ge-
gründet worden. (Auch hier ging die Initiative von Berlin aus).
lo
Mittlerweile regional weithin dezentralisiert, mit zusammen über
5000 Mitgliedern versehen, hat es sich nach anfänglich schweren
Konflikten durchgesetzt (nur dort - in der Provinz - zu Recht nicht,
wo es tatsächlich ein Rückschritt gegenüber bereits erfolgten Zu-
sammenhängen wäre). Dies leitet zum nächsten Punkt über: die allent-
halben gestellte Frage, ob denn Netzwerk Selbsthilfe ein alternatives
Sozialamt wäre, ist kritisch gemeint.
STRUKTUREN, STRUKTURELLE WIDERSPRÜCHE,
WIDERSPRÜCHE IN DER THEORIE
Nach diesem Schweinsgalopp (Mann/Frau kann ihn auch als "Zusammenschau"
bezeichnen) durch die Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit
(wir sehen, außer dem klassischen Ämterinnendienst - zu dem ja gerade
selbstorganisierte Alternativen entwickelt werden - fehlt kein tra-
ditionelles oder neueres Arbeitsfeld) stellt sich die Frage, was in
diesen Alternativen an Strukturen (und entsprechend: strukturellen
Problemen und Widersprüchen) gemeinsam ist. Entsprechend wäre dann
in der Folge darauf zu reflektieren, wie sich die Erfahrungen dieser
realen Bewegungen in den verschiedenen Theoriebildungen niederschla-
gen.
Zum ersten teilen die Alternativen in der Sozialarbeit/Sozialpäda-
gogik mit ihren in etablierten Einrichtungen arbeitenden Kolleg(inn)en
das von Anselm Weidner bezeichnete Dilemma, in ein System eingebunden
zu sein (wenngleich nicht als "Funktionär"), das dieses Elend erzeugt,
welches sie abschaffen sollen ("Alternatives Sozialamt", siehe oben).
Zum zweiten steht die Alternative im Doppelcharakter (wie alle
Erscheinungsformen in der bestehenden Gesellschaft), gleichzeitig
Antizipation des "Noch nicht" (Bloch), des künftig vielleicht Mög-
lichen zu sein, gleichzeitig aber auch Abbild der bestehenden Ge-
sellschaft, zur zumindest partiellen Integration in jedenfalls eine
ihrer zentralen Institutionen (Markt oder Staat) verpflichtet (oder
dem Bezug von Revenüen von Personen, für die dies ihrerseits der
Fall ist).
Zum dritten ist ein struktureller Widerspruch schon in der Kurzüber-
sicht überdeutlich geworden. Aus dem Zwang zur Auslagerung immer
weiterer Momente des Reduktionsbereichs ergibt sich zum einen die
Entstehung eines (als solches auch gesellschaftlich von zunehmender
Bedeutung) Millionenheeres von Intellektuellen und solchen, die es
durch Studium werden wollen, welches sich - und bei zunehmender
institutioneller Arbeitslosigkeit gleichfalls zunehmend - um mög-
lichst selbstorganisierte "Arbeitsplätze kümmern muß; zum anderen
eine Gegentendenz gegen diese Auslagerung selbst, und für die Wieder-
aneignung der "eigenen Kräfte" ("forces propres") durch die in Selbst-
hilfe erfolgende Abschaffung professionalisierter Experten.
Zum vierten ist (durch die industriellen Vergesellschaftungsprozesse
und das mit ihnen verbundene Anwachsen der Staatstätigkeit) gleich-
zeitig festzustellen, daß die alternative Tätigkeit als weithin
vergesellschaftete begriffen wird, und daß die anwachsende Verge-
sellschaftung Bedürfnisse nach immer kleineren, überschaubaren
Arbeitsbereichen ruft (bis hin zum individuellen Aufbau von Kleinst-
heimen, Psycho-Boom-Einrichtungen oder Ambulanzen als Grenzfall).
(Zur Klarstellung der Definition muß ich nachtragen, daß unter
"klein/überschaubar" im allgemeinen Projekte verstanden werden, an
denen 3-30 Personen mitwirken. "Großprojekte" hingegen reichen
11
bei Alternativen etwa vom kleinen Kibbuz (etwa loo Personen) bis zur
Phalanstöre im Sinne von Charles Fourier (1620 Personen - soviele
wohnen auch im Aurobindo-Ashram in Pondicherry; die amerikanische
Großkommune "The Farm" umfaßt etwa 1200 Personen). "Größere" Pro-
jekte schlägt meines Wissens niemand vor.
Zum fünften ergibt sich aus den genannten Strukturen der Antizipation,
der ökonomischen Knappheit, der Überschaubarkeit, auch der juristischer
Restriktionen und der Modellversuchsökonomie eine Beschränkung vieler
Alternativen auf wenige betroffene Personen, während gleichzeitig
ein Anspruch auf umfassende Verallgemeinerung (zumeist mit Recht)
formuliert wird (Abschaffung aller psychiatrischen Landeskranken-
häuser, Ersatz der Fürsorge-Erziehungsheime durch Jugend-Wohngemein-
schaften, Dezentralisierung des Schulwesens etc.). Dadurch entsteht
ein Numerus-Clausus-Effekt (Freie Schulen, Drogenabhängige, WGs).
Zum sechsten reproduzieren sich (die Konkurrenz selbst
zählt zu den Strukturprinzipien von Gesellschaften, die auf dem
Warenaustausch basieren) mannigfaltige Konkurrenzen zwischen ver-
schiedenen alternativen Projekten: antizipative und integrative
Momente; etablierte Professionelle und alternative Professionelle f
und mit Professionellen kooperierende Basisinitiativen und Professio-
nelle (z.B. "introfaschistische") bekämpfende Basisinitiativen (nicht
zu reden von Professionellen, die gleichzeitig ehrenamtliche Mitarbeiter
in selbstorganisierten Basisinitiativen sind und von "sekundären
Experten", die sich in letzteren qualifiziert haben); kleine und
große, öffentlichere und privatere Projekte; eingeschränkte (frei-
willig oder unfreiwillig) und verallgemeinerte Zielgruppen; dazu
noch eine Vielfalt konkurrierender Normen sowie persönliche Zu-
und Abneigungen im jeweiligen lokalen Geflecht der Subkulturen und
Drehpunktpersonen. (Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig:
so fressen sich entgegen allen, so auch von ÖTV, DGSP, DVT etc.
formulierten Ansprüchen, in medizinischen und sozialtherapeutischen
Alternativprojekten die überkommenen Konkurrenzen zwischen historisch
und juristisch verschiedenen privilegierten Berufsgruppen hinein,
die selbst im Falle ökonomischer Gleichstellung - einheitliche Ent-
lohnung - nicht völlig auszuräumen sind). Diese mannigfaltigen Kon-
kurrenten erscheinen denn auch in den Konflikten der Frauenbewegung,
=B den Konflikten um Netzwerk Selbsthilfe (Peter Brückners subkulturelle
Klassenanalyse" deckt nur einen Teil hiervon ab) in einer Fragmen-
tlerung alternativer Bewegungen, die gerade für Berlin so bezeichnend
ist. Sie erscheinen aber auch konsequenterweise in der Vielfalt
teils konkurrierender, teils (seltener) solidarischer Dachorgani-
Sationen, deren mangelnde Vernetzung ein gemeinsames Vorgehen in
Sozialpolitischen Fragen häufig verhindert (nicht nur im Falle des
Netzwerks Selbsthilfe wird dabei klar, daß es sich auch häufig um
die Konkurrenz um verschiedene Revenüen handelt).
Schließlich, zum siebten, erscheinen die gesamtgesellschaftlichen
(widersprüchlichen) Entwicklungen, sehr vereinfacht gesprochen, als
konkurrierende wissenschaftliche Paradigmen, die ihrerseits Ein-
flüsse auf die alternativen Bewegungen und ihre theoretische Re-
flexion ausüben:
° das (letztlich vom Marktmechanismus und, entsprechend, vom frag-
mentierten Individuum ausgehende) (neo)positivistische Paradigma,
das die vereinzelte, sich kummulierende "Stückwerk-Reform" (Popper)
zum Ziele hat;
e das (letztlich vom Staatsinterventionismus und, entsprechend, von
der erheischten sozialen Kontrolle des Individuums beeinflußte)
systemanalytische Paradigma, das in "Ketten", "Infrastrukturen",
"Vernetzungen" denkt;
e das (letztlich vom zunehmenden Vergesellschaftungsgrad von Gesellschaft
und Individuum herrührende) ganzheitlich totalisierende Paradigma,
das sich auf Aufhebung von Trennungen ("gemeinsam leben-lernen-arbeiten"),
Arbeits-und Lebenszusammenhänge, kollektive Selbstbestimmung, Ineins-
fallen von Experten und Betroffenen, Helfer und Klienten etc. bezieht.
Kompliziert wird hier die Lage noch dadurch, daß (mit Notwendigkeit)
die genannten Paradigmen ineinander übergehen, ja, verfließen. Während
das (neo) positivistische Paradigma für die Alternativen geringere
Bedeutung hat (wir müssen auf dieses bei der Erörterung der kommunalen
Sozialpolitik zurückkommen), spielen die beiden letztgenannten (und
eine Kombination beider) auch in den Alternativen eine große Rolle.
Als nächstes ist mir aufgegeben, "vorhandene Positionen in einer Zu-
sammenschau" darzustellen und deren "Widersprüche und Differenzen"
herauszuarbeiten sowie " konsensfähige Gemeinsamkeiten" zu markieren.
Ich will dies versuchen, zumal es sich um Reflexionen auf reale Be-
wegungen handelt.
Beginnen wir damit, daß es Differenzen darüber gibt, was "Alternativen"
nun sind. Positionen, die Alternativen (als "zweite Kultur" oder "Sub-
kultur") in enger Bindung an die jetzt bestehende Gesamtgesellschaft
(als deren Negation und potentielle Aufhebung) formulieren (etwa Gramsci,
die Birmingham-Schule (Willis, Clark u.a.), Schwendter), stehen solchen
gegenüber, die Alternativen in taxativer Aufzählung darstellen (etwa
Hollstein/Penth). Konsensfähig sind hierbei im allgemeinen die auf-
gezählten Normen (die als Negation der Gesamtgesellschaft zumeist
interpretierbar sind), etwa Selbstentfaltung, keine Hierarchie, Auf-
hebung von Tätigkeitsfestschreibungen, Gegenöffentlichkeit. (In der
Praxis liegt die Gefahr der ersten Position in der Weitläufigkeit,
der zweiten im Dogmatismus).
Ähnlich verhält es sich mit den Positionen zu Antizipation (die zur
Isolation werden kann) und partieller Integration (die zur totalen
führen kann). Antizipative Jubelgesänge (etwa bei Jungk, Hollstein,
der ehemaligen AAO, Longo Mai) stehen integrationsverdächtiger Schwarz-
malerei (etwa bei Kraushaar, K. H. Roth, den Subrealisten) gegen-
über. Häufig (nicht bei allen) stellt sich in der Anerkenntnis des
Doppelcharakters (zumindest ein abstrakter) Konsens her. (In der Praxis
neigen häufig erfolgreiche (d.h. ihrem eigenen Anspruch weithin gerecht-
werdende) Projekte, oder solche im Anfangsstadium zur antizipativen,
gerade gescheiterte Projekte, Leute, die die Projekte verlassen haben
oder bei keinen mitarbeiten wollen, zur integrationsverdächtigenden
Position).
Die Frage "Markt oder Staat?" bestimmt sich oft nach der aussichtsrei-
cheren Revenüenquelle (Arbeiterselbsthilfen z.B. - eher Markt. Frauen-
häuser, Sozialtherapien z.B. - eher Staat), wobei sich, pragmatisch
der Konsens darüber herstellt, was von beiden (und von anderen Revenuen)
zu erhalten ist. (Theoretisch bezieht sich z.B. Illich stark auf den
Markt, z.B. Negt stark auf den Staat).
Ob nun Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit eher von
Alternativprofessionellen oder Basisinitiativen in Selbsthilfe durch-
geführt werden sollen, dazu gibt es nun eine Vielzahl von Positionen,
die auch nicht ohne weiteres konsensfähig sind:
èe Um ihre eigenen Ziele durchsetzen zu können, sollen Professionelle
in alternativen Einrichtungen arbeiten, dazu allerdings erhebliche
Einkommenseinbußen in Kauf nehmen bzw. ohne interne Lohndifferen-
zierungen arbeiten (z.B. Waldorf-Schulen, Tvind, Reisende Werkschulen,
Free Clinic);
è infolge Arbeitszeitverkürzung und/oder Zeitsouveränität soll mehr
Zeit dafür übrigbleiben, daß die Alternativen von Basisinitiativen
in Selbsthilfe, von "kleinen Netzen" etc. ausgebaut werden sollen
(z.B. Bierter, von Weizsäcker, Kutzner);
e der Expertenstatus soll abgeschafft und die entsprechenden Quali-
fikationen durch die Leute wieder angeeignet werden. Dies soll vor-
Sichtig (z.B. Illich) oder radikal (z.B. Patientenfront) geschehen;
è mehr oder weniger professionelle Arbeit ist nötig, um in der be-
Stehenden Gesellschaft (durch den Markt oder Subsistenzwirtschaft)
zu überleben, doch soll hierbei die sozialpädagogisch-sozialarbei-
terische Tätigkeit nicht als solche losgelöst werden, sondern in die
Gemeinschaft integriert sein (z.B. SSK, Fabrik, u.a.);
° das zunehmende Entstehen von Selbsthilfegruppen und Basisaktivitäten
ist notwendig, doch ist auch alternative Professionaltät in der
dualen Ökonomie" oder in der "alternativen Ökonomie" zu akzeptieren,
sei es um Arbeitslosigkeit oder Berufsverbote abzufangen (z.B. Huber,
Schwendter), sei es um bestimmte Qualifikationen den Bürgerinitiativen
zu sichern (z.B. Ebert);
® die Qualifikation der Experten ist (vorerst?) unverzichtbar, diese
vielmehr trachten, institutionale Möglichkeiten selbst für Alter-
nativen (einschießlich der Abschaffung bestimmter Institutionen)
zu nutzen (z.B. Jervi, Basaglia, Negt);
eè in beiden Fällen sind Alternativen ohnehin ein Ausdruck der Avant-
garde zukünftiger Dienstleistungsbedürfnisse (z.B. Gardner/Riessman).
Die Vielzahl der kontroversen Positionen, ihr relativer Mangel an
Konsensfähigkeit, und die verschiedenen Interessen, die sich (z.B.
Im Netzwerk Selbsthilfe) zueinander in Konkurrenz stellen können,
deuten an, daß hier ein Lebensnerv der Alternativen in der Sozial-
Pädagogik/Sozialarbeit getroffen zu sein scheint.
Viel kürzer kann ich mich zur "Überschaubarkeit" fassen. Es sind
„sleine" Lösungen vertreten worden (z.B. Bacia, Dauber, ASH) und
große" Lösungen (z.B. von Duhm, von Gyzicki, AAO, Huber); im Zweifels-
fall liegt heute der Konsens in der "Vernetzung".
Zum Numerus-Clausus-Effekt gibt es kaum Literatur; ebenso zur Kon-
kurrenz (zu letzterem arbeite ich selbst an einem Sammelband und
weiß ein Lied über Materialschwierigkeiten zu singen).
Die Positionen zu den wissenschaftlichen Paradigmen wurden bereits
genannt.
DAS VERHÄLTNIS DER ALTERNATIVEN ZUR KOMMUNALEN SOZIALPOLITIK
Die methodische Hauptschwierigkeit dieses Abschnitts liegt darin,
daß es sich nicht um die im ersten Abschnitt skizzierte Milchstraße
von Alternativen, sondern um die entsprechende Zerklüftung kommunaler
Sozialpolitik handelt. Eine Rolle spielt hierbei u.a., das jeweilige
Ausmaß Öffentlicher Mittelknappheit und kommunaler Verschuldung, die
jeweils örtliche Stellung der Großträger; das politische Klima der
Gemeinden einschließlich der kommunalen Parteienstruktur; wahrgenommene
Problemlagen, Image-und Legitimationsdefizite; Nähe und Ferne zu den
nächsten Wahlterminen; die Wirkung der Landesregierung auf Hochschul-
politik, öffentliche Träger etc.; Ausmaß und Art der Nutzung des Spiel-
raums von/durch kommunale Beamte und Angestellte; Besetzung, Engagement,
Hausmacht , Konkurrenz der verschiedenen mit Sozialpolitik befaßten
Dezernate (Sozial-, Schul-, Kultur-).
Um mit einem Minimum an Platz zurechtzukommen, sehe ich mich gezwungen,
die kommunale Sozialpolitik hinsichtlich der Alternativen in ein gro-
bes Raster aufzuteilen, das selbstredend das oben gesagte außerordentlich
verkürzt:
l. Kommunen, die Alternativen wenigstens in einzelnen Dezernaten
ausdrücklich finanziell und ideell fördern (z.B. Unna und Nürnberg
in der sozialen Kulturarbeit);
2. Kommunen, die Alternativen grundsätzlich fördern, jedoch zumeist
zu spät, zu geringfügig, zu halbherzig, ohne Personalkosten etc.
(z.B. Kassel);
3. Kommunen, die Alternativen zwar nicht fördern, jedoch sie wenigstens
in Ruhe lassen (z.B. - mit Einschränkungen - Köln);
4. Kommunen, die Alternativen grundsätzlich mit Repressionen belegen,
sie diffamieren, im Extremfall kriminalisieren (z.B. Heidelberg).
Ebenso wird hier eine schematische Aufstellung der Alternativen nach
den oben Ausgeführten erforderlich:
l. Alternativen, die eine teilweise Professionalisierung anstreben
und deshalb auf eine kommunale Subventionierung angewiesen sind (daß
dies wiederum sehr vereinfacht ist, weiß ich selbst. Infolge ihrer
permanenten Mittelknappheit/Verschuldung sind die Kommunen, jedenfalls
die von 1.-3., wahre Meister des negativen Kompetenzkonflikts. Es
gibt kaum so viele Materien als wie nicht die Kommune, sondern der
Bund, das Land, der Landkreis, die Krankenkassen, der LWV/Landschafts-
verband, der Sozialhilfeträger oder wer immer, zuständig ist
2. Alternativen, die entweder die Finanzierung ihrer (Teil-)Professiona-
lisierung durch den Markt anstreben oder als Bürgerinitiativen, Basis-
aktivitäten, Selbsthilfegruppen nur relativ geringfügige (Raum),
gelegentliche (z.B. Stadtteilfest) oder gar keine Subventionierung
benötigen. (Ausgeklammert müssen hier jene Alternativen werden, für
deren Subventionierung eindeutig die Kommunen nicht zuständig sind
- etwa die Freien Schulen.).
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Es wäre schon einmal lohnend, nach solchen Kriterien die Einstellung
von Alternativen zur alternativen Professionalisierung und zur Sekun-
därökonomie zu untersuchen: wo besonders oft davon die Rede ist,
daß Experten die Leute ihrer eigenen Kräfte enteignen, und anderer-
seits, daß unbezahlte Sozialarbeit nur für den Staat kostenentlastend
wirkt. Wo alternativ-professionalisierte Sozialarbeit deshalb besonders
reizvoll wird, weil die Kommune zu wenig (oder: zu wenig interessante)
Planstellen hat, und die übrigen Träger ohnehin eine Bezahlung von
Berufsanfängern nach BAT V b oder VI vorziehen; wo zum anderen Se-
kundärökonomie interessant wird, da ein großer Teil der Agierenden
ohnehin in einigermaßen erträglichen Berufen berufstätig (oder mit
relativ hohen Sätzen arbeitslos) ist.
Sicherlich kommen hier noch eine Reihe von modifizierenden Kriterien
hinzu: Wohnwert der Kommune, folglich Bereitschaft oder Nicht- Be-
reitschaft zur Mobilität, landesgesetzliche Bestimmungen (so er-
klärt sich zum Teil das Anwachsen von alternativen Bildungsprojekten
in NRW durch die fortschrittlichere Gesetzeslage)etc. Auch muß ich
wieder einmal auf die "besondere Berücksichtigung Berlins" zurück-
kommen: Berlin ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Zum einen ist
Berlin ein Stadtstaat und vereinigt daher (wie auch Bremen und Hamburg)
die Funktionen (und Etats) der Kommune und des Landes; zum zweiten
steht Berlin unter permanenten Legitimationsdruck, der sich in den
mannigfaltigen Berlinförderungsmaßnahmen niederschlägt (deren Nutz-
nießer u.a. auch alternative Projekte und Personen in alternativen
Projekten werden können); zum dritten führt die politische Lage Ber-
lins dazu, daß, wenn Repressionen stattfinden (was im Bundesvergleich
nicht die explizite Linie der Kommune ist!), sie dann besonders saftig
ausfallen; zum vierten führt die daraus resultierende Massierung al-
ternativer Projekte zu einem Band-Wagon-Effekt - wo so viele Tauben
sind, können auch noch einige zufliegen.
Kehren wir zurück zum Verhältnis kommunaler Sozialpolitik zu den bei-
den Hauptvarianten alternativer Sozialpolitik. Überraschungsfrei
wird festgestellt werden können, daß Bürgerinitiativen, Jugendzentren
in Selbstverwaltung (sofern die Kauf-, Miet- oder Renovierungskosten
der von ihnen ins Auge gefaßten Räume sich in jeweils erträglichem
Ausmaß bewegen) immer dann besonders angenehm sind, wenn es um das
Einsparen von Kosten geht; wohingegen das städtische Jugendzenrum
mit hauptamtlichen Sozialarbeitern, der städtische Bürgerinitiativ-
beauftragte etc. häufig (nicht immer) dann aktuell werden, wenn mehr
soziale Kontrolle erwünscht ist (vom Jugendzentrum aus, wenn ohnehin
nicht mehr so viel laufen soll, was irgendwo mit sozialen Kontroll-
ansprüchen in Konflikt kommen könnte). (Überhaupt wäre die Proble-
matik der Kontinuität alternativer Projekte, einschließlich der For-
derung nach einem Hauptamtlichen zwecks Aufrechterhaltung dieser
Kontinuität ein eigener ergiebiger Untersuchungsgegenstand, auf den
hier aus Platzmangel nur beiläufig hingewiesen werden kann).
Um dieses Problem geht es auch u.a. bei dem oben angeführten Konflikt
in der Jugendzentrenbewegung. Während die Jugendzentren in Selbst-
verwaltung Räume fordern, im übrigen aber Hauptamtliche zumeist ab-
lehnen, fordert das "Koordinationsbüro für Jugendzentren", dem Stamokap
nahestehend, erst recht Hauptamtliche (damit nicht "Die Arbeit unent-
geltlich für den Staat gemacht wird"), sowie entsprechende Mitbe-
stimmung für die Jugendlichen.
| TrenDsericHt, rrocnose
1.Mit dem gegenwärtig wirksamen Wirtschaftsabschwung ist noch mindes-
tens lo Jahre lang zu rechnen. Da dies die sattsam bekannten Folgen
eintreten lassen wird (Steigerung der Kriminalität, der psychischen
Verelendung, der Drogenabhängigkeit, der psychosomatischen Erkrankung etc.)
werden in dieser Zeit Sozialpädagogik/Sozialarbeit eine gute Zukunft
haben. Da dies auch weiterhin hohe Arbeitslosigkeitsraten (einschließlich
akademischer Arbeitslosigkeit) zur Folge haben wird, werden in dieser
Zeit auch alternativ-ökonomische Projekte eine gute Zukunft haben.
2. Aus dem gleichen Grund wird die öffentliche Mittelknappheit der
kommunalen Träger weiter anhalten. Trotzdem wird im nächsten Jahr-
zehnt eine weitere zusätzliche Einstellung von Sozialpädagogen/Sozial-
arbeitern im bescheidenen Umfang erfolgen.
3. Sollte tatsächlich um 1984/85 eine Verkürzung der Wochenarbeits- p
zeit auf 35 Stunden erfolgen, und außerdem (was mir, siehe den Konflikt
der GEW mit den öffentlichen Schulträgern, noch keineswegs sichergestellt
erscheint) diese Verkürzung der Wochenarbeitszeit auch auf Sozialpä-
dagogen/Sozialarbeiter durchschlagen, so werden sich stärker sekun-
därökonomische Tendenzen durchsetzen. Sollte dies nicht der Fall sein,
wird sich die Tendenz zur alternativen Professionalisierung verstärken.
4. Die angedeutete ökonomische Entwicklung wird weiter zur Folge haben:
è daß die an Student (inn)en vergebene Revenue (Bafög etc.)weiterhin
das Existenzminimum umkreisen oder (wahrscheinlich vermehrt) unter-
schreiten wird (die daraus resultierende Kultur der Armut ist bereits
deutlich erkennbar); i
® daß (wenn nicht der DGB (besonders ÖTV/GEW) sich zu einem dramatischen
Tarifkonflikt entschließt, von welchem noch keine Momente zu sehen
sind) eine allmähliche Herabstufung der Sozialpädagogen/Sozialarbeiter
erfolgen wird (erste Grundzüge sind darin deutlich zu erkennen, daß
universitäre" Diplom-Sozialpädagogen nicht selten statt BAT II a
nach BAT IV bezahlt werden);
Beide Folgen werden ebenfalls dazu geeignet sein, die Tendenz zur alter-
nativen Professionalisierung zu verstärken.
er Die genannte öffentliche Mittelknappheit wird auch dafür sorgen,
aß
» auch bei gutem Willen eine Reihe von kommunalen Dezernaten, sich
1e Subventionen für Alternativen in Grenzen halten werden. Eine i
mögliche Folge dessen wäre, daß es nicht nur zu dem (von mir bereits
in "Subkultur und Subvention" beschriebenen) Verdrängungswettbewerb
alternativer Träger durch etablierte Träger kommt, sondern es auch
S einer Subventionskonkurrenz zwischen Alternativen selbst kommen
Onnte,
die
6. Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, die eine teilweise
Professionalisierung anstreben, werden überall dort sich am Markt orien-
tieren, wo dies der Sache und der Zielgruppe nach möglich ist. (Dabei
wird "Markt" recht umfassend verstanden, also z.B. einschließlich der
Kassenvereinbarungen von Gruppenpraxen.) Dabei werden die folgenden
Tendenzen (teilweise im Widerspruch zueinander) wahrscheinlich ein-
treten:
18
e Viele der betreffenden Alternativen werden versuchen, für ihre
Arbeit indirekte Subventionen zu erhalten (etwa indem kommunale oder
staatliche Träger für Dienstleistungen an Zielgruppen bezahlen, die
dies aus eigener Kraft nicht können). “
eVielen von ihnen wird von sekundärökomischen Alternativen und ähnlichen
Selbsthilfe-Basisinitiativen Integration in das bestehende System
der Sozialpädagogik/Sozialarbeit vorgeworfen werden. Auf manche von
ihnen wird der Vorwurf zutreffen. (Massenweise besteht diese Gefahr
erst nach dem nächsten Wirtschaftsaufschwung, etwa ab 1995.)
7. Daneben wird sich die Bewegung von Bürgerinitiativen und Selbst-
hilfegruppen weiterhin stärken. Sollte die unter 3. genannte Ver-
kürzung der Wochenarbeitszeit tatsächlich stattfinden, wird wohl
ein Teil des freiwerdenden Zeitbudgets (kein allzugroßes) auch hier-
für aufgewendet werden (im einzelnen siehe unten).
8. Im Zusammenhang mit der Ökologiebewegung (die in dieser Zeitspanne
in welcher Form auch immer, überraschungsfrei auch andauern ars mit
dem sich ausbreitenden sozialpolitischen Interesse dieser (die Ia Au
nehmenden Personalunionen erkennbar wird) mit der ausgebreiteten stu-
dentischen "Kultur der Armut" (die von berufstätig gewordenen Ex-Stu-
denten nur zum Teil überkompensiert werden wird) wird das Sammeln
Ansparen und Umverteilen von Revenuen durch berufstätige Intellektuelle
weiterhin zunehmen.
Nicht genau zu sagen ist, ob dies in der Form ein i
des Netzwerks Selbsthilfe der Fall sein wird, en a...
(etwa die von Theodor Ebert vorgeschlagenen) der Revenuenumverteilun
dieses ergänzen oder ersetzen wird, und ob diese Ausbreitung auch Teile
der Gewerkschaftsbewegung mit umfassen wird. (Die bedauerliche Gleich-
gültigkeit des DGB, abgesehen von den jeweils berufspolitisch zustän-
digen Einzelgewerkschaften, in Fragen der Sozialpädagogik/Sozialarbeit
Wi gerade wenn sich der DGB als "große Bürgerinitiative der Arbeitenden"
ee ein wunder Punkt, der die Frage der Alternativen
9. Im genannten Fall wird die Umverteilung von Revenuen folgende Funk-
tionen haben:
e Alternative Projekte können exemplarisch zu arbeiten beginnen und
damit ihre Legitimation zur Erhaltung kommunaler Subventionen ver-
stärken (so etwa in den Fällen der Theta Wedding und des 2. Frauen-
hauses in Berlin);
e marktorientierte alternative Projekte können infolge dieser Zu-
schüsse oder Darlehen mit ihrer Arbeit beginnen;
e alternative Projekte, die aufgrund regional-repressiver oder poli-
tischer Bedingungen keinerlei Aussicht auf Subventionen haben, wird
dadurch ihre Arbeit ermöglicht. j
lo. Kurz: die untersuchte Doppelgleisigkeit von Berufsperspektive und
Basisaktivitäten, Neu-Genossenschaften und Sekundärökonomen, Versozial-
arbeiterung der Bevölkerung und Wiederaneignung der eigenen Krkite
mit ihren Konflikten, Widersprüchen und theoretischen Lösunzeveränchen
wird uns allem Anschein nach das nächste Jahrzehnt erhalten bleiben.
11. Kommunale Verwaltungen, wie andere Subjekte etablierter Sozial-
politik, bevorzugen immer noch in Theoretisierung und Planung das
(neo-)positivistische Paradigma. Ausdrucksformen dieses sind u.a
die naturwissenschaftliche Medizin (inclusive Psychiatrie), die Ein-
zelhilfe inclusive der amtlichen Aktenführung, die Privatinitiative,
die Trägerkonkurrenz, das Haus der Offenen Tür, das von einander äußer-
lichen Vereinen belegte Bürgerhaus.
Es gibt Indikatoren dafür, daß im nächsten Jahrzehnt Verwaltungen zu-
nehmend zu Momenten des systemanalytischen Paradigmas übergehen werden:
Kulturentwicklungspläne, therapeutische Ketten, Drogenketten, multi-
faktorielle Einflußanalysen (in welchen die Faktoren unvermittelt
nebeneinander stehen: Dörner/Plogs "Irren ist menschlich" wäre ein
Beispiel dafür), der Kommunikationsstreß mancher Kommunikationszentren
(Stadtteilfeste, Fußgängerzonen); auch Herolds Utopie (noch) von der
Polizeisozialarbeit gehört strukturell hierher.
12. Das systemanalytische Paradigma ist derzeit eine (jedenfalls for-
male) Handhabe, damit Kommunikation zwischen immanent fortschrittlichen
Verwaltungsleuten und Alternativen (die, wie oben erwähnt, auch etwas
mit "Verkettungen", "Netzwerken" und "Kommunikation" anfangen können)
möglich ist.
Zu prognostizieren ist, daß, je mehr sich in der staatlich-kommunalen
Verwaltung das systemanalytische Paradigma durchsetzen wird, sich die
Alternativen desto mehr auf das ganzheitlich-totalisierende Paradigma
beziehen werden. Indikatoren dafür sind: das zunehmende Streben nach
Totalität in einer Reihe von Therapieformen; der wachsende Unwillen,
Zusammenarbeit und Zusammenleben zu trennen (an vielen Projekten auf-
zuweisen); die zunehmende Unmöglichkeit, in Projekten nach Branchen,
Zielgruppen etc. zu trennen. Doch wird dieser Prozeß um 1990 keines-
wegs zu seinem (wie immer vorläufigen) Abschluß gekommen sein.
13. In einzelnen Bereichen (vor allem alternativ-marktorientierten)
wird es (analog zur Töpferei heute) zur Übersättigung des alternativen
Sozialmarktes kommen.
14. Im einzelnen:
° Kinderläden/Kinderhäuser werden nur noch unterproportional anwachsen
(vielleicht werden "Öko- Kinderhäuser" entstehen
® bei den Kleinstheimen kann es zu Engpässen konmen (in Bremen sollen
schon heute keine mehr bewilligt werden), doch solange es überhaupt
noch Heime gibt, ist dies eine Frage politischer Durchsetzung (ähn-
liches gilt für Wen);
° die Jugendzentren werden sich teilweise zu Häusern der Offenen Tür
(mit kommunal-kirchlichen Hauptamtlichen) zurückentwickeln, teilweise
zu "Provinzzentren" weiterentwickeln;
® erst richtig entfalten/verbreitern werden sich die Initiativen der
Alten, der Behinderten, die Frauenhäuser; auch die feministische Infra-
Struktur wird sich weiterentwickeln, wenngleich nicht so sprunghaft
wie im vergangenen Jahrzehnt;
s abgesehen von der evtl. Übernahme sozialen Trainings in einigen
weiteren Jugendwohngemeinschaften bei sozialliberalen Regierungen
wird eine starke Entfaltung von Basisaktivitäten im Strafvollzug
eher ausbleiben (es sei denn, im Falle einer faschistoiden Entwicklung,
doch dann müßte insgesamt die Prognose anders aussehen);
e Im Gesundheitswesen könnte sich (Indikator:Gesundheitstag 1980)
die nächste Massenbewegung abzeichenen. Hier ist auch noch viel Platz:
es könnte bundesweit noch über loo Gruppenpraxen/Gesundheitszentren
geben, einige Dutzend Gesundheitsläden ebenfalls; auch werden sich
20
sicherlich noch viele Selbsthilfegruppen herausbilden. Im Psychisch-
Kranken-Bereich könnte (könnte!) im nächsten Jahrzehnt (wahrscheinlich
in einem Stadtstaat) mit der Abschaffung eines Landeskrankenhauses
ernstgemacht werden. Auch mit einer Verbreiterung extramuraler Ein-
richtungen (etablierter wie alternativer) ist zu rechnen, wenngleich
vorerst nicht überproportional. Dasselbe gilt (mit allen Zwiespältig-
keiten) für den Psycho- Boom.
e ebenfalls ist mit einer allmählichen Ausbreitung von Kreativhäusern,
Reisenden Schulen, Kommunikationszentren, Kulturläden zu rechnen.
Vielleicht entsteht in diesem Jahrzehnt auch das erste Bildungsnetz-
werk. Hingegen wird bei den alternativen Tagungshäusern wohl spätes-
tens 1985 der Markt eng;
e die Orientierung auf den Stadtteil wird weiterhin zunehmen, obgleich
noch wenig über die Formen gesagt werden kann, in welchen dies erfolgen
wird. In bescheidenem Ausmaß werden auch weitere Häuser gekauft werden.
Die weitere Entwicklung der Wohngemeinschaften (eine Million Bewohner?)
scheint mir zuvörderst eine politische Frage.
15. Alles in allem geschätzt (und den Begriff recht weit genommen)
dürften derzeit an die looo Sozialpädagogen/Sozialarbeiter im alter-
nativen Bereich berufstätig sein (Diplom-Sozialpädagogen eingerechnet).
Die Zahl könnte sich im nächsten Jahrzehnt verdoppeln. Keine gewal-
tige Zahl, aber keinesfalls klein genug, um sie zu vernachlässigen.
Zumal die Entwicklung der Alternativen in einem Wechselverhältnis zu
den «tablierten Bereichen steht.
FORSCHUNGSDEFIZITE
l. An verschiedenen Stellen wurde deutlich, daß schon einmal die
quantitativen Informationen zum Gegenstand ausgesprochen unzureichend
sind. Von der Anzahl der noch/wieder bestehenden Kinderläden bis zur
Anzahl der in Alternativen sozialpädagogisch/-arbeiterisch professionell
Tätigen waren wir auf Schätzungen angewiesen. Dies hat bedauerlicher-
weise zunächst politische Gründe. Die umfassende Sammlung und Auswer-
tung von Datenmaterial politisch abweichenden Verhaltens im letzten
Jahrzehnt hat - ebenso, wie die Verwendung einer Bürgerinitiativen-
Untersuchung des Batelle-Instituts zur Konterkarierung von Bürger-
initiativen -Strategien, die Beschlagnahmung einer Aachener Drogen-
Kartei etc. - dazu geführt,daß, zu Recht, so gut wie keine Daten mehr
über/von einem großen Teil alternativer Projekte zu erhalten sind.
Folglich ist ein verläßlicher Datenschutz, und die Selbstverfügung
der Alternativen über von ihnen erfolgte Daten, die erste Vorraussetzung
zu einer präzisen Alternativenforschung.
2. Die strukturell notwendige Fluktuation der alternativen Projekte,
Basisaktivitäten und Bürgerinitiativen läßt eine jeweils aktuelle
Dokumentation all dieser ohnehin nicht zu; sie wäre überholt, so-
bald sie verfügbar wäre.
Festzustellen ist jedoch, daß alle mir bekannten überregionalen do-
kumentarischen Veröffentlichungen und Karteien (AAB, AVV, Alternative
Kooperation) von jeglicher Vollständigkeit weit entfernt sind. In-
haltliche Publikationen (Hollstein/Penth, Schwendter/Alternative Öko-
nomie I, II, Großer Ratschlag/Hamburg, Enzyklopädie der Zukunft,
Stiftung Die Mitarbeit ...) beschränken sich notwendigerweise auf
das Exemplarische. Hinzu kommt noch die Notwendigkeit des verbandsin-
ternen Karteileichenstreichens (z.B. AG SPAK) sowie die reichhaltigen
ren jeweiligen
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und Triest ziemli end der Abbau der Landeskrankenhäuser Arezzo
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Sich in der A Fiia a alternative Projekte betreffend, haben
Gemeinnützigkeitsverordn herumgesprochen (Vereinsrecht, GmbH-Gesetz,
eine Sammlung (evtl x nung). Was jedoch ausgesprochen fehlt, ist
und höchstrichterlic in loser Blattform) aller Gesetze Vorschriften
betreffen können; a Entscheidungen, die aL EErnAtAVA Projekte
Pörderungsmöglichkeiten bzw. = => gebündelte Informationen über
= vichtigsten einschlägigen ee der Öffentlichen Hand und
mir klar, zumal ee diesen Informationsmangel zu überwinden, ist
Landessache sind era Teil der in Frage kommenden Rechtsnormen
die Sammlung eher u er Schulrecht oder Psychiatrierecht) und somit
Bundesrechts (z.B. SE ae werden könnte. Auf dem Gebiet des
seitigen et irre sr wiederum das Problem der viel-
im Zugammenhang wit den ee Konflikte um den $72 BSHG
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ügi Ä 63 onsensfähi : . .
gige Änderungen für Alternativen er a ne ee
22
Hierzu fielen mir u.a. das Erwachsenenbildungsrecht ein, die gesetz-
liche Grundlage der Tagesklinik, wiederum das Schulrecht (eine De-
tailforschung könnte etwa herauszubekommen versuchen, woran es liegt,
daß die Waldorf-Schulen (gerade noch) genehmigt werden, und z.B. die
Freie Schule Frankfurt (gerade noch, bislang nicht) sowie etwa die
Schaffung rechtlicher Institutionen, die förderungsfähig sind, ohne
Heime zu sein (das Frauenhausproblem).
Parallel dazu könnte eine Untersuchung erfolgen, welche juristischen
Innovationen außerdem ohne größeren Aufwand möglich sein könnten.
Ich habe in letzter Zeit zweimal (beim Diskurs mit Senator Glotz
in Paderborn und beim Gesundheitstag) das Schlagwort "Wohngemein-
schaftsförderungsgesetz" in die Diskussion geworfen, und mehr als ein
Schlagwort kann es im Moment auch noch nicht sein. (Zumindest müßte
eine rechtliche Bindung darin enthalten sein, angesichts der fort-
schreitenden Verminderung des Altbaubestandes einen festzulegenden
Prozentsatz von Neubauten wohngemeinschaftsgeeignet zu bauen.) In
den letzten Jahren hat sich endlich eine Gruppe von Juristen heraus-
gebildet, die sich mit Ökologierecht beschäftigt. Es wäre an der Zeit,
daß ähnliches auch für Alternativenrecht der Fall wäre.
7. Doch immer im Zusammenhang der Alternativenförderung wäre m.E.
des weiteren zu untersuchen, wie sich die Monopolstellung der sechs
Wohlfahrtsverbände auf alternative Projekte auswirkt. Ich habe den
Eindruck, bzw. die Arbeitshypothese, daß letztere zum einen unter-
proportional gefördert werden, und zum anderen hier große regionale
Unterschiede bestehen. (An manchen Orten etwa sind die der Papier-
form nach relativ bestgeeigneten Wohlfahrtsverbände so wenig präsent,
daß schon der Kontakt kaum zustande kommt.)
8. Zur eher inhaltlichen Seite übergehend, habe ich die Erfahrung
gemacht, daß eine Vielzahl von Alternativen in der Sozialpädagogik/
Sozialarbeit in Zulassungs- bzw. Diplom-Arbeiten vor allem von Stu-
dent(inn)en dieser Fächer, aber auch der Pädagogik, Soziologie, Psy-
chologie, untersucht, verglichen, auf ihren Stellenwert hin überprüft
wird. Diese Arbeiten sind oft sehr rührig gemacht, enthalten ein Stück
Handlungsforschung oder doch teilnehmende Beobachtung sowie eine ver-
gleichsweise präzise Einschätzung der Gruppensituation, der institutio-
nellen und ökonomischen Probleme etc. Leider gilt hierfür ebenfalls
das oben unter 1. - 3. Gesagte: abgesehen vom jeweiligen Heimvorteil
und von mehr oder weniger zufälligen überregionalen Vernetzungen,
gibt es vergleichsweise wenige Möglichkeiten, an diese Arbeiten
systematisch heranzukommen. Hier wäre ebenfalls eine Dokumentation
in Permanenz zu erarbeiten, gleichfalls erschwert durch den Sachverhalt,
daß sich der Sache nach eine Computerisierung verbietet.
9.Auf die Wichtigkeit der Erörterung der Frage des Verhältnisses Al-
ternativen-Gewerkschaften wurde oben bereits hingewiesen.
lo. In nächster Linie käme die Erforschung sozialer Innovationen im
engeren Sinne. Etwa "Selbsthilfegruppen für nichtchristliche Alkoholiker",
oder "Beschützende Werkstätten, die keine beschützenden Werkstätten
mehr sind, weil auch für Menschen geeignet, die repetitive Teilarbeit
nicht ertragen können", oder "Formen des Eigenlernens" (wie dies
Heinrich Dauber in Anlehnung an Ivan Illich nennt). Da ist ein breites
Feld, stark eingeschränkt durch die Tatsache, daß dies ein nicht
23
gerade überragend dotiertes Forschungsgebiet ist. (Das "Forschungs-
projekt Soziale Innovationen" an der GH Kassel, bei dem ich mitarbeite,
ist mit überwältigenden lo.000o DM im Jahr dotiert.)
ll. Zur inhaltlichen Seite des Forschungsdefizits könnte noch eine
Menge gesagt werden: Daß wir immer noch nicht wissen , was Subjekti-
vität ist. Daß wir immer noch nicht genau genug wissen, wie der Staat
funktioniert. Daß wir immer noch über keine Strategien des sozialen
Wandels verfügen, nachdem es weder mit der Reform/Evolution noch mit
der Revolution so richtig hingehauen hat. Aber das sind Fragen, die
wohl nicht nur auf die Alternativenforschung beschränkt sind.
. v
12. Bleibt schließlich die Erforschung der Möglichkeiten "massenweiser",
"verallgemeinender", "antwortvielfältiger" Alternativen. Modellver-
suche hat es geplante und unfreiwillig-naturwüchsige genug gegeben;
das Problem sehe ich eher darin, daß sie dann zu wenig übertragen
worden sind.
Der Beitrag von Rolf Schwendter - ebenso der Kommentar von Peter Ahl-
heit - wurde als Expertise für ein Symposium "Berufsfeld Soztalarbeit/
Sozialpädagogik" geschrieben. Das Symposium wurde vom 22. - 24.9.1980
in Westberlin von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen-
schaft und der Konferenz der Fachbereichsleiter der Fachbereiche
Sozialwesen an Fachhochschulen und Hochschulen durchgeführt.
Rolf Schwendter hatte zwar einige Bedenken, daß seine ad-hoc
geschriebene Arbeit einige Monate danach so veröffentlicht wird.
Andererseits gibt es bisher keine systematische Zusammenfassung der
verschiedenartigen Projekte und Modelle alternativer Sozialarbeit,
sodaß uns die Veröffentlichung doch gerechtfertigt erscheint.
Meinungen
Rolf Schwendter
Theorie der Subkultur “Die von Schwendter geführte Auseinandersetzung mit der
Neuausgabe mit einem Subkultur Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre bietet
Nachwort, sieben Jahre später eine Fülle von Material, das zur Erarbeitung auch für eine
Theorie und Praxis der Alternativbewegung heute wichtig
und nützlich ist.”
— Plärrer —
"Als der Dreifach-Doktor Rolf Schwendter 1970 die Perspek-
tiven eines politisch-kulturellen Gegenmilieus in seiner
"Theorie der Subkultur” systematisierte, da war der Weg noch
weit von der Alternativ-Theorie zur produktiven Praxis. Sic-
ben Jahre danach haben praktizierte Selbstversorgung und
Alternativ-Öffentlichkeit bereits konkrete Konturen ge-
wonnen.”
— Das da —
Syndikat “Rolf Schwendters "Theorie der Subkultur’, 1970 konzipiert,
1973 in erster Auflage erschienen, ist heute, schon wenig
(Rolf Schwendter: Theorie der später, durchwegs veraltet und vielleicht nicht zuletzt deshalb
Subkultur. Neuausgabe mit ei- noch und wieder aktuell. Sowohl der methodische Ansatz,
nem Nachwort, sieben Jahre spä- der strukturell-funktionale Betrachtungsweisen auf Katego-
ter. Syndikat Autoren- und Ver- rien der politischen Ökonomie zu beziehen sucht, trägt nicht
lagsgesellschaft, Frankfurt am mehr, hinzu kommt, daß die verarbeiteten Materialien längst
Main 1978, 419 S., DM 20,-.) von der Entwicklung überholt sind.”
-FR-
Peter Alheit
KOMMENTAR ZU DER EXPERTISE
“ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT”
Die außerordentliche Komplexität der SCHWENDTERschen Bestandsaufnahme,
die notwendige Parallelisierung empirisch schwer vergleichbarer An-
sätze (quantitativer Einfluß vs. qualitative Innovationsfunktion),
die gezwungenermaßen spekulativ gehaltenen Prognosen über eine kaum
abgrenzbare "Grauzone" gesellschaftlicher Reproduktion machen eine
Kommentierung seiner Expertise äußerst schwierig. Ich möchte wenige
Aspekte, die mir interessant und durchaus problematisierbar erscheinen,
herausgreifen. Wenn ich ROLF SCHWENDTER dabei gelegentlich "über-
interpretiere", vielleicht auch ungerechtfertigterweise karikiere,
so nur um des besseren Verständnisses willen. Ich denke, ROLF wird
es mir nachsehen.
1. SCHWENDTERs Auflistung rechtfertigt sich implizit durch ein zweifellos
gängiges, aber darum nicht unproblematisches Trivialparadigma: "Al-
ternativen sind anders"; präziser: Alternativen unterscheiden sich
von konventionellen Formen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik vor allem
durch eine auffällige Veränderungorganisatorischer
(Unabhängigkeit vs. Abhängigkeit, Parität vs. Hierarchie usf.) und
professione l 1 er (etablierte Professionalität vs. De-
professionalisierung) Normen.
Solche Differenzierung hat den Vorteil, daß sie - punktuell betrach-
tet - Trennschärfe suggeriert. Sie hat den Nachteil, daß sie - unter
Berücksichtigung von Entwicklungsprozessen und sich wandelnden ge-
sellschaftlichen Problemlagen - wesentliche Fragen ausklammert. SCHWENDTER
selbst weist darauf hin, daß eine Reihe von alternativen Ansätzen
mittelfristig auf eine sukzessive Professionalisierung und auf die
partielle Integration in öffentliche Systeme sozialstaatlicher Lenkung
und Leistung angewiesen sei. Er vermeidet den Hinweis, daß öffentliche
Interventionen an den Rändern etablierter sozialarbeiterischer
/sozialpädagogischer Professionalisierung ihrerseits einem Diffusions-
prozeß ausgesetzt sind und zunehmend "alternative" Eingriffsformen
ausbilden. Nicht zufällig hat die Mehrzahl der in SCHWENDTERs Exper-
tise aufgeführten Alternativen eine hohe Affinität zu eben diesen
wenig etablierten "Marginalbereichen" professioneller Sozialarbeit
(Jugendarbeit, Gemeinwesenarbeit,soziale Kulturarbeit, Frauenarbeit,
Ausländerarbeit, Behindertenpädagogik usf.). Empirisch liegt also
mindestens die Vermutung nahe, daß die Chance zu Entstehung von Al-
ternativen mit der objektiven Diffundierung sozialer Professionalität
korreliert. Diese Einschätzung relativiert indessen jede emphatische
Betrachtung des "Alternativen Syndroms'" und nötigt dazu, neben "ex-
ternen" Differenzierungskriterien auch inhalt 1 ic he Unter-
scheidungsmerkmale zu entwickeln. Dann aber ist nicht einzusehen,
warum binneninstitutionelle Innovationen (kollegiale Beratung, stra-
tegischer Verzicht auf soziale Etikettierungsmaßnahmen, Durchbrech-
ung administrativer Segmentierungen (s. Neuorganisation sozialer
Dienste), Ausbau gewerkschaftlicher Interessenvertretung etc.)nicht
a u c h als "Alternativen" firmieren sollten. SCHWENDTER jedenfalls
spart sie aus.
2. SCHWENDTERs Einschätzung der Alternativen-Szene rekurriert deutlich
eher auf jenes Dokumentationsmaterial, das man als "alternativen
out put" bezeichnen könnte (Berichte, Selbstdarstellungen, Veröffent-
lichungen etc.) Sie geht nur fragmentarisch auf den tatsächlichen
"impact" ein, d.h. auf die gesellschaftlich-realen Auseinander-
setzungen, die sich häufig hinter einem deklarierten Anspruch ver-
bergen und nicht selten kontrafaktisch zu ihm verhalten.
Warum z.B. wird dem Berliner Netzwerk in der alternativen Szene vor-
geworfen, es gebärde sich gelegentlich wie eine bürgerliche Vergabe-
instanz (s. Dokumentation des "Autonomen Bildungs Centrums", Hüll)?
Warum versucht sich die AAO heute geradezu überangepaßt als kulturelle
"Dienstleistungsorganisation"? Warum gelingt es noch immer relativ
reibungslos, über die Aktivität in Alternativen namentlich akademische
Karrieren vorzubereiten? Warum werden nicht selten mit Ideologien wie
Herrschaftsfreiheit, Aufhebung der Arbeitsteilung, Entstigmatisierung
von Klienteln etc. Hierarchien und Konkurrenzverhältnisse subtil erst
etabliert? SCHWENDTERs Hinweis, "die Konkurrenz (zähle) zu den Struk-
turprinzipien von Gesellschaften, die auf Warenaustausch basieren",
ist ebenso richtig wie abstrakt. Ist es zufällig, daß die große Mehr-
zahl alternativer Ansätze von bürgerlichen Intellektuellen getragen
wird, deren Reproduktionsrisiko wiederum, was die Mehrheit angeht _
(wenn ich recht sehe), trotz wachsender "Proletarisierung" noch weit
geringer ist als das des Bevölkerungsdurchschnitts? Ist es tatsächlich
(schon) eine "Kultur der Armut", die jene Alternativen provoziert?
Oder handelt es sich wenigstens a u c h um eine Reaktion auf den Ver-
lust materieller und sozialer Privilegien bürgerlich-kleinbürgerlicher
Individuen? Ist also die Eskalation von Alternativen nur ein Symptom
subtiler Tauschstrategien neuerdings proletarisierter sozialer Min-
derheiten ohne "proletarisches Bewußtsein"? Dann freilich stünde es
schlecht um die Chance vertikaler organisatorischer Konsolidierung
der Alternativen-Szenerie (Vernetzung etc.), schlecht auch um die
Etablierung von Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit. Dann wäre der
Anspruch auf Kollektivität und Basisdemokratie in Wahrheit nur die
ideologische Kaschierung von tauschfähiger Exklusivität.
Solche Fragen sind ausdrücklich n i c h t diskreditierend gemeint.
Sie erscheinen freilich gerade dann nicht absurd, wenn man - wie
SCHWENDTER - bereit ist, der alternativen Bewegung eine historische
Qualität zuzuschreiben und sie nicht als interessante Modeerschei-
nung zu relativieren. Zu dieser Problematik ein letzter Gedanke.
3. SCHWENDTERs Eingangshypothese, die "Neigung zur Verstärkung von
Selbstorganisation und Selbsthilfe" korreliere historisch mit den
großen ökonomischen Krisenzyklen, legt die klassische Kritik des
"Kommunistischen Manifests' an den spektakulären sozialistischen
Alternativen des 19. Jahrhunderts nahe: "An die Stelle der gesell-
schaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderische Tätigkeit
treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung
phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Orga-
nisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Orga-
nisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für
sie auf in die Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Ge-
sellschaftspläne." (MEW 4, 490)Die Problematik des Bezugs zwischen
26
Alternativ-Szene und Arbeiterbewegung wird von SCHWENDTER allenfalls
am Rande thematisiert. Ist sie tatsächlich nicht mehr aktuell?
Gewiß wäre es verfehlt, die gesellschaftliche Relevanz alternativer
Bewegungen nur an ihrer Integrationsfähigkeit in die "Arbeiterbe-
wegung" zu messen. Möglicherweise ist ihre Aktualität gerade auch ein
Ausdruck der historischen Schwäche klassischer Arbeiterbewegungen
in entwickelten kapitalistischen Systemen. Nur wäre es naiv zu glau-
ben, alternative Freiräume seien beliebig ausdehnbar und die frei-
willige "Reprivatisierung" materieller und sozialer Reproduktions-
risiken sei dem kapitalistischen System nur willkommen. Der aktuelle
Vergesellschaftungsstandard des Reproduktionsrisikos der Durchschnitts-
arbeitskraft ist nicht nur ein Produkt des historischen Kampfes der
Arbeiterklasse; er ist auch die prinzipielle Voraussetzung des längst
etatistisch beeinflußten Austauschs zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Jede Friktion im Prozeß einer möglichst umfassenden "Verlohnarbeiterung",
jedes Herausfallen potentieller Arbeitskräfte aus den sozialstaat-
lich organisierten Steuerungsmechanismen des Arbeitsmarktes (sei es
systemintern oder systemextern bedingt) bedroht auch die Reproduktion
des Kapitals und des Staatsapparats. Deshalb liegt es in der "Logik"
kapitalistischer Systeme, Alternativen entweder zu vereinnahmen, oder
aber zu stigmatisieren. Für beide Tendenzen führt SCHWENDTER eine
Reihe von Beispielen an. Beide Tendenzen gefährden indessen die Al-
ternativbewegung substanziell. Die widerstandslose Vereinnahmung
führt zur Preisgabe "gegengesellschaftlicher Phantasie und Praxis".
Die Stigmatisierung kann in Extremfällen (s. Free Clinic) zur Krimi-
nalisierung führen. Häufiger wird sie sich - vorläufig noch wie in
GLOTZ' Etikettierung zur "zweiten Kultur" - in der seichteren Pa-
thologisierung erschöpfen. In beiden Fällen aber sind Alternativen
nur überlebensfähig, wenn es gelingt, ihre legitimen systemtrans-
zendierenden Ansprüche und die Ansätze einer emanzipatorischen und
antizipatorischen Praxis in die aktuellen Forderungen gewerkschaft-
licher und politischer Organisationen der Arbeiterschaft einzubringen.
Diese Strategie ist im internationalen Maßstab keineswegs fiktiv.
Sie hat namentlich in Italien, in Frankreich, auch in Dänemark eine
hoffnungsvolle Tradition. In Westdeutschland und in Westberlin liegt
ihre Realisierungschance voraussichtlich in jenen oben angesprochenen
Berührungsbereichen zu den "ausfransenden" Rändern professioneller
Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
Die gesellschaftspolitische Option dieses letzten Gedankens ist freilich
sehr viel vager als die SCHWENDTERschen Prognosen, auf die ich in dem
mir gesteckten Rahmen differenzierter nicht eingehen kann. Angesichts
der von SCHWENDTER legitimerweise angesprochenen Forschungsdefizite
sind konkretere qualitative Entwicklungsperspektiven allerdings auch
kaum vorherzusagen.
x
27
Proklia
Zeitschrift für politische Ökonomie
und peann Politik
Ökologie, Technologie
und Arbeiterbewegung
Editorial, Ökologiebewegung
und Arbeiterbewegung - ein
Widerspruch? / Harald Gla-
ser, Die ‘friedliche’ Nutzung
der Atomenergie als Beispiel
kapitalistischer Technologie-
entwicklung / Lutz Hieber, Ist
der naturwissenschaftlich-
technische Fortschritt noch
demokratisch kontrollier-
bar? / Christel Neusüß, Der
‘freie Bürger gegen den
Sozialstaat - Soziulstaats-
kritik von rechts und der *x
Alternativbewegung /
Roundtable-Gesprüch, ‘Die
Arbeiter sind nicht bereit, sich
einem wahnwitzigen Arbeits- # Einzelheft
tempo zu unterwerfen, um DM
Autos zu produzieren, die von
vornherein reif für den Müll
sind!’ / Thomas Hahn, Alter- $ +
nativen des ADGB in der Krise im Abo
1928-33 / Siegfried Hei- DM 8,-
mann, Die DGB-Konferenz zur
Geschichte der Gewerk-
schaften / Albert Krölls, Lohn | Rotbuch
für Hausarbeit Verlag
9,-
Christel Neusüß
DIE KRITIK DER ALTERNATIVBEWEGUNG AM SOZIALSTAAT
(Der folgende Artikel ist ein leicht veränderter Auszug aus einem
thematisch weitergespannten Artikel in PROKLA Nr. 39, in welchem So-
zialstaatskritik von rechts und von seiten der Alternativbewegung un-
ter der Frage: "Der "freie Bürger' gegen den Sozialstaat?" konfron-
tiert werden. )
Das Selbstverständnis der Alternativbewegung in der BRD und in West-
berlin ist durch eine einigermaßen scharf gefaßte Konfrontation zum
'"Sozial'- oder auch 'Wohlfahrtsstaat' bestimmt. Die sozialstaatlichen
Errungenschaften, auf die Gewerkschaften und Sozialdemokratie als Re-
sultate ihres Einwirkens auf die bürgerliche Gesellschaft nach wie
vor mit Stolz verweisen und die gleichzeitig in ihrem Sinne Garanten
sozialen Friedens sein sollen, werden von der Alternativbewegung
nicht als der Weisheit letzter Schluß betrachtet: im Gegenteil, ihnen
wohne die Dynamik des Festhaltens an destruktiv gewordenen Entwick-
lungsprinzipien der Ökonomie und der politischen Organisationsformen
inne. Sowohl die kritische Begrifflichkeit als auch die Praxis der
Alternativbewegung verweisen auf Konfrontation. "Autonomie! erscheint
als Alternative zu 'wohlfahrtstaatlicher Kontrolle'. 'Selbstverwal-
tung' als Alternative zu "Bürokratie",
Wo in der Sozialdemokratie über die 'neuen sozialen Bewegungen' re-
flektiert wird, wird begierig der aus der italienischen Diskussion
stammende Begriff von den 'zwei Gesellschaften! aufgegriffen.
Eine Gesellschaft, die durch Konkurrenz, Individualismus und sozial-
staatlich-bürokratisch verwaltete Kompensation der so erzeugten Schä-
den und Probleme gekennzeichnet ist und eine zweite, in welcher sich
die Herausgefallenen für sich unter neuen gesellschaftlichen Normen
organisieren: gewissermaßen als zweite Auffanglinie. Unter diesem
Aspekt wird dann die Alternativbewegung auch wohlwollend zur Kennt-
nis genommen. Diskussion zwischen beiden soll natürlich stattfinden.
Es ist wohl kein Zufall, daß in Ländern mit antikapitalistisch-
sozialistischen oder kommunistischen Massenparteien und mit ei-
ner Tradition umfassender sozialer Kämpfe der Arbeiterschaft
diese Konfrontation so nicht auftaucht. Sehen wir nach Frankreich,
so kommt einer der wichtigsten theoretischen Köpfe der Ökologie-
Alternativbewegung, nämlich André Gorz, direkt aus der soziali-
stischen Partei des Landes. Die französische Linke führte den ver-
gangenen Wahlkampf unter dem Slogan: Selbstverwaltung. Die ita-
lienische Arbeiterbewegung hat in den Delegiertenräten der
29
Fabriken und ansatzweise in kommunalen Räten, in Räten von
Arbeitslosen, Organisationsformen hervorgebracht, welche die
kapitalistische Form der Vergesellschaftung unter Integra-
tion der Lohnabhängigen, nämlich Konkurrenz und Sozialstaat als kom-
pensatorische Institution für die angerichteten Schäden, praktisch
kritisieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die breite Diskussion ei-
ner alternativen Gesundheitspolitik, in welcher die Arbeitenden die
schädigenden Wirkungen der Arbeits- und Produktionsbedingungen auf
Fabrikebene durch Selbstorganisation und öffentliche Diskussion ange-
hen, in welcher Arbeitsmedizin als abgelöste Wissenschaft, an der die
Betroffenen keinen Anteil haben, kritisiert wird, fehlt als irgend
relevanter Bestandteil der Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepu-
blik. Eine breite Diskussion darüber, wie man Gesundheitsschäden un-
mittelbar im Produktionsprozeß durch Organisierung der Betroffenen
angehen könne, hat es bei uns nicht gegeben. Insofern ist es auch
kein Zufall, daß die Linke in der Bundesrepublik immer wieder nach
Italien hinsah, nicht, weil da der Kapitalismus reifer, sondern in
der Tat deshalb, weil die Arbeiterbewegung dort der Reife des Kapi-
talismus entsprechende neue Ziele und Organisationsformen gefunden
hatte, wenigstens für einen historischen Augenblick.
Daß die Entwicklung der Individuen, die Entwicklung ihrer Fähigkeit
solidarisch, kooperativ zu handeln, sich gegen hierarchisch arbeits-
teilige, bürokratisch organisierte und durch Wissenschaft verfestig-
te Strukturen ihre eigene und gleichzeitig gemeinsam solidarische
Handlungskompetenz wieder anzueignen, die Entwicklung tätiger Mensch-
lichkeit etwas mit Sozialismus zu tun habe, dies gerät in der BRD
z.B. gerade bei denen, die sich als Gewerkschaftslinke definieren,
leider häufig aus dem Blickfeld. Die Auseinandersetzungen um die ge-
werkschaftliche Jugendarbeit machen dies nur allzu deutlich.
Ein Begriff von Sozialismus und Solidarität, welcher die auf Grund
historischer Bedingungen in der Bundesrepublik zunächst primär bei
den Jugendlichen entwickelten Hoffnungen auf bessere Möglichkeiten
zu leben und zu arbeiten nicht ernsthaft aufnimmt, bestätigt die Al-
ternativbewegung nur darin, daß sie eben zwar eine Alternative sei,
aber bei Gott nichts mit der Frage Kapitalismus oder Sozialismus zu
tun habe.
Und darin liegen m.E. wiederum die Bornierungen der Alternativbewe-
gung - den Begriff mit allen denkbaren Fragezeichen versehen, inso-
fern sich unter ihm ja sehr Unterschiedliches zusammenfaßt - begrün-
det. Die Kritik am Bestehenden, welche die politische Rechte als Nega-
tion staatlicher Verantwortlichkeit u.a. für die sozialen Folgen der
Arbeitslosigkeit reflektiert, als Kritik des steuererhebenden und um-
verteilenden Staates, reflektiert die Alternativbewegung im Autono-
miepostulat. Die Ablehnung vorhandener Vergesellschaftungsformen wird
praktisch in der Ablehnung gesellschaftlicher Normen und Vergesell-
schaftungsformen, die über übersichtliche, durch personale Beziehun-
gen geprägte Gruppen hinausgehen. Die Zersetzung bewußter, die Indi-
viduen einschließender Formen sozialen Zusammenhangs, wie sie sich
noch in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik finden, wird noch
einmal bestätigt, indem solche die kleine Gruppe übergreifenden so-
zialen Zusammenhänge überhaupt als fragwürdig und bürokratieverdäch-
tig erscheinen und denunziert werden.
Mir ist bewußt, dies trifft nicht für alle zu, die in der Alternativ-
bewegung praktisch tätig werden. So weist z.B. der Berliner Gesund-
30
heitstag in seinem eigenen Selbstverständnis ebenso wie in seinem
praktischen Verlauf darüber hinaus. Doch wo einzelne alternative Grup-
pen alternative Projekte machen, ist das eigene Selbstverständnis
häufig durchaus in dieser Weise geprägt.
Wie sieht nun die Kritik von Bürokratisierung und Wohlfahrtsstaat,
wo sie sich theoretisch auf den Begriff zu bringen sucht, aus?
AUTONOMIE GEGEN DEN SOZIALSTAAT
"Die Institutionen der Mega-Maschine zerstören und ersetzen die so-
zialen Lebensgemeinschaften. Das Funktionale tritt an die Stelle des
Personalen ... Menschliche Beziehungen verwandeln sich in nur noch
instrumentelle Produktionsverhältnissse ... Vom Geborenwerden bis zum
Begrabenwerden wird buchstäblich jede Lebensbetätigung von irgend-
einer Institution professionell vermarktet. Das big business setzt
an die Stelle von wirtschaftlicher Selbständigkeit und teilweiser
Selbstversorgung eine immer totalere Versorgungsabhängigkeit von Gü-
tern und Dienstleistungen der großen Institutionen. An die Stelle von
Selbstentscheidung und Eigenverantvortlichkeit tritt eine erneute
Hilflosigkeit mechanisch austauschbarer Figuren. Der Wohlfahrtsstaat
setzt anstelle sozialer Selbsthilfe eine lebenslängliche "Behandlung"
durch die Institutionen des Nachrichten-Erziehungs-Gesundheits-Soztal-
Verwaltungs-Polizei- und Regierungswesens. Big brother wird immer all-
gegenwärtiger ... Aber die Gegenwart hat auch ihre oppositionelle Ten-
denzen: die Träume der Arbeiterbewegung, des Anarchismus und des So-
alalismus, die antiautoritäre Bewegung, die antipaternalistische Frau-
enbewegung und die Ökologiebewegung. Ob der Sozial-Polizeistaat Zu-
kunft hat, hängt ab von ihrem Schicksal und dem Schicksal der sie lei-
tenden Utopien. (1)
Nun soll nicht behauptet werden, daß dies der einzig mögliche Begriff
ist, auf den sich die Bewegung zu bringen vermag. Immerhin, einiges
ist aussagekräftig. Kennzeichnend ist der unanalytische, soziale Phä-
nomene allein der Form nach bezeichnende Begriff "Institutionen der
Mega-Maschine", unter welchen im folgenden sowohl die profitorientier-
te Vermarktung und Deformierung aber auch jeglichen menschlichen Be-
dürfnisses ebenso subsumiert wird wie die Einrichtungen des Sozial-
staats. Der Gegensatz wird als solcher zwischen Instituionen über-
haupt und Selbsttätigkeit konstruiert. Der Begriff vom Sozial-Poli-
zeistaat differenziert selbst nicht mehr zwischen den eh und je vor-
handenen Funktionen des Staatapparats als Gewaltapparat zur Befesti-
gung kapitalistischer Herrschaft und den Funktionen, welche dem Staat
im Zusammenhang der Arbeiterkämpfe zugewachsen sind, um die Anarchie
der Konkurrenz als blindem und die Lohnabhängigen ohnmächtig der Ka-
pitalbewegung ausliefernden Mechanismus einzudämmen, die "Ökonomie"
der Arbeitenden gegen die des Kapitals zu setzen. Die Institution
der Arbeitslosenversicherung oder des Jugendschutzgesetzes kann so
in gleicher Reihe mit der Jugenderziehungsanstalt oder der Ausländer-
polizei assoziiert werden. Vom Standpunkt der Alternativbewegung stel-
len sich beide Institutionen in der Tat als zwei Seiten der gleichen
Medaille dar. Eine Gesellschaft, die ihren Klassenkompromiß in der
Formel von der Schutzwürdigkeit der Arbeitskraft als Produktionsfak-
tor und als lebenslange Einkommens- d.h. Lebenserhaltungsquelle for-
muliert, "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Deut-
31
schen Reiches" lesen wir schon in der Weimarer Verfassung, sortiert
zwischen Brauchbaren und Unbrauchbaren. Für die Brauchbaren den So-
zial-, für die nicht Brauchbaren den Sozialpolizeistaat.
Der pauschale Rundschlag ist nicht einfach theoretisch falsches Kon-
strukt bzw. erschöpft sich nicht darin, sondern reflektiert Erfahrun-
gen derjenigen, die einen Teil der Alternativbewegung ausmachen.
Zum Beispiel Frauenhäuser: Von der Frauenbewegung eingerichtet, den
Frauen eine Zufluchtsmöglichkeit vor der Gewalttätigkeit ihrer Män-
ner zu ermöglichen. Zunächst werden sie angesichts des Bewußtwerdens
des gesellschaftlichen Skandals ohne Auflagen von sozialdemokrati-
schen Kommunen unterstützt. Dann versucht man die Unterstützung zu
binden an die Regeln des Bundessozialhilfegesetzes, die Bedingungen
enthalten, welche den Zielsetzungen der Einrichtung entgegenstehen:
Beschränkung der Aufenthaltsdauer und der Belegzahl, Einstellung von
Fachkräften, Aufteilung von Zuständigkeiten, berufstätige Frauen wer-
den über Pflegesätze zu Sozialhilfeempfängerinnen gemacht. (2)
Dagegen sollte den Frauen in den Frauenhäusern "unbürokratische Hil-
fe" gewährt werden, "Schutz in akuten Notsituationen'", auch wenn das
Haus eigentlich schon voll ist. Überfüllung sei hinzunehmen, solange
nicht genügend Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung ständen. Die
Frauen sollen, nachdem sie "oft jahrelang Mißhandlungen und Bedrohun-
gen ausgeliefert waren und die Gesellschaft diese Tatsache totge-
schwiegen" hat, nun selbst entscheiden, "wann sie die Folgen halb-
wegs aufgearbeitet haben und ein neues Leben anfangen wollen." "An-
dernfalls werden sie erneut für unmündig erklärt." "Zur Frage der
Fachkräfte können wir sagen, daß wir als Frauen aktiv werden und daß
diese Arbeit auch von Frauen geleistet werden kann, die selber ein-
mal im Frauenhaus waren und von daher über eigene Erfahrungen auf die-
sem Gebiet verfügen: Wir lehnen Spezialistentum ab und wollen für al-
le die gleiche Bezahlung. Außerdem wollen wir darüber entscheiden,
wer bei uns arbeitet und wollen uns keine Fachfrauen ins Haus setzen
lassen." Die genannten Auflagen des Bundessozialhilfegesetzes werden
in dem Begriff "staatlich-bürokratische Interessen" zusammengefaßt.
Eine Finanzierung nach dem Bundessozialhilfegesetz, welche die unter-
stützten Personen zu Objekten staatlicher Fürsorge aufgrund mangeln-
der subjektiver Existenzfähigkeit und damit auch zu Objekten staatli-
cher Kontrolle erklärt, wird von den Frauenhäusern abgelehnt. Schließ-
lich hätten die Frauen durch ihren Schritt, den elenden Verhältnissen
zu entfliehen, ja gerade ihre subjektive Kraft und den Willen, ein
selbstbestimmtes Leben zu führen, bewiesen.
Nun könnte man fragen: Ist es nicht staatliche Fürsorgepflicht, von
der 'Allgemeinheit' unterstützte Heime zu kontrollieren, ob die dort
gegebenen Lebensbedingungen auch erträglich sind (Belegzahl), nicht
unnötig Steuergelder in Anspruch genommen werden (Belegdauer), fach-
lich qualifizierte Sozialarbeiter tätig werden statt, wie ja häufig
schon geschehen, menschlich rohe und deformierte Personen, die ihre
Herrschaftsposition zur Unterdrückung und Schikane der ihnen Ausgelie-
ferten ausnutzen. Die pauschale Ablehnung jeder öffentlichen Kontrol-
le mit dem Begriff der "bürokratischen Interessen" vergißt, was in
der Bundesrepublik in der freien Wohlfahrtspflege immerhin alles mög-
lich ist. So berichtet "Die Neue" vom 16.10.1979: "Mitten in Köln
wird ein privates "Altenpflegeheim' wie ein KZ geführt ...Aufmüpfi-
ges Personal wird schnellstens entlassen ... Neun tote Patienten al-
32
lein in den letzten 5 Monaten ...'. Im folgenden wird über die grausa-
men Methoden der Pflege gegenüber den Patienten berichtet. Zum Ab-
schluß heißt es dann allerdings, "das Beschwerdezentrum für LHK-Pa-
tienten des SSK hat den Fall bereits vor längerer Zeit beim Land-
schaftsverband und beim Kölner Sozialamt angezeigt: Nichts!"
Hat die steuerzahlende "Allgemeinheit" nicht ein Recht und den Betrof-
fenen gegenüber nicht auch die Pflicht zur Kontrolle? Was soll dann
die Rede von den "staatlich-bürokratischen Interessen"? Einem sol-
chen Anspruch steht im Bewußtsein derjenigen, die alternative Formen
von Sozialarbeit versuchen, zunächst entgegen, daß sich kaum jemand
über Verhältnisse aufregt, wo Frauen und Kinder geschlagen werden,
Menschen unfähig zur Menschenwürde gemacht, in psychiatrische Anstal-
ten, Erziehungsheime, Fürsorgeanstalten abgeschoben werden, die als
Institutionen mit den ihnen innewohnenden Mechanismen noch einmal
die gesellschaftlich produzierte Ohnmacht der einzelnen, ihre Unfä-
higkeit zu menschenwürdigem Leben, befestigen und der Gesellschaft
insgesamt durch Ghettoisierung der Geschädigten ein gutes Gewissen
über ihre eigenen Verhältnisse verschaffen.
Einem solchen Anspruch von 'Kontrolle' steht auch entgegen, daß das
Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft nicht vom Standpunkt des
egoistischen Einzelnen her gedacht ist, der nur notdürftig durch den
Staat als Vertreter gemeinschaftlicher Interessen in Schranken gehal-
ten wird, eben durch Kontrolle. Sondern daß gesellschaftliche Fähig-
keiten der in den alternativen Projekten agierenden Einzelnen als
existent vorausgesetzt werden: Fähigkeit zur Kooperation an der Stel-
le von Konkurrenz: das aus freiem Willen und als Person sich auf an-
dere beziehende Individuum. Zumindest soll dies entstehen durch die
neuen Organisationsformen. Aber diese Vorstellung allein löst noch
nicht die Tatsache der Überbelegung, der mangelnden materiellen Res-
sourcen. Um staatlicher Kontrolle zu entgehen, wenden sich dann Frau-
enhäuser ans Netzwerk. Dieses präsentiert als Institution gewisser-
maßen noch einmal das Auseinanderfallen in 'zwei Gesellschaften':
eine autonom geregelte, selbstverwaltete, z.T. unter materiellen
Elendsbedingungen agierende auf der einen, eine mit sozialstaatlich-
kontrollierenden und auch materiell abgesicherteren Möglichkeiten auf
der anderen Seite. Zu Versuchen, den Außenposten als solchen zu nutzen,
von welchem aus nach innen Verhältnisse öffentlich hörbar kritisiert
werden, von dem aus also eine auf Veränderung dieser Teilung hinaus-
wollenden Konfrontation ausgeht, kommt es schwer. Ob dies an der fak-
tischen Schwäche der Alternativbewegung, in ihrem geringen Gewicht ge-
genüber dem, was herrscht, liegt, oder an eigenem Selbstverständnis,
ist gegenwärtig nicht auszumachen.
Um das Gemeinte zu konkretisieren, ohne in Spekulationen zu verfal-
len, ein Beispiel aus Italien für m.E. wirklich alternative Sozial-
politik.
ALTERNATIVE SOZIALPOLITIK MIT DEM SOZIALSTAAT
Im Buch "Das Rote Bologna" von Jaeggi/Müller/Schmidt wird über Experi-
mente einer nicht autonomistischen, aber trotzdem "alternativen! So-
zialpolitik am Beispiel des Kinderheims Casaglia demonstriert, was
gesellschaftliche Verantwortlichkeit ohne Bestätigung der Ohnmacht
der Betroffenen heißen kann. Zunächst wurde der Versuch gemacht, die
33
Institution eines Erziehungsheimes zu liberalisieren. "Die Heimkin-
der sollten z.B. ihre Freizeitbeschäftigung frei wählen können. Aber
die Logik der Institution erwies sich als stärker. Wenn etwa eine
Kindergruppe mit ihrem Erzieher beschloß, ins Kino zu gehen, dann
setzte das Heim als Organisationsstruktur diesem Beschluß eine ganze
Reihe von pädagogisch nicht auswertbaren Hindernissen ın den Weg; d.h.
Schwierigkeiten, die nicht die Kinder, sondern nur die Erwachsenen
lösen konnten, soweit sie dazu gewillt waren: Bei der Gemeindeverwal-
tung ein Auto oder einen Fahrer organisieren, das Geld für die Ein-
trittskarten zu besorgen. Und - was in einem Institut, 1n dem die ân-
gestellten das Recht auf geregelte Arbeitszeit haben, am schwierig-
sten ist: Das Nachtessen um eine Stunde oder zwei zu verschieben ...
Die Logik der Institution blockierte die Änderungsbemühungen der An-
gestellten." Aufgrund dieser Erfahrungen wird das Heim aufgelöst, die
Betreuer ziehen mit den Kindern in Wohngruppen in die Viertel, woher
die Kinder stammen, es wird versucht, durch Hilfe für die Familien
und Entwicklung des Selbstbewußtseins der Kinder, diese wieder in die
Familien zu integrieren. Die Stadtverwaltung veranlaßt die Schulen,
die Kinder in normale Klassen zu integrieren. (3) Und was die Kosten
einer solchen Sozialpolitik angeht: "Experten sind überzeugt, daß ei-
ne Rechnung, die alle sozialen Kosten fehlender Prävention einschlie-
ßen würde (etwa durch Kriminalität), wohl kaum zuungunsten einer gut
ausgebauten sozialen Vorbeugestruktur sprechen würde."
Diesem Beispiel liegt eine Konzeption von Sozialpolitik von seiten
der Bologneser Stadtverwaltung zugrunde, die eine gesellschaftlich
verantwortliche Antwort auf die mit dem Autonomiepostulat der Alter-
nativbewegung zunächst konkret kritisierte, aber damit noch nicht ge-
löste Problematik traditioneller Sozialfürsorgemaßnahmen versucht.
Mit dem Sammelbegriff (...) "handicappiti' umschreiben die Sozial-
politiker Bolognas alle Schwachen und Ausgeschlossenen, die über den
Prozeß der Ent-Institutionalisierung in die Gesellschaft integriert
werden sollen ... Die Gesellschaft, so finden die Bologneser Sozial-
arbeiter, soll sich mit dem auseinandersetzen, was sie hervorbringt.
Isolierung der Benachteiligten ist unmenschlich, für Betroffene und
Betreuer ... Nur die Integration der Randfiguren kann zu einer gesamt-
gesellschaftlichen Bewußtwerdung sozialer Probleme führen und damit
den Weg für präventive Maßnahmen ebnen ... Bolognas Sozialpolitiker
wollen das Ghetto bürgerlicher Wohlfahrt abschaffen." (4)
Der Sozialfürsorgestaat mit seinen ghettoisierenden Institutionen rea-
siert demgegenüber in der Tat rein kompensatorisch-systemstabilisie-
rend auf die von der Gesellschaft erzeugten Widersprüche und ihre
Opfer. Eine sozialistische Alternative zu dieser Politik kann weder
auf die Hoffnung bauen, Verelendung zwinge gewissermaßen Veränderungs-
willen hervor - solche Vorstellungen widersprechen historischen Er-
fahrungen ebenso wie jeder Gegenwartsanalyse über die Folgen etwa von
Arbeitslosigkeit; sie kann auch nicht die Politik des "Selbermachens",
der Autonomie um jeden Preis, als Lösungsstrategie anbieten. Gegen-
über solchen Vorstellungen bildet die an einem Beispiel dargestellte
Politik der Bologneser Kommune eine konkrete Alternative: Sozialpoli-
tik, welche die menschliche Würde jedes einzelnen zum Ziel hat und
welche sich gleichzeitig als Element gesamtgesellschaftlicher Bewußt-
werdungsprozesse begreift und insofern bewegendes Element sozialer
Veränderung ist. Dies kann auch noch einmal in Konfrontation zu dem
34
Vorschlag, welcher von konservativer Seite in Großbritannien vorge-
legt wurde, deutlich werden: danach sollen für 'auffällig' gewordene
jugendliche Arbeitslose Erziehungslager in der Nähe von Arbeiter-
wohnvierteln errichtet werden, in denen Zucht und Ordnung in der Wei-
se praktiziert werden sollen, daß keiner, der je da war, dorthin wie-
der zurück möchte: Ein Vorschlag, der in der Konsequenz der Sozial-
staatskritik von rechts auch in der BRD liegt: Die Elenden sollen
für ihr Elend bestraft werden, da sie ja selbst daran schuld seien
und das Ganze soll noch möglichst billig sein. Die "Gesellschaft"
lehnt jede Verantwortung ab.
Die verdeutlichende konkrete Realität ließe sich vielfältig verlän-
gern. Doch die Einzelfälle zeigen die Struktur dessen, was mit der
Kritik des Sozialfürsorgestaates von Rechts und von Links gemeint ist.
Und das Beispiel Bologna zeigt auch, in welche Richtung Sozialpolitik
sich entwickeln kann, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit als
Solidarität praktiziert und nicht als Verdrängung, Ausgrenzung, Kom-
pensation der durch die kapitalistische Gesellschaft erzeugten Wider-
sprüche und ihrer Opfer. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Er-
ziehungsheime, aber auch die Zunahme der Sonderschulklassen - all
diese Institutionen des "Sozialfürsorgestaates" stehen ihrer inneren
Struktur und ihrer Beziehung zur Gesamtgesellschaft nach in der Tat
für eine Sozialpolitik, die durch gewisse Geldleistungen denjenigen,
die es geschafft haben, die Opfer der herrschenden gesellschaftli-
chen Entwicklungsprinzipien vom Hals hält bzw. zu halten versucht:
Genau die Prinzipien, die von der politischen Rechten als "Freiheit
des Bürgers" noch einmal auf den Sockel gehoben werden sollen: der
asozialen Rücksichtslosigkeit der Konkurrenz, des Prinzips der indi-
viduellen Leistung, der "freien" Beweglichkeit der Individuen inner-
halb der Konkurrenz. Und je mehr Opfer diese gesellschaftlichen Ent-
wicklungsprinzipien fordern, man denke nur an die Zunahme des Alko-
holismus und der Resignation bei den Jugendlichen und an das zuneh-
mend vorzeitige Ausscheiden alter Menschen aus dem Produktionsprozeß,
ohne daß gleichzeitig das Prinzip der Lösung dieser Probleme in Form
kompensatorischer, die Opfer ghettoisierender Sozialpolitik in Frage
gestellt wird, je stärker wird die Möglichkeit der Rechten, die zu-
nehmenden Kosten als demagogisches Spielmaterial gegen den Sozial-
staat wenden zu können und auf gewalttätig-polizeiliche Lösungen der
Probleme zum Zwecke der Entlastung der 'Allgemeinheit' von entspre-
chenden Steuerabgaben zu drängen. Denn die existierenden institutio-
nellen Formen von Sozialfürsorge halten die Vorstellung aufrecht, es
handele sich um das Versagen von Individuen und nicht um das der Ge-
sellschaft. Sie demonstrieren nicht die Notwendigkeit der progressi-
ven Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklungsprinzipien.
Das Manko alternativer Projekte liegt darin, daß im Autonomiepostulat
gesellschaftliche Verantwortlichkeit allein als 'Rausrücken von Knete'
eines ansonsten gleichgültigen und für nicht veränderbar erachteten
Gemeinwesens eingefordert wird. So hängt es denn auch eher von poli-
tischen Zufällen ab, ob 'Knete' gewährt wird oder nicht. Die Überle-
bensfähigkeit der Projekte liegt so aber nicht im Bereich des durch
den eigenen Willen Beeinflußbaren, nicht einmal der Idee nach. Dimen-
sionen gesamtgesellschaftlicher Veränderung können so schwer gedacht
werden, werden ins Reich so und so unnützer Theorie verwiesen. Daß
dies aus der praktischen Situation der Projekte heraus verständlich
35
und erklärbar ist, ist unbestritten. Aber genau dies macht auch ihre
Begrenzung hinsichtlich gesellschaftskritischer Wirkung aus.
DIE DIMENSION DES WÜNSCHENS ALS KRITIK
Es sollte zu denken geben, daß die Normen menschlicher Beziehungen,
die spiegelbildlich im Gegensatz zu denen der politischen Rechten
stehen, gegenwärtig weniger von Gewerkschaften und SPD als - wenn auch
zum Teil die eigene Ohnmacht spiegelnd - von der Alternativbewegung
formuliert werden. Die Menschen sollen gleiche Möglichkeiten nicht
nur der Entwicklung ihrer Fähigkeiten in der Schule, sondern auch de-
ren Anwendung und Weiterentwicklung in der Arbeit haben. Man versucht
dies durch Schaffung eigener Arbeitszusammenhänge und Realisierung
der Gleichheit durch Rotation von Tätigkeiten innerhalb derselben her-
zustellen. Den Opfern der Leistungsgesellschaft gebührt nicht nur ei-
ne materielle Existenzsicherung, sondern gleichermaßen praktizierte
Solidarität. Sie sind nicht Versager, sondern in ihnen reflektiert
sich das Elend der Gesellschaft. Sie sollen zur Selbsthilfe befähigt
und nicht noch einmal als Objekte verwaltet werden. Die Negation der
Arbeit als menschlicher Tätigkeit, die Reduktion menschlicher Frei-
heit auf die Sphäre der Konsumtion gilt es zu beseitigen: Man ver-
sucht in den Nischen der kapitalistischen Produktion sich arbeitend
selbstverwaltend anzusiedeln und dabei eine andere Vorstellung von
Arbeit zu entwickeln und zu praktizieren.
Die freie Zeit ist der Möglichkeit nach "Reich der Freiheit', der Ent-
faltung und Selbstverwirklichung der Individuen, nicht gegen oder
gleichgültig gegen andere, sondern gerade mit anderen. In ihr sollen
die Individuen nicht wieder bloßes Objekt einer profitorientierten
Vermarktung von Bedürfnissen sein: Man entwickelt eine Gegenkultur,
fragt sich nach Möglichkeiten einer alternativen Kultur, sucht
dieses Feld, zunächst wenigstens für sich selbst, dem Kapital zu ent-
ziehen. Kapitalwachstum um des Kapitalwachstums willen bedeutet nicht
einfach Fortschritt: Da man sich den vorhandenen Reichtum nicht ge-
sellschaftlich aneignen kann, sondern aus der Situation heraus eine
normative Kritik, die kaum gesellschaftliche Machtinstrumente ent-
wickelt hat, praktiziert, formuliert man die Kritik im demonstrativ
ärmlichen Leben und nimmt Über-Arbeit in Kauf, um zu zeigen, daß es
auch ohne geht. Die Formen, in denen die Kritik praktiziert wird, re-
flektieren selbst noch, daß es eben nicht die herrschende Kritik der
herrschenden Verhältnisse ist.
Die Unglaubwürdigkeit alternativer Versuche "zu leben und zu arbeiten"
für diejenigen, die an der traditionellen Arbeiterbewegung orientiert
sind, hat allerdings ihre materielle Grundlage. Solche alternativen
Lebensformen siedeln sich in Nischen des Systems an, in Winkeln der
Marktwirtschaft, an Punkten, wo das staatliche Sozialfürsorgesystem
offensichtlich versagt und wo das schlechte Gewissen der Kommunen
über dieses Versagen materielle Unterstützung für neue Versuche ge-
währt. ABM-Gelder, Subventionen für kleine Betriebe, das Gesamt-Ge-
strüpp staatlicher Subventionspolitik wird durchforstet, um Lebens-
möglichkeiten zu finden. Ein Teil derjenigen, die an einem Projekt
arbeiten, beziehen Arbeitslosenunterstützung oder werden aus ABM-Gel-
dern bezahlt, man nimmt in der Rechtsform "freier Wohlfahrtsverbände",
die von der Katholischen Kirche im wesentlichen durchgesetzt wurde,
36
das Subsidaritätsprinzip in Anspruch und im äußersten Notfall hilft
das 'Netzwerk'. Sicherlich gibt es auch "sich selbst tragende Projek-
te" im Bereich handwerklicher Produktion, aber im wesentlichen tragen
sich die Projekte eben doch nicht selbst und können es auch nicht.
Zudem findet sich häufig auch unmittelbare materielle Existenznot bei
minimalem Einkommen und natürlich auch Überarbeit.
Es handelt sich also im wesentlichen um moralische, ideelle Negatio-
nen der vorhandenen Vergesellschaftungsform, so praktisch die Projek-
te auch sein mögen. Oder noch deutlicher gesagt: Ohne daß in die Ar-
beitslosenversicherung gezahlt würde von denen, die in der "Industriel-
len Mega-Maschine' arbeiten, könnten auch keine ABM-bezahlten Projek-
te organisiert werden. Es kann sich eben nicht jeder den entstellen-
den Zügen der Konkurrenz einfach als einzelner oder als kleine Grup-
pe entziehen.
Natürlich ist allen bewußt: Die linken Schreinereien, Alternativlä-
den, Tagestätten etc. würden sich schnell zu Tode konkurrieren, wenn
sie von viel mehr Leuten als Ausweg zur Veränderung ihrer Lebend-
praxis versucht würden. Was solche Versuche, alternativ zu leben und
zu arbeiten, gesellschaftlich relevant macht, ist, daß sie die Dimen-
sion des Leidens unter gegebenen Verhältnissen offenlegen, daß sie
die Dimension des Wünschens anderer Verhältnisse unter den Menschen
offenhalten, das "Prinzip Hoffnung". Ist es doch der eingefahrene
Mechanismus der Machtauseinandersetzung, der heute in den Gewerkschaf-
ten gerade diese Dimension des Wünschens als produktive Kraft verschüt-
tet: Weil die Kollegen das Vertrauen in die Organisation verlören,
die Organisation gegenüber dem Gegner geschwächt würde, sei es ge-
werkschaftsschädigend, Forderungen zu stellen, die nicht durchge-
setzt werden könnten: dies eine gängige Argumentation innerhalb der
gewerkschaftlichen '"Großorganisationen',
Es ist nicht schwer, der Alternativbewegung mangelnde theoretische
Differenzierung bis hin zur Theoriefeindlichkeit, Beschränkung auf
die kleine Gruppe, Träume von menschlicher Geborgenheit in der klei-
nen Gruppe ohne Rücksicht auf das, was rundherum geschieht, vorzuwer-
fen. Andererseits ist aber auch zu fragen, wie weit diese Momente
nicht umgekehrt den Zustand der Sozialdemokratie und der Gewerkschaf-
ten reflektieren.
SOZIALDEMOKRATIE, FORTSCHRITT UND SOZIALSTAAT (5)
Technischer Fortschritt als automatischer Produzent von gesellschaft-
tichem Fortschritt
In der Weimarer Republik wähnten sich Gewerkschaften und Sozialdemo-
kratie an der Spitze des Fortschritts, wenn sie die Rationalisierung
der Unternehmen als Bedingung der Verbesserung der Lebensbedingungen
aller einforderten. Der faschistisch revoltierende Mittelstand mit
seinen Träumen von der Auflösung der Warenhäuser, von einer klein
dimensionierten Produktion konnte nur als Ausdruck reaktionären Be-
wußtseins einer Klasse gewertet werden, deren Untergang durch den
historisch notwendigen Gang der Entwicklung der Produktivkräfte eben-
so naturgesetzlich vorherbestimmt schien wie der Aufstieg der Arbei-
37
terklasse. Diese begriff sich als Produzent und Reprässentant der ent-
wickelten Produktivkräfte und ihre Organisationen begründeten darauf
den Anspruch, Vertreter der fortschrittlichsten Klasse zu sein.
"Das ist das ökonomisch historische Fundament des Nationalsozialis-
mus. Bürger, Bauern, Angestellte, seine Träger, sie sind nicht anti-
kapitalistisch schlechthin, sie sind nur gegen den Hochkapitalismus,
gegen Bank- und Industriekapitalismus; sie wollen das Rad der spätka-
pitalistischen Entwicklung aufhalten ... sie sind ökonomisch reaktio-
när und daher sowohl gegen den Hochkapitalismus wie gegen den Marxis-
mus." Man spürt "die prinzipielle Verwandtschaft der ökonomischen Or-
a des Hochkapitalismus und des Sozialismus mehr oder weni-
ger. 6
Das naturgesetzliche Entwicklungsdenken, der "Ökonomismus' und "Deter-
minismus" der alten Sozialdemokratie hatte in der Ausrichtung der
Fortschrittshoffung auf die Entwicklung der Produktivkräfte als An-
wendung der Wissenschaft auf den Produktionsprozeß und als Resultat
der eigenen Arbeit eine entscheidende Wurzel. Schließlich ist ein
solcher Prozeß nicht einfach durch subjektiven Willen, durch Verände-
rung der Individuen, durch Kulturrevolution, durch soziale Bewußt-
seinsveränderungen oder irgendetwas dergleichen zu beschleunigen,
allenfalls durch eine rationellere Gesamtorganisation mit dem Zweck
rationellerer Verteilung zu Gunsten der Arbeiterschaft. Gewisserma-
ßen konnte man abwarten, bis der Kapitalismus den Sozialismus bringen
würde. "Fortschritt in der Entfaltung der Produktivkräfte ist dem Ka-
pitalismus durch seine eigene Dynamik aufgezwungen." (Marcuse)
Leistete der Kapitalismus die Entwicklung der Produktivität und ga-
rantierte er dabei noch einigermaßen die Lebensbedingungen der Arbei-
tenden durch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Einwirkung,
Ro schien jede politische Anstrengung zu seiner Aufhebung eher sub-
jektivistisches Abenteuertum. Kapitalkonzentration und Zentralisa-
tion und die ihr entsprechende technische Gestalt der Produktionsmit-
tel wurde als sich herausbildende materielle Basis sozialistischer
Planung betrachtet, alles andere erschien als ökonomisch reaktionär.
Die diesen Formen entsprechende Vergesellschaftungsformen hierarchi-
scher Unternehmensorganisation und Arbeitsteilung blieben ebenfalls
unkritisiert. Der technische Fortschritt und die ihn tragende Arbeit
der Arbeiter sollte nicht nur Produzent des Reichtums, sondern auch
des Sozialismus sein. Das Gleiche gilt für die DDR-Theorie nach 1945.
In der Weimarer Republik findet diese Vorstellung etwa ihren Höhe-
in der Stellung der Gewerkschaften zur Rationalisierung: "Ford
ee ner g schon innerhalb der privatkapitalistischen
JENER len ee 5 Wege weist, die gegangen werden müssen und auf
Feen Lane erst aufbauen kann. Das
ki Ye ag € liche Prinzip, was seinem Handeln zugrunde liegt,
Dinmat ann Anz aen blasen, in der aa sutaisht, 17) nie
tet. "Die Verkürzung d A st wurde als Naturnotwendigkeit betrach-
wehänferisch B er rbeitszeit ist das einzige Mittel, das
P schen Ersatz gibt für die wesenlos gewordene Arbeit." (8)
Inden die alte Hoffnung von der "Befreiung der Arbeit" aufgegeben und
das Reich der Freiheit in die Freizeit verlegt wurde, überließ man der
Möglichkeit nach dem Kapitalismus zu definieren, was Freiheit und Be-
dürfnis sel: Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen, und die
seien grundsätzlich unendlich, was gleichzeitig die Ewigkeit der ka-
38
pitalistischen Produktion beweise und die Ewigkeit des Fluchs der Ar-
beit bestätige. Es ist wohl nicht ganz abwegig, den nahezu völligen
Verlust sozialistischer Traditionen in den Arbeiterorganisationen der
Bundesrepublik auch als genuines Produkt des alten Ökonomismus zu be-
greifen. Dabei verstehe ich hier unter Ökonomismus weniger die Krisen-
theorie als den Glauben an den naturgesetzlich fortschrittlichen
Gang der Technologie und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen
Formen der Organisation der industriellen Produktion, einmal abgese-
hen von der Konkurrenz. Die negativen Resultate technologischen Fort-
schritts galt es durch die Entwicklung des Sozialstaats abzufangen:
Arbeitslosenversicherung für die Arbeitslosen, Invalidenrente für die
von der Arbeit endgültig Krankgemachten, Krankenversicherung für die
vorübergehend Krankgemachten. In der Stabilisierung dieses Systems
der Vergesellschaftung unter Berücksichtigung der Interessen der Ar-
beitenden als Träger individueller Rechtsansprüche trat auch der ur-
sprüngliche Begriff von Solidarität als Fähigkeit der Individuen zur
gemeinsamen Selbsthilfe zunehmend zurück. Die Arbeiterbewegung als
"Lager", als Gesellschaft innerhalb und zum Teil auch außerhalb der
Gesellschaft, die Individuen durch persönlich praktiziertes Zusammen-
gehörigkeitsgefühl und gegenseitige Hilfeleistung verbindend, die ge-
genseitige Hilfe auch durch gemeinsame Kassen organisierend, eine ei-
gene Kultur entwickelnd und gegen das Bürgertum sich abgrenzend: So-
lidarität als Kulturnorm gegen die des bürgerlich-egoistischen Indi-
viduums setzend. Diese Arbeiterklasse hat sich in der Bundesrepublik
in der Tat aufgelöst.
Die Solidarität ist in den Himmel der Institutionen gewandert
Gemeinschaftliche Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten wurden und wer-
den entweder mit oder ohne Druck der Gewerkschaften vom Gesetzgeber
zu staatlichen Aufgaben erklärt. Dort werden sie als gesellschaftli-
che Sondertätigkeit bürokratisch arbeitsteilig verwaltet. Die Indi-
viduen haben dann nichts mehr damit zu tun. Wo in den Gewerkschaften
Solidarität als individuelle Fähigkeit und als Solidarität der Glei-
chen erinnert wird, gilt sie vor allem als solche der Leistungsfähi-
gen, der Beschäftigten, derer, die es geschafft haben. Die anderen
werden mehr oder weniger guten Gewissens der Sozialfürsorge als Ob-
jekte der Staatstätigkeit überlassen. Solidarität wird von der So-
zialdemokratie eher im Sinne der alten Katheder-Sozialisten umdefi-
niert: nämlich daß der Staat sich um die sozial Schwachen zu kümmern
habe. Der einzelne selbst entlastet sich von "Solidarität". Er ver-
folgt als Einzelperson seine Interessen und stattet seinen gesell-
schaftlichen Zusammenhang und den Anspruch gegenseitiger Hilfe in
Geldbeträgen ab. Damit gehen aber die Momente kollektiven Bewußtseins,
die in den ersten solidarischen Organisationsformen der Arbeiter-
schaft vorhanden waren, und in denen die Organisationen selbst den
Sozialismus gewisserweise vorzuformen gedachten, verloren. Die mora-
lische Identität der Lohnabhängigen, die solidarisches Bewußtsein als
Kulturleistung dem bürgerlichen Egoismus und Individualismus entge-
genhielten, diese Identität verschwindet. Marcuse versucht das als
Problem unter den weiterentwickelten Verhältnissen zu fassen: "Es
geht um jeden einzelnen und um die Solidarität von Einzelnen, nicht
nur von Klassen und Massen." (9) Er meint die Notwendigkeit der Wie-
dergewinnung von Solidarität als gesellschaftlicher Fähigkeit der In-
39
dividuen.
Die Beschränkung der Ziele der Arbeiterbewegung auf die Entwicklung
der materiellen Produktivkräfte hat ihr den Charakter als Träger mensch\
licher Hoffnungen auf ein glücklicheres Leben in dem Maße genommen,
wie diese Entwicklung zufriedenstellend vom Kapital geleistet wurde:
Lohnerhöhungen plus Arbeitszeitverkürzung plus Versprechen für jeden,
durch Verbesserung des Bildungssystems mit gleichen Chancen an der
Konkurrenz und am Aufstieg teilnehmen zu dürfen: Daraus läßt sich
heute kein Gegenbild zu den Leiden, die in den existierenden Verhält-
nissen produziert werden, mehr stricken.
In dem Maße, wie von seiten des Kapitals die Entwicklung der Produk-
tivität als Prozeß der Destruktion von Umwelt und Menschen vonstatten
geht, besteht die Gefahr, daß die Beschränkung der Gewerkschaften auf
die alten Ziele diese Organisationen ihres fortschrittlichen Charak-
ters beraubt.
Was in der Kritik des "Sozialfürsorgestaates' und des "Bürokratismus'
der Großorganisationen von seiten der Alternativbewegung gemeint ist,
ist u.a. der in der Tat stattgefundene Verlust der Fähigkeit, sich
menschlich-gesellschaftlich zu verhalten, der Verlust solidarischer
Fähigkeiten und Normen der Individuen. Die alte solidarische Tradi-
tion der Arbeiterbewegung hat sich gewissermaßen von den Individuen
als Trägern abgelöst und ist in den Himmel der Institutionen gewan-
dert, wo sie dann oft nicht mehr erkennbar ist. Anders gesagt, sie
hat sich den Individuen entfremdet. Sie ist in den Institutionen ver-
gegenständlicht. Und das geht nicht ohne Veränderung des Inhalts ab.
Der Begriff Solidarität meint das Verhalten von Individuen. Eine so-
zialstaatlich verwaltete "Solidarität! ist - welche Fortschritte sie
auch sonst darstellt - eben keine mehr. Als sozialstaatliche Aktion
ist sie Resultat von Klassenkompromissen. Hilfe für die Schwachen
wird vom Kapitalismus nur insoweit zugestanden, als damit seine Ent-
wicklungsprinzipien selbst nicht in Frage stehen. Und dazu gehört so-
wohl die materielle Lebenssicherung wie die Bindung individueller
Hoffnungen und Wünsche in den Rahmen der existierenden Verhältnisse.
Im Sozialversicherungssystem sei "das Interesse an der Aufrechterhal-
tung und Reparatur von Arbeitskraft institutionalisiert, auf das das
Interessen der Menschen am Leben in dieser Gesellschaft" reduziert wer-
de. "Die Interessenkonstellation von gesellschaftlichem Leiden, das
in Ermangelung der Möglichkeit aktiver Auseinandersetzung mit seinen
Umständen betäubt zu werden wünscht, mit den Interessen der Ärzte,
die dies versprechen, wenn man ihnen ihr hoch dotiertes Kompetenzpri-
vileg läßt, und den Interessen der Sozialstaatsbürokratie, die dies
zu finanzieren und zu organisieren behauptet, wenn die Betroffenen
ihr zuvor das Geld und die gesellschaftlichen Entscheidungsbefugnis-
se abgetreten haben, reproduziert diesen Betrieb auf erweiterter Stu-
fenleiter. Dahinter steht der große Kompromiß zwischen den Interessen
des Kapitals an der Reparatur der Arbeitskraft und den Interessen
der Arbeitskräfte, in dieser Gesellschaft leben zu können. Die Ent-
wicklung des Sozialversicherungswesens war ein Ergebnis dieses Kom-
promisses, und solange dieser Kompromiß funktioniert, solange wird
es die spontane Tendenz bleiben, daß gesellschaftliche Leiden und
Konflikte, die gesellschaftlich nicht ausgetragen werden können, als
Krankheit versicherungsrechtlich anerkannt, auf diesem Wege Wieder-
gutmachung fordern. Und die Konsequenz ist tatsächlich Medikalisie-
4o
rung und Bürokratisierung des Medizinbetriebs." (lo)
Die Krise des Sozialstaates besteht also nicht einfach darin, daß ihm
aufgrund ökonomischer Krisen die materiellen Ressourcen ausgehen. Das
geschieht auch. Aber keine neue Prosperität des Kapitals würde die
Krise des Sozialstaates in ihrer gegenwärtigen Form beseitigen kön-
nen. Um bei der Frage Gesundheit, Krankheit, Sozialversicherung zu
bleiben: Nicht die Krankenversicherung beseitigte die durch Hunger und
den Mangel an Luft, Licht und Hygiene sowie durch Überarbeitung er-
zeugten Krankheiten, sondern die Verbesserung und Verstetigung der
Einkommen, die Beseitigung von Elendsquartieren, die Herstellung hy-
gienischen Mindestbedingungen, die Verkürzung des Arbeitstags. Dem-
gegenüber sind heute "die häufigsten Erkrankungen chronische" und
"psychosomatische, die durch die Lebensweise im umfassenden Sinn ge-
prägt sind, psychische und organische Manifestationen gesellschaftli-
chen Leidens." (11) Keine weitere Entwicklung der Arbeitsproduktivi-
tät und keine dieser folgende gesellschaftliche Umverteilung durch
sozialstaatliche Maßnahmen wird diese Leiden beseitigen können. Es
sind Krankheiten der Individuen, welche nur durch Veränderungen im
Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft, zu anderen, zu ihrem ei-
genen Körper behoben werden können. Anders gesagt: Eine soziale Ge-
sellschaft wird nicht mehr einfach eine sozialstaatliche im herkömm-
lichen Sinn sein können.
Hinter entwickelte Subjektivität kann nicht zurückgefallen werden
Die Solidaritäts- und Selbsthilfeformen der alten Arbeiterbewegung
waren eindeutig durch den Zwang der ökonomischen und gesellschaftli-
chen Verhältnisse produziert. Sie waren Produkte der materiellen Not,
wuchsen auf dem gleichen Boden, auf dem auch die manchmal sehnsüch-
tig erinnerte Gemeinschaftlichkeit von Menschen nach dem Ende des
Krieges gewachsen ist. Demgegenüber ist die Entwicklung zum 'Sozial-
staat' auch mit der Produktion von Bedingungen einhergegangen, die
den Spielraum dafür eröffnet haben, daß aus dem 'Klassensubjekt' die
einzelnen als solche, um die es ginge, hervorgetreten sind. Wurden
etwa in der Weimarer Republik Forderungen nach Arbeitsschutz noch
häufig damit begründet, daß ein ausbeuterischer Umgang mit der 'Ar-
beitskraft' unökonomisch, volkswirtschaftlich schädlich und nur ein-
zelwirtschaftlich rationell sei, so wird in der Humanisierungsdebatte
heute schon mit dem Recht des einzelnen, mit seiner Existenz als Sub-
jekt argumentiert, das Zweck für sich und nicht nur Mittel zur Ent-
wicklung der Produktivkräfte sei.
Dieses Heraustreten des Einzelnen als Subjekt ist m.E. nicht unabhän-
gig von der Entwicklung des bürgerlichen - zum Sozialstaat, welcher
dem einzelnen Lohnabhängigen die Erfahrung vermittelt hat, unterm
Schutzschild der Sozialpolitik aus eigener Kraft etwas bewirken zu
können, als Subjekt zur Geltung zu kommen. Die Menschen machen ihre
Geschichte selbst, und dies gilt spätestens seit der Novemberrevolu-
tion auch für die Lohnarbeiter. Sie machen sie unter gegebenen Bedin-
gungen und Umständen, aber sie machen sie. Die kommunistische Kritik
an dieser Integration als Werk sozialdemokratischer Arbeiterverräter
will dies nicht wahrhaben. Die 'Massen' werden - und der Begriff sagt
es schon - in dieser Vorstellung nicht nur als Objekt des Kapitals,
41
sondern auch noch einmal als bloße Objekte ihrer Führer denunziert.
Jedes eigene Wollen als Subjektivität wird den Einzelnen dabei abge-
sprochen. Man muß da durchaus selbstkritisch sein, Wie leichthin un-
terläuft einem selbst der Begriff vom "kollektiven Handeln' als rein
emphatisch unkritischer. Gerade linke Intellektuelle, die sich doch
zumindest zu reflektierenden Subjekten - wenn dies auch nicht alles
ist - entwickelt haben, schwärmen vom Handeln der Massen. Ist der Ge-
stus nicht verräterisch? Da der Kopf allein nicht handeln kann,
braucht man ausführende Instrumente für seine Ideen.
Warum gelingt es aber der marxistisch geschulten Intelligenz so
schwer, sich gesellschaftliche Veränderungen vom Standpunkt geworde-
ner Subjektivität und der Widersprüche, unter die diese heute gesetzt
ist, zu denken. Auch was sich gegenwärtig als Gewerkschaftslinke be-
greift, interpretiert häufig das "Individuum-Sein' der Lohnabhängigen
allein nach der Seite der Integration in die bürgerliche Gesellschaft.
Marxinterpreten, auf die da zurückgegriffen wird, begreifen den ent-
wickelten Anspruch der Individuen auf Selbsttätigkeit nur als Fetisch-
gestalten, Verhüllungen der eigentlich kapitalistischen Kerngestalt,
die darin bestünde, daß die Lohnabhängigen nichts als Objekte des Ka-
pitals seien. Von da aus wird ein Mythos von Kollektivität, Disziplin,
Einheit und Macht aufrechterhalten, in dem die von der Alternativbe-
wegung formulierten Bedürfnisse, Person zu sein und die Leiden darü-
ber, es nicht sein zu können, keinen Platz haben.
Die Alternativbewegung präsentiert in ihren Vorstellungen und in
ihrer Praxis sich entwickelnde menschliche Wünsche, Gesellschaftlich-
keit weder als blinden Konkurrenzzusammenhang, noch auch als nur über
den Individuen stehende Institutionen, sondern eben auch als indivi-
duelle Fähigkeit zu entwickeln, hinausgehend über den alten Begriff
der Solidarität der Arbeiterbewegung, wo man aus 'Not' zusammenzuste-
hen gezwungen war: Nämlich demgegenüber den Wunsch, sich Reichtum als
solchen von menschlichen Beziehungen anzueignen, Brüderlichkeit nicht
nur im disziplinierten Kampf mit dem gemeinsamen Gegner, sondern Brü-
derlichkeit und Schwesterlichkeit als Bedingung der eigenen Entwick-
lung selbst. Und auch den Wunsch, das Verhältnis zwischen Mensch und
Natur zu ändern. Die Alternativbewegung geht diese Wünsche praktisch
an. Daß sie das als Negation nach allen Seiten hin tut, in beschränk-
ter und mit Momenten historischen Zurückgehens versehener Form, 2.T.
auch wiederum aus der Not des nicht mehr unter gegebenen Verhältnis-
sen Könnens, liegt nicht nur an ihr, sondern reflektiert diese Ver-
hältnisse kritisch. Was da gewünscht wird, geht über das, was in der
historischen Figur des Lohnarbeiters gewünscht wird, hinaus, und in der
Isolierung fällt es auch z.T. dahinter zurück.
Aber auflösbar ist dieser Widerspruch weder in die Richtung einer
schlichten Wiederbelebung vergangener Normen der Arbeiterbewegung,
noch in der Strategie der Autonomie als Unabhängigkeit einer autonom
regulierten zweiten neben der ersten Gesellschaft. An diesem Punkt
angelangt, muß das Nachdenken eigentlich erst richtig beginnen.
ANMERKUNGEN
(1) Joseph Huber, Das Unternehmen, Modell einer selbstverwalteten
42
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
Wirtschaft, S. 145-147, in: Kursbuch 53, 1978
Das folgende ist zitiert nach einem Antrag des Bremer Frauenhau-
ses auf Unterstützung durch Netzwerk
Jaeggi/Müller/Schmidt, Das rote Bologna, Zürich 1976, S. 197£.
ebda., S. 196
Und der Psychiatrieprofessor Eustachio Loperfido formuliert: "Die
grundsätzliche Alternative besteht darin, die Probleme, die Wider-
sprüche in die Gemeinschaft zurückzutragen, in der sie entstanden
sind, damit man ihren Ursprung entdeckt und ihre Gründe bekämpft;
damit die Gesellschaft selbst sich all dessen bewußt wird und be-
mächtigt, also ihre eigenen Fähigkeiten mobilisiert, um ihre ei-
gene Entwicklung in den Griff zu bekommen." (195) "Welche Refor-
men auch immer gemacht werden, das Institut setzt den gesell-
schaftlichen Absonderungsmechanismus fort, statt ihn aufzuhalten.
Mit dieser Erfahrung gingen die Casaglia Reformer an die Auflö-
sung des Kinderheims. Die Begründung für diesen Schritt, von dem
sie die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung zu überzeugen ver-
mochten, legten sie in ihrem Arbeitsbericht vom Il. Mai 1971 dar:
'Die Gesellschaft, so wie sie heute strukturiert ist, schafft Pro-
bleme der Marginalisierung und Nichtanpassung. Die Institution als
Antwort auf diese Probleme dient nur zur ... Verschleierung ...
einer Reihe von nicht gelösten Problemen." (198/99)
Der Einfachheit halber gehe ich hier nicht auf die kommunistische
Tradition im besonderen ein. Vgl. dazu etwas ausführlicher:
Christel Neusüß, Produktivkraftentwicklung, Arbeiterbewegung und
Schranken sozialer Emanzipation, in: PROKLA 31
Günter Kaiser, Der Nationalsozialismus, eine reaktionäre Revolu-
tion, 1931, dokumentiert in: Wolfgang Luthardt, Hrsg., Sozialde-
mokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, Materialien
zur gesellschaftlichen Entwicklung, 1927-1933, 2 Bde. Ffm 1978,
Bd. 2, S. 322
Elisabeth Schalldach, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinfla-
tionszeit im Urteil der deutschen Gewerkschaften, Jena 1936, S. 57
W. Eggert, Rationalisierung und Arbeiterschaft, Berlin 1927, Re-
ferat auf der Betriebsrätekonferenz des ADGB, S. 26
Marcuse, Fortschritt und Innerlichkeit, in: Die Neue, 26.9.79
(lo)Rainer Möhl, Schlichtes Weltbild? Zu '"Maßlose Medizin-Antworten
auf Ivan Illich', in: Forum für Medizin und Gesundheitspolitik
Nr. 14/Mai 1980/S. 78)
(11) ebda.
x
43
KRIMINALSOZIOLOGISCHE
BIBLIOGRAFIE
SENSATION 7
Schwerpunkthefte:
- Kriminalität in den Massenmedien (11-13)
- Michel Foucault & Das Gefängnis (19/20)
Kontrollierte Frauen (23/24)
- Cannabis - Prohibition und Legalisierung (26/27)
Alternativen zum Strafprozeß
Haftentlassenenhilfe
Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften
für die Rechtswissenschaft
- Korruption
Bibliografie: neuerscheinende Bücher und Artikel
Aufsätze — Rezensionen — Berichte
Abo und Probehefte: Ludwig Boltzmann Institut für Kriminal-
soziologie, Postfach 1, A-1016 Wien. Einzelheft: S 40 (DM 7). Abo:
S 150 (DM 23), Studenten S 100 (DM 16), Institute S 250 (DM 35)
Heinz Steinert
“ALTERNATIV” - BEWEGUNG UND SOZIALARBEIT
ODER
Wie “ der Staat” die Probleme enteignet und warum man
ihn trotzdem nicht einfach rechts liegen lassen kann (1)
NACHTRÄGLICHE VORBEMERKUNG
Die Arbeit an diesem Thema hat mir mehr Schwierigkeiten gemacht als
ich beim Schreiben gewöhnt bin. Das liegt wohl daran, daß die Reali-
tät, auf die sie sich bezieht, voll von Widersprüchen ist, daß ich
mich sträube (oder es nicht schaffe), daraus eine "glatte" politische
"Lösung" zu finden, und daß ich mich dadurch in Widerspruch zu eini-
gen vorherrschenden Stimmungen und Selbstverständlichkeiten setze.
Letzteres bezieht sich vor allem auf die Haltung zu "dem Staat", wo
ich als vorherrschende Selbstverständlichkeit wahrnehme, daß eine Po-
litik zu finden sei, die sich staatlichem Zugriff entzieht und auch
keinerlei Hoffnungen (und damit Arbeit) in die staatlichen Apparate
investiert. Für eine solche politische Linie gibt es eine Reihe von
guten Begründungen, die ich teile und in Abschnitt I und 2 der Arbeit
zu entwickeln versuche,
Die "Durchstaatlichung der Gesellschaft", die als historischer Pro-
zeß zu beobachten ist (2), hat, ebenso wie die "Durchkapitalisierung
der Gesellschaft", mit der sie parallel geht und die sie ergänzt, ho-
he Kosten, vor allem auch für mögliche Zukünfte, in denen die freie
Assoziation der Produzenten Prinzip der Vergesellschaftung sein könn-
te. Diese Kosten sind daher zunächst zu beschreiben. Dann kommt aber
gleich als zweites dazu, daß ich daraus nicht einfach nur den Schluß
ziehen kann, man müsse eben an der möglichsten "Entstaatlichung' der
Gesellschaftsorganisation arbeiten. Diese Schlußfolgerung ist schon
richtig, aber leider nur "im Prinzip". Wenn wir uns die Realität an-
sehen, dann ist deutlich, daß der hoffnungsvollste Ansatz solcher
"Entstaatlichung", das, was wir heute als "Alternativ-Kultur'' und
"-Ökonomie" kennen, selbst recht staatsabhängig ist, in Widersprüchen
und Nischen der gegenwärtigen ökonomischen und staatlichen Verfaßt-
heit nistet und sich nur mit Hilfe eines Stücks von "falschem Be-
wußtsein" als gegen diese Verfaßtheit gerichtet oder zumindest als un-
abhängig von ihr verstehen kann. Auch diese tatsächliche Abhängigkeit
darzustellen und zur Kenntnis zu nehmen, halte ich für wichtig. Das
geschieht in Abschnitt 3.
Daraus könnte man jetzt den Schluß ziehen, daß dann eben die "Alter-
nativ-Kultur" aus dieser Staatsabhängigkeit zu befreien sei, daß man
ihren Gegenentwurf radikalisieren müsse. Diese Schlußfolgerung halte
ich für illusionär. Ich glaube nicht, daß die Staatsabhängigkeit der
"Alternativ-Kultur"' nur eine Unvollkommenheit ist, die man bereini-
gen kann, vielmehr halte ich sie für konstitutiv dafür, daß sich eine
solche Kultur überhaupt entwickeln und halten kann. Daraus wiederum
mag ich aber nicht den Schluß ziehen, daß dann eben diese "Alterna-
tiv-Kultur'"' als politische Kraft zu vergessen sei, daß dann eben auch
hier "nichts geht". Ich meine im Gegenteil, daß genau diese Abhängig-
keit, realistisch zur Kenntnis genommen, zum Hebel gesellschaftlicher
und politischer Weiterentwicklung werden könnte. Das heißt einerseits,
daß die unter anderem staatlichen Möglichkeiten, alternative Projekte
zu befördern, genützt werden sollen, daß andererseits das wieder dazu
45
benützt werden müßte, die staatliche Verwaltung, speziell die Organi-
sation der öffentlichen Dienstleistungen so zu verändern, daß sie die-
ser Aufgabe besser entsprechen können. Ich denke also, wir können beis
de Seiten nicht aufgeben: Ich denke, daß in der Tat Projekte der "Al-
ternativ-Kultur" Elemente neuer Formen der Vergesellschaftung enthal-
ten, auch wenn sie vom Staat abhängig sind, und ich denke, daß wir
die staatlichen Apparate nicht einfach ignorieren können, daß auch
sie verändert werden müssen, auch wenn (und gerade weil) sie solchen
Elementen neuer Vergesellschaftungsformen auch (und vorwiegend) kon-
trollierend und repressiv gegenübertreten. Hier liegt dann eine Funk-
tion für die, die in der Produktion öffentlicher Dienstleistungen ar-
beiten, z.B. die Sozialarbeiter.
Diese etwas verwinkelte Argumentationslinie stellt also den Aufbau
der Arbeit dar. Dieser Aufbau wird noch unübersichtlicher dadurch,daß
ich zuletzt halt kein glattes Rezept dafür angeben kann, wie diese f
Arbeit in den Einrichtungen der öffentlichen Dienstleistung im Detail
aussehen kann. Ich fürchte, da hilft nur Ausprobieren in Nutzung der
jeweiligen Möglichkeiten der konkreten Situation, wie wir es an der
Universität tun und wie es in anderen öffentlichen Diensten auch ge-
schieht. Das ist ziemlich unbefriedigend, aber dann gehört es auch
wieder zu den wichtigeren politischen Erfahrungen der letzten Jahre,
daß unklare politische Situationen, solche, in denen man nur eine un-
gefähre Orientierung hat und keine eindeutigen Rezepte dafür weiß, wie
sich eine sozialistische Zukunft durchschlagend befördern läßt, ausge-
halten werden müssen und ausgehalten werden können, wenn man sich vor
maximalistischen Euphorien hütet und sich vom eigenen manchmal hilf-
losen Zorn nicht selbst entmutigen läßt. Die Brüche und Nischen, in
denen die "Alternativ-Kultur'' haust, sind da Ermutigung und Überlebens-—
möglichkeit zugleich.
1. ENTEIGNUNG UND ZURICHTUNG DER KONFLIKTE (3)
Ein von mir im Rahmen der (Wiener) Bewährungshilfe betreuter junger
Mann sagte mir einmal in einem Gespräch nachdenklich: "Das ist doch
eigenartig, daß man erst was anstellen muß, bevor sich wer um einen
kümmert," Ich habe mich damals eines Kommentares enthalten, weil ich
die hier ausgedrückte Bitterkeit teile.
In dieser Bemerkung findet sich punktuell der Zustand ausgedrückt, in
den man generell gerät, wenn man in dieser Gesellschaft ein Problem
hat und nach Hilfe bei seine Auflösung sucht: Man steht dann einer
Reihe von Apparaten gegenüber, die sich historisch getrennt entwickelt
haben und deren Trennung heute durch professionelle, administrative
und ministeriale Kompetenzabgrenzungen festgeschrieben ist. Wie es
bürokratische Apparate so an sich haben, sind die Regeln des Zugangs
zu ihnen mehr durch ihre eigenen Bedürfnisse und Handlungsfähigkeiten
bestimmt, als durch die Probleme der Betroffenen - zumindest stellt
sich dieser Zustand sehr leicht und aus angebbaren Gründen, die in
der "Politik der sozialen Probleme" liegen, ein. Be- und verarbeit-
bar sind dann Probleme nur in der Aufarbeitung, die den Kompetenzen
des jeweiligen Apparates entspricht. Die Probleme erfahren damit eine
administrative Umdefinition, und was nicht in den Raster der vorgese-
henen Probleme und der dafür vorgesehenen Lösungen paßt, fällt durch
46
das "soziale Netz", das sich damit auch als Prokustesbett erweist.
Nicht nur das, sondern diese Apparate mit ihren selbstdefinierten Hil-
feangeboten schaffen gleichzeitig eine strukturierte Inkompetenz in
der Bevölkerung, Probleme anders als auf diesen vorgegebenen und li-
zenzierten Lösungswegen anzugehen. (4)
Schwierigkeiten, mit denen man sich an jemanden wenden will, müssen
entweder medizinische, fürsorgerische oder polizeiförmige Gestalt ha-
ben. Dazu kommt die neuerdings auch bei uns wild wuchernde Psycho-
Industrie (vergl. Nagel&Seifert, 1978), die zwischen Medizin, Fürsor-
ge und Freizeitgestaltung anzusiedeln ist.
Alle diese "Helfer-Institutionen'" verstehen sich als Dienstleistungen,
für die in der Bevölkerung ein Bedarf besteht und die deshalb von die-
ser benützt werden. Tatsächlich gilt aber hier wie bei Warenangeboten
auf einem Markt generell, daß dieses Angebot sich mehr aus den Bedin-
gungen seiner Produktion bestimmt als aus den Bedürfnissen der Konsu-
menten: Was gar nicht angeboten wird, kann weder angenommen noch zu-
rückgewiesen werden, und das, was angeboten wird, hat die Tendenz,
potentielle oder aktuelle Konkurrenzangebote mit allen Mitteln aus
dem Feld zu schlagen, die Wahlmöglichkeiten gar nicht aufkommen zu
lassen. Vor allem wird durch das Angebot der Bedarf erst hergestellt,
indem vorhandene Techniken der Problemlösung eliminiert werden, So hat
die heutige wissenschaftliche Medizin im Zug ihrer Entwicklung daran
mitgearbeitet, die "Volksmedizin" auszuschalten, das Wissen um die
Wirkung von Heilmethoden und Medikamenten zu monopolisieren, eine
Hilflosigkeit gegenüber Krankheiten zu erzeugen, aus der man sich nur
an den zugelassenen Arzt wenden kann. So macht es die vorgeschriebene
und zugelassene Schule unmöglich, Kinder selbst zu unterrichten,
selbst handwerkliche Berufe haben sich ein staatlich geschütztes Mono-
pol auf die Produktion ihrer Leistungen geschaffen, die damit allen
nicht Zugelassenen verboten wird, diese zu "Schwarzarbeitern'' und
"Pfuschern'' macht, und zwar unabhängig von ihrem Können auf dem Ge-
biet. Die Seltsamkeit dieses Zustandes wird besonders auffällig bei
Leistungen, die keine besondere Kompetenz brauchen oder eine, die je-
der hat oder leicht erwerben könnte, wie etwa mit den Konflikten des
Lebens umzugehen oder jemandem zu helfen, der ein Problem hat.
Im Fall der Konflikte des Lebens etwa hat das Strafrecht eine Zustän-
digkeit an sich gezogen, die häufig die vernünftige und für die am Kon-
flikt Beteiligten zufriedenstellende Lösungen mehr behindert als her-
beiführt. Indem ein Problem zu einem strafrechtlichen erklärt wird, er-
fährt es eine Deformation, in der die Interessen der Beteiligten,
von "Täter" und "Opfer" sich häufig nicht wiederfinden. Nils Christie
(1977) hat das anschaulich dargestellt: Er geht von einer Gegenüber-
stellung der gesellschaftlichen Bearbeitung von Konflikten aus, wie
wir sie in "primitiven" Gesellschaften und wie wir sie bei uns, in
der heutigen Art des Strafverfahrens, beobachten können. Dabei fällt
zunächst auf, daß der Staat die Interessen des Geschädigten absorbiert
hat, daß letzterer eine sehr marginale Rolle, hauptsächlich die eines
Zeugen, in dem ganzen Vorgang spielt. Der Prozeß der Konfliktbearbei-
tung ist ferner aus der sozialen Umgebung herausgelöst, in der der
Konflikt stattgefunden hat - er wird, wenn überhaupt, von Vertretern
der Medien beobachtet, die daraus eine Ware, ein spektakuläres Schau-
spiel für tatsächlich Uninteressierte machen und damit tun, was man
47
mit Waren so tut: sie möglichst profitabel verkaufen. (5)
Insgesamt ist der Vorgang, in dem die Aktivität hauptsächlich von den
professionellen "Vertretern" der (dadurch weiter deformierten) Inte-
ressen ausgeht, technisch, in seinen Regeln für den Laien schwer
durchschaubar und langweilig. Was dabei herauskommt, die Strafe, ist
am Täter orientiert und für alle außer ihm eine höchst abstrakte An-
gelegenheit - der Täter wird im Fall der Freiheitsstrafe "aus dem
Verkehr gezogen", im Fall der Geldstrafe zahlt er eine Buße an den
Staat; was das für die übrigen Beteiligten bedeutet, ist nicht von
Interesse - sie werden (als Geschädigte) "auf den Zivilrechtsweg ver-
wiesen" oder (als Angehörige, Freunde etc.) auf sich selbst und die
Fürsorge. Daher kann man dann (und am Jugendgericht ist die Art von
Äußerung wahrscheinlich besonders häufig) vom Geschädigten Aussagen
hören wie: "Das hab ich eigentlich nicht wollen, daß der Bub deshalb
eingesperrt wird. Und außerdem, wer ersetzt mir jetzt den Schaden?""
Damit wird der Konflikt aber noch in einem zweiten Sinn "enteignet":
Man verliert durch die Existenz solcher Apparate, die Probleme geru-
fen oder ungerufen an sich ziehen, auch die Fähigkeit, sich vernünf-
tig auseinanderzusetzen, Schwierigkeiten miteinander zu lösen, ohne
nach einer Autorität zu rufen, die entscheiden soll, Kompromisse ein-
zugehen, statt nach "Schuld" und "Unschuld" zu suchen, auch die, Koa-
litionspartner zu suchen, wenn man sich schlecht behandelt fühlt,
kurz: soziale Beziehungen und soziale Umgangsformen zu pflegen und
sich um das zu kümmern, was sich zwischenmenschlich in der Umgebung
so abspielt. Das gilt nicht nur für die Probleme, die heute straf-
rechtsförmig abgehandelt werden, sondern auch für solche, in denen
es um Hilfeleistungen geht, die jemand braucht (was übrigens in den
genannten, heute strafrechtsförmig abgehandelten Problemen gewöhnlich
auch der Fall ist), um Ratschläge oder auch nur um das geduldige Zu-
hören. Die Fähigkeiten dazu gehen in dem Maß verloren, in dem sich
spezialisierte Einrichtungen anbieten, die diese schlichten Formen
des sozialen Umgangs miteinander als "Dienstleistungen" verkaufen und
aufdrängen. Umgekehrt führt das dazu, daß diejenigen, die da Probleme
haben, diese in einer Form zu präsentieren gezwungen sind und sie zu-
letzt auch schon so wahrnehmen, wie sie von den "zuständigen" Einrich-
tungen aufgenommen werden können. Wir versuchen dann schon gar nicht
mehr, unsere Seelenschmerzen gemeinsam mit Freunden abzuarbeiten (wo-
bei sich vielleicht sogar herausstellen könnte, daß wir alle ähnliche
Schmerzen haben und daher vielleicht einmal deren Ursachen nicht jeder
in sich, sondern womöglich in unerträglichen Lebensumständen suchen
sollten, gegen die wir am Ende gemeinsam was unternehmen könnten),
sondern wir laufen zum Therapeuten, in die Selbsterfahrungsgruppe
oder nach Poona (und ersetzen damit Freundschaft durch Geld). Die bei-
den folgenden Beispiele aus soziologischen Untersuchungen sollen diese
Deformation der Probleme durch das vorhandene "Hilfe'"-Angebot noch-
mals illustrieren.
Strotzka et al. (1969) finden, daß in der Klientel eines praktischen
Arztes in einer Kleinstadt etwa 20% der Männer als "psychiatrische
Fälle" (großteils "psychogene Reaktionen") zu diagnostizieren sind,
allerdings mit einem interessanten Unterschied zwischen Männern aus
kleinstädtischem und denen aus landwirtschaftlichem oder industriel-
lem Milieu: bei letzteren überwiegt die Diagnose "organisch-psychisch
48
gemischt", bei ersteren die rein "psychiatrische" (6). Das heißt er-
stens, daß viele Leute sich für ihre "Seelenschmerzen'" Hilfe vom Dok-
tor erwarten, also ihn gar nicht nur als Experten für organische Lei-
den auffassen, als der er ausgebildet ist, und daß zweitens die Män-
ner aus dem "härteren" Milieu ihre Schwierigkeiten eher mit einem
Einschlag von "organischer" Krankheit präsentieren, bzw. nur dann
den Arzt aufsuchen, wenn sie das (auch) "organisch" rechtfertigen
können. j
Ein zweites Beispiel: In einer Untersuchung zur Jugendkriminalität
in einer neuen Stadtrandsiedlung Wiens, die in dem Ruf besonders ho-
her Kriminalität stand (was sich, an den Verurteilungen von Jugendli-
chen aus der Gegend gemessen, als unbegründet erwies), berichteten
uns die Polizisten dort, daß ihnen in der Siedlung auffalle, daß "die
Leute wegen jedem Schmarren zur Polizei rennen", mit Problemen also,
mit denen die Polizei nichts anfangen konnte, weil sie unterhalb des
Niveaus von "Kriminalität" lagen. Die Beobachtung ist aber deshalb
nicht weiter verwunderlich, weil die in der anfangs mit recht wenig
Infrastruktur ausgerüsteten Siedlung bunt zusammengewürfelten Leute
wenig andere Stellen, an die sie sich wenden konnten, und noch keine
auf persönlichem Kennen beruhende "private" Kultur der Konfliktbear-
beitung hatten (vergl. Edlinger, Steinert & Tumpel, 1976).
In dem letzten Beispiel wird nicht nur deutlich, wie die einzig ange-
botene Einrichtung die Definition der Schwierigkeiten verändert, son-
dern auch, wie wenig sie die Leistungen zu bringen imstande ist, die
hier nachgefragt werden: Die Leute brauchen nicht "wegen jedem Schmar-
ren" die Polizei, sie brauchen Arbeitsplätze für die Mütter in Fuß-
gänger-Distanz von der Wohnung, sie brauchen niedrigere Mieten, sie
brauchen, wenn der Unfug der Satellitenstadt schon passiert ist, we-
nigstens ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrsmittel ins Zen-
trum - und sie wissen das alles auch. Aber sie bekommen nicht, was sie
brauchen, oder nur langsam und stückweise und erst, wenn sie damit
drohen, daß ihre Kinder "alle kriminell werden in der Umgebung". Tat-
sächlich hat der schlechte Ruf, den die Siedlung (ungerechtfertigt)
erworben hat, mit dazu beigetragen, daß dort energischer einiges an
Infrastruktur aufgebaut wurde. Daraus läßt sich einiges über Politik
lernen: Leistungen müssen in ihr mit Drohungen abgepreßt werden. Der
schlichte Hinweis, daß es einem schlecht geht, genügt nicht. Und Kri-
minalität ist eine der Währungen, in denen da gehandelt wird (Wähler-
stimmen sind eine andere).
2.“ HILFE STATT STRAFE” ODER: WANDLUNGEN DER KONFLIKTENTEIGNUNG
Die genannten Absurditäten gerade der strafrechtlichen Deformation
von Problemen haben unter anderem auch zu der liberalen Forderung ge-
führt, die strafrechtliche durch eine sozialrechtliche Intervention
abzulösen und zu verdrängen. ("Hilfe statt Strafe" ist das Schlagwort
dafür, modernisiert dann "Therapie statt Strafe".) Bei dieser gefor-
derten Verschiebung der Art der staatlichen Intervention bleiben al-
lerdings einige Strukturelemente erhalten: "Die Einrichtungen des
Sozialstaats unterscheiden sich gelegentlich, was den Kontaktverlust
zur Außenwelt und die psychischen Wirkungen auf die Insassen angeht,
kaum von denen des strafenden Rechtsstaats" (Stolleis, 1979, S. 141).
Neben den hier angesprochenen geschlossenen Anstalten, die - sozial-
49
rechtlich organisiert und finanziert - als "Hilfe" angeboten werden,
stehen in den sozialstaatlichen Interventionen aber subtilere Aus-
schlüsse und Disziplinierungen zur Verfügung. Die Konflikte und Pro-
bleme werden auch hier in einer spezifischen Weise deformiert. Diese
Verzerrung liegt im Fall der sozialrechtlichen Intervention vor allem
in zwei Merkmalen: In der Monetarisierung der Leistung (die für So-
zialrecht spezifisch ist) und in der Individualisierung (die Sozial-
recht und Strafrecht gemeinsam ist), die sie voraussetzt und beför-
dert. Es ist freilich im Fall des Sozialrechts mit seiner Vielfältig-
keit schwieriger als im Fall des Strafrechts, ein einheitliches Para-
digma der Intervention anzugeben. Wir müssen daher als Minimaldiffe-
renzierung (im Anschluß an Gross & Badura, 1977, und an das, was auch
die Statistik des Sozialbudgets tut) Einkommensleistungen und Dienst-
leistungen unterscheiden.
Wenn wir zunächst mit den Einkommensleistungen beginnen, so ist für
sie historisch zu zeigen, daß sie andere Formen der Organisation von
notwendigen Leistungen und Hilfen verdrängt haben. Was früher poli-
tisch organisiert war oder gefordert wurde, wird nun durch Geldlei-
stungen "abgekauft". Diese "Monetarisierung" drückt sich schlagartig
etwa in der Entwicklung aus, die die Forderung nach einem "Recht auf
Arbeit" mit dem "Recht auf Arbeitslosenunterstützung" beantwortet
hat (7). Historisch wird man davon ausgehen können, daß in einer er-
sten großen Phase der Sozialpolitik die Monetarisierung - am deut-
lichsten sichtbar in der Entwicklung des Systems der Sozialversiche-
rung - im Vordergrund stand, während erst in einer zweiten (beginnend
etwa in der Zwischenkriegszeit) die Einrichtung von Dienstleistungen
an Bedeutung zunahm - am deutlichsten sichtbar in der Entwicklung der
Sozialarbeit. (Gross & Badura, 1977, S. 364 ff, weisen auf die starke
Vergrößerung des Anteils der "Sachleistungen" am Sozialbudget hin, die
überwiegend im Gesundheitsbereich erbracht werden.) Daß damit die Mo-
netarisierung als "Transformation von personalen Bedürfnissen und In-
teressen in sozio-ökonomische Verhältnisse" (Hack & Hack, 1979, S.111)
keineswegs zurückgenommen wird, sondern eher weiter fortschreitet,
läßt sich nicht nur an der in der eben genannten Arbeit untersuchten
Entwicklung der privaten Versicherungssysteme ablesen, sondern auch
etwa an der Wohnungspolitik (8), oder ander Entwicklung der (käuf-
lichen) "psychischen Versorgung" durch Gruppen- und sonstige Psycho-
Veranstaltungen als Ersatz für Freundlichkeit und Freundschaft und
demnächst wohl für nicht berufliche, private "Beziehungen" überhaupt
(9).
Historisch ist an der Einrichtung der staatlichen Sozialversicherung
1883 überdeutlich ablesbar, daß damit nicht nur die Leistungen des
beginnenden Sozialstaats verallgemeinert, sondern zugleich die gesell-
schaftliche Verankerung, was heißt: die Verflechtung dieser Leistun-
gen mit noch anderen sozialen Beziehungen, im speziellen Fall mit So-
lidaritätskernen in der Arbeiterschaft, gekappt wurde (lo).
"Der in den Sozialistengesetzen legalisierte "Klassenkampf von oben"
hatte die Hauptfunktion, diese vielfältigen Ansätze zu einer alterna-
tiven Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse (gemeint sind
kollektiv-solidarische Selbstorganisationen im Vorfeld der partei-
und gewerkschaftsmäßig organisierten Arbeiterbewegung ~ HSt) ... zu
zerschlagen; und er implizierte nicht zuletzt mit der Requirierung
der Kassen und Fonds eine Beseitigung jener Ressourcen, die für die
50
Handlungsfähigkeit dieser Organisationen unerläßlich waren - defensiv
zur Absicherung gegen soziale "Schicksalsschläge', die den Einzelnen
trafen; offensiv als Streik- und (funktionsäquivalente) Unterstützungs-
kassen" (Hack & Hack, 1979, S. 107). Das Bedürfnis nach gesellschaft-
licher Integration auch dann, wenn man nicht imstande ist, sich durch
Anbieten seiner (Lohn)Arbeitskraft aktuell zu verkaufen, das Bedürf-
nis also, zu einer möglichst multi-funktionalen Gemeinschaft zu ge-
hören, in der man auch anders als in der Reduktion auf die genannte
Lohnarbeitskraft "gebraucht" wird und die einen daher im Notfall soli-
darisch nicht im Stich läßt, wird hier transformiert in ein "Bedürf-
nis" nach Geldauszahlungen, also nach einer Fortsetzung des Lohnar-
beitsverhältnisses mit anderen Mitteln. Der Leistungsanspruch gegen-
über einem jetzt anonymen "Staat" (11) wird durch disziplinierte Lohn-
arbeit "erkauft'" und führt gemeinsam mit der Undurchschaubarkeit des
Verhältnisses von Einzahlungen zu Auszahlungen zu jenem Mißtrauen,
das innerhalb der "Solidargemeinschaft'" mehr Konkurrenz und Angst um
die Auszahlung stiftet als Solidarität (12).
Die Dienstleistungen, die wir als zweite Form sozialpolitischer Lei-
stungen unterschieden haben, und bei denen wir mit der letzten Be-
merkung bereits angelangt sind, transformieren die Bedürfnisse, die
sie zu befriedigen versprechen, durch eine womöglich noch ausgepräg-
tere Individualisierung der Betroffenen, die - jedenfalls bei Fürsor-
ge und Sozialarbeit - ihre Berechtigung zum "Genuß" der Leistung erst
einmal durch Nachweis ihrer "Bedürftigkeit'" darzutun haben. Die so
erzwungene Selbstdegradierung macht die schließlich erreichte Leistung
zum Beleg, daß man nicht vollwertig ist, und oft zu etwas, das man
der Bürokratie mit List und Tücke "abgeluchst" hat ("Sozialamtsvir-
tuosen", die eine Stelle gegen die andere auszuspielen imstande sind,
kennt jeder Sozialarbeiter). Jedenfalls ist mit diesen Leistungen
immer auch eine Disziplinanforderung verbunden, durch deren Erfüllung
man das Unterstützungssystem, daß man in Anspruch nimmt, möglichst
schnell wieder verlassen soll. Die Ideologie (und Praxis) der "Hilfe
zur Selbsthilfe" hat bei aller Menschenwürde-Rhetorik einen deutlich
durchschimmernden Hintergrund von Leistungverweigerung. Die systema-
tische Psychologisierung der Probleme läßt ihre gesellschafts-organi-
satorische Lösung nicht einmal als Möglichkeit auftreten, oder doch
nur als versperrte Möglichkeit.
Wir haben also in Strafrecht und Sozialrecht deutlich verschiedene,
in jedem Fall aber Transformationen der Probleme und Bedürfnisse, die
sie verarbeiten können, vor uns. Trotzdem sollte man die Gemeinsam-
keiten nicht übersehen: Beide individualisieren und disziplinieren,
das Sozialrecht freilich auf eine etwas subtilere und "modernere"
Art als das Strafrecht mit seiner plumpen Abschreckung. Insofern sind
die beiden jedenfalls nicht auf allen Dimensionen entgegengesetzt
und unverträglich. In ihrer gemeinsamen Tendenz zur staatlich vermit-
telten Individualisierung (und damit zur Verhinderung von gesell-
schafts-organisatorischen, autonomen Lösungen) arbeiten sie vielmehr
an der gesellschaftlichen Verwirklichung dessen, was ich (in Steinert,
1980 ) als "jurizentrisches Gesellschaftsmodell" dargestellt habe, das
damit nicht so sehr auf einer "Realitätsverkennung" seitens der Juri-
sten, als vielmehr auf einem politischen "Programm" beruht, mit des-
sen Umsetzung diese befaßt sind. Die "hoheitliche Vergesellschaftung
der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft" (Rödel & Guldimann,
5
nd Sozialrecht gemeinsam und wird von
n Interventionsformen gemeinsame indi-
r so zu einer staatlichen Verwal-
1978, S. 37) ist Strafrecht u
beiden abgesichert. Der beide
vidualisierende Zugriff führt so ode ; r
tung der betroffenen Individuen mit den damit verbundenen Degradie-
rungen (vergl. Piven & Cloward, 1971). Wenn wir davon ausgehen, daß
sozialrechtliche Intervention die Verwaltung und "Befriedigung" von
zur "Sozialen Frage" umdefinierten Interessengegensätzen ist (deutlich
wird dieser letzte Vorgang in der konservativen "Modernisierung" zur
"Neuen Sozialen Frage"; siehe Geißler, 1976), dann haben wir hier ei-
ne Strategie des "Abkaufens" jedenfalls eines Teils der Interessen
vor uns. Und solches "Abkaufen" ist mit Bedingungen verbunden, in er-
ster Linie mit der des disziplinierten Einzahlens in Form von geregel-
ter Arbeitsleistung (die Unterscheidung von "idle" und "deserving
poor" stand schon am Anfang der nach-mittelalterlichen, nicht mehr
primär religiös motivierten "Armenpflege", und sie spielt zumindest
in der Praxis, in der Denkfigur der "selbstverschuldeten Armut", im-
mer noch eine Rolle), und das Akzeptieren des "Handels" wird durch
die im Hintergrund stehende Drohung ansonsten möglicher Kriminalisie-
rung sehr nachdrücklich nahegelegt. In beiden Fällen erfolgt daher
eine "Zurichtung" des Problems, für das "Hilfe" angeboten wird, nach
den Bedrüfnissen der "helfenden Einrichtung" und nach den politischen
Interessen, die hinter ihr stehen.
3. ÖKONOMIE UND POLITIK DER SOZIALEN AUSSCHLIESSUNG
Der bisher dargestellten Enteignung und Deformation der Konflikte und
n und Subkulturen gegenüberge-
Probleme sind immer schon Teilökonomie
standen, in denen versucht wurde, sich diesem Zugriff zu entziehen,
andere, autonome Prinzipien der Vergesellschaftung und des Umgangs
mit den Schwierigkeiten des Lebens zu praktizieren. Meine These zu die-
sen Subkulturen ist, daß sie immer auch in Abhängigkeit von der herr-
schenden Ökonomie und Kultur entstanden sind, auch als Gegenentwürfe
in deren Funktionieren eingebaut wurden. Noch ein Stück zugespitzt
könnte man sagen, daß diese Teil-, Nischen- und Gegenökonomien von
der herrschenden Ökonomie hervorgebracht werden, weil sie zu ihrer
Ergänzung, auch zum Auffangen der Schäden, die sie produziert, not-
wendig sind. Gleich vorweg möchte ich aber betonen, daß der Nachweis
dieser Abhängigkeit keine (auch politisch-taktische) Entwertung die-
ser "Alternativen" bedeutet: Sie können trotzdem Sprengkraft enthal-
ten, indem sie die Einübung anderer Lebensformen ermöglichen, indem
sie einen Widerspruch virulent machen, an dem die gesellschaftliche
Entwicklung weitergetrieben werden kann.
Mit dem kapitalistischen Wirtschaften hat sich auch das Prinzip durch-
gesetzt, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll. Die Umkehrung
dieses Prinzips blieb freilich ein frommer Wunsch, weil dieses Wirt-
schaftssystem zu keiner Zeit imstande war (und überhaupt nicht darauf
angelegt ist), alle, die zu essen brauchen, mit Lohnarbeit (die in
dem Spruch gemeint ist) zu versorgen (13). Tatsächlich funktioniert
kapitalistisches Wirtschaften am besten, wenn die eingesetzte Arbeits-
kraft aus einem möglichst großen "Angebot" ausgewählt werden kann
(eine noble Umschreibung für einen Zustand verbreiteter Arbeitslosig-
keit) und die noch erfreulichste Seite dieses Wirtschaftssystems, sein
eingebauter Zwang zur Rationalisierung, d.h. zum Ersetzen von leben-
52
diger durch "tote Arbeit" (Maschinerie), äußert sich nach der Logik
dieses Systems ebenfalls als Arbeitslosigkeit, zumindest dann, wenn
die permanent notwendige Ausweitung (eventuell nur vorübergehend und
als Krisenmechanismus) an Grenzen stößt. Daher waren vom Beginn der
Durchsetzung dieser Art des Wirtschaftens Parallelökonomien zur Er-
haltung dieses "unproduktiven' Teils der Bevölkerung notwendig. Zum
Teil bestanden diese "Alternativ'"-Ökonomien aus den Überresten und
Weiterentwicklungen der vor-kapitalistischen Armenfürsorge, zum Teil
immer schon aus Systemen der unmittelbaren Gebrauchswertproduktion (14).
Dabei war es von Anfang an ein Problem, diese Alternativ-Ökonomien
zwar zu haben, sie aber nicht so effizient und attraktiv werden zu
lassen, daß sie auf Dauer der Lohnarbeit vorgezogen wurden. Der Schre-
bergarten des Arbeiters ist als harmlose (und unpolitische) Sonntags-
beschäftigung durchaus in Ordnung, er darf nur nicht so groß werden,
daß der Arbeiter von dem dort gezogenen Gemüse tatsächlich leben könn-
te. Die Alternativ-Ökonomie, besonders aber die Höhe der staatlichen
Unterstützung, mußte unter dem Niveau gehalten werden, das mit der
schlechtesten Lohnarbeit zu erreichen ist.
Die Methoden, wie man dieses "Gleichgewicht" herstellt, sind von ehr-
würdigem Alter und ungebrochener Wirksamkeit:
Man kann:
administrativ die Subsistenz-Möglichkeit aus diesen Alternativ-Ökono-
mien niedrig halten, wie es in der Festlegung von Sozialhilfe-Sätzen
oder im Verbot von "Schwarzarbeit" geschieht;
man kann
die Subsistenz daraus verhindern, indem man sie mit Degradierung, Ein-
schließung (wie in der glorreichen Erfindung des Arbeitshauses, aus
dem sich nach mittelalterlichen Anfängen die geschlossene psychiatri-
sche Anstalt und das Gefängnis ausdifferenziert haben) und Kriminali-
sierung kombiniert;
und man kann - besonders an die Kriminalisierung anschließend -
diese Alternaitiv-Ökonomien direkt gewaltförmig verhindern. Diese
letzte Möglichkeit liegt offenbar besonders nahe, wo Systeme der un-
mittelbaren Gebrauchswertproduktion aufgebaut werden, die nicht, wie
der private Haushalt, voll in den Dienst der Herstellung und Wieder-
herstellung der Lohnarbeit genommen werden können. Frühe Beispiele,
wie etwa das der Diggers, zeigen das vielleicht am deutlichsten. Die-
ses Beispiel soll daher kurz dargestellt werden (15).
Am 1. April 1649, einem Sonntag, versammelte sich eine Gruppe von Ar-
men am St. George's Hill nahe London und am Rand des Windsor Great
Forest und begannen, das dort sehr unfruchtbare Brachland landwirt-
schaftlich zu bearbeiten. Ein alarmierter Beobachter mußte feststellen,
daß sie "alle einladen, zu kommen und ihnen zu helfen und ihnen Es-
sen, Trinken und Kleidung versprechen ... Es ist zu fürchten, daß sie
dabei bestimmte Pläne haben" (Hill, 1972, S. 110). Solche Pläne hat-
ten die Leute, die Diggers oder True Levellers genannt wurden, in der
Tat, Pläne, die eine einfache und vernünftige Lösung für die sozia-
len Probleme dargestellt hätten, die damals (im Zug des Vorgangs der
"Ursprünglichen Akkumulation", die Marx, 1867, 24. Kapitel, so ein-
dringlich beschrieben hat) in England eine noch nicht dagewesene Men-
ge an "freien" (d.h. subsistenzlosen) Menschen entstehen und einen
Teil von ihnen verhungern ließen. Gerrard Winstanley, als Handwerker
in London erfolglos und anschließend Landarbeiter, war der Theoreti-
53
ker und zugleich führende Aktivist der Diggers, die nicht nur auf
St. George's Hill Selbstorganisation und Selbsthilfe dieser verarmten
Massen einzurichten versuchten. Winstanley wußte, daß die Hälfte bis
zwei Drittel des Grund und Boden in England nicht entsprechend kulti-
viert wurde, und daß ein Drittel Brachland war, dessen Kultivierung
durch die Armen nur von den Grundherrn verhindert wurde. Vor allem
war es auch das Gemeindeland (die "commons"), an dem die Grundherrn
neuerdings Eigentumsrechte anmeldeten, was gegen alle "hergebrachten
Rechte" und Ausgangspunkt langdauernder Auseinandersetzungen (und
zahlreicher "krimineller" Akte wie Holz- und Wilddiebstahl) war. "Wür-
de das Brachland von Englands Kindern kultiviert, wäre England in ein
paar Jahren das reichste, stärkste und blühendste Land der Welt" (S.
128 f). "Es gab genug Land, um eine zehnmal so große Bevölkerung zu
ernähren, Bettelei und Verbrechen abzuschaffen und England zur ersten
unter den Nationen zu machen" (S. 129).
Innerhalb kurzer Zeit entstanden zahlreiche Diggers-Kommunen in Süd-
und Zentralengland (S. 124-128) und ebenso rasch und energisch war die
Reaktion der Grundherren: Sie organisierten Überfälle auf die Kommu-
nen, boykottierten sie wirtschaftlich und verfolgten sie mit gericht-
lichen Klagen. Schon im April 1650 war die St. George's Hill-Kommune
gewaltsam zerstört und niedergebrannt, waren die Diggers aus der Ge-
gend vertrieben (S. 113). Gerrard Winstanley begab sich mit einem
Teil der Leute in den Dienst der Lady Eleanor Davies, "einer exzen-
trischen Persönlichkeit, die sich selbst als Prophetin verstand" (S.
128) und konnte seine Erfahrungen nur mehr theoretisch weiter verar-
beiten. Die sozialpolitischen Ideen der Diggers waren unter den gege-
benen Umständen nicht zu verwirklichen. Bettelordnungen, die tatsäch-
lich Bettelverbote waren, Arbeitshäuser und Armengesetze, die Vorläu-
fer der Fürsorge, genügten.
Das Beispiel ist auch insofern aufschlußreich, als es etwas über die
Randbedingungen aussagt, unter denen solche Formen der "Alternativ-
Ökonomie" möglich sind und auf Dauer zugelassen werden. Die Diggers
versuchten, die "Zwischenräume" der herrschenden Ökonomie zu nützen,
das vorhandene Brachland, und sie scheiterten daran, daß sie sich da-
mit gegen den sich durchsetzenden kapitalistischen Eigentumsbegriff
vergingen, der gerade mit den traditionellen Nutzungsrechten aufräum-
te und sich sehr wohl auch auf Brachland erstreckte (so wie heute auf
leerstehende, unbenützte, mit Bedacht ruinierte Wohnhäuser oder nicht
mehr genützte Fabrikgelände, die auch als Veranstaltungs- und Kommu-
nikationszentren brauchbar wären). Es gibt andere, spätere "Alterna-
tiv"-Projekte, die es vermieden, an dieser Klippe anzuecken und sich
dementsprechend länger halten konnten.
Insgesamt stehen aber wohl alle erfolgreichen "Alternativ"-Ökonomien
in der ambivalenten Situation, zugleich von der herrschenden Ökonomie
hergestellten "Nischen" oder "private" Enklaven auszunützen und sich
damit gegen diese herrschende Ökonomie zu wenden. Die kapitalistische
Ökonomie besonders hat immer auch von solchen "Alternativen" gelebt,
in denen die Gesetze der Warenförmigkeit und des Äquivalentenaus-
tausches tendenziell aufgehoben waren und die gerade dadurch nützlich
und notwendig waren - und zugleich Elemente eines Widerspruchs dar-
stellten, weil sie andere Formen der Vergesellschaftung repräsentie-
ren: von der Familie, von öffentlichen Diensten und von "Armuts-Öko-
nomien". Die wichtigste davon war immer der "private" Haushalt, der
54
intern gerade nicht warenförmig funktionieren darf, um nach außen die
ware Arbeitskraft hervorbringen zu können, und selbst innerhalb des
"privaten" Betriebs wurden Variationen zugelassen (etwa die kleinbür-
gerliche der Selbstausbeutung und sogar genossenschaftliche), so lan-
ge der Betrieb für den Markt arbeitete und also ein warenförmiges Pro-
dukt hervorbrachte und -bringt. Heute ist dazu ein immer größerer Be-
reich gekommen, in dem Warenförmigkeit jedenfalls nur sehr gebrochen
das herrschende Prinzip der Vergesellschaftung darstellt: der der
öffentlichen Dienste. Und auch dieser Bereich ist bekanntlich kein
"Fremdkörper" innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftens, sondern
dessen notwendiger Bestandteil und wichtige Voraussetzung.
Auch die "Alternativ"-Ökonomie schließlich, die wir heute kennen, ist
in vielfältiger Weise mit dem Gesamtsystem kapitalistischen Wirtschaf-
tens verbunden, bleibt vom Staat abhängig und erfüllt unter anderem
auch eine nützliche Funktion, indem sie (nur zum Teil freiwillig)
Drop-outs auffängt: "Hätten allerdings die für die 6oer Jahre ge-
schätzten eineinhalb Millionen drop-outs in den Vereinigten Staaten
Arbeitsplätze verlangt, hätte die Situation vielleicht ganz anders
aussehen können. So konnte sich die Wirtschaft eine große Zahl frei-
willig Arbeitsloser leisten, die von Minimaleinkommen lebten. ... Die
Gegenkultur wurde in einer Überflußgesellschaft geschaffen, die über
eine fortgeschrittene Technologie verfügte, und sie lebte parasitär
vom Mehrwert der herrschenden Gesellschaft und trotzdem in einem anta-
gonistischen Verhältnis zu ihr. Die Hippies erklärten die materiellen
Dinge des Lebens für unwichtig, lebten aber von einem Wohlfahrtssystem,
das mit der Mehrwertproduktion verbunden ist; sie verachteten die
technologische Entwicklung, hörten aber Musik aus komplizierten Stereo-
Maschinen und sahen ausgeklügelte Light-Shows. Sie hielten Freiheit
für eine individuelle Sache, wurden aber von einem machtvollen Staat
kontrolliert. Während die Software aus der Hippie-Kultur kam, die Mu-
sik, die Texte, die Gestaltungsideen, blieb die Hardware im Eigentum
der Medien-Unternehmer. Die kleinen Unternehmen, Kunst-Läden, Restau-
rants sind eine herkömmliche Lösung für ein marginalisiertes Klein-
bürgertum, und sie sind von Lohnarbeit abhängig. Die Widersprüche
spitzten sich schnell zu ..." (Brake, 1980, S. 96 f).
Diese Ambivalenz, denke ich, muß man festhalten, wenn man von "Alter-
nativen" spricht: Sie sind Produkt der herrschenden Formen von Ver-
gesellschaftung und ihrer Widersprüche und sie sind auch Auflehnung
dagegen, indem sie aus diesen Widersprüchen Möglichkeiten der Lösung,
Vorstellungen von einem besseren Leben entwickeln, sie zu verwirkli-
chen und vielleicht sogar zu verallgemeinern versuchen. Aber sie ar-
beiten dabei in Abhängigkeit von der herrschenden Ökonomie und Kultur
und mit den Mitteln, die diese zur Verfügung stellen.
4. KLEINER REFLEXIVER EXKURS MIT DEM ZIEL EINER GENAUEN
KLÄRUNG DER INTERESSENLAGE
Nach der herrschenden Dramaturgie eines Aufsatzes wären jetzt die bis-
herigen allgemeinen theoretischen Überlegungen auf den besonderen
Fall der Sozialarbeit anzuwenden, wäre womöglich gar zu sagen, wie
eine "politische" Sozialarbeit unter Berücksichtigung dieser gesell-
schaftlichen Verstrickungen auszusehen hätte. Aber die guten Ratschlä-
ge sind billig und daß jedermann, der gar nicht betroffen ist, seine
55
Anforderungen an den Sozialarbeiter stellt, gehört ohnehin zu dessen
beruflichem Schicksal. Auch hat der deutsche Professor lange genug
gerade dem Sozialarbeiter immer wieder scharfsinnig mitgeteilt, wie
sehr dessen Arbeit "im Interesse des Kapitals" sei, wie sehr er sei-
ne "Klienten" abhängig mache und wie immer die schlauen Durchblicker-
Formeln ‚lauten. Ich kenne das als ehemaliger Sozialarbeiter und heu-
tiger Professor zur Genüge von beiden Seiten und es ermüdet mich. Die^
se Ermüdung steigert sich wahrscheinlich noch besonders dadurch, daß
heute dem deutschen Professor bei jeder sich bietenden Gelegenheit
eben dieses Argument in Bezug auf seine eigene berufliche Tätigkeit vop
seinen Studenten entgegengehalten wird. Wenn man hier geduldig wei-
terfragt, endet man gewöhnlich damit, daß schließlich alles, was im
Kapitalismus geschieht, "im Interesse des Kapitals" ist- eine weder
besonders originelle noch besonders hilfreiche noch besonders rich-
tige Einsicht. In dieser Form von Argument geht es vielmehr um die
alte linke Profilierungssucht, die sich am besten (selbst) befrie-
digt, wenn es gelingt, eine besonders "erbarmungslose" und "illu-
sionslose" Position aufzubauen, der gegenüber der jeweils andere
dann gezwungen ist, sich als "Reformist", "Pragmatiker" oder
schlicht "inkonsequent" zu bekennen, was ihn im Profilierungs-
spiel zutiefst diskreditiert (16). Mit der Etablierung und ver-
balen Anerkennung der Existenz einer "Alternativ"-Kultur hat
dieses Spiel neues Material bekommen. Sinnvoller ist es dadurch
nicht geworden.
Der Sozialarbeiter wie der Professor gehören, wenn überhaupt, zu dem
Teil der Bewegung, den Huber (1980) als die "Etablierten der Alterna-
tiv-Bewegung" beschreibt, und sofern hier gesellschaftsveränderndes
Engagement besteht, gibt es auch ein Interesse daran, herauszufinden,
ob sich da halbwegs hoffnungsvolle Möglichkeiten auftun, was halb-
wegs Sinnvolles zu tun. Der polarisierende Druck, entweder "Ausstei-
ger" oder "Büttel des Kapitals" sein zu müssen, ist dagegen zentra-
ler Teil jener linken Selbstentmutigung, die wir aus der Dogmatisie-
Fungsphase im Niedergang der Studentenbewegung geerbt haben. Es gibt
eine Menge Anzeichen dafür, daß diese linke Selbstentmutigung sich
aufzulösen beginnt - was nicht zuletzt auch dadurch zu befördern wäre,
daß man die Erfahrungen aus der jüngeren Geschichte der sozialen Be-
wegung in der BRD einmal neu sortiert und sich einmal fragt, ob die-
se Geschichte nicht auch’unter dem Aspekt einer Erfolgsgeschichte,
nicht nur unter dem einer Geschichte von Niederlagen zu schreiben
wäre. Gerade angesichts des Selbstbewußtseins der Alternativ-Kultur
als antistaatlich, das denen, die von öffentlichen Geldern leben und
mit ihnen arbeiten, eine Perspektive der Kooperation erschwert, wäre
da wohl einiges zu lernen und zur Kenntnis zu nehmen.
Unbestreitbar ist ja, daß die Revolutionsfantasien, die da gewesen
sein mögen, inzwischen gründlich abgeschminkt sind, daß die "Avant-
garde-Kader" sich gemeinsam mit ihrer "Massenbasis", die sich nicht
und nicht zeigen will, als Irrtümer herausgestellt haben - und daß
umgekehrt nicht gerade nichts sich verändert hat, auch wenn vieles
wieder zurückgedrängt wurde, vieles in den starken Sprüchen stecken-
blieb. Von da aus wird vielleicht auch akzeptabel, daß man sich "den
Staat" nicht einfach wegwünschen kann, daß man vielmehr emotionsfrei,
schlau und gekonnt mit ihm wird umgehen müssen. Und vielleicht sind
56
da auch Arbeitsteilungen denkbar, die in Produktiverem bestehen als
dem gelegentlichen "Abdecken" von Vorstößen (oft genug verbunden mit
elastischen Abfedern, weil man sich selbst angegriffen fühlt), der un-
ermüdlichen hilfsbereiten Arbeit am Einzelfall, zu der sich viele
verpflichtet fühlen (und dieses Herauslocken von Mehrarbeit aus denen,
die noch was wollen, gehört zu den wichtigeren Ausbeutungsmechanismen,
über die der öffentliche Dienst verfügt, indem er die unmittelbaren
Produzenten seiner Leistungen unter den Druck der Klientenbedürfnisse
setzt und gleichzeitig die Mittel vorenthält, diese Bedürfnisse zu
befriedigen), gar nicht zu reden von dem depressiven "Durchhängen"
derer, die an irgendeinem Punkt beschlossen haben, die Institution,
die sie nicht tun läßt, was sie gern täten, nun ihrerseits auszubeu-
ten - was halt nur auf Kosten auch derer geht, die die öffentliche
Dienstleistung doch brauchen. (Die Beispiele des Krankenhauses oder
der Müllabfuhr sind da vielleicht überzeugender als die der Sozial-
arbeit oder der Universität.)
Das meint folgendes: Gesellschaftliche und politische Verbesserungen
von einiger Radikalität - das wäre eine Folgerungen aus den in den
beiden ersten Abschnitten verhandelten theoretischen Erwägungen,
Wolf-Dieter Narr hat es kürzlich (1980) wieder herausgestrichen, die
Geschichte lehrt es allenthalben, und überhaupt sollte man es eigent-
lich für eine Banalität halten können - kommen nur zustande, wenn
sich die Form der gesellschaftlichen und politischen Organisation
ändert. Das heißt konkret und für hier und heute: wenn die warenför-
mige Vergesellschaftung und die bürokratisch-herrschaftsförmige Po-
litik durchbrochen werden. (Insofern wäre es eben kein Erfolg, wenn
z.B. "die richtigen Leute im Gefängnis säßen", sondern erst einer,
wenn wir ohne Gefängnisse auskämen.)
Die Geschichte der Studentenbewegung könnte auch als die Geschichte
solcher Experimente mit neuen gesellschaftlichen und politischen For-
men geschrieben werden - manche davon mit katastrophalem Ausgang, man-
che durchaus erfolgreich: An den Verkehrsformen hat sich zumindest
in gesellschaftlichen Teilbereichen gewaltig was verschoben, man den-
ke nur an die erotischen Beziehungen damals und heute oder an die Le-
bensform der Wohngemeinschaft, die Demonstration als politisches Mit-
tel hat sich durchgesetzt (nach polizeilicher Zählung gab es in der
BRD 1979 fast eineinhalbmal so viele Demonstrationen wie 1969 und
fast dreimal so viele wie 1970), usw.
Die Erfahrungen aus solchen Experimenten enthalten auch die, daß sie
auch bürokratie- bis polizeiförmig niedergeprügelt werden können,
aber ebenso die, daß Widerstand der Konsumenten von Öffentlichen
Diensten nicht wirkungslos bleiben muß. Sofern die "Alternativ"-Be-
wegung solchen Widerstand bietet (und das tut sie zweifellos auch),
kann sie in arbeitsteiliger Kooperation mit denen, die öffentliche
Dienstleistungen produzieren, zum Motor von Veränderungen im staatli-
chen Apparat werden. Und solche Veränderungen des Funktionierens staat-
licher Appatate sind auch notwendig, wenn die Alternativ-Kultur er-
halten bleiben und sich verallgemeinern können soll. Sie werden frei-
lich nicht der Fall sein, solange die Staatsabhängigkeit der "Alter-
nativ"-Kultur verschämt verleugnet wird, weil man die absolute Staats-
ablehnung zur Identitätsfindung braucht. Man muß den Staat nicht lie-
ben, um ihn zur Kenntnis zu nehmen.
57
5. SOZIALARBEIT ALS ANPASSUNG DER ÖFFENTLICHEN DIENSTE
Wenn die bisher vorgelegten Befunde und Erwägungen stimmen, wenn also
ein Prozeß der Problementeignung festzustellen ist, in dem neben der
"Kapitalisierung" (also der Umwandlung in Warenbeziehungen) die "Ver-
staatlichung" eine entscheidende Rolle spielt, wenn ferner "Alterna-
tiv"-Ökonomien von diesen Enteignungen und Deformationen der Proble-
me nicht nur schlicht unterdrückt, sondern auch hervorgebracht und be-
nützt werden, wenn also tatsächlich solche "Alternativ'"-Ökonomien
ziemlich staatsabhängig sind, wenn sie aber trotzdem wichtige Elemen-
te nicht-kapitalistischer Vergesellschaftungsformen enthalten, dann
stehen die Produzenten öffentlicher Dienstleistungen vor der Schwie-
rigkeit, wie sie die offensichtlich benötigten Leistungen hervorbrin-
gen und die damit verbundenen Transformations- und Kontrollaufgaben
vermeiden, nach Möglichkeit sogar abbauen helfen können. Die beiden
naheliegenden "Lösungen", die Produktion der Leistung einfach aufzu-
geben oder aber, sie so zu erbringen, wie es die gegebene Organisa-
tion eben zuläßt, sind offensichtlich kurzschlüssig. Die Leistungs-
verweigerung speziell des Sozialarbeiters geht in den meisten Fällen
eben doch auf Kosten der Betroffenen, kommt offensichtlichen Sparin-
teressen entgegen, geschieht unter der Hand ohnehin schon und verän-
dert nichts am Funktionieren der Sozialverwaltung. Vielmehr muß es
umgekehrt darum gehen, die Tatsache der Staatsabhängigkeit so zu be-
nützen, daß dabei eine Anpassung des Funktionierens der öffentlichen
Dienste an die Bedürfnisse und Funktionsbedingungen von Initiativen,
z.B. auch von "Alternativ"-Projekten erfolgt.
Das heißt aber auf dieser noch immer abstrakten Ebene, daß sich das
Verständnis von Sozialarbeit umkehrt: Der Sozialarbeiter ist dann
nicht der Vertreter der Institution, in der öffentliche Dienstlei-
Stungen produziert werden, der diese Produkte an den "Klienten" ver-
mittelt, sondern er ist dazu da, daß die Leute, die eine öffentliche
Dienstleistung brauchen, "ihren Mann/ihre Frau" in der Sozialverwal-
tung haben. Seine Aufgabe ist die Anpassung der Institution, nicht
die der "Klienten", Wenn viele "alternative" Projekte nur durch di-
rekte oder indirekte staatliche Subventionierung ermöglicht werden,
wenn sie Absicherung gegen Angriffe,vielleicht auch know-how für
den Umgang mit staatlichen Stellen brauchen können, und wenn z.B.
Sozialarbeiter einen gewissen Zugang zu diesen Ressourcen haben, dann
1St zunächst einmal nicht einzusehen, warum diese Leistungen nicht
erbracht und genützt werden sollen. Das wird freilich Folgen haben:
Der Sozialarbeiter kommt damit unter Druck, die Kontrollaufgaben,
die auszuüben er bei Strafe beruflicher Sanktionen, im Extrem des
Jobverlusts genötigt werden kann, ebenfalls zu erbringen. Damit zwin-
gen ihn dann aber seine eigenen Jobinteressen, seine Arbeitssituation
und damit das Funktionieren der öffentlichen Dienstleistungen so zu
gestalten und umzugestalten, daß eine sinnvolle Betreuung von Basis-
projekten möglich ist. Wenn das funktionieren soll, muß er nicht nur
Druck von unten weitergeben können, sondern er muß auch geschützt
werden gegen die Sanktionen, die da immerhin zur Verfügung stehen.
Öffentlichkeitsarbeit, auch Abstützung durch die gewerkschaftlichen
und professionellen Berufsorganisationen, sind daher nicht zu ver-
nachlässigende Bestandteile einer so verstandenen "Sozialarbeit" (17).
Dabei geht es vor allem auch darum, neben der Erhaltung und Verbesse-
rung der Bedingungen für "Alternativ"-Projekte die in ihnen angeleg-
58
ten Elemente neuer Vergesellschaftungsformen daraufhin zu überprüfen,
was sie an Veränderung der öffentlichen Dienste erfordern würden, wenn
sie sich verallgemeinern sollen. Ich denke, daß dabei recht "radikale"
Ergebnisse zutage kommen könnten. Ich möchte das nochmals am Beispiel
der "Enteignung der Konflikte", also an den Bereichen, die heute zwi-
schen polizei/justizförmiger und sozialarbeiterischer "Bearbeitung"
schwanken, illustrieren.
In der "Alternativ''-Kultur haben sich unter anderem auch neue Formen
der Konflikt-Regulierung entwickelt, Formen, denen jedenfalls gemein-
sam ist, daß sie möglichst weitgehend ohne autoritative Entscheidung
und mit einem vergleichsweise flexiblen Regelsystem zurechtkommen.
Die "Subkultur'' scheint einmal durch eine vergleichsweise hohe Tole-
ranz für Umgangsformen gekennzeichnet zu sein, die sonst als "abwei-
chend'' sanktioniert würden, was auch ein Stück Gleichgültigkeit be-
deutet, aber ebenso Techniken des Umgangs mit solchem Verhalten, in
denen dieses als erträglich, vielleicht sogar "interessant" oder je-
denfalls Ausdruck einer Persönlichkeit eingebaut wird, der soweit
auch zulässig ist. Es geschieht wohl nicht ganz zufällig, daß sich
auf Subkultur-Veranstaltungen mit einer gewissen Häufung denen, die
eine "modische" Abweichung in Stil und Verhalten pflegen, auch Leute
einfinden, die sonst als ausgeschlossen jedenfalls öffentlich wenig
sichtbar werden. Als in Wien das ehemalige Schlachthofgelände St.
Marx als "Arena" besetzt war und einen Spätsommer lang als Kultur-
und Kommunikationszentrum fungierte (18), war etwa der Anteil der Kör-
perbehinderten an den Besuchern dort auffällig - ein hoch erfreuli-
ches Zeichen für das Klima, das dort herrschte. Die "Subkultur" hat
ferner eine hohe Zugänglichkeit der ihr zugehören füreinander, eine
heruntergesetzte Schranke für Kontaktaufnahmen, die sich schon in der
geläufigen Du-Anrede auch unter Fremden ausdrückt, und zu der auch
eine etwas höhere Bereitschaft als sonst üblich gehört, zuzuhören,
auf einander einzugehen und auch gewisse Hilfen zu leisten. Die Sub-
kultur könnte unter anderem als der Versuch interpretiert werden, un-
ter den Bedingungen städtischer Anonymität (deren Vorteile, etwa an
Toleranz und Nicht-Einmischung, gewahrt werden) die dörflichen Be-
dingungen allseitiger Bekanntschaft und Vertrautheit zu simulieren
(vielleicht auch nur zu fingieren). (Die Satire von Dienstag, 1978,
hat daher wie jede gute Satire einen hohen Wahrheitsgehalt.) Unter
diesen Bedingungen kann auch kein großes Interesse daran bestehen, im
Fall von Schwierigkeiten miteinander allzu schnell die offiziellen
Institutionen zu mobilisieren, die herkömmlich angeboten werden und
sich anbieten. Vielmehr besteht die starke Neigung, mit jener Mischung
von Sich-Kümmern und Unverbindlichkeit Probleme zunächst mit Bordmit-
teln anzugehen.
Es gibt genügend Beispiele dafür, daß diese Art von Vorgehen Problem-
lösungen ermöglicht, die besser sind als das, was sich auf "rechts-
förmigen'" Wegen erreichen ließe. In der oben genannten "Arena" etwa
entwickelten sich ziemlich rasch Konflikte zwischen den "Kulturlinken'
(meist "besserer" Herkunft) und den Jugendlichen aus dem proletari-
schen Bezirk, in dem das "Arena'"-Gelände lag. Der Konflikt war
schlicht einer zwischen unterschiedlichen Kulturen; die "rauhe" Art
der Jugendlichen, speziell auch ihre Umgangsformen gegenüber Mädchen
und ihr Umgang mit Alkohol (samt den sich daraus ergebenden Folgen
für das Verhalten) erzeugten Angst und führten auch zu unerfreulichen
59
Vorkommnissen. Es gab unter den "Arena'"-Besetzern vereinzelt die Idee,
daß man da die Polizei brauche, die schließlich auf den Ruf nach So-
zialarbeitern, der Sache der "Arena" nahestehenden natürlich, reduziert
wurde. Es war in der Folge möglich, die Aufgabe, die ihnen zugemutet
worden war, allmählich als eine deutlich werden zu lassen, die alle
Mitglieder der "Arena" zu erfüllen hatten, die nicht auf Spezialisten
abzuwälzen war. Es wurde deutlich, daß die einzig wirklich nützliche
Kompetenz des "Sozialdienstes", der sich gebildet hatte, die war, Be-
hördenkontakte spielen zu lassen, wo es z.B. um die Beschaffung von
Unterkünften ging (was besonders zuletzt, als die "Arena" geräumt und
plattgewalzt wurde, Bedeutung bekam), oder um die gelegentlich mög-
liche Klärung der Situation von Jugendlichen, die von zu Hause oder
aus Heimen davongegangen waren. Das "Anlaßproblem" war hingegen
sicher nicht in dem Sinn "lösbar", daß es verschwunden wäre, aber es
entwickelten sich Formen des Umgangs miteinander, vor allem auch mit
Hilfe einzelner "vermittelnder" Personen. Dabei war auch deutlich,
daß die Probleme zum Teil aus dem Druck von außen entstanden, aus
dem Zwang, einer feindseligen Öffentlichkeit keine Aufhänger für Skan-
dalisierung zu bieten, daß ohne diesen Druck die Toleranz wahrschein-
lich weiter gegangen wäre als sie so gehen konnte.
Ein anderes Beispiel, das angstfreie Eltern mit einer guten Beziehung
zu ihren jugendlichen Kindern kennenlernen können, bietet der Umgang
mit Drogen. Man kann da den Eindruck gewinnen, daß junge Leute, die
in die Nähe eines "ungekonnten'"' Umgangs mit Drogen kommen, wenn über-
haupt dann durch die Gleichaltrigen "aufzufangen" sind. Das setzt
dann allerdings voraus, daß diese weder panisch noch mit besonderer
Faszination und eigenem Beeindrucktsein reagieren, eine Reaktion, die
von der "offiziellen" Haltung zu diesem Problem nicht gerade erleich-
tert wird. Hier könnte es aber eine Aufgabe für Sozialarbeit sein,
die Einschüchterungen und Verängstigungen abzubauen, die derzeit eine
solidarische Haltung unter Jugendlichen, speziell solchen gegenüber,
die in Probleme geraten, erschweren (19).
An der erwähnten "Arena" war im Übrigen gut zu sehen, daß sie ihre
selbstgestellten Aufgaben besser auch nicht mit mehr Problemen erfül-
len konnte, als das in jedem "professionell" organisierten Zentrum
der Fall ist, wobei noch eine Reihe von Personen und Personenkreisen
integriert wurde, denen gegenüber die "professionelle" Organisation
nichts zur Verfügung hat als den hilflosen Ausschluß (und seit den
Zeiten des "Randgruppentrips" haben wir wohl auch gelernt uns zuzu-
geben, daß Leute, die Probleme haben, häufig auch Probleme machen,
daß es da also wenig zu romantisieren gibt): Es gab zu essen und zu
trinken, es gab Veranstaltungen, Einrichtungen und Aktivitäten aller
Art, in denen sich die Leute wohlfühlten, es gab Hilfeangebote und
Problemlösungen für die auftretenden Schwierigkeiten - die'"Arena'" war
nur deshalb unerhört, weil sie bürokratischen Anforderungen nicht ent-
sprach. Das war auch die Richtung, in die von Seiten einer bis zu ei-
nem gewissen Grad angesichts der hohen öffentlichen Resonanz kompro-
mißbereiten Politik dauernd gedrängt wurde: eine den Bedürfnissen der
Bürokratie angepaßte Organisationsform zu schaffen, Verantwortliche
zu benennen, einen Verein zu gründen, Funktionen fix auszuweisen,
Kontrollen zu ermöglichen. Daß es uns nicht gelang, hier die Beweis-
last umzudrehen, das Problem in die Bürokratie hineinzutragen, dort
Veränderungen zu bewirken, die umgekehrt die Bürokratie an die Funk-
60
tionsweise der "Arena" angepaßt hätten, das war das eigentliche Schei-
tern des Unternehmens, nicht das, was viele als Scheitern erlebten:
daß die "Arena'' sich zu einem Zeitpunkt auflöste, das Feld den Planier-
raupen freigab, daß also eben keine auf Dauer gestellte Institution
entstand. Auch daß gesellschaftliche Einrichtungen "auf Zeit" funk-
tionsgerechter sein mögen als solche, die um jeden Preis (und unter
anderem aus Eigeninteressen der in ihnen "professionell" Beschäftig-
ten) Dauer herstellen wollen, gehört ebenfalls zu jenen nicht büro-
kratiegerechten Organisationsmerkmalen, die durchzusetzen wären.Ent-
scheidend wäre, daß Initiativen dieser Art immer wieder eine Chance
vorfinden, was heißt: daß auch das staatliche Funktionieren (ohne das
es ja, um das nochmals in Erinnerung zu rufen, nicht geht - auch die
"Arena" brauchte Strom, Telefon, Finanzen, und es ist in der Tat Auf-
gabe staatlichen Funktionierens, solche und andere benötigte Ressour-
cen für solche Projekte zur Verfügung zu stellen) dieser Möglichkeit
angepaßt wird.
ANMERKUNGEN
(1). In diesem Text werden unter anderem Motive weiter verfolgt, die
zunächst gemeinsam mit Eva Kreisky in einem Thesenpapier "Über
die Staatsfrömmigkeit der Alternativ-Bewegung" entwickelt wurden.
Eine Diskussion mit Wolf-Dieter Narr über dieses Papier hat mir
weitergeholfen. Von dem hier vorgelegten Text gab es eine erste
Fassung, die mir Renate Routisseau und Sebastian Scheerer mit
ihren Anmerkungen dazu gründlich vermiest haben. Sie haben mir
mit eben diesen Anmerkungen geholfen, trotzdem nochmals anzufan-
gen. Ich hoffe, das Ergebnis rechtfertigt ihren und meinen Auf-
wand.
Ich widme diesen Aufsatz Helga Dieter, weil ihr noch nie jemand
was gewidmet hat - ein unhaltbarer Zustand, den man nicht länger
anstehen lassen kann.
(2) Vergl. dazu Hirsch, 1980
(3) In diesem und dem folgenden Abschnitt beziehe ich mich stark auf
die ersten Abschnitte von Pilgram & Steinert, 1980. Wenn es sich
ergab, habe ich auch den einen oder anderen Absatz wörtlich von
dort übernommen.
(4) Ivan Illich wird nicht müde, in seinen zahlreichen Arbeiten die-
sen Vorgang zu beschreiben - für die Schule, die Medizin, die
Verkehrsplanung, die "Experten" für die Versorgung mit Gütern
und Dienstleistungen überhaupt. Einen Überblick gibt neuerdings
Illich et al., 1979, Ähnliche Gedanken wurden in Anwendung auf
den Bereich der öffentlichen Verwaltung entwickelt in Kreisky &
Steinert, 1978.
Bei aller Übereinstimmung mit und Freude an den Gedanken Illichs
dürfte aber aus diesem Text deutlich sein (oder noch werden), daß
mir Illichs Experten- und Bürokratiekritik gelegentlich etwas
kurzgegriffen erscheint. Das gilt ebenso für die ganz anders fun-
dierte, aber in den Folgerungen nicht unähnliche Herrschaftskri-
tik bei Foucault, mit der ich mich in dem einschlägigen Kapitel
in Treiber & Steinert, 1980, ausführlich auseinandergesetzt habe.
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(5)
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(9)
(lo)
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Die Kritik bezieht sich in beiden Fällen auf die etwas schwam-
mige gesellschaftstheoretische Basis, aus der ein manchmal fast
naiv anmutender (das eher bei Illich) oder verzweifelter (das
eher bei Foucault) Aktivismus ableitbar ist. Dergleichen ist ge-
legentlich durchaus ermutigend. Trotzdem fehlt hier die Katego-
rie des "Widerspruchs", die mir zentral für jede Analyse der po-
litischen und historischen Dynamik erscheint.
Damit ergibt sich eine weitere spezielle Deformation und Enteig-
nung der Probleme, die freilich nicht in dem Sinn "eigenständig"
ist, daß eine reine Medienkritik ausreichen würde, vielmehr mit
zentralen wirtschaftlichen und politischen Funktionsmechanismen
sich verbindet. Vergl. dazu Pilgram, 1979; Steinert, 1979.
Diese Unterschiede wurden erst in einer Sekundäranalyse der Da-
ten sichtbar, über die in Steinert, 1969, berichtet wurde.
Vergl. dazu Einrichtung und Niedergang der "Nationalwerkstätten"
in der französischen Revolution von 1848; Steinert & Treiber,
19755 S. - 298. 378;
- in der die kommunale Erstellung billiger Wohnungen abgelöst
wurde durch Wohnungsbeihilfen, die im Effekt der Stützung hoher
Mieten dienen (vergl. Knoth et al., 1976).
Ich habe kürzlich im Schlafwagen einen Herrn mittleren Alters
kennengelernt, der sich als "Devisenspekulant" vorstellte und
mir seine Lebensorganisation so beschrieb: Die Woche über Hoch-
druckarbeit - er will möglichst bald soviel Vermögen ansammenIn,
daß ihm die Erträge ein (arbeitsloses) Monatseinkommen von
5000 DM garantieren -, am Wochenende Gruppenveranstaltungen, die
nicht nur nützliche Fertigkeiten für den "Umgang mit Menschen"
vermitteln, sondern wo man auch selbst "Mensch" sein kann. In
diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung von Interesse, daß
die Haus- und Ehefrau offenbar - über die Vermittlung einer im-
mer anspruchsvolleren und verwissenschaftlichten Technologie
der Kindererziehung und des Umgangs mit ihrem "Mann, dem unbe-
kannten Wesen" - tendenziell die Rolle einer "Laientherapeutin"
zugeschrieben bekommt; vergl. Kontos & Walser, 1979, S. 97ff.
Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Einrichtung einer
Staatlichen Sozialversicherung und Sozialistengesetzen in
Deutschland wie Österreich macht diese Deutung unabweisbar.
Auch Baron (1979), der demgegenüber Interessen an der Weltmarkt-
Stellung Deutschlands als Erklärung in den Vordergrund rückt,
liefert selbst zahlreiche Belege für diesen oben genannten Zu-
sammenhang. Es wäre die Bismarcksche Sozialgesetzgebung nicht
das einzige Beispiel einer staatlichen Politik in der sich das
Kapitalinteresse am wirtschaftlich Notwendigen mit dem Herr-
schaftsinteresse am politisch Nützlichen trifft.
Daß die Selbstverwaltung der Kassen an dieser Anonymität nicht
das geringste ändert, zeigt, Standfest, 1977.
Das macht es möglich, die Frage der "Sicherheit der Renten" zu
(13)
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(18)
(19)
einem Wahlkampfthema und Bevölkerungsprognosen zum Alarmruf "Wer
wird unsere Renten zahlen?" hochzuhieven.
Insofern ist die politische Forderung nach einem "Recht auf Ar-
beit'' ein naives Mißverständnis und/oder nur als taktische For-
derung, die auf die strukturelle Unmöglichkeit ihrer Erfüllung
aufmerksam machen soll, ernstzunehmen.
Von diesen Systemen der unmittelbaren Gebrauchswertproduktion
wird die "Armuts-Ökonomie'" am Beispiel der Ökonomie der Obdach-
losen-Existenz beschrieben bei Preusser, 1978. Wie die Gebrauchs-
wert-Ökonomie der Familie nach ihrer anfänglichen Zerstörung
durch einen Raubritter-Kapitalismus von einem vorausschauenderen
patriarchalischen Kapitalismus mit einigem Aufwand wieder herge-
stellt wurde, ist in Steinert, 1980 b, und Treiber & Steinert,
1980, dargestellt.
Die Darstellung ist entnommen aus Steinert, 1980 b, und folgt
der in Hill, 1972; Zitate ohne nähere Angabe stammen aus dieser
Arbeit.
Ein frühes Beispiel dieser Art von linker Auseinandersetzung hat
Enzensberger, 1966, analysiert.
Beispiele für die Darstellung von Projektverläufen, in denen sol-
che Behördenauseinandersetzungen zentral waren, finden sich etwa
in Hollstein & Meinhold, 1977, oder Winter et al., 1979.
Die "Arena" ist dokumentiert in einem Sonderheft der Zeitschrift
"Wespennest" aus dem Jahr 1976. Sie spielt auch in dem Roman
"Einsame Klasse" von Gustav Ernst eine wichtige Rolle.
Wie das wiederum vor sich gehen soll angesichts des massiven
moralischen wie strafrechtlichen Drucks, der derzeit auf dem
Thema lastet, ist eine Frage, für deren Beantwortung vom Schreib-
tisch aus ich nicht verantwortlich gemacht werden möchte. Alle
konkreten Arbeitsansätze können sich, denke ich, nur aus der Pra-
xis der mit dem Problem Befaßten und von ihm Betroffenen ent-
wickeln. (Einen Überblick über verschiedene Bewegungen zur Lega-
lisierung von Cannabis bietet das diesem Thema gewidmete Heft
26-27/1980 der Kriminalsoziologischen Bibliographie.) Der Theo-
retiker kann wohl nur allgemeinste Richtungen andeuten und viel-
leicht die Reflexion der Praxis unterstützen, indem er Fragen
stellt, die den Selbstverständlichkeiten der herrschenden Pra-
xis gegenüber "naiv" sind.
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%*
65
HUMANISIERUNG
DES
GESUNDHEITSWESENS
Berichte * Konzepte * Alternativen
Arbeitsfeldmaterialien zum Sozial-
und Gesundheitsbereich, Heft 9
Ilona Kickbusch
VON DER ZERBRECHLICHKEIT DER SONNE
Einige Gedanken zu Selbsthilfegruppen
... der Doktor, der wahre Doktor
ist ein Poet (ein weiser Mann),
er teilt Leben mit ... sein Rat
ist durch Erfahrung geprüft,
er hält einen Spiegel,
ehe andere Weisheit in ihren
Gesichtszügen hervorbringen,
der falsche Doktor macht Dinge
kompliziert,
er zerstört Gesichter, trägt
dazu bei, daß andere ihre
Gesichter verlieren.
Gedicht der Azteken
(zitiert nach Valentina Borremans)
HERRSCHAFT UND HILFE
Entkolonialisierung ist ein Begriff, der nicht nur für die Befreiungs-
kämpfe in Asien und Afrika von Bedeutung ist. Historische Analysen,
wie sie z.B. Ivan Illich oder Michel Foucault vorgelegt haben, schil-
dern die Kolonisation unseres Alltags seit dem Aufstieg der Experten.
Sie erläutern das Entstehen der festgefügten Strukturen, die unsere
Körper einengen, die sich in unsere Köpfe eingegraben haben und uns
handlungsunfähig und passiv machen. Strukturen, die uns glauben ma-
chen, daß zumindest eine Form der Hierarchie unumgänglich ist: die
der '"Wissenden' über die "Unwissenden'. In langen Erziehungs- und
Unterwerfungsprozessen haben wir gelernt, uns sagen zu lassen, wann
wir Hilfe brauchen und worin sie bestehen soll. Der größte Erfolg
dieses historischen Enteignungsprozesses war, daß wir gelernt haben,
die Herrschaft von Experten über Laien als Hilfe zu begreifen, als
Liebesgabe an uns Unwissende. Notstände werden kodiert, Bedürfnisse
analysiert, Heilungsprozesse eingeleitet: die Macht der Definition
und die Macht der Ausführung liegt bei den professionellen Helfern,
bei Ärzten, Sozialarbeitern, Juristen, Therapeuten und Wissenschaft-
lern aller Art und Fachrichtungen. Sie wollen nur unser Bestes auf
dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik, und sie werden uns
schon helfen - besonders, wenn wir widerspenstig sind.
Natürlich bestimmen auch andere Herrschaftsformen ökonomischer und
politischer Natur unsere Existenz. Wie eng sie mit dem als Liebe und
Fürsorge getarnten Entmündigungsprozess (an den viele Helfer „och
viel inbrünstiger glauben als ihr Klientel) verflochten sind, macht
Paolo Freire in seinem Konzept der Erwachsenenalphabetisierung deut-
lich: es gilt, der Herrschaft der Imperialisten nicht die Herrschaft
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der Experten folgen zu lassen. Der passiven, rezeptiven Haltung der
Unterdrückten soll eine wißbegierige und erfinderische Neugier Platz
machen. Gemeinsam soll gelernt, dann gelehrt und wieder weitergelernt
werden, sollen formalisierte und vorgeschriebene Lernrituale immer
wieder umgestürzt und verändert werden. "Denn nur in einer solchen
Praxis, in der die Helfer und die, denen geholfen wird, sich gleich-
zeitig gegenseitig helfen, verkehrt sich der Akt der Hilfe nicht in
| die Herrschaft über den, dem geholfen wird." (1)
KÖRPERPOLITIK
Die neue Frauenbewegung hat dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe
und der gemeinsamen Erfahrungsprozesse zum wichtigsten Teil ihrer
politischen Strategie gemacht. Erfahrungen aus feministischen Selbst-
erfahrungsgruppen und Selbsthilfegruppen verdeutlichen, wie eng die
gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen mit einer Kolonialisierung
der weiblichen Körper verbunden war und auf welche Weise die HERRschen-
den davon profitierten. Der Frauenkörper war domestiziert worden,
der Wildheit und des Ausdrucks beraubt, ästhetisch verformt und je
nach Zeitgeschmack und Kulturbereich auf Einzelteile reduziert:Kult(ur)
des Busen, des Hinterns, der aus- und einladenden Hüften, der Gerten-
schlankheit usw.; sorgfältig dekoriert, gezähmt und der eigenen Sexuali-
tät verlustig. Beraubt der Selbstbestimmung über Kopf und Körper,
verlieren die Frauen die Fähigkeit, einander zu helfen und zu vertrauen.
Damit sind sie den Experten ausgeliefert und ermöglichen ihnen den
Zugriff auf die Familie. "Beispielsweise ist sie der Partner, den
sich die Ärzte- und Lehrerschaft erwählt, um ihre Prinzipien und
ihre neuen Normen im familiären Raum auszubreiten." (2) Barbara Ehren-
reich und Deidre English beschreiben in ihrem neuen Buch (3), auf
welche Weise in den letzten 150 Jahren der weibliche Lebenszusammen-
hang von Experten zivilisiert worden ist: im Bereich der Hausarbeit
als Hauswirtschaftslehre und "domestic science", im Bereich der Fa-
milie als die Wissenschaft von der Kindererziehung in Form von
Psychiatrie, Pädagogik und Psychologie, im Bereich des Körpers als
Gynäkologie. Die politische Bedeutung der Verwaltung des Körpers
wurde von Gruppen der Frauenbewegung in die Öffentlichkeit getragen.
Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht in der Abtreibungsfrage
bildeten den Anfang einer Körperpolitik der Betroffenen, im Wider-
stand gegen die Biopolitik der regulierenden Kontrollen durch die
Medizin.
Selbstuntersuchung, Selbsterfahrung, Selbsthilfekliniken, das Studium
volksmedizinischer Hausmittel und Heilmethoden, die Praxis anderer
Behandlungsformen: all diese Unternehmungen waren Teil einer Suche
nach einer sanften, ganzheitlichen Medizin, die es ermöglicht, Kennt-
nisse zu teilen, Entscheidungen selbst zu treffen, Risiken abzuwägen
und sich gegenseitig zu helfen (4). Entkolonialisierung also als ein
Selbsthilfe-Lernprozeß, als langsame (oft mühsame) Entdeckung der
Körper und Köpfe, verlorener und neuer Kompetenzen, als unverwaltete
Erfahrung in einer verwalteten Welt. Der Wunsch, etwas zu schaffen,
das nicht nur Freiraum ist, nicht nur Experimentierfeld, sondern
die un-faßbare Form der Politik, die sich so leicht nicht dingfest
machen läßt.
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Die Praxis der Ausführung und gegenseitigen Hilfe wurde begleitet von
der Forderung nach dem Definitionsrecht: Wer ist krank? Was ist ge-
sund? Was ist normal? Was ist weiblich? Die feministischen Gruppen be-
tonen, daß Schwangerschaft, Menstruation, Älterwerden, Geburt keine
Krankheiten sind, sondern Lebensereignisse, deren Inhalt durch Exper-
tenintervention vertrieben und deren Erleben dadurch verhindert wird.
Bewußt wählten die Frauen für ihre Treffpunkte den Namen "Gesundheits-
zentrum", insbesondere auch weil sie der Gesunderhaltung besonderes Au-
genmerk schenken wollten. Da aber inzwischen die Experten dazu überge-
hen, ihre Begrifflichkeit zu ändern, und statt von Krankheit ver-
schleiernd von "Gesundheitsproblemen" reden (und die Ärzteschaft be-
sonders bemüht ist, ihren Einfluß auf Gesundheitserziehung auszudeh-
nen), gerät der Kampfbegriff "Gesundheit!" in eine Zweideutigkeit,
derer wir uns bewußt sein müssen. Impliziert der professionelle Be-
griff der Gesundheit zunehmende Normierung und Kontrolle, so wollen
die feministischen Frauengesundheitszentren versuchen, das Prinzip
des "lernen - lehren - wieder lernen" auf der Basis gemeinsamer Er-
fahrungen durchzuhalten und nicht unterderhand zu einem Dienstlei-
stungsbetrieb für die Ware "Gesundheit" zu werden. Selbsthilfe soll
mehr sein als nur eine alternative Erbringung von medizinischen
Dienstleistungen: "Wir wollen keine Vermittler sein zwischen den Är-
zten und den Patientinnen. Wir wollen den Frauen zeigen, wie sie es
selber machen können. Wir wollen Frauen nicht untersuchen. Wir zei-
gen Frauen, wie sie sich selbst untersuchen können. Wir verkaufen kei-
ne Selbsthilfe und wir verschenken sie nicht: wir teilen sie." (Aus
einer Broschüre der Detroit Women's Clinic, 1974). Mit diesem An-
spruch sind viele Probleme verbunden, siehe dazu Fischer Taschenbuch
"Gemeinsam sind wir stärker - Selbsthilfegruppen und Gesundheit" von
I. Kickbusch u. A. Trojan. Die Utopie einer authentischen Selbsthil-
fe aber bleibt die treibende Kraft. ;
KATEGORISIERUNGS-BRÜCHE
Die Selbsthilfegruppen der Frauenbewegung und ihre radikale Absage
an die medizinischen Helfer und Experten sind aber nur ein Teil -
wenn auch der, dem lange Zeit die meiste Öffentlichkeit zukam:—- des
vielgesichtigen Phänomens der "Selbsthilfe", das sich mit Beginn der
70er Jahre zuerst in den USA, dann in anderen westlichen Industrie-
staaten immer mehr ausbreitete. Die New York Times nennt in ihrer
Neujahrsausgabe 1980 die 70er Jahre "das Jahrzehnt der Selbsthilfe".
Kaum ein Lebensbereich, kaum ein medizinisches Problem, für das es
nicht entsprechende Gruppen gäbe. Für viele Beobachter ist dieses
schillernde Spektrum das Anzeichen einer neuen Gesundheitsbewegung,
die Auflehnung gegen eine Expertokratie und eine Versorgungsdiktatur.
Die Ausprägungen umfassen ein Spektrum das von Gruppen mit einem klar
formulierten Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung reicht bis
hin zu solchen, die sich nur einem speziellen Krankheitsproblem zuwen-
den und keinen expliziten Anspruch auf Alternativen in der Gesell-
schaft oder im Versorgungssystem formulieren.
Ich habe in einem anderen Artikel (5) versucht, Selbsthilfegruppen
in Hinblick auf ihre Stellung zum professionellen System zu charak-
terisieren und zeige auf, wie Gruppen im Versorgungssystem, neben
dem Versorgungssystem oder gegen das Versorgungssystem arbeiten kön-
69
nen. Dabei wird, wie bei ähnlichen Zuordnungsversuchen, zweierlei
nicht genug betont:
© Erstens verändern sich einzelne Gruppen in ihrem zeitlichen Ablauf.
So gibt es Rückzüge von vormals offensiven Gruppen wie z.B. in der
Frauenbewegung, oder es erfolgt die zunehmende Orientierung auf ge-
sellschaftliche Probleme hin wie zur Zeit bei vielen Behinderten-Grup-
pen (6). Um die Kategorien von Reimer Gronemeyer (7) zu gebrauchen:
eine kommunikative Selbsthilfegruppe kann in ihrem Verlauf zu einer
sozialen Selbsthilfegruppe werden, eine politische Selbsthilfegruppe
kann zur Kommunikationsgruppe werden usw. Ebensogut kann die Gruppe
vieles gleichzeitig sein oder für verschiedene Mitglieder Unterschied-
liches bedeuten. Selbst wenn sich die Gruppen auflösen, werden unter-
schiedliche Erfahrungsreste in den Individuen verbleiben. Das wird
z.B. im Bericht über eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines Park-
hauses deutlich: "Wir treffen uns nicht mehr gemeinsam, aber wenn wir
uns sehen, unterhalten wir uns noch über die schöne Zeit, die wir zu-
sammen erlebt haben." Und wenn das Problem wieder akut werden sollte,
"dann gehen wir wieder auf die Barrikaden! Dann gings sofort wieder
los, dann würden wir wieder mitmachen, das ist so sicher wie nur was."
(8). Ebenso ist für viele Frauen, die in Gruppen der Frauenbewegung
nitgearbeitet haben, derzeit nicht eine "neue" Selbsthilfegruppe das
wichtigste, sondern die gemeinsame Erfahrung und das Netzwerk, das
sich durch die Gruppenarbeit gebildet hat. Etwas qualitativ Neues ist
entstanden, das aber noch in enger Beziehung mit der ehemaligen Grup-
penarbeit steht und sie zum gegebenen Zeitpunkt wieder reaktivieren
wird.
© Zweitens tendieren Kategorisierungsversuche dazu, über der Einzel-
betrachtung den Blick fürs Ganze zu verlieren, also vor lauter Bäu-
men den Wald nicht mehr zu sehen. Mögen einzelne Gruppen völlig un-
terschiedliche Konzepte vertreten, von lockerer Gegenseitigkeit bis
hin zu starren Verhaltensregeln und strengen Hierarchien (wie z.B.
bei Synanongruppen), mögen sie sich selber als explizit politisch
sehen oder nicht, ihre Gesamtheit macht den realen Unterschied zur
bisherigen expertenorientierten Versorgung aus. Die Mitglieder von
Selbsthilfegruppen helfen einander auf der Grundlage gemeinsamer Er-
fahrungen, sie haben etwas, das sie sich gegenseitig geben können und
geben wollen. Sie sind damit als Individuen nicht mehr dieselben.
"Wir sind nicht mehr dieselben", ist auch das Fazit der Teilnehmer
an Nicaraguas großangelegter Alphabetisierungskampagne, die auf den
Gedanken Paolo Freires aufbaute. Und das Versorgungssystem kann auf-
grund des massenhaften Auftretens von Selbsthilfegruppen und Patien-
tenorganisationen auch nicht mehr das gleiche bleiben. Die Profes-
sionellen wehren sich, passen sich an, biedern sich an und wollen den
Gruppen helfen, die beste Selbsthilfegruppe, die es je gab, zu wer-
den. Aber hier gilt der eingangs zitierte Satz von Freire, daß nur in
einer Praxis, in der die Helfer und die, denen geholfen wird, sich
gleichzeitig gegenseitig helfen, sich der Akt der Hilfe nicht in Herr-
schaft verkehrt.
SOZIOLOGISCHE ENTDECKUNGEN
Bei aller notwendigen Betrachtung des Verhältnisses und des Macht-
kampfes zwischen den sogenannten Laien und den professionellen Hel-
70
fern sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, welchen Stellenwert
die Selbsthilfe innerhalb der gesamten gesundheitsrelevanten Versor-
gungsleistungen des Laiensystems hat. Wenn wir das duale System der_
Gesundheitsversorgung betrachten, stellen wir fest, daß ca. 6o - 85%
aller Gesundheitsleistungen außerhalb des professionellen Systems er-
bracht werden. Diese Selbstversorgung (self care) umfaßt Selbstdiag-
nose, Selbstbehandlung, Selbstmedikation, Pflege in der Familie, nach
barschaftliche Hilfeleistungen und verschiedene Formen von Prävention
und Gesundheitserziehung. Der englische Mediziner J.M. Last (9) hat
für dieses Phänomen das Bild vom medizinischen Eisberg verwendet. Die
ses Bild ist umso treffender, weil Professionelle aller Art - Ärzte
wie Sozialwissenschaftler - den verdeckten Teil des Eisbergs, die
Versorgung im Laiensystem, zwar selbstverständlich voraussetzen, aber
sich lange Zeit nicht wissenschaftlich damit beschäftigt haben.
Die Medizinsoziologie hatte sich ihrem Namen gemäß erst einmal auf die
Versorgungsleistungen im professionellen System beschränkt. Die Denk-
weisen der Soziologen waren die der Mediziner: die Leute sollten zum
Arzt, wenn ihnen irgendetwas fehlte, deshalb wurde (mit entsprechend
in die Untersuchung eingebauten Vorurteilen gegenüber der Laienver-
sorgung) untersucht, wer warum nicht zum Arzt ging. Natürlich waren
diese Forscher guten Willens und haben wichtige Ergebnisse zu schich-
tenspezifischem Krankheitsverhalten vorgelegt, aber sie hielten am
Glauben an die professionelle Lösung der Probleme fest. Die andere
wichtige Forschungsfrage beinhaltete, ob die Patienten den Anforde-
rungen des Arztes Folge leisten (compliance Forschung). Auch hier wur-
de vorausgesetzt, daß die Anweisungen des Arztes die richtigen sind,
die Reaktionen der Patienten die falschen.
Erste Ansätze einer Selbstversorgungs-Forschung beginnen Mitte der
60er Jahre, aber erst zehn Jahre später fällt es den Soziologen wie
Schuppen von den Augen: sie "entdecken" das Laiensystem der Gesund-
heitsversorgung ebenso wie sie einige Jahre zuvor die Armut in rei-
chen Ländern "entdeckt" hatten. i
Plötzlich sieht das verbildete Auge des professionellen Forschers mit
Erstaunen Dinge, die sich die ganze Zeit vor seiner Nase abgespielt
haben: in seiner Umgebung, in seiner Familie, in seinem eigenen Ver-
halten. So sind es auch die feministischen Forscherinnen, die den
männlichen Wissenschaftlern ihre Blindheit gegenüber dem alltägli-
chen Lebenszusammenhang (z.B. Hausarbeit), der vornehmlich das Leben
und die Arbeit von Frauen beinhaltet, vorwerfen. In ihrer Blindheit
treffen sich Soziologie und Medizin: sie haben sich vorzugsweise mit
Abweichungen von einer durch ihre jeweiligen Disziplinen konstruier-
ten Normalität beschäftigt. Das zeigt sich beispielsweise in der me-
dizinischen Sichtweise der Geburt, die nur fähig ist, Risikogeburten
wahrzunehmen, und die Möglichkeit einer "normalen" Geburt völlig aus
dem Blick verliert (lo). Das Plädoyer für eine neue Sichtweise der
Medizin war in voller Vehemenz von Ivan Illich eingeleitet worden,
indem er konstatierte, daß die Medizin nicht mehr heilt, sondern
krank macht. Dieses Wort von der "Nemesis der Medizin" (11) ist in- ,
zwischen zum Allgemeingut geworden. Während ich diesen Artikel schrei-
be, erscheinen im "SPIEGEL" die ersten Folgen einer Serie zur Krise
der Medizin, hat vor wenigen Monaten der Gesundheitstag in Berlin
12 ooo Leute auf die Beine gebracht, gibt es kaum ein Pädagogen-,
Sozialarbeiter- und Psychologenfachblatt, das sich nicht mit Selbst-
hilfegruppen auseinandergesetzt hätte, erleben die professionellen
71
Helfer die Verunsicherung durch ihr "Helfer-Syndrom", gibt es kein
Massenmedium, das sich nicht ausführlich mit den kernigen Sätzen
von Julius Hackethal beschäftigt hätte. Die Krisenstimmung läßt sich
am besten mit Hackethals Ausruf "Vorsicht! Arzt!" kennzeichnen oder
einreihen in die vielen "nein, danke'"-Bewegungen: "Medizin, nein
danke!". Die Infragestellung professioneller Leistungen und die Su-
che nach Alternativen hat vielfältige Ursachen und Beweggründe: die
Explosion der Kosten im Gesundheitswesen, ohne daß noch spürbare Ver-
besserungen eintreten, eine sogenannte "Dehumanisierung'' der Medizin,
die ihr Heil lieber in der Technologie als in der Mitmenschlichkeit
sucht, die veränderten Krankheiten, insbesondere die Zunahme von
chronischen Leiden, die Professionalisierung und Medikalisierung von
immer mehr Lebensbereichen. "Ein Problem zu medizinieren, heißt es
eher zu verschieben als zu lösen, heißt eine seiner Dimensionen zu
verselbständigen und technisch anzugehen und auf diese Weise seine
gesamte soziologische Bedeutung auszuschalten, um es zu einer "rein
technischen Frage zu machen, die unter die Kompetenz eines "neutra-
len" Spezialisten fällt." (12).
Die medizinische Kompetenzanmaßung erfolgt in immer weiteren Berei-
chen: Verhaltens- und emotionalen Schwierigkeiten, Selbstmord, Dro-
genkonsum, Sexualität, mangelhafte Anpassung, Abtreibung, Menopause
usw., usw. Eine solche Ballung von Definitionsmacht muß bewußt de-
montiert werden (13), und die vielfältigen Selbsthilfegruppen haben
mit dieser Arbeit begonnen, ohne daß sie Anleitung durch bewußte Ge-
sellschaftsveränderer gebraucht hätten, sie ließen sich schlicht et-
was einfallen und handelten. Daß Professionelle inzwischen Gruppen
initiieren und auf deren Hilferotential verweisen, macht diese Ent-
deckung nicht weniger wertvoll. Daß viele Gruppen weiterhin einen
"medizinischen Blick" haben und auf die große medizinische Entdeckung
hoffen, die auch ihnen die Rettung verheißen wird, zeigt nur, wie
weit die Kolonialisierung schon fortgeschritten ist, und wie mühsam
sie abzuschütteln ist.
LAIENVERSORGUNG
Welche Erkenntnisse hat nun die Soziologie der Versorgung im Laien-
system hervorgebracht? Hier nur einige kurze Hinweise, die hauptsäch-
lich auf den Ergebnissen amerikanischer und englischer Untersuchun-
gen beruhen. Weiteres findet sich in einem Themenheft zur Laienmedi-
zin, der Zeitschrift "Medizin, Mensch, Gesellschaft" (14). Schon die
ersten Zahlen relativieren Vorwürfe der Überbenutzung medizinischer
Dienstleistungen: nur eine von fünf morbiden Episoden wird einem
Arzt gemeldet, die anderen vier werden selbst versorgt. Wenn wir die-
ses Ergebnis mit den Aussagen Illichs verbinden, daß ca. 3/4 der tat-
sächlich erfolgten Arztbesuche überflüssig bis schädlich sind, so
wird deutlich, in welche Widersprüche sich die Diskussion über das
Nutzungsverhalten verwickelt hat und wieviele Aspekte es zu berück-
sichtigen gilt: die "Konsumenten" verbrauchen einerseits weniger
Dienstleistungen als ihnen nachgesagt wird, zugleich werden sie ge-
rügt, weil sie bestimmte medizinische Dienste (z.B. Vorsorge) nicht
genug nutzen. Einerseits schüren die Professionellen bestimmte Krank-
heitsängste (z.B. bei Krebs), um sich dann über die unzähligen Tri-
vial-Konsultationen zu beklagen. Einerseits verlässen sich wohlfahrts-
staatliche und professionelle Versorgung auf die unteren Teile des
72
Eisbergs, andererseits desavouieren sie die Laienversorgung als un-
verantwortliche Quacksalberei. Zugleich wissen wir, daß Arbeiter und
Arme auch dann keine guten Gesundheitsleistungen bekommen, wenn sie
sie brauchen, und daß die Professionellen bestimmte Gruppen und be-
stimmte Probleme (z.B. Alkoholiker und Alkoholismus) am liebsten gar
nicht zu Gesicht bekämen. Warum also in ein Versorgungssystem eintre-
ten, von dem man nichts oder Schlimmes zu erwarten hat? Warum sich
die Definitionsmacht nehmen lassen und die Geduld: die häufigste
Reaktion beim Auftreten einer Befindlichkeitsstörung ist die Inakti-
vität, das Abwarten: "Erst mal sehen, ob ich krank bin."
Drei große Bereiche der Gesundheitsversorgung werden im Laiensystem
bewältigt:
@ erstens kleinere Verletzungen und "Trivial-Krankheiten" wie Erkäl-
tungen, Kopfweh, Verdauungsstörungen. Hier wird durch Selbstbehand-
lung und Selbstmedikation das Symptom zum Stillstand gebracht. Wem
das zu trivial erscheint, der bedenke, daß die zweithäufigste "Krank-
heit" in der Allgemeinpraxis ebenfalls Erkältungen sind.
© zweitens der große Bereich chronischer Erkrankungen, z.B. Venen-
entzündungen, Rheumatismus, Bluthochdruck, einige psychologische Stö-
rungen. Hier steht die Pflege im Vordergrund, denn das Symptom ist
oft dauerhaft und kann in vielen Fällen nur an der massiven Ver-
schlechterung gehindert werden.
© drittens der kaum faßbare Bereich des gesundheitsfördernden und
präventiven Verhaltens. Dieser Bereich der positiven Gesundheitsbe-
handlungen ist noch kaum erforscht.
Befragte Personen sehen die Selbstbehandlung als durchaus sichere Me-
thode der Versorgung an. Laut Angaben waren nur 5% der vorgeschla-
genen Behandlungen wirkungslos oder falsch und diese waren meist auf-
grund von Falschinformationen in den Massenmedien versucht worden.
Der gesicherte Fundus eines Laienbehandlungswissens scheint demnach
vorhanden. Ein Teil der hohen Zufriedenheit mit der Selbstbehandlung
mag auf das Zusammenfallen von Definitionsmacht und Ausführungsmacht
zurückzuführen sein: eventuell birgt das Gefühl der eigenen Kontrolle
über die Lage in sich einen Heilerfolg.
Die bisher vorliegenden Forschungen zeigen, daß im Selbstversorgungs”
verhalten wenig Schichtunterschiede vorhanden sien(im Gegensatz zum
Nutzungsverhalten), dafür aber deutliche Unterschiede im Alter und
Geschlecht der Betroffenen, z.B. greifen alte Menschen und Frauen
häufiger zu Tabletten, wenn sich ein Symptom bemerkbar macht.
Von Bedeutung scheint mir bei dieser Forschung, daß ihre Kategorien
von Gesundheit/Krankheit stark den medizinischen Sichtweisen ange-
glichen sind. Wir wissen noch wenig, wann sich Leute krank und wann
sich Leute gesund fühlen und (so schreibt Valentina Borremans) "es
ist doch wirklich ganz offensichtlich, daß es mehrere Arten von Ge-
sundheit gibt, so wie es mehrere Arten von Schönheit, von Lächeln,
von Körpern gibt. Diese radikale Verschiedenheit des Lebendigen ist
nur für Bürokraten und Missionare schwierig zu begreifen." Diese
Forschung erzählt uns auch wenig darüber, wie sich die Menschen be-
handeln: wie wichtig das Maß an Zuneigung ist, an persönlicher Betrof-
fenheit, an emotionaler und sozialer Unterstützung für den Leiden-
den. Sie sagt uns wenig über Wohlbefinden und wenig über subjektive
Belastungen und subjektive Verarbeitung. Ausnahmen, wie die Arbeiten
von Elisabeth Kübler-Ross (15) über die Empfindungen von Sterbenden,
73
verfallen am Ende doch wieder der Kategorisierungssucht. Zugleich be-
stehen berechtigte Zweifel, ob dieses totale Ausleuchten der Empfin-
dungen und damit die totale Erfassung des Laiensystems für die Betrof-
fenen von Nutzen sein werden, oder ob - wie Castel (16) vermutet -
mit Hilfe der Sozialwissenschaft der totale Zugriff der Professionel-
len in die familiale Intimität vorbereitet wird. Unterstützen läßt
sich diese Vermutung durch das Konzept der "chronischen Krankheit",
das ein Traumkonzept für Mediziner und Sozialwissenschaftler darstel-
len muß: endlich ist sie da, die lebenslange Pathologisierung, die
auf Dauer verwaltbare Krankheit, die stete Kontrolle, intimste Über-
wachungen und vielfältige Forschungen ermöglicht und zugleich vom
Anspruch auf Heilung befreit ist. Für jede konstruierte Stufe des
Krankheitsverlaufs werden sich neue Experten finden. Die Zwiespältig-
keit dieser Laienforschung zeigt sich aber auch bei den Laien selbst:
sie beweist, daß die Menschen zwar eine viel höhere Kompetenz haben,
sich selbst zu versorgen, als ihnen die Professionellen jemals bereit
waren zuzuschreiben (und als sie selber es wahrhaben wollen) - aber
sei zeigt auch, daß die Laien in den meisten Fällen ebenfalls nur die
Symptome ihres gestörten Wohlbefindens kurieren und nicht deren Ur-
sachen angehen. Vom "Valium-Zeitalter"' kann Robert Jungk nur sprechen,
weil wir die Ärzte schon gar nicht mehr brauchen, um uns Pillen ein-
zugeben: wir sind konditioniert (und oft durch äußere Anforderungen
gezwungen), zur kürzesten Lösung zu greifen: Tablette rein, Problem
verschoben, Hier liegt die subtilste Macht der Kolonisatoren.
UNBEZAHLTE ARBEIT
Die Forschungen zur Versorgung im Laiensystem machen bisher auch nicht
deutlich, wieviel der Selbstversorgung im Laiensystem gleichzeitig
extreme Belastung ist (z.B. das Ausmaß an Kraft und Zuwendung, das
ein chronisch krankes Familienmitglied erfordert), und sie vermeiden
die Diskussion über bezahlte und unbezahlte Arbeit (17). Viele pro-
gressive Verfechter einer besseren Gesundheitsversorgung verweisen
auf die Belastungen im Laiensystem und möchten, daß den Individuen
und Familien diese Last durch professionelle Hilfen erleichtert wird.
Deshalb sind Vertreter eines sozialistischen Versorgungsansatzes für
die Verlagerung der Dienstleistungen in professionelle bezahlte Ar-
beit in staatlicher Zuständigkeit. Sie sehen die staatliche Lösung
als notwendige Grundlage eines gerechten und humanen Versorgungssy-
stems, Diese Kritiker sehen auch zu Recht, daß Tendenzen bestehen,
die Laien zu "professionalisieren" und sie zu mehr unbezahlter Ar-
beit für die Reproduktion der Gesellschaft zu erziehen.
Auch die feministische Bewegung hat sich in der Diskussion über Haus-
arbeit intensiv mit den unbezahlten Dienstleistungen beschäftigt, die
Frauen für die Gesellschaft erbringen. Nicht zuletzt sind es die Frau-
en, die den überwiegenden Teil der Gesundheitsleistungen im Laien-
system erbringen. Um den gesellschaftlichen und ökonomischen Wert von
Hausarbeit zu verdeutlichen, faßten erste feministische Ansätze fast
alles unbezahlte Handeln in der Familie als Arbeit auf (18). An sei-
ne Grenzen stößt dieses Konzept, wenn es um Handlungen für das eige-
ne Wohlbefinden geht, um Handlungen also, die freiwillig und autonom
erbracht werden. Ivan Illich hat einen Weg aus diesem Dilemma aufge-
zeigt, der auch wichtige Möglichkeiten bietet, Selbstversorgungslei-
74
stungen im Gesundheitsbereich zu unterscheiden. Er trennt nicht nur
die bezahlten von den unbezahlten Dienstleistungen, sondern er führt
den Unterschied zwischen "Schattenarbeit'' und "Eigenarbeit" im Bereich
der unbezahlten Dienstleistungen ein.
u
Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, möchte ich nochmals auf die i
Selbsthilfekonzepte der verschiedenen gesellschaftspolitischen Posi-
tionen zurückkommen:
Die technokratische wie die konservative Forderung nach Selbsthilfe
und Selbstbehandlung sehen diese als gerechtfertigte, unbezahlte Ar-
beit. Den Technokraten liegt der Spareffekt am Herzen, und sie for-
cieren Aspekte wie Selbstüberwachung, Selbstkontrolle und Selbster-
ziehung vorrangig aus Effizienzerwägungen; die Laien sollten ihren
Teil gesellschaftlicher Arbeit dazu beitragen. Die konservativen fü-
gen diesem Konzept noch weitere ideologische Verzierungen hinzu: das
Individuum soll bestraft werden, wenn sein/ihr Verhalten nicht dem
aufgestellten Gesundheitskodex entspricht, Restriktionen werden mo-
ralisch begründet und unbezahlte Arbeit wird grundsätzlich als Lie-
besdienst verbrämt. Beide Positionen wollen unbezahlte, standardisier
te, verwaltete, erzwungene Mitarbeit an der Produktion der gesell-
schaftlichen Verhältnisse. Diese entfremdete Form von Arbeit in der
Reproduktionssphäre nennt Illich Schattenarbeit. Ohne sie könnte die
kapitalistische Gesellschaft nicht überleben. Sie ist die notwendige
Ergänzung der Lohnarbeit. Sie lebt vom Prinzip der begrenzt zugestanų
denen Ausführungsmacht unter der Kontrolle und Definitionsmacht von |
Professionellen. Deshalb spielt in diesen Konzepten die Erziehung zur
Selbsthilfe eine so große Rolle, Erziehung durch Experten bis hin zuf
Selbsterziehung (19). |
Dagegen setzt Illich die Eigenarbeit, "die soziale Subsistenz im Er-|
leben, Erfahren und Erleiden der Gegenwart". Dieses Subsistenzmoment |
ist auch vielen wohlgemeinten progressiven Positionen abhanden gekom7
men. Sie sehen durch ihre Brillen immer zu schnell die Absichten der |
Gegner, das "selbst" in vielen der Wortkonstruktionen (von Selbsthilr
fe bis zu Selbstverantwortung) sehen sie zwar unter dem Aspekt der vọn
außen aufgezwängten Schattenarbeit, aber nicht unter dem der selbst-
verantwortlichen, selbstbestimmten Eigenarbeit.
Selbsthilfe"förderung" kann in der Tat ein Versuch sein (auch ein uh-
bewußter), die Bevölkerung zu unbezahltem Hilfsdienst zu mobilisie-
ren. Zwar erhalten die Betroffenen ein klein wenig mehr Ausführungs-
macht, aber die Definitionsmacht bleibt weiterhin in den Händen der
Professionellen und den Vertretern der Apparate. Authentische Selbst-
hilfe setzt aber die Definitionsmacht voraus, ebenso wie Neugier und
Vitalität. Ein Beispiel für die Definitionsmacht der Betroffenen ist
die Bürgerinitiative Moorfleet, die für sich definiert, was gesund-
heitsschädigend ist und ihre Handlungen von dieser Eigen-Definiti n
leiten läßt (20).
POLITISCHE ANSPRUCHSSPIRALE
Für diejenigen von uns, denen die politische und gesellschaftsverän-
dernde Komponente von Selbsthilfegruppen und Selbstbehandlung beson-
ders am Herzen liegt, kann die Unterscheidung von Schattenarbeit und
Eigenarbeit eine Hilfestellung sein. Die Wohlfahrtsdiskussion hat die
Selbstinitiativen meist unter dem Aspekt der Schattenarbeit analysiert,
75
ohne Möglichkeit der Eigenarbeit. Das ist ein Konzept, das wenig Hoff-
nung läßt. Wenn in dieser Tradition argumentiert wird, nützt fast al-
les letztendlich dem System. Im Extrem kann dies natürlich für jede
Arbeit gelten, bezahlt und unbezahlt, und sicher auch für die Arbeit
als Wissenschaftler - selbst wenn wir meinen, für die richtige Seite
zu sprechen. Franco Basaglia, hat das Dilemma des gutwilligen Exper-
ten beschrieben:
l Für uns heißt es weiterhin, die Widersprüche des Systems, das
| uns konditioniert, leben und ertragen; eine Institution verwalten,
| die wir ablehnen; therapeutische Arbeit leisten, von der wir
| nicht überzeugt sind, und dagegen angehen, daß unsere Institu-
| tion - die ja durch unsere Aktion genauso zu einer Institution
| subtiler und verschleierter Gewalt wurde - für das System weiter-
i “hin nur funktional ist." (21)
Ich meine, daß wir uns tatsächlich in einer Periode der Neuverhand-
lung der Machtanteile zwischen Laien und Experten, aber auch zwischen
verschiedenen Expertengruppen befinden. Castel (22) wählt für diesen
Prozeß den Begriff Metamorphose. Und wir müssen uns wahrscheinlich
erst daran gewöhnen, daß dieser Prozeß ähnlich lange dauern mag, wie
| der Aufstieg der Experten. Wir werden mit unseren Urteilen vorsich-
tiger und lebensnäher werden müssen - ohne zugleich in kritikloses
Bejubeln jeder noch so kleinen Selbsthilfegruppen zu verfallen oder
| in totale Ablehnung jeden professionellen Handelns. Wir kommen nicht
| umhin, aufgrund des Anwachsens lokaler, begrenzter und problemorien-
tierter Bewegungen die bisher leitenden all-umfassenden Politikkon-
zepte zu überdenken. In vielen Gesellschaftsgruppen hat das Vertrauen
in konzeptionelle Politik abgenommen, staatliche Lösungen werden
| skeptisch beäugt, Aussteigen ist ein ernsthaft diskutiertes politi-
-sches Verhalten geworden (23).
Bescheiden werden wir anerkennen müssen, daß ebenso wie es viele Ar-
ten von Gesundheit gibt, es viele Arten von Gegenwehr gibt. Wichtig
erscheint mir in diesem historischen Prozeß das Anschaulichmachen
von Veränderungsmöglichkeit (sozialistische Brutkästen hat Peter Mar-
cuse die vielen Alternativmodelle und Projekte genannt), das selber
Ausführen und das selber Definieren. Das Fühlen, daß es bessere Wege
des Lebens, des Arbeitens, des Politikmachens und des Heilens gibt.
Für die Professionellen (ob Mediziner oder Sozialwissenschaftler) be-
deutet es den Verzicht auf den Heilsanspruch. Sicher stehen wir da
erst am Anfang und neigen dazu, vor unseren eigenen hohen Ansprüchen
zu resignieren. Alternative Projekte sehen sich besonders der Kritik
aus den eigenen Reihen ausgesetzt, weil die Erwartungen an sie so
hoch sind: sie sollen gute Ware preiswert und gute Dienstleistungen
möglichst umsonst produzieren, sie sollen intern demokratisch sein
und keine zwischenmenschlichen Konflikte aufweisen, und sie sollen
die herrschenden Institutionen herausfordern und dabei möglichst Teil
einer größeren, schon definierten Bewegung sein. Da muß einem ja Mut
und Spucke ausgehen, wie wir aus vielen Selbsthilfeprojekten wissen.
Viele der alternativen Kunden sind so konsumorientiert wie sonst auch:
die alternativen Projekte sollen ihnen noch mehr noch besser bieten.
Selbsthilfegruppen und selbstorganisierte Initiativen aller Art können
viel sein: Modell für Selbst- und Sozialveränderung, Felder für poli-
tisches Erfahren und lokalen Widerstand, Freiräume des Un-Erzogenen,
die Bewegung selbst. Sie können Inseln des Rückzugs sein, Bewälti-
gungsgruppen, letzte Zuflucht und letzter Ausweg, wenn das Leiden am
76
Selbst und an der Gesellschaft zu groß geworden ist. Sie können aber
auch Anpassungsstrategien sein, Teil eines neuen medizinischen Über-
weisungssystems, das nun wie selbstverständlich auch die Schattenar-
beit offiziell miteinbezieht und mitverwaltet.
Natürlich müssen wir wachsam sein, daß letzteres nicht geschieht, aber
wir sollten als Betrachter (auch wenn wir selbst in Gruppen mitarbei-
ten) nicht überkritisch sein, nicht ein solches Ausmaß an Warnung
und Skepsis aussprechen, daß wir indirekt mehr zur Befriedung des
Systems beitragen, als die "un"politischen Gruppen, die wir im Visier
haben. Partizipation steht als positiver Wert weiterhin im Gegensatz
zur Passivität, Apathie und Abhängigkeit. Entkolonialisierungsstrate-
gien verlangsamen die Entwicklung des Systems und legen sich quer zu
seiner Festschreibung. Es ist sicher ein Weg (von mehreren notwendi-
gen Wegen), die Transformation der Gesellschaft dadurch zu bewirken,
daß viele, ganz unterschiedliche Menschen sich für ihre ureigenen In-
teressen einsetzen. Für meinen Geschmack haben viele Kritiker der
Selbsthilfegruppen eine sehr elitäre Herangehensweise: sie halten die
Mitglieder dieser Gruppen für leicht manipulierbar und problemlos |
für die Interessen der Herrschenden einzusetzen. p
Wir Soziologen sollten sehr zurückhaltend sein und uns fragen, warum
wir oft soviel mehr Vertrauen in die Wissenschaft haben als in die
Aktionen von Menschen. Wir sollten fragen, was wir den Bewegungen
und Gruppen denn zu bieten haben, was wir von ihnen lernen können
und wie wir sie unterstützen können - vorausgesetzt, sie wollen es.
Auf jeden Fall sollten wir das Theorem vom "erziehungsbedürftigen"
Menschen fallen lassen und darauf hinarbeiten, daß es mehr Freiräume
des un-erzogenen gibt und mehr Möglichkeiten authentische Selbsthil-
fe zu praktizieren. Ich möchte mit einigen Sätzen von Valentina Bor-
remans abschließen, weil sie soviel besser ausdrücken, was ich sa-
gen möchte:
"Vielleicht haben sie von mir erwartet, daß ich ein anderes Gesund-
heitsmodell hinzufüge, ein weiteres "Leitbild" zu jenen, die jetzt
unter den Futuristen geläufig sind. Ich verweigere das. Ich weigere
mich zu definieren, was Gesundheit, die für andere wünschenswert ist,
enthalten sollte. Ich weigere mich, Gesundheit als Ziel zu definie-
ren, das von einer dritten Person gesetzt werden kann.
Statt dessen schlage ich vor, daß wir eine Lehre von Netzahualcoyotl,
dem Prinz-Poeten von Cuautla, der Stadt der Blumen, akzeptieren: daß
wir die Zerbrechlichkeit unserer Sonne erkennen." (24)
Ich möchte Alf Trojan, Sabine Schafft und Ellis Huber für die hilf-
reichen Kommentare danken.
Der Beitrag von Ilona Kickbusch ist ein Vorabdruck aus:
“ GEMEINSAM SIND WIR STARKER”
— SELBSTHILFEGRUPPEN UND GESUNDHEIT —
Selbstdarstellungen, Analysen, Forschungsergebnisse
Herausgegeben von Ilona Kickbusch und Alf Trojan,
fischer alternativ 4050 (Taschenbuchmagazin Brennpunkte)
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ÖKOLOGISCHE STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA
1. VOM NUTZEN AMERIKANISCHER VORBILDER
Die Alternativbewegung in den USA gefällt mir sehr und ich werde
wohl die nächsten Jahre meines Lebens dort verbringen. Als ich
1970/71 dort lebte, mußte ich mich noch vor meinen Freunden legi-
timieren. Inzwischen ist es ja sehr in Mode gekommen, daß der deutsche
Alternativtourist (der Dollarkurs macht's möglich) in die USA jettet,
um Frauen-, Land-, Alternativtechnik- und Ökologiebewegung zu er-
kunden. Das USA-Bild der deutschen Linken ist in Bewegung geraten,
und das ist gut so. In den letzten lo Jahren, von denen ich drei in
den USA und Kandada verbrachte, habe ich jede dieser genannten Be-
wegung dort erlebt und ihr zeitlich verzögertes Übergreifen nach
Deutschland beobachtet. Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen,
sozialen und kulturellen Systeme habe ich doch immer stark gespürt,
wie sehr die USA Entwicklungen und Bewegungen zeigt, die sich etliche
Jahre später auch bei uns manifestieren. Daher ist es nützlich, diesen
Blick in unsere eigene Zukunft zu tun. Eine Reflektion der Übertrag-
barkeit amerikanischer Bedingungen im Bereich von Sozialarbeit und
Stadtökologie auf Deutschland soll weiter unten erfolgen.
Was mich an der amerikanischen Alternativbewegung insgesamt beeindruckt,
sind wohl vor allem die dort üblichen "Verkehrsformen": eine gewisse
Leichtigkeit und Lebensfreude, erfrischender Pragmatismus, geringe
doktrinäre Enge. Es ist im allgemeinen leicht, an dieser Bewegung
teilzunehmen. Ihre Arbeit ist wenig bevormundend. Stellvertreterpoli-
tik ist verpönt. Ihre Projekte sind hier-und-jetzt orientiert und
sehr praxisnah. Diese Bewegung erteilt allen Formen der Geheimnis-
krämerei und des Expertentums eine Absage, sie insistiert auf Selbst-
hilfe (statt entmündigender und süchtigmachender Staatshilfe) und be-
sitzt eine hohe Sensibilität allen Formen der Geschlechts- und Rassen-
diskriminierung gegenüber. Ich verkenne dabei keineswegs die kritikwür-
gen Momente, wie z.B. Theoriedefizite, Effektivitätsverluste, lokale
Bornierungen und Spiritualismustendenz. Aber wo loo Blumen blühen,
nehme ich einige Sumpfblüten in Kauf.
2. NOTIZEN ZUR ENTWICKLUNG DER AMERIKANISCHEN STADTTEIL -
(COMMUNITY-MOVEMENT) UND ÖKOLOGIEBEWEGUNG
Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland eine neue soziale Kraft: die
Bürgerinitiativen. Obwohl ihre Entstehungsgründe besondere sind, sind
sie in Form, Zielen und Methoden doch das, was "citizen action groups"
in den USA immer gewesen sind und was organisationssoziologisch als
"single issue movement" bezeichnet wird. Damit unterscheidet sich
die Bewegung von Parteien, die ein umfassendes Programm und eine
79
verbindende Ideologie anbieten. Erst seit die doktrinären Parteien
der Neuen Linken in Deutschland zerfallen und auch die etablierten
Parteien die allgemeine Verdrossenheit über ihre bürgerferne Politik
zu spüren bekommen, konnte sich die Bürgerinitiativbewegung bei uns
etablieren.
In den USA hingegen hat es nie ein politisches Vertretungsmonopol
der Parteien gegeben. Aber was noch wichtiger ist, wir haben es dort
mit einem extrem förderalen Staatsgebilde mit schwachem Zentralstaat
zu tun. Die Rechte der Einzelstaaten und Kommunen geht weit über den
Quasi-Förderalismus der BRD hinaus. Obwohl es nicht in unser Amerika-
bild paßt, ist doch der Vergesellschaftungsprozeß als bürokratischer
Zugriff der politischen Machtzentren in den USA viel weniger weit
vorangeschritten als in Deutschland. Es gibt weder Personalausweise
noch polizeiliches Meldewesen, die Schulgesetze lassen großen Spiel-
raum für freie Schulen, und die Bürger wählen in ihren Kommunen vom
Bürgermeister über die Schulräte bis zum Hundefänger so ziemlich jedes
öffentliche Amt. Solch ein Wahlzettel mag 15 oder 2o Wählerentschei-
dungen umfassen, einschließlich mehrerer Bürgerbegehren über die
zweckgebundene Verwendung von Steuermitteln für bestimmte Aufgaben.
Dies alles sind Bedingungen, die Bürgerinitiativen, die ja primär
partikulare und regionale Interessen vertreten, einen günstigen
Entwicklungsrahmen geben.
Die dezentrale, stadtteilbezogene Interessenvertretung der Bürger,
das community - bzw. neighbourhood movement gedieh aber auch noch
aus anderen Gründen, die die spezifische soziale Situation in den
USA widerspiegelt. Da ist zunächst das äußerst mangelhafte soziale
Sicherungsystem zu nennen. Die Bismarckschen Sozialgesetze von 1880
wurden in den USA erst nach der Weltwirtschaftskrise ab 1930 in der
New Deal - Politik Roosevelts eingeführt. Eine allgemeine gesetzliche
Krankenversicheung gibt es immer noch nicht, die Sozialhilfe ist
miserabel und von der offiziellen politischen Kultur verachtet.
Selbsthilfe tut hier Not (1). Auch die völlig anders verlaufene Ge-
schichte der Arbeiterbewegung, die in Deutschland etwas überschweng-
lich als umfassenste Selbsthilfebewegung der bürgerlichen Gesellschaft
bezeichnet wurde (2), hat in Amerika nie eine solche soziale Schutzfunk-
tion übernehmen können.
Hinzu kommt die Heterogenität der US-Bevölkerung: Schwarze, Braune,
Rote, Gelbe und Europäer aus verschiedenen Einwanderungswellen bilden
bis heute Subkulturen mit Selbsthilfetraditionen. Die städtische Ar-
mutsbevölkerung in den Ghettos und verfallenen Stadtkernen oder im
ländlichen Süden, die oft mit farbigen Minoritäten identisch sind,
haben sich in der Bürgerrechtsbewegung, einer klassischen Bürger-
initiative und später dem welfare rights movement organisiert für
ihre Interessen und Rechte eingesetzt. Diese beiden Bewegungen waren
stark community orientiert. In sie mündete auch die amerikanische
Studentenbewegung Ende der 6oger Jahre ein, die nur kurz und erfolg-
los mit Parteien leninistischer Struktur experimentierte.
Es gibt jedoch Wurzeln der US-Bürgerinitiativbewegung, die noch wei-
ter zurückreichen. In gewisser Weise ist ja das europäische utopische
Denken aufgrund der herrschenden Verfolgungen in die "neue Welt"
ausgewandert. Zwischen 1800 und 1900 gab es dort mehr als 600 Kommunen
mit utopischem Charakter, deren größte (die der Shakers) 6000 Mitglieder
8o
umaßte. Alle diese Projekte, religiös oder sozialutop‘stisch, fanden
auf landwirtschaftlicher Grundlage statt, und oft wird heute beim
Stichwort: amerikanische community Bewegung nur an Landkommunen ge-
dacht (z.B. an "Twin Oaks" oder "The Farm", die in der BRD dank Fern-
sehen und Alternativtourismus bekannter als in den USA selber sind).
Aber das ist nur der eine Teil der Selbsthilfebewegung (3), der andere
Teil ist "self-help in the city", ausgehend von den Arbeitslosenselbst-
hilfen während der Weltwirtschaftskrise. 1933, auf dem Höhepunkt
dieser Projekte (Kooperativen in Produktion und Verteilung, Selbst-
hilfebörsen, Tauschökonomie, Genossenschaften) waren ca.200 000 Ar-
beitslose an ihnen beteiligt.
Schließlich war community "die traditionelle Form der ökonomischen
und sozialen Selbsthilfeorganisationen aus der Zeit der Eroberung
des Kontinents: Während der Besiedlung des Landes bildete sich an
der frontier, der in den 'wilden Westen! vorrückenden Grenze, autonome
Gemeinwesen der Siedler. Diese Herausbildung selbstverwalteter frontier-
Gemeinden ist eine bewußtseinsprägende Erfahrung amerikanischer Ge-
schichte. Das impliziert die populistische Ablehnung zentralstaat-
licher Autorität und die wenig ausgebildete gesamtgesellschaftliche
Orientierung auf Klassenkämpfe'.(4)
Die amerikanische Sozialarbeit hat im community-movement eine wesent-
liche Rolle gespielt. Neben den beiden traditionellen Arbeitsmethoden:
Einzelfallhilfe und soziale Gruppenarbeit trat als dritte "community-
organisation". In den 6oger Jahren wird sie als US-Import unter der
Bezeichnung Gemeinwesenarbeit auch in die deutsche Sozialarbeit ein-
geführt.
Nun erhält die community-Bewegung jedoch durch die neueren Einflüsse
stadtökologischer Zielsetzungen einen neuen Charakter. Letztere sind
geboren aus der Überflußgesellschaft Amerikas, der gegenkulturellen
Jugendrevolte und der generellen Verschlechterung der Lebensbedingungen
der Ballungsgebiete. Was kein Widerspruch ist. Die USA sind ein Muster-
beispiel der "Zweikulturentheorie". Ökologische Stadtteilprojekte sind
in den USA einfach die notwendige Reaktion auf den ungeheuerlichen Grad
der urbanen Umweltzerstörung. Mit dieser Zerstörung der äußeren Natur
der Stadtmenschen geht jedoch die Deformierung der inneren Natur der Be-
wohner einher und genau mit diesen ist die Sozialarbeit befaßt. Die ame-
rikanische Sozialarbeit beginnt bei der Diagnose ihrer Klienten neben den
sozio-ökonomischen Bedingungsfaktoren auch sozial-ökologische in die Ana-
lyse einzubeziehen.
Der Einfluß ökologischer Prinzipien auf die Community-Bewegung liegt vor
allem in der Betonung auf "self-reliance': "Betrachtet man self-reliance
als Gegenteil von Abhängigkeit, so ist es zum besseren Verständnis loh-
nend, die englische Sprache als Wegweiser zu nehmen. Da "dependence" im
Englischen zwei Negationen hat, enthalten beide von ihnen die Idee der
self-reliance: "Independence" und "Interdependence". Independence be-
deutet Autonomie, das unschätzbare Zusammenwirken von Selbstvertrauen und
einen hohen Grad von Selbstversorgung, woraus eine gewisse Unverletzlich-
keit erwächst. Interdependence bedeutet Ausgleich, ein Kooperationsstil,
der nicht neue Formen der Abhängigkeit erzeugt".(5)
Die von den Ökologen propagierte angepaßte dezentrale Technik (community
technology) soll ein Schlüssel zur Erreichung von lokaler self-reliance
sein, denn sie ist arbeits-statt kapitalintensiv, schafft also Ar-
beitsplätze im Gemeinwesen. Arbeit und Leben (vor allem im Dienst-
81
leistungssektor) im lokalen Gemeinwesen, Rückfluß der Einkommen als
Konsumausgaben und über das Steueraufkommen als Investitionen für
Gemeinschaftsdienste in die Kommune, das sind Schritte hin zu öko-
nomisch stabilen, dezentralen Lebensgemeinschaften. Es gibt verschie-
dene Studien (6), die z.B. für den Bereich der Energieerzeugung nach~
weisen, daß bei einer gleich hohen Kapitalinvestition die herkömm-
liche Energieindustrie viel weniger Arbeitsplätze schafft als im
Bereich von Energieeinsparung und Solarenergie entstehen würden.
Außerdem wäre die Relation Facharbeiter - technische Intelligenz in
der Nuklearindustrie z.B. 2:1, in der Solartechnik 9:1. Letztere
entzieht sich der industriellen Massenanfertigung und ist daher besser
für regionale Kleinunternehmen geeignet.
Daneben würde eine ökologische Gemeinwesenarbeit jedoch den Ausbau
der "informellen Ökonomie" unterstützen (7). Das würde eine Stärkung
der Eigenarbeit, des nachbarschaftlichen Tausches von Dienstleistungen,
der Schwarzarbeit bedeuten; alles Wirtschaftsaktivitäten außerhalb der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
Es wäre zu überlegen, welche Rolle Gemeinwesenarbeiter in diesem Pro-
zeß lokaler self-reliance spielen könnten oder sollten, um die von
ihnen verwaltete Arbeitslosigkeit in "schöpferische Eigenarbeit"
(Weizsäcker) überführen zu helfen.
3. BEISPIELE ÖKOLOGISCHER STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA
Ernest Callenbachs Roman "Ökotopia - Notizen und Reportagen aus dem
Jahre 1999" spielt an der amerikanischen Westküste.Er wurde in der
deutschen grünen-bunten Scene ein Bestseller. Endlich mal nicht nur:
"Weg mit ... A.K.W's" oder "Zur politischen Ökonomie einer alternativen
Bäckerei", sondern die detaillierte Beschreibung eines ökologischen
Paradieses von nationalem Ausmaß. Seit Marx (und trotz Bloch), der
ja bekanntlich alle Gesellschaftsutopisten bitterlich bekämpft und
theoretisch fertiggemacht hat, gab es unter deutschen fortschritt-
lichen Menschen eine Art Denk- (besser: Träume-) Hemmung. Das ist nie
das Problem der pragmatisch denkenden amerikanischen Gesellschafts-
veränderer gewesen. Für die amerikanische Alternativbewegung bedeu-
tet Utopie nicht: Unrealisierbares, sondern (dem ursprünglichen Wort-
sinn entsprechender): noch- nicht- Realisiertes. Und darin sehe ich
einen wichtigen Grund für die ansehliche Zahl ökotopischer Ansätze,
von denen einige hier vorgestellt werden sollen.
Adams-Morgan
Adams Morgan ist ein Stadtteil mit 30 ooo Einwohnern im Herzen von
Washington, zur Hälfte von Schwarzen bewohnt, der Rest sind Latein-
amerikaner und Weiße. Der Stadtteil, einst vornehmer Wohnsitz der
weißen Mittelklasse, war zum Ghetto der Schwarzen und drogensüchtigen
weißen Hippies geworden, ein großer Teil der Bewohner lebte von der
Sozialhilfe. Aber Mitte der 6oger Jahre beginnt, was in Amerika die
"Graswurzelrevolution" genannt wird. Sicherlich auch verbunden mit der
universitären Studentenbewegung, fand und findet sie im Stadtteil statt.
In Adams-Morgan entsteht zunächst ein genossenschaftlich organisierter
Laden für gesunde Lebensmittel (die in den USA immer billiger als
Supermarktnahrung sind). Dann öffnet ein zweiter. Eine Stadtteil-
zeitung entsteht, dann eine zweite. Ein Schallplattenladen, mehrere
82
Verlag 2000
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Ellen Diederich:
”,.. Und eines Tages merkie ich,
ich war nicht mehr ich selber,
ich war ja mein Mann”
mks pockei
verlag 2000
Eine politische Aufoblographic
Band 3, Ellen Diederich
'„. und eines Tages merkte ich,
ich war nicht mehr ich selber,
ich war ja mein Mann’
Eine politische Autobiographie, DM 9,--
Iniormaflousdiens! Gesundheitswesen
Heli 17, Mal 1950, DM 6,— Verlag 2000
Selbsibestimmi Leben
A =a
Verlag 2000 & Sozialistisches Büro
Postfach 591, 6050 Offenbach 4
Telefon 0611/82006
Buchläden öffnen. Einige Musiker mieten einen Eckladen und beginnen
mit allabendlicher improvisierter Musik - Jazz, Rock, Country. Eine
Stadtteilgenossenschaftsbank bildet sich. Es entsteht schließlich
ein regelmäßiges Plenum, eine Einwohnerversammlung, die "Adams-Morgan
Organisation" (AMO).
Was tut die AMO? Nein, sie stellt nicht Forderungen an die Stadtver-
waltung auf, sondern sieht sich selbst als die Stadtverwaltung. Dis-
kussionen der Probleme und ihrer Lösungsmöglichkeiten und als erstes
die Entscheidungen darüber, was der Stadtteil selber dabei tun kann.
Dieser Punkt ist wichtig, denn er ist Ausdruck einer für die amerika-
nische community-Bewegung typischen Sozialphilosophie, die bereits mit
dem Begriff self-reliance umschrieben wurde. Im GWA-Zusammenhang wur-
de dort erkannt, was I. Illich die "Modernisierung der Armut'' nennt
und das ich als das Süchtigmachen der Unterprivilegierten nach Sozial-
hilfe bezeichnen möchte. Die Sozialprogramme unterstellen als Grund
für Armut einen Mangel an Geld. Der GWA-Arbeiter versucht daher, den
Bedürftigen besseren Zugang zu den Sozialleistungen zu verschaffen.
Die AMO dagegen glaubt, daß neben der materiellen Not vor allem die
Armutskultur (als ein rigides Interpretationsmuster des eigenen
Schicksals) durchbrochen werden muß, indem Kenntnisse, Fertigkeiten
und Selbstwertgefühl durch Aktivitäten vermittelt werden, die die ei-
gene Wohlfahrt produzieren helfen und die eigene Existenz in die eige-
nen Hände legt.
Die AMO startete dazu ein Projekt "Stadtteiltechnologie" zur Klärung
folgender Fragen: Welchen Beitrag können Wissenschaft und Technologie
zur self-reliance im Stadtteil leisten? Die Nahrungsmittelversorgung
ist ein naheliegendes Problem. Gemüseanbau in der Großstadt? Wo? Als
Ergebnis entstehen Gewächshäuser auf den Flachdächern, je nach Dach-
tragfähigkeit mit Pflanzkästen oder als Hydrokultur.In leerstehenden
Kellern werden Sojabohnenkeimlinge gezogen. Auf einem unbewohnten,
zum wilden Müllplatz verkommenen Grundstück wird ein Gemeinschafts-
gemüsegarten angelegt mit einem riesigen Komposthaufen aus Gemüseabfällen
verschiedener Geschäfte und Restaurants und Pferdedung von der berittenen
Polizei. Fleischzucht in der Großstadt? Kühe brauchen Weiden, Hasen
sind zu niedlich, Hühner zu laut, aber Fische... Ein Chemiker mit
Erfahrung in der Forellenzucht entwickelt eine Fischzuchtanlage, die
in jeden Hauskeller paßt und aus Fiberglasbottischen, alten Wasch-
maschinenpumpen, Wasserfiltern besteht. Ein junger Maurer
experimentiert mit Bioklos, die Dünger produzieren und die Abwässer
nicht mehr verschmutzen. Ein Ingenieur baut einen Solarkocher, dessen
Spiegelkollektor der Sonne automatisch folgt und bis 300 Grad Celsius
Hitze liefert. Ein Physiklehrer baut einen Sonnenkollektor aus Katzen-
futterdosen. Wohlgemerkt: Diese Menschen waren keine Experten von
außerhalb, sondern Bewohner des Stadtteils.
Adams-Morgan ist heute jedoch anders. Nach einigen Jahren begann die
Schickeria sich dort einzukaufen, Mieten stiegen, kommerzielle In-
teressen erwachten. War das Experiment also doch utopisch? Einige
Jahre lang war es Realität für die Menschen im Stadtteil, sie wird
nicht einfach vergessen, sie kann woanders wieder entstehen (8).
84
Sweat Equity
New York ist eine unvorstellbare Stadt. Vielleicht 200 ooo verlassene,
meist ausgebrannte Wohneinheiten gibt es insgesamt. Und dennoch finden
wir in der South Bronx oder East Harlem, wo ganze Straßenzüge in
Schutt und Asche liegen, ökologische Stadtteilprojekte. In der East 119th
Straße wurde ein 6-stöckiges Wohnhaus mit 23 Wohnungen von einer
Straßenbande und ehemaligen Bewohnern renoviert und gehört heute
den dort wohnenden Mietern genossenschaftlich. Wohnraum für ca. 1500
Menschen konnte seit 1972 im Rahmen solcher "Sweat Equity"-Projekte
beschaffen werden. Dabei bauen die späteren Bewohner/Besitzer ein
unbewohnbares Haus, das in den Besitz der Stadt übergegangen ist,
in Eigenarbeit wieder auf. Die Stadt verkauft dem Kollektiv zuvor
dieses Haus zu einem symbolischen Preis von einigen Hundert Dollar
und gewährt einen zinsgünstigen Kredit, der für Baumaterial und für
notwendige Fremdarbeiten verwendet wird.
In der East llth Straße in Manhatten brachen 1972 mehrere Feuer aus.
1974 beschlossen die ehemaligen Bewohner, fast alle schwarz, arbeitslos
und ungelernt, das Gebäude zu renovieren. Sie arbeiteten 2 Jahre lang
bis zu 60 Stunden pro Woche, und seit 1976 ist das Haus wieder voll
bewohnbar. Es wurde wärmeisoliert, Sonnenkollektoren auf dem Dach
leisten die Warmwasserversorgung. Später entstand noch ein Windrad zur
Stromerzeugung. Das private Stromversorgungsunternehmen, die Edison-
Company, ging gegen eine solche Selbstversorgung vor Gericht und ver-
lor den Prozeß. Sie muß nun außerdem noch den Stromüberschuß des
Windrades kaufen.
Seit 1978 entstehen im Stadtteil Bronx auf 15 verschiedenen verkommenen
Grundstücken Nachbarschaftsparks, ein Dutzend Stadtteilgruppen legen
Nachbarschaftsgärten, open air Theater, Spiel- und Sportplätze und
Kompostieranlagen an. Die Werkzeuge werden aus Staats- und Stadtbudgets
finanziert.
An diesen Projekten (9) arbeiten außer den Betroffenen, den Stadtteil-
initiativen, auch Alternativtechnikamateure, manchmal auch Sozial-
arbeiter mit. Die Rolle der letzteren beschränkt sich zumeist auf eine
Vermittlertätigkeit zu den verschiedensten Behörden und Ämtern, es sei
denn, sie haben Gebrauchswert für die Projektarbeit.
Recycling im Stadtteil
Jeder Sozialarbeiter, der im Jugendfreizeitheim oder Jugendzentrum
arbeitet, ist schon einmal mit einer Gruppe zum Sperrmüllsammeln ge-
gangen, um Räume einzurichten oder alte Fahrräder wieder zusammenzu-
flicken. Sperrmüll ist der für jeden sichtbarste Ausdruck unserer
Wegwerfgesellschaft. Arbeitslose junge Städter in den USA warten nicht
mehr auf die dort spärliche Arbeitslosenhilfe, sondern schaffen sich
ihr eigenes Einkommen durch Abfallrecycling. Ein selbstverwaltetes
Jugendzentrum in New York finanziert sich durch das Sammeln von
Aluminium (Bierdosen) und Einwegflaschen, und sie dokumentieren ihre
Arbeit gleichzeitig als ökologisches Anschauungsprojekt für die um-
liegenden Nachbarschaften. Bürgerwissenschaft (citizen science) hat
detaillierte Untersuchungsarbeit über die sozialen Kosten von Abfall
und dessen Beseitigung geleistet. Umweltorganisationen haben geholfen,
das gesetzliche Verbot der Einwegflasche in Oregon, Vermont, Maine
und South Dakota durchzusetzen. Der Oregonplan (lo) zur Abfalltren-
nung (Metall, Glas, organischer Abfall, Plastik)in den Haushalten
85
und der dezentralen Müllabfuhr und Wiederverwertung funktioniert
und hat interessante Abfallrecyclingtechniken auf Stadtteilebene
hervorgebracht. In der großen Stadt Portland gibt es z.B. eine Re-
cyclingbörse, wo jeder wiederverwendbaren Abfall anbieten oder ab-
holen kann. In Berkeley/California besteht eine Stadtkompostieranlage,
Die Bewohner sammeln und liefern ihre organischen Abfälle dorthin
und erhalten eine entsprechende Menge Kompost dafür. In vielen Stadt-
teilen von Portland, wo wie in vielen amerikanischen Städten die Müll-
abfuhr privatwirtschaftlich ist, transportieren verschiedene kleine
Unternehmen den in den Haushalten separierten Abfall ab und führen
ihn einer Wiederverwertung zu. So z.B. Cloudburst Recycling, ein
"Alternativunternehmen" zweier junger Arbeitsloser: Sie fahren mit
einem alten Kleintransporter mit Anhänger Papier, Glas, Aludosen
und organischen Abfall von ca. loo Familien in der Nachbarschaft
für 1,50 - 4 Dollar pro Monat ab. Das ist billiger als die bisherige
private Müllabfuhr und sichert beiden über die Gebühren und den Erlös
des wiederverwendbaren Mülls ihr Auskommen.
In verschiedenen Städten befinden sich inzwischen Stadtteilrecycling-
centren im Aufbau, die den gesammelten Abfall in eigenen Kleinbetrieben
zu neuen Materialien verarbeiten wollen, um damit Arbeitsplätze direkt
in der Nachbarschaft zu schaffen.
Stadtbauern
In den USA gibt es keine Schreber-: oder Kleingärten wie bei uns. Die
dort seit einigen Jahren in Gang gekommene Stadtgärtnerbewegung (urban
gardening) soll aber immerhin inzwischen etwa I Mio Amerikaner um-
fassen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen 1972 um "Peoples Park"
(ein Nachbarschaftsgarten, der auf einem Universitätsgrundstück lag
und an Bodenspekulanten verkauft werden sollte) in Berkeley/Californien
ist ihr Symbol. Der Garten besteht immer noch.
In Burlington, einer Kleinstadt in Vermont, gibt es heute 12 Stadt-
teilgärten mit einer Gesamtfläche von 5 ha, auf denen etwa looo Men-
schen gärtnern. Verschiedene Bürgerinitiativen haben diese Projekte
geschaffen, auf Kirchenland, öffentlichen Plätzen und unbebauten
Privatgrundstücken. Es gibt einen Gemeinschaftsgarten für Kinder neben
einem Kindergarten, einen für Senioren, der von der Kirche mitbetreut
wird, einen Gefängnisgarten als Berufsqualifizierung für Insassen
und außerdem als Gemüselieferant für die Gefängniskantine. Insgesamt
erzeugen alle Gemeinschaftsgärten von Burlington letztes Jahr Erträge
im Wert von 175 ooo Dollar. Es wird ausschließlich ohne Kunstdünger
und nach verschiedenen Methoden organischen Gartenbaus gearbeitet.
Da Pflanzfläche in der Stadt immer knapp ist, wurde die alte ursprüng-
liche französische Technik der Tiefbeetkultur so weiterentwickelt,
daß vierfache Erträge, pro Fläche mit nur der Hälfte der Bewässerungs-
menge und 1% des Energieverbrauchs der "modernen Landwirtschaft"
erzielt werden. Die Experimentierfreude ist enorm: Bienen- Fisch-
Hühner und Keimlingszucht im Stadthausgarten, solarbeheizte Gewächs-
häuser auf Balkonen und Hausdächern. Es erscheinen detaillierte An-
regungen, wie man einen Nachbarschaftsgarten organisiert, die im Grund
sehr brauchbare Anleitungen für jede Art von Gemeinwesenarbeit darstellen
86
Du bist (auch), was Du ißt
In den USA gibt es schätzungsweise 5000 food-coops, die über 1/2 Mio
Städter mit billigen gesunden Nahrungsmitteln versorgen. Der Gesamt-
umsatz dürfte jährlich bei loo Mio Dollar liegen. Food-coops sind
heute ein ökonomischer Faktor und demonstrieren seit über einem Jahr-
zehnt die potentiellen Möglichkeiten einer Gegenökonomie, die auf
Kooperation statt auf Profit beruht. Die Sozialarbeit scheint sich
für die Beziehungen zwischen Ernährung und physischer und psychischer
Gesundheit nicht zu interessieren. Aber es gibt Sozialarbeiter,die
beim Hausbesuch alleinstehender alter Menschen zuerst in deren Speise-
kammern und Kühlschränken nach den Ursachen ihrer Depressionen suchen.
Die Schulsozialarbeiterin käme den Gründen für das Schulversagen "der
Problemschüler" vielleicht eher auf die Spur, wüßte sie etwas über
deren Zucker- und Süßigkeitenkonsum.
Food-coops sind ideale ökologische Stadtteilprojekte. Verbraucher
gewinnen wieder Selbstbestimmung über ihr wichtigstes Überlebens-
mittel, die Nahrung. Dem modernen Supermarkt, ein Musterbeispiel
für eine zentralisierte, Vielfalt reduzierende, gesundheitsgefährdende
und informations- und bedürfnismanipulierende Institution steht die
Lebensmittelkooperative im Stadtteil gegenüber. Ein Laden mit Lagerraum
wird angemietet, Preise von umliegenden oganischen Bauernhöfen und
Vertrieben werden eingeholt und verglichen. Eigener Transport wird
überlegt. Handelsspannen fallen weitgehend weg. Wohngemeinschaften
im Stadtteil werden angesprochen, Informationen über gesunde Nahrung
verbreitet. Ein Bestellsystem (wann, wie oft, welche Mengen) muß sich
langsam entwickeln, ein rotierender Arbeitsplan für die anfallenden
Arbeiten der Bestellung, des Transports, des Abrechnens und Abpackens
zwischen den Mitgliedern (Einzelne oder Kollektive) eingerichtet
werden.
Die Formen des food-coops sind mannigfaltig, aber alle realisieren
die ökologischen Prinzipien der Dezentralität, des knappen Energie-
aufwandes (weniger Transport, Verpackung etc.), der Angepaßtheit
an die jeweiligen Bedürfnisse. Food-coops unterstützen den ökologischen
Nahrungsmittelanbau, der meist von den kleineren, energiesparenden
und arbeitsintensiven Landwirten betrieben wird.
In den USA sind die food-coops inzwischen durch regionale Netze mit-
einander verknüpft. In großen urbanen Zentren wie in Boston oder
Washington verbinden diese Netze Läden, Einkaufsgemeinschaften, Trans-
portunternehmen und Lagerhäuser mit den Produzenten auf dem Lande.
In San Francisco umfaßt das "Peoples-Food- System" lo food-coop Läden
mit 14 Unterstützungskollektiven wie z.B. Lagerhäuser, eine Bäckerei,
Kräuter-Käse- und Joghurtherstellung und eine Hühnerfarm ("left wing
poultry"). Dort wird auch eine Zeitschrift hergestellt, die über die
Probleme der Bewegung für gesunde Nahrungsmittel berichtet, Tips zur
Organisierung der food-coops gibt und Untersuchungsarbeit über Nahrungs-
mittelpolitik leistet.
Wer heute in einer größeren Stadt in den USA lebt (vor allem an der
Ost- und Westküste) braucht kaum noch in den Supermarkt zu gehen
und bekommt seine Lebensmittel auf jeden Fall billiger (11).
87
Ökotopia jetzt - Hamilton Solar Village (12)
Städtische Dörfer (urban villages) - das ist die Konzeption der
ökologischen Städteplaner, und es gibt Projekte, die sich bereits
im Planungsstadium befinden.
Der 500 ha große ehemalige Luftwaffenstützpunkt Hamilton in Marin
County liegt eine halbe Stunde von San Francisco entfernt. Eine
Bürgerinitiative bildetet sich, um einen dort geplanten Privatflug-
platz zu verhindern und kämpfte für ihren eigenen Vorschlag: ein
urbanes Dorf mit ca. 2.000 Einwohnern, das Energieselbstversorger
und im ökologischen Gleichgewicht mit seiner Umwelt sein soll. Der
politische Kampf für dieses Solardorf ist so gut wie gewonnen. Wie
soll es aussehen?
Das Solardorf strebt die Verwirklichung folgender Prinzipien an:
Wiederherstellung des natürlichen Ökosystems im Gleichgewicht mit
landwirtschaftlicher Nutzungsmöglichkeit (Aquakultur im wiederherge-
stellten Feuchtgebiet - Astuare sind die vielfältigsten Ökosysteme
dieser Erde!); Beschaffung von Arbeitsplätzen (für die Hälfte aller
Erwerbstätigen) innerhalb der Siedlung (Kleinindustrie für umwelt-
freundliche Produktion); Senkung des Energieverbrauchs generell
(70% der Einsparung bei Raum- und Warmwasserheizung, Transport,
Nahrungsmittel und Müll- und Abwasserbeseitigung)durch passive Solar-
heiztechniken für alle Gebäude; Gemüseanbau innerhalb der Siedlung,
Solargewächshäuser, Fischzucht und Gemeinschaftsgärten; Elektrizi-
tätsgewinnung aus Wind, Biomasse und Sonne; Müllrecycling; Auto-
verkehrseinschränkung (Elektroautos und Busse).
Die Fähigkeit, ökologische Prinzipien in Architektur und Stadtplanung
umzusetzen, beginnen sich zu entwickeln. Auszugehen ist dabei von den
fundamentalen Unterschieden zwischen ökologischen Kreislaufprinzipien
und den traditionellen linearen Städtebaukonzeptionen. Zwei entschei-
dende Merkmale seien herausgegriffen: 1) Art und Richtung des Energie-
flusses im System: importierte hohe Energieströme fließen als Ein-
bahnstraße durch die Stadt mit großen ungenutzten Verwendungsverlusten.
Sie verlassen die Stadt als Abfall- und Umweltverschmutzung. In der
ökologischen Stadt fließt Energie in multiplen Kreisläufen, die sich
gegenseitig überlappen. Jeder Abfall ist input eines anderen Ener-
giekreislaufes. Die Energieproduktion ist lokal und nutzt verschie-
dene Quellen. Sie ist dem Energieverbrauch angepaßt. 2) Die Mehr-
fachfunktionalität der einzelnen Systemteile: Ein Elektroheiz-
gerät erfüllt nur eine Funktion, nämlich Luft oder Wasser um
einige Grad C zu erwärmen. Das geschieht zunehmend durch elektrische
Energie aus Kernspaltungshitze von tausenden Grad C und ist damit
ungefähr so vernünftig, wie "Butter mit einer Motorsäge zu schneiden"
(Amory Lovins). Ein passives Solargewächshaus an der unbeschatteten
Südwand des Wohnhauses ist jedoch gleichzeitig ein Sonnenkollektor,
ein Wärmespeicher, ein Gemüseladen, eine Wohnraumheizung und ein
Sauerstofflieferant. Vielfalt und Multifunktionalität sind Merkmale
stabiler Ökosysteme.
Zum Abschluß ein Paar Hinweise über Organisationen, Bildungsstätten
und Literatur, die für die ökologische Lebensweise in der Stadt wich-
tig sind.
88
e Das Institute for Local Self-Reliance (1717, 18th Straße N.W.
Washington D.C. 20009) befindet sich in einem Reihenhaus in dem
schon beschriebenen Adams-Morgan-Stadtteil mit Solargewächshaus
auf dem Dach und Fischzucht im Keller. Es analysiert alle Aspekte
ökologischer Stadtteilarbeit, leitet Bürgerinitiativen an, entwirft
Modellprojekte und gibt eine Zeitschrift heraus.
e Das Farallones Institute (11516 5th Straße, Berkeley/California
94710) hat ein ökologisch integriertes Stadthaus geschaffen mit
Fisch- und Bienenzucht, Solarheizung und selbstkompostierendem
Trockenklo. Es führt Forschungsarbeit auf dem Gebiet des Abfall-
recycling, der biologischen Schädlingsbekämpfung etc. durch und
bietet ein von einigen Universitäten anerkanntes Bildungsprogramm
an.
e Das New Alchemy Institute P.O. Box 432, Woods Hole, Mass. 02543
ist auch in Deutschland bekannt geworden (13). Die von ihnen ent-
wickelten "Archen" sind Beispiele ökologisch durchdachter Überlebens-
räume, die Wohnen, Arbeiten und Forschen baulich integrieren. Energie-
autonom durch passive Solararchitektur, nahrungsmittelproduzierend
durch Aquakultur und Gemüsezucht im integrierten Gewächshaus, re-
cycling menschlicher Abfälle zu Kompost. New Alchemy betreibt eine
Reihe alternativtechnologischer Entwicklungshilfeprojekte in der
dritten Welt. Sie geben eine Zeitschrift "Journal of the New Alchemists"
heraus.
e Das Institute for Ecological Policies (9208 Christopher Street,
Fairfax, VA. 22031) ist eine Forschungs- und Informationsbörse,
das Materialien über lokale Ökopolitik erarbeitet und entsprechen-
de Atkionen anleitet. So z.B. eine detaillierte Studie, wie eine
ganze Region heute konkret einen "sanften Energiepfad" einschla-
gen könnte,
Dies war eine sehr subjektive Auswahl. Wer einen Überblick gewinnen
will, kann das recht leicht mit Hilfe einiger weniger Zeitschriften
und Dokumentationen. Die Amerikaner schreiben hervorragende "Wie-
mach-ichs" oder "wo-finde-ichs" - Literatur. "Rainbook - Resources
for Appropriate Technology" (Schocken Books, NY 1977) bietet auf
250 Seiten den totalen Überblick über Projekte, Gruppen, Literatur
und Organisationen der amerikanischen Alternativbewegung. Klas-
siker sind "The New Whole Earth Epilogue" (1980), die von der
Zeitschrift "Mother Earth News" (P.O. Box 70, Hendersonville, NC
28739) herausgegeben wird. Weitere Zeitschriften sind "New Age
Journal", "CoEvolution Quarterly" und "Rain". Bei USA-Erkundun-
gen sind außerdem die "Yellow Pages" mit Anschriften und Beschrei-
bungen aller Alternativprojekte für viele Städte und kleinere
Regionen gut geeignet.
4. WELCHEN ANTEIL HABEN SOZIALARBEITER (INNEN) AN
ÖKOLOGIEPROJEKTEN IM STADTTEIL
Auf diese Frage muß geantwortet werden, denn dieser Aufsatz
89
ordnet sich dem Leitthema dieser Broschüre "Ökologie und Sozialar-
beit" zu. Für die USA ist die Antwort wohl eher negativ. Ich habe
jedenfalls von kaum einem Sozialarbeitenden in den soeben beschrie-
benen Projekten gehört. Das könnte mehrere Gründe haben. Einmal ist
die Sozialarbeit in den USA hoch professionalisiert (Social Work
ist ein Universitätsstudiengang) mit deutlicher Tendenz zu klinischen
und therapeutischen Berufsfeldern. Sie kümmert sich also lieber um
die im Sinne von Prestige und Einkommen lukrativeren Tätigkeiten.
Die von den bankrotten Städten angestellten, meist minderqualifizierten
Sozialarbeiter in den Ghettos stehen auf verlorenen Posten. Die meist
farbigen Slumbewohner lassen sich nicht mehr von zumeist weißen
Sozialarbeiter(innen) vertreten. Und sowieso kann es in den USA nicht
den Luxus einer Sozialarbeit geben, die Selbsthilfegruppen und Bürger-
initiativen für eine bessere Stadtteilökologie anleiten will, sondern
sie muß sich primär für die Durchsetzung sozialstaatlicher Rechte
der Armutsbevölkerung gegen den Staat einsetzen. Zum anderen ist
die amerikanische community-Bewegung seit den späten 60ger Jahren
von "radical community organizers" beeinflußt worden, die informelle
Meinungsführer von nach Stadtteilprinzip organisierten politischen
Gruppen waren, wie z.B. Überresten der civil rights Gruppen, der
Black Panthers (die heute noch da sind,aber statt bewaffetem Kampf
sehr effektive Stadtteilarbeit machen) und anderen Organisationen
von Farbigen, sowie lokalen Frauengruppen.
Der wichtigste Grund für den geringen Einfluß der Sozialarbeit auf
ökologische Stadtteilprojekte liegt eben sicher in diesem ökologischen
Ansatz. Angepaßte Technik duldet keine professionelle Expertokratie
von außen; die lokale Orientierung und Dezentralität erschwert den
normierenden bürokratischen Zugriff, die gebrauchswertorientierte
Eigenarbeits- und Recyclingmentalität widerspricht der administrativen
Mittelzuweisung und Bilanzierung. Die sozialökologischen Prämissen
der "Deprofessionalisierung, Demonetarisierung, Deinstitutionali-
sierung und der Selbsthilfe in kleinen Netzen" (14) liegen quer
zu dem heutigen Charakter staatlicher Sozialarbeit, ja macht sie
tendentiell überflüssig. Andererseits ist natürlich eine Halbpro-
fession wie die Sozialarbeit in Deutschland immer auf der Suche,
sich Arbeits- und Kompetenzbereiche zu erobern, und bei der allge-
mein herrschenden Desillusionierung der Sozialarbeitenden in den
traditionellen Arbeitsgebieten ist wohl absehbar, daß sie sich mit
Hilfe einer "neuen Fachlichkeit" (15), im Aufwind der grünen Be-
wegung eine Konzeption ökologischer Gemeinwesenarbeit zulegen wird.
Geschähe dies in der Richtung einer Sozialarbeit, die wieder voran-
schreitet zu ihrer traditionellen Aufgabenfunktion: Hilfe zur Selbst-
hilfe statt wie heute Hilfe zur Staätshilfe und damit andauernden
Abhängigkeit des Klientels zu vermitteln, würde sie lokale self-
reliance aufbauen und mithin produktiver Teil ökologischer Stadt-
teilprojekte sein können.
Um es an Beispielen zu verdeutlichen: Es gibt amerikanische Gemein-
wesenarbeiter, die der Nachbarschaft helfen, eine food-coop aufzu-
bauen, statt wie früher Klientenanträge auf Nahrungsmittelkarten
(food-stamps) beim Sozialamt einzureichen. Andere Sozialarbeiter,
die bisher Arbeitslosen den Weg zu ihrem Arbeitslosengeld ebnen
halfen, setzen sich für ein sweat-equity Projekt ein, um die Ar-
beitslosigkeit in schöpferische Eigenarbeit zu verwandeln. Denn
90
das ist ja das Dilemma der Sozialarbeit: mit dem Problem der Arbeits-
losigkeit und ihren psychischen Verarbeitungsformen bei ihren Klienten
konfrontiert zu sein, aber über die Lösung (Reintegration in die
Arbeitswelt) in Form von Arbeitsplätzen nicht zu verfügen. Oder aber
(falls man diese systemstabilisierende Funktion sozialer Arbeit nicht
will) mit den Schädigungen und Folgen der Lohnarbeiterexistenz beim
Klienten konfrontiert zu sein, aber nicht über die Lösung: menschlich
angepaßte Arbeitsplätze zu verfügen. Wäre es für die engagierte So-
zialarbeit nicht überlegenswert, sich mit dem Konzept des "vierten
Sektors" bzw. "Dualwirtschaft" (16), das auch den ökologischen Stadt-
teilprojekten zugrunde liegt, zu beschäftigen? Der teilweise Ausstieg
aus der Lohnarbeit (erzwungen oder freiwillig, zeitweise oder mit
flexiblen Übergängen, für Frauen wie für Männer), und das Wenden
dieser Lohnarbeitslosigkeit zu schöpferischer gebrauchswertorien-
tierter Eigenarbeit mit dem Ziel nachbarschaftlicher self-reliance
bedarf heute einer ernsthaften Überprüfung als Realutopie. Die Rolle
von Sozialarbeitenden mit einer neuen Fachlichkeit und eigenem Be-
troffensein wäre dabei zu untersuchen.
5. ZUR FRAGE DER ÜBERTRAGBARKEIT USA-BRD
Meine Antwort auf diese Frage ist zwiespältig. Da gibt es einer-
seits unzählige Beispiele von amerikanisch geprägter westdeutscher
Lebenswirklichkeit: unsere Sprache (o.k.?), Hamburger, Westernfilme,
Rollschuhwelle, Starfighter, High-sein, Taylorismus, Sesamstraße,
Latzhosen, Jogging, Windsurfen, Jazz, Beat, Rock und Pop, Coca Cola,
Jeans usw. Diverse soziale Bewegungen und Lebensgefühle sind hier
heimisch geworden, über die Grenzen von Geschichte, Sprache und Kul-
tur hinweg. Für die Sozialarbeit gilt ähnliches. Supervision, Ge-
meinwesenarbeit, Streetwork, Familien- und Gestalttherapie, Trans-
aktionsanalyse, anonymer Alkoholiker, Frauenhäuser sind allesamt
amerikanische Importe, trotz großer Unterschiede in der Struktur
der Gesellschaft und der sozialen Dienste. Darum sind die hier be-
schriebenen US-Beispiele ökologischer Stadtteilprojekte grundsätz-
lich auch bei uns denkbar, denn alle genannten Beispiele sind Ant-
worten auf Probleme, deren Art und Ursachen in einem prinzipell
für beide Länder gleichen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß
wurzeln.
Und dennoch springen natürlich die unterschiedlichen nationalen
Bedingungen ins Auge, unter denen solche Projekte konkret statt-
finden. In einem Land ohne ausgebautem sozialen Sicherungsnetz
wie den USA ist Selbsthilfe durch Kooperation der Unterprivilegier-
ten eine quasi natürliche Verhaltensweise. Sie ist dabei weniger
bürokratischen Regulierungen unterworfen, denn es herrscht ein
niedrigerer Vergesellschaftungsgrad der verschiedenen Lebensberei-
che der Menschen. Ein amerikanischer Organizer, Mitbegründer des
Farallones Institute, der in Deutschland über seine Arbeit disku-
tierte, sagte mir: "Ihr Deutschen müßt eure Ideen, Vorstellungen
und Wünsche aus der institutionellen Umarmung befreien, die sie
umklammert hält." Hinzu kommt, daß die amerikanische Alternativ-
scene, auch die sich politisch definierende, ihre Projektarbeit
immer sehr pragmatisch angeht. Mann/Frau trifft wenig abgehobene
Theoriediskussionen in solchen Gruppen. Die bei uns in Mode ge-
kommene Theoriefeindlichkeit mit entsprechend spontihaftem Aktio-
nismus ist aber trotzdem etwas anderes. In der amerikanischen
Bewegung scheint ohne besondere Anstrengung Kopf und Bauch versöhnter,
das Theorie/Praxisproblem erträglicher gelöst als bei uns. Bündnisse
können geschlossen werden, ohne daß Weltanschauungen gleichgeschaltet
werden müssen. Finanzierung von außen für Projekte fließt immer aus
den verschiedensten Quellen und vermindert damit Abhängigkeit. Dem
Prozeß der Projektarbeit kommt hohes Gewicht bei und er fließt
in die Definition des Ziels und der Effizienz mit ein. Diese Verhal-
tensweisen und Verkehrsformen, die von deutschen Besuchern immer
sehr bald bemerkt werden, sind für die Frage nach der Übertragbar-
keit von nicht geringer Bedeutung.
x
Gefangenenmitverantwortung-
Unterdrückungsinstrument oder Instrument
zur Beseitigung der Unterdrückung?
Herausgegeben von Christoph Nix und Mitgliedern der
Gefangenenvertretung Butzbach
Mit Beiträgen von Michael Heise, Artur Kreuzer, Kart E
Schumann Jirgen Schambach, Klaus Kehbein, Christian
Plumbohm, Birgitta Wolff u.a.
-edition syntesis-
GEFANGENENMITVERANTWORTUNG —
Unterdrückungsinstrument oder
Instrument zur Beseitigung der
Unterdrückung?
—Herausgegeben von Christoph Nix —
„Die Präzisierung von Foucaults ‘Überwachen und
Strafen’ am Beispiel einer westdeutschen Justizvoll-
zugsanstalt.”” (le demon)
„Leider nur ein Buch für den juristisch geschulten
Gefangenen?” (paragraphenkotzer)
„Die Anhalteverfügung bezüglich des Buches ‘Gefan-
genenmitverantwortung.... durch die Anstaltsleitung
war damit rechtswidrig.” (Ernz, Richter am LG)
Beiträge einer bunten Koalition von gewollten und
ungewollten Autoren.
180 S. 10,— DM
Bezug: prolit - Buchversand, 6304 Lollar
neuerscheinungen im frühjahr 1981: nachtgesänge, gedichte und geschichten
aus dem Seelenknast.
Detlev Lecke/ Thomas Tschöke/ Manfred Wittmeier
ÖKOLOGIE UND JUGENDARBEIT
UND
DAS PROBLEM SITZT IM “UND”
Provozierende Erfahrungen gehören für Jugendliche heute zum Alltag;
Streß in der Schule, Ausbildungsnot und der Mangel gesellschaftlicher
und politischer Perspektiven gehören allemal zu dieser Palette. Dis-
tanz zu den Angeboten gesellschaftlichen Fortschritts und dem Ver-
sprechen wirtschaftlichen Wachstums sind für die Jugendlichen mei-
stens die Folge. Für einen nicht unbedeutenden Teil von Jugendlichen
weist damit die Perspektive in die neuen sozialen und politischen
Bewegungen, die sich offensiv mit der Kritik der Ökonomie und ökolo-
gischen Alternativen im umfassenden Sinne auseinandersetzen. Jugend-
liche werden aktive BI-Mitglieder, Jugendvertreter und junge Be-
triebsräte setzten neue Schwerpunkte beim gewerkschaftlichen Kampf
um eine bessere Arbeitsumelt und mehr Gesundheitsschutz.Oder sonst-
was!
Welches Verhältnis die Jugendarbeit zu dieser "neuen Jugendbewegung"
hat, die Lebensraum wieder einklagt, die sich gegen die Zerstörung
von Umwelt und Natur, die massive Durchsetzung des Bonner Atompro-
gramms, die Arbeitslosigkeit, Berufsverbote, Zensurparagraphen etc.
richtet, ist noch nicht ausgelotet. Immer mehr Jugendliche haben die
bunte Plastikwelt spätkapitalistischer Fernsehparadiese satt und su-
chen nach umfassenden Alternativen und einer besseren Zukunft. öko-
logische Konflikte und ihre langfristigen Konsequenzen sind hier ein
Focus für die engagierte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich
unzureichenden Angeboten.
In der politischen Jugendverbadsarbeit der Naturfreunde, des BDP, der
Falken, wie auch bei einigen fachlichen Jugendverbänden spielt die
Ökologie-Debatte eine zunehmend wichtige Rolle im Selbstverständnis.
Die jugendpolitischen Programme wurden dementsprechend auf die "Höhe
der Zeit' gebracht und auch die Landesjugendringe und der Bundesju-
gendring reagierten mit Resolutionen zur "Ökologie und den neuen Le-
bensformen". Während die soziale Zusammensetzung der Verbände die
Teil- und Bezugnahme zur alternativen Szene je verschieden nur an-
satzweise möglich macht und somit noch ungeklärt bleibt, welches Ver-
hältnis insbesondere große Jugendverbände, die von mächtigen Erwach-
senenorganisationen abhängig sind, dazu entwickeln können, sind erste
Ansätze vorhanden. In der Bildungsarbeit, in Bildungsurlaubssemina-
ren mit Arbeiterjugendlichen und in Projekten sind Aktivitäten der
Ökologiebewegung und Aspekte alternativer Lebensstile aufgekommen.
Örtliche Initiativen zu geplanten Mülldeponien, Startbahn- und Stra-
ßenplanungen, die Erschließung neuer Industriekomplexe und Wohnge-
biete gehören seitdem zu den neuen Inhalten in der Jugendarbeit. Foto-
dokumentationen, Interviewreihen, Ortsbegehungen, Lokaltermine und
Wanderungen mit ökologischen Fragestellungen werden praktiziert, auch
die sozial-historischen und aktuell-politischen Spurensicherungen,
94
wie sie ehemals åls bekannte Kundschaften von Pfandfindern
durchgeführt wurden. Welche Zugänge sich Jugendliche zu der gesell-
schaftlichen Einlagerung sozialer Konflikte um die ökologische Zu-
kunft auf den verschiedensten Ebenen erarbeiten können und wie sie
sich in die Entscheidung brisanter Fragen kompetent einmischen können,
zeigt die Reflexion über das folgende Projekt eines hessischen Ju-
gendverbandes.
BORKEN 6 UND BORKEN 9
JUGENDLICHE TREIBEN “SPURENSICHERUNG”
Skizzen eines Projektes der Bildungsarbeit auf dem Land
1. HILFE! — EIN ATOMKRAFTWERK IST GEPLANT!
Das Spiel mit dem Standortsicherungsplan, die gezielten Desinforma-
tionen der Landesherren - die Geburt des Atomzeitalters prägt Schlagzeilen.
Auch an Nordhessen, wo die Welt bis vor einigen Jahren noch vergleichsweise
in Ordnung schien, geht diese Entwicklung nicht vorbei. Im Gegenteil,
eben weil hier "Strukturschwäche" herrscht - oder anders gesehen, die
Umweltbelastungen in weiten Teilen der Region noch verhältnismäßig ge-
ring sind - steht diesem Landstrich eine besonders strahlende Zukunft
ins Haus: Wiederaufbereitungsanlage Volkmarsen, Zwischenlager und
Atomkraftwerk Borken. Letzterer Standort ist schon seit Jahren in der
Diskussion. Einer Diskussion, die mit allen bekannten Mitteln der
Vertuschung und Erpressung geführt wird. Denn: Die sogenannte Struk-
turschwäche machts möglich - der Energiekonzern Preußen-Elektra (Preag)
ist einer der großen "Arbeitgeber" und Arbeitsplätze müssen ...+-
Gezielteres Begreifen von Veränderungen, denen unsere Lebensorte auf
dem Land ausgesetzt sind, hatten wir bei Untersuchungen zu Hause,
"Spurensicherung" genannt, bereits gemacht. Wir, ein gutes Dutzend
Leute, Schüler und Lehrlinge, aus 8 verschiedenen Dörfern und Klein-
städten Nordhessens, hatten bei unseren Untersuchungen daheim fest-
stellen können, daß die Orte heute mehr denn je durch Entwicklungen
von außerhalb geprägt werden. N
Die Preag, als ein gewichtiger Faktor regionaler Entwicklung und die
brisante AKW-Problematik hatten uns zu einem Wochenseminar - unter
dem Thema "Die Zukunft aus der Schublade" - zusammenkommen lassen.
Ähnlich wie wir es mit unseren Entdeckungen zum eigenen Ort gemacht
hatten, wollten wir auch die Ergebnisse dieser Woche in einem Heft
"Spurensicherung" zusammentragen. Wichtig war uns Erfahrungen und
Kenntnisse zu sammeln, die über den eigenen Ort hinausgehen und An-
sätze zu finden, wie mit dem Problem AKW umzugehen ist.
Was uns als vertrackte Frage vorher schon zu schaffen machte: Hier
in der Borken-Waberner-Senke konnte man das Problem sehen:ausgedehnte
Felder - offensichtlich gute Böden - da kaum ein Fleck Boden unbestellt
ist. Also weite flache Gebiete, in denen keine Feldraine, keine
Bäume den Blick begrenzen. In dieser Landschaft wirkt das Braunkohle-
kraftwerk der Preußen-Elektra mit seinen Tagebaugruben rundum viel
gigantischer, als es eigentlich ist. Stellt man sich dazu noch vor,
daß die Kühltürme des geplanten AKW höher werden sollen, als der
höchste Schlot jetzt, dann nimmt sich dieses alte Kraftwerk von 1927
geradezu heimelig aus.
95
Die sichtbare Monumentalität ist zugleich auch eine soziale und
wirtschaftliche, - eben auch eine politische Realität. Mehr noch,
zugleich auch eine schwere Belastung des eigenen politischen Lernens
und Handelns. Und gerade das war und ist unser Problem im Zusammen-
hang mit der Auseinandersetzung um atomindustrielle Anlagen.
Die Tatsache, daß die Preag in der Borken-Waberner-Senke Löcher bud-
delt und Braunkohle herausholt, damit Strom kocht und Staub in die
Luft pustet, kann man sehen, riechen und. schmecken. Hinter dieser
Konkretheit steckt - und das läßt sich so leichterdings nicht er-
fassen - ein gigantischer Kapitalfluß aus der Region in die Metro-
polen, das Aufhäufen von Macht, die Abhängigkeit von Politikern;
der Wahnsinn, der als Fortschritt verkauft wird.
Die Ausbeutung von Rohstoffen (Braunkohle) und natürlichen Hilfs-
quellen (Luft, Wasser, Boden) erfolgt in der Region, ist dort wahr-
nehmbar; die Akkumulation des Kapitals geschieht in den Metropolen,
ist nicht einfach greifbar, sondern erst an seiner Re-Investition und
deren Folgen (z.B. Planung AKW) zu spüren.
Daß die großen Kapitalien auf die Provinz zurückschlagen, ist eine
sattsam bekannte Tatsache, die zu wiederholen uns wenig weiterfüh-
rend zu sein scheint.
Aber: "Natürlich ist es hervorragend, daß sich antikapitalistische
Stimmungen hierzulande soweit verbreitet haben, daß sich auch die
Illustrierten ihnen nicht mehr ganz entziehen können.""Eine Frage ist
es allerdings, ...was eine Analyse, die jedes erkennbare Problem pau-
schal dem Kapitalismus anlastet, ... politisch bewirkt. Gerade ihre
Allgemeinheit macht sie harmlos; der so beschrieene Kapitalismus wird
zu einer Art gesellschaftlichem Äther, allgegenwärtig und ungreifbar,
ein quasi natürliches Medium des Verderbens, dessen Beschwörung gera-
dezu entwaffnend wirken kann. Da nämlich das jeweilige konkrete Pro-
blem, ... ohne genaue Analyse der wirklichen Vermittlung sofort auf
die Verfassung des Ganzen zurückgeführt wird, entsteht der Eindruck,
als sei jeder spezifische und augenblickliche Eingriff zwecklos."
Entstehen bloße Leerformeln, die "zur ideologischen Hülle der Passi-
vität werden." (H.M. Enzensberger, Zur Kritik der politischen Ökolo-
gie, in: Kursbuch 33, Berlin 1973, S. 23)
2. VERSUCH EINER “ANALYSE DER WIRKLICHEN VERMITTLUNGEN”
Bei unseren örtlichen "Spurensicherungen" hatten wir erfahren, wie
wichtig es ist, sich der Bedeutung verschiedener örtlicher Gruppen,
deren Beziehungen zueinander und die Geschichte der Veränderungen
dieser Beziehungen bewußt zu werden. Es wurde deutlich, daß solche
Untersuchungen in die falsche Richtung führen, wenn sie den ein-
zelnen Ort als autonomes Gebilde verstehen. Geschichte und gegen-
wärtige Verhältnisse der Orte zeigen, daß sie eine vielfältige Ver-
arbeitung von inneren und äußeren Entwicklungen sind. Eigenständig
= nicht im Sinne von "autonom! - sind die Gemeinwesen insofern, als
sie den Rahmen des Alltags bilden, in dem die gesellschaftlichen
Entwicklungen verarbeitet werden, werden müssen.
Gerade an der Entwicklung der Arbeitsplätze beispielsweise wird dieser
Zusammenhang besonders deutlich: Und hier kommt es auf die örtlichen
Erfahrungen an. Wie versucht wurde mit Rezessionen fertig zu werden,
wie Veränderungen der Agrarstruktur von den betroffenen Leuten be-
wältigt wurden, welche Bedeutung in den Dörfern die großen regiona-
len Arbeitsplätze der Industrien haben, was sie auslösen ....
96
Also ging es uns darum, zwischen einem falschen globalen "der Kapita-
lismus ist .an allem Schuld" und einem bornierten Ortsverständnis,
das die Gemeinwesen isoliert zu begreifen sucht, eine Zugangs- und
Vermittlungsweise zu finden, in der beides bewußt bleibt:Nämlich
einerseits die historischen und gegenwärtigen Alltagserfahrungen
in den Orten und jene gesellschaftlichen Prozesse, die diese Ver-
hältnisse treffen, jedoch nicht einfach und sinnlich wahrzunehmen
sind, sondern der geschichtlichen und politischen Analyse bedürfen.
Zwei Interessen zugleich standen am Seminarbeginn: Die eigene Be-
troffenheit davon, in welcher Dimension sich ein Konzern per atom-
industrieller Planung eine Region unterwerfen will, und die Frage
danach, was die Leute dort tun, wie sie leben, welche Erfahrungen
sie haben und was für eine Zukunft sie wollen.
Wir einigten uns darauf, daß diese Woche die ersten Schritte einer
untersuchenden Klärung umfassen sollte. Vorschlag war die Festle-
gung auf drei Orte: die Kernstadt Borken und zwei sogenannte Orts-
teile, die Dörfer Singlis und Dillich. In den Vorplanungen - die
zu Anfang dargelegt wurden - war diese Auswahl unter folgenden Ge-
sichtspunkten getroffen worden:
Borken - eine ländliche Kleinstadt, die sich seit den zwanziger
Jahren zur Preag-Stadt entwickelt hat;
Singlis - ein ehemaliges Bauerndorf, dessen Strukturen sich durch
diese Industrialisierung völlig verwandelt haben;
Dillich - ein früheres Kleinbauern- und Handwerkerdorf mit großem
herrschaftlichem Gut, das durch seine Lage auf dem Rand
der Borken-Waberner-Senke - also seinem Abstand zur Preag?
- eine weniger einlinige Entwicklung nahn.
Die gemeinsame Planung der Woche ergab, daß - sowohl wegen der Größe
der Seminargruppe, als auch wegen der Vielfalt der Untersuchungsstränge
- die Kernstadt Borken ausgeschlossen wurde. Wir beschränkten uns
darauf mit zwei Mitgliedern der dortigen Bürgerinitiative am zweiten
Seminartag vormittags eine Ortsbegehung zu machen und informierten
uns über diese Stadt im Verlauf der Woche anhand einer Dia-Serie,
die diese Gruppe der Bürgerinitiative hergestellt hatte.
Im Vergleich zu den "Spurensicherungen" in den eigenen Orten, be-
fanden wir uns in einer neuen Situation. Wir kamen nicht von
hier, waren also zum einen darauf angewiesen, daß einige Kontakte
zu Leuten vorher schon geknüpft waren, zum anderen hatten wir kaum
bzw. keine eigenen Erfahrungen in diesen Orten, waren also auf den
Vergleich mit den Verhältnissen zu Hause angewiesen. Die Gefahr,
die in dieser Situation steckt, wurde uns im Laufe der Untersuchungen
und Produktionen zu dem Spurensicherungs-Heft deutlich: manchmal er-
schien es uns, daß die Informationen derart vielfältig und unterschied-
lich waren, daß sich uns doch wieder die falschen Alternativen stellten:
entweder ein kunterbuntes Dorf-Mosaik, bloßes Abbilden und Wieder-
geben von Einzelerscheinungen oder eben dieses sperrige Material
einer pauschalen Erkärung zu unterwerfen und im großen politischen
Rundschlag eine Ordnung zu erfinden. ‚
Diese zweite Versuchung war aufgrund der beiden Dörfer, auf die wir
uns festgelgt hatten, doppelt groß. Gerade ihre spezifischen Unter-
schiede legten schlichte Schwarz-Weiß-Interpretationen wie: "Singlis
- ziemlich kaputt" und "Dillich - von der Industrieentwicklung ziem-
lich verschont" nahe.
97
PLAKAT — BAUERNVERLAG
À /
; A
ST N )) R B a
UN SNAN A
NA V N nl X
IS SS AS NT
joachim schritt
bauern gegen atomanlagen
oder
wi wülit den schiet nich hebben
Wir wollen nicht behaupten, daß es uns in jedem Fall gelungen ist,
diese Gefahr zu bewältigen, aber es ist hier nicht möglich, die
Differenzierungen, die wir herausgefunden und festgehalten haben
in ihrer Gesamtheit zu skizzieren. (Wen interessiert, was wir heraus-
gefunden haben, der kann beim Hessischen Jugendring, Albrechtstr.15,
Wiesbaden das Heft: "Spurensicherung in Singlis und Dillich - Borken 6
und Borken 9" bestellen.)
3. VON DEN ÖRTLICHEN ABHÄNGIGKEITEN ZUR ÜBERÖRTLICHEN
ABHÄNGIGKEIT
Im Folgenden beschränken wir uns auf einige Untersuchungsstränge
und -ergebnisse, die für uns neue Erfahrungen waren und an denen
deutlich zu machen ist, inwieweit wir unseren Anspruch "wirkliche
Vermittlungen" zu entdecken, realisiert haben.
An der Entwicklung Singliser Landwirtschaft, wurde uns deutlich,
wie die Bevölkerung eines solchen Dorfes aus einer Vielzahl von
Abhängigkeiten in eine völlig neue Struktur der Abhängigkeit gerät.
Die von uns, die aus Mittelgebirgsdörfern - mit kleinen Höfen kommen
- waren erstaunt über die (enorm) großen Betriebe in Singlis. Schon
der Ortsplan zeigte uns das, bei der ersten Ortsbegehung wurde das
sichtbar und im Gespräch mit einem Großbauern wurde die damit zu-
sammenhängende Hierarchie des Dorfes detaillierter deutlich.
Prägend für das Dorf waren die wenigen bäuerlichen Großbetriebe,
daneben gab es kleinere Bauern und Handwerker (meist beides zugleich)
und eben die Landarbeiter, ohne die die großen Höfe nicht zu bewirt”
schaften waren. Also keine Dorfidylle gleichberechtigter Nachbar-
schaften, sondern durchaus ein handfestes System von Abhängigkeiten
und Konkurrenzen, Unterdrückungen. z
Angesichts dieser Lage war es nicht verwunderlich, daß die Ansied-
lung der Braunkohlegruben und des Kraftwerkes Vielen wie eine Be-
freiung erschien. Das Ausgeliefertsein an persönliche Willkür, ver-
gleichsweise instabile Anstellungs- und Lohnverhältnisse, wurden
abgelöst durch sogenannte "feste" Arbeitsplätze, die guten Lohn
brachten. Der Ort veränderte in vielfacher Hinsicht sein Gesicht:
Handwerker, Landarbeiter und Kleinbauern gingen in "die Industrie ,
neue Leute - zugezogene Bergarbeits-Fachkräfte - siedelten sich an.
Mit dem Flüchtlingsstrom wurden diese Veränderungen verstärkt. Die
"freie" Lohnarbeit stand nun fast gleichberechtigt neben der bäuer-
lichen Produktion.
Zunächst wurde es für die kleinen Landbesitzer und Lohnarbeiter
selbstverständlich ihren Besitz preisgünstig weiterzuveräußern.
Mit den Entwicklungen innerhalb der Landwirtschaft verstärkte sich
die Konzentration, die kleinen Bauern gaben auch auf und gingen
in die Industrie.
Waren die Bauern vorher die 'wichtigen' Leute im Dorf, so waren sıe
es deshalb, weil sie ökonomische Macht hatten. Aber in ihrer Öko-
nomie waren sie auf das Funktionieren des Dorfes zugleich auch an-
gewiesen. Im eigenen Interesse beteiligten sie sich an dessen Ent-
wicklung. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft veränderte
sich diese Situation im Dorf. Die großen Bauern waren immer weniger
'Singliser', sie wurden wachsend 'Privatunternehmer'.
99
Nach vollzogenen Bodenkonzentrationen wurden die Angebote der land-
hungrigen Industrie verlockender. Zunächst bedurfte die Preag großer
- landwirtschaftlich genutzter - Flächen für den Kohleschurf, jetzt
braucht sie diese für die Errichtung ihrer atomindustriellen Anla-
gen.
Seine "Herren" ist das Dorf losgeworden. Der 'freie' Arbeitsmarkt
hat das Kräftepotential "'flüssig' gemacht. Die in die Industrie Ge-
gangenen sind von dieser abhängig geworden, weil sie die kleinen,
eigenen Möglichkeiten der Produktion weitgehend veräußert haben.
Und für die großen bäuerlichen Landbesitzer wird jetzt das Geschäft
der Spekulation mit dem Landbesitz immer attraktiver, auch der Boden
ist "flüssig" geworden. Die Preag lockt nicht nur mit den Summen,
sondern mit schlüsselfertigen Höfen. Singlis, der potentielle AKW-
Standort, scheint zur Disposition zu stehen. Die Rolle der Bauern
- wenn Widerstand dringender wird - ist weitgehend klar, auch die
letzten werden aufgeben, Land verkaufen oder tauschen - auf Besseres
hin. Ihr derzeitiger Widerstand ist durchbrochen von Spekulation
und dem Angewiesen-Sein auf eine Perspektive. Hier gibt es keine
Widerstandsbewegung zu feiern. Selbst Leute, die schon wissen, was
aus ihren Lebensbedingungen werden kann, stellen ihre Auflehnung zu-
rück hinter der Angst, das an ökonomischer Sicherheit zu verlieren,
was ihnen ihr derzeitiger Arbeitsplatz bietet. Für Preag-"Mitarbeiter"
gilt Unterschriften- und teilweises Versammlungsverbot; keine laute,
sondern eine stillschweigende Repression. "Denn auch der Betriebs-
rat sagt schließlich ..." Manche von denen, die noch nicht alles auf-
gegeben haben - noch über ihren kleinen Laden, ihre Landwirtschaft,
ihren Betrieb, ihre Rente und ihren Garten verfügen - leisten sich
etwas mehr Deutlichkeit ...
In Dillich war es ähnlich, wenn auch die Geschichte - die hier nicht
skizziert werden soll - anders verlief. Vom großen herrschaftlichen
Gut eingeengt, gab es fast nur kleinste und kleinere Bauern - meist
zugleich Handwerker. Eine ortsständige Ökonomie war schon zur Jahr-
hundertwende nicht mehr gegeben. Die Handwerker arbeiteten weitgehend
im Verlagssystem, lebten ziemlich schlecht. Als die Braunkohle in
der Region entdeckt wurde, änderte das im Dorf zunächst wenig. Nur
einige fanden dadurch eine neue und andere Anstellung. Die Krise
der 20ziger Jahre traf die schwache örtliche Ökonomie besonders hart.
Diese Erfahrungen sitzen tief, von der Preag hat man nie so viel gehabt,
ist auch nie von ihr größer betroffen worden. Das heutige Spektrum
der Pendel-Arbeitsplätze ist ebenso weit wie breit gefächert. Lohn-
arbeit, die sich auswärts orientiert, ist hier seit Generationen üblich
- in der Größenordnung auch länger als im stark großbäuerlich geprägten
Singlis - aber der entscheidende Unterschied besteht darin, daß man noch
viel kleinen Eigenbesitz hat und keinen alleinigen großen Arbeitsplatz.
Die Meinung zum AKW ist diffus - lieber raushalten ...
Zwei verschiedene Weisen, wie diese beiden Dörfer von den Veränderungen
betroffen werden; zwei verschiedene Weisen, wie die Bewohner damit
fertigwerden.
loo
4. DAS “GROSSE” PROBLEM UND DIE “KLEINEN” VERHÄLTNISSE
Die Darstellung unserer Ergebnisse im "Spurensicherungs"-Heft haben
wir auf das, was wir über geschichtliche und soziale Erfahrung in
den Orten herausfanden, beschränkt. Dies sollte unser erster Schritt
sein. Allerdings kreisten viele unserer Diskussionen in dieser Woche
bereits um die Frage: Wie gehen die Bewohner mit ihrer geplanten
atomaren Zukunft um?
Nichts ist einfacher, als ein schwerwiegendes Problem wie AKW zu be-
nennen, um sich dann mit den Leuten einer Region - quasi von Gleich
zu Gleich - zum Kampf zusammentun zu wollen. Aber: Das "große" Pro-
blem ist im konkreten Alltag in soviele andere eingebunden, daß es
oft nur Kopfschütteln, wenn nicht sogar Abwehr, hervorruft, wenn da
Leute, die 'von außen! kommen, einfach (mal so) anfragen im Sinne
"wie haltet ihr es denn mit dem AKW?" Was wissen "die von außen"
schon über die ganzen anderen Schwierigkeiten und Entscheidungen,
die zu bestehen sind, gegen die kein Aufkleber allein genügt? Was
da noch alles läuft, davon haben wir einiges erfahren. Einiges von
dem wir meinen, daß es durchaus von einiger Gewichtigkeit ist.
Es gibt also nicht das "große"Problem AKW einerseits und die vielen
kleinen anderen, die davor zurücktreten müssen, andererseits. An der
Geschichte der beiden Dörfer werden Verhältnisse deutlich, die die
Absurdität der Politik großer Apparate, wie sie heute noch gängig
ist, belegen. Wer sich auf die AKW-Frage einläßt, muß sich vergegen”
wärtigen in welchem Zusammenhang er das tut, wodurch das ausgelöst
ist und wohin er damit will. Die sogenannte Energie-Frage droht zum
republikanischen Glaubensbekenntnis zu werden;Herr Minister Karry
hat erst neuerdings das "strukturschwache' Nordhessen wieder pro”
pagiert. Alles Phänomene, die die falschen Richtungen einschlagen
lassen, wenn nicht die Interessen genau beachtet werden.
Mit Schlagworten wie 'Infrastruktur-Verbesserung' oder 'Schaffung
wertgleicher Verhältnisse' wird seit längerem hantiert und damit
werden auch relevante Differenzen zugedeckt.
Zwei Dörfer in einer Distanz von noch nicht 10 km und trotzdem zwei
soziale und politische Erfahrungshintergründe, die sehr verschieden
denken und handeln lassen. In beiden Orten sitzen die Erfahrungen, ;
die lokal wie regional mit der Veränderung durch die Braunkohleindustrie
gemacht wurden, tief. Mit ihr kam nicht nur neuer Reichtum ins Land,
sondern entstanden auch andere Arbeitsplatzverhältnisse - angesichts
großbäuerlicher Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse ein historischer
'Schub'. Diese Industrialisierung war nicht nur ein Import neuer und
großer Technologie, sondern auch die Konfrontation mit bereits weiter-
entwickelten Formen der Organisation der Lohnarbeit und damit eben
auch der Arbeiterschaft.
Noch heute beugt die Preag möglicher Unruhe mit der Propagierung be-
sonderer sozialer Leistung vor, sind die Arbeiter dieser Industrie stär-
ker gewerkschaftlich organisiert als sonstige Gruppen dieser Region.
Folgerichtig trifft die Planung atomindustrieller Anlagen auf eine
zwar skeptische, aber zunächst eher bereitwillige Haltung, solange
sie als "Fortschritt! mystifiziert wird.
Allerdings zeigen sich zwischen den Dörfern Unterschiede:Im - von
der Energieindustrie quasi schon "durchkapitalisierten' Singlis -
lol
sind Bejahung wie Ablehnung massiver. Im abseitiger gelegenen Dillich,
mit seiner reichhaltigen kleinen örtlichen und häuslichen Ökonomie,
geht es leiser in dieser Frage zu; ist das Zögern ausgeprägter, meint
man noch durch diese Entwicklung weder viel verlieren, erst recht
nicht viel gewinnen zu können.
5. FAZIT: WAS WIR FÜR UNS SELBER GELERNT HABEN
So wichtig die Auseinandersetzung um die Atomindustrie ist, so er-
freulich wir es finden, daß in dieser und anderen Umweltfragen immer
mehr Leute in Bewegung kommen, so entscheidend erscheint es uns, daß
wir die richtigen Ebenen der Auseinandersetzung damit finden.
Wir haben in dieser Woche BI- Mitglieder getroffen - und kennen das
auch teilweise aus eigener BI-Erfahrung - die Unterscheidungen tref-
fen lassen.
Es gibt so etwas wie eine ohnmächtige Faszination durch diese in-
dustriellen Eingriffe und Bedrohungen, die sich in einer Wut Luft
verschafft, die nichts und niemand weiterbringt, keinen Widerstand
kräftiger entfaltet, sondern eher sich regenden erdrückt. Gerade
wenn dieser Protest von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen ausgeht,
löst er bei den Älteren leicht Reaktionen aus wie:"Na, die können
sich das leisten!"
Es geht uns nicht darum als die "braven" und "netten", die ach so
"engagierten" Jugendlichen angesehen zu werden, denn auch uns gehen
in unseren BI's die "aufgeklärten' Herrschaften auf den Geist, die
meinen mit einigen markigen Resolutionen zur Rettung der "Lebens-
qualität" und der "Natur" wäre ihrem Umweltbewußtsein und der Pro-
blemlage Genüge getan.
Als "strukturschwache'" Nordhessen haben wir aber gelernt, daß Wider-
stand - bei aller Wichtigkeit der BI-Arbeit - nicht nur eine Frage
der politischen Organisation, sondern auch des Zustands ist, in dem
sich unsere Orte befinden.
An Dillich und Singlis, in deren Vergleich und im Vergleich dieser
beiden Dörfer zu unseren eigenen Orten, wurde uns klarer, daß Wider-
stand gegen die geplanten Entwicklungen, nicht nur eine Sache des poli-
tischen Bewußtseins und dessen Darstellungsfähigkeit in solchen Fragen
ist, sondern vor allem auch eine Frage der Möglichkeiten zum Widerstand,
Ein entscheidender Moment davon ist, inwieweit wir Bewohner in unseren
Orten noch über eigene Ressourcen - wirtschaftlich wie sozial - ver-
fügen. Also kommt es neben der BI-Arbeit, dem leisen '"Grünen' in den
Gewerkschaften u.ä., darauf an, daß wir an der Entwicklung unserer
Orte mitmischen.
Als Gruppe Jugendlicher hat man hier auf dem Land ja nicht nur eine
Menge Schwierigkeiten, sondern auch viele Chancen. Denn - abgesehen
von den ganz Vernagelten - lassen sich viele Leute auf unsere Fragen
nach der eigenen und der gemeinsamen örtlichen Zukunft ein, wenn wir
sie aus unserer Situation offensiv und begreifbar stellen. Gegen die
von oben propagierten großen Zukünfte - die keine Alternativen zuzu-
lassen scheinen - können wir so intensiv dazu beitragen, daß die
"kleinen", aber zahlreichen Zukünfte zu tragenden Bestandteilen der
Entscheidungen und des Widerstandes von uns Bewohnern werden.
Nicht meckern - machen!
lo2
Roland Roth
MÖGLICHKEITEN POLITISCHER BILDUNG IM STADTTEIL
AKTUELLE VORBEMERKUNG
Als Ende 1975 eine Gruppe von Mitarbeitern von "Arbeit und Leben"
mit der Vorbereitung eines längerfristig angelegten Projekts mit
Jugendlichen in einem Frankfurter Stadtteil begann, gab es zwar
schon eine starke Anti - Kernkraft - Bewegung in der Bundesrepublik;
niemand wäre jedoch damals auf die Idee gekommen, das eigene Progabt
als "ökologisch" zu bezeichnen. Ökologie war noch nicht "in Mode",
diente noch nicht als neuer Schmuck für alte Ansätze, wurde noch
nicht - positiv gewendet - als Herausforderung für die eigenen po”
litischen Vorstellungen besonders ernst genommen. Auch die Ansiedlung
des geplanten Projekts im Rahmen eines vom Bundesministerium für
Jugend, Familie und Gesundheit aufgelegten Modellprogramms Zentrale
Aufgaben für lernschwache, berufsunreife, arbeitslose Jugendliche
und Berufsanfänger" war wenig alternativ.
Dennoch ist es kein Zufall, daß wir Jahre später feststellen konnten,
daß unsere Vorstellungen von Stadtteilarbeit, die sich an der Selbst-
ständigkeit und Selbstorganisation von Alltagsinteressen orientierte,
weitgehend mit Konzepten deckten, wie sie in Teilen der Ökologie-
bewegung entwickelt worden sind (z.B. von Andre' Gorz in Ökologie
und Freiheit, Reinbek 1980, S. 36-46). Es gibt ohne Zweifel eine
große Nähe zwischen jenen Vorstellungen "emanzipatorischer" Jugend-
arbeit, wo sie ihre institutionen-kritische Ursprünge nicht vergessen
hat, und dem ökologischen Leitbild einer Rückgewinnung von autonomen
Fähigkeiten. " k=
In diesem Zusammenhang können auch die Projekterfahrungen vom ‚Fran
furter Berg" nützlich für die aktuelle Diskussion sein - und nicht
so sehr, weil wir mit Jugendlichen eine Fahrradgruppe gemacht und
Sonnenkollektoren gebaut haben.
. .. ” . . . .. i n
Genauere Informationen über dieses Projekt bietet die Veröffentlichung
"
der Projektgruppe Franfurter Berg, "Eigentlich hatten wir null Bock ,
Frankfurt/M 1981 (Campus-Verlag)
103
STADTTEILANALYSE UND ERSTE PRAKTISCHE SCHRITTE
Das Projekt wurde mit folgenden Zielsetzungen gestartet:
e Die Auseinandersetzung mit Berufswünschen, Lehrstellensuche und
der Situation der Arbeitslosigkeit erfordert zunächst die Ver-
mittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Institutionen.
Selbständige und gemeinsame Interessenartikulation und Erfahrungs-
verarbeitung sollen dabei besonders gefördert werden (gemeinsamer
Besuch beim Arbeitsamt, Austausch von Bewerbungserfahrungen etc.),
was der Konzeption einer aktivierenden Beratung entspricht, in der
als Hilfe zur Selbsthilfe Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen bei
der Lösung bestimmter Probleme an andere weitergeben.
e Hieraus ergeben sich möglicherweise Ansatzpunkte für die Entwicklung
und Förderung von Formen der kollektiven Interessenvertretung und
-durchsetzung.
© Längerfristige Perspektive des Projekts ist die Initiierung von For-
men gemeinsamer Interessenartikulation von Arbeitenden und Arbeits-
losen im Stadtteil, wobei die Schaffung tragfähiger Kommunikations-
strukturen und aktiver Kerne zentrale Bedeutung haben.Durch selbst-
organisierte Ansätze soll die Projektarbeit zumindest in wesentlichen
Ausschnitten allmählich von Stadtteilbewohnern übernommen werden.
Von dieser längerfristigen Arbeit sollen auch Impulse in die Gewerk-
schaftsdiskussion eingehen.
Aufgrund innerverbandlicher Auseinandersetzungen und einer Verspä-
tung der finanziellen Zusage war der in der Konzeption vorgesehene
Einstieg über Schülerarbeit und gemeinsames Zeltlager 1976 nicht
mehr möglich, obwohl die Vorarbeiten des Teams dies zugelassen hätten.
Der praktischen Arbeit mit den Jugendlichen ging zunächst-auch auf-
grund der finanziellen Unsicherheiten-eine ausgedehnte Phase der Unter-
suchungsarbeit im Stadtteil voraus. Untersuchungsarbeit bezeichnet
dabei eine Form der Stadtteilanalyse, die aus einer Einheit von
Interview, Offenlegung der eigenen Interessen, Aufhellung der Interessen
der Gesprächspartner und der Entwicklung gemeinsamer Handlungsperspek-
tiven (oder der Erfahrung ihrer Unmöglichkeit) besteht. Wir hatten
dabei folgende konkrete Zielsetzungen:
e eine genauere Erhebung der Sozialstruktur und der Wohnverhältnisse
im Quartier.
e Rekonstruktion der objektiven Lebenslage der Jugendlichen im Stadtteil,
aber auch ihrer Gruppen-und Cliquenstrukturen, ihres Images bei den
Erwachsenen etc.,
e Untersuchung der Einrichtungen und Angebote für Jugendliche,
e Aufarbeitung der Erfahrung der Jugendlichen mit früheren sozial-
pädagogischen Initiativen, um Probleme und Mängellagen in der ört-
lichen Jugendarbeit zu sondieren und dadurch Konkurrenz oder Holz-
wege zu vermeiden,
lo4
Marlene Neske/
Günter v. Juterzenka
ZWISCHENLÖSUNG: ARBEITSKOLLEKTIVE
— Selbsthilfeinitiativen und Jugendarbeitslosigkeit —
Zeichnungen: Christoph v. Löw
*
Vorwort: Roland Roth
e Kontaktaufnahme mit Vertretern von Institutionen des Stadtteils
(Sozialarbeiter der Hochhaussiedlung und der Sozialstation, Haus-
meister, Vertreter von Kirche und Vereinen, aber auch mit einzelnen
Jugendlichen und Erwachsenen) um Kooperationsmöglichkeiten und Kon-
fliktpotentiale zu eruieren.
e Vorstellung des Projekts und der Mitarbeiter.
Dieses Vorgehen wurde bei den rund zwei dutzend Befragten überwie-
gend positiv aufgenommen, sofern nicht grundsätzliche Vorbehalte
gegen die spezifische Ausrichtung des Projekts ("gewerkschaftlich"),
bzw. gegen nicht dauerhaft institutionalisierte Projekte überhaupt
jeden Kooperationsansatz von vonherein verhinderten. Die Ergebnisse
bestätigten die ersten Einschätzungen der Stadtteilanalyse. Cha-
rakteristisch für die Siedlung "Frankfurter Berg'' ist das weitgehen-
de Fehlen öffentlicher Infrastruktureinrichtungen, aber auch eine
völlige Unterversorgung mit privat betriebenen Kommunikationsein-
richtungen (Kneipen etc.). Dies führt zur Spaltung in einen alten
Siedlungsteil (mit kleinen Siedlungshäuschen, Gärten etc.) und die
in den sechziger Jahren errichtete Hochhaussiedlung, in der ca. 3000
Menschen aus verschiedenen Schichten, allerdings mit einem deutlichen
Übergewicht von "sozial Benachteiligten" (Spätaussiedler , ehemalige
Bewohner von Obdachlosensiedlungen, Sozialhilfeempfänger u.a.) zu-
sammenleben-ohne sozialintegrative Gemeinschaftseinrichtungen oder
hinreichende sozialpädagogische Betreuung. Diese Form der "sozialen
Mischung" führte zur Herausbildung von scharfen Konfliktlinien zwi-
schen den verschiedenen Bewohnergruppen, aber auch zur Isolierung
vom Rest der Siedlung. Zunächst angebotene bzw. vorgesehene Gemein-
schaftseinrichtungen wurden bald geschlossen oder nie errichtet.
Die Jugendlichen des Stadtteils sind davon besonders betroffen.
Ihr fast zehn Jahre langer Kampf um ein Jugendhaus, das nun Mitte 1979
in Betrieb genommen werden soll, spiegelt Intensität und Dauerhaftigkeit
ihres Interesses, hat aber auch einen Prozeß verstärkter Marginalisie-
rung in Gang gesetzt und die Jugendfeindlichkeit bei vielen Erwachsenen
des Stadtteils verfestigt. Dies zeigte sich besonders bei unseren
Bemühungen, eigene Räume für die Jugendarbeit im Stadtteil anzumieten,
was schließlich erst ein Jahr nach Projektbeginn gelang.
Nachdem es wegen des verzögerten Projektbeginns im Herbst 1976 nicht
möglich war, kurzfristig in die Schülerarbeit einzusteigen, die prak-
tische Arbeit mit den Jugendlichen bis zum Jahresende aber noch an-
laufen sollte, boten wir im Dezember ein Wochenseminar in der Nähe
von Hamburg an, an dem sich vor allem arbeitslose Jugendliche und
Lehrlinge (Bildungsurlaub) beteiligten. Die Ansprache’ erfolgte im
wesentliche über das Jugendhaus Eschersheim, die Vereine des Stadt-
teils und eine Gruppe von Aktiven, die sich für den Bau eines Ju-
gendhauses engagierten. Im Anschluß daran entwickelten wir, unter-
stützt von einigen Wochenendseminaren, an denen sich auch Schüler
beteiligten, im ersten Halbjahr 1977 einige Ansätze zur Gruppen-
arbeit im Jugendhaus Eschersheim, die dort auch auf lebhafte Resonanz
stießen. Durch die Angebote im Jugendhaus kamen wir zunächst mit
etwa 50 Jugendlichen aus der Umgebung in Kontakt und wurden von
ihnen in zahlreichen Fällen bei der Suche nach einer Lehrstelle bzw.
einem Arbeitsplatz, bei Gerichtsprozessen oder bei der Wohnungs-
suche in Anspruch genommen.
106
In der Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern des Jugendhauses
konnten wir zwar eine sinnvolle Ergänzung der offenen Jugendarbeit
leisten, aber weitergehende politisch-pädagogische Zielsetzungen
nicht zur Geltung bringen. Die Stabilisierung von längerfristigen
Gruppenprojekten gelang lediglich in einem Fall, begünstigt durch
den Umstand, daß die Jugendräume aufgrund eines Brandes geschlossen
wurden. Auf 25 Gruppenterminen und zwei Wochenendseminaren erarbei-
teten 20-25 Jugendliche einen Videofilm, in dem sie in Spielfilmform
ihre aktuellen Probleme bei der Lehrstellensuche, im Beruf, bei
Arbeitslosigkeit, aber auch in der Familie, in Freundschaftsbe-
ziehungen und Freizeitcliquen darstellten. Ein Teil der Gruppen-
sitzungen fand in den Privaträumen der beiden im Stadtteil wohnen-
den Mitarbeiter statt; das Raumproblem wirkte sich jedoch nicht
so stark aus, weil der Film an verschiedenen Schauplätzen im Stadt-
teil und in den Wohnungen der Jugendlichen gedreht wurde. Dabei
boten sich zahlreiche Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit den
eigenen Lebensbedingungen und zur Einbeziehung von Erwachsenen aus
dem Viertel.
SCHÜLERARBEIT, ZELTLAGER UND DIE STABILISIERUNG VON ARBEITSGRUPPEN
Im ersten Halbjahr 1977 konnten mit rund 70 Schülern aus Abgangs-
klassen von Sonder-, Haupt-und Realschulen Wochenseminare veran-
staltet werden. Weitere Seminare - wenn auch in reduziertem Um-
fang - folgten in der zweiten Jahreshälfte und 1978. Versuche, mit
arbeitslosen Jugendlichen aus Berufsschulklassen solche Veranstal-
tungen zu machen, scheiterten, da arbeitslose Jugendliche aus einem
Stadtteil von der in Frage kommenden Frankfurter Berufsschule bewußt
in verschiedene Klassen gesteckt werden, um sie aus ihren alten
Bezugsgruppen zu lösen. Themenschwerpunkte der Seminare waren Pro-
bleme der Lehrstellensuche (Vorstellungsgespräche, Prüfungen, Kon-
kurrenz um Lehrstellen zwischen den Schülern etc.), Erfahrungen mit
der Berufsberatung, Rechte von Lehrlingen, Ursachen, Folgen und
Bewältigungsmöglikeiten von Arbeitslosigkeit - aber auch (je nach
Gruppe) die Situation der Jugendlichen im Stadtteil und Adoleszenz-
probleme (Verhältnis zum anderen Geschlecht, Konflikte im Eltern-
haus, in den Jugendlichencliquen u.a.m.).
Die Wochenendseminare bildeten jeweils nur den Ausgangspunkt für
eine Weiterarbeit, die je nach Möglichkeit über weitere Schulbe-
suche, besondere Arbeitsgruppenangebote nach Schulschluß oder mit
dem Ende der Schulzeit bzw. die Integration der Jugendlichen in
die offene Stadtteilarbeit versucht wurde.Als besondere Hürde er-
wies sich, daß nicht nur Sonderschüler, sondern auch Haupt-und
Realschüler wegen der Lehrstellensituation am Ende ihrer Schulzeit
weiter verschult werden und sich so ihr Eintritt ins Berufs-und
Arbeitsleben, aber auch die mögliche Arbeitslosigkeit entsprechend
verschieben. Wir mußten uns daher auf die ungleiche diffusere Si-
tuation der weiteren Verschulung pädagogisch einstellen, die für
die Schüler oft zum Verlust von bestehenden sozialen Kontakten
führt, ohne daß sich ihre Zukunftsperspektiven verbessern, was im
Kontext des Projekts zu einer Beeinträchtigung der Möglichkeiten
stadtteilbezogener Bildungsarbeit geführt hat. Im allgemeinen
konnten wir in der Schülerarbeit u.a.folgende Erfahrungen machen:
107
e Die Schulen bieten meist nur unzureichende Möglichkeiten für eine
intensive Auseinandersetzung mit den Problemen des Übergangs in
das Arbeitsleben. Dies liegt nicht nur an den institutionellen
Grenzen der Schulen, sondern ebenso am Widerstand vieler Schüler
der letzten Schulklassen gegen schulische Formen der Wissensver-
mittlung. Die in den Seminaren angewandten produktorientierten
Lernformen ( Video, Foto, Collagen, Schmalfilme etc.) eröffneten
für diesen Teil der Schüler wieder aktive Lernmöglichkeiten, die
auch von dem überwiegenden Teil der kooperierenden Lehrer sehr
positiv aufgenommen wurden. Besonders Sonderschüler reagierten
äußerst positiv auf die für sie völlig neuen Lernformen, da sie
mit einer oft feststellbaren schulischen Unterforderung ihrer
Lernbedürfnisse brachen, ohne an traumatische schulische Situa-
tionen anzuknüpfen. Dieser Mobilisierung von Lernbereitschaft
steht allerdings meist übermächtig die apathisierende Wirkung
der trostlosen Lage auf dem Lehrstellenmarkt und die Perspektiv-
losigkeit einer weiteren Verschulung entgegen.
e Als Institution, die auch nach der Schulzeit noch im Stadtteil
präsent ist, boten wir durch unsere Ansätze den Jugendlichen die
Chance, den mit dem Zerfall der Klassengemeinschaft verbundenen
Einbußen an sozialen Kontakten entgegenzuwirken. Das Bedürfnis
zur Weiterführung der alten Beziehungen aus der Schulzeit war
jedoch unterschiedlich, je nachdem wieweit die Klassengemeinschaft
für den einzelnen Jugendlichen als Bezugspunkt überhaupt noch
existiert oder schon vor Schulende als Zwangsgemeinschaft, die
hoffentlich bald vorübergeht, empfunden worden.
e Die verschiedenen Angebote der offenen Arbeit boten den Schülern
zudem die Möglichkeit, neue Kontakte zu anderen Jugendlichen des
Stadtteils aufzunehmen.
Das erste Zeltlager im Sommer 1977 bedeutete eine qualitative Er-
weiterung der Arbeit, Zielsetzungen des Zeltlagers waren u.a. die
Integration der diversen Jugendlichencliquen und der Schüler aus
den verschiedenen Schulen, die wir bis dahin im Rahmen unserer Arbeit
erreicht hatten. Dazu schien uns besonders der Zwang und der Anreiz
zur Selbstversorgung und -organisation geeignet, der dadurch gesetzt
war, daß uns im Elsaß lediglich eine Wiese in einiger Entfernung
vom nächsten Dorf zur Verfügung stand und somit alle Einrichtungen
(Wasserleitungen, Latrinen, Sitzbänke in den Großzelten etc.) selbst
gebaut werden mußten. Zur Vorbereitung wurden Arbeitsgruppen ein-
gerichtet, und eine Gruppe von Teilnehmern und Teamern schuf als
Vorhut die Basisstrukturen des Zeltlagers. Das Angebot eines aktiven
und alternativen Urlaubs sollte zudem der Entwicklung neuer Arbeits-
gruppen dienen. Schon die zahlenmäßig starke Resonanz von rund
40 Teilnehmern aus den verschiedensten Bezugsgruppen des Projekts
(in einer Altersspanne von 13 bis 19 Jahren) und die gemeinsamen
Anforderungen und Möglichkeiten des Zeltlagers bestätigten diese
Konzeption. Trotz der zutage getretenen Schwierigkeiten bei der
Umsetzung des Selbstorganisationsanspruchs, trotz weitgehend feh-
lender kollektiver Initiativen und einem Mangel an gemeinsamer
Verantwortlichkeit bei den Jugendlichen, wurde die "Selbstorga-
nisationszumutung" durchweg positiv aufgenommen, zumal sie mit
sehr intensiven Kontakten zwischen den Jugendlichen, aber auch
mit den Teamern verbunden war.
108
In der Aufarbeitung der Zeltlagererfahrungen (Ton-Dia-Schau,
Super-8-Film, Broschüre) zeigten die Jugendlichen großes Engagement,
das sich noch verstärkte, als es daran ging, die Räume zu renovieren
und einzurichten, die uns seit November 1977 im Stadtteil zur Ver-
fügung stehen. Seitdem tagen hier regelmäßig 4 bis 7 Arbeitsgruppen,
an denen sich 35 bis 50 Jugendliche beteiligen. Außerdem wurde ein
informeller Treff am Sonntagnachmittag eingerichtet, Zu dem sich
15 bis 30 Jugendliche einfinden. Auf gelegentlichen Feten (Eröff-
nung der Räume, Fasching etc.) erscheinen jeweils 60 bis 80 Ju-
gendliche aus dem Stadtteil. Mit diesen Angeboten sind sozial-
pädagogische Beratungsaufgaben (von Lehrstellensuche bis zur Jugend-
gerichtshilfe) verknüpft, wofür das in der regelmäßigen Gruppenarbeit
entstandene Vertrauensverhältnis zwischen Teamern und Teilnehmern
eine wichtige Voraussetzung ist.
Neue Impulse für die Arbeitsgruppenarbeit durch Workshopangebote
(Foto, Siebdruck, Zeitung etc.) und die Auseinandersetzung mit
interessanten sozialen und kulturellen Einrichtungen (vorbildliche
Jugendhäuser, Gemeinschaftseinrichtungen in Wohnsiedlungen, "Christiania'etc.)
waren das vorrangige Ziel des Zeltlagers 1978 in Dänemark, an dem
mehr als 40 Jugendliche teilnahmen. Die starke Außenorientierung
förderte auf der einen Seite zwar desintegrative Tendenzen, brachte
auf der anderen Seite aber durchaus eine Menge an inhaltlichen An-
regungen für die Jugendlichen, die wiederum in Film, Broschüre und
Ton-Dia-Schau festgehalten bzw. in den Arbeitsgruppen aufgegriffen
wurden.
Bis Ende 1978 konnten wir etwa 200 Jugendliche ansprechen, etwa
70 bis 80 davon in mehrmonatigen Arbeitsgruppen. Das Durchschnitts-
alter liegt bei ungefähr 16 (in einer Spanne von 13 bis 2o Jahren).
Etwa die Hälfte der Teilnehmer sind Schüler, teilweise in schulischen
Angeboten der Arbeitsämter und Berufsschulen, ein Drittel jobbt
oder hat eine Lehrstelle, 15 bis 20% der Jugendlichen sind arbeits-
los. Einige der regelmäßigen Arbeitsgruppen seien hier kurz vor-
gestellt:
Wohngruppe
Die Wohngruppe hat sich aus Anlaß immer wieder auftretender Schwierig-
keiten von Jugendlichen in ihrem Elternhaus und dem Wunsch vieler
Jugendlicher, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, zusammen-
gefunden. Die konkrete Betroffenheit einzelner (Wohnungssuche, Wohn-
geld etc.) führte dazu, die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten von
Konflikten in elterlichen Wohnungen gemeinsam zu besprechen und
darüberhinaus verschiedene Wohnformen-vom Alleinewohnen bis zur
Wohngemeinschaft-näher zu betrachten. Möglichkeiten und spezifische
Problemzonen der verschiedenen Wohnformen wurden durch Besuche,
verknüpft mit Tonbandinterviews und Filmaufnahmen, einer kritischen
Betrachtung unterzogen. Im Zentrum der aktuellen Gruppenarbeit
steht die Produktion eines Filmes über die Wohnbedingungen von
Jugendlichen am "Frankfurter Berg".
109
Stadt gefährlich
rer
r ì
für Anfänger)
hichte des Fahrrads
24
Impressun 2
Alle Artikel wurden von Mitgliedern der Fahrradgruppe geschrieben.
Fahrradgruppe "Arbeit und Leben", 6 Frankfurt/Main 50, Homburger
Landstr. 407, z PoR 66
Gedruckt auf 100% Recycling Papier,
llo
Fahrradgruppe
Die Arbeit der Fahrradgruppe stellt den Versuch dar, sich am Bei-
spiel des "Kommunalen Fahrrads'" mit menschenfreundlichen Verkehrs-
formen zu beschäftigen. Ziel der ersten Phase war es, Fahrräder zu
besorgen und herzurichten, die der Bevölkerung des "Frankfurter
Bergs" zur freien Benutzung zur Verfügung gestellt werden sollen.
Nach einem öffentlichen Aufruf konnten knapp 40 Fahrräder von Pri-
vathaushalten eingesammelt werden, die dann in mehrmonatiger Arbeit
zu 20 gebrauchsfähigen Fahrrädern zusammengebastelt wurden.
Ende Oktober 1978 wurden diese dann der Stadtteilöffentlichkeit
Übergeben. Die Aktion scheiterte. Mehr als die Hälfte der Fahrräder
kam zwar zurück, fast alle waren jedoch mutwillig beschädigt oder
als Ersatzteillager benutzt worden. Die Gruppe startete daraufhin
eine Befragung im Stadtteil, um die Ursache des Scheiterns genauer
herauszufinden. Die Ergebnisse dieser Befragung sollen auch darüber
Aufschluß geben, ob durch konzeptionelle Veränderungen der Versuch
neu gestartet werden kann (Verleihsystem). Gegenwärtig arbeitet sie
an einer Broschüre über die Entwicklung des Projekts und die Ergeb-
nisse der Befragung; darüber hinaus soll sie eine Reparaturanlei-
tung für Fahrräder, als ein praktisches Ergebnis der eigenen Mühen
enthalten. Außerdem ist eine Studienfahrt in eine Stadt (wahrschein-
lich in Holland) mit einem funktionierenden Modell "Kommunales
Fahrrad" vorgesehen.
Mädchengruppe
Die Mädchengruppe kam durch das Interesse von Mädchen zustande, ge
meinsam über ihre spezifischen Schwierigkeiten als Mädchen zu sprechen,
aber auch zusammen Sport zu treiben etc. Nach einer Anlaufphase,
in der vor allem rollenspezifische Schwierigkeiten besprochen wur-
den, beschäftigte sich die Gruppe besonders mit Fragen der Sexuali-
tät, Beziehungsproblemen und frauenspezifischen Berufen. Zur Zeit
versucht sie, die Rollenproblematik von Mädchen in ihrer Alltags-
und Freizeitsituation aufzuarbeiten. Mit Hilfe von Rollenspielen,
Foto, Collagen und anderen Medien werden dabei die Erfahrungen in
Diskotheken, Cliquen und Freundeskreisen, am Arbeitsplatz etc.
diskutiert.
Energiegruppe
Die Energiegruppe will-wie die Fahrradgruppe-alternative und men-
schenfreundlichere Lebensbedingungen modellhaft untersuchen. Prak-
tischer Anlaß war das erste Zeltlager im Elsaß, für das sie mit Hil-
fe eines Sonnenkollektors über einen Wärmetauscher eine Warmwasser-
dusche installieren wollte. Der erste Versuch scheiterte vor allem
aufgrund der ungünstigen klimatischen Bedingungen während des Zelt-
lagers, wurde aber nach einer längeren Winterpause auf dem Zelt-
lager in Dänemark erfolgreich zu Ende gebracht. Mit Beginn der
warmen Jahreszeit soll auch 1979 dieses Gruppenangebot weiterge-
führt werden. Perspektiven sind die Anwendung der Erfahrungen mit
dem Bau von Sonnenkollektoren für die Kleingärtner der Umgebung
(Beheizung von Treibhäusern durch Sonnenenergie) oder die Unter-
suchung von Energiesparmöglichkeiten in den kleinen Siedlungs-
häusern am "Frankfurter Berg".
111
VON DER ARBEIT IM STADTTEIL ZUR STADTTEILARBEIT
Soweit die Projektentwicklung bisher dargestellt wurde, handelt es
sich im wesentlichen um pädagogische Arbeit mit Jugendlichen-kon-
zentriert auf einen Stadtteil und dessen nähere Umgebung. In den
einzelnen Gruppen haben sich zwar in unterschiedlicher Intensität
stadtteilspezifische Initiativen entwickelt und im Laufe der Arbeit
verstärkt (besonders bei der Fahrrad-und der Wohngruppe), meist blieb
die Resonanz über den Kreis der aktiven Jugendlichen hinaus im Stadt-
teil relativ gering. Um eine übergreifende Stadtteilarbeit anzugehen,
aber auch aufgrund intensiver werdender Kontakte zu Eltern im Zu-
sammenhang mit Konflikten, Beratungsproblemen u.a.m., wurde bereits
im Herbst 1977 ein erstes Wochenendseminar für Eltern angeboten,
das zu einer seitdem stabilen Elterngruppe führte-die durchschnitt-
liche Beteiligung liegt bei neun Personen. Im Vordergrund der in-
haltlichen Arbeit dieser Gruppe standen zunächst Konflikte, die
sich aus dem Verhältnis zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern
und den damit verbundenen Ablösungsprozessen ergeben. Es zeigte sich
jedoch bald, daß zwar ein Bedürfnis bestand, über Erziehungsstile
und verändertes Konfliktverhalten zu reden; der Ablösungsprozeß war
aber meist schon soweit vollzogen, daß grundsätzliche Reflexionen
über Erziehungsprozesse keinen praktischen Bezug mehr bekommen konnten,
So standen in der Folge die Wohnsituation, soziale Isolation, Nach-
barschaft, Freizeitwünsche und Erfahrungen am Arbeitsplatz der ein-
zelnen Mitglieder der Gruppe-vorwiegend berufstätige Frauen-als ge-
meinsame Bezugspunkte auf der Tagesordnung der Gruppensitzungen, die
regelmäßig alle 14 Tage stattfinden und durch Wochenendseminare er-
gänzt werden. Die Eltern selbst begannen nicht nur mehrere Initiativen
zu gemeinsamen Veranstaltungen mit den Jugendlichen (Familienseminar,
gemeinsame Feste), die Gruppe wollte auch ein Beratungsangebot ent-
wickeln-verbunden mit einem Treff für Erwachsene des Stadtteils.
Dafür erwies sich jedoch die Gruppenstruktur als wenig tragfähig,
denn ein Großteil der Teilnehmer wohnt nicht unmittelbar am "Frank-
furter Berg" sondern in der näheren Umgebung. Hinzu kommt, daß bei
Erwachsenen aufgrund der meist wesentlich stärker ausgeprägten so-
zialen Isolation die Offenheit gegenüber nicht-kommerziellen, kom-
munikativen Angeboten wesentlich geringer ist.
Nach dem Scheitern der ersten Treffangebote soll ein neuer Anlauf
durch die Zusammenarbeit mit aktiven Mietern der Hochhaussiedlung
versucht werden. Konkretes Angebot ist eine Studienfahrt nach Däne-
mark, um u.a. die gleiche Wohnsiedlung zu besuchen, die auch schon
von den Jugendlichen der Wohngruppe besichtigt wurde und dort Im-
pulse für sinnvolle, von den Mietern selbstverwaltete Gemeinschafts-
einrichtungen zu.erhalten. Dieser Versuch soll durch Kommunikations-
und Beratungsangebote in den einzelnen Häusern der Hochhaussiedlung
unterstützt werden, um Breschen in die Anonymität dieser Siedlung
schlagen zu können.
Ein weiterer Anstoß für gemeinsame Lernprozesse von Jugendlichen
und Erwachsenen erhoffen wir uns durch ein Projekt, das auf eine
an einzelnen Biographien und individuellen Erfahrungen orientierte
Aufarbeitung der Siedlungs-und Stadtteilgeschichte des "Frankfur-
ter Berg" abzielt, der seit 4o Jahren besteht. Geplant ist eine
Ausstellung, die in Kooperation mit Vereinen und interessierten älteren
Bewohnern, aber auch Jugendlichen aus der Wohngruppe realisiert wer-
den soll,
Ein dritter Ansatz liegt in der Erweiterung der Schülerarbeit. Mit
der zentral im Stadtteil gelegenen Hauptschule sollen künftig schu-
lische und außerschulische pädagogische Angebote bereits für die
siebten Klassen gemacht werden, bei denen, soweit wie möglich, auch
Eltern einbezogen werden sollen.
POLITISCHE BILDUNG UND POLITISCHES LERNEN
Im Rahmen dieses Paxisberichts und noch vor der Endauswertung dieses
keineswegs abgeschlossenen Modellprojekts müssen einige vorläufige
Bemerkungen über die spezifischen Lernsituationen und Lernchancen,
sowie einige hervorstechende Erfahrungen in der bisherigen pädago-
gischen Praxis genügen. Im gegebenen instituionellen Rahmen mußten
sich-wie beschrieben-politische Bildungsversuche selbst blockieren.
Stattdessen sollten jetzt in einer Kombination bekannter Bildungs-
ansätze (Hauptschülerarbeit, Bildungsurlaub etc.) neue entstehen,
die selbst in ihren politisch-pädagogischen Bedingungen und Möglich-
keiten noch weitgehend unbekannt waren.
Die spezifischen Strukturen des Projekts in seiner Kombination von
Schülerarbeit, offenen Gruppenangeboten und regelmäßigen Arbeits-
gruppen definieren somit bewußt geschaffene Lernsituationen, die
keineswegs selbstverständlich sind und gerade durch ihr Zusammen-
wirken an Bedeutung gewinnen. Trotz fehlender offener Jugendarbeit
im Stadtteil haben wir versucht, die Grundstruktur zwar prinzipiell
offener, aber kontinuierlicher Mitarbeit erfordernde, projektbe-
zogene Gruppenarbeit im Stadtteil durchzuhalten. Von Seiten der
Jugendlichen gab es durchaus auch andere Bedürfnisse, die die Pro-
jektarbeit in Richtung offener Treff oder in einen preisgünstigen
Reisedienst für Wochen-und Wochenendtouren verändert hätten. Somit
liegt die wohl entscheidende pädagogische Erfahrung des Projekts
im Aufzeigen der Möglichkeiten von längerfristiger inhaltlicher
Gruppenarbeit, zu der ein relativ fester Kern von Jugendlichen kon-
tinuierlich aus freien Stücken in seiner Freizeit erscheint.
Die Inhalte dieser Gruppenarbeit, die in der Konzeption des Projekts
bewußt offengehalten wurden, haben sich aus den Erfahrungen und Pro-
blemen der Jugendlichen ergeben, für die sich gemeinsame Kommuni-
kations-und Handlungsmöglichkeiten andeuteten. Beispiele sind Wohn-
und Mädchengruppe. Dabei ist bezeichnend, daß die späteren Arbeits-
inhalte dieser Gruppen zunächst als kurzfristige unmittelbare Ein-
zelinteressen eingebracht wurden: Einige der älteren Jugendlichen
waren dabei,von zu Hause auszuziehen oder hatten Konflikte mit ihren
Eltern und wollten konkrete Hilfestellungen bei der Wohnungssuche.
Einige der älteren Mädchen des ersten Zeltlagers wollten zusammen =
ohne die befürchteten spöttischen Blicke oder übermächtigen Konkur-
renzversuche der Jungen - Gymastik betreiben. Über die gemeinsame
Beratungssituation und die Ansprache von weiteren Jugendlichen, sei
es durch Mitarbeiter oder die Jugendlichen selbst, entwickelte sich
ein Interesse an übergreifenden gemeinsamen Problemstellungen. (Was
ändert sich eigentlich, wenn ich zu Hause ausziehe und dann alleine
wohne, welche sozialen Hoffnungen gehen in diese Überlegungen ein,
wie sind deren Realisierungschancen in verschiedenen Wohnformen und
unter den spezifischen Bedingungen des Stadtteils?) Bei den Mädchen
entwickelte sich aus den Freizeitansätzen schließlich ein Themen-
spektrum, das sie lieber "unter Frauen" diskutieren wollten.
diesen Arbeitsgruppen zunächst als Aneig-
nung und Verallgemeinerung der individuellen Erfahrungen der Gruppenmit-
glieder bestimmen, so erfolgte im weiteren Verlauf eine pädagogisch pro-
vozierte bzw. organisierte Erweiterung in zumeist zwei Dimensionen.
Inhaltlich wurden meist von den Mitarbeitern Lösungsmöglichkeiten
eingebracht, die zunächst außerhalb des Horizonts der Jugendlichen
zu liegen schienen (Jugendwohnkollektive, Wohngemeinschaften etc).
Festgehalten wurde allerdings auch bei diesen phantasieanregenden
Vorgaben am Prinzip der selbsttätigen Aneignung von Erfahrungen.
Die Jugendlichen formulierten gemeinsam Fragen, die sie z.B. den
Bewohnern eines Wohnkollektivs stellen wollten, stabilisierten sich
so als Gruppe für einen Besuch und konnten dann im Gespräch ihre
vorgängigen Einstellungen korrigieren oder bestätigen. Für dieses
Überschreiten des eigenen Erfahrungshorizontes spielt die Aneignung
von medialen Vermittlungsformen in den Gruppenprozessen eine be-
deutende Rolle. Durch den Einsatz von Film, Video, Tonband, Rollen-
spielen etc. wird sowohl der Druck direkter Kommunikation wie auch
die Barriere gegenüber verbalen (oder gar geschriebenen) Vermittlungs-
formen ein Stück weit zurückgenommen, ganz abgesehen von den nar-
zißtischen und anderen motivationalen Ressourcen, die dabei mobi-
lisiert werden. Der "Umweg" über die Medien scheint deshalb so vieles
zu erleichtern, weil er sich auf eine zentrale Produktionsweise von
sozialer Realität im Bewußtsein der Jugendlichen (durch Funk, Fern-
sehen, Kino etc.) bezieht, sie aber dabei nicht-wie in ihrem Alltag
sonst üblich-zu Konsumenten macht, sondern in die Rolle von Produ-
zenten versetzt.
Daß diese beiden Erweiterungsformen der eigenen Erfahrungsmöglichkeiten
zugleich die Alltagserfahrungen der Jugendlichen nicht unberührt lassen,
läßt sich an einem weiteren Beispiel aus der Wohngruppe illustrieren,
wo beide Momente zusammenkommen. Um sich auf das Treffen mit dem
Mieterbeirat der dänischen Wohnsiedlung vorzubereiten und auch etwas
über den eigenen Stadtteil präsentieren zu können, hatten die Teil-
nehmer zahlreiche Dias vom "Frankfurter Berg" gemacht ,wobei es sich
durchweg eher um "schöne", ästhetisierende Aufnahmen handelte. Auch
in den Vorgesprächen für diese Dia-Vorführung war von kritischer
Distanz zu den eigenen Wohnbedingungen zunächst keine Spur. Aber
zu unserer Überraschung formulierten die Teilnehmer äußerst kritische
Kommentare zu den Bildern aus ihrem Wohngebiet, als sie nach dem Be-
such der Wohnsiedlung mit den dänischen Gastgebern zusammensaßen.
Die neuen Eindrücke hatten als Lernprovokation gewirkt.
Läßt sich der Lernprozeß in
eiten Typus von
die zunächst
en scheinen.
Die Hoffnung auf solche Prozesse führte zu einem zw
Arbeitsgruppen, die Projekte zum Gegenstand haben,
jenseits des Erfahrungshorizonts der Jugendlichen zu lieg
Daß sich ausgerechnet drei Sonderschüler am intensivsten beim Bau
eines Sonnenkollektors beteiligen, etwas was ihr Bedürfnis nach
Handwerkelei, nach Umgang mit Holz und Metall befriedigt, scheint
Ergebnis eines pädagogischen Tricks, bei dem die Absichten der
pädagogen zu Schanden gehen müssen. Es drängt sich leicht der Ver-
dacht auf, daß die umwelt-und energiebewußten Mitarbeiter das
Bastelinteresse der Teilnehmer funktionalisieren. Bei den wochen-
langen handwerklichen Arbeiten werden nicht nur physikalische Kennt-
nisse vermittelt; die Eltern und die anderen Jugendlichen fragen
nach dem Sinn der Tätigkeit. Schließlich entsteht ein Erfolgsdruck,
ob das Gerät nun auch wirklich funktioniert. All das im Kampf
gegen die eigenen Zweifel. Die Auseinandersetzung mit einem
nichtkonventionellen Projekt (bezogen auf den sozialen Kontext der
Jugendlichen),schafft, wenn es nur in Ansätzen gelingt, eine Lern-
bereitschaft und eine soziale Bestätigung, die sicherlich nicht auf
die Energieproblematik eingegrenzt bleiben muß. Selbst wenn diese
kaum vermittelt werden kann, bleibt den Teilnehmern die Erfahrung,
etwas ebenso Kompliziertes wie Nützliches produziert zu haben (die
warme Dusche auf dem Zeltplatz).
Vergleichbare Prozesse spielten sich bei der Fahrradgruppe ab, für
die die Idee des "kommunalen Fahrrads" zunächst auch völlig fremd
war, auch wenn sich eine Anzahl von jüngeren Jugendlichen-trotz
aller Skepsis gegenüber Sinn und Erfolg des Projekts-gewinnen ließen.
Triebkraft war auch hier in erster Linie das Bastelinteresse an
Fahrrädern-dem Hauptverkehrsmittel für diese Jugendlichen. Trotz-
dem wurde die Ernsthaftigkeit des Projekts von Anfang an für die
Teilnehmer deutlich, da es stark öffentlichkeitsbezogen angegangen
wurde. Nach der ersten Pressemitteilung forderte die Presse in
teilweise längeren Artikeln zur Unterstützung des Versuchs durch
die Spende von alten Fahrrädern auf, die schließlich von der Gruppe
bei den Leuten abgeholt wurden. Die Bekräftigung des Projektziels
durch die Medienöffentlichkeit wirkte sich stabilisierend für die
Arbeit der Gruppe aus; die Idee wurde schließlich gut befunden, wenn
auch die Zweifel am konkreten Erfolg der Aktion blieben. Selbst als
der erste Startversuch scheiterte, blieb die Bereitschaft zur Auf-
arbeitung der Ursachen und zu einem neuen Start. Dieser ist wieder
über die Presse vermittelt, allerdings haben dieses Mal schon die
Jugendlichen die Pressekonferenz abgehalten und drangen darauf, daß
ihre Namen in der Zeitung erscheinen.
Sie konnten und wollten die Projektidee trotz der gerade bestätigten
Skepsis nun selber vertreten. Auch hier lief der Lernprozeß der
Gruppe nicht etwa über eine Kritik des Autoverkehrs und seine Folgen
für die Wohnbedingungen, sondern über ein weitgestecktes Projektziel,
das indirekt Lernprozesse in Gang setzt, wenn man sich erst darauf
eingelassen hat.
Im letzten Beispiel wird zudem eine andere Dimension der Alltags“
orientierung des Projekts deutlich. Die Arbeitsgruppenarbeit ist
nicht auf private Zirkel, sondern auf Öffentlichkeit angelegt, zu”
nächst die der anderen Jugendlichen des Projekts, dann des Stadt-
teils und schließlich der lokalen Presse. Derartige Gruppenprozesse
bedeuten implizit einen stärkeren Legitimationsdruck, d.h. auch den
Zwang, zu den eigenen Unternehmungen zu stehen, sich damit auseinan-
derzusetzen. Dies nimmt den Arbeitsgruppen den unverbindlichen und
bliebigen Charakter von bloßer Beschäftigungstherapie. Gleichzeitig
verlieren diese Öffentlichkeitsbereiche ansatzweise ihren abge-
hobenen Herrschaftscharakter. Sie werden in kleinen Schritten an= ,
geeignet, wenn der Übergang von einer demonstrativen Projektöffentlich-
keit zur Veröffentlichung von einzelnen Projektansätzen der und durch
die Jugendlichen gelingt.
einer Lern-
zahlreiche
ihre Probleme
Gruppenarbeit wird für die Jugendlichen jedoch nur zu
situation, mit der sie produktiv umgehen können, wenn
Bedingungen, die sich besonders auf ihre Bedürfnisse,
und Situationsdeutungen beziehen, durch die Strukturierung jeder
einzelnen Sitzung erfüllt werden. Sie lassen sich am ehesten beschreiben,
wenn benannt wird, was Gruppensitzungen jenseits der namensstiften-
den Inhalte und der damit verknüpften vielfältigen praktischen Be-
tätigungsmöglichkeiten auch sind:
Sie sind ein in den eigenen Alltag eingebetteter Treffpunkt mit an-
deren Jugendlichen. Hier gibt es einen regen Austausch über den
täglichen Ärger, die Möglichkeit sich für gemeinsame Aktionen, für
die Kneipe etc. zu verabreden. Hier werden auch Lehrstellen unter-
einander "vermittelt", die Schüler bekommen Tips für das Einstellungs-
gespräch von den älteren Lehrlingen etc. Dieses Interesse kann Flauten
der inhaltlichen Arbeit ebenso überstehen helfen, wie auch die Gruppen-
arbeit eine-im Vergleich zur Situation im Jugendhaus oder in der
Clique-größere Legitimität und Verbindlichkeit der gemeinsamen Treffs
entstehen läßt, zumal gemeinsame Essen und Wochenendsminare intensivere
Kontakte zulassen als die meisten Alltagssituationen.
Die Mitarbeiter werden oft zu stabilen Orientierungspunkten für die
Jugendlichen, werden ins Vertrauen gezogen, um Rat in kritischen
Situationen gefragt-ein Prozeß, der an Qualität und Dichte gewinnen
kann, da er sich teilweise über Jahre erstreckt. Anders als in den
meisten Lernsituationen haben die Teamer in der Arbeitsgruppensituation
den Vorzug, bei bewußt lockerem Arbeitsstil von institutionellen
Zwängen (wie sie sich z.B. schon aus den räumlichen und zeitlichen
Bedingungen von seminaristischer Arbeit ergeben) relativ befreit zu
sein und sich damit auch stärker auf die Motivationsstruktur und den
Alltag der Teilnehmer in ihren aktuellen Veränderungen beziehen zu
können.
Neben den positiven Erfahrungen mit dem Arbeitsgruppenansatz sind
vor allem die integrativen Ansätze hervorzuheben. Besonders geeig-
net war der Ansatz des ersten Zeltlagers, wo sich über die not-
wendigen Arbeitsprozesse völlig unterschiedliche, teilweise mit
wechselseitigen Vorurteilen belastete Gruppen von Jugendlichen
zusammenfanden. Vor allem für die jüngeren und mit Diskriminierungs-
erfahrungen belasteten Jugendlichen (z.B. Sonderschüler) ergaben
sich durch das Zusammensein mit den "Erwachsenen" eine Fülle von
Bestätigungsmöglichkeiten und Lernchancen, verstärkt durch die vom
Team praktizierte und durchgesetzte Gleichbehandlung der Teilneh-
mer und Arbeitsansätze, die keine neuen Ausgrenzungen produzierten
oder bestehende auflockerten. Perspektivisch bedeutsam dürfte zu-
sätzlich gewesen sein, Jugendliche kennenzulernen, die auch im
Stadtteil erreichbar sind.
Die Verdichtung der Kommunikation unter den Jugendlichen durch die
Projektangebote führte in der praktischen Arbeit im Stadtteil zu
gegenläufigen Prozessen. Zum einen beteiligte sich phasenweise
nahezu ein komplette Freizeitclique von 40 bis 50 Jugendlichen
in irgendeiner Weise an unseren Angeboten und es herrschte der
Eindruck vor, daß diese Cliquen sich dadurch stabilisieren, neue
Impulse erhalten. Auf der anderen Seite öffnete die Projektarbeit
diese Cliquen, ermöglichte Jugendlichen den Zugang, strukturierte
sie damit teilweise um oder stellte sie implizit in Frage, wo sie
lediglich als konsumorientierte Freizeitgruppen am Wochenende
funktionierten.
116
Im Verhältnis zu den weitgesteckten Zielsetzungen des Projekts
scheinen die hier beschriebenen Lernprozesse und Entwicklungen
weit zurückzubleiben. Wir haben trotzdem den Findruck, daß die
ursprünglichen Perspektiven im Prinzip gangbar sind, wenn auch
nach drei Jahren Praxis der Zeitraum der Realisierung wesentlich
länger erscheint als ursprünglich angenommen. Die bewußten Wahr-
nehmungen von Lebensbedingungen im Stadtteil, in der Arbeit und
im Elternhaus ist ein langwieriger Lernprozeß, in dem die Natur-
wüchsigkeit der eigenen Lebensbedingungen schwindet und diese all-
mählich machbar und veränderbar erscheinen. Dieser Aneignungsprozeß
ist tief in die eigene Identitätsbildung eingebettet und nicht durch
pädagogische Curricula planbar. Mit dem Projekt wurden jedoch Rahmen-
bedingungen geschaffen, die als Lernsituationen im Alltag diese Per-
spektive begünstigen. Das Maß an Selbstbewußtsein und Selbständigkeit,
das sich ein Teil der im Projekt engagierten Jugendlichen erworben
hat, lassen perspektivisch die Hoffnungen auf eine eigenständige
Weiterführung einiger Projektansätze zu, wenn auch gegenwärtig ohne
letzte Gewißheit. Immerhin gibt es seit Ende 1980 einen von den Ju-
gendlichen getragenen gemeinnützigen Verein, der-unabhängig von
"Arbeit und Leben'"-demnächst eine Stadtteilzeitung herausgeben will.
GROSSES FAHRRADHIN-
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DAS RADFAHREN AUCH BEI UNS IMMER MEHR INTERESSE. FAHRRADFAHREN IST ENDUCH
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INFORMATIONSDIENST
GESUNDHEITSWESEN
KRITIK
DER
PSYCHOSOZIALEN VERSORGUNG
Ausserdem: Zum Tode von Franco Basaglia è
Sozialhilfe-Aktion — 2. Runde e Termine und Hinweise
Offenbach /Stuttgart, im November 1980
Doppelnummer - Preis DM 6,-
Rolf Schwendter
OKOLOGIE, SOZIALARBEIT, ARBEITSFELDER
— Einige deprimierte Notate —
1. Lange habe ich gezögert, diesen Arbeitsauftrag doch noch zu er-
füllen. Eine Organisation in der Krise, die zudem weit über diese
Organisation hinausgreift: nicht gerade sehr motivierend für eine
Niederschrift, deren heimliches Curriculum die konstruktive Erweite-
rung der Organisation sein sollte.
Zumindest wollte ich die Ergebnisse der Marburger Arbeitsgruppenta-
gung abwarten - wozu über etwas schreiben, was ohnehin schon abge-
schafft sein könnte? (In einer kleinen Organisation ist Abschaffen
immer leicht).
2. Ich schreibe also für eine Publikation im Umkreis des SB über et-
was, das es dort organisiert nicht gibt. Es gibt kein "Arbeitsfeld
Ökologie", das mit dem Arbeitsfeld Sozialarbeit in einen vereinbarten
Diskurs treten könnte, wie sich die beiden Gegenstände ineinander ver-
mitteln. Aus der Logik des SB heraus wohl, weil es keine Interessen
an Ökologie gäbe, die sich organisieren könnten.
3. Denn, seinem Anspruch nach, orientiert sich das Sozialistische Büro
immer noch am seinerzeitigen Aufsatz von Oskar Negt " Nicht nach
Köpfen, sondern nach Interessen organisieren". Dieser Aufsatz war
zur Zeit seiner Entstehung der zeitgenössischen Organisationsdebatte
weit voraus; zu befürchten ist, daß dies acht Jahre später, noch 3
immer gilt. Und zwar einschließlich des Sozialistischen Büros, soweit
sich dies an dessen stattgefundener Geschichte ablesen lässt.
4. Der genannte Aufsatz hatte sehr viele Vorzüge und einen Fehler.
Zu den Vorzügen zählten:
© Die Erkenntnis, daß mit Notwendigkeit Sozialisten der Siebziger-
jahre aus einer Vielfalt von Begründungen, Interessen, Bedürfnissen,
Verletzungen etc. heraus die Unverträglichkeit der bestehenden Gesell-
schaftsordnung erkannt haben (eine Vielfalt, die selbst aus der |
ständig wachsenden Heterogenität der nicht-bürgerlichen Klassenstro”
mungen entspringt).
© Die entsprechende Erkenntnis, daß es folglich hinsichtlich der Or-
ganisierung von Sozialisten keine andere Möglichkeit gäbe, als bei
den je zutreffenden Momenten dieser Vielfalt anzusetzen, und den Weg
zu folgen, der diese Momente mit Notwendigkeit in den Zusammenhang
einer Totalität stellt.
© Die implizite Aufforderung an alle dem SB nahestehenden/angehörigen
Sozialist(inn)en, sich darüber klarzuwerden, worin denn diese spezi-
fischen Interessen an gesellschaftlicher Veränderung bestünden.
5, Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich 1973 hinsetzte, und
meine Interessen auf ein Blatt Papier niederschrieb. Ich kam auf unge-
119
fähr 18 Stück; ich krieg sie jetzt sicher nicht mehr alle hin: gut
essen; kein Berufsverbot bekommen/nicht arbeitslos sein; in Frieden
leben; eine angenehme Wohnung (ohne Beton etc.) zu erträglichen Prei-
sen mieten können; sich mit Hilfe von öffentlichen Verkehrsmitteln
bewegen; mit Frauen sexuelle Beziehungen haben; in gesunder Umwelt
leben; gesund bleiben und im Falle der Krankheit keine Ärzte bean-
spruchen müssen; die Irrenhäuser abschaffen; kritische Musik machen;
Zeit für Theoriearbeit haben; und wie gesagt, noch einiges mehr.
Das heißt,ich hätte, bei bloß 2 Wochenstunden pro Interesse, allein
36 Stunden zur Organisierung derselben aufzuwenden gehabt.
6. Und hierin lag der Fehler des Negt-Aufsatzes: es gab nicht die ge-
ringste Andeutung eines Kriteriums gemäß welchen zeitökonomischen
Präferenzen die Organisierung nach Interessen erfolgen könnte.
Dies setzte sich in der Diskussion fort.
Es gab folglich letztlich 2 (widersprüchliche) Möglichkeiten:
entweder von einer Pluralität, gar einer "Flut" (Theweleit) von In-
teressen auszugehen, die ihre Präferenzen relativ rasch wandeln, und
sich demgemäß (auch evt. rasch flukturierend) zu organisieren.
Das taten die verschiedenen Spontis, Umweltgruppen, Frauenzentren,
Psychogruppen (die 1973 noch gelegentlich "Emanzipationsgruppen"
hießen) - die dann auch entsprechend bald (abgesehen von Punktuellem)
wenig mit dem SB im Sinne hatten. Oder ein einziges, jahrelang fixes,
präferierendes Interesse zu unterstellen, das letztlich wieder auf
die Organisierung eines Kopfes, vermittelt über ein Interesse, hin-
auslief. Dies geschah, in Etappen, im SB.
7. Der (zunächst und implizite) Zwang, sich in einer relativ kleinen
Organisation (in der die Variationsbreiten eines Charles Fourier
schon von der Zahl her auf lokaler Ebene nicht gegeben war) nach Ar-
beitsfeldern zu organisieren, führte zunächst zu den zwei Wegen des
geringsten Widerstandes: die Abstraktion als Gegenstand, oder der
(auch zukünftige) Beruf als Gegenstand.
Da das erstere womöglich noch unbefriedigender war (in Heidelberg z.B.
gab es für kurze Zeit ein "Arbeitsfeld Emanzipation"), reduzierte es
sich in kurzer Zeit auf das zweitere. Was zu der Erscheinung führte,
die früh und folgenlos als Syndikalisierung der Arbeitsfelder be-
klagt worden ist.
8. Es entstanden als die "klassischen" Arbeitsfelder: Betrieb/Gewerk-
schaften, Schule, Sozialarbeit, Gesundheitswesen, Bildungsarbeit,
später Kirche und Antimilitarismus. Es entstanden eine Reihe von Ar-
beitsfeldern nicht: Wissenschaftsarbeiter, Studenten/Hochschule,
Medienarbeit. Der Rest blieb außen vor.
Das Ergebnis war ein mehrfaches: Zum einen die teils explizite, teils
implizite Ausgrenzung aller Sozialisten, deren hierin nicht enthaltene
Interessen gerade die Präferenz derjenigen hatten.
Zum zweiten ein Eindringen der Abstraktion vom Interesse in die Ar-
beitsfelder selbst( Bitte mir den Genossen zu zeigen, der am Betrieb
an sich interessiert ist!)
Zum dritten führte beides zu einer zunehmenden Beliebigkeit, verstärkt
von lokalen Zufälligkeiten, in der Zuordnung zu Arbeitsfeldern.
Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis jedes bestimmte, jedes be-
sondere Interesse ausgelöscht war.
120
9. Um die historische Beschreibung zur Struktur zurückzuvermitteln,
drückte die genannte Entwicklung aus:
® den jedenfalls quantitativ geänderten Stellenwert der lohnabhängigen
Kopfarbeit (und den daraus entspringenden Doppelcharakter, siehe hof-
fentlich unten);
© den Widerspruch zwischen der traditionell (mit guten Gründen) er-
folgten Produktionsorientierung von Sozialist(inn)en und der zuneh-
menden Obsoletheit bürgerlicher Produktion selbst;
© die Unklarheit der Vergesellschaftungsformen lohnabhängiger Kopf-
arbeit. ;
10. Ich halte es für verdienstvoll, daß im SB im Zuge der Ökologie-
Debatte (etwa Kritik an Otto Ulrich, der in Umkehr einer ebenfalls
älteren Tradition dazu neigt, Marx mit Kautsky zu verwechseln) wieder
begonnen worden ist, auf den Begriff der "Vergesellschaftung' zu re-
flektieren. Nur besteht die Gefahr, daß die "Vergesellschaftung" die
nächste fetischisierbare Abstraktion wird, wenn nicht im einzelnen
untersucht wird, wie sie in den jeweiligen Produktionseinheiten,
Branchen, Berufen erfolgt. Hinsichtlich der lohnabhängigen Kopfarbeit
ist etwa zu sagen, daß in ihrem Rahmen die ganze Reichweite von der
dritten reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital (z.B. Tech-
niker, die nach EDV-Vorlagen zeichnen) bis zur gleichsam unabhängigen
Privatarbeit (z.B. Schriftsteller) vorhanden ist.
11. Die meisten im Umkreis des SB organisierten lohnabhängigen Kopf-
arbeiter befinden sich da irgendwo zwischendrin. Im allgemeinen sind
sie weder so sehr durch eine ihnen äußerliche Maschinerie fremdbe-
stimmt (oder wie ich immer die Analogie nennen soll: als Staatsar-
beiter z.B. sind sie nicht unter das Kapital subsumiert), daß unver-
mittelte Auflehnung und Apathie die Folge wäre. Noch arbeiten sie ge-
meinhin so unabhängig, daß sie sich ein bestimmtes Bild solidarischer
Kooperation machen könnten, aus dem sich auch eine planvolle Strate-
gie ergeben könnte. Ihr Arbeitsplatz (sofern vorhanden) ist einer
ihrer Interessen, aber eben e i ne r ihrer Interessen,
12. Daraus ergibt sich auch, daß ich eines der meistgenannten Argu-
mente gegen die Arbeitsfeldstruktur (das seinerseits bereits unhinter-
fragt von der Syndikalisierung ausgeht) für pure Mythenbildung halte:
Daß diese ihr Entstehen Reformillusionen zu verdanken gehabt hätte,
und mithin, mit dem Ende der Reformeuphorien, überflüssig/überfällig
geworden sei.
Nun will ich keineswegs in Abrede stellen, daß es hier ein Nord-Süd-
Gefälle gegeben haben mag: im Hessen Oswald/Friedeburgs oder in
Berlin konnten sicher Reformillusionen eher aufkommen, als dies schon
1973 in Bayern oder Baden-Württenberg der Fall war. Dies war keine
Spezialität des SB, dies gab es anderswo auch( etwa im BdWi, wo sei-
tens der aus sozialliberal regierten Ländern kommenden Mehrheit auf
Probleme, die Süd-Mitglieder z.B. mit dem BuFW hatten, mit völliger
Verständnislosigkeit reagiert wurde). Aber dies trifft, meine ich,
nicht den Kern. Die meisten lokalen Arbeitsfelder waren garnicht in
der Lage dazu, ihre Praxis aus Reformillusionen zu speisen, weil sie
hinlänglich mit den Problemen ihrer eigenen Vergesellschaftung befaßt
121
waren, und das auf dem kleinsten Nenner der sie übergreifenden Ab-
straktion (z.B. "Schule"). Nicht selten ein zusammengewürfelter Hau-
fen auf der Suche nach seinem Gegenstand, war es kaum möglich, von
einer auch nur syndikalistischen Organisierung zu sprechen, geschweige
denn von einer Organisierung nach Interessen.
13. Das Sinnbild syndikalistischer Organisation ist jene Skizze, die
die Industrial Workers of the World "Vater Hagertys Glücksrad' nan-
nten (ein Abglanz findet sich in manchen Rätemodellen nach der No-
vemberrevolution). Hier sind in Radform alle arbeitenden Branchen
angeordnet, die Gebrauchswerte für die Gesellschaft beitragen, und
- vorweggenommen in den IWW, später auch in der sozialistischen Ge-
sellschaft - auch sich entsprechend selbstverwalten.
Sehen wir uns das'Glücksrad' des SB an, wird uns auffallen, daß eine
Menge Speichen fehlen. Der handarbeitende Bereich hieß schlicht "Ar-
beitsfeld Betrieb und Gewerkschaft" (mich wundert es bis heute, daß
nie jemand/jefraud auf die Idee kam, Arbeitsfelder Metall, Energie,
Chemie, Post anzuregen), während im kopfarbeitenden Bereich die oben-
genannten Speichen vorhanden waren, oder auch nicht. Mag sein, daß
dies mit der zugenommen habenden Austauschbarkeit in der materiellen
Produktion zusammenhing; doch war diese im intellektuellen Bereich
auch nicht gerade ohne. So weiß ich bis heute nicht (über meine In-
teressen siehe oben), ob ich "eigentlich" zu den (nicht - mehr - vor-
handenen) Wissenschaftsarbeitern, Medienarbeitern, Lehrern (GEW! ob-
wohl die Hochschule hier auch eher das 8.Rad am Wagen bildet), Sozial-
arbeitern oder Gesundheitsarbeitern gehöre. (Daß ich sowohl in Heidel-
berg als auch in Kassel bei den letzteren gelandet war, verdankt sich
jeweils eher einer Reihe von Zufällen). Mit Interesse lese ich, daß
nunmehr an eine Art Super-Arbeitsfeld Schule - Sozialarbeit - Gesund-
heitswesen - Bildungsarbeit gedacht wird: hier wird der zunehmenden
Austauschbarkeit des lohnabhängigen Kopfarbeiters Rechnung getragen,
wenngleich um den Preis einer noch weiteren Abstraktion von den
"organisationsfähigen Interessen".
14. Kaum war eine (unterschiedlich provisorische) Vergesellschaftung
im Rahmen der syndikalistischen Verkürzung der Arbeitsfelder erfolgt,
gab es auch schon eine doppelte Bewegung: zum einen der wiederholte
(und in Göttingen halbwegs geglückte) Versuch, nun auch noch diese
Arbeitsfelder (jedenfalls lokal) halbwegs absterben zu lassen, um
im SB zu einer noch weitergehenden Abstraktion voranschreiten zu
können. Zum anderen die Leute, die sich nun in der Tat nach Interes-
sen organisierten, in Bürgerinitiativen, Frauen-, Männer-,Schwulen-
gruppen, alternativen Projekten etc.. Die taten dies aber nun außer-
halb des SB.
15. Oskar Negt und Alexander Kluge haben einmal über die "Lagermentali-
tät" der historischen Arbeiterparteien geschrieben und ihren Doppel-
charakter (als Bündnishindernis und als "Heimat') herausgearbeitet.
1976 - 1978 befand ich mich in der genau konträren Situation: nichts,
was mit meinen unter 5. genannten Interessen zu tun hatte, hatte noch
mit dem SB zu tun; nichts, worin ich mit dem SB zu tun hatte, hatte,
außer in höchst vermittelter, sporadischer und abstrakter Form, noch
mit meinen Interessen zu tun. Von Ausnahmen abgesehen (z.B. Russell-
Veranstaltungen; Bloch-Tage; lokales Arbeitsfeld Gesundheitswesen -
in dem ich das einzige SB-Einzelmitglied bin! -; AG-Tagung "Politische
Sozialisation"), hat sich bis heute nicht viel daran geändert.
Statt Lagermentalität: Stranger in a strange land.
war ich in Kassel
zu illustrieren,
der seiner-
16. In den gleichen Jahren, um 14.
der Stadtzeitung,
an den Gründungen der Sozialtherapie,
zeitigen AG "Kunst und Medien" (hieran schloß sich der Aufruf für das
Arbeitsfeld Medien, der mir zwei Zuschriften und eine ironische Glos-
se der Marxistischen Gruppe in den "Resultaten 2/7 " einbrachte), der
Freien Internationalen Universität im Kommunikationszentrum Werkstatt,
des Netzwerkes Selbsthilfe und des Regionalbüros der AG SPAK betei-
ligt. Als mir noch, bei gegebenem Anlaß, angeheischt wurde, auch noch
eine alternative Schule zu gründen, langte es mir. Hier hätte ich eine
Organisation brauchen können, in der eine übergreifende Organisierung
nach Interessen stattfindet. Gab's aber nicht.
in individuelles Pro-
B verließen
SB nicht nur
n Tabu darstellt),
les sei me
Dieter Duhm das 5
daß Sexualität im
17. Zunächst dachte ich noch, dies al
blem. Als 1976 Aike Blechschmidt und
(letztlich eine Folge der Tatsache,
als nicht organisationsfähig gilt, sondern weithin ei
dachte ich, es sei auch noch das individuelle Problem anderer.
Skeptisch wurde ich, als ich erfuhr, es gäbe eine Männergrupp®» die
zwar selbstverständlich kein Arbeitsfeld im lokalen SB sei, aber aus-
schließlich aus SB-Mitgliedern bestünde. Vollends überzeugt von der
Richtigkeit meiner Position wurde ich, als ich eine Art Erhebung las,
wo nun überall die einzelnen SB-Leute tatsächlich politisch tätig
sind: das war ein Panorama der Organisierung n n ohne
: s wa ach Interesse
syndikalistische Verkürzung, nur halt,leider, ohne Organisation.
18. In diesem skizzierten Raum, bestimmt durch immer engere Abstrak-
immer weitergehenden Fragmentierungen auf
tionen auf der einen Seite,
der anderen, prallen nun Ökologie und Sozialarbeit aufeinander.
Ökologie steht nun für das Ganze, gleichwohl konkretisiert in der Not-
wendigkeit von Dezentralisierung und Selbstregulierung - also eine
für die bestehende Gesellschaft vollends realutopische Konstellation.
Sozialarbeit ist eine spezifische Form der Trennung, ausgeübt von
Experten an Personen, welchen die "eigenen Wesenskräfte" ("forces
propres") bereits soweit enteignet worden sind, daß sie dieser Ex
perten bedürfen. Käme der Begriff von Ökologie zu seiner Wirklichkeit,
gäbe es keine Sozialarbeit mehr.
19. Erschwert wird die Lage dadurch, daß Ökologie wie Sozialarbeit
Produkte der lohnabhängigen Intelligenz einschließlich ihrer litera-
e Tochter
Ökologie ist nicht zufällig ein c
Haeckel und Bogdanow, nicht erst bel
Totalität auf System zu reduzieren,
selbstredend mit den passenden Systemingenieuren (auch wenn sie als
Priester der Wahrheit und Schönheit verkleidet sind). 3
Die Sozialarbeit wiederum tritt ebensowenig zufällig auf, wenn die
Arbeiterbewegung eine Niederlage erlitten hat: das Elberfelder Modell
nach 1848; in der Weimarer Republik; nach dem New Deal etc. ~ wieder”
um mit den passenden Helfern. In einem Sozialismus, der den Namen
"ökologie"
verdiente, weswegen er noch lange nicht real ist, wäre
schadlose Produktion und "Sozialarbeit" gegenseitige Hilfe.
20. Oben habe ich erwähnt, daß den bestehenden Bewegungen (wie das
SB als Moment dieser) der Widerspruch zwischen traditionell erfolgter
Produktionsorientierung und zunehmender Obsoletheit bürgerlicher
Produktion selbst zu schaffen macht. In Vater Hagertys Glücksrad
rischen Vertreter sind. Die
des Monismus, die schon bei
Meadows, eine Neigung verspürt,
123
mußte nur noch die bestehende Produktion in Räteform gebraucht wer-
den; bei Fourier, Marx, Engels, Bebel, Ballod, Popper-Lynkeus,Kropotkin
spielt die Produktionskritik eine nicht so bedeutende Rolle.
Allenfalls die Produktion von Waffen, Alkohol, Tabak wird hinterfragt,
der Stellenwert der Luxusproduktion, und, umfassender, als es das
Gerücht meldet, vermeidbare ökologische Folgen. (Die sozialistische
Ökologiediskussion etwa von Fourier über Bebels Plädoyer für die
Sonnenenergie bis hin zu etwa 1914 zählt überhaupt zu dem, was
J.E. Seiffert einen "unterdrückten Bildungsinhalt'" nennen würde).
Derzeit sind wir glücklich so weit, daß es kaum noch ein Produkt gibt,
bei dem nicht in Frage gestellt werden kann, daß, oder wie, es pro-
duziert wird.
21. Solcherarts gerät der Begriff der Produktion in das Zentrum der
Überlegungen. Schon Rosdolsky hat an Hilferding die Reduktion des
Gebrauchswerts auf das Wort von "Warenkunde" kritisiert: jedoch
nicht einmal der letztere Anspruch wird erfüllt, wo doch, indem alles
zur Ware geworden ist, die "Warenhunde'" die Totalität alles dessen
beinhaltet, was nicht von der Wertformanalyse impliziert ist.
Das Problem der Ökologie stellt sich dort, wo sich das Problem der
Produktion stellt: die Produzenten produzieren gleichzeitig Güter,
Schäden, und Güter, die Schäden sind. Das Problem der Ökologie ist
das der "zweiten Natur": eine "ökologische Nische" (im buchstäblichen
Sinne) ist eine, in der nicht produziert wird. Gleichzeitig wird
(ich verkürze) zum Problem der Sozialarbeit die Produktion von Sozial-
isation, wie im "Jahrbuch der Sozialarbeit II" von Barabas u.a.
detailliert herausgearbeitet wurde. Wieder könnten wir pointieren:
die Produzenten produzieren gleichzeitig die Aneignung der "eigenen
Wesenskräfte" ihre Enteignung, und ihre scheinhafte Aneignung, die
real eine Enteignung des "Klientel" darstellt. (Weitere Bestimmungen
wären mühelos auszumachen; dies würde den Rahmen dieser Notate
sprengen).
22. Daß unter den bestehenden Bedingungen tendenziell alles zur
Produktion wird (Produktion von Beziehungen; von Kreativität; Sexuali-
tät als geistige und als körperliche Arbeit; Produktion der "lebend-
igen Mitte"(R. zur Lippe) etc.), hat wiederum zweierlei zur Folge.
Einmal zeigt sie auf, wie allumfassend der Entfremdungszusammenhang
bereits geworden ist, da es untersuchbar wäre, welche Produktion
wie formell oder reell unter das Kapital (oder in Analogie dazu)
subsumiert ist. Zum anderen macht sie es wiederum denkbar, daß
Produktion diesen Entfremdungszusammenhang abstreifen und zu einem
"ersten Lebensbedürfnis" werden könnte. Nichts anderes versuchen,
in bornierter Form, die realen alternativen Bewegungen.
23. Wenn auch die Formulierung, die Bourgeoisie habe Lehrer,Pfaffen
etc. in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt, bereits von Marx
und Engels stammt, hieß Produktion in der Geschichte zunächst
materielle Produktion, Produktion von Gütern( und Schäden, und Gütern,
die Schäden sind) - selbst die gleichzeitige Produktion von Bezie-
hungen innerhalb der materiellen Produktion wurde kaum vor 1928 be-
arbeitet. Nicht nur traten materielle und nicht-materielle Produktion
immer mehr auseinander (ein Prozeß, dessen Anfänge bereits Marx be-
schreibt), sondern die quantitative Bedeutung verschob sich zu-
gunsten der Letzteren. Ich will die Gründe hier nicht wiederholen,
124
kurz: auch bei vorsichtiger Extrapolation werden wir um 2000 in der
BRD an die 1o Millionen Intellektuelle haben. An die 90% davon
werden wohl lohnabhängig sein, bzw. der "Reservearmee" angehören.
Ihr Dominieren in so gut wie allen Organisationen, die sich zur
Arbeiterbewegung zurechnen, in so gut wie allen alternativen Bewe-
gungen, und in einer Reihe von bürgerlichen Einrichtungen, gibt ei-
nen Vorschein ab (siehe z.B. Kursbuch 45; eine detaillierte Analyse,
die auch eine Zusammenschau aller Momente von Klassenanalyse des
letzten Jahrhunderts umfassen müßte, kann hier nicht gegeben werden).
24. Die lohnabhängigen Kopfarbeiter (welcher Klassenströmung nicht
nur der Autor, sondern wohl auch ein Großteil der Leser zugehören
dürfte) wiederholen den Widerspruch der Ware Arbeitskraft auf ihre
Weise. Zum einen sind sie fähig, massenweise (und chaotisch und
unüberschaubar) Ideen zu produzieren (die ja auch gebraucht werden;
siehe auch 21). Zum anderen müssen sie leben, d.h. ihre Arbeitskraft
als Ware verkaufen, mit allen bekannten Nebenfolgen: Arbeitslosig-
keit/Anziehung und Abstoßung, gewerkschaftliche Organisierung,
Konkurrenz.
Am ehesten können sie leben, wenn sie zu Experten werden, also z.B.
zu Sozialarbeitern, Lehrern etc. Damit muß sich aber ein großer Teil
von ihnen gerade in jenen Gegensatz zu den lohnabhängigen Handarbei-
tern, ihrer Reservearmee, ihrer Frauen, Kindern etc. stellen, den
er auf Grund seiner eigenen Ideenproduktion zu vermeiden beabsichtigt.
Das scheint mir der materielle Kern der Experten-Kritik Ivan Illichs,
der Ärzte-Psychologen-Sozialarbeiter-Kritik der Patientenfront, der
Institutionen-Kritik Michel Foucaults zu sein (sehr verkürzt).
25. Daraus ließe sich erklären:
® Die immer weitergehende Enteignung der "eigenen Wesenskräfte"
der lohnabhängigen Handarbeiter, auch dort, wenngleich im vermit-
telten Zusammenhang, wo es nicht unmittelbar durch die bestehende
Formbestimmung des industriellen Produktionsprozesses erheischt
wird.
© Die vielfältigen Formbestimmungen der Konkurrenz lohnabhängiger
Kopfarbeiter (siehe dazu mein Papier "Über den Aufbau und Abbau
von Gruppen" im SPAK-Forum 7/80).
26. Gleichzeitig ist bekanntlich (z.B. "Philosophisch-ökonomische
Manuskripte") der lohnabhängige Handarbeiter von Produktion,Produkt,
Produzenten und sich selbst getrennt. Entsprechend nimmt es nicht
wunder, daß er den ökologischen Gesamtzusammenhang der Produktion
nicht durchschaut, zumal, wenn an dessen Negation noch der Verkauf
seiner Ware Arbeitskraft hängen sollte ("Arbeitsplätze!").
Doch sollte darüber der lohnabhängige Kopfarbeiter nicht vorschnell
frohlocken; ihm geht es in Zusammenhang seiner Produktion nicht
anders. Paradoxerweise könnten wir einen weiteren Zusammenhang
zwischen Ökologie und Sozialarbeit negativ formulieren: ebensowenig
wie der lohnabhängige Handarbeiter die ökologischen Folgeschäden
seiner Produktion überschaut, überschaut der lohnabhängige Kopfar-
beiter die Folgeschäden seiner pädagogischen, therapeutischen
etc. Expertentätigkeit.
27. Auf die erkenntnistheoretischen Folgen der zunehmenden Wichtig-
125
keit einer ökologischen Produktionsform will ich hier nicht hinwei-
sen - ich habe dies an anderer Stelle getan (Kursbuch 53).
Nun setzt eine Reihe anderer Autoren an den genannten Entwicklungen
lohnabhängiger Kopfarbeit an. Die Verallgemeinerung der Produktion
ist Leitthema (und materieller Kern) von Deleuze und Guattari.
Wo die Produktion der Wünsche in die Güterwelt gerät, ist die Wunsch-
maschinerie nicht weit (wobei die Autoren die bereits vorliegenden
Widersprüche Lewis Mumfords bruchlos übernehmen).
Wo die Fragmentierung des Einzelnen durch seine konkurrierenden In-
teressen und Bedürfnisse weit fortgeschritten ist, können Deleuze
und Guattari formulieren, jedes Individuum sei schon eine Gruppe.
In derKonkurrenz lohnabhängiger Kopfarbeiter fundiert sich u.a.
Paul Feyerabends "Alles geht" - es wäre ja noch schöner, wenn nicht
auch noch Experten für indianische Regentänze, für das I Ching, für
die Astrologie ihr Unterkommen fänden.
28. Solcherarts erweist sich Oskar Negts eingangs zitierter Aufsatz
als eine Art Zwölftonmusik der politischen Organisation, der durch
die erfolgte Rückkehr zu Richard Wagner oder Gustav Mahler nicht
beizukommen ist. Als allzu avantgardistisch syndikalistisch zurück-
genommen, diente er eher, wie aus der Retrospektive sicher leichter
zu erkennen ist, dazu, noch das zu vereinen, was als auseinander-
brechendes schon zu erkennen war: Ein "Rhizom" (Deleuze/Guattari,
auf deutsch: Geflecht) aus Arbeitsfeldern, das sich aber bei der
"Flut" konkurrierender Interessen noch aufeinander bezieht.
"Alles geht", aber es geht exemplarisch, und nie ohne Bezug auf
den Zusammenhang der Vielfalt in der Totalität. Der Rest war Reduktion.
29. Reduktion zu der vielbeschworenen "Priorität von Betrieb und
Gewerkschaft" auf eine einzige Form der Produktion, nämlich die
fabrikförmige, und zwar von Gütern (und nicht einmal "in letzter
Instanz", wie es in den "Grundrissen" so schön heißt).
30. Reduktion :im Arbeitsfeldsyndikalismus auf die dort vorliegenden
Experteninteressen und ihre notwendig provisorischen Formen der
Vergesellschaftung (wann hätten denn je Eltern und Schüler im Ar-
beitsfeld Schule das Sagen mit gehabt? Wann Klienten im Arbeitsfeld
Sozialarbeit? Wann Patienten im Arbeitsfeld Gesundheitswesen?).
31.Reduktion in den realen Bewegungen und ihrer Splittergruppen
auf ihr je besonderes Interesse, das in bester Tradition als das
allgemeine ausgegeben werden konnte.
32. Reduktion schließlich von allen nur denkbaren Arbeits- und Lebens-
zusammenhängen (dies etwa die Position Wolfgang Harichs), wo durch
selbst so überlebensnotwendige Ziele sozialistischen Handelns wie
Kampf gegen die Kriegsgefahr und Verhinderung ökologischer Katastroph-
en zu Abstraktionen gerinnen, die in den Strudel konkurrierender In-
teressen hineingezogen werden.
33. Reduktion, nein danke.
%*
126
BERICHTE, HINWEISE, MATERIALIEN
© "Kinderhorte - Sozialpädagogische Einrichtungen oder Bewahranstalten"
- Ergebnisse einer empirischen Untersuchung am Institut für Sozial-
forschung; nähere Informationen bei: Institut für Sozialforschung,
Senckenberganlage 26, 6 Frankfurt 1.
© Bund Deutscher Pfadfinder verstärkt Arbeit mit Kindergruppen in So-
zialen Brennpunkten
Vom 30. Januar bis l. Februar fand in ST. Johann bei Bad Kreuznach
ein Seminar des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP/BDJ) zum Thema "Ar-
beit mit Kindern aus Obdachlosengebieten und Sozialen Brennpunkten"
statt. Es nahmen Gruppenbetreuer aus Mainz-Zwerchallee, Bad Kreuz-
nach-Rolandsbogen und Koblenz-Am Fort Konstantin teil. Die Teilneh-
mer berichteten über ihre Arbeit und tauschten Erfahrungen aus. Bei
diesem ersten überregionalen Seminar standen Probleme der Finanzie-
rung, der Elternarbeit, der räumlichen Voraussetzungen und die Zu-
sammenarbeit mit sozialen Einrichtungen im Vordergrund der Berichte.
Für die erste Sommerferienwoche wurde ein gemeinsames Zeltlager ge”
plant und vorbereitet. Dem Ferienlager sollen gegenseitige Besuche
der Kindergruppen vorausgehen.
Zur eigenen Weiterbildung wurden Spiele und Lieder ausgetauscht und
praktisch erprobt.
Dieser überregionale Arbeitskreis, der im Dezember 1980 gegründet wur-
de, wird sich in regelmäßigen Abständen treffen, um gemeinsame Pro-
bleme wie Öffentlichkeitsarbeit, Verhalten der Kinder und Vorurteile
der Bevölkerung zu erörtern und rraktische Fertigkeiten zu erlernen.
Der BDP hat den Bericht der Kinde,gruppenarbeit in Sozialen Brenn-
punkten aufgegriffen, damit dort entstandene Initiativen ein überre-
gionales Diskussionsforum haben und die Einbindung von Kindern und
Jugendlichen aus Sozialen Brennpunkten in bestehende Jugendverbands-
arbeit möglich wird. Weitere Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten,
sind eingeladen, mitzudiskutieren, mitzuarbeiten und mitzulernen.
Kontakt: BDP LV Rheinland-Pfalz, Mühlenstr. 21, 6550 Bad Kreuznach.
© "Kinderkalender 1981" der Bewohnerinitiative Sozialer Brennpunkte
Waldhof-Ost in Mannheim
Die Bewohnerinitiative hat für das Jahr 1981 einen neuen 'Kinderkalen-
127
der' herausgebracht. Der Kalender hat ein Deckblatt, 3 Seiten Text
über die Initiative und die Siedlung sowie 12 Kalenderblätter mit
Kinderfotos und Kalendarium. Der Kalender hat für die Initiative vor
allem 2 Funktionen:
1) Mit dem Kalender soll die Öffentlichkeit auf den Sozialen Brenn-
punkt hingewiesen werden, welche Probleme hier bestehen und welche
Forderungen die Initiative für eine Verbesserung der Wohnsituation
aufgestellt hat.
2) Die Arbeit der Initiative soll in der Öffentlichkeit dargestellt
werden.
3) Mit dem Kalender soll die weitere Arbeit der Initiative finanziert
werden, da sie sonst über keine weiteren Mittel verfügt.
Der Kalender kostet lo,-- DM. Bezug: Sozialaktion, Obere Riedstr. -
Frohe Zuversicht 5-7, 68 Mannheim 31
® Selbsthilfematerialien für Jugendzentren
Die Liste der Literatur von & für Jugendzentren
"Dokumentationen sind wichtig: sie geben die Erfahrungen, die Sehn-
süchte, die Aktionen, Reflektionen und Erfolge oder Mißerfolge wie-
der. Dadurch sind sie eine wichtige Hilfe für andere Initiativen - um
zu sehen, daß wir nicht alleine sind, und um Anregungen und Tips zu
erhalten und um Fehler zu vermeiden."
Über loo Dokumentationen der JZ-Bewegung von 1970 bis heute sind in
diesem Heft aufgelistet, eine jede mit kurzer Inhaltswiedergabe und
der Bezugsadresse. Dokumentationen, die nicht mehr erhältlich sind,
wurden archiviert und können als Fotokopie bestellt werden. Dies ist
ein zusätzlicher Service, der diese Liste mit Leben füllt. Leben spie-
gelst auch das sehr hübsch gestaltete Lay-Out des Heftes wieder. Ge-
sammelt und zusammengestellt wurden die Dokumentationen von einer
Vielzahl von Aktiven der JZ-Bewegung des gesamten Bundesgebietes. Das
Ziel dieser Selbsthilfematerialien ist es die Erfahrungen der letzten
lo Jahre nicht einfach in der Schublade der Geschichte verschwinden
zu lassen. So stellt dann auch die Liste der Literatur nur den ersten
Teil der Selbsthilfematerialien dar. Geplant sind noch weitere Hefte
zu Themen wie Recht, Selbstverwaltung, Öffentlichkeitsarbeit, Foto,
Video, Musik und Film.
Bezug: AG SPAK, München 1981, 62 Seiten, 3.50 + 0.50 DM Porto auf das
PSchK München Nr. 205 47-808 der AG SPAK Reifenstuelstr. 8, 8 München
5, Tel.: 089/775420
Innerhalb dieser Selbsthilfematerialien gibt es auch einen Jugend-
zentrumsfilm auszuleihen
WIR WERDEN KÄMPFEN - WIR WERDEN SIEGEN - EIN JUGENDZENTRUM WERDEN WIR
KRIEGEN
Mainz 1972, 16 mm, 40,-- DM. Bezug über: Thomas Scheuer, Brombergstr.
24, 7800 Freiburg. Diesen Film haben Mainzer Jugendliche in ihrem
Kampf um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum selbst gedreht. Er zeigt
eine Vielzahl von Aktionen: über Go-Ins, Demo bis zur Hausbesetzung
ist alles drin. Somit ist dieser Film eine Fundgrube für die Öffent-
lichkeitsarbeit einer JZ-Initiative!
© BILDER VOM KINDERHAUS
Bilder und Texte vom Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg (163 Seiten:
171 Fotos, Kinderzeichnungen, Texte, Dokumente) DM 20,-- zu beziehen
direkt beim Kinderhaus Neuenheim Humboldtstr. 17, 69 Heidelberg.
128
Der Band ist in halbjähriger Arbeit von drei jetzigen und früheren Be-
treuern der letzten selbstverwalteten Kindertagestätte Heidelbergs ent-
standen und stellt das Kinderhaus Neuenheim als inzwischen lo Jahre
alte Modelleinrichtung eigenverantwortlicher pädagogischer Arbeit dar.
Gleichzeitig schildert er die großen Probleme des Kinderhauses: einmal
die Verweigerung von Zuschüssen durch die Stadt Heidelberg seit 1976,
zum anderen die Kündigung der Räumlichkeiten durch den Vermieter, das
Studentenwerk Heidelberg (dieser Tage erging ein erstinstanzliches
Räumungsurteil).
BILDUNGS- UND ERHOLUNGSSTÄTTE
Liebe Leute,
wir betreiben seit fast zwei Jahren eine Bildungs- und Erholungsstät-
te bei Neckargerach in einem idyllischen Seitental des Neckartales
(45 km von Heidelberg). Für das Jahr 1981 können wir Euch noch plätze
für Seminare und Freizeiten anbieten. Es ist sowohl möglich, daß sie
von uns verköstigt, als auch, daß sich die Gruppe selbst verpflest-
Genauere Information könnt Ihr über untenstehende Anschrift bekommen.
Die Kosten für einen Aufenthalt betragen 9,-- DM bei Selbstversorgung
und 23,-- DM bei voller Verpflegung, desweiteren ist es möglich, daß
wir für Euch das Mittagessen besorgen. Ihr aber selbst das Geschirr
spülen müßt, dies kostet dann 14.-- DM. Solltet Ihr an einer Belegung
interessiert sein, wären wir Euch für eine baldige Nachricht an fol-
gende Adresse sehr dankbar.
IJGD e.V., Lietzenburgerstr. 98, looo Berlin 15
Ratgeber für Gefangene
Im Hamburger Verlag Libertäre Assoziation ist jetzt der "Ratgeber für
Gefangene - mit medizinischen und juristischen Hinweisen" |. Teil er-
schienen.
In dem Buch werden die Verschiedenen Stadien der Haft - von der Fest-
nahme bis zur Entlassung - behandelt. Im einzelnen wird unter anderem
auf folgende Probleme eingegangen: ohti
Verhalten bei der Festnahme/ Wie die erste Zeit im Gefängnis auss1le
Was man gemeinsam tun kann/ Überleben in strenger Tsolationshaft/ Als
Frau im Gefängnis/ Die Situation als Ausländer/ Besondere Haftver-
schärfungen/ Kontakte nach draußen/ Möglichkeiten und Techniken ge-
sund zu bleiben/ Was man selbst bei Gesundheitsbeschwerden tun kann
Welche Rechtswege einem als Gefangenen offenstehen/ Musterbeispiele
für Anträge und Beschwerden etc. 2 oe
Der jetzt erscheinende erste Teil des Handbuchs (ca. 250 Seiten 1n r
ner eingelegt) kostet 20,-- DM. Der Ergänzungsteil, der anfang näch-
sten Jahres erscheint (350 Seiten, ohne Ordner) kostet weitere Ve a
DM. Im Abonnement beide Teile für 35,-- DM. Ein begrenzter Teil der
Auflage steht Freunden und Angehörigen von Gefangenen zum ermäßigten
Preis von 20,-- DM für das gesamte Werk im Abo sowie Gefangenen als
Freiexemplare zur Verfügung. N
Bestellen (gegen Vorauszahlung) an den Verlag Libertäre Assoziation,
Ottenser Hauptstr. 35, 2000 Hamburg 50/Postscheckamt Hmbg. 437937-200
(200 loo 20)
Student der HfSS in Bremen sucht Kontaktadressen von "ökologisch orien-
tierten" Gemeinwesen- bzw. Stadtteilprojekten (zwecks Studienfahrt),
129
sowie Texte über "Ökologisch orientierte" Sozialarbeit. Jürgen Schöbel,
Würzburger Str. lo a, 2800 Bremen |
® Kinder- und Jugendbuchverzeichnis zum Thema Ökologie
Ein kommentiertes Verzeichnis zu Kinder- und Jugendbücher, die sich
im weitesten Sinne mit dem Thema Umweltzerstörung - Umweltschutz be-
fassen, ist vor kurzem im Schwarzwurzel-Verlag, Rokenstr. 4, 741o Reut-
lingen erschienen. Fast alle verfügbaren Bücher, Schallplatten und
Spiele, (z.Zt. ca. 55 Titel) wurden darin aufgenommen und jährlich
wird das Ergänzungswerk durch Nachlieferungen aktualisiert. Das Ver-
zeichnis umfasst 80 Seiten und kostet DM 6.80. Buchhandlungen und Bür-
gerinitiativen erhalten den üblichen Rabatt. Einzelbezug durch Über-
weisung von DM 6.80 + DM 1.50 Porto auf das Konto 47719 (Peter Reif-
steck) bei der Kreissparkasse Reutlingen oder Betrag als Scheck an die
angegebene Adresse.
Parallel zum Verzeichnis verleiht der Verlag eine Ausstellung aller be-
schriebenen Bücher (z.Zt. ca. 50 ex.). Interessenten (Bürgerinitiati-
ven, Schulen, Bibliotheken, Buchhandlungen, etc.) können näheres über
die Verlagsadresse erfahren.
Schwarzwurzel-Verlag
6 "die Lupe", Pädagogische Zeitschrift, Heft 30 zum Thema Umweltlernen
Inhalt: "Jedes Kind auf der Welt wird ungefragt in eine ihm vorgege-
bene gesellschaftliche Situation hineingeboren." Unter Berücksichti-
gung all der bestehenden Voraussetzungen muß es sich anpassen und sich
möglichenfalls kritisch schöpferisch mit dieser gesellschaftlichen
Situation auseinandersetzen. Bis ein Kind zu diesem Stand mit seiner
Umwelt kommt und sie handelnd bewältigen kann, muß es viel in seiner
Umwelt und über seine Umwelt erfahren. Wir wollen versuchen die ver-
schiedenen Bedingungen aus Gesellschaft, Natur und Technik und die Er-
fahrungen, die wir in unserer pädagogischen Praxis mit Kindern, Jugend-
lichen und Erwachsenen gemacht haben, darzustellen.
Bezug: Spiel- und Lernzentrum Braunschweig e.V., Bruchtorwall 1-3,
3300 Braunschweig
© SPAK - Informationen
+ Tagungsvorschau der Seminare und Tagungen der AG SPAK für I. Halb-
jahr 1981, erhältlich gegen Unkostenerstattung (1,--DM in Briefmar-
ken) an AG SPAK, Reifenstuelstr. 8, 8 München 5
+ Programm der "Europäischen Arbeitsgruppe Bewußtseinsbildung" erhält-
lich, gegen IUnkostenerstattung (1,--DM in Briefmarken) an AG SPAK/
AK Freire, Reifentuelstr. 8, 8 München 5
+ Neu: Rundbrief "AK Freire" Nr. 8 - erhältlich gegen eine Spende.
Viele Informationen zur bewußtseinsbildenden Arbeit (Friedenspäda-
gogik, alternative Bildung, 3.-Welt-Arbeit), bitte mind. 1,50DM in
Briefmarken an: AG SPAK, Reifenstuelstr. 8, 8 München 5 (AK Freire)
+ Neu: SPAK-FORUM Nr. 9 - zum Thema "Sozialpolitik in den 80'er - Ver-
suche zur Standortbestimmung. (Provinzarbeit, wir lassen uns nicht
kaufen, Armut in der BRD, Drogenpolitik, Projekte, etc.)
Erhältlich für 3,50DM (inkl. Porto) bitte in Briefmarken beilegen
oder Überweising auf PSchK. München Nr. 205 47 - 8o08.
Regionalbüro Köln Publikationsstelle Archiv der AG SPAK
Immermannstraße 55 Schlesische Str. 3] K.Friedr.Ring 61
5000 Köln 4l looo Berlin 36 62 Wiesbaden
130
Carl-Wilhelm Macke
RÜCKSICHT
Immer wenn ich irgendwem sage, ich würde in Gruppen von Behinderten
mitarbeiten, verklärt sich sein Gesicht. Die Stimme bekommt dann
einen leicht pathetischen Unterton, manchmal wird noch tief Luft
geholt. "Oh, welch eine sinnvolle Aufgabe. Dazu gehört sicherlich
viel Idealismus. Ehrlichgesagt, ich könnte das nicht". Ein Gefühl
von Bestätigung und Anerkennung empfinde ich dann ebenso wie Un-
sicherheit. Wie soll ich reagieren? Ich könnte ausweichen, von So-
lidarität und den Schwachen reden, mein persönliches Interesse, meine
Bedürfnisse verleugnen.
Was ist es aber denn, das mich als Nichtbehinderten in Behinderten-
gruppen mitarbeiten läßt? Ich muß ausholen, in der Lebensgeschichte
graben. Freigelegt werden nur die oberen Schichten.
1944, noch in den letzten Monaten des Krieges und der Nazi-Herrschaft
wurde mein Bruder geboren. Für meine Eltern muß es ein Schock gewesen
sein, als sie von der Spastik ihres ersten Sohnes und zweiten Kindes
erfuhren. Der Krieg hatte sie schon genügend strapaziert. Irgendwann
hatten sie sicherlich auch von Euthanasie, der "Vernichtung lebens-
unwerten Lebens" gehört. Ihr Bischof hatte mutig dagegen gesprochen,
aber welche Bedeutung hatte es schon für sie, solange sie kein "le-
bensunwertes Leben" kannten. Jetzt waren sie selbst mit einem Menschen
konfrontiert, den die damals noch herrschenden als "Ballastexistenz"
abwerfen wollten. Es war nicht irgendein Mensch, es war ihr Kind! Mit
dem Zeitpunkt der Geburt änderte sich das Verhalten der Eltern. Sie
mieden jetzt die Umgebung, wie die Umgebung sie mied. In der Klein-
stadt spricht es sich schnell herum, wenn ein "nicht normaler Mensch"
geboren wird. Im Suff gezeugt, sagt der Volksmund hinter vorgehaltener
Hand, manchmal auch nicht. Die Religiösen haben andere Erklärungen.
Man flüstert von Gottesstrafe oder von der großen Bewährung der Mutter-
liebe.
In die Erziehung des behinderten Kindes vermischten sich Schuldgefühle,
Hilflosigkeit und warme elterliche Zuneigung. Eingeschult wurde mein
Bruder in die zuständige Volksschule, nicht in eine Sonderschule.
Ein Fortschritt würde man heute sagen, aber damals war es der Beginn
eines Spießrutenlaufens. Um diese Zeit herum wurde ich dann geboren.
Nach den Erfahrungen mit einem spastisch gelähmten Sohn noch ein wei”
teres Kind zu gebären, dazu gehört schon Mut. Oder war es nur die
kirchlich verbannte Geburtenregelung, die mir zu meiner Existenz ver-
half? Oder war es der Wunsch, den Nachbarn zu zeigen, daß nichts von
ihren Zeugungsphantasien stimmte? Meine Erziehung war, obwohl ein ge-
sundes Kind, auf ein behindertes Kind zugeschnitten. Wie sollten die
Eltern sich auch so schnell wieder umstellen. Behinderung ist nicht
nur eine körperliche oder seelische Lädierung. Es ist auch Ergebnis
einer Erziehung, die Art wie ein Mensch auf die Welt vorbereitet wird,
131
wie er älter wird, wie er von anderen lernt oder nicht lernt, weil
er sie nicht zu Gesicht bekommt, weil er von der Außenwelt fernge-
halten wird. So habe ich es in der Familie erlebt. Selbständigkeit
habe ich nie gelernt. Man nahm mir alles ab. Ich durfte nie auffallen,
sollte immer dankbar sein, mich anpassen, nie habe ich nein sagen ge-
lernt. "Wir haben schon genügend Probleme in der Familie", hieß es,
wenn ich aus der Rolle fiel. Bis heute hat sich meine Scheu vor mir
unbekannten Menschen ebensowenig gelegt wie die Angst, etwas falsch
zu machen, also aufzufallen. Immer noch fühle ich mich in vielem
minder - wertig. Aber wieso, warum? Meine eigenen Interessen mußte
ich immer zurückstellen. Rücksicht zu nehmen auf meinen Bruder war
die Tugend, die immer und überall galt. Nicht mit Gewalt wurde mir
das eingebleut. Gewalt, direkte Gewalt hat es in unserer Familie nie
gegeben. Sich zurückzunehmen, seine eigene Person zu vergessen, galt
als selbstverständlich.
Heute glaube ich, meine Eltern und ich haben vielleicht mehr unter
der Behinderung eines Familienmitgliedes gelitten als der Betroffene
selbst. Meine Mutter, weil sie als Frau ohnehin schon aus der Gesell-
schaft ausgeschlossen war. Der Vater, weil er das Kind überall zu
verleugnen oder zu verdrängen suchte. Über sie kann ich nur vermuten,
über meine Erfahrungen verfüge nur ich. Die Hänseleien und Demüti-
gungen, die meinem Bruder entgegengebracht, entgegengeschrien, ent-
gegengelacht wurden, trafen immer auch mich. Jagte man einen Hund
hinter ihm her, fürchtete ich den Biß. Noch heute gehe ich Hunden
aus dem Weg.
Wenn er verspottet wurde, hat mich das immer wütend gemacht. Diese
dumpfe Wut konnte ich keinem zeigen, weil ich gleichzeitig auch so
hilflos war. Ich habe sie in mich hineingefressen. Wenn ich mit ihm
über die Straße ging, verspürte ich Angst vor den Entgegenkommenden.
Würden sie lachen, würden sie selbst zu torkeln anfangen, würden sie
ihn als besoffen hinstellen? Die größte Angst hatte ich vor Kindern.
Sie zeigten ihre Verwunderung und Belustigung besonders deutlich.
Die Erwachsenen begannen ihre Tuscheleien immer erst hinter unserem
Rücken. Sie schauten sich mit einem Lachen im Gesicht erst wenige
Meter später um. Bis heute habe ich die Gewohnheit beibehalten, mich
umzuschauen, wenn Menschen an mir vorbeigegangen sind. Ich will sehen,
ob sie sich nach mir umdrehen, mich vielleicht auch auslachen. In
manchen Augenblicken lernt man eben mehr als in Büchern. Die Angst
vor den Kindern hat sich gelegt. Sie sind neugierig und offen, haben
es nicht nötig ihre Gefühle zu verstecken. Das Verletzen geschieht
nicht bewußt.
Das Gefühl ohnmächtiger Wut ist mir geblieben - im wörtlichen Sinne.
In der Kindheit kam es häufig vor, daß ich im Zusammensein mit schwer
körperlich Behinderten plötzlich zusammengesackt bin, ohnmächtig wur-
de. Nicht bei meinem Bruder, den ich nie als behindert wahrgenommen
habe, weil ich ihn ja gar nicht anders kannte. In diesen Momenten
staute sich soviel an Ängsten, soviel an Hilflosigkeit auf, die meinen
Körper und meine Sinne überwältigten. Inzwischen weiß ich solchen
Situationen geschickt aus dem Wege zu gehen, aber sicher bin ich da
nie.
Mein Bruder konnte seine Schulzeit nicht in der örtlichen Volksschule
beenden. Mangelnde Förderung war der offizielle Grund. Ablehnung durch
Mitschüler und Lehrer der wahrscheinlichere. Später in meiner Schul-
zeit habe ich damn Situationen miterlebt, die denen meines Bruders
132
sicherlich sehr nahe kamen. In unserer Grundschulklasse war ein
geistig gestörter Schüler. Seine wirren Antworten, seine oft un-
kontrollierten Bewegungen reizten zum Spott. Ich glaube sogar mit-
gelacht zu haben. Aber es war ein schmerzvolles Lachen. Für ihn
Partei zu ergreifen, wäre ja aufgefallen. Um eben das zu vermeiden,
tat ich alles. So wie mein Bruder wurde dann dieser Mitschüler aus
der Schule entfernt. Weit außerhalb fand man ein Heim für ihn.
Vielleicht wurde er dort tatsächlich besser gefördert, mußte er sich
nicht mehr so viele Demütigungen gefallen lassen. Aber er wurde abge-
schoben, so wie man es bei uns immer gemacht hat mit Menschen, die
nicht "normal" waren oder sich nicht einpassen ließen.
Ist jetzt etwas klarer geworden, warum ich als Nichtbehinderter in
Behindertengruppen mitmache? Nicht aus beruflichen Gründen, sondern
weil ich Behindertenerziehung und öffentliche Diskriminierung haut-
nah, wenn auch nicht in ihrer Haut mitbekommen habe. Ich würde sofort
ausscheiden, wenn ich als ein Alibi für Integration betrachtet würde.
Von wem auch immer. Behinderte sollten sich Nichtbehinderten gegen-
über die Freiheit nehmen, zu fragen, was sie bewegt, mit ihnen gemeinsam
etwas zu unternehmen. Mißtrauisch sollten sie sein, wenn sich für sie
engagiert wird. Einem anderen helfen zu wollen, ob behindert oder
nicht, halte ich für zu selbstverständlich, als daß es eine über-
zeugende Antwort wäre. Durch die Erfahrung in der Kindheit und in
Behindertengruppen, bin ich vorsichtig geworden mit der Forderung
nach Integration. Mir ist nicht einsichtig, warum sich Behinderte
den Normen, Werten und Kulturvorstellungen der jeweiligen Mehrheit
anzupassen haben, um als "integriert" zu gelten. Ist es nicht fatal
zu glauben, durch Mehr - und bessere Arbeit im Beruf seine Behinderung
ausgleichen zu können? Vielleicht gewinnt man dadurch Anerkennung
- die jeder Mensch braucht - aber wie oft geht dies einher mit Zer-
störung der Gesundheit, der Verkürzung des Lebens.
Man sollte einmal eine Untersuchung anregen, mit der belegt wird,
wie viele Behinderte sich ruiniert haben durch diesen wahnsinnigen
Druck zum kompensieren (zum Ausgleichen der körperlichen oder see-
lischen Schädigung). Noch zwei Rückblenden zum Schluß: Während meiner
Schulzeit hat sich ein Freund das Leben genommen. Die Gründe wurden
mit der letzten Schaufel Erde für immer zugedeckt. Aber für mich
war eines klar: Er konnte seinen Dialekt, das Plattdeutsche, einfach
nicht mit der "normalen" Sprache in Einklang bringen. Mit einer "Sechs"
im Deutsch wäre er sitzengeblieben. Da griff er zum Strick. Muß man
so vor der großen gleichmachenden Danpfwalze kapitulieren, auch wenn
vorne auf der Kühlerhaube die Flaggen "Humanität" und "Fortschritt"
wehen? Welche Opfer muß man bringen, um als "normal" und ' "integriert"
zu gelten?
Die Lektüre von Romanen und Reden amerikanischer Neger gehört für
mich zu den ersten und prägensten Leseerlebnissen. Nicht von ungefähr,
denn in ihrem Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung als Schwarze
gibt es viele Parallelen zu den Behinderten. Immer und immer wieder
habe ich einen Satz des Schriftstellers James Baldwin gelesen, bis
ich ihn auswendig konnte, um ihn nie wieder zu vergessen: "Ich lebe
nur ein einziges Mal auf dieser Erde und dieses eine Mal will ich
als Mensch leben, nicht als etwas, das von anderen manipuliert und
definiert wird. Ich will als Mensch leben, als ich selbst".
133
Handbuch zur
Sozialarbeit/Sozialpädagogik
Herausgegeben von Hanns Eyferth, Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch
ca. 1000 Seiten, Leinen, ca. DM 68, —
ISBN 3-472-51014-5
In der Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Bundesrepublik steht es nicht gut
um das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Zwischen einander bestenfalls
ergänzenden, vielfach aber noch wenig mit den Bedürfnissen einer sich ausdiffe-
renzierenden Berufspraxis integrierenden Theoriebildungen ist der Informations-
fluß gering, die allgemein als notwendig erachtete Kooperation unbefriedigend
und deshalb die Bildung gemeinsamer Interessen und Fragestellungen bislang
schwierig. Deutlich wird das z. B. in der keineswegs überwundenen Konfliktstruktur
zwischen Ausbildung und Beruf.
Den Herausgebern kommt es in dieser Situation auf eine kritische Darstellung an,
die den gesellschaftlichen Zusammenhang des Ganzen sowie die Handlungs-
konflikte der Einzelfelder für die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit nutzbar
macht. In diesem Problemrahmen sollen aber weder ein eingeengtes theo-
retisches Konzept noch praktische Rezepte festgeschrieben werden.
Fast 90 Autoren, profilierte Vertreter ihrer Fachdisziplinen, realisieren in ebenso-
vielen Beiträgen das Anliegen der Herausgeber. Das konsequent gegliederte
Stichwortverzeichnis erleichtert den Einstieg in die jeweilige Problematik.
Zu den Herausgebern: f
Prof. Dr. Hanns Eyferth, lehrte bis zu seiner Emeritierung Pädagogik und Sozial-
pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und war dann langjähriger
Vorsitzender des Trägervereins des Deutschen Jugendinstituts in München.
Prof. Dr. Hans-Uwe Ötto hat einen Lehrstuhl für Sozialarbeit und Sozialpädagogik
an der Universität Bielefeld inne und ist Geschäftsführender Vorstand der i
Kommission Sozialpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswis-
senschaften (DGfE).
Prof. Dr. Hans Thiersch hat den Lehrstuhl für Pädagogik im Arbeitsbereich Sozial-
pädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaften | an der Universität
Tübingen inne und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungs-
wissenschaften (DGfE).
Peter Krahulec/Karlheinz Herr
“ALTERNATIVES HEIMVERZEICHNIS” ERSCHIENEN
In die Hand vieler Beteiligter und betroffener Kollegen gehört die
vor kurzem bei der "Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung"
(IGfH) erschienene 179-Seiten-Broschüre: "Probleme von Kindern und
Jugendlichen lassen sich nicht einsperren - Alternativen in der Heim-
erziehung", kurz ALTERNATIVES HEIMVERZEICHNIS genannt.
Das Verzeichnis wurde von einer 16köpfigen Arbeitsgruppe (Vertreter
aus der Praxis, dem Fachhochschul- und dem Fortbildungsbereich) in
einem eineinhalbjährigen Projekt erstellt. Dieses Projekt wiederum
steht im Zusammenhang mit der seit Jahren leidenschaftlich geführ-
ten Kontroverse um die sogenannte "Geschlossene Unterbringung" und
deren geplante gesetzliche Festschreibung anläßlich der Reform des
Jugendhilferechts. (Siehe auch Info Sozialarbeit Heft 18 und 22.)
Die Arbeitsgruppe gehört zu den Gegnern der Geschlossenen Unterbrin-
gung; sie geht davon aus, "daß die Unterbringung in geschlossenen
Einrichtungen eine den praktischen Erfordernissen der Heimerziehung
und dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand widersprechende
unmenschliche und damit durch nichts zu rechtfertigende Zwangsmaß-
nahme ist" (S.4f).
Im Theorieteil "Argumente wider eine böse Sache" konstatieren die Ver-
fasser, daß die notwendige Strukturreform der Heimerziehung auf brei-
ter Ebene ausgeblieben ist:
"a) Noch immer ist die traditionelle Heimerziehung durch die folgen-
den strukturellen Merkmale gekennzeichnet:
- Hierarchie
- Prinzip der totalen Versorgung
- instabiles persönliches Bezugsfeld
- zu große Gruppen
- Vorrangigkeit der Verwaltung
- Reglementierung des täglichen Lebens
- finanzielle Unterversorgung n
b) Noch immer produziert das Jugendhilfesystem seine eigenen Klien-
ten für Geschlossene Unterbringung, und noch immer kommen Kinder
und Jugendliche ins Heim, denen viel vesser dort geholfen werden
könnte, wo die Probleme entstehen: in der Familie, der Schule,
dem Gemeinwesen." (S.1If)
Daraus folgern die Verfasser konsequent:
"Es geht also darum, verschiedene Einrichtungen zu finden und zu ent-
wickeln, die den Minderjährigen mit ihren unterschiedlichen Bedürf-
nissen, Biographien und Anforderungen entsprechen. Alternative heißt:
die richtige Maßnahme für den Einzelfall finden. Dies schließt auch
nicht-stationäre Hilfen ein.
Grundvoraussetzung insbesondere für stationäre Einrichtungen sind
strukturelle Bedingungen, wie sie seit Jahren gefordert werden:
135
- Demokratisierung des Zusammenlebens
- Prinzip der Selbstversorgung
- Selbstkontrolle und Eigenverantwortlichkeit
- Vorrangigkeit pädagogischer Erfordernisse
- kontinuierliche soziale Bezüge
- kleine, überschaubare Lebenseinheiten
- Orientierung an Bedürfnissen und Erfahrungen der Kinder und Jugend-
lichen." (S. 16)
Aus diesen Einschätzungen resümieren die Autoren: Wenn heute Jugend-
liche deshalb geschlosssen untergebracht werden, weil genügend ver-
schieden gut ausgestattete Unterbringungsmöglichkeiten fehlen und die
bestehenden nicht hinreichend bekannt sind, dann sagt dies nichts
über die von "Geschlossener Unterbringung" bedrohten oder hiervon
betroffenen Jugendlichen aus, aber viel über den mangelhaften Zu-
stand unseres Jugendhilfesystems.
In den "Hinweisen zum Gebrauch" warnen die Autoren vor einem undif-
ferenzierten Umgang mit den vorgestellten Einrichtungen, "da es
oberstes Prinzip einer guten Fremdbetreuung sein muß, für jedes ein-
zelne Kind bzw. Jugendlichen die ihm und seiner biographischen Be-
sonderheit angemessene Betreuungsform zu finden" (S.23). Sie "hoffen
aber, durch unsere Veröffentlichung einweisende Sozialarbeiter zu
ermutigen, nach weiteren Einrichtungen zu suchen, die den Kriterien
für eine gute Fremdunterbringung entsprechen bzw. dazu beitragen, daß
vermehrt solche Einrichtungen geschaffen werden" (S.23).
Der Anschriftenteil umfaßt (nach Postleitzahlen geordnet) die Ein-
richtungen, die bereit sind, solche Kinder und Jugendlichen zu be-
treuen, die von Geschlossener Unterbringung betroffen oder bedroht
sind - und die darüber hinaus den o.a. strukturellen Anforderungen
entsprechen. Die Autoren betonen, es sei notwendig, diese Liste fort-
zuschreiben und bitten über eine Kontaktadresse um Mithilfe.
Im Teil "Selbstdarstellungen" werden 16 ausgewählte Beispiele aus-
führlich dokumentiert und von der Arbeitsgruppe als Orientierungs-
hilfe für gute Fremdplazierung empfohlen.
Abschließend setzt sich die Arbeitsgruppe mit "Modellprojekten zur
Vermeidung von Geschlossener Unterbringung" auseinander: Celle, Im-
menhausen und Viernheim. Sie kommt zu dem Ergebnis: "Auch wenn die
Initiatoren der Modelle sich die Zuschreibungspraxis der Jugendhil-
febehörden nicht zu eigen machen, so setzten sie diese während der
Dauer ihrer Modellversuche doch voraus. Es kann nicht das Ziel sein,
Sondereinrichtungen für besonders gefährdete Kinder und Jugendliche
zu schaffen, die zwar eine nicht - geschlossene Unterbringung, aber
doch eine besondere Maßnahme für besondere Kinder und Jugendliche
bedeuten. Nicht Modelle in der Jugendhilfe sind zu fordern, sondern
ein engagiertes Eintreten für die unmittelbare strukturelle Verände-
rung des Jugendhilfesystems" (S.150).
Das ALTERNATIVE HEIMVERZEICHNIS ist für 7 DM zu beziehen bei:
Internationale Gesellschaft für Heimerziehung, Heinrich-Hoffmann-
Str. 3, 6 Frankfurt 71, Tel.: 0611/6706251
136
Eine Auswahl:
INFORMATIONSDIENST ARBEITSFELDMATERIALIEN
GESUNDHEITSWESEN ZUM SOZIALBEREICH
Timm Kunstreich:
DER INSTITUTIONALISIERTE
KONFLIKT
KRITIK
DER
PSYCHOSOZI ALEN VERSORGUNG
1819 u.
Arbeitsfeldmaterialien | HUMANISIERUNG
; DES
zum Sozialbereich GESUNDHEITSWESENS
|
SOZIALARBEIT
ZWISCHEN
BÜROKRATIE UND KLIENT
7]
Dokumente der Sozialarbeiterbewegung
Sozialpädagogise he Korrespondenz
1969 - 1973
(reprint)
Berichte * Konzepte * Alternativen
* Arbeitsieldmaterialien zum Sozial-
und Gesundheitsbereich, Heft 9
Wollen Sie mehr wissen über die Informationsdienste und Arbeitsmateria
lien aus den Arbeitsfeldern Schule, S ‚zialarbeit und Gesundheitswesen?
Haben Sie Interesse an aktuellen Themen: Okologie, Marismusdiskus
sion, Arbeitskämpfe?
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beexemplare unserer Monatszeitungen "links" und "express" zuschicken
Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 6050 Offenbach 4
links
Sozialistische Zeitung
bringt monatlich auf etwa 32 Seiten Informationen und Anregun-
gen für die politische Arbeit, Beiträge zur sozialistischen Theo-
rie und Strategie, Berichte aus der Linken international. „links“
ist illusionslos, undogmatisch — eine Zeitung für Theorie der
Praxis und für Praxis der Theorie.
Einzelpreis DM 2,—.
Bezugspreis, jährlich, DM 23,— + DM 7,— Versandkosten
CXDICSS
Zeitung für R
etriebs - und
Gewerkschaftsarbeit
Sprachrohr der Kollegen und Genossen, die sozialistische Be-
triebs- und Gewerkschaftsarbeit machen. Informationen über
die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Beiträge,
die man nicht in den Gewerkschaftszeitungen findet.
Einzelpreis DM 1,50
Bezugspreis, jährlich, DM 18,— + DM 7,— Versandkosten
Probeexemplare anfordern bzw. Abonnementsbestellung bei
Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 605 Offenbach 4.