Skip to main content

Full text of "Informationsdienst Sozialarbeit (1972 - 1980)"

See other formats


INFORMATIONSDIENST 
SOZIALARBEIT 









| ARI 
Be | 
É É 
fer JKOLOGIE ee == = 
| SOZ G L 
\2 jj 7) y N; 





Offenbach im April 1981 
Doppelnummer — Preis DM 9,-- 





Dieser Informationsdienst Sozialarbeit wird im Sozialistischen Büro von Gruppen, 
die im Sozialisationsbereich arbeiten, herausgegeben. Der Info dient der Kommu- 
nikation und Kooperation von Genossen, die mit sozialistischem Anspruch im 
Feld der sozialen Arbeit tätig sind. 


Folgende Hefte sind noch lieferbar: 


Heft 5: Organisierung im Sozialbereich e 7:Jugendhilfetag und Sozialistische 
Aktion 1974 e 8: Reformismus in der Sozialarbeit e 10:Sozialarbeit im Knast © 
12: Stadtteilbezogene Sozjalarbeit e 13: Sozialarbeit und Jugendarbeitslosigkeit © 
14: Alternative Psychiatrie — Sonderpreis: jedes Heft DM 2,-- 


Heft 16: Gewerkschaftsarbeit in der ÖTV (88 Seiten, DM 5,--) 

Heft : Kindergartenarbeit (96 Seiten, DM 5,--) 

Heft 18: Jugendhilferecht — Jugendhilfetag (96 Seiten, DM 6,--) 
Heft 19: Heimerziehung (168 Seiten, DM 8,--) 

Heft 20: Sozialarbeiterausbildung (104 Seiten, DM 7,--) 

Heft 21: Familienfürsorge (80 Seiten, DM 5,--) 

Heft 22: Jugendhilfetag 1978 in Köln/Geschlossene Heimerziehung (DM 7,--) 
Heft 23: Frauen und Sozialarbeit (144 Seiten, DM 8,--) 

Heft 24: Psycho-Methoden in der Sozialarbeit (96 Seiten, DM 6,--) 
Heft 25: Materialien zur Sozialhilfe-Aktion (96 Seiten, DM 6,--) 
Heft 26: Kritik zur psychosozialen Versorgung (80 Seiten, DM 6,--) 
Heft 27: Neuorganisierung sozialer Dienste (112 Seiten, DM 8,--) 


Herausgeber: Sozialistisches Büro 
Postfach 591, Ludwigstr.33, 605 Offenbach 4 
Verleger: Verlag 2000 GmbH Offenbach 


Erste Auflage: April 1981, 5000 Exemplare 
Alle Rechte bei dem Herausgeber 
Vertrieb: Verlag 2000 GmbH, 605 Offenbach 4 
Postfach 591 — Telefon: 0611/885006 
Postscheck Frankfurt Kto. Nr. 61041-604 


Doppelnummer, DM 9,-- 

bei Abnahme von mindestens 10 Exemplaren 20% Rabatt; 
Weiterverkäufer (Buchläden, Buchhandel) 40% Rabatt 
jeweils zuzüglich Versandkosten 


Abonnement 1981 (Heft 28 - 31): DM 15,-- + 4,-- Versand 
Verantwortlich: Redaktion Info Sozialarbeit 
Presserechtlich 
verantwortlich: Günter Pabst, Offenbach 


Druck: hbo-druck, Einhausen 


ISSN: 0170 - 2688 
ISBN: 3-88534-019-4 





INFO SOZIALARBEIT, HEFT 28/29 


Vorbemerkung zu dieser Ausgabe 3 


Rolf Schwendter 
ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT 5 


Peter Ahlheit 
KOMMENTAR ZU DER EXPERTISE "ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT" 25 


Christel Neusüß 
DIE KRITIK DER ALTERNATIVBEWEGUNG AM SOZIALSTAAT 29 


Heinz Steinert 

"ALTERNATIV'"-BEWEGUNG UND SOZIALARBEIT 

ODER WIE "DER STAAT" DIE PROBLEME ENTEIGNET UND WARUM MAN IHN 
TROTZDEM NICHT EINFACH RECHTS LIEGEN LASSEN KANN 45 


Ilona Kickbusch 
VON DER GEBRECHLICHKEIT DER SONNE - 
EINIGE GEDANKEN ZU SELBSTHILFEGRUPPEN 67 


Hans Drake 
ÖKOLOGISCHE STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA 79 


Detlev Lecke/Thomas Tschöke/Manfred Wittmeier 
ÖKOLOGIE UND JUGENDARBEIT - BORKEN 6 UND BORKEN 9 
SKIZZEN EINES PROJEKTES DER BILDUNGSARBEIT AUF DEM LAND 93 


Roland Roth 
MÖGLICHKEITEN POLITISCHER BILDUNG IM STADTTEIL 103 


Rolf Schwendter 
ÖKOLOGIE, SOZIALARBEIT, ARBEITSFELDER 
-EINIGE DEPRIMIERTE NOTATE - in 


BERICHTE -~ HINWEISE - MATERIALIEN 127 





Seit über einem Jahrzehnt erscheinen im 
Verlag 2000 des Sozialistischen Büros Bro- 
schüren, insbesondere für die verschiede - 
nen Arbeitsfelder. Dieses Programm wird 
jetzt durch eine breit konzipierte Taschen- 
buchreihe ergänzt. 


ur konkreten Utopie 
der gesellschaftlichen 


Arbeit 


Band 1: Zur konkreten Utopie 
gesellschaftlicher Arbeit 

Beiträge zur Arbeitstagung im An- 
schluß an die ersten Ernst-Bloch-Tage 
1979 160 Seiten, DM 10,-- 
Läßt sich eine konkrete-Utopie der gesell- 
schaftlichen, und das heißt auch der indu- 
striellen Arbeit entwickeln? Mit dieser The- 
matik wurde an die Bloch-Tage 


Verlag 2000 


‘78 zum 


Thema ‘‘Marxismus und Naturbeherrschung'“ 


angeknüpft, deren Ergebnisse ebenfalls im 
Verlag 2000 veröffentlicht wurden und in 
der 3. Aufl. für DM 10,-- vorliegen. 


Norbert Kentrup und Günter Pabst 


Band 2: Erfahrungen — Sozialisten 
bearbeiten ihre politische Sozialisation 
Hrsg. von G. Koch und V. Brandes 

Mit Beiträgen von H. Stubenrauch, H. 
Obenland, S. Tesch, H. Mühleisen u.a. 
216 Seiten, DM 12,-- 


Das Wort von der Krise der Linken macht 
die Runde. Zeit also, eine Bestandsaufnah- 
me zu versuchen und sich mit den eigenen 
Erfahrungen auseinanderzusetzen. 


Band 3: Ellen Diederich 

“Und eines Tages merkte ich, 

ich war nicht mehr ich selber, 

ich war ja mein Mann” 

Eine politische Autobiographie 

144 Seiten, DM 9,-- 

Band 4:Teufel, Teufel! Trau keiner 

Stunde über 35! 

Ein Stück der Mobilen Rhein-Main-Theater 

GmbH zum Kampf um die 35-Stunden- Wo- 

che. Theater, Lieder, Film und Video im Ar- 

beitskampf. 152 Seiten, DM 9,- 
a en 

Bitte Verlagsverzeichnis anfordern! Alle Ti- 

tel sind im linken Buchhandel erhältlich, 

können jedoch auch gegen Vorauszahlung 

direkt bezogen werden bei: Verlag 2000, 

Postfach 591, 6050 Offenbach 4 





VORBEMERKUNG ZU DIESER AUSGABE 


Unter den Bedingungen einer strukturellen ökonomischen Krise, ver- 
schlechterten Reproduktionsbedingungen und des Zurückdrängens von 
Reformmodellen und - vorstellungen veränderten sich politischer 
Spielraum und Arbeitsbedingungen auch für linke Sozialarbeiter,Lehrer 
und Gesundheitsarbeiter. Das Selbstverständnis einer politisch ver- 
standenen Sozialarbeit war das der Parteilichkeit für und mit den 
Betroffenen, war Sozialarbeit als politische Praxis zu begreifen,die 
gemeinsam mit den Betroffenen Bedingungen zur gesellschaftlichen Ver- 
änderung herstellt: Erziehung zum Klassenkampf und revolutionäre Be- 
rufspraxis. Die Arbeit in Projekten, Modellen, Reforminstitutionen 
schien eine weitgehende Identifikation von beruflicher Praxis und 
politischer Praxis zu ermöglichen. 

Hier lag auch die politische Sprengkraft des Arbeitsfeldansatzes. Er 
beharrte auf der Notwendigkeit sozialistischer Politik im Reproduk- 
tionsbereich, weil die geschichtliche Erfahrung wie auch die Kämpfe 
der 60er Jahre zeigten, daß der Kapitalismus nicht auf die Fabrik 

zu reduzieren ist. Weil der Bezug zur Gesamtgesellschaft nicht über 
die Moral des "Dem Volke dienen" hergestellt werden sollte, sondern 
über die "eigenen" im jeweiligen gesellschaftlichen Bereich erfahrenen 
Widersprüche. 

Theoretisch wurde zwar in allen Analysen die Herrschafts- und Kon- 
trollfunktion von Sozialarbeit herausgearbeitet , auf der praktischen 
Ebene aber kaum berücksichtigt, weder in der politischen Arbeit, noch 
in den Reformprojekten, noch in der institutionellen Arbeit. 

Im Nachhinein besehen, verwundert es nicht, daß viele Vorhaben und 
Vorstellungen in die sozialliberalen technokratischen Reformen einge- 
fangen wurden. 


Eine Antwort auf das Zurückdrängen von Reformen, auf staatliche Re- 
pression war eine verstärkte Hinwendung und Suche nach Alternativen 
und das Aussteigen aus der Sozialarbeit. Im Arbeitsfeld - als organi- 
sierter Ausdruck politisch miteinander kooperierender und handelnder 
Gruppen und Individuen - begann vor zwei Jahren eine "Aussteigerdis- 
kussion' Die Aussteigerdiskussion reflektiert dabei nicht nur die 
Suche nach Alternativen im und außerhalb des sozialpädagogischen Be- 
reichs, sie reflektiert auch die sogenannten "neuen sozialen Bewe- 
gungen", vor allem die Ökologiebewegung und Alternativbewegungen. 

Für viele war dies der Hoffnungsschimmer, um aus dem Dilemma der Be- 
rufsfeldbornierung herauszukommen. Anti-AKW-Arbeit wurde von vielen 
als Versuch verstanden, sich als linker Sozialarbeiter wieder in einen 
gesamtgesellschaftlich-allgemeinpolitischen Zusammenhang zu begeben 
(und ganz nebenbei die Auseinandersetzung um die politische Praxis 

im Sozialbereich aufzugeben). Diese Bewegungen sind für viele des- 
wegen so wichtig, weil in ihnen ja mehr thematisiert wird als die 
Gegenerschaft zum bundesrepublikanischen Atomprogramm. Es geht - 
teils bewußt teils unbewußt - um die Kritik am gesellschaftlichen 
(Produktions-) Verhältnis zur äußeren und inneren Natur. Es geht bei 
Teilen dieser Bewegung um eine neue direkte Betroffenheit in dem 
Sinne, daß die Verbindung thematisiert wird von "Leben" und "Politik", 


3 


daß eine sogenannte "Politik der ersten Person" gemacht wird.(z.T. 
äußern sich diese Interessen allerdings in recht diffusen, romantisch- 
konservativen Vorstellungen von "Ganzheit"). Es geht - gerade den Al- 
ternativen - um die Abkehr von der als entfremdet erfahrenen Arbeits- 
und Lebenssituation, auch der des politischen Lebens. 

Diese Thematisierung von Arbeit, Leben, Politik war ja gerade unter 
den linken Kritikern der Sozialarbeit verbreitet gewesen - wenn auch 
nicht unter "ökologischen" Vorzeichen. 2 À 
Durch diese Bewegungen wurde den in der Sozialarbeit Tätigen die eig- 
ene Entfremdung nochmals als Diskussionsgegenstand aufgezwungen: 

die Reduktion auf den/die Beziehungsarbeiter(in) bzw. den/die Kom- 
munikationsexperten(in). Von daher läßt sich die Aussteigetendenz 
gerade in mehr handwerklich-handgreifliche Arbeitszusammenhänge er- 
klären. 


Das von der Ökologie- und Alternativbewegung geäußerte Unbehagen am 
gegenwärtigen (kapitalistischen) Zivilisationsmodell heißt auf die 
Sozialarbeit bezogen vor allem Kritik an Bürokratisierung, Zentral- 
isierung, Sozialtechnisierung, Kontrolle und Verwaltung von Menschen 
und fordert Selbsthilfe, Deprofessionalisierung - oft naive Rückkehr 
zu "natürlicher Menschlichkeit". Hierbei besteht die große Gefahr, 
an den Ursachen vorbei, die sozialpädagogische Intervention aller- 
erst notwendig machen, zu Perspektiven zu gelangen, die u.E. nach für 
sozialistische Politik nicht gangbar sind. Es besteht aber auch die 
Gefahr, daß bei einem Teil der Linken staatliche Sozialarbeit ins- 
gesamt als nicht mehr relevant angesehen wird. 


So schreiben z.B. in der neuesten Ausgabe von päd.extra Sozialarbeit, 
Heft 3/1981 Studenten der Fachhochschule Frankfurt in einem Beitrag 
"Sozialarbeit und Startbahn West", daß der "Staat als späterer Ar- 
beitgeber für sie nicht mehr in Frage kommt". Sie wollen nicht mehr 
als "soziales Schmieröl" funktionieren". Für sie ist "der Staat, der 
den Ausbau des Flughafens betreibt und dann seine sozialpolitischen 
Tätigkeiten als Folge der durch ihn mit hervorgerufenen Schäden aus- 
dehnt, nicht mehr glaubwürdig". 

Die Analyse greift aber zu kurz, wenn sie eigenes Handeln davon ab- 
hängig macht, ob staatliches Handeln noch glaubwürdig ist. Festzu- 
stellen ist, daß die Vergesellschaftung des ökonomischen und sozialen 
Lebens sich als fortschreitende Durchstaatlichung darstellt und d.h. 
auch Entmündigung des Einzelnen und Verarmung des sozialen Lebens. 
Sie geht einher mit einer Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit 
ökonomischer und sozialer Funktionen, die zu wachsender Inkompetenz 
und Abhängigkeit des Einzelnen vom Staat führt. Die Ausweitung des 
Staates, die Ausdehnung seiner Kontrollagenturen bedeutet aber nicht 
nur Stärke und Stabilität, wie Joachim Hirsch in seinem Buch " Der 
Sicherheitsstaat - Das Modell Deutschland und seine Krise und die 
neuen sozialen Bewegungen" richtig feststellt. Sie bedeutet auch, daß 
sich um staatliche Politik - auch im Reproduktionsbereich - neue 
soziale und politische Auseinandersetzungen entwickeln. 


Mit dem Heft "Alternativbewegungen, Ökologie und Sozialarbeit" wollen 
wir dazu beitragen, die schlechte Trennung: hier "Alternative Sozial- 
arbeit und da "Institutionelle" Sozialarbeit, versuchen ein Stück weit 
aufzuheben, Kommunikation möglich zu machen, um politisch wieder 
handlungsfähig zu werden bzw. zu bleiben. Gilt es doch der Einbindung 
von Selbsthilfe in ein Konzept von Entstaatlichung und gesellschaft- 
licher Refeudalisierung ebenso entgegenzutreten, wie der Funktionali- 
sierung von Selbsthilfe als Effektivierung bestimmer sozialer Dienste. 


Rolf Schwendter 


ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT 


BESTANDSAUFNAHME 


Im letzten Jahrzehnt ist es im überwiegenden Teil der industriali- 
sierten Länder privatkapitalistischer Wirtschaftsordnung zu einer 
breiten Entwicklung selbstorganisierter, basisbezogener, alterna- 
tiver Projekte gekommen. Auch wenn in der Literatur zumindest Einig- 
keit darüber besteht, daß die weltweiten außerparlamentarischer Be- 
wegungen 1967 bis 1969 hierfür eine Auslöserfunktion innehatten, 

wird zum anderen häufig darauf hingewiesen, daß in allen langfristigen 
Wirtschaftsabschwüngen der letzten beiden Jahrhunderte (1823 bis 1848, 
1873 bis 1896, 1918 bis 1940, ab 1967) die Neigung zur Verstärkung 
von Selbstorganisation und Selbsthilfe angestiegen ist. 

Bei meiner Kurzübersicht über die Felder alternativer Sozialar- 
beit/Sozialpädagogik beschränke ich mich zum einen (neben der ge- 
legentlichen Nennung exemplarischer ausländischer Projekte) auf 

die BRD unter besonderer Berücksichtigung Westberlins, zum anderen 
auf Projekte, die zumindest vermittelt (s.dazu ausführlich unten) 

auf Sozialarbeit/Sozialpädagogik sich beziehen. (Also nicht auf den 
Großteil der Landkommunen, ökologischen Projekte, Bürgerinitiativen 
gegen AKW, Mediengruppen etc.) 


Daß ich-entgegen der "allgemeinen Gesichtspunkte"-mit der Behand- 
lung "einzelner Felder" zu beginnen mich gezwungen sehe, resultiert 
aus einem konsensfähigen Paradigma innerhalb der alternativen Be- 
wegung (und den diesen nahestehenden Theoretikern) selbst: Es wird 
von der Aktivität der Felder in der alternativen Praxis ausgegangen, 
in der sich dann die strukturellen Probleme (und ihre Widersprüche) 
vorfinden lassen , um sich letztlich (wengstens dem Anspruch nach) 

in einer Totalität zu vernetzen, zu vereinigen (oder wie immer). 
(Letztlich bei so verschiedenen Autoren wie Foucault, Illich, Negt, 
Ohsawa wiederzufinden.) 

Die Kinderläden (heute heißen sie nicht immer unbedingt so) waren 
eine der ersten sozialen Innovationen, die 1968 entstanden sind. 

Auch wenn sich ihre Ausbreitung in den letzten Jahren nicht linear 
fortgesetzt hat, gibt es wohl weit über loo von ihnen; zusätzlich 
eine Reihe von Kinderhäusern in größeren Städten (z.B.Hamburg, 
München, Osnabrück). Gemeinsam ist ihnen das Entstehen aus Eltern- 
Initiativen und eine ansatzweise Professionalisierung der Bezugs- 
personen. 

In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Kleinstheimen eingerichtet, 
teils als Alternative zu Kinderheimen, teils zu Fürsorgeeinrichtungen. 
Ihre Zahl entzieht sich meiner Kenntnis, da dieser Bereich in der 
Forschung nur ungenügend dokumentiert ist (zusätzlich zum allgemeinen 
Problem, daß es nur in wenigen Bereichen eine einigermaßen stimmige 
Übersicht aller Projekte gibt, ich daher aus dem notwendigerweise 
stets lückenhaften Material zu Schätzungen gezwungen bin). Sie 


sind meist von einzelnen Sozialarbeitern oder Sozialpädagogen ins 
Leben gerufen worden: daher (das konsensuelle Paradigma bezieht sich 
zumeist auf Kollektivität) sind sie in der alternativen Bewegung 
wenig beliebt und werden häufig vernachlässigt. (Siehe auch den 
Meineringhausen-Konflikt in den Netzwerken Selbsthilfe Berlin und 


Nordhessen.) 


Die Schüler betreffend, ist der Strang der Schül ä (z.B. Schüler- 
laden Rote Freiheit um 1970) nicht weiterentwickelt worden. In den 


freien Schulen findet ansatzweise eine integrierte Schulsozialarbeit 
statt. Diese leidet (wie überhaupt das freie Schulwesen in der BRD)- 
etwa im Gegensatz zu Tvind (Dänemark) und den über 500 freien Schulen 
in den USA-unter der restriktiven bundesdeutschen Schulgesetzgebung, 
die auf diesem Feld zu einem faktischen Monopol der Waldorf-Schulen 
geführt hat. (Hier stellt sich dann Rudolf Steiners Didaktik in Wi- 
derspruch zu seiner Gesellschaftstheorie.)Da die Nachfrage unverändert 
vehement steigt, ist in so gut wie allen alternativen Schulprojekten 
eine Vorverlagerung des Numerus clausus auf das 3. bis 6. Lebens- 
jahr die Folge. Der Professionalisierungsgrad entspricht zumeist dem 
der Kinderläden. 

Weiterhin bestehen in der BRD als Alternativen zu Heimerziehung zu- 
mindest 50 Jugendwohngemeinschaften, die sich in der Koordinations- 
stelle für Jugendwohngemeinschaften e.V. (bei der AG SPAK angesiedelt) 
vereinigt haben. Die Bandbreite der Struktur dieser Jugendwohngemein- 
schaften scheint ziemlich groß zu sein: von stärker strukturierten 
JWGs mit hauptamtlichem Sozialarbeiter bis zur (gleichzeitig als 
eingetragener Verein fungierenden) Landkommune mit l-2 Heimjugend- 
lichen ist alles vorfindbar. 


Verhältnismäßig deutliche Aussagen sind zum Feld der Jugendzentren 

in Selbstverwaltung zu machen. Von diesen gibt es ungefähr looo bis 
1200 Vereine oder Initiativen, die sich in etwa 50 Regionalzusammen- 
Schlüssen organisiert haben (Region wird hier meist eher kleinrahmig 
verstanden), eine gemeinsame "Wandzeitung'' herausgeben, und in Kon- 
takten vor allem zur AG SPAK, zum Bund deutscher Pfadfinder, zu den 
Jungdemokraten stehen. (Hier gibt es auch deutliche regionale Unter- 
schiede.) Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig in der Provinz (z.B. Lüne- 
burger Heide, Saarland, Baden-Württemberg), und wo sie erfolgreich 
gearbeitet haben, besteht die Tendenz zur Ausweitung zur Provinz- 
Gemeinwesen-Arbeit (exemplarisch hier der Traum-a-Land e.V. Wertheim). 
Die Hauptamtlichenfrage macht traditionell einen Konfliktpunkt in der 
Jugendzentrenbewegung aus (s.unten). 


Den Sgzialtherapeutischen Bereich betreffend kann ich mich bei allen 
jenen (zielgruppenbezogenen rbeitsfeldern kurz fassen, in welchen 
Alternativen erst ansatzweise bestehen. In der Altenarbeit stehen 
die Grauen Panther" (d.h. die Selbsthilfegruppen alter Menschen)- 
ya Gegensatz zur USA-in der BRD erst am Beginn (Wuppertal). Im 
trafvollzugswesen beschränken sich (neben vereinzelten Entlassungs- 
Bau en”z.B. Mannheim-und Wohngemeinschaften-z.B. Stuttgart) die 
Ef auf Laienhelferarbeit in den Jugendvollzugsanstalten, 
T in den vergangenen Jahren in den einzelnen Bundesländern 
a s lgemeine Verfügungen (AV) noch weiter eingeschränkt worden 
Sozialteaı „reichende Möglichkeiten sähe ich in den Gruppen des 
Selbsthilg. 8° Berlin-Tegel-und in einer Analogie zur norwegischen 
art !lfeorganisation KROM; an eine alternative sozialtherapeutische 
t ist infolge des staatlichen Gewaltmonopols nicht zu denken). 


In der Behindertenarbeit finden seitens des Clubs Behinderter und 
ihrer Freunde Basisaktivitäten (eine Mischung aus-Laienhilfe und 
Selbsthilfe) statt; weitergehende alternative Einrichtungen (Ambu- 
lanzen) fehlen hingegen zumeist. Das Interesse an Basisaktivi- 

täten in der Ausländerarbeit ist nach einem Hoch zu Beginn der 7oer 
Jahre (wohl bewirkt durch die Theorie vom "multinationalen Massen- 
arbeiter" als Subjekt gesellschaftlicher Veränderung) etwas zurück- 
gegangen: es wirken Ausländervereine und der "Verband der Initiativen 
in der Ausländerarbeit'" (VIA). 


Hingegen ist durch die erfolgte Verbreitung der Frauenbewegung ein 
großer Schritt nach vorne in der selbstorganisierten Frauensozial- 
arbeit gemacht worden. Es bestehen (einschl. der Initiativen) über 

2ọ Frauenhäuser, an die 80 Frauenzentren, von diesen ausgehend eine 
große Zahl von Frauenselbsthilfegruppen und Frauenselbsterfahrungs- 
gruppen (vor allem im gynäkologischen und psychotherapeutischen Bereich), 
eine unterschiedlich weitreichende feministische Infrastruktur (Buch- 
läden, Cafes, Kneipen, Läden, Tagungshäuser, Verlage, Zeitschriften), 
in Berlin auch das Frauengesundheitszentrum FFGZ. Darüber hinaus wirkt 
die Frauenbewegung auch in andere alternative Projekte (etwa durch 
Frauengruppen in Jugendzentren, Patientenclubs, Kommunikationszentren) 
und in offenere etablierte Einrichtungen (z.B. Pro Familia e.V.) 
hinein. Im Gegensatz etwa zu den Jugendzentren (deren Selbstverwaltungs- 
anspruch ein hauptamtlicher Sozialarbeiter häufig als aufgeherrschtes 
Organ staatlich-kommunaler Kontrolle erscheint) wird hier mehr Pro- 
fessionalisierung angestrebt, als bislang von staatlich-kommunaler 
Seite zugestanden und finanziert wird (s. den fast bundesweiten Kon- 
flikt um die Finanzierung der Frauenhäuser), 

Hier kann ich auch dem Anspruch genüge tun, "unter besonderer Berück- 
sichtigung Berlins" zu verfahren. Während in den vorgenannten Feldern 
nur zu sagen ist, daß es das halt auch in Berlin gibt, ist die fe- 
ministische Infrastruktur in Berlin wohl die bislang bestausgebaute 

im bundesdeutschen Raum. Erkauft wird dies mit einer besonders in 
Berlin feststellbaren Fragmentierung der alternativen Bewegung, die 
keinesfalls auf die Basisaktivitäten der Frauen zu beschränken ist 

und auf die unten noch weiter eingegangen werden muß. 


Ähnliches ist auch für das Feld des Gesundheitswesens zu sagen. Im 
allgemein-medizinischen Bereich bildet Berlin mit seinen beiden großen 
alternativen Gruppenpraxen/Gesundheitsze (Gropiusstadt, Heer- 
straße) den einzigen Schwerpunkt neben dem Rhein-Main-Raum (Ried- 
stadt, Frankfurt, zahnärztliche Gruppenpraxis Pfungstadt/Weiterstadt), 
mit seinem Gesundheitsladen (der sich der gigantischen organisatorischen 
Aufgabe des "Gesundheitstages 1980'' gewachsen erwies), dem einzigen 
neben Bayern (München, Würzburg-Zellerau), mit seinen Ansätzen alter- 
nativer medizinischer Prävention in der " Fabrik für Kultur, Hand- 
werk und Sport" den gleichfalls im Geltungsbereich des Grundgesetzes 
führenden Zusammenhang. Dabei ist zu erwähnen, daß dieser Bereich 

zwar eher stark professionalisiert, die Gründung von Selbsthilfe- 
gruppen jedoch in allen genannten alternativen Einrichtungen pro- 
grammatisch ist. Nichtsdestoweniger darf aber nicht verschwiegen 
werden, daß die Alternativen der Sozialmedizin noch bundesweit 

ganz am Anfang stehen, und einer starken Ausdehnung im Laufe der 

8oer und 90er Jahre bedürfen. 


Im Bereich der Arbeit mit Drogenabhängigen (auch hier besitzt Berlin 
mit dem Synanon e.V. einen bedeutenden Träger mit alternativem An- 
spruch) ist bedauerlicherweise die Prognose voll eingetroffen, die 

ich zu Beginn des Jahrzehnts (in "Subkultur und städtische Kultur- 
politik" bzw. "Subkultur und Subvention") angedeutet habe. Die Subven- 
tionierung alternativer Träger ist durch die Subventionierung weniger 
alternativer Träger abgelöst worden; den Rest gab manchem Projekt 

die Eistellung der ( zudem neopositivistisch ausgewerteten) staat- 
lichen Modellförderung. (Mit der Folge, daß heute auch die nach langem 
Kampf noch bestehende Free Clinic Heidelberg eher den Gruppenpraxen 
allgemeinmedizinischer Art als der Drogenarbeit zuzurechnen ist.) 

Zum Teil deshalb (zum Teil aus inneren Widersprüchen, die nie auf- 
gearbeitet worden sind) ist die auf Selbsthilfe bezogene "reiche" 
Release-Bewegung (1973 an die 30 Gruppen umfassend) durch eher fremd- 
bestimmte, "harte" Therapie-Ketten (Niedersachsen, Daytop, Synanon) 
abgelöst worden. So daß die Drogenarbeit derzeit ihren alternativen 
Scherbenhaufen darstellen kann, anstatt einer "mittleren" Selbsthilfe- 
bewegung. (Nicht zu reden von den Alkoholabhängigen: hier gibt es 

zwar eine Vielzahl von Selbsthilfegruppen, die sehr rührig arbeiten, 
jedoch ausnahmslos mehr oder weniger christlich geprägt sind. Selbst- 
hilfegruppen für nicht christlich orientierte Alkoholabhängige fehlen 


allerorts.) 


Schließlich die Sozialarbeit mit psychisch Kranken. Auch hier sind- 
insbesondere nach dem Erscheinen der Psy-chiatrie-Enquete 1975- 
viele alternative Einrichtungen und Basisinitiativen entstanden; 
auch hier liegt derzeit ein Vorsprung Berlins (mit der Theta Wedding 
als erster therapeutischer Tagesstätte, dem Kommrum als umfassendem 
zielgruppenbezogenem Kommunikationszentrum-beide haben den selben 
Trägerverein-und einer alternativenfreundlichen Berliner Gesell- 
schaft für Soziale Psychiatrie) vor. Zu nennen sind Therapeutische 


Wohngemeinschaften, Patientenclubs, Beschwerdezentren, Beratungs- 
stellen, Kriseninterventionsdienste, Laienhelfervereine, Selbst- 
hilfegruppen, humanistische Therapieinstitute (was bislang leider 
völlig fehlt, sind Alternativen zu den "Beschützenden Werkstätten"). 
Wie bei den Jugendwohngemeinschaften ist hier der Grad der Pro- 
fessionalisierung außerordentlich unterschiedlich und widersprüch- 
lich: von ihrer brachialen Ablehnung ("Iatrokratie")durch die "Patien- 
tenfront" bis zur affirmativen Stellung zu staatlichen Großprojekten 
(z.B. Verein Freundeskreis Treysa e.V.) oder zum Markt ("'Psycho-Boom") 
lst alles vorhanden. Koordinationsmöglichkeiten bestehen gleich 
mehrfach: DGSP, AG SPAK, Bundesverband Selbsthilfegruppen, Sensus e.V., 
Dachverband psychosozialer Hilfsvereine. 
Wie bei den Schulen besteht auch bei den Krankenhäusern gleichsam 
Es dullroposophisches Monopol (am bekanntesten Herdecke). 
isan Pie aa daß die Arbeitslosigkeit (einschl. ihrer sekun- 
ET eE wie Arbeitshetze) sowohl für die Sozialpäda- 
an einge als auch für die Enstehung alternativer Projekte 
auf alle a e spielt. Abgesehen vom Einfluß der Arbeitslosigkeit 
die Rede regen alternativer Ökonomie (von velener hier nur soweit 
sind) haben a die sozialpolitischen Projekte betroffen 
explizit als ae ig ee TZ Dis zu 50 Projekte beansprucht, 
Psychiatri ernative ür arbeits ose Jugendliche, Trebegänger, 
eentlassene, Fürsorgejugend etc. zu arbeiten. Ein großer 





Teil dieser Projekte scheiterte (z.B. Selbsthilfe Kassel) oder 
verlagerte seine Ansprüche von der Arbeit mit Arbeitslosen weg zum 
Kontakt mit der Arbeiterbewegung (z.B. Arbeiterselbsthilfe Frank- 
furt). Die verbleibenden Projekte ( am bekanntesten die Sozialistische 
Selbsthilfe Köln; in Berlin wäre das Thomas-Weisbecker-Haus zu nennen) 
sind weithin am Markt (teils an privaten Revenuen) orientiert, und 
lehnen eine sozialarbeiterische Professionalisierung strikt ab. 
Jedenfalls ist hier das bei den psychisch Kranken Gesagte zu wieder- 
holen: es mangelt deutlich an alternativen Produktions-und Repro- 
duktionsmöglichkeiten für Arbeitslose. 


Blieben die Bereiche aus dem Umkreis der gemeinwesenbezogenen Bildungs- 
arbeit wie der Gemeinwesenarbeit. In letzter Zeit entstanden zunehmend 
Kreativhäuser (z.B, Münster - in den Niederlanden ist diese Form 

längst etabliert und staatlich gut subventioniert, wenngleich Inhalte 
und Verkehrsformen weithin alternativen Ansprüchen genügen) und 
Reisende Schulen nach dem Vorbild von Tvind (Streitberg,Ayershausen, 
Scholen). Analog zur Entwicklung in der Arbeiterbewegung (Natur- 
freundejugend) hat eine Vielzahl (etwa 50) kleinerer Kollektive 
alternative Tagungshäuser aufgebaut - 12 von ihnen koordinieren 

sich selbst in der "Vereinigung selbstoganisierter Begegnungsstätten". 
Hingegen wurden manche Stränge aus der Weimarer Republik (z.B. Arbeits- 
schullager) nicht wieder aufgegriffen; auch werden Formen selbst- 
organisierter dezentraler Erwachsenenbildungsarbeit, wie Lernbörsen, 
Bildungsnetzwerk etc. im Anschluß an Illich und Dabholkar zwar dis- 
kutiert (z.B. bei Dauber/Verne), doch ist noch keine einzige von ihnen 
in der bundesdeutschen Praxis entstanden. 


Die Kommunikationszentren, zuweilen auch (städtisch dezentral) sozio- 
kulturelle Zentren und Kulturläden, meistens eingetragene Vereine, 
manchmal in kommunaler Trägerschaft, mischen Anforderungen an eine 
Vielzahl von ehrenamtlichen Mitarbeiter(innen) mit jeweils einem bis 
einigen städtisch finanzierten Hauptamtlichen. Es gibt ca. 20 Kommu- 
nikationszentren, die auch über einen bundesweiten Koordinations- 
verein verfügen. Auch für die soziokulturelle Arbeit gibt es einen 
Verband; beide sind ihrerseits mit der Kulturpolitischen Gesell- 
schaft e.V. vernetzt. 

An größeren Kommunikationsarealen gibt es meines Wissens die einzige, 
bereits genannte "Fabrik" in Berlin-Tempelhof (im sozialarbeiterischen 
Sinne strikt antiprofessionell), und auch die nur infolge kommunaler 
Unterstützung (etwa in der Mietfrage) als auch infolge kommunaler 
Subventionen (die im Falle des Netzwerks Selbsthilfe Berlin bereits 
eine 6stellige Zahl erreicht hat). (An Vorbildern ist hier der Ko- 
penhagener "Freistaat Christiana" - eine in vielem marktorientierte 
Alternative - und die 1976 entstandene, geräumte und auf das Ausmaß 
eines Kommunikationszentrums beschnittene Wiener "Arena" zu nennen.) 





In der Gemeinwesenarbeit überwiegen wiederum (zumal nach der drastischen 
Reduktion der trägerorientierten bzw. mödeTlversuchbezogenen haupt- 
amtlichen Gemeinwesenarbeit der frühen 70er Jahre, einschl. der 
Schließung der Viktor-Gollancz-Stiftung) die ehrenamtlichen selbst- 
organisierten Basisaktivitäten. Dies betrifft sowohl die Arbeit von 
Laienhelfern in Obdachlosensiedlungen (auf die Probleme, die entste- 
hen, wenn jemand aus der Initiativgruppe als Hauptamtlicher eingestellt 
wird, geht Horst Eberhard Richter ausführlich ein), als auch die 
Entstehung von Mieterinitiativen, Bürgerinitiativen für/gegen Ver- 
kehrsmaßnahmen, für Abenteuerspielplätze etc. Auf die Frage alter- 





nativer Hauptamtlichenfinanzierung geht m. E. einzig Theodor Ebert 
ein, der (Modellen aus den USA folgend) die Finanzierung von "community 
organizers" durch jeweils lo-12 Familien diskutiert - bislang ohne 
sichtbare Folgerungen. 
Nicht zu vergessen bei der Erörterung von Gemeinwesenarbeit ist, 
daß sich in den letzten lo Jahren die Wohngemeinschaften massenweise 
durchgesetzt haben (schätzungsweise 10.000 Wohngemeinschaften mit 
hoch über 100.000 Bewohnern). Längst haben sie das Umfeld des bloß 
Studentischen überschritten, längst wohnen Tausende von Beamten, 
Angestellten, Lehrlingen/Jungarbeitern, Schülern, Hausfrauen, Kin- 
dern in Wohngemeinschaften. Auch hier ist die Vorrangstellung Ber- 
lins unumstritten. Auch abgesehen von den bereits genannten Jugend- 
wohngemeinschaften und Therapeutischen Wohngemeinschaften haben die 
Wohngemeinschaften unzweifelbare Funktionen in der dezentralen "Er- 
wachsenenbildung" (vor allem hinsichtlich des sozialen Lernens), 
in der psycho-sozialen Prävention, in der Herstellung von sozialer 
Infrastruktur in den betroffenen Stadtteilen (Läden, Teestuben, Medien, 
Stadtteilfeste ...). Zum anderen stoßen Wohngemeinschaften (und 
hier besteht von Ort zu Ort eine gewaltige Ungleichzeitigkeit) so- 
eben mehr oder minder an die Grenzen ihrer Gemeinwesenarbeit: einer- 
seits durch die Knappheit an jeweils lokal verfügbarer wohngemein- 
schaftsgeeigneter Bausubstanz (jedenfalls Münster, Heidelberg, Mün- 
chen), andererseits ist das Bestreben der Wohnungsspekulation, die 
hierfür geeignete Bausubstanz durch Verwandlung von Mietwohnungen 
in Eigentumswohnungen noch weiter zu vermindern. 
Eine Folge dieser Entwicklung ist das Bestreben, sich über Miet- 
vertrag oder Kaufobjekte zu sichern, die geeigneten Wohnraum für 
gemeinsames Wohnen und gemeinsame häusliche Infrastruktur abgeben. 
Hierzu ist der Mustermietvertrag der Mietgemeinschaft Haynstraße 1-3 
(Hamburg) ebenso zu zählen wie das gemeinsam gekaufte Haus Breisa- 
cherstraße 12 (München Heidhausen), die Bestrebungen der Artillerie- 
straße 7 (München-Westschwabing), des "Urbanes Wohnen e.V." in München 
und des Neubauprojekts in Graz-Raabe. (Zu ähnlichen Bestrebungen 
sind zwischenzeitlich nach der vorerst nicht revidierten Räumung 
des selbstverwalteten Studentenheims Collegium Academicum in Hei- 
delberg auch Alt-Kollegiatenverein und Verein für die Wiedergründung 
des CA gelangt). 
Ahnlich den Lernbörsen und Bildungsnetzwerken (das Bemühen des al- 
ternativen Vorlesungs-Verzeichnisses sei hier nachzutragen) muß 
erwähnt werden, daß eine alternative Einrichtung in den letzten 
Jahren ausgiebig diskutiert wurde (z.B. von Bierter, von Weizsäcker, 
Huber, Geissberger), ohne daß es bislang zu den geringsten wahrnehm- 
varen praktischen Folgen kam. Die Idee einer sekundärökonomischen 
nüpfung von ca. 8o Personen/Familien zu gegenseitiger Hilfe, 
gemeinsamem Gartenbau oder Handwerk, sozialtherapeutischer Inte- 
re bislang ausgegrenzter Personen fasziniert zwar 
en rue in die Praxis umgesetzt wurde sie aufgrund dieser Dis- 
a Jedenfalls nicht. (Ich spreche hier nicht von Orten, wo 
adıtıonelle Nachbarschaftshilfe noch aufgrund traditioneller 
Überlieferung besteht, wie Schwerte oder Ghel/Belgien). 


Zur ideellen Unterstützung bestehender, wie neu beginnender, al- 
ternativer Projekte, wie zur Sammlung und (materiellen) Umvertei- 
lung von Revenüen ist vor 2 Jahren das Netzwerk Selbsthilfe ge- 
gründet worden. (Auch hier ging die Initiative von Berlin aus). 


lo 


Mittlerweile regional weithin dezentralisiert, mit zusammen über 

5000 Mitgliedern versehen, hat es sich nach anfänglich schweren 
Konflikten durchgesetzt (nur dort - in der Provinz - zu Recht nicht, 
wo es tatsächlich ein Rückschritt gegenüber bereits erfolgten Zu- 
sammenhängen wäre). Dies leitet zum nächsten Punkt über: die allent- 
halben gestellte Frage, ob denn Netzwerk Selbsthilfe ein alternatives 
Sozialamt wäre, ist kritisch gemeint. 


STRUKTUREN, STRUKTURELLE WIDERSPRÜCHE, 
WIDERSPRÜCHE IN DER THEORIE 


Nach diesem Schweinsgalopp (Mann/Frau kann ihn auch als "Zusammenschau" 
bezeichnen) durch die Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit 
(wir sehen, außer dem klassischen Ämterinnendienst - zu dem ja gerade 
selbstorganisierte Alternativen entwickelt werden - fehlt kein tra- 
ditionelles oder neueres Arbeitsfeld) stellt sich die Frage, was in 
diesen Alternativen an Strukturen (und entsprechend: strukturellen 
Problemen und Widersprüchen) gemeinsam ist. Entsprechend wäre dann 
in der Folge darauf zu reflektieren, wie sich die Erfahrungen dieser 
realen Bewegungen in den verschiedenen Theoriebildungen niederschla- 
gen. 
Zum ersten teilen die Alternativen in der Sozialarbeit/Sozialpäda- 
gogik mit ihren in etablierten Einrichtungen arbeitenden Kolleg(inn)en 
das von Anselm Weidner bezeichnete Dilemma, in ein System eingebunden 
zu sein (wenngleich nicht als "Funktionär"), das dieses Elend erzeugt, 
welches sie abschaffen sollen ("Alternatives Sozialamt", siehe oben). 
Zum zweiten steht die Alternative im Doppelcharakter (wie alle 
Erscheinungsformen in der bestehenden Gesellschaft), gleichzeitig 
Antizipation des "Noch nicht" (Bloch), des künftig vielleicht Mög- 
lichen zu sein, gleichzeitig aber auch Abbild der bestehenden Ge- 
sellschaft, zur zumindest partiellen Integration in jedenfalls eine 
ihrer zentralen Institutionen (Markt oder Staat) verpflichtet (oder 
dem Bezug von Revenüen von Personen, für die dies ihrerseits der 
Fall ist). 
Zum dritten ist ein struktureller Widerspruch schon in der Kurzüber- 
sicht überdeutlich geworden. Aus dem Zwang zur Auslagerung immer 
weiterer Momente des Reduktionsbereichs ergibt sich zum einen die 
Entstehung eines (als solches auch gesellschaftlich von zunehmender 
Bedeutung) Millionenheeres von Intellektuellen und solchen, die es 
durch Studium werden wollen, welches sich - und bei zunehmender 
institutioneller Arbeitslosigkeit gleichfalls zunehmend - um mög- 
lichst selbstorganisierte "Arbeitsplätze kümmern muß; zum anderen 
eine Gegentendenz gegen diese Auslagerung selbst, und für die Wieder- 
aneignung der "eigenen Kräfte" ("forces propres") durch die in Selbst- 
hilfe erfolgende Abschaffung professionalisierter Experten. 
Zum vierten ist (durch die industriellen Vergesellschaftungsprozesse 
und das mit ihnen verbundene Anwachsen der Staatstätigkeit) gleich- 
zeitig festzustellen, daß die alternative Tätigkeit als weithin 
vergesellschaftete begriffen wird, und daß die anwachsende Verge- 
sellschaftung Bedürfnisse nach immer kleineren, überschaubaren 
Arbeitsbereichen ruft (bis hin zum individuellen Aufbau von Kleinst- 
heimen, Psycho-Boom-Einrichtungen oder Ambulanzen als Grenzfall). 
(Zur Klarstellung der Definition muß ich nachtragen, daß unter 
"klein/überschaubar" im allgemeinen Projekte verstanden werden, an 
denen 3-30 Personen mitwirken. "Großprojekte" hingegen reichen 


11 


bei Alternativen etwa vom kleinen Kibbuz (etwa loo Personen) bis zur 
Phalanstöre im Sinne von Charles Fourier (1620 Personen - soviele 
wohnen auch im Aurobindo-Ashram in Pondicherry; die amerikanische 
Großkommune "The Farm" umfaßt etwa 1200 Personen). "Größere" Pro- 
jekte schlägt meines Wissens niemand vor. 


Zum fünften ergibt sich aus den genannten Strukturen der Antizipation, 
der ökonomischen Knappheit, der Überschaubarkeit, auch der juristischer 
Restriktionen und der Modellversuchsökonomie eine Beschränkung vieler 
Alternativen auf wenige betroffene Personen, während gleichzeitig 

ein Anspruch auf umfassende Verallgemeinerung (zumeist mit Recht) 
formuliert wird (Abschaffung aller psychiatrischen Landeskranken- 
häuser, Ersatz der Fürsorge-Erziehungsheime durch Jugend-Wohngemein- 
schaften, Dezentralisierung des Schulwesens etc.). Dadurch entsteht 
ein Numerus-Clausus-Effekt (Freie Schulen, Drogenabhängige, WGs). 

Zum sechsten reproduzieren sich (die Konkurrenz selbst 
zählt zu den Strukturprinzipien von Gesellschaften, die auf dem 
Warenaustausch basieren) mannigfaltige Konkurrenzen zwischen ver- 
schiedenen alternativen Projekten: antizipative und integrative 
Momente; etablierte Professionelle und alternative Professionelle f 
und mit Professionellen kooperierende Basisinitiativen und Professio- 
nelle (z.B. "introfaschistische") bekämpfende Basisinitiativen (nicht 
zu reden von Professionellen, die gleichzeitig ehrenamtliche Mitarbeiter 
in selbstorganisierten Basisinitiativen sind und von "sekundären 
Experten", die sich in letzteren qualifiziert haben); kleine und 
große, öffentlichere und privatere Projekte; eingeschränkte (frei- 
willig oder unfreiwillig) und verallgemeinerte Zielgruppen; dazu 
noch eine Vielfalt konkurrierender Normen sowie persönliche Zu- 
und Abneigungen im jeweiligen lokalen Geflecht der Subkulturen und 
Drehpunktpersonen. (Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig: 
so fressen sich entgegen allen, so auch von ÖTV, DGSP, DVT etc. 
formulierten Ansprüchen, in medizinischen und sozialtherapeutischen 
Alternativprojekten die überkommenen Konkurrenzen zwischen historisch 
und juristisch verschiedenen privilegierten Berufsgruppen hinein, 
die selbst im Falle ökonomischer Gleichstellung - einheitliche Ent- 
lohnung - nicht völlig auszuräumen sind). Diese mannigfaltigen Kon- 
kurrenten erscheinen denn auch in den Konflikten der Frauenbewegung, 
=B den Konflikten um Netzwerk Selbsthilfe (Peter Brückners subkulturelle 

Klassenanalyse" deckt nur einen Teil hiervon ab) in einer Fragmen- 
tlerung alternativer Bewegungen, die gerade für Berlin so bezeichnend 
ist. Sie erscheinen aber auch konsequenterweise in der Vielfalt 

teils konkurrierender, teils (seltener) solidarischer Dachorgani- 
Sationen, deren mangelnde Vernetzung ein gemeinsames Vorgehen in 
Sozialpolitischen Fragen häufig verhindert (nicht nur im Falle des 
Netzwerks Selbsthilfe wird dabei klar, daß es sich auch häufig um 

die Konkurrenz um verschiedene Revenüen handelt). 


Schließlich, zum siebten, erscheinen die gesamtgesellschaftlichen 
(widersprüchlichen) Entwicklungen, sehr vereinfacht gesprochen, als 
konkurrierende wissenschaftliche Paradigmen, die ihrerseits Ein- 
flüsse auf die alternativen Bewegungen und ihre theoretische Re- 
flexion ausüben: 

° das (letztlich vom Marktmechanismus und, entsprechend, vom frag- 
mentierten Individuum ausgehende) (neo)positivistische Paradigma, 
das die vereinzelte, sich kummulierende "Stückwerk-Reform" (Popper) 
zum Ziele hat; 


e das (letztlich vom Staatsinterventionismus und, entsprechend, von 

der erheischten sozialen Kontrolle des Individuums beeinflußte) 
systemanalytische Paradigma, das in "Ketten", "Infrastrukturen", 
"Vernetzungen" denkt; 

e das (letztlich vom zunehmenden Vergesellschaftungsgrad von Gesellschaft 
und Individuum herrührende) ganzheitlich totalisierende Paradigma, 

das sich auf Aufhebung von Trennungen ("gemeinsam leben-lernen-arbeiten"), 
Arbeits-und Lebenszusammenhänge, kollektive Selbstbestimmung, Ineins- 
fallen von Experten und Betroffenen, Helfer und Klienten etc. bezieht. 


Kompliziert wird hier die Lage noch dadurch, daß (mit Notwendigkeit) 
die genannten Paradigmen ineinander übergehen, ja, verfließen. Während 
das (neo) positivistische Paradigma für die Alternativen geringere 
Bedeutung hat (wir müssen auf dieses bei der Erörterung der kommunalen 
Sozialpolitik zurückkommen), spielen die beiden letztgenannten (und 
eine Kombination beider) auch in den Alternativen eine große Rolle. 
Als nächstes ist mir aufgegeben, "vorhandene Positionen in einer Zu- 
sammenschau" darzustellen und deren "Widersprüche und Differenzen" 
herauszuarbeiten sowie " konsensfähige Gemeinsamkeiten" zu markieren. 
Ich will dies versuchen, zumal es sich um Reflexionen auf reale Be- 
wegungen handelt. 


Beginnen wir damit, daß es Differenzen darüber gibt, was "Alternativen" 
nun sind. Positionen, die Alternativen (als "zweite Kultur" oder "Sub- 
kultur") in enger Bindung an die jetzt bestehende Gesamtgesellschaft 
(als deren Negation und potentielle Aufhebung) formulieren (etwa Gramsci, 
die Birmingham-Schule (Willis, Clark u.a.), Schwendter), stehen solchen 
gegenüber, die Alternativen in taxativer Aufzählung darstellen (etwa 
Hollstein/Penth). Konsensfähig sind hierbei im allgemeinen die auf- 
gezählten Normen (die als Negation der Gesamtgesellschaft zumeist 
interpretierbar sind), etwa Selbstentfaltung, keine Hierarchie, Auf- 
hebung von Tätigkeitsfestschreibungen, Gegenöffentlichkeit. (In der 
Praxis liegt die Gefahr der ersten Position in der Weitläufigkeit, 

der zweiten im Dogmatismus). 

Ähnlich verhält es sich mit den Positionen zu Antizipation (die zur 
Isolation werden kann) und partieller Integration (die zur totalen 
führen kann). Antizipative Jubelgesänge (etwa bei Jungk, Hollstein, 

der ehemaligen AAO, Longo Mai) stehen integrationsverdächtiger Schwarz- 
malerei (etwa bei Kraushaar, K. H. Roth, den Subrealisten) gegen- 

über. Häufig (nicht bei allen) stellt sich in der Anerkenntnis des 
Doppelcharakters (zumindest ein abstrakter) Konsens her. (In der Praxis 
neigen häufig erfolgreiche (d.h. ihrem eigenen Anspruch weithin gerecht- 
werdende) Projekte, oder solche im Anfangsstadium zur antizipativen, 
gerade gescheiterte Projekte, Leute, die die Projekte verlassen haben 
oder bei keinen mitarbeiten wollen, zur integrationsverdächtigenden 
Position). 

Die Frage "Markt oder Staat?" bestimmt sich oft nach der aussichtsrei- 
cheren Revenüenquelle (Arbeiterselbsthilfen z.B. - eher Markt. Frauen- 
häuser, Sozialtherapien z.B. - eher Staat), wobei sich, pragmatisch 

der Konsens darüber herstellt, was von beiden (und von anderen Revenuen) 
zu erhalten ist. (Theoretisch bezieht sich z.B. Illich stark auf den 
Markt, z.B. Negt stark auf den Staat). 


Ob nun Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit eher von 
Alternativprofessionellen oder Basisinitiativen in Selbsthilfe durch- 
geführt werden sollen, dazu gibt es nun eine Vielzahl von Positionen, 
die auch nicht ohne weiteres konsensfähig sind: 


èe Um ihre eigenen Ziele durchsetzen zu können, sollen Professionelle 
in alternativen Einrichtungen arbeiten, dazu allerdings erhebliche 
Einkommenseinbußen in Kauf nehmen bzw. ohne interne Lohndifferen- 
zierungen arbeiten (z.B. Waldorf-Schulen, Tvind, Reisende Werkschulen, 
Free Clinic); 


è infolge Arbeitszeitverkürzung und/oder Zeitsouveränität soll mehr 
Zeit dafür übrigbleiben, daß die Alternativen von Basisinitiativen 
in Selbsthilfe, von "kleinen Netzen" etc. ausgebaut werden sollen 
(z.B. Bierter, von Weizsäcker, Kutzner); 


e der Expertenstatus soll abgeschafft und die entsprechenden Quali- 
fikationen durch die Leute wieder angeeignet werden. Dies soll vor- 
Sichtig (z.B. Illich) oder radikal (z.B. Patientenfront) geschehen; 


è mehr oder weniger professionelle Arbeit ist nötig, um in der be- 
Stehenden Gesellschaft (durch den Markt oder Subsistenzwirtschaft) 
zu überleben, doch soll hierbei die sozialpädagogisch-sozialarbei- 
terische Tätigkeit nicht als solche losgelöst werden, sondern in die 
Gemeinschaft integriert sein (z.B. SSK, Fabrik, u.a.); 


° das zunehmende Entstehen von Selbsthilfegruppen und Basisaktivitäten 
ist notwendig, doch ist auch alternative Professionaltät in der 
dualen Ökonomie" oder in der "alternativen Ökonomie" zu akzeptieren, 
sei es um Arbeitslosigkeit oder Berufsverbote abzufangen (z.B. Huber, 
Schwendter), sei es um bestimmte Qualifikationen den Bürgerinitiativen 
zu sichern (z.B. Ebert); 


® die Qualifikation der Experten ist (vorerst?) unverzichtbar, diese 
vielmehr trachten, institutionale Möglichkeiten selbst für Alter- 
nativen (einschießlich der Abschaffung bestimmter Institutionen) 

zu nutzen (z.B. Jervi, Basaglia, Negt); 


eè in beiden Fällen sind Alternativen ohnehin ein Ausdruck der Avant- 
garde zukünftiger Dienstleistungsbedürfnisse (z.B. Gardner/Riessman). 


Die Vielzahl der kontroversen Positionen, ihr relativer Mangel an 
Konsensfähigkeit, und die verschiedenen Interessen, die sich (z.B. 
Im Netzwerk Selbsthilfe) zueinander in Konkurrenz stellen können, 
deuten an, daß hier ein Lebensnerv der Alternativen in der Sozial- 
Pädagogik/Sozialarbeit getroffen zu sein scheint. 
Viel kürzer kann ich mich zur "Überschaubarkeit" fassen. Es sind 
„sleine" Lösungen vertreten worden (z.B. Bacia, Dauber, ASH) und 
große" Lösungen (z.B. von Duhm, von Gyzicki, AAO, Huber); im Zweifels- 
fall liegt heute der Konsens in der "Vernetzung". 
Zum Numerus-Clausus-Effekt gibt es kaum Literatur; ebenso zur Kon- 
kurrenz (zu letzterem arbeite ich selbst an einem Sammelband und 
weiß ein Lied über Materialschwierigkeiten zu singen). 


Die Positionen zu den wissenschaftlichen Paradigmen wurden bereits 
genannt. 


DAS VERHÄLTNIS DER ALTERNATIVEN ZUR KOMMUNALEN SOZIALPOLITIK 


Die methodische Hauptschwierigkeit dieses Abschnitts liegt darin, 

daß es sich nicht um die im ersten Abschnitt skizzierte Milchstraße 

von Alternativen, sondern um die entsprechende Zerklüftung kommunaler 
Sozialpolitik handelt. Eine Rolle spielt hierbei u.a., das jeweilige 
Ausmaß Öffentlicher Mittelknappheit und kommunaler Verschuldung, die 
jeweils örtliche Stellung der Großträger; das politische Klima der 
Gemeinden einschließlich der kommunalen Parteienstruktur; wahrgenommene 
Problemlagen, Image-und Legitimationsdefizite; Nähe und Ferne zu den 
nächsten Wahlterminen; die Wirkung der Landesregierung auf Hochschul- 
politik, öffentliche Träger etc.; Ausmaß und Art der Nutzung des Spiel- 
raums von/durch kommunale Beamte und Angestellte; Besetzung, Engagement, 
Hausmacht , Konkurrenz der verschiedenen mit Sozialpolitik befaßten 
Dezernate (Sozial-, Schul-, Kultur-). 


Um mit einem Minimum an Platz zurechtzukommen, sehe ich mich gezwungen, 
die kommunale Sozialpolitik hinsichtlich der Alternativen in ein gro- 

bes Raster aufzuteilen, das selbstredend das oben gesagte außerordentlich 
verkürzt: 


l. Kommunen, die Alternativen wenigstens in einzelnen Dezernaten 
ausdrücklich finanziell und ideell fördern (z.B. Unna und Nürnberg 
in der sozialen Kulturarbeit); 


2. Kommunen, die Alternativen grundsätzlich fördern, jedoch zumeist 
zu spät, zu geringfügig, zu halbherzig, ohne Personalkosten etc. 
(z.B. Kassel); 


3. Kommunen, die Alternativen zwar nicht fördern, jedoch sie wenigstens 
in Ruhe lassen (z.B. - mit Einschränkungen - Köln); 


4. Kommunen, die Alternativen grundsätzlich mit Repressionen belegen, 
sie diffamieren, im Extremfall kriminalisieren (z.B. Heidelberg). 


Ebenso wird hier eine schematische Aufstellung der Alternativen nach 
den oben Ausgeführten erforderlich: 


l. Alternativen, die eine teilweise Professionalisierung anstreben 

und deshalb auf eine kommunale Subventionierung angewiesen sind (daß 
dies wiederum sehr vereinfacht ist, weiß ich selbst. Infolge ihrer 
permanenten Mittelknappheit/Verschuldung sind die Kommunen, jedenfalls 
die von 1.-3., wahre Meister des negativen Kompetenzkonflikts. Es 

gibt kaum so viele Materien als wie nicht die Kommune, sondern der 
Bund, das Land, der Landkreis, die Krankenkassen, der LWV/Landschafts- 
verband, der Sozialhilfeträger oder wer immer, zuständig ist 


2. Alternativen, die entweder die Finanzierung ihrer (Teil-)Professiona- 
lisierung durch den Markt anstreben oder als Bürgerinitiativen, Basis- 
aktivitäten, Selbsthilfegruppen nur relativ geringfügige (Raum), 
gelegentliche (z.B. Stadtteilfest) oder gar keine Subventionierung 
benötigen. (Ausgeklammert müssen hier jene Alternativen werden, für 
deren Subventionierung eindeutig die Kommunen nicht zuständig sind 

- etwa die Freien Schulen.). 


ime, 


Frauen- 


derläden zählen, die Kinderhäuser, Kleinsthe 


in 


ie K 


den di 


wür 
Jugendwohngemeinsc 


ls» 


Zu 


haften, Jugendzentren, Gemeinwesenarbeit, 


die 


Gn, 


‚ Sozialtherapien, TWI 


häuser, Gesundheitsläden, Drogenarbeit 


Kulturarbeit; 


llzugsanstalten 


Justizvo 


zu 2. die Grauen Panther, die Laienhelfer in 


und Landeskrankenhäusern, die Frauenzentren und -selbsthilfegruppen, 


institute, 


lfegruppen, Psycho 


i 


Ausländerclubs, Gruppenpraxen, Drogenselbsth 


Psychoselbsthilfegruppen, Arbeitslosenselbsthilfen, die Laienhelfer 


terinitia 


le 


tiven, Wohngemeinschaften, Bildungs- 


ODL-Siedlungen, M > 
netzwerke sowie das Netzwerk Selbsthilfe. 


ın 


äben: 


ios ergä 


Woraus sich schon einmal 8 Scenar 





toe (STUFT) 


*** USUOSIAT I9p Zumıspuemgy 391] *g'z) usumey sne dung 








‘usumey UOA Inzyug “ZUNISTSTTEUTWLIN -TƏIJLƏA “uUoTJusAgnS Op Inzyug uotssəIdəy 
++ uay er 
-335 uəmwuoy nz uot}rsoddo UT Ip ASZELIIJOIZ ue ‘uuəm ‘Yyad pTə9 
‘USATJEUII} TY uUsITyezaqun pun us} ‘usdumtpueyla‘ əsoqstuqəgrə oıTeJ 
-IITJUSTIOINIEBU UOA 9I39Ted SITSIg SYITTJUS39T33 {uoryusagns UTA -Z9SSTe] 
"-* 2yD9Tıy Zunı 


*** Jydru [Ta] UNZ “usgsıysue uau SunTy>tmgug {usIsoyyses INF -ƏPIQA 9313 
-OT}usSAqNS TTƏL UNZ ƏTp “usATJeUIS}I UOTJUJAqNS sdTIney ‘uUsIsoyTeu -ny3uLıe? 'Əyo 
-Ty usITyezagum UA 9329Teq SITSIg -OSIƏd INJ UOTJusAgNS ƏUƏLTƏŞS -TIZIESPUNII 





*** UYS USATIJEULISITY U2} 
-ISTTIEI9 usp nz uorYTsoddg UT ƏSTƏM *** IsqTos 4PpVIS ƏTP PPınp JT 


-1193 ƏIP ‘UJATJLULIJ TY SITyezaqun -TƏ7SUTJ "T2A9 {usITaqIeTetTzos 3umnIəp1Q4 


pun 3219TJUSTIOIYIEU SYSTTZIESNZ USATIEULISITE UOA IUmISTZUeUTJ SySTTNDNIpsNY 





usddnı3sFTTy2sqTsS ‘94 “II + PIIEW UOTJUSAAqNS/ZUNISTSTTEUOTSSOFOLII 
SATJEULISI 


Es wäre schon einmal lohnend, nach solchen Kriterien die Einstellung 
von Alternativen zur alternativen Professionalisierung und zur Sekun- 
därökonomie zu untersuchen: wo besonders oft davon die Rede ist, 

daß Experten die Leute ihrer eigenen Kräfte enteignen, und anderer- 
seits, daß unbezahlte Sozialarbeit nur für den Staat kostenentlastend 
wirkt. Wo alternativ-professionalisierte Sozialarbeit deshalb besonders 
reizvoll wird, weil die Kommune zu wenig (oder: zu wenig interessante) 
Planstellen hat, und die übrigen Träger ohnehin eine Bezahlung von 
Berufsanfängern nach BAT V b oder VI vorziehen; wo zum anderen Se- 
kundärökonomie interessant wird, da ein großer Teil der Agierenden 
ohnehin in einigermaßen erträglichen Berufen berufstätig (oder mit 
relativ hohen Sätzen arbeitslos) ist. 

Sicherlich kommen hier noch eine Reihe von modifizierenden Kriterien 
hinzu: Wohnwert der Kommune, folglich Bereitschaft oder Nicht- Be- 
reitschaft zur Mobilität, landesgesetzliche Bestimmungen (so er- 

klärt sich zum Teil das Anwachsen von alternativen Bildungsprojekten 
in NRW durch die fortschrittlichere Gesetzeslage)etc. Auch muß ich 
wieder einmal auf die "besondere Berücksichtigung Berlins" zurück- 
kommen: Berlin ist in jeder Hinsicht ein Sonderfall. Zum einen ist 
Berlin ein Stadtstaat und vereinigt daher (wie auch Bremen und Hamburg) 
die Funktionen (und Etats) der Kommune und des Landes; zum zweiten 
steht Berlin unter permanenten Legitimationsdruck, der sich in den 
mannigfaltigen Berlinförderungsmaßnahmen niederschlägt (deren Nutz- 
nießer u.a. auch alternative Projekte und Personen in alternativen 
Projekten werden können); zum dritten führt die politische Lage Ber- 
lins dazu, daß, wenn Repressionen stattfinden (was im Bundesvergleich 
nicht die explizite Linie der Kommune ist!), sie dann besonders saftig 
ausfallen; zum vierten führt die daraus resultierende Massierung al- 
ternativer Projekte zu einem Band-Wagon-Effekt - wo so viele Tauben 
sind, können auch noch einige zufliegen. 


Kehren wir zurück zum Verhältnis kommunaler Sozialpolitik zu den bei- 
den Hauptvarianten alternativer Sozialpolitik. Überraschungsfrei 

wird festgestellt werden können, daß Bürgerinitiativen, Jugendzentren 
in Selbstverwaltung (sofern die Kauf-, Miet- oder Renovierungskosten 
der von ihnen ins Auge gefaßten Räume sich in jeweils erträglichem 
Ausmaß bewegen) immer dann besonders angenehm sind, wenn es um das 
Einsparen von Kosten geht; wohingegen das städtische Jugendzenrum 
mit hauptamtlichen Sozialarbeitern, der städtische Bürgerinitiativ- 
beauftragte etc. häufig (nicht immer) dann aktuell werden, wenn mehr 
soziale Kontrolle erwünscht ist (vom Jugendzentrum aus, wenn ohnehin 
nicht mehr so viel laufen soll, was irgendwo mit sozialen Kontroll- 
ansprüchen in Konflikt kommen könnte). (Überhaupt wäre die Proble- 
matik der Kontinuität alternativer Projekte, einschließlich der For- 
derung nach einem Hauptamtlichen zwecks Aufrechterhaltung dieser 
Kontinuität ein eigener ergiebiger Untersuchungsgegenstand, auf den 
hier aus Platzmangel nur beiläufig hingewiesen werden kann). 


Um dieses Problem geht es auch u.a. bei dem oben angeführten Konflikt 
in der Jugendzentrenbewegung. Während die Jugendzentren in Selbst- 
verwaltung Räume fordern, im übrigen aber Hauptamtliche zumeist ab- 
lehnen, fordert das "Koordinationsbüro für Jugendzentren", dem Stamokap 
nahestehend, erst recht Hauptamtliche (damit nicht "Die Arbeit unent- 
geltlich für den Staat gemacht wird"), sowie entsprechende Mitbe- 
stimmung für die Jugendlichen. 


| TrenDsericHt, rrocnose 


1.Mit dem gegenwärtig wirksamen Wirtschaftsabschwung ist noch mindes- 

tens lo Jahre lang zu rechnen. Da dies die sattsam bekannten Folgen 
eintreten lassen wird (Steigerung der Kriminalität, der psychischen 
Verelendung, der Drogenabhängigkeit, der psychosomatischen Erkrankung etc.) 
werden in dieser Zeit Sozialpädagogik/Sozialarbeit eine gute Zukunft 
haben. Da dies auch weiterhin hohe Arbeitslosigkeitsraten (einschließlich 
akademischer Arbeitslosigkeit) zur Folge haben wird, werden in dieser 

Zeit auch alternativ-ökonomische Projekte eine gute Zukunft haben. 


2. Aus dem gleichen Grund wird die öffentliche Mittelknappheit der 
kommunalen Träger weiter anhalten. Trotzdem wird im nächsten Jahr- 
zehnt eine weitere zusätzliche Einstellung von Sozialpädagogen/Sozial- 
arbeitern im bescheidenen Umfang erfolgen. 


3. Sollte tatsächlich um 1984/85 eine Verkürzung der Wochenarbeits- p 
zeit auf 35 Stunden erfolgen, und außerdem (was mir, siehe den Konflikt 
der GEW mit den öffentlichen Schulträgern, noch keineswegs sichergestellt 
erscheint) diese Verkürzung der Wochenarbeitszeit auch auf Sozialpä- 
dagogen/Sozialarbeiter durchschlagen, so werden sich stärker sekun- 
därökonomische Tendenzen durchsetzen. Sollte dies nicht der Fall sein, 
wird sich die Tendenz zur alternativen Professionalisierung verstärken. 


4. Die angedeutete ökonomische Entwicklung wird weiter zur Folge haben: 


è daß die an Student (inn)en vergebene Revenue (Bafög etc.)weiterhin 

das Existenzminimum umkreisen oder (wahrscheinlich vermehrt) unter- 
schreiten wird (die daraus resultierende Kultur der Armut ist bereits 

deutlich erkennbar); i 

® daß (wenn nicht der DGB (besonders ÖTV/GEW) sich zu einem dramatischen 

Tarifkonflikt entschließt, von welchem noch keine Momente zu sehen 
sind) eine allmähliche Herabstufung der Sozialpädagogen/Sozialarbeiter 
erfolgen wird (erste Grundzüge sind darin deutlich zu erkennen, daß 
universitäre" Diplom-Sozialpädagogen nicht selten statt BAT II a 

nach BAT IV bezahlt werden); 

Beide Folgen werden ebenfalls dazu geeignet sein, die Tendenz zur alter- 


nativen Professionalisierung zu verstärken. 
er Die genannte öffentliche Mittelknappheit wird auch dafür sorgen, 
aß 


» auch bei gutem Willen eine Reihe von kommunalen Dezernaten, sich 
1e Subventionen für Alternativen in Grenzen halten werden. Eine i 
mögliche Folge dessen wäre, daß es nicht nur zu dem (von mir bereits 
in "Subkultur und Subvention" beschriebenen) Verdrängungswettbewerb 
alternativer Träger durch etablierte Träger kommt, sondern es auch 


S einer Subventionskonkurrenz zwischen Alternativen selbst kommen 
Onnte, 


die 


6. Alternativen in der Sozialpädagogik/Sozialarbeit, die eine teilweise 
Professionalisierung anstreben, werden überall dort sich am Markt orien- 
tieren, wo dies der Sache und der Zielgruppe nach möglich ist. (Dabei 
wird "Markt" recht umfassend verstanden, also z.B. einschließlich der 
Kassenvereinbarungen von Gruppenpraxen.) Dabei werden die folgenden 


Tendenzen (teilweise im Widerspruch zueinander) wahrscheinlich ein- 
treten: 


18 


e Viele der betreffenden Alternativen werden versuchen, für ihre 

Arbeit indirekte Subventionen zu erhalten (etwa indem kommunale oder 
staatliche Träger für Dienstleistungen an Zielgruppen bezahlen, die 
dies aus eigener Kraft nicht können). “ 

eVielen von ihnen wird von sekundärökomischen Alternativen und ähnlichen 
Selbsthilfe-Basisinitiativen Integration in das bestehende System 

der Sozialpädagogik/Sozialarbeit vorgeworfen werden. Auf manche von 
ihnen wird der Vorwurf zutreffen. (Massenweise besteht diese Gefahr 

erst nach dem nächsten Wirtschaftsaufschwung, etwa ab 1995.) 


7. Daneben wird sich die Bewegung von Bürgerinitiativen und Selbst- 
hilfegruppen weiterhin stärken. Sollte die unter 3. genannte Ver- 
kürzung der Wochenarbeitszeit tatsächlich stattfinden, wird wohl 

ein Teil des freiwerdenden Zeitbudgets (kein allzugroßes) auch hier- 
für aufgewendet werden (im einzelnen siehe unten). 


8. Im Zusammenhang mit der Ökologiebewegung (die in dieser Zeitspanne 
in welcher Form auch immer, überraschungsfrei auch andauern ars mit 
dem sich ausbreitenden sozialpolitischen Interesse dieser (die Ia Au 
nehmenden Personalunionen erkennbar wird) mit der ausgebreiteten stu- 
dentischen "Kultur der Armut" (die von berufstätig gewordenen Ex-Stu- 
denten nur zum Teil überkompensiert werden wird) wird das Sammeln 
Ansparen und Umverteilen von Revenuen durch berufstätige Intellektuelle 
weiterhin zunehmen. 
Nicht genau zu sagen ist, ob dies in der Form ein i 

des Netzwerks Selbsthilfe der Fall sein wird, en a... 
(etwa die von Theodor Ebert vorgeschlagenen) der Revenuenumverteilun 
dieses ergänzen oder ersetzen wird, und ob diese Ausbreitung auch Teile 
der Gewerkschaftsbewegung mit umfassen wird. (Die bedauerliche Gleich- 
gültigkeit des DGB, abgesehen von den jeweils berufspolitisch zustän- 
digen Einzelgewerkschaften, in Fragen der Sozialpädagogik/Sozialarbeit 

Wi gerade wenn sich der DGB als "große Bürgerinitiative der Arbeitenden" 
ee ein wunder Punkt, der die Frage der Alternativen 


9. Im genannten Fall wird die Umverteilung von Revenuen folgende Funk- 
tionen haben: 

e Alternative Projekte können exemplarisch zu arbeiten beginnen und 
damit ihre Legitimation zur Erhaltung kommunaler Subventionen ver- 
stärken (so etwa in den Fällen der Theta Wedding und des 2. Frauen- 
hauses in Berlin); 

e marktorientierte alternative Projekte können infolge dieser Zu- 
schüsse oder Darlehen mit ihrer Arbeit beginnen; 

e alternative Projekte, die aufgrund regional-repressiver oder poli- 
tischer Bedingungen keinerlei Aussicht auf Subventionen haben, wird 
dadurch ihre Arbeit ermöglicht. j 


lo. Kurz: die untersuchte Doppelgleisigkeit von Berufsperspektive und 
Basisaktivitäten, Neu-Genossenschaften und Sekundärökonomen, Versozial- 
arbeiterung der Bevölkerung und Wiederaneignung der eigenen Krkite 

mit ihren Konflikten, Widersprüchen und theoretischen Lösunzeveränchen 
wird uns allem Anschein nach das nächste Jahrzehnt erhalten bleiben. 


11. Kommunale Verwaltungen, wie andere Subjekte etablierter Sozial- 
politik, bevorzugen immer noch in Theoretisierung und Planung das 
(neo-)positivistische Paradigma. Ausdrucksformen dieses sind u.a 


die naturwissenschaftliche Medizin (inclusive Psychiatrie), die Ein- 
zelhilfe inclusive der amtlichen Aktenführung, die Privatinitiative, 
die Trägerkonkurrenz, das Haus der Offenen Tür, das von einander äußer- 
lichen Vereinen belegte Bürgerhaus. 

Es gibt Indikatoren dafür, daß im nächsten Jahrzehnt Verwaltungen zu- 
nehmend zu Momenten des systemanalytischen Paradigmas übergehen werden: 
Kulturentwicklungspläne, therapeutische Ketten, Drogenketten, multi- 
faktorielle Einflußanalysen (in welchen die Faktoren unvermittelt 
nebeneinander stehen: Dörner/Plogs "Irren ist menschlich" wäre ein 
Beispiel dafür), der Kommunikationsstreß mancher Kommunikationszentren 
(Stadtteilfeste, Fußgängerzonen); auch Herolds Utopie (noch) von der 
Polizeisozialarbeit gehört strukturell hierher. 


12. Das systemanalytische Paradigma ist derzeit eine (jedenfalls for- 
male) Handhabe, damit Kommunikation zwischen immanent fortschrittlichen 
Verwaltungsleuten und Alternativen (die, wie oben erwähnt, auch etwas 
mit "Verkettungen", "Netzwerken" und "Kommunikation" anfangen können) 
möglich ist. 

Zu prognostizieren ist, daß, je mehr sich in der staatlich-kommunalen 
Verwaltung das systemanalytische Paradigma durchsetzen wird, sich die 
Alternativen desto mehr auf das ganzheitlich-totalisierende Paradigma 
beziehen werden. Indikatoren dafür sind: das zunehmende Streben nach 
Totalität in einer Reihe von Therapieformen; der wachsende Unwillen, 
Zusammenarbeit und Zusammenleben zu trennen (an vielen Projekten auf- 
zuweisen); die zunehmende Unmöglichkeit, in Projekten nach Branchen, 
Zielgruppen etc. zu trennen. Doch wird dieser Prozeß um 1990 keines- 
wegs zu seinem (wie immer vorläufigen) Abschluß gekommen sein. 


13. In einzelnen Bereichen (vor allem alternativ-marktorientierten) 
wird es (analog zur Töpferei heute) zur Übersättigung des alternativen 
Sozialmarktes kommen. 


14. Im einzelnen: 

° Kinderläden/Kinderhäuser werden nur noch unterproportional anwachsen 
(vielleicht werden "Öko- Kinderhäuser" entstehen 

® bei den Kleinstheimen kann es zu Engpässen konmen (in Bremen sollen 
schon heute keine mehr bewilligt werden), doch solange es überhaupt 
noch Heime gibt, ist dies eine Frage politischer Durchsetzung (ähn- 
liches gilt für Wen); 

° die Jugendzentren werden sich teilweise zu Häusern der Offenen Tür 
(mit kommunal-kirchlichen Hauptamtlichen) zurückentwickeln, teilweise 
zu "Provinzzentren" weiterentwickeln; 


® erst richtig entfalten/verbreitern werden sich die Initiativen der 
Alten, der Behinderten, die Frauenhäuser; auch die feministische Infra- 
Struktur wird sich weiterentwickeln, wenngleich nicht so sprunghaft 
wie im vergangenen Jahrzehnt; 

s abgesehen von der evtl. Übernahme sozialen Trainings in einigen 
weiteren Jugendwohngemeinschaften bei sozialliberalen Regierungen 

wird eine starke Entfaltung von Basisaktivitäten im Strafvollzug 

eher ausbleiben (es sei denn, im Falle einer faschistoiden Entwicklung, 
doch dann müßte insgesamt die Prognose anders aussehen); 

e Im Gesundheitswesen könnte sich (Indikator:Gesundheitstag 1980) 

die nächste Massenbewegung abzeichenen. Hier ist auch noch viel Platz: 
es könnte bundesweit noch über loo Gruppenpraxen/Gesundheitszentren 
geben, einige Dutzend Gesundheitsläden ebenfalls; auch werden sich 


20 


sicherlich noch viele Selbsthilfegruppen herausbilden. Im Psychisch- 
Kranken-Bereich könnte (könnte!) im nächsten Jahrzehnt (wahrscheinlich 
in einem Stadtstaat) mit der Abschaffung eines Landeskrankenhauses 
ernstgemacht werden. Auch mit einer Verbreiterung extramuraler Ein- 
richtungen (etablierter wie alternativer) ist zu rechnen, wenngleich 
vorerst nicht überproportional. Dasselbe gilt (mit allen Zwiespältig- 
keiten) für den Psycho- Boom. 

e ebenfalls ist mit einer allmählichen Ausbreitung von Kreativhäusern, 
Reisenden Schulen, Kommunikationszentren, Kulturläden zu rechnen. 
Vielleicht entsteht in diesem Jahrzehnt auch das erste Bildungsnetz- 
werk. Hingegen wird bei den alternativen Tagungshäusern wohl spätes- 
tens 1985 der Markt eng; 

e die Orientierung auf den Stadtteil wird weiterhin zunehmen, obgleich 
noch wenig über die Formen gesagt werden kann, in welchen dies erfolgen 
wird. In bescheidenem Ausmaß werden auch weitere Häuser gekauft werden. 
Die weitere Entwicklung der Wohngemeinschaften (eine Million Bewohner?) 
scheint mir zuvörderst eine politische Frage. 


15. Alles in allem geschätzt (und den Begriff recht weit genommen) 
dürften derzeit an die looo Sozialpädagogen/Sozialarbeiter im alter- 
nativen Bereich berufstätig sein (Diplom-Sozialpädagogen eingerechnet). 
Die Zahl könnte sich im nächsten Jahrzehnt verdoppeln. Keine gewal- 

tige Zahl, aber keinesfalls klein genug, um sie zu vernachlässigen. 
Zumal die Entwicklung der Alternativen in einem Wechselverhältnis zu 
den «tablierten Bereichen steht. 


FORSCHUNGSDEFIZITE 


l. An verschiedenen Stellen wurde deutlich, daß schon einmal die 
quantitativen Informationen zum Gegenstand ausgesprochen unzureichend 
sind. Von der Anzahl der noch/wieder bestehenden Kinderläden bis zur 
Anzahl der in Alternativen sozialpädagogisch/-arbeiterisch professionell 
Tätigen waren wir auf Schätzungen angewiesen. Dies hat bedauerlicher- 
weise zunächst politische Gründe. Die umfassende Sammlung und Auswer- 
tung von Datenmaterial politisch abweichenden Verhaltens im letzten 
Jahrzehnt hat - ebenso, wie die Verwendung einer Bürgerinitiativen- 
Untersuchung des Batelle-Instituts zur Konterkarierung von Bürger- 
initiativen -Strategien, die Beschlagnahmung einer Aachener Drogen- 
Kartei etc. - dazu geführt,daß, zu Recht, so gut wie keine Daten mehr 
über/von einem großen Teil alternativer Projekte zu erhalten sind. 
Folglich ist ein verläßlicher Datenschutz, und die Selbstverfügung 

der Alternativen über von ihnen erfolgte Daten, die erste Vorraussetzung 
zu einer präzisen Alternativenforschung. 


2. Die strukturell notwendige Fluktuation der alternativen Projekte, 
Basisaktivitäten und Bürgerinitiativen läßt eine jeweils aktuelle 
Dokumentation all dieser ohnehin nicht zu; sie wäre überholt, so- 
bald sie verfügbar wäre. 

Festzustellen ist jedoch, daß alle mir bekannten überregionalen do- 
kumentarischen Veröffentlichungen und Karteien (AAB, AVV, Alternative 
Kooperation) von jeglicher Vollständigkeit weit entfernt sind. In- 
haltliche Publikationen (Hollstein/Penth, Schwendter/Alternative Öko- 
nomie I, II, Großer Ratschlag/Hamburg, Enzyklopädie der Zukunft, 
Stiftung Die Mitarbeit ...) beschränken sich notwendigerweise auf 

das Exemplarische. Hinzu kommt noch die Notwendigkeit des verbandsin- 
ternen Karteileichenstreichens (z.B. AG SPAK) sowie die reichhaltigen 


ren jeweiligen 

lten hat. Ver- 
tadtbücher (Berlin, 
iner der nächsten 
raume Zeit dauern, 
den. 


Aus 2 

Re vieler Gruppen, die aus ih 

handen estimen, was als "alternativ”zu ge 

München, Se gr und vollständig sind die S 

Schritte sein ne we systematischere Auswertung € 

bis in allen Regi e. Leider wird es wohl noch eine ge 
gionen entsprechende Bücher vorhanden sein wer 


ffend, machen unge” 
sobald das Ausland 

e Information 
tes Land (Eng- 
Bereich 


3. Die skizzi 
fähr Are Schwierigkeiten, die BRD betre 
in die ey des Problems klar, das auftritt, 

vollends zum ne einbezogen werden soll. Hier wird di 
land vat aalan all, sobald das Interesse ein bestimm 
überschreitet. g recht gut dokumentiert) und einen bestimmten 


Wenn auch vor Illu- 


4, Das A Pi R 
usland ist nicht zufällig erwähnt worden. 
t werden kann, 


sionen ei : 
so gibt Mi Aae een Übertragbarkeit nur gewarn 
schlägen, die Ms Reihe von dort selbst erprobten Lösungsvor- 
ein: iert werden müßten. Unsystematisch fallen mir hierzu 
è ein Schul- . 
a acarana g: p Ae. das Tvind (bis hin zur 
mark); ädagogischen Hochschulen!) möglich macht (Däne- 
è öffentlich u 
; nterstü wur . . . 
ae Kolosan Be sekundärökonomische Tätigkeiten von Ar- 
chritte auf x 
rantierten ee Aep RE danen E 
® ein Genosse iederlande); 
bi ns 7 
für die a a das (im Gegensatz zum bundesdeutschen) 
der Reform des a a EEEE Projekte handhabbar ist, was bei 
esetzes ziemlich aktuell werden könnte (Schweiz); 


odas Allta 
E ; 
Kooperation e age er "Zentren für geistige Hygiene" und bei der 
keiten (Italien: er Ser einschließlich der Alltagsschwierig” 
und Triest ziemli end der Abbau der Landeskrankenhäuser Arezzo 
emlich gut dokumentiert ist). 


% Der ini. - st 

Galleries ai eT Informationsmangel erweist sich als ein 
Elementare u Pre zeigt sich vor allem auf rechtlichen Gebieten. 
Sich in der A Fiia a alternative Projekte betreffend, haben 
Gemeinnützigkeitsverordn herumgesprochen (Vereinsrecht, GmbH-Gesetz, 
eine Sammlung (evtl x nung). Was jedoch ausgesprochen fehlt, ist 
und höchstrichterlic in loser Blattform) aller Gesetze Vorschriften 
betreffen können; a Entscheidungen, die aL EErnAtAVA Projekte 
Pörderungsmöglichkeiten bzw. = => gebündelte Informationen über 
= vichtigsten einschlägigen ee der Öffentlichen Hand und 
mir klar, zumal ee diesen Informationsmangel zu überwinden, ist 
Landessache sind era Teil der in Frage kommenden Rechtsnormen 
die Sammlung eher u er Schulrecht oder Psychiatrierecht) und somit 
Bundesrechts (z.B. SE ae werden könnte. Auf dem Gebiet des 
seitigen et irre sr wiederum das Problem der viel- 
im Zugammenhang wit den ee Konflikte um den $72 BSHG 


6. Erst als Schri 
chr = 
ügi Ä 63 onsensfähi : . . 
gige Änderungen für Alternativen er a ne ee 


22 


Hierzu fielen mir u.a. das Erwachsenenbildungsrecht ein, die gesetz- 
liche Grundlage der Tagesklinik, wiederum das Schulrecht (eine De- 
tailforschung könnte etwa herauszubekommen versuchen, woran es liegt, 
daß die Waldorf-Schulen (gerade noch) genehmigt werden, und z.B. die 
Freie Schule Frankfurt (gerade noch, bislang nicht) sowie etwa die 
Schaffung rechtlicher Institutionen, die förderungsfähig sind, ohne 
Heime zu sein (das Frauenhausproblem). 

Parallel dazu könnte eine Untersuchung erfolgen, welche juristischen 
Innovationen außerdem ohne größeren Aufwand möglich sein könnten. 

Ich habe in letzter Zeit zweimal (beim Diskurs mit Senator Glotz 

in Paderborn und beim Gesundheitstag) das Schlagwort "Wohngemein- 
schaftsförderungsgesetz" in die Diskussion geworfen, und mehr als ein 
Schlagwort kann es im Moment auch noch nicht sein. (Zumindest müßte 
eine rechtliche Bindung darin enthalten sein, angesichts der fort- 
schreitenden Verminderung des Altbaubestandes einen festzulegenden 
Prozentsatz von Neubauten wohngemeinschaftsgeeignet zu bauen.) In 
den letzten Jahren hat sich endlich eine Gruppe von Juristen heraus- 
gebildet, die sich mit Ökologierecht beschäftigt. Es wäre an der Zeit, 
daß ähnliches auch für Alternativenrecht der Fall wäre. 


7. Doch immer im Zusammenhang der Alternativenförderung wäre m.E. 
des weiteren zu untersuchen, wie sich die Monopolstellung der sechs 
Wohlfahrtsverbände auf alternative Projekte auswirkt. Ich habe den 
Eindruck, bzw. die Arbeitshypothese, daß letztere zum einen unter- 
proportional gefördert werden, und zum anderen hier große regionale 
Unterschiede bestehen. (An manchen Orten etwa sind die der Papier- 
form nach relativ bestgeeigneten Wohlfahrtsverbände so wenig präsent, 
daß schon der Kontakt kaum zustande kommt.) 


8. Zur eher inhaltlichen Seite übergehend, habe ich die Erfahrung 
gemacht, daß eine Vielzahl von Alternativen in der Sozialpädagogik/ 
Sozialarbeit in Zulassungs- bzw. Diplom-Arbeiten vor allem von Stu- 
dent(inn)en dieser Fächer, aber auch der Pädagogik, Soziologie, Psy- 
chologie, untersucht, verglichen, auf ihren Stellenwert hin überprüft 
wird. Diese Arbeiten sind oft sehr rührig gemacht, enthalten ein Stück 
Handlungsforschung oder doch teilnehmende Beobachtung sowie eine ver- 
gleichsweise präzise Einschätzung der Gruppensituation, der institutio- 
nellen und ökonomischen Probleme etc. Leider gilt hierfür ebenfalls 

das oben unter 1. - 3. Gesagte: abgesehen vom jeweiligen Heimvorteil 
und von mehr oder weniger zufälligen überregionalen Vernetzungen, 

gibt es vergleichsweise wenige Möglichkeiten, an diese Arbeiten 
systematisch heranzukommen. Hier wäre ebenfalls eine Dokumentation 

in Permanenz zu erarbeiten, gleichfalls erschwert durch den Sachverhalt, 
daß sich der Sache nach eine Computerisierung verbietet. 


9.Auf die Wichtigkeit der Erörterung der Frage des Verhältnisses Al- 
ternativen-Gewerkschaften wurde oben bereits hingewiesen. 


lo. In nächster Linie käme die Erforschung sozialer Innovationen im 
engeren Sinne. Etwa "Selbsthilfegruppen für nichtchristliche Alkoholiker", 
oder "Beschützende Werkstätten, die keine beschützenden Werkstätten 
mehr sind, weil auch für Menschen geeignet, die repetitive Teilarbeit 
nicht ertragen können", oder "Formen des Eigenlernens" (wie dies 
Heinrich Dauber in Anlehnung an Ivan Illich nennt). Da ist ein breites 
Feld, stark eingeschränkt durch die Tatsache, daß dies ein nicht 


23 


gerade überragend dotiertes Forschungsgebiet ist. (Das "Forschungs- 
projekt Soziale Innovationen" an der GH Kassel, bei dem ich mitarbeite, 
ist mit überwältigenden lo.000o DM im Jahr dotiert.) 


ll. Zur inhaltlichen Seite des Forschungsdefizits könnte noch eine 
Menge gesagt werden: Daß wir immer noch nicht wissen , was Subjekti- 
vität ist. Daß wir immer noch nicht genau genug wissen, wie der Staat 
funktioniert. Daß wir immer noch über keine Strategien des sozialen 
Wandels verfügen, nachdem es weder mit der Reform/Evolution noch mit 
der Revolution so richtig hingehauen hat. Aber das sind Fragen, die 
wohl nicht nur auf die Alternativenforschung beschränkt sind. 


. v 
12. Bleibt schließlich die Erforschung der Möglichkeiten "massenweiser", 
"verallgemeinender", "antwortvielfältiger" Alternativen. Modellver- 
suche hat es geplante und unfreiwillig-naturwüchsige genug gegeben; 
das Problem sehe ich eher darin, daß sie dann zu wenig übertragen 
worden sind. 


Der Beitrag von Rolf Schwendter - ebenso der Kommentar von Peter Ahl- 
heit - wurde als Expertise für ein Symposium "Berufsfeld Soztalarbeit/ 
Sozialpädagogik" geschrieben. Das Symposium wurde vom 22. - 24.9.1980 
in Westberlin von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen- 
schaft und der Konferenz der Fachbereichsleiter der Fachbereiche 
Sozialwesen an Fachhochschulen und Hochschulen durchgeführt. 

Rolf Schwendter hatte zwar einige Bedenken, daß seine ad-hoc 
geschriebene Arbeit einige Monate danach so veröffentlicht wird. 
Andererseits gibt es bisher keine systematische Zusammenfassung der 
verschiedenartigen Projekte und Modelle alternativer Sozialarbeit, 
sodaß uns die Veröffentlichung doch gerechtfertigt erscheint. 


Meinungen 


Rolf Schwendter 


Theorie der Subkultur “Die von Schwendter geführte Auseinandersetzung mit der 
Neuausgabe mit einem Subkultur Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre bietet 
Nachwort, sieben Jahre später eine Fülle von Material, das zur Erarbeitung auch für eine 
Theorie und Praxis der Alternativbewegung heute wichtig 
und nützlich ist.” 
— Plärrer — 


"Als der Dreifach-Doktor Rolf Schwendter 1970 die Perspek- 
tiven eines politisch-kulturellen Gegenmilieus in seiner 
"Theorie der Subkultur” systematisierte, da war der Weg noch 
weit von der Alternativ-Theorie zur produktiven Praxis. Sic- 
ben Jahre danach haben praktizierte Selbstversorgung und 
Alternativ-Öffentlichkeit bereits konkrete Konturen ge- 
wonnen.” 


— Das da — 


Syndikat “Rolf Schwendters "Theorie der Subkultur’, 1970 konzipiert, 
1973 in erster Auflage erschienen, ist heute, schon wenig 
(Rolf Schwendter: Theorie der später, durchwegs veraltet und vielleicht nicht zuletzt deshalb 
Subkultur. Neuausgabe mit ei- noch und wieder aktuell. Sowohl der methodische Ansatz, 
nem Nachwort, sieben Jahre spä- der strukturell-funktionale Betrachtungsweisen auf Katego- 
ter. Syndikat Autoren- und Ver- rien der politischen Ökonomie zu beziehen sucht, trägt nicht 
lagsgesellschaft, Frankfurt am mehr, hinzu kommt, daß die verarbeiteten Materialien längst 
Main 1978, 419 S., DM 20,-.) von der Entwicklung überholt sind.” 
-FR- 





Peter Alheit 


KOMMENTAR ZU DER EXPERTISE 
“ALTERNATIVEN IN DER SOZIALARBEIT” 


Die außerordentliche Komplexität der SCHWENDTERschen Bestandsaufnahme, 
die notwendige Parallelisierung empirisch schwer vergleichbarer An- 
sätze (quantitativer Einfluß vs. qualitative Innovationsfunktion), 

die gezwungenermaßen spekulativ gehaltenen Prognosen über eine kaum 
abgrenzbare "Grauzone" gesellschaftlicher Reproduktion machen eine 
Kommentierung seiner Expertise äußerst schwierig. Ich möchte wenige 
Aspekte, die mir interessant und durchaus problematisierbar erscheinen, 
herausgreifen. Wenn ich ROLF SCHWENDTER dabei gelegentlich "über- 
interpretiere", vielleicht auch ungerechtfertigterweise karikiere, 

so nur um des besseren Verständnisses willen. Ich denke, ROLF wird 

es mir nachsehen. 


1. SCHWENDTERs Auflistung rechtfertigt sich implizit durch ein zweifellos 
gängiges, aber darum nicht unproblematisches Trivialparadigma: "Al- 
ternativen sind anders"; präziser: Alternativen unterscheiden sich 

von konventionellen Formen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik vor allem 
durch eine auffällige Veränderungorganisatorischer 
(Unabhängigkeit vs. Abhängigkeit, Parität vs. Hierarchie usf.) und 
professione l 1 er (etablierte Professionalität vs. De- 
professionalisierung) Normen. 


Solche Differenzierung hat den Vorteil, daß sie - punktuell betrach- 
tet - Trennschärfe suggeriert. Sie hat den Nachteil, daß sie - unter 
Berücksichtigung von Entwicklungsprozessen und sich wandelnden ge- 
sellschaftlichen Problemlagen - wesentliche Fragen ausklammert. SCHWENDTER 
selbst weist darauf hin, daß eine Reihe von alternativen Ansätzen 
mittelfristig auf eine sukzessive Professionalisierung und auf die 
partielle Integration in öffentliche Systeme sozialstaatlicher Lenkung 
und Leistung angewiesen sei. Er vermeidet den Hinweis, daß öffentliche 
Interventionen an den Rändern etablierter sozialarbeiterischer 
/sozialpädagogischer Professionalisierung ihrerseits einem Diffusions- 
prozeß ausgesetzt sind und zunehmend "alternative" Eingriffsformen 
ausbilden. Nicht zufällig hat die Mehrzahl der in SCHWENDTERs Exper- 
tise aufgeführten Alternativen eine hohe Affinität zu eben diesen 
wenig etablierten "Marginalbereichen" professioneller Sozialarbeit 
(Jugendarbeit, Gemeinwesenarbeit,soziale Kulturarbeit, Frauenarbeit, 
Ausländerarbeit, Behindertenpädagogik usf.). Empirisch liegt also 
mindestens die Vermutung nahe, daß die Chance zu Entstehung von Al- 
ternativen mit der objektiven Diffundierung sozialer Professionalität 
korreliert. Diese Einschätzung relativiert indessen jede emphatische 
Betrachtung des "Alternativen Syndroms'" und nötigt dazu, neben "ex- 
ternen" Differenzierungskriterien auch inhalt 1 ic he Unter- 
scheidungsmerkmale zu entwickeln. Dann aber ist nicht einzusehen, 
warum binneninstitutionelle Innovationen (kollegiale Beratung, stra- 
tegischer Verzicht auf soziale Etikettierungsmaßnahmen, Durchbrech- 
ung administrativer Segmentierungen (s. Neuorganisation sozialer 
Dienste), Ausbau gewerkschaftlicher Interessenvertretung etc.)nicht 


a u c h als "Alternativen" firmieren sollten. SCHWENDTER jedenfalls 
spart sie aus. 


2. SCHWENDTERs Einschätzung der Alternativen-Szene rekurriert deutlich 
eher auf jenes Dokumentationsmaterial, das man als "alternativen 

out put" bezeichnen könnte (Berichte, Selbstdarstellungen, Veröffent- 
lichungen etc.) Sie geht nur fragmentarisch auf den tatsächlichen 
"impact" ein, d.h. auf die gesellschaftlich-realen Auseinander- 
setzungen, die sich häufig hinter einem deklarierten Anspruch ver- 
bergen und nicht selten kontrafaktisch zu ihm verhalten. 


Warum z.B. wird dem Berliner Netzwerk in der alternativen Szene vor- 
geworfen, es gebärde sich gelegentlich wie eine bürgerliche Vergabe- 
instanz (s. Dokumentation des "Autonomen Bildungs Centrums", Hüll)? 
Warum versucht sich die AAO heute geradezu überangepaßt als kulturelle 
"Dienstleistungsorganisation"? Warum gelingt es noch immer relativ 
reibungslos, über die Aktivität in Alternativen namentlich akademische 
Karrieren vorzubereiten? Warum werden nicht selten mit Ideologien wie 
Herrschaftsfreiheit, Aufhebung der Arbeitsteilung, Entstigmatisierung 
von Klienteln etc. Hierarchien und Konkurrenzverhältnisse subtil erst 
etabliert? SCHWENDTERs Hinweis, "die Konkurrenz (zähle) zu den Struk- 
turprinzipien von Gesellschaften, die auf Warenaustausch basieren", 
ist ebenso richtig wie abstrakt. Ist es zufällig, daß die große Mehr- 
zahl alternativer Ansätze von bürgerlichen Intellektuellen getragen 
wird, deren Reproduktionsrisiko wiederum, was die Mehrheit angeht _ 
(wenn ich recht sehe), trotz wachsender "Proletarisierung" noch weit 
geringer ist als das des Bevölkerungsdurchschnitts? Ist es tatsächlich 
(schon) eine "Kultur der Armut", die jene Alternativen provoziert? 
Oder handelt es sich wenigstens a u c h um eine Reaktion auf den Ver- 
lust materieller und sozialer Privilegien bürgerlich-kleinbürgerlicher 
Individuen? Ist also die Eskalation von Alternativen nur ein Symptom 
subtiler Tauschstrategien neuerdings proletarisierter sozialer Min- 
derheiten ohne "proletarisches Bewußtsein"? Dann freilich stünde es 
schlecht um die Chance vertikaler organisatorischer Konsolidierung 

der Alternativen-Szenerie (Vernetzung etc.), schlecht auch um die 
Etablierung von Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit. Dann wäre der 
Anspruch auf Kollektivität und Basisdemokratie in Wahrheit nur die 
ideologische Kaschierung von tauschfähiger Exklusivität. 
Solche Fragen sind ausdrücklich n i c h t diskreditierend gemeint. 

Sie erscheinen freilich gerade dann nicht absurd, wenn man - wie 
SCHWENDTER - bereit ist, der alternativen Bewegung eine historische 
Qualität zuzuschreiben und sie nicht als interessante Modeerschei- 
nung zu relativieren. Zu dieser Problematik ein letzter Gedanke. 


3. SCHWENDTERs Eingangshypothese, die "Neigung zur Verstärkung von 
Selbstorganisation und Selbsthilfe" korreliere historisch mit den 
großen ökonomischen Krisenzyklen, legt die klassische Kritik des 
"Kommunistischen Manifests' an den spektakulären sozialistischen 
Alternativen des 19. Jahrhunderts nahe: "An die Stelle der gesell- 
schaftlichen Tätigkeit muß ihre persönlich erfinderische Tätigkeit 
treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung 
phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Orga- 
nisation des Proletariats zur Klasse eine eigens ausgeheckte Orga- 
nisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für 
sie auf in die Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Ge- 
sellschaftspläne." (MEW 4, 490)Die Problematik des Bezugs zwischen 


26 


Alternativ-Szene und Arbeiterbewegung wird von SCHWENDTER allenfalls 
am Rande thematisiert. Ist sie tatsächlich nicht mehr aktuell? 


Gewiß wäre es verfehlt, die gesellschaftliche Relevanz alternativer 
Bewegungen nur an ihrer Integrationsfähigkeit in die "Arbeiterbe- 
wegung" zu messen. Möglicherweise ist ihre Aktualität gerade auch ein 
Ausdruck der historischen Schwäche klassischer Arbeiterbewegungen 

in entwickelten kapitalistischen Systemen. Nur wäre es naiv zu glau- 
ben, alternative Freiräume seien beliebig ausdehnbar und die frei- 
willige "Reprivatisierung" materieller und sozialer Reproduktions- 
risiken sei dem kapitalistischen System nur willkommen. Der aktuelle 
Vergesellschaftungsstandard des Reproduktionsrisikos der Durchschnitts- 
arbeitskraft ist nicht nur ein Produkt des historischen Kampfes der 
Arbeiterklasse; er ist auch die prinzipielle Voraussetzung des längst 
etatistisch beeinflußten Austauschs zwischen Lohnarbeit und Kapital. 
Jede Friktion im Prozeß einer möglichst umfassenden "Verlohnarbeiterung", 
jedes Herausfallen potentieller Arbeitskräfte aus den sozialstaat- 
lich organisierten Steuerungsmechanismen des Arbeitsmarktes (sei es 
systemintern oder systemextern bedingt) bedroht auch die Reproduktion 
des Kapitals und des Staatsapparats. Deshalb liegt es in der "Logik" 
kapitalistischer Systeme, Alternativen entweder zu vereinnahmen, oder 
aber zu stigmatisieren. Für beide Tendenzen führt SCHWENDTER eine 
Reihe von Beispielen an. Beide Tendenzen gefährden indessen die Al- 
ternativbewegung substanziell. Die widerstandslose Vereinnahmung 
führt zur Preisgabe "gegengesellschaftlicher Phantasie und Praxis". 
Die Stigmatisierung kann in Extremfällen (s. Free Clinic) zur Krimi- 
nalisierung führen. Häufiger wird sie sich - vorläufig noch wie in 
GLOTZ' Etikettierung zur "zweiten Kultur" - in der seichteren Pa- 
thologisierung erschöpfen. In beiden Fällen aber sind Alternativen 
nur überlebensfähig, wenn es gelingt, ihre legitimen systemtrans- 
zendierenden Ansprüche und die Ansätze einer emanzipatorischen und 
antizipatorischen Praxis in die aktuellen Forderungen gewerkschaft- 
licher und politischer Organisationen der Arbeiterschaft einzubringen. 
Diese Strategie ist im internationalen Maßstab keineswegs fiktiv. 

Sie hat namentlich in Italien, in Frankreich, auch in Dänemark eine 
hoffnungsvolle Tradition. In Westdeutschland und in Westberlin liegt 
ihre Realisierungschance voraussichtlich in jenen oben angesprochenen 
Berührungsbereichen zu den "ausfransenden" Rändern professioneller 
Sozialarbeit/Sozialpädagogik. 


Die gesellschaftspolitische Option dieses letzten Gedankens ist freilich 
sehr viel vager als die SCHWENDTERschen Prognosen, auf die ich in dem 
mir gesteckten Rahmen differenzierter nicht eingehen kann. Angesichts 
der von SCHWENDTER legitimerweise angesprochenen Forschungsdefizite 

sind konkretere qualitative Entwicklungsperspektiven allerdings auch 


kaum vorherzusagen. 


x 


27 


Proklia 


Zeitschrift für politische Ökonomie 
und peann Politik 


Ökologie, Technologie 
und Arbeiterbewegung 


Editorial, Ökologiebewegung 

und Arbeiterbewegung - ein 

Widerspruch? / Harald Gla- 

ser, Die ‘friedliche’ Nutzung 

der Atomenergie als Beispiel 

kapitalistischer Technologie- 

entwicklung / Lutz Hieber, Ist 

der naturwissenschaftlich- 

technische Fortschritt noch 

demokratisch kontrollier- 

bar? / Christel Neusüß, Der 

‘freie Bürger gegen den 

Sozialstaat - Soziulstaats- 

kritik von rechts und der *x 

Alternativbewegung / 

Roundtable-Gesprüch, ‘Die 

Arbeiter sind nicht bereit, sich 

einem wahnwitzigen Arbeits- # Einzelheft 

tempo zu unterwerfen, um DM 

Autos zu produzieren, die von 

vornherein reif für den Müll 

sind!’ / Thomas Hahn, Alter- $ + 

nativen des ADGB in der Krise im Abo 

1928-33 / Siegfried Hei- DM 8,- 

mann, Die DGB-Konferenz zur 

Geschichte der Gewerk- 

schaften / Albert Krölls, Lohn | Rotbuch 
für Hausarbeit Verlag 


9,- 





Christel Neusüß 


DIE KRITIK DER ALTERNATIVBEWEGUNG AM SOZIALSTAAT 


(Der folgende Artikel ist ein leicht veränderter Auszug aus einem 
thematisch weitergespannten Artikel in PROKLA Nr. 39, in welchem So- 
zialstaatskritik von rechts und von seiten der Alternativbewegung un- 


ter der Frage: "Der "freie Bürger' gegen den Sozialstaat?" konfron- 
tiert werden. ) 


Das Selbstverständnis der Alternativbewegung in der BRD und in West- 
berlin ist durch eine einigermaßen scharf gefaßte Konfrontation zum 
'"Sozial'- oder auch 'Wohlfahrtsstaat' bestimmt. Die sozialstaatlichen 
Errungenschaften, auf die Gewerkschaften und Sozialdemokratie als Re- 
sultate ihres Einwirkens auf die bürgerliche Gesellschaft nach wie 
vor mit Stolz verweisen und die gleichzeitig in ihrem Sinne Garanten 
sozialen Friedens sein sollen, werden von der Alternativbewegung 
nicht als der Weisheit letzter Schluß betrachtet: im Gegenteil, ihnen 
wohne die Dynamik des Festhaltens an destruktiv gewordenen Entwick- 
lungsprinzipien der Ökonomie und der politischen Organisationsformen 
inne. Sowohl die kritische Begrifflichkeit als auch die Praxis der 
Alternativbewegung verweisen auf Konfrontation. "Autonomie! erscheint 


als Alternative zu 'wohlfahrtstaatlicher Kontrolle'. 'Selbstverwal- 
tung' als Alternative zu "Bürokratie", 


Wo in der Sozialdemokratie über die 'neuen sozialen Bewegungen' re- 
flektiert wird, wird begierig der aus der italienischen Diskussion 
stammende Begriff von den 'zwei Gesellschaften! aufgegriffen. 

Eine Gesellschaft, die durch Konkurrenz, Individualismus und sozial- 
staatlich-bürokratisch verwaltete Kompensation der so erzeugten Schä- 
den und Probleme gekennzeichnet ist und eine zweite, in welcher sich 
die Herausgefallenen für sich unter neuen gesellschaftlichen Normen 
organisieren: gewissermaßen als zweite Auffanglinie. Unter diesem 
Aspekt wird dann die Alternativbewegung auch wohlwollend zur Kennt- 
nis genommen. Diskussion zwischen beiden soll natürlich stattfinden. 


Es ist wohl kein Zufall, daß in Ländern mit antikapitalistisch- 
sozialistischen oder kommunistischen Massenparteien und mit ei- 
ner Tradition umfassender sozialer Kämpfe der Arbeiterschaft 

diese Konfrontation so nicht auftaucht. Sehen wir nach Frankreich, 
so kommt einer der wichtigsten theoretischen Köpfe der Ökologie- 
Alternativbewegung, nämlich André Gorz, direkt aus der soziali- 
stischen Partei des Landes. Die französische Linke führte den ver- 
gangenen Wahlkampf unter dem Slogan: Selbstverwaltung. Die ita- 
lienische Arbeiterbewegung hat in den Delegiertenräten der 


29 


Fabriken und ansatzweise in kommunalen Räten, in Räten von 
Arbeitslosen, Organisationsformen hervorgebracht, welche die 
kapitalistische Form der Vergesellschaftung unter Integra- 

tion der Lohnabhängigen, nämlich Konkurrenz und Sozialstaat als kom- 
pensatorische Institution für die angerichteten Schäden, praktisch 
kritisieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die breite Diskussion ei- 
ner alternativen Gesundheitspolitik, in welcher die Arbeitenden die 
schädigenden Wirkungen der Arbeits- und Produktionsbedingungen auf 
Fabrikebene durch Selbstorganisation und öffentliche Diskussion ange- 
hen, in welcher Arbeitsmedizin als abgelöste Wissenschaft, an der die 
Betroffenen keinen Anteil haben, kritisiert wird, fehlt als irgend 
relevanter Bestandteil der Gewerkschaftsbewegung in der Bundesrepu- 
blik. Eine breite Diskussion darüber, wie man Gesundheitsschäden un- 
mittelbar im Produktionsprozeß durch Organisierung der Betroffenen 
angehen könne, hat es bei uns nicht gegeben. Insofern ist es auch 
kein Zufall, daß die Linke in der Bundesrepublik immer wieder nach 
Italien hinsah, nicht, weil da der Kapitalismus reifer, sondern in 
der Tat deshalb, weil die Arbeiterbewegung dort der Reife des Kapi- 
talismus entsprechende neue Ziele und Organisationsformen gefunden 
hatte, wenigstens für einen historischen Augenblick. 


Daß die Entwicklung der Individuen, die Entwicklung ihrer Fähigkeit 
solidarisch, kooperativ zu handeln, sich gegen hierarchisch arbeits- 
teilige, bürokratisch organisierte und durch Wissenschaft verfestig- 
te Strukturen ihre eigene und gleichzeitig gemeinsam solidarische 
Handlungskompetenz wieder anzueignen, die Entwicklung tätiger Mensch- 
lichkeit etwas mit Sozialismus zu tun habe, dies gerät in der BRD 
z.B. gerade bei denen, die sich als Gewerkschaftslinke definieren, 
leider häufig aus dem Blickfeld. Die Auseinandersetzungen um die ge- 
werkschaftliche Jugendarbeit machen dies nur allzu deutlich. 
Ein Begriff von Sozialismus und Solidarität, welcher die auf Grund 
historischer Bedingungen in der Bundesrepublik zunächst primär bei 
den Jugendlichen entwickelten Hoffnungen auf bessere Möglichkeiten 
zu leben und zu arbeiten nicht ernsthaft aufnimmt, bestätigt die Al- 
ternativbewegung nur darin, daß sie eben zwar eine Alternative sei, 
aber bei Gott nichts mit der Frage Kapitalismus oder Sozialismus zu 
tun habe. 
Und darin liegen m.E. wiederum die Bornierungen der Alternativbewe- 
gung - den Begriff mit allen denkbaren Fragezeichen versehen, inso- 
fern sich unter ihm ja sehr Unterschiedliches zusammenfaßt - begrün- 
det. Die Kritik am Bestehenden, welche die politische Rechte als Nega- 
tion staatlicher Verantwortlichkeit u.a. für die sozialen Folgen der 
Arbeitslosigkeit reflektiert, als Kritik des steuererhebenden und um- 
verteilenden Staates, reflektiert die Alternativbewegung im Autono- 
miepostulat. Die Ablehnung vorhandener Vergesellschaftungsformen wird 
praktisch in der Ablehnung gesellschaftlicher Normen und Vergesell- 
schaftungsformen, die über übersichtliche, durch personale Beziehun- 
gen geprägte Gruppen hinausgehen. Die Zersetzung bewußter, die Indi- 
viduen einschließender Formen sozialen Zusammenhangs, wie sie sich 
noch in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik finden, wird noch 
einmal bestätigt, indem solche die kleine Gruppe übergreifenden so- 
zialen Zusammenhänge überhaupt als fragwürdig und bürokratieverdäch- 
tig erscheinen und denunziert werden. 
Mir ist bewußt, dies trifft nicht für alle zu, die in der Alternativ- 
bewegung praktisch tätig werden. So weist z.B. der Berliner Gesund- 


30 


heitstag in seinem eigenen Selbstverständnis ebenso wie in seinem 
praktischen Verlauf darüber hinaus. Doch wo einzelne alternative Grup- 
pen alternative Projekte machen, ist das eigene Selbstverständnis 
häufig durchaus in dieser Weise geprägt. 

Wie sieht nun die Kritik von Bürokratisierung und Wohlfahrtsstaat, 

wo sie sich theoretisch auf den Begriff zu bringen sucht, aus? 


AUTONOMIE GEGEN DEN SOZIALSTAAT 


"Die Institutionen der Mega-Maschine zerstören und ersetzen die so- 
zialen Lebensgemeinschaften. Das Funktionale tritt an die Stelle des 
Personalen ... Menschliche Beziehungen verwandeln sich in nur noch 
instrumentelle Produktionsverhältnissse ... Vom Geborenwerden bis zum 
Begrabenwerden wird buchstäblich jede Lebensbetätigung von irgend- 
einer Institution professionell vermarktet. Das big business setzt 

an die Stelle von wirtschaftlicher Selbständigkeit und teilweiser 
Selbstversorgung eine immer totalere Versorgungsabhängigkeit von Gü- 
tern und Dienstleistungen der großen Institutionen. An die Stelle von 
Selbstentscheidung und Eigenverantvortlichkeit tritt eine erneute 
Hilflosigkeit mechanisch austauschbarer Figuren. Der Wohlfahrtsstaat 
setzt anstelle sozialer Selbsthilfe eine lebenslängliche "Behandlung" 
durch die Institutionen des Nachrichten-Erziehungs-Gesundheits-Soztal- 
Verwaltungs-Polizei- und Regierungswesens. Big brother wird immer all- 
gegenwärtiger ... Aber die Gegenwart hat auch ihre oppositionelle Ten- 
denzen: die Träume der Arbeiterbewegung, des Anarchismus und des So- 
alalismus, die antiautoritäre Bewegung, die antipaternalistische Frau- 
enbewegung und die Ökologiebewegung. Ob der Sozial-Polizeistaat Zu- 
kunft hat, hängt ab von ihrem Schicksal und dem Schicksal der sie lei- 
tenden Utopien. (1) 


Nun soll nicht behauptet werden, daß dies der einzig mögliche Begriff 
ist, auf den sich die Bewegung zu bringen vermag. Immerhin, einiges 
ist aussagekräftig. Kennzeichnend ist der unanalytische, soziale Phä- 
nomene allein der Form nach bezeichnende Begriff "Institutionen der 
Mega-Maschine", unter welchen im folgenden sowohl die profitorientier- 
te Vermarktung und Deformierung aber auch jeglichen menschlichen Be- 
dürfnisses ebenso subsumiert wird wie die Einrichtungen des Sozial- 
staats. Der Gegensatz wird als solcher zwischen Instituionen über- 
haupt und Selbsttätigkeit konstruiert. Der Begriff vom Sozial-Poli- 
zeistaat differenziert selbst nicht mehr zwischen den eh und je vor- 
handenen Funktionen des Staatapparats als Gewaltapparat zur Befesti- 
gung kapitalistischer Herrschaft und den Funktionen, welche dem Staat 
im Zusammenhang der Arbeiterkämpfe zugewachsen sind, um die Anarchie 
der Konkurrenz als blindem und die Lohnabhängigen ohnmächtig der Ka- 
pitalbewegung ausliefernden Mechanismus einzudämmen, die "Ökonomie" 
der Arbeitenden gegen die des Kapitals zu setzen. Die Institution 

der Arbeitslosenversicherung oder des Jugendschutzgesetzes kann so 

in gleicher Reihe mit der Jugenderziehungsanstalt oder der Ausländer- 
polizei assoziiert werden. Vom Standpunkt der Alternativbewegung stel- 
len sich beide Institutionen in der Tat als zwei Seiten der gleichen 
Medaille dar. Eine Gesellschaft, die ihren Klassenkompromiß in der 
Formel von der Schutzwürdigkeit der Arbeitskraft als Produktionsfak- 
tor und als lebenslange Einkommens- d.h. Lebenserhaltungsquelle for- 
muliert, "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Deut- 


31 


schen Reiches" lesen wir schon in der Weimarer Verfassung, sortiert 
zwischen Brauchbaren und Unbrauchbaren. Für die Brauchbaren den So- 
zial-, für die nicht Brauchbaren den Sozialpolizeistaat. 


Der pauschale Rundschlag ist nicht einfach theoretisch falsches Kon- 
strukt bzw. erschöpft sich nicht darin, sondern reflektiert Erfahrun- 
gen derjenigen, die einen Teil der Alternativbewegung ausmachen. 

Zum Beispiel Frauenhäuser: Von der Frauenbewegung eingerichtet, den 
Frauen eine Zufluchtsmöglichkeit vor der Gewalttätigkeit ihrer Män- 
ner zu ermöglichen. Zunächst werden sie angesichts des Bewußtwerdens 
des gesellschaftlichen Skandals ohne Auflagen von sozialdemokrati- 
schen Kommunen unterstützt. Dann versucht man die Unterstützung zu 
binden an die Regeln des Bundessozialhilfegesetzes, die Bedingungen 
enthalten, welche den Zielsetzungen der Einrichtung entgegenstehen: 
Beschränkung der Aufenthaltsdauer und der Belegzahl, Einstellung von 
Fachkräften, Aufteilung von Zuständigkeiten, berufstätige Frauen wer- 
den über Pflegesätze zu Sozialhilfeempfängerinnen gemacht. (2) 
Dagegen sollte den Frauen in den Frauenhäusern "unbürokratische Hil- 
fe" gewährt werden, "Schutz in akuten Notsituationen'", auch wenn das 
Haus eigentlich schon voll ist. Überfüllung sei hinzunehmen, solange 
nicht genügend Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung ständen. Die 
Frauen sollen, nachdem sie "oft jahrelang Mißhandlungen und Bedrohun- 
gen ausgeliefert waren und die Gesellschaft diese Tatsache totge- 
schwiegen" hat, nun selbst entscheiden, "wann sie die Folgen halb- 
wegs aufgearbeitet haben und ein neues Leben anfangen wollen." "An- 
dernfalls werden sie erneut für unmündig erklärt." "Zur Frage der 
Fachkräfte können wir sagen, daß wir als Frauen aktiv werden und daß 
diese Arbeit auch von Frauen geleistet werden kann, die selber ein- 
mal im Frauenhaus waren und von daher über eigene Erfahrungen auf die- 
sem Gebiet verfügen: Wir lehnen Spezialistentum ab und wollen für al- 
le die gleiche Bezahlung. Außerdem wollen wir darüber entscheiden, 
wer bei uns arbeitet und wollen uns keine Fachfrauen ins Haus setzen 
lassen." Die genannten Auflagen des Bundessozialhilfegesetzes werden 
in dem Begriff "staatlich-bürokratische Interessen" zusammengefaßt. 


Eine Finanzierung nach dem Bundessozialhilfegesetz, welche die unter- 
stützten Personen zu Objekten staatlicher Fürsorge aufgrund mangeln- 
der subjektiver Existenzfähigkeit und damit auch zu Objekten staatli- 
cher Kontrolle erklärt, wird von den Frauenhäusern abgelehnt. Schließ- 
lich hätten die Frauen durch ihren Schritt, den elenden Verhältnissen 
zu entfliehen, ja gerade ihre subjektive Kraft und den Willen, ein 
selbstbestimmtes Leben zu führen, bewiesen. 


Nun könnte man fragen: Ist es nicht staatliche Fürsorgepflicht, von 
der 'Allgemeinheit' unterstützte Heime zu kontrollieren, ob die dort 
gegebenen Lebensbedingungen auch erträglich sind (Belegzahl), nicht 
unnötig Steuergelder in Anspruch genommen werden (Belegdauer), fach- 
lich qualifizierte Sozialarbeiter tätig werden statt, wie ja häufig 
schon geschehen, menschlich rohe und deformierte Personen, die ihre 
Herrschaftsposition zur Unterdrückung und Schikane der ihnen Ausgelie- 
ferten ausnutzen. Die pauschale Ablehnung jeder öffentlichen Kontrol- 
le mit dem Begriff der "bürokratischen Interessen" vergißt, was in 
der Bundesrepublik in der freien Wohlfahrtspflege immerhin alles mög- 
lich ist. So berichtet "Die Neue" vom 16.10.1979: "Mitten in Köln 
wird ein privates "Altenpflegeheim' wie ein KZ geführt ...Aufmüpfi- 
ges Personal wird schnellstens entlassen ... Neun tote Patienten al- 


32 


lein in den letzten 5 Monaten ...'. Im folgenden wird über die grausa- 
men Methoden der Pflege gegenüber den Patienten berichtet. Zum Ab- 
schluß heißt es dann allerdings, "das Beschwerdezentrum für LHK-Pa- 
tienten des SSK hat den Fall bereits vor längerer Zeit beim Land- 
schaftsverband und beim Kölner Sozialamt angezeigt: Nichts!" 


Hat die steuerzahlende "Allgemeinheit" nicht ein Recht und den Betrof- 
fenen gegenüber nicht auch die Pflicht zur Kontrolle? Was soll dann 
die Rede von den "staatlich-bürokratischen Interessen"? Einem sol- 
chen Anspruch steht im Bewußtsein derjenigen, die alternative Formen 
von Sozialarbeit versuchen, zunächst entgegen, daß sich kaum jemand 
über Verhältnisse aufregt, wo Frauen und Kinder geschlagen werden, 
Menschen unfähig zur Menschenwürde gemacht, in psychiatrische Anstal- 
ten, Erziehungsheime, Fürsorgeanstalten abgeschoben werden, die als 
Institutionen mit den ihnen innewohnenden Mechanismen noch einmal 

die gesellschaftlich produzierte Ohnmacht der einzelnen, ihre Unfä- 
higkeit zu menschenwürdigem Leben, befestigen und der Gesellschaft 
insgesamt durch Ghettoisierung der Geschädigten ein gutes Gewissen 
über ihre eigenen Verhältnisse verschaffen. 


Einem solchen Anspruch von 'Kontrolle' steht auch entgegen, daß das 
Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft nicht vom Standpunkt des 
egoistischen Einzelnen her gedacht ist, der nur notdürftig durch den 
Staat als Vertreter gemeinschaftlicher Interessen in Schranken gehal- 
ten wird, eben durch Kontrolle. Sondern daß gesellschaftliche Fähig- 
keiten der in den alternativen Projekten agierenden Einzelnen als 
existent vorausgesetzt werden: Fähigkeit zur Kooperation an der Stel- 
le von Konkurrenz: das aus freiem Willen und als Person sich auf an- 
dere beziehende Individuum. Zumindest soll dies entstehen durch die 
neuen Organisationsformen. Aber diese Vorstellung allein löst noch 
nicht die Tatsache der Überbelegung, der mangelnden materiellen Res- 
sourcen. Um staatlicher Kontrolle zu entgehen, wenden sich dann Frau- 
enhäuser ans Netzwerk. Dieses präsentiert als Institution gewisser- 
maßen noch einmal das Auseinanderfallen in 'zwei Gesellschaften': 
eine autonom geregelte, selbstverwaltete, z.T. unter materiellen 
Elendsbedingungen agierende auf der einen, eine mit sozialstaatlich- 
kontrollierenden und auch materiell abgesicherteren Möglichkeiten auf 
der anderen Seite. Zu Versuchen, den Außenposten als solchen zu nutzen, 
von welchem aus nach innen Verhältnisse öffentlich hörbar kritisiert 
werden, von dem aus also eine auf Veränderung dieser Teilung hinaus- 
wollenden Konfrontation ausgeht, kommt es schwer. Ob dies an der fak- 
tischen Schwäche der Alternativbewegung, in ihrem geringen Gewicht ge- 
genüber dem, was herrscht, liegt, oder an eigenem Selbstverständnis, 
ist gegenwärtig nicht auszumachen. 

Um das Gemeinte zu konkretisieren, ohne in Spekulationen zu verfal- 
len, ein Beispiel aus Italien für m.E. wirklich alternative Sozial- 
politik. 


ALTERNATIVE SOZIALPOLITIK MIT DEM SOZIALSTAAT 


Im Buch "Das Rote Bologna" von Jaeggi/Müller/Schmidt wird über Experi- 
mente einer nicht autonomistischen, aber trotzdem "alternativen! So- 
zialpolitik am Beispiel des Kinderheims Casaglia demonstriert, was 
gesellschaftliche Verantwortlichkeit ohne Bestätigung der Ohnmacht 

der Betroffenen heißen kann. Zunächst wurde der Versuch gemacht, die 


33 


Institution eines Erziehungsheimes zu liberalisieren. "Die Heimkin- 
der sollten z.B. ihre Freizeitbeschäftigung frei wählen können. Aber 
die Logik der Institution erwies sich als stärker. Wenn etwa eine 
Kindergruppe mit ihrem Erzieher beschloß, ins Kino zu gehen, dann 
setzte das Heim als Organisationsstruktur diesem Beschluß eine ganze 
Reihe von pädagogisch nicht auswertbaren Hindernissen ın den Weg; d.h. 
Schwierigkeiten, die nicht die Kinder, sondern nur die Erwachsenen 
lösen konnten, soweit sie dazu gewillt waren: Bei der Gemeindeverwal- 
tung ein Auto oder einen Fahrer organisieren, das Geld für die Ein- 
trittskarten zu besorgen. Und - was in einem Institut, 1n dem die ân- 
gestellten das Recht auf geregelte Arbeitszeit haben, am schwierig- 
sten ist: Das Nachtessen um eine Stunde oder zwei zu verschieben ... 
Die Logik der Institution blockierte die Änderungsbemühungen der An- 
gestellten." Aufgrund dieser Erfahrungen wird das Heim aufgelöst, die 
Betreuer ziehen mit den Kindern in Wohngruppen in die Viertel, woher 
die Kinder stammen, es wird versucht, durch Hilfe für die Familien 
und Entwicklung des Selbstbewußtseins der Kinder, diese wieder in die 
Familien zu integrieren. Die Stadtverwaltung veranlaßt die Schulen, 
die Kinder in normale Klassen zu integrieren. (3) Und was die Kosten 
einer solchen Sozialpolitik angeht: "Experten sind überzeugt, daß ei- 
ne Rechnung, die alle sozialen Kosten fehlender Prävention einschlie- 
ßen würde (etwa durch Kriminalität), wohl kaum zuungunsten einer gut 
ausgebauten sozialen Vorbeugestruktur sprechen würde." 


Diesem Beispiel liegt eine Konzeption von Sozialpolitik von seiten 
der Bologneser Stadtverwaltung zugrunde, die eine gesellschaftlich 
verantwortliche Antwort auf die mit dem Autonomiepostulat der Alter- 
nativbewegung zunächst konkret kritisierte, aber damit noch nicht ge- 
löste Problematik traditioneller Sozialfürsorgemaßnahmen versucht. 
Mit dem Sammelbegriff (...) "handicappiti' umschreiben die Sozial- 
politiker Bolognas alle Schwachen und Ausgeschlossenen, die über den 
Prozeß der Ent-Institutionalisierung in die Gesellschaft integriert 
werden sollen ... Die Gesellschaft, so finden die Bologneser Sozial- 
arbeiter, soll sich mit dem auseinandersetzen, was sie hervorbringt. 
Isolierung der Benachteiligten ist unmenschlich, für Betroffene und 
Betreuer ... Nur die Integration der Randfiguren kann zu einer gesamt- 
gesellschaftlichen Bewußtwerdung sozialer Probleme führen und damit 
den Weg für präventive Maßnahmen ebnen ... Bolognas Sozialpolitiker 
wollen das Ghetto bürgerlicher Wohlfahrt abschaffen." (4) 


Der Sozialfürsorgestaat mit seinen ghettoisierenden Institutionen rea- 
siert demgegenüber in der Tat rein kompensatorisch-systemstabilisie- 
rend auf die von der Gesellschaft erzeugten Widersprüche und ihre 
Opfer. Eine sozialistische Alternative zu dieser Politik kann weder 
auf die Hoffnung bauen, Verelendung zwinge gewissermaßen Veränderungs- 
willen hervor - solche Vorstellungen widersprechen historischen Er- 
fahrungen ebenso wie jeder Gegenwartsanalyse über die Folgen etwa von 
Arbeitslosigkeit; sie kann auch nicht die Politik des "Selbermachens", 
der Autonomie um jeden Preis, als Lösungsstrategie anbieten. Gegen- 
über solchen Vorstellungen bildet die an einem Beispiel dargestellte 
Politik der Bologneser Kommune eine konkrete Alternative: Sozialpoli- 
tik, welche die menschliche Würde jedes einzelnen zum Ziel hat und 
welche sich gleichzeitig als Element gesamtgesellschaftlicher Bewußt- 
werdungsprozesse begreift und insofern bewegendes Element sozialer 
Veränderung ist. Dies kann auch noch einmal in Konfrontation zu dem 


34 


Vorschlag, welcher von konservativer Seite in Großbritannien vorge- 
legt wurde, deutlich werden: danach sollen für 'auffällig' gewordene 
jugendliche Arbeitslose Erziehungslager in der Nähe von Arbeiter- 
wohnvierteln errichtet werden, in denen Zucht und Ordnung in der Wei- 
se praktiziert werden sollen, daß keiner, der je da war, dorthin wie- 
der zurück möchte: Ein Vorschlag, der in der Konsequenz der Sozial- 
staatskritik von rechts auch in der BRD liegt: Die Elenden sollen 

für ihr Elend bestraft werden, da sie ja selbst daran schuld seien 
und das Ganze soll noch möglichst billig sein. Die "Gesellschaft" 
lehnt jede Verantwortung ab. 


Die verdeutlichende konkrete Realität ließe sich vielfältig verlän- 
gern. Doch die Einzelfälle zeigen die Struktur dessen, was mit der 
Kritik des Sozialfürsorgestaates von Rechts und von Links gemeint ist. 
Und das Beispiel Bologna zeigt auch, in welche Richtung Sozialpolitik 
sich entwickeln kann, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit als 
Solidarität praktiziert und nicht als Verdrängung, Ausgrenzung, Kom- 
pensation der durch die kapitalistische Gesellschaft erzeugten Wider- 
sprüche und ihrer Opfer. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Er- 
ziehungsheime, aber auch die Zunahme der Sonderschulklassen - all 
diese Institutionen des "Sozialfürsorgestaates" stehen ihrer inneren 
Struktur und ihrer Beziehung zur Gesamtgesellschaft nach in der Tat 
für eine Sozialpolitik, die durch gewisse Geldleistungen denjenigen, 
die es geschafft haben, die Opfer der herrschenden gesellschaftli- 
chen Entwicklungsprinzipien vom Hals hält bzw. zu halten versucht: 
Genau die Prinzipien, die von der politischen Rechten als "Freiheit 
des Bürgers" noch einmal auf den Sockel gehoben werden sollen: der 
asozialen Rücksichtslosigkeit der Konkurrenz, des Prinzips der indi- 
viduellen Leistung, der "freien" Beweglichkeit der Individuen inner- 
halb der Konkurrenz. Und je mehr Opfer diese gesellschaftlichen Ent- 
wicklungsprinzipien fordern, man denke nur an die Zunahme des Alko- 
holismus und der Resignation bei den Jugendlichen und an das zuneh- 
mend vorzeitige Ausscheiden alter Menschen aus dem Produktionsprozeß, 
ohne daß gleichzeitig das Prinzip der Lösung dieser Probleme in Form 
kompensatorischer, die Opfer ghettoisierender Sozialpolitik in Frage 
gestellt wird, je stärker wird die Möglichkeit der Rechten, die zu- 
nehmenden Kosten als demagogisches Spielmaterial gegen den Sozial- 
staat wenden zu können und auf gewalttätig-polizeiliche Lösungen der 
Probleme zum Zwecke der Entlastung der 'Allgemeinheit' von entspre- 
chenden Steuerabgaben zu drängen. Denn die existierenden institutio- 
nellen Formen von Sozialfürsorge halten die Vorstellung aufrecht, es 
handele sich um das Versagen von Individuen und nicht um das der Ge- 
sellschaft. Sie demonstrieren nicht die Notwendigkeit der progressi- 
ven Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklungsprinzipien. 


Das Manko alternativer Projekte liegt darin, daß im Autonomiepostulat 
gesellschaftliche Verantwortlichkeit allein als 'Rausrücken von Knete' 
eines ansonsten gleichgültigen und für nicht veränderbar erachteten 
Gemeinwesens eingefordert wird. So hängt es denn auch eher von poli- 
tischen Zufällen ab, ob 'Knete' gewährt wird oder nicht. Die Überle- 
bensfähigkeit der Projekte liegt so aber nicht im Bereich des durch 
den eigenen Willen Beeinflußbaren, nicht einmal der Idee nach. Dimen- 
sionen gesamtgesellschaftlicher Veränderung können so schwer gedacht 
werden, werden ins Reich so und so unnützer Theorie verwiesen. Daß 
dies aus der praktischen Situation der Projekte heraus verständlich 


35 


und erklärbar ist, ist unbestritten. Aber genau dies macht auch ihre 
Begrenzung hinsichtlich gesellschaftskritischer Wirkung aus. 


DIE DIMENSION DES WÜNSCHENS ALS KRITIK 


Es sollte zu denken geben, daß die Normen menschlicher Beziehungen, 
die spiegelbildlich im Gegensatz zu denen der politischen Rechten 
stehen, gegenwärtig weniger von Gewerkschaften und SPD als - wenn auch 
zum Teil die eigene Ohnmacht spiegelnd - von der Alternativbewegung 
formuliert werden. Die Menschen sollen gleiche Möglichkeiten nicht 

nur der Entwicklung ihrer Fähigkeiten in der Schule, sondern auch de- 
ren Anwendung und Weiterentwicklung in der Arbeit haben. Man versucht 
dies durch Schaffung eigener Arbeitszusammenhänge und Realisierung 

der Gleichheit durch Rotation von Tätigkeiten innerhalb derselben her- 
zustellen. Den Opfern der Leistungsgesellschaft gebührt nicht nur ei- 
ne materielle Existenzsicherung, sondern gleichermaßen praktizierte 
Solidarität. Sie sind nicht Versager, sondern in ihnen reflektiert 
sich das Elend der Gesellschaft. Sie sollen zur Selbsthilfe befähigt 
und nicht noch einmal als Objekte verwaltet werden. Die Negation der 
Arbeit als menschlicher Tätigkeit, die Reduktion menschlicher Frei- 
heit auf die Sphäre der Konsumtion gilt es zu beseitigen: Man ver- 
sucht in den Nischen der kapitalistischen Produktion sich arbeitend 
selbstverwaltend anzusiedeln und dabei eine andere Vorstellung von 
Arbeit zu entwickeln und zu praktizieren. 

Die freie Zeit ist der Möglichkeit nach "Reich der Freiheit', der Ent- 
faltung und Selbstverwirklichung der Individuen, nicht gegen oder 
gleichgültig gegen andere, sondern gerade mit anderen. In ihr sollen 
die Individuen nicht wieder bloßes Objekt einer profitorientierten 
Vermarktung von Bedürfnissen sein: Man entwickelt eine Gegenkultur, 
fragt sich nach Möglichkeiten einer alternativen Kultur, sucht 

dieses Feld, zunächst wenigstens für sich selbst, dem Kapital zu ent- 
ziehen. Kapitalwachstum um des Kapitalwachstums willen bedeutet nicht 
einfach Fortschritt: Da man sich den vorhandenen Reichtum nicht ge- 
sellschaftlich aneignen kann, sondern aus der Situation heraus eine 
normative Kritik, die kaum gesellschaftliche Machtinstrumente ent- 
wickelt hat, praktiziert, formuliert man die Kritik im demonstrativ 
ärmlichen Leben und nimmt Über-Arbeit in Kauf, um zu zeigen, daß es 
auch ohne geht. Die Formen, in denen die Kritik praktiziert wird, re- 
flektieren selbst noch, daß es eben nicht die herrschende Kritik der 
herrschenden Verhältnisse ist. 

Die Unglaubwürdigkeit alternativer Versuche "zu leben und zu arbeiten" 
für diejenigen, die an der traditionellen Arbeiterbewegung orientiert 
sind, hat allerdings ihre materielle Grundlage. Solche alternativen 
Lebensformen siedeln sich in Nischen des Systems an, in Winkeln der 
Marktwirtschaft, an Punkten, wo das staatliche Sozialfürsorgesystem 
offensichtlich versagt und wo das schlechte Gewissen der Kommunen 

über dieses Versagen materielle Unterstützung für neue Versuche ge- 
währt. ABM-Gelder, Subventionen für kleine Betriebe, das Gesamt-Ge- 
strüpp staatlicher Subventionspolitik wird durchforstet, um Lebens- 
möglichkeiten zu finden. Ein Teil derjenigen, die an einem Projekt 
arbeiten, beziehen Arbeitslosenunterstützung oder werden aus ABM-Gel- 
dern bezahlt, man nimmt in der Rechtsform "freier Wohlfahrtsverbände", 
die von der Katholischen Kirche im wesentlichen durchgesetzt wurde, 


36 


das Subsidaritätsprinzip in Anspruch und im äußersten Notfall hilft 
das 'Netzwerk'. Sicherlich gibt es auch "sich selbst tragende Projek- 
te" im Bereich handwerklicher Produktion, aber im wesentlichen tragen 
sich die Projekte eben doch nicht selbst und können es auch nicht. 
Zudem findet sich häufig auch unmittelbare materielle Existenznot bei 
minimalem Einkommen und natürlich auch Überarbeit. 

Es handelt sich also im wesentlichen um moralische, ideelle Negatio- 
nen der vorhandenen Vergesellschaftungsform, so praktisch die Projek- 
te auch sein mögen. Oder noch deutlicher gesagt: Ohne daß in die Ar- 
beitslosenversicherung gezahlt würde von denen, die in der "Industriel- 
len Mega-Maschine' arbeiten, könnten auch keine ABM-bezahlten Projek- 
te organisiert werden. Es kann sich eben nicht jeder den entstellen- 
den Zügen der Konkurrenz einfach als einzelner oder als kleine Grup- 
pe entziehen. 


Natürlich ist allen bewußt: Die linken Schreinereien, Alternativlä- 
den, Tagestätten etc. würden sich schnell zu Tode konkurrieren, wenn 
sie von viel mehr Leuten als Ausweg zur Veränderung ihrer Lebend- 
praxis versucht würden. Was solche Versuche, alternativ zu leben und 
zu arbeiten, gesellschaftlich relevant macht, ist, daß sie die Dimen- 
sion des Leidens unter gegebenen Verhältnissen offenlegen, daß sie 
die Dimension des Wünschens anderer Verhältnisse unter den Menschen 
offenhalten, das "Prinzip Hoffnung". Ist es doch der eingefahrene 
Mechanismus der Machtauseinandersetzung, der heute in den Gewerkschaf- 
ten gerade diese Dimension des Wünschens als produktive Kraft verschüt- 
tet: Weil die Kollegen das Vertrauen in die Organisation verlören, 
die Organisation gegenüber dem Gegner geschwächt würde, sei es ge- 
werkschaftsschädigend, Forderungen zu stellen, die nicht durchge- 
setzt werden könnten: dies eine gängige Argumentation innerhalb der 
gewerkschaftlichen '"Großorganisationen', 

Es ist nicht schwer, der Alternativbewegung mangelnde theoretische 
Differenzierung bis hin zur Theoriefeindlichkeit, Beschränkung auf 
die kleine Gruppe, Träume von menschlicher Geborgenheit in der klei- 
nen Gruppe ohne Rücksicht auf das, was rundherum geschieht, vorzuwer- 
fen. Andererseits ist aber auch zu fragen, wie weit diese Momente 
nicht umgekehrt den Zustand der Sozialdemokratie und der Gewerkschaf- 
ten reflektieren. 


SOZIALDEMOKRATIE, FORTSCHRITT UND SOZIALSTAAT (5) 


Technischer Fortschritt als automatischer Produzent von gesellschaft- 
tichem Fortschritt 


In der Weimarer Republik wähnten sich Gewerkschaften und Sozialdemo- 
kratie an der Spitze des Fortschritts, wenn sie die Rationalisierung 
der Unternehmen als Bedingung der Verbesserung der Lebensbedingungen 
aller einforderten. Der faschistisch revoltierende Mittelstand mit 
seinen Träumen von der Auflösung der Warenhäuser, von einer klein 
dimensionierten Produktion konnte nur als Ausdruck reaktionären Be- 
wußtseins einer Klasse gewertet werden, deren Untergang durch den 
historisch notwendigen Gang der Entwicklung der Produktivkräfte eben- 
so naturgesetzlich vorherbestimmt schien wie der Aufstieg der Arbei- 


37 


terklasse. Diese begriff sich als Produzent und Reprässentant der ent- 
wickelten Produktivkräfte und ihre Organisationen begründeten darauf 
den Anspruch, Vertreter der fortschrittlichsten Klasse zu sein. 

"Das ist das ökonomisch historische Fundament des Nationalsozialis- 
mus. Bürger, Bauern, Angestellte, seine Träger, sie sind nicht anti- 
kapitalistisch schlechthin, sie sind nur gegen den Hochkapitalismus, 
gegen Bank- und Industriekapitalismus; sie wollen das Rad der spätka- 
pitalistischen Entwicklung aufhalten ... sie sind ökonomisch reaktio- 
när und daher sowohl gegen den Hochkapitalismus wie gegen den Marxis- 
mus." Man spürt "die prinzipielle Verwandtschaft der ökonomischen Or- 
a des Hochkapitalismus und des Sozialismus mehr oder weni- 
ger. 6 


Das naturgesetzliche Entwicklungsdenken, der "Ökonomismus' und "Deter- 
minismus" der alten Sozialdemokratie hatte in der Ausrichtung der 
Fortschrittshoffung auf die Entwicklung der Produktivkräfte als An- 
wendung der Wissenschaft auf den Produktionsprozeß und als Resultat 
der eigenen Arbeit eine entscheidende Wurzel. Schließlich ist ein 
solcher Prozeß nicht einfach durch subjektiven Willen, durch Verände- 
rung der Individuen, durch Kulturrevolution, durch soziale Bewußt- 
seinsveränderungen oder irgendetwas dergleichen zu beschleunigen, 
allenfalls durch eine rationellere Gesamtorganisation mit dem Zweck 
rationellerer Verteilung zu Gunsten der Arbeiterschaft. Gewisserma- 
ßen konnte man abwarten, bis der Kapitalismus den Sozialismus bringen 
würde. "Fortschritt in der Entfaltung der Produktivkräfte ist dem Ka- 
pitalismus durch seine eigene Dynamik aufgezwungen." (Marcuse) 
Leistete der Kapitalismus die Entwicklung der Produktivität und ga- 
rantierte er dabei noch einigermaßen die Lebensbedingungen der Arbei- 
tenden durch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Einwirkung, 
Ro schien jede politische Anstrengung zu seiner Aufhebung eher sub- 
jektivistisches Abenteuertum. Kapitalkonzentration und Zentralisa- 
tion und die ihr entsprechende technische Gestalt der Produktionsmit- 
tel wurde als sich herausbildende materielle Basis sozialistischer 
Planung betrachtet, alles andere erschien als ökonomisch reaktionär. 
Die diesen Formen entsprechende Vergesellschaftungsformen hierarchi- 
scher Unternehmensorganisation und Arbeitsteilung blieben ebenfalls 
unkritisiert. Der technische Fortschritt und die ihn tragende Arbeit 
der Arbeiter sollte nicht nur Produzent des Reichtums, sondern auch 
des Sozialismus sein. Das Gleiche gilt für die DDR-Theorie nach 1945. 
In der Weimarer Republik findet diese Vorstellung etwa ihren Höhe- 
in der Stellung der Gewerkschaften zur Rationalisierung: "Ford 
ee ner g schon innerhalb der privatkapitalistischen 
JENER len ee 5 Wege weist, die gegangen werden müssen und auf 
Feen Lane erst aufbauen kann. Das 

ki Ye ag € liche Prinzip, was seinem Handeln zugrunde liegt, 
Dinmat ann Anz aen blasen, in der aa sutaisht, 17) nie 
tet. "Die Verkürzung d A st wurde als Naturnotwendigkeit betrach- 
wehänferisch B er rbeitszeit ist das einzige Mittel, das 

P schen Ersatz gibt für die wesenlos gewordene Arbeit." (8) 


Inden die alte Hoffnung von der "Befreiung der Arbeit" aufgegeben und 
das Reich der Freiheit in die Freizeit verlegt wurde, überließ man der 
Möglichkeit nach dem Kapitalismus zu definieren, was Freiheit und Be- 
dürfnis sel: Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen, und die 
seien grundsätzlich unendlich, was gleichzeitig die Ewigkeit der ka- 


38 


pitalistischen Produktion beweise und die Ewigkeit des Fluchs der Ar- 
beit bestätige. Es ist wohl nicht ganz abwegig, den nahezu völligen 
Verlust sozialistischer Traditionen in den Arbeiterorganisationen der 
Bundesrepublik auch als genuines Produkt des alten Ökonomismus zu be- 
greifen. Dabei verstehe ich hier unter Ökonomismus weniger die Krisen- 
theorie als den Glauben an den naturgesetzlich fortschrittlichen 
Gang der Technologie und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen 
Formen der Organisation der industriellen Produktion, einmal abgese- 
hen von der Konkurrenz. Die negativen Resultate technologischen Fort- 
schritts galt es durch die Entwicklung des Sozialstaats abzufangen: 
Arbeitslosenversicherung für die Arbeitslosen, Invalidenrente für die 
von der Arbeit endgültig Krankgemachten, Krankenversicherung für die 
vorübergehend Krankgemachten. In der Stabilisierung dieses Systems 
der Vergesellschaftung unter Berücksichtigung der Interessen der Ar- 
beitenden als Träger individueller Rechtsansprüche trat auch der ur- 
sprüngliche Begriff von Solidarität als Fähigkeit der Individuen zur 
gemeinsamen Selbsthilfe zunehmend zurück. Die Arbeiterbewegung als 
"Lager", als Gesellschaft innerhalb und zum Teil auch außerhalb der 
Gesellschaft, die Individuen durch persönlich praktiziertes Zusammen- 
gehörigkeitsgefühl und gegenseitige Hilfeleistung verbindend, die ge- 
genseitige Hilfe auch durch gemeinsame Kassen organisierend, eine ei- 
gene Kultur entwickelnd und gegen das Bürgertum sich abgrenzend: So- 
lidarität als Kulturnorm gegen die des bürgerlich-egoistischen Indi- 
viduums setzend. Diese Arbeiterklasse hat sich in der Bundesrepublik 
in der Tat aufgelöst. 


Die Solidarität ist in den Himmel der Institutionen gewandert 


Gemeinschaftliche Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten wurden und wer- 
den entweder mit oder ohne Druck der Gewerkschaften vom Gesetzgeber 
zu staatlichen Aufgaben erklärt. Dort werden sie als gesellschaftli- 
che Sondertätigkeit bürokratisch arbeitsteilig verwaltet. Die Indi- 
viduen haben dann nichts mehr damit zu tun. Wo in den Gewerkschaften 
Solidarität als individuelle Fähigkeit und als Solidarität der Glei- 
chen erinnert wird, gilt sie vor allem als solche der Leistungsfähi- 
gen, der Beschäftigten, derer, die es geschafft haben. Die anderen 
werden mehr oder weniger guten Gewissens der Sozialfürsorge als Ob- 
jekte der Staatstätigkeit überlassen. Solidarität wird von der So- 
zialdemokratie eher im Sinne der alten Katheder-Sozialisten umdefi- 
niert: nämlich daß der Staat sich um die sozial Schwachen zu kümmern 
habe. Der einzelne selbst entlastet sich von "Solidarität". Er ver- 
folgt als Einzelperson seine Interessen und stattet seinen gesell- 
schaftlichen Zusammenhang und den Anspruch gegenseitiger Hilfe in 
Geldbeträgen ab. Damit gehen aber die Momente kollektiven Bewußtseins, 
die in den ersten solidarischen Organisationsformen der Arbeiter- 
schaft vorhanden waren, und in denen die Organisationen selbst den 
Sozialismus gewisserweise vorzuformen gedachten, verloren. Die mora- 
lische Identität der Lohnabhängigen, die solidarisches Bewußtsein als 
Kulturleistung dem bürgerlichen Egoismus und Individualismus entge- 
genhielten, diese Identität verschwindet. Marcuse versucht das als 
Problem unter den weiterentwickelten Verhältnissen zu fassen: "Es 
geht um jeden einzelnen und um die Solidarität von Einzelnen, nicht 
nur von Klassen und Massen." (9) Er meint die Notwendigkeit der Wie- 
dergewinnung von Solidarität als gesellschaftlicher Fähigkeit der In- 


39 


dividuen. 


Die Beschränkung der Ziele der Arbeiterbewegung auf die Entwicklung 
der materiellen Produktivkräfte hat ihr den Charakter als Träger mensch\ 
licher Hoffnungen auf ein glücklicheres Leben in dem Maße genommen, 
wie diese Entwicklung zufriedenstellend vom Kapital geleistet wurde: 
Lohnerhöhungen plus Arbeitszeitverkürzung plus Versprechen für jeden, 
durch Verbesserung des Bildungssystems mit gleichen Chancen an der 
Konkurrenz und am Aufstieg teilnehmen zu dürfen: Daraus läßt sich 
heute kein Gegenbild zu den Leiden, die in den existierenden Verhält- 
nissen produziert werden, mehr stricken. 

In dem Maße, wie von seiten des Kapitals die Entwicklung der Produk- 
tivität als Prozeß der Destruktion von Umwelt und Menschen vonstatten 
geht, besteht die Gefahr, daß die Beschränkung der Gewerkschaften auf 
die alten Ziele diese Organisationen ihres fortschrittlichen Charak- 
ters beraubt. 


Was in der Kritik des "Sozialfürsorgestaates' und des "Bürokratismus' 
der Großorganisationen von seiten der Alternativbewegung gemeint ist, 
ist u.a. der in der Tat stattgefundene Verlust der Fähigkeit, sich 
menschlich-gesellschaftlich zu verhalten, der Verlust solidarischer 
Fähigkeiten und Normen der Individuen. Die alte solidarische Tradi- 
tion der Arbeiterbewegung hat sich gewissermaßen von den Individuen 
als Trägern abgelöst und ist in den Himmel der Institutionen gewan- 
dert, wo sie dann oft nicht mehr erkennbar ist. Anders gesagt, sie 
hat sich den Individuen entfremdet. Sie ist in den Institutionen ver- 
gegenständlicht. Und das geht nicht ohne Veränderung des Inhalts ab. 
Der Begriff Solidarität meint das Verhalten von Individuen. Eine so- 
zialstaatlich verwaltete "Solidarität! ist - welche Fortschritte sie 
auch sonst darstellt - eben keine mehr. Als sozialstaatliche Aktion 
ist sie Resultat von Klassenkompromissen. Hilfe für die Schwachen 
wird vom Kapitalismus nur insoweit zugestanden, als damit seine Ent- 
wicklungsprinzipien selbst nicht in Frage stehen. Und dazu gehört so- 
wohl die materielle Lebenssicherung wie die Bindung individueller 
Hoffnungen und Wünsche in den Rahmen der existierenden Verhältnisse. 
Im Sozialversicherungssystem sei "das Interesse an der Aufrechterhal- 
tung und Reparatur von Arbeitskraft institutionalisiert, auf das das 
Interessen der Menschen am Leben in dieser Gesellschaft" reduziert wer- 
de. "Die Interessenkonstellation von gesellschaftlichem Leiden, das 
in Ermangelung der Möglichkeit aktiver Auseinandersetzung mit seinen 
Umständen betäubt zu werden wünscht, mit den Interessen der Ärzte, 
die dies versprechen, wenn man ihnen ihr hoch dotiertes Kompetenzpri- 
vileg läßt, und den Interessen der Sozialstaatsbürokratie, die dies 
zu finanzieren und zu organisieren behauptet, wenn die Betroffenen 
ihr zuvor das Geld und die gesellschaftlichen Entscheidungsbefugnis- 
se abgetreten haben, reproduziert diesen Betrieb auf erweiterter Stu- 
fenleiter. Dahinter steht der große Kompromiß zwischen den Interessen 
des Kapitals an der Reparatur der Arbeitskraft und den Interessen 

der Arbeitskräfte, in dieser Gesellschaft leben zu können. Die Ent- 
wicklung des Sozialversicherungswesens war ein Ergebnis dieses Kom- 
promisses, und solange dieser Kompromiß funktioniert, solange wird 

es die spontane Tendenz bleiben, daß gesellschaftliche Leiden und 
Konflikte, die gesellschaftlich nicht ausgetragen werden können, als 
Krankheit versicherungsrechtlich anerkannt, auf diesem Wege Wieder- 
gutmachung fordern. Und die Konsequenz ist tatsächlich Medikalisie- 


4o 


rung und Bürokratisierung des Medizinbetriebs." (lo) 


Die Krise des Sozialstaates besteht also nicht einfach darin, daß ihm 
aufgrund ökonomischer Krisen die materiellen Ressourcen ausgehen. Das 
geschieht auch. Aber keine neue Prosperität des Kapitals würde die 
Krise des Sozialstaates in ihrer gegenwärtigen Form beseitigen kön- 
nen. Um bei der Frage Gesundheit, Krankheit, Sozialversicherung zu 
bleiben: Nicht die Krankenversicherung beseitigte die durch Hunger und 
den Mangel an Luft, Licht und Hygiene sowie durch Überarbeitung er- 
zeugten Krankheiten, sondern die Verbesserung und Verstetigung der 
Einkommen, die Beseitigung von Elendsquartieren, die Herstellung hy- 
gienischen Mindestbedingungen, die Verkürzung des Arbeitstags. Dem- 
gegenüber sind heute "die häufigsten Erkrankungen chronische" und 
"psychosomatische, die durch die Lebensweise im umfassenden Sinn ge- 
prägt sind, psychische und organische Manifestationen gesellschaftli- 
chen Leidens." (11) Keine weitere Entwicklung der Arbeitsproduktivi- 
tät und keine dieser folgende gesellschaftliche Umverteilung durch 
sozialstaatliche Maßnahmen wird diese Leiden beseitigen können. Es 
sind Krankheiten der Individuen, welche nur durch Veränderungen im 
Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft, zu anderen, zu ihrem ei- 
genen Körper behoben werden können. Anders gesagt: Eine soziale Ge- 
sellschaft wird nicht mehr einfach eine sozialstaatliche im herkömm- 
lichen Sinn sein können. 


Hinter entwickelte Subjektivität kann nicht zurückgefallen werden 


Die Solidaritäts- und Selbsthilfeformen der alten Arbeiterbewegung 
waren eindeutig durch den Zwang der ökonomischen und gesellschaftli- 
chen Verhältnisse produziert. Sie waren Produkte der materiellen Not, 
wuchsen auf dem gleichen Boden, auf dem auch die manchmal sehnsüch- 
tig erinnerte Gemeinschaftlichkeit von Menschen nach dem Ende des 
Krieges gewachsen ist. Demgegenüber ist die Entwicklung zum 'Sozial- 
staat' auch mit der Produktion von Bedingungen einhergegangen, die 
den Spielraum dafür eröffnet haben, daß aus dem 'Klassensubjekt' die 
einzelnen als solche, um die es ginge, hervorgetreten sind. Wurden 
etwa in der Weimarer Republik Forderungen nach Arbeitsschutz noch 
häufig damit begründet, daß ein ausbeuterischer Umgang mit der 'Ar- 
beitskraft' unökonomisch, volkswirtschaftlich schädlich und nur ein- 
zelwirtschaftlich rationell sei, so wird in der Humanisierungsdebatte 
heute schon mit dem Recht des einzelnen, mit seiner Existenz als Sub- 
jekt argumentiert, das Zweck für sich und nicht nur Mittel zur Ent- 
wicklung der Produktivkräfte sei. 


Dieses Heraustreten des Einzelnen als Subjekt ist m.E. nicht unabhän- 
gig von der Entwicklung des bürgerlichen - zum Sozialstaat, welcher 
dem einzelnen Lohnabhängigen die Erfahrung vermittelt hat, unterm 
Schutzschild der Sozialpolitik aus eigener Kraft etwas bewirken zu 
können, als Subjekt zur Geltung zu kommen. Die Menschen machen ihre 
Geschichte selbst, und dies gilt spätestens seit der Novemberrevolu- 
tion auch für die Lohnarbeiter. Sie machen sie unter gegebenen Bedin- 
gungen und Umständen, aber sie machen sie. Die kommunistische Kritik 
an dieser Integration als Werk sozialdemokratischer Arbeiterverräter 
will dies nicht wahrhaben. Die 'Massen' werden - und der Begriff sagt 
es schon - in dieser Vorstellung nicht nur als Objekt des Kapitals, 


41 


sondern auch noch einmal als bloße Objekte ihrer Führer denunziert. 
Jedes eigene Wollen als Subjektivität wird den Einzelnen dabei abge- 
sprochen. Man muß da durchaus selbstkritisch sein, Wie leichthin un- 
terläuft einem selbst der Begriff vom "kollektiven Handeln' als rein 
emphatisch unkritischer. Gerade linke Intellektuelle, die sich doch 
zumindest zu reflektierenden Subjekten - wenn dies auch nicht alles 
ist - entwickelt haben, schwärmen vom Handeln der Massen. Ist der Ge- 
stus nicht verräterisch? Da der Kopf allein nicht handeln kann, 
braucht man ausführende Instrumente für seine Ideen. 


Warum gelingt es aber der marxistisch geschulten Intelligenz so 
schwer, sich gesellschaftliche Veränderungen vom Standpunkt geworde- 
ner Subjektivität und der Widersprüche, unter die diese heute gesetzt 
ist, zu denken. Auch was sich gegenwärtig als Gewerkschaftslinke be- 
greift, interpretiert häufig das "Individuum-Sein' der Lohnabhängigen 
allein nach der Seite der Integration in die bürgerliche Gesellschaft. 
Marxinterpreten, auf die da zurückgegriffen wird, begreifen den ent- 
wickelten Anspruch der Individuen auf Selbsttätigkeit nur als Fetisch- 
gestalten, Verhüllungen der eigentlich kapitalistischen Kerngestalt, 
die darin bestünde, daß die Lohnabhängigen nichts als Objekte des Ka- 
pitals seien. Von da aus wird ein Mythos von Kollektivität, Disziplin, 
Einheit und Macht aufrechterhalten, in dem die von der Alternativbe- 
wegung formulierten Bedürfnisse, Person zu sein und die Leiden darü- 
ber, es nicht sein zu können, keinen Platz haben. 

Die Alternativbewegung präsentiert in ihren Vorstellungen und in 

ihrer Praxis sich entwickelnde menschliche Wünsche, Gesellschaftlich- 
keit weder als blinden Konkurrenzzusammenhang, noch auch als nur über 
den Individuen stehende Institutionen, sondern eben auch als indivi- 
duelle Fähigkeit zu entwickeln, hinausgehend über den alten Begriff 
der Solidarität der Arbeiterbewegung, wo man aus 'Not' zusammenzuste- 
hen gezwungen war: Nämlich demgegenüber den Wunsch, sich Reichtum als 
solchen von menschlichen Beziehungen anzueignen, Brüderlichkeit nicht 
nur im disziplinierten Kampf mit dem gemeinsamen Gegner, sondern Brü- 
derlichkeit und Schwesterlichkeit als Bedingung der eigenen Entwick- 
lung selbst. Und auch den Wunsch, das Verhältnis zwischen Mensch und 
Natur zu ändern. Die Alternativbewegung geht diese Wünsche praktisch 
an. Daß sie das als Negation nach allen Seiten hin tut, in beschränk- 
ter und mit Momenten historischen Zurückgehens versehener Form, 2.T. 
auch wiederum aus der Not des nicht mehr unter gegebenen Verhältnis- 
sen Könnens, liegt nicht nur an ihr, sondern reflektiert diese Ver- 
hältnisse kritisch. Was da gewünscht wird, geht über das, was in der 
historischen Figur des Lohnarbeiters gewünscht wird, hinaus, und in der 
Isolierung fällt es auch z.T. dahinter zurück. 

Aber auflösbar ist dieser Widerspruch weder in die Richtung einer 
schlichten Wiederbelebung vergangener Normen der Arbeiterbewegung, 
noch in der Strategie der Autonomie als Unabhängigkeit einer autonom 
regulierten zweiten neben der ersten Gesellschaft. An diesem Punkt 
angelangt, muß das Nachdenken eigentlich erst richtig beginnen. 


ANMERKUNGEN 


(1) Joseph Huber, Das Unternehmen, Modell einer selbstverwalteten 


42 


(2) 


(3) 
(4) 


(5) 


(6) 


(7) 
(8) 
(9) 


Wirtschaft, S. 145-147, in: Kursbuch 53, 1978 

Das folgende ist zitiert nach einem Antrag des Bremer Frauenhau- 
ses auf Unterstützung durch Netzwerk 

Jaeggi/Müller/Schmidt, Das rote Bologna, Zürich 1976, S. 197£. 
ebda., S. 196 

Und der Psychiatrieprofessor Eustachio Loperfido formuliert: "Die 
grundsätzliche Alternative besteht darin, die Probleme, die Wider- 
sprüche in die Gemeinschaft zurückzutragen, in der sie entstanden 
sind, damit man ihren Ursprung entdeckt und ihre Gründe bekämpft; 
damit die Gesellschaft selbst sich all dessen bewußt wird und be- 
mächtigt, also ihre eigenen Fähigkeiten mobilisiert, um ihre ei- 
gene Entwicklung in den Griff zu bekommen." (195) "Welche Refor- 
men auch immer gemacht werden, das Institut setzt den gesell- 
schaftlichen Absonderungsmechanismus fort, statt ihn aufzuhalten. 
Mit dieser Erfahrung gingen die Casaglia Reformer an die Auflö- 
sung des Kinderheims. Die Begründung für diesen Schritt, von dem 
sie die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung zu überzeugen ver- 
mochten, legten sie in ihrem Arbeitsbericht vom Il. Mai 1971 dar: 
'Die Gesellschaft, so wie sie heute strukturiert ist, schafft Pro- 
bleme der Marginalisierung und Nichtanpassung. Die Institution als 
Antwort auf diese Probleme dient nur zur ... Verschleierung ... 
einer Reihe von nicht gelösten Problemen." (198/99) 

Der Einfachheit halber gehe ich hier nicht auf die kommunistische 
Tradition im besonderen ein. Vgl. dazu etwas ausführlicher: 
Christel Neusüß, Produktivkraftentwicklung, Arbeiterbewegung und 
Schranken sozialer Emanzipation, in: PROKLA 31 

Günter Kaiser, Der Nationalsozialismus, eine reaktionäre Revolu- 
tion, 1931, dokumentiert in: Wolfgang Luthardt, Hrsg., Sozialde- 
mokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, Materialien 
zur gesellschaftlichen Entwicklung, 1927-1933, 2 Bde. Ffm 1978, 
Bd. 2, S. 322 

Elisabeth Schalldach, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinfla- 
tionszeit im Urteil der deutschen Gewerkschaften, Jena 1936, S. 57 
W. Eggert, Rationalisierung und Arbeiterschaft, Berlin 1927, Re- 
ferat auf der Betriebsrätekonferenz des ADGB, S. 26 

Marcuse, Fortschritt und Innerlichkeit, in: Die Neue, 26.9.79 


(lo)Rainer Möhl, Schlichtes Weltbild? Zu '"Maßlose Medizin-Antworten 


auf Ivan Illich', in: Forum für Medizin und Gesundheitspolitik 
Nr. 14/Mai 1980/S. 78) 


(11) ebda. 


x 


43 


KRIMINALSOZIOLOGISCHE 
BIBLIOGRAFIE 


SENSATION 7 


Schwerpunkthefte: 


- Kriminalität in den Massenmedien (11-13) 

- Michel Foucault & Das Gefängnis (19/20) 
Kontrollierte Frauen (23/24) 

- Cannabis - Prohibition und Legalisierung (26/27) 
Alternativen zum Strafprozeß 
Haftentlassenenhilfe 
Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften 
für die Rechtswissenschaft 

- Korruption 


Bibliografie: neuerscheinende Bücher und Artikel 
Aufsätze — Rezensionen — Berichte 


Abo und Probehefte: Ludwig Boltzmann Institut für Kriminal- 
soziologie, Postfach 1, A-1016 Wien. Einzelheft: S 40 (DM 7). Abo: 
S 150 (DM 23), Studenten S 100 (DM 16), Institute S 250 (DM 35) 





Heinz Steinert 


“ALTERNATIV” - BEWEGUNG UND SOZIALARBEIT 
ODER 


Wie “ der Staat” die Probleme enteignet und warum man 
ihn trotzdem nicht einfach rechts liegen lassen kann (1) 


NACHTRÄGLICHE VORBEMERKUNG 


Die Arbeit an diesem Thema hat mir mehr Schwierigkeiten gemacht als 
ich beim Schreiben gewöhnt bin. Das liegt wohl daran, daß die Reali- 
tät, auf die sie sich bezieht, voll von Widersprüchen ist, daß ich 
mich sträube (oder es nicht schaffe), daraus eine "glatte" politische 
"Lösung" zu finden, und daß ich mich dadurch in Widerspruch zu eini- 
gen vorherrschenden Stimmungen und Selbstverständlichkeiten setze. 
Letzteres bezieht sich vor allem auf die Haltung zu "dem Staat", wo 
ich als vorherrschende Selbstverständlichkeit wahrnehme, daß eine Po- 
litik zu finden sei, die sich staatlichem Zugriff entzieht und auch 
keinerlei Hoffnungen (und damit Arbeit) in die staatlichen Apparate 
investiert. Für eine solche politische Linie gibt es eine Reihe von 
guten Begründungen, die ich teile und in Abschnitt I und 2 der Arbeit 
zu entwickeln versuche, 

Die "Durchstaatlichung der Gesellschaft", die als historischer Pro- 
zeß zu beobachten ist (2), hat, ebenso wie die "Durchkapitalisierung 
der Gesellschaft", mit der sie parallel geht und die sie ergänzt, ho- 
he Kosten, vor allem auch für mögliche Zukünfte, in denen die freie 
Assoziation der Produzenten Prinzip der Vergesellschaftung sein könn- 
te. Diese Kosten sind daher zunächst zu beschreiben. Dann kommt aber 
gleich als zweites dazu, daß ich daraus nicht einfach nur den Schluß 
ziehen kann, man müsse eben an der möglichsten "Entstaatlichung' der 
Gesellschaftsorganisation arbeiten. Diese Schlußfolgerung ist schon 
richtig, aber leider nur "im Prinzip". Wenn wir uns die Realität an- 
sehen, dann ist deutlich, daß der hoffnungsvollste Ansatz solcher 
"Entstaatlichung", das, was wir heute als "Alternativ-Kultur'' und 
"-Ökonomie" kennen, selbst recht staatsabhängig ist, in Widersprüchen 
und Nischen der gegenwärtigen ökonomischen und staatlichen Verfaßt- 
heit nistet und sich nur mit Hilfe eines Stücks von "falschem Be- 
wußtsein" als gegen diese Verfaßtheit gerichtet oder zumindest als un- 
abhängig von ihr verstehen kann. Auch diese tatsächliche Abhängigkeit 
darzustellen und zur Kenntnis zu nehmen, halte ich für wichtig. Das 
geschieht in Abschnitt 3. 

Daraus könnte man jetzt den Schluß ziehen, daß dann eben die "Alter- 
nativ-Kultur" aus dieser Staatsabhängigkeit zu befreien sei, daß man 
ihren Gegenentwurf radikalisieren müsse. Diese Schlußfolgerung halte 
ich für illusionär. Ich glaube nicht, daß die Staatsabhängigkeit der 
"Alternativ-Kultur"' nur eine Unvollkommenheit ist, die man bereini- 
gen kann, vielmehr halte ich sie für konstitutiv dafür, daß sich eine 
solche Kultur überhaupt entwickeln und halten kann. Daraus wiederum 
mag ich aber nicht den Schluß ziehen, daß dann eben diese "Alterna- 
tiv-Kultur'"' als politische Kraft zu vergessen sei, daß dann eben auch 
hier "nichts geht". Ich meine im Gegenteil, daß genau diese Abhängig- 
keit, realistisch zur Kenntnis genommen, zum Hebel gesellschaftlicher 
und politischer Weiterentwicklung werden könnte. Das heißt einerseits, 
daß die unter anderem staatlichen Möglichkeiten, alternative Projekte 
zu befördern, genützt werden sollen, daß andererseits das wieder dazu 


45 


benützt werden müßte, die staatliche Verwaltung, speziell die Organi- 
sation der öffentlichen Dienstleistungen so zu verändern, daß sie die- 
ser Aufgabe besser entsprechen können. Ich denke also, wir können beis 
de Seiten nicht aufgeben: Ich denke, daß in der Tat Projekte der "Al- 
ternativ-Kultur" Elemente neuer Formen der Vergesellschaftung enthal- 
ten, auch wenn sie vom Staat abhängig sind, und ich denke, daß wir 

die staatlichen Apparate nicht einfach ignorieren können, daß auch 

sie verändert werden müssen, auch wenn (und gerade weil) sie solchen 
Elementen neuer Vergesellschaftungsformen auch (und vorwiegend) kon- 
trollierend und repressiv gegenübertreten. Hier liegt dann eine Funk- 
tion für die, die in der Produktion öffentlicher Dienstleistungen ar- 
beiten, z.B. die Sozialarbeiter. 


Diese etwas verwinkelte Argumentationslinie stellt also den Aufbau 

der Arbeit dar. Dieser Aufbau wird noch unübersichtlicher dadurch,daß 
ich zuletzt halt kein glattes Rezept dafür angeben kann, wie diese f 
Arbeit in den Einrichtungen der öffentlichen Dienstleistung im Detail 
aussehen kann. Ich fürchte, da hilft nur Ausprobieren in Nutzung der 
jeweiligen Möglichkeiten der konkreten Situation, wie wir es an der 
Universität tun und wie es in anderen öffentlichen Diensten auch ge- 
schieht. Das ist ziemlich unbefriedigend, aber dann gehört es auch 
wieder zu den wichtigeren politischen Erfahrungen der letzten Jahre, 
daß unklare politische Situationen, solche, in denen man nur eine un- 
gefähre Orientierung hat und keine eindeutigen Rezepte dafür weiß, wie 
sich eine sozialistische Zukunft durchschlagend befördern läßt, ausge- 
halten werden müssen und ausgehalten werden können, wenn man sich vor 
maximalistischen Euphorien hütet und sich vom eigenen manchmal hilf- 
losen Zorn nicht selbst entmutigen läßt. Die Brüche und Nischen, in 
denen die "Alternativ-Kultur'' haust, sind da Ermutigung und Überlebens-— 
möglichkeit zugleich. 


1. ENTEIGNUNG UND ZURICHTUNG DER KONFLIKTE (3) 


Ein von mir im Rahmen der (Wiener) Bewährungshilfe betreuter junger 

Mann sagte mir einmal in einem Gespräch nachdenklich: "Das ist doch 

eigenartig, daß man erst was anstellen muß, bevor sich wer um einen 

kümmert," Ich habe mich damals eines Kommentares enthalten, weil ich 
die hier ausgedrückte Bitterkeit teile. 


In dieser Bemerkung findet sich punktuell der Zustand ausgedrückt, in 
den man generell gerät, wenn man in dieser Gesellschaft ein Problem 
hat und nach Hilfe bei seine Auflösung sucht: Man steht dann einer 
Reihe von Apparaten gegenüber, die sich historisch getrennt entwickelt 
haben und deren Trennung heute durch professionelle, administrative 
und ministeriale Kompetenzabgrenzungen festgeschrieben ist. Wie es 
bürokratische Apparate so an sich haben, sind die Regeln des Zugangs 
zu ihnen mehr durch ihre eigenen Bedürfnisse und Handlungsfähigkeiten 
bestimmt, als durch die Probleme der Betroffenen - zumindest stellt 
sich dieser Zustand sehr leicht und aus angebbaren Gründen, die in 
der "Politik der sozialen Probleme" liegen, ein. Be- und verarbeit- 
bar sind dann Probleme nur in der Aufarbeitung, die den Kompetenzen 
des jeweiligen Apparates entspricht. Die Probleme erfahren damit eine 
administrative Umdefinition, und was nicht in den Raster der vorgese- 
henen Probleme und der dafür vorgesehenen Lösungen paßt, fällt durch 


46 


das "soziale Netz", das sich damit auch als Prokustesbett erweist. 


Nicht nur das, sondern diese Apparate mit ihren selbstdefinierten Hil- 
feangeboten schaffen gleichzeitig eine strukturierte Inkompetenz in 
der Bevölkerung, Probleme anders als auf diesen vorgegebenen und li- 
zenzierten Lösungswegen anzugehen. (4) 

Schwierigkeiten, mit denen man sich an jemanden wenden will, müssen 
entweder medizinische, fürsorgerische oder polizeiförmige Gestalt ha- 
ben. Dazu kommt die neuerdings auch bei uns wild wuchernde Psycho- 
Industrie (vergl. Nagel&Seifert, 1978), die zwischen Medizin, Fürsor- 
ge und Freizeitgestaltung anzusiedeln ist. 


Alle diese "Helfer-Institutionen'" verstehen sich als Dienstleistungen, 
für die in der Bevölkerung ein Bedarf besteht und die deshalb von die- 
ser benützt werden. Tatsächlich gilt aber hier wie bei Warenangeboten 
auf einem Markt generell, daß dieses Angebot sich mehr aus den Bedin- 
gungen seiner Produktion bestimmt als aus den Bedürfnissen der Konsu- 
menten: Was gar nicht angeboten wird, kann weder angenommen noch zu- 
rückgewiesen werden, und das, was angeboten wird, hat die Tendenz, 
potentielle oder aktuelle Konkurrenzangebote mit allen Mitteln aus 

dem Feld zu schlagen, die Wahlmöglichkeiten gar nicht aufkommen zu 
lassen. Vor allem wird durch das Angebot der Bedarf erst hergestellt, 
indem vorhandene Techniken der Problemlösung eliminiert werden, So hat 
die heutige wissenschaftliche Medizin im Zug ihrer Entwicklung daran 
mitgearbeitet, die "Volksmedizin" auszuschalten, das Wissen um die 
Wirkung von Heilmethoden und Medikamenten zu monopolisieren, eine 
Hilflosigkeit gegenüber Krankheiten zu erzeugen, aus der man sich nur 
an den zugelassenen Arzt wenden kann. So macht es die vorgeschriebene 
und zugelassene Schule unmöglich, Kinder selbst zu unterrichten, 
selbst handwerkliche Berufe haben sich ein staatlich geschütztes Mono- 
pol auf die Produktion ihrer Leistungen geschaffen, die damit allen 
nicht Zugelassenen verboten wird, diese zu "Schwarzarbeitern'' und 
"Pfuschern'' macht, und zwar unabhängig von ihrem Können auf dem Ge- 
biet. Die Seltsamkeit dieses Zustandes wird besonders auffällig bei 
Leistungen, die keine besondere Kompetenz brauchen oder eine, die je- 
der hat oder leicht erwerben könnte, wie etwa mit den Konflikten des 
Lebens umzugehen oder jemandem zu helfen, der ein Problem hat. 


Im Fall der Konflikte des Lebens etwa hat das Strafrecht eine Zustän- 
digkeit an sich gezogen, die häufig die vernünftige und für die am Kon- 
flikt Beteiligten zufriedenstellende Lösungen mehr behindert als her- 
beiführt. Indem ein Problem zu einem strafrechtlichen erklärt wird, er- 
fährt es eine Deformation, in der die Interessen der Beteiligten, 

von "Täter" und "Opfer" sich häufig nicht wiederfinden. Nils Christie 
(1977) hat das anschaulich dargestellt: Er geht von einer Gegenüber- 
stellung der gesellschaftlichen Bearbeitung von Konflikten aus, wie 
wir sie in "primitiven" Gesellschaften und wie wir sie bei uns, in 
der heutigen Art des Strafverfahrens, beobachten können. Dabei fällt 
zunächst auf, daß der Staat die Interessen des Geschädigten absorbiert 
hat, daß letzterer eine sehr marginale Rolle, hauptsächlich die eines 
Zeugen, in dem ganzen Vorgang spielt. Der Prozeß der Konfliktbearbei- 
tung ist ferner aus der sozialen Umgebung herausgelöst, in der der 
Konflikt stattgefunden hat - er wird, wenn überhaupt, von Vertretern 
der Medien beobachtet, die daraus eine Ware, ein spektakuläres Schau- 
spiel für tatsächlich Uninteressierte machen und damit tun, was man 


47 


mit Waren so tut: sie möglichst profitabel verkaufen. (5) 


Insgesamt ist der Vorgang, in dem die Aktivität hauptsächlich von den 
professionellen "Vertretern" der (dadurch weiter deformierten) Inte- 
ressen ausgeht, technisch, in seinen Regeln für den Laien schwer 
durchschaubar und langweilig. Was dabei herauskommt, die Strafe, ist 
am Täter orientiert und für alle außer ihm eine höchst abstrakte An- 
gelegenheit - der Täter wird im Fall der Freiheitsstrafe "aus dem 
Verkehr gezogen", im Fall der Geldstrafe zahlt er eine Buße an den 
Staat; was das für die übrigen Beteiligten bedeutet, ist nicht von 
Interesse - sie werden (als Geschädigte) "auf den Zivilrechtsweg ver- 
wiesen" oder (als Angehörige, Freunde etc.) auf sich selbst und die 
Fürsorge. Daher kann man dann (und am Jugendgericht ist die Art von 
Äußerung wahrscheinlich besonders häufig) vom Geschädigten Aussagen 
hören wie: "Das hab ich eigentlich nicht wollen, daß der Bub deshalb 
eingesperrt wird. Und außerdem, wer ersetzt mir jetzt den Schaden?"" 


Damit wird der Konflikt aber noch in einem zweiten Sinn "enteignet": 
Man verliert durch die Existenz solcher Apparate, die Probleme geru- 
fen oder ungerufen an sich ziehen, auch die Fähigkeit, sich vernünf- 
tig auseinanderzusetzen, Schwierigkeiten miteinander zu lösen, ohne 
nach einer Autorität zu rufen, die entscheiden soll, Kompromisse ein- 
zugehen, statt nach "Schuld" und "Unschuld" zu suchen, auch die, Koa- 
litionspartner zu suchen, wenn man sich schlecht behandelt fühlt, 
kurz: soziale Beziehungen und soziale Umgangsformen zu pflegen und 
sich um das zu kümmern, was sich zwischenmenschlich in der Umgebung 

so abspielt. Das gilt nicht nur für die Probleme, die heute straf- 
rechtsförmig abgehandelt werden, sondern auch für solche, in denen 

es um Hilfeleistungen geht, die jemand braucht (was übrigens in den 
genannten, heute strafrechtsförmig abgehandelten Problemen gewöhnlich 
auch der Fall ist), um Ratschläge oder auch nur um das geduldige Zu- 
hören. Die Fähigkeiten dazu gehen in dem Maß verloren, in dem sich 
spezialisierte Einrichtungen anbieten, die diese schlichten Formen 

des sozialen Umgangs miteinander als "Dienstleistungen" verkaufen und 
aufdrängen. Umgekehrt führt das dazu, daß diejenigen, die da Probleme 
haben, diese in einer Form zu präsentieren gezwungen sind und sie zu- 
letzt auch schon so wahrnehmen, wie sie von den "zuständigen" Einrich- 
tungen aufgenommen werden können. Wir versuchen dann schon gar nicht 
mehr, unsere Seelenschmerzen gemeinsam mit Freunden abzuarbeiten (wo- 
bei sich vielleicht sogar herausstellen könnte, daß wir alle ähnliche 
Schmerzen haben und daher vielleicht einmal deren Ursachen nicht jeder 
in sich, sondern womöglich in unerträglichen Lebensumständen suchen 
sollten, gegen die wir am Ende gemeinsam was unternehmen könnten), 
sondern wir laufen zum Therapeuten, in die Selbsterfahrungsgruppe 

oder nach Poona (und ersetzen damit Freundschaft durch Geld). Die bei- 
den folgenden Beispiele aus soziologischen Untersuchungen sollen diese 
Deformation der Probleme durch das vorhandene "Hilfe'"-Angebot noch- 
mals illustrieren. 


Strotzka et al. (1969) finden, daß in der Klientel eines praktischen 
Arztes in einer Kleinstadt etwa 20% der Männer als "psychiatrische 
Fälle" (großteils "psychogene Reaktionen") zu diagnostizieren sind, 
allerdings mit einem interessanten Unterschied zwischen Männern aus 
kleinstädtischem und denen aus landwirtschaftlichem oder industriel- 
lem Milieu: bei letzteren überwiegt die Diagnose "organisch-psychisch 


48 


gemischt", bei ersteren die rein "psychiatrische" (6). Das heißt er- 
stens, daß viele Leute sich für ihre "Seelenschmerzen'" Hilfe vom Dok- 
tor erwarten, also ihn gar nicht nur als Experten für organische Lei- 
den auffassen, als der er ausgebildet ist, und daß zweitens die Män- 
ner aus dem "härteren" Milieu ihre Schwierigkeiten eher mit einem 
Einschlag von "organischer" Krankheit präsentieren, bzw. nur dann 
den Arzt aufsuchen, wenn sie das (auch) "organisch" rechtfertigen 
können. j 

Ein zweites Beispiel: In einer Untersuchung zur Jugendkriminalität 

in einer neuen Stadtrandsiedlung Wiens, die in dem Ruf besonders ho- 
her Kriminalität stand (was sich, an den Verurteilungen von Jugendli- 
chen aus der Gegend gemessen, als unbegründet erwies), berichteten 
uns die Polizisten dort, daß ihnen in der Siedlung auffalle, daß "die 
Leute wegen jedem Schmarren zur Polizei rennen", mit Problemen also, 
mit denen die Polizei nichts anfangen konnte, weil sie unterhalb des 
Niveaus von "Kriminalität" lagen. Die Beobachtung ist aber deshalb 
nicht weiter verwunderlich, weil die in der anfangs mit recht wenig 
Infrastruktur ausgerüsteten Siedlung bunt zusammengewürfelten Leute 
wenig andere Stellen, an die sie sich wenden konnten, und noch keine 
auf persönlichem Kennen beruhende "private" Kultur der Konfliktbear- 
beitung hatten (vergl. Edlinger, Steinert & Tumpel, 1976). 


In dem letzten Beispiel wird nicht nur deutlich, wie die einzig ange- 
botene Einrichtung die Definition der Schwierigkeiten verändert, son- 
dern auch, wie wenig sie die Leistungen zu bringen imstande ist, die 
hier nachgefragt werden: Die Leute brauchen nicht "wegen jedem Schmar- 
ren" die Polizei, sie brauchen Arbeitsplätze für die Mütter in Fuß- 
gänger-Distanz von der Wohnung, sie brauchen niedrigere Mieten, sie 
brauchen, wenn der Unfug der Satellitenstadt schon passiert ist, we- 
nigstens ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrsmittel ins Zen- 
trum - und sie wissen das alles auch. Aber sie bekommen nicht, was sie 
brauchen, oder nur langsam und stückweise und erst, wenn sie damit 
drohen, daß ihre Kinder "alle kriminell werden in der Umgebung". Tat- 
sächlich hat der schlechte Ruf, den die Siedlung (ungerechtfertigt) 
erworben hat, mit dazu beigetragen, daß dort energischer einiges an 
Infrastruktur aufgebaut wurde. Daraus läßt sich einiges über Politik 
lernen: Leistungen müssen in ihr mit Drohungen abgepreßt werden. Der 
schlichte Hinweis, daß es einem schlecht geht, genügt nicht. Und Kri- 
minalität ist eine der Währungen, in denen da gehandelt wird (Wähler- 
stimmen sind eine andere). 


2.“ HILFE STATT STRAFE” ODER: WANDLUNGEN DER KONFLIKTENTEIGNUNG 


Die genannten Absurditäten gerade der strafrechtlichen Deformation 
von Problemen haben unter anderem auch zu der liberalen Forderung ge- 
führt, die strafrechtliche durch eine sozialrechtliche Intervention 
abzulösen und zu verdrängen. ("Hilfe statt Strafe" ist das Schlagwort 
dafür, modernisiert dann "Therapie statt Strafe".) Bei dieser gefor- 
derten Verschiebung der Art der staatlichen Intervention bleiben al- 
lerdings einige Strukturelemente erhalten: "Die Einrichtungen des 
Sozialstaats unterscheiden sich gelegentlich, was den Kontaktverlust 
zur Außenwelt und die psychischen Wirkungen auf die Insassen angeht, 
kaum von denen des strafenden Rechtsstaats" (Stolleis, 1979, S. 141). 
Neben den hier angesprochenen geschlossenen Anstalten, die - sozial- 


49 


rechtlich organisiert und finanziert - als "Hilfe" angeboten werden, 
stehen in den sozialstaatlichen Interventionen aber subtilere Aus- 
schlüsse und Disziplinierungen zur Verfügung. Die Konflikte und Pro- 
bleme werden auch hier in einer spezifischen Weise deformiert. Diese 
Verzerrung liegt im Fall der sozialrechtlichen Intervention vor allem 
in zwei Merkmalen: In der Monetarisierung der Leistung (die für So- 
zialrecht spezifisch ist) und in der Individualisierung (die Sozial- 
recht und Strafrecht gemeinsam ist), die sie voraussetzt und beför- 
dert. Es ist freilich im Fall des Sozialrechts mit seiner Vielfältig- 
keit schwieriger als im Fall des Strafrechts, ein einheitliches Para- 
digma der Intervention anzugeben. Wir müssen daher als Minimaldiffe- 
renzierung (im Anschluß an Gross & Badura, 1977, und an das, was auch 
die Statistik des Sozialbudgets tut) Einkommensleistungen und Dienst- 
leistungen unterscheiden. 


Wenn wir zunächst mit den Einkommensleistungen beginnen, so ist für 
sie historisch zu zeigen, daß sie andere Formen der Organisation von 
notwendigen Leistungen und Hilfen verdrängt haben. Was früher poli- 
tisch organisiert war oder gefordert wurde, wird nun durch Geldlei- 
stungen "abgekauft". Diese "Monetarisierung" drückt sich schlagartig 
etwa in der Entwicklung aus, die die Forderung nach einem "Recht auf 
Arbeit" mit dem "Recht auf Arbeitslosenunterstützung" beantwortet 

hat (7). Historisch wird man davon ausgehen können, daß in einer er- 
sten großen Phase der Sozialpolitik die Monetarisierung - am deut- 
lichsten sichtbar in der Entwicklung des Systems der Sozialversiche- 
rung - im Vordergrund stand, während erst in einer zweiten (beginnend 
etwa in der Zwischenkriegszeit) die Einrichtung von Dienstleistungen 
an Bedeutung zunahm - am deutlichsten sichtbar in der Entwicklung der 
Sozialarbeit. (Gross & Badura, 1977, S. 364 ff, weisen auf die starke 
Vergrößerung des Anteils der "Sachleistungen" am Sozialbudget hin, die 
überwiegend im Gesundheitsbereich erbracht werden.) Daß damit die Mo- 
netarisierung als "Transformation von personalen Bedürfnissen und In- 
teressen in sozio-ökonomische Verhältnisse" (Hack & Hack, 1979, S.111) 
keineswegs zurückgenommen wird, sondern eher weiter fortschreitet, 
läßt sich nicht nur an der in der eben genannten Arbeit untersuchten 
Entwicklung der privaten Versicherungssysteme ablesen, sondern auch 
etwa an der Wohnungspolitik (8), oder ander Entwicklung der (käuf- 
lichen) "psychischen Versorgung" durch Gruppen- und sonstige Psycho- 
Veranstaltungen als Ersatz für Freundlichkeit und Freundschaft und 
demnächst wohl für nicht berufliche, private "Beziehungen" überhaupt 


(9). 


Historisch ist an der Einrichtung der staatlichen Sozialversicherung 
1883 überdeutlich ablesbar, daß damit nicht nur die Leistungen des 
beginnenden Sozialstaats verallgemeinert, sondern zugleich die gesell- 
schaftliche Verankerung, was heißt: die Verflechtung dieser Leistun- 
gen mit noch anderen sozialen Beziehungen, im speziellen Fall mit So- 
lidaritätskernen in der Arbeiterschaft, gekappt wurde (lo). 

"Der in den Sozialistengesetzen legalisierte "Klassenkampf von oben" 
hatte die Hauptfunktion, diese vielfältigen Ansätze zu einer alterna- 
tiven Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse (gemeint sind 
kollektiv-solidarische Selbstorganisationen im Vorfeld der partei- 
und gewerkschaftsmäßig organisierten Arbeiterbewegung ~ HSt) ... zu 
zerschlagen; und er implizierte nicht zuletzt mit der Requirierung 
der Kassen und Fonds eine Beseitigung jener Ressourcen, die für die 


50 


Handlungsfähigkeit dieser Organisationen unerläßlich waren - defensiv 
zur Absicherung gegen soziale "Schicksalsschläge', die den Einzelnen 
trafen; offensiv als Streik- und (funktionsäquivalente) Unterstützungs- 
kassen" (Hack & Hack, 1979, S. 107). Das Bedürfnis nach gesellschaft- 
licher Integration auch dann, wenn man nicht imstande ist, sich durch 
Anbieten seiner (Lohn)Arbeitskraft aktuell zu verkaufen, das Bedürf- 
nis also, zu einer möglichst multi-funktionalen Gemeinschaft zu ge- 
hören, in der man auch anders als in der Reduktion auf die genannte 
Lohnarbeitskraft "gebraucht" wird und die einen daher im Notfall soli- 
darisch nicht im Stich läßt, wird hier transformiert in ein "Bedürf- 
nis" nach Geldauszahlungen, also nach einer Fortsetzung des Lohnar- 
beitsverhältnisses mit anderen Mitteln. Der Leistungsanspruch gegen- 
über einem jetzt anonymen "Staat" (11) wird durch disziplinierte Lohn- 
arbeit "erkauft'" und führt gemeinsam mit der Undurchschaubarkeit des 
Verhältnisses von Einzahlungen zu Auszahlungen zu jenem Mißtrauen, 

das innerhalb der "Solidargemeinschaft'" mehr Konkurrenz und Angst um 
die Auszahlung stiftet als Solidarität (12). 


Die Dienstleistungen, die wir als zweite Form sozialpolitischer Lei- 
stungen unterschieden haben, und bei denen wir mit der letzten Be- 
merkung bereits angelangt sind, transformieren die Bedürfnisse, die 
sie zu befriedigen versprechen, durch eine womöglich noch ausgepräg- 
tere Individualisierung der Betroffenen, die - jedenfalls bei Fürsor- 
ge und Sozialarbeit - ihre Berechtigung zum "Genuß" der Leistung erst 
einmal durch Nachweis ihrer "Bedürftigkeit'" darzutun haben. Die so 
erzwungene Selbstdegradierung macht die schließlich erreichte Leistung 
zum Beleg, daß man nicht vollwertig ist, und oft zu etwas, das man 
der Bürokratie mit List und Tücke "abgeluchst" hat ("Sozialamtsvir- 
tuosen", die eine Stelle gegen die andere auszuspielen imstande sind, 
kennt jeder Sozialarbeiter). Jedenfalls ist mit diesen Leistungen 
immer auch eine Disziplinanforderung verbunden, durch deren Erfüllung 
man das Unterstützungssystem, daß man in Anspruch nimmt, möglichst 
schnell wieder verlassen soll. Die Ideologie (und Praxis) der "Hilfe 
zur Selbsthilfe" hat bei aller Menschenwürde-Rhetorik einen deutlich 
durchschimmernden Hintergrund von Leistungverweigerung. Die systema- 
tische Psychologisierung der Probleme läßt ihre gesellschafts-organi- 
satorische Lösung nicht einmal als Möglichkeit auftreten, oder doch 
nur als versperrte Möglichkeit. 


Wir haben also in Strafrecht und Sozialrecht deutlich verschiedene, 

in jedem Fall aber Transformationen der Probleme und Bedürfnisse, die 
sie verarbeiten können, vor uns. Trotzdem sollte man die Gemeinsam- 
keiten nicht übersehen: Beide individualisieren und disziplinieren, 
das Sozialrecht freilich auf eine etwas subtilere und "modernere" 

Art als das Strafrecht mit seiner plumpen Abschreckung. Insofern sind 
die beiden jedenfalls nicht auf allen Dimensionen entgegengesetzt 

und unverträglich. In ihrer gemeinsamen Tendenz zur staatlich vermit- 
telten Individualisierung (und damit zur Verhinderung von gesell- 
schafts-organisatorischen, autonomen Lösungen) arbeiten sie vielmehr 
an der gesellschaftlichen Verwirklichung dessen, was ich (in Steinert, 
1980 ) als "jurizentrisches Gesellschaftsmodell" dargestellt habe, das 
damit nicht so sehr auf einer "Realitätsverkennung" seitens der Juri- 
sten, als vielmehr auf einem politischen "Programm" beruht, mit des- 
sen Umsetzung diese befaßt sind. Die "hoheitliche Vergesellschaftung 
der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft" (Rödel & Guldimann, 


5 


nd Sozialrecht gemeinsam und wird von 
n Interventionsformen gemeinsame indi- 
r so zu einer staatlichen Verwal- 


1978, S. 37) ist Strafrecht u 
beiden abgesichert. Der beide 


vidualisierende Zugriff führt so ode ; r 
tung der betroffenen Individuen mit den damit verbundenen Degradie- 


rungen (vergl. Piven & Cloward, 1971). Wenn wir davon ausgehen, daß 
sozialrechtliche Intervention die Verwaltung und "Befriedigung" von 
zur "Sozialen Frage" umdefinierten Interessengegensätzen ist (deutlich 
wird dieser letzte Vorgang in der konservativen "Modernisierung" zur 
"Neuen Sozialen Frage"; siehe Geißler, 1976), dann haben wir hier ei- 
ne Strategie des "Abkaufens" jedenfalls eines Teils der Interessen 

vor uns. Und solches "Abkaufen" ist mit Bedingungen verbunden, in er- 
ster Linie mit der des disziplinierten Einzahlens in Form von geregel- 
ter Arbeitsleistung (die Unterscheidung von "idle" und "deserving 
poor" stand schon am Anfang der nach-mittelalterlichen, nicht mehr 
primär religiös motivierten "Armenpflege", und sie spielt zumindest 
in der Praxis, in der Denkfigur der "selbstverschuldeten Armut", im- 
mer noch eine Rolle), und das Akzeptieren des "Handels" wird durch 

die im Hintergrund stehende Drohung ansonsten möglicher Kriminalisie- 
rung sehr nachdrücklich nahegelegt. In beiden Fällen erfolgt daher 
eine "Zurichtung" des Problems, für das "Hilfe" angeboten wird, nach 
den Bedrüfnissen der "helfenden Einrichtung" und nach den politischen 


Interessen, die hinter ihr stehen. 


3. ÖKONOMIE UND POLITIK DER SOZIALEN AUSSCHLIESSUNG 


Der bisher dargestellten Enteignung und Deformation der Konflikte und 
n und Subkulturen gegenüberge- 


Probleme sind immer schon Teilökonomie 

standen, in denen versucht wurde, sich diesem Zugriff zu entziehen, 
andere, autonome Prinzipien der Vergesellschaftung und des Umgangs 

mit den Schwierigkeiten des Lebens zu praktizieren. Meine These zu die- 
sen Subkulturen ist, daß sie immer auch in Abhängigkeit von der herr- 
schenden Ökonomie und Kultur entstanden sind, auch als Gegenentwürfe 

in deren Funktionieren eingebaut wurden. Noch ein Stück zugespitzt 
könnte man sagen, daß diese Teil-, Nischen- und Gegenökonomien von 

der herrschenden Ökonomie hervorgebracht werden, weil sie zu ihrer 
Ergänzung, auch zum Auffangen der Schäden, die sie produziert, not- 
wendig sind. Gleich vorweg möchte ich aber betonen, daß der Nachweis 
dieser Abhängigkeit keine (auch politisch-taktische) Entwertung die- 
ser "Alternativen" bedeutet: Sie können trotzdem Sprengkraft enthal- 
ten, indem sie die Einübung anderer Lebensformen ermöglichen, indem 

sie einen Widerspruch virulent machen, an dem die gesellschaftliche 
Entwicklung weitergetrieben werden kann. 


Mit dem kapitalistischen Wirtschaften hat sich auch das Prinzip durch- 
gesetzt, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll. Die Umkehrung 
dieses Prinzips blieb freilich ein frommer Wunsch, weil dieses Wirt- 
schaftssystem zu keiner Zeit imstande war (und überhaupt nicht darauf 
angelegt ist), alle, die zu essen brauchen, mit Lohnarbeit (die in 

dem Spruch gemeint ist) zu versorgen (13). Tatsächlich funktioniert 
kapitalistisches Wirtschaften am besten, wenn die eingesetzte Arbeits- 
kraft aus einem möglichst großen "Angebot" ausgewählt werden kann 
(eine noble Umschreibung für einen Zustand verbreiteter Arbeitslosig- 
keit) und die noch erfreulichste Seite dieses Wirtschaftssystems, sein 
eingebauter Zwang zur Rationalisierung, d.h. zum Ersetzen von leben- 


52 


diger durch "tote Arbeit" (Maschinerie), äußert sich nach der Logik 
dieses Systems ebenfalls als Arbeitslosigkeit, zumindest dann, wenn 
die permanent notwendige Ausweitung (eventuell nur vorübergehend und 
als Krisenmechanismus) an Grenzen stößt. Daher waren vom Beginn der 
Durchsetzung dieser Art des Wirtschaftens Parallelökonomien zur Er- 
haltung dieses "unproduktiven' Teils der Bevölkerung notwendig. Zum 
Teil bestanden diese "Alternativ'"-Ökonomien aus den Überresten und 
Weiterentwicklungen der vor-kapitalistischen Armenfürsorge, zum Teil 
immer schon aus Systemen der unmittelbaren Gebrauchswertproduktion (14). 
Dabei war es von Anfang an ein Problem, diese Alternativ-Ökonomien 
zwar zu haben, sie aber nicht so effizient und attraktiv werden zu 
lassen, daß sie auf Dauer der Lohnarbeit vorgezogen wurden. Der Schre- 
bergarten des Arbeiters ist als harmlose (und unpolitische) Sonntags- 
beschäftigung durchaus in Ordnung, er darf nur nicht so groß werden, 
daß der Arbeiter von dem dort gezogenen Gemüse tatsächlich leben könn- 
te. Die Alternativ-Ökonomie, besonders aber die Höhe der staatlichen 
Unterstützung, mußte unter dem Niveau gehalten werden, das mit der 
schlechtesten Lohnarbeit zu erreichen ist. 


Die Methoden, wie man dieses "Gleichgewicht" herstellt, sind von ehr- 
würdigem Alter und ungebrochener Wirksamkeit: 

Man kann: 

administrativ die Subsistenz-Möglichkeit aus diesen Alternativ-Ökono- 
mien niedrig halten, wie es in der Festlegung von Sozialhilfe-Sätzen 
oder im Verbot von "Schwarzarbeit" geschieht; 

man kann 

die Subsistenz daraus verhindern, indem man sie mit Degradierung, Ein- 
schließung (wie in der glorreichen Erfindung des Arbeitshauses, aus 
dem sich nach mittelalterlichen Anfängen die geschlossene psychiatri- 
sche Anstalt und das Gefängnis ausdifferenziert haben) und Kriminali- 
sierung kombiniert; 

und man kann - besonders an die Kriminalisierung anschließend - 

diese Alternaitiv-Ökonomien direkt gewaltförmig verhindern. Diese 
letzte Möglichkeit liegt offenbar besonders nahe, wo Systeme der un- 
mittelbaren Gebrauchswertproduktion aufgebaut werden, die nicht, wie 
der private Haushalt, voll in den Dienst der Herstellung und Wieder- 
herstellung der Lohnarbeit genommen werden können. Frühe Beispiele, 
wie etwa das der Diggers, zeigen das vielleicht am deutlichsten. Die- 
ses Beispiel soll daher kurz dargestellt werden (15). 


Am 1. April 1649, einem Sonntag, versammelte sich eine Gruppe von Ar- 
men am St. George's Hill nahe London und am Rand des Windsor Great 
Forest und begannen, das dort sehr unfruchtbare Brachland landwirt- 
schaftlich zu bearbeiten. Ein alarmierter Beobachter mußte feststellen, 
daß sie "alle einladen, zu kommen und ihnen zu helfen und ihnen Es- 
sen, Trinken und Kleidung versprechen ... Es ist zu fürchten, daß sie 
dabei bestimmte Pläne haben" (Hill, 1972, S. 110). Solche Pläne hat- 
ten die Leute, die Diggers oder True Levellers genannt wurden, in der 
Tat, Pläne, die eine einfache und vernünftige Lösung für die sozia- 
len Probleme dargestellt hätten, die damals (im Zug des Vorgangs der 
"Ursprünglichen Akkumulation", die Marx, 1867, 24. Kapitel, so ein- 
dringlich beschrieben hat) in England eine noch nicht dagewesene Men- 
ge an "freien" (d.h. subsistenzlosen) Menschen entstehen und einen 
Teil von ihnen verhungern ließen. Gerrard Winstanley, als Handwerker 
in London erfolglos und anschließend Landarbeiter, war der Theoreti- 


53 


ker und zugleich führende Aktivist der Diggers, die nicht nur auf 

St. George's Hill Selbstorganisation und Selbsthilfe dieser verarmten 
Massen einzurichten versuchten. Winstanley wußte, daß die Hälfte bis 
zwei Drittel des Grund und Boden in England nicht entsprechend kulti- 
viert wurde, und daß ein Drittel Brachland war, dessen Kultivierung 
durch die Armen nur von den Grundherrn verhindert wurde. Vor allem 
war es auch das Gemeindeland (die "commons"), an dem die Grundherrn 
neuerdings Eigentumsrechte anmeldeten, was gegen alle "hergebrachten 
Rechte" und Ausgangspunkt langdauernder Auseinandersetzungen (und 
zahlreicher "krimineller" Akte wie Holz- und Wilddiebstahl) war. "Wür- 
de das Brachland von Englands Kindern kultiviert, wäre England in ein 
paar Jahren das reichste, stärkste und blühendste Land der Welt" (S. 
128 f). "Es gab genug Land, um eine zehnmal so große Bevölkerung zu 
ernähren, Bettelei und Verbrechen abzuschaffen und England zur ersten 
unter den Nationen zu machen" (S. 129). 

Innerhalb kurzer Zeit entstanden zahlreiche Diggers-Kommunen in Süd- 
und Zentralengland (S. 124-128) und ebenso rasch und energisch war die 
Reaktion der Grundherren: Sie organisierten Überfälle auf die Kommu- 
nen, boykottierten sie wirtschaftlich und verfolgten sie mit gericht- 
lichen Klagen. Schon im April 1650 war die St. George's Hill-Kommune 
gewaltsam zerstört und niedergebrannt, waren die Diggers aus der Ge- 
gend vertrieben (S. 113). Gerrard Winstanley begab sich mit einem 
Teil der Leute in den Dienst der Lady Eleanor Davies, "einer exzen- 
trischen Persönlichkeit, die sich selbst als Prophetin verstand" (S. 
128) und konnte seine Erfahrungen nur mehr theoretisch weiter verar- 
beiten. Die sozialpolitischen Ideen der Diggers waren unter den gege- 
benen Umständen nicht zu verwirklichen. Bettelordnungen, die tatsäch- 
lich Bettelverbote waren, Arbeitshäuser und Armengesetze, die Vorläu- 
fer der Fürsorge, genügten. 


Das Beispiel ist auch insofern aufschlußreich, als es etwas über die 
Randbedingungen aussagt, unter denen solche Formen der "Alternativ- 
Ökonomie" möglich sind und auf Dauer zugelassen werden. Die Diggers 
versuchten, die "Zwischenräume" der herrschenden Ökonomie zu nützen, 
das vorhandene Brachland, und sie scheiterten daran, daß sie sich da- 
mit gegen den sich durchsetzenden kapitalistischen Eigentumsbegriff 
vergingen, der gerade mit den traditionellen Nutzungsrechten aufräum- 
te und sich sehr wohl auch auf Brachland erstreckte (so wie heute auf 
leerstehende, unbenützte, mit Bedacht ruinierte Wohnhäuser oder nicht 
mehr genützte Fabrikgelände, die auch als Veranstaltungs- und Kommu- 
nikationszentren brauchbar wären). Es gibt andere, spätere "Alterna- 
tiv"-Projekte, die es vermieden, an dieser Klippe anzuecken und sich 
dementsprechend länger halten konnten. 


Insgesamt stehen aber wohl alle erfolgreichen "Alternativ"-Ökonomien 
in der ambivalenten Situation, zugleich von der herrschenden Ökonomie 
hergestellten "Nischen" oder "private" Enklaven auszunützen und sich 
damit gegen diese herrschende Ökonomie zu wenden. Die kapitalistische 
Ökonomie besonders hat immer auch von solchen "Alternativen" gelebt, 
in denen die Gesetze der Warenförmigkeit und des Äquivalentenaus- 
tausches tendenziell aufgehoben waren und die gerade dadurch nützlich 
und notwendig waren - und zugleich Elemente eines Widerspruchs dar- 
stellten, weil sie andere Formen der Vergesellschaftung repräsentie- 
ren: von der Familie, von öffentlichen Diensten und von "Armuts-Öko- 
nomien". Die wichtigste davon war immer der "private" Haushalt, der 


54 


intern gerade nicht warenförmig funktionieren darf, um nach außen die 
ware Arbeitskraft hervorbringen zu können, und selbst innerhalb des 
"privaten" Betriebs wurden Variationen zugelassen (etwa die kleinbür- 
gerliche der Selbstausbeutung und sogar genossenschaftliche), so lan- 
ge der Betrieb für den Markt arbeitete und also ein warenförmiges Pro- 
dukt hervorbrachte und -bringt. Heute ist dazu ein immer größerer Be- 
reich gekommen, in dem Warenförmigkeit jedenfalls nur sehr gebrochen 
das herrschende Prinzip der Vergesellschaftung darstellt: der der 
öffentlichen Dienste. Und auch dieser Bereich ist bekanntlich kein 
"Fremdkörper" innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftens, sondern 
dessen notwendiger Bestandteil und wichtige Voraussetzung. 


Auch die "Alternativ"-Ökonomie schließlich, die wir heute kennen, ist 
in vielfältiger Weise mit dem Gesamtsystem kapitalistischen Wirtschaf- 
tens verbunden, bleibt vom Staat abhängig und erfüllt unter anderem 
auch eine nützliche Funktion, indem sie (nur zum Teil freiwillig) 
Drop-outs auffängt: "Hätten allerdings die für die 6oer Jahre ge- 
schätzten eineinhalb Millionen drop-outs in den Vereinigten Staaten 
Arbeitsplätze verlangt, hätte die Situation vielleicht ganz anders 
aussehen können. So konnte sich die Wirtschaft eine große Zahl frei- 
willig Arbeitsloser leisten, die von Minimaleinkommen lebten. ... Die 
Gegenkultur wurde in einer Überflußgesellschaft geschaffen, die über 
eine fortgeschrittene Technologie verfügte, und sie lebte parasitär 
vom Mehrwert der herrschenden Gesellschaft und trotzdem in einem anta- 
gonistischen Verhältnis zu ihr. Die Hippies erklärten die materiellen 
Dinge des Lebens für unwichtig, lebten aber von einem Wohlfahrtssystem, 
das mit der Mehrwertproduktion verbunden ist; sie verachteten die 
technologische Entwicklung, hörten aber Musik aus komplizierten Stereo- 
Maschinen und sahen ausgeklügelte Light-Shows. Sie hielten Freiheit 
für eine individuelle Sache, wurden aber von einem machtvollen Staat 
kontrolliert. Während die Software aus der Hippie-Kultur kam, die Mu- 
sik, die Texte, die Gestaltungsideen, blieb die Hardware im Eigentum 
der Medien-Unternehmer. Die kleinen Unternehmen, Kunst-Läden, Restau- 
rants sind eine herkömmliche Lösung für ein marginalisiertes Klein- 
bürgertum, und sie sind von Lohnarbeit abhängig. Die Widersprüche 
spitzten sich schnell zu ..." (Brake, 1980, S. 96 f). 

Diese Ambivalenz, denke ich, muß man festhalten, wenn man von "Alter- 
nativen" spricht: Sie sind Produkt der herrschenden Formen von Ver- 
gesellschaftung und ihrer Widersprüche und sie sind auch Auflehnung 
dagegen, indem sie aus diesen Widersprüchen Möglichkeiten der Lösung, 
Vorstellungen von einem besseren Leben entwickeln, sie zu verwirkli- 
chen und vielleicht sogar zu verallgemeinern versuchen. Aber sie ar- 
beiten dabei in Abhängigkeit von der herrschenden Ökonomie und Kultur 
und mit den Mitteln, die diese zur Verfügung stellen. 


4. KLEINER REFLEXIVER EXKURS MIT DEM ZIEL EINER GENAUEN 
KLÄRUNG DER INTERESSENLAGE 


Nach der herrschenden Dramaturgie eines Aufsatzes wären jetzt die bis- 
herigen allgemeinen theoretischen Überlegungen auf den besonderen 
Fall der Sozialarbeit anzuwenden, wäre womöglich gar zu sagen, wie 
eine "politische" Sozialarbeit unter Berücksichtigung dieser gesell- 
schaftlichen Verstrickungen auszusehen hätte. Aber die guten Ratschlä- 
ge sind billig und daß jedermann, der gar nicht betroffen ist, seine 


55 


Anforderungen an den Sozialarbeiter stellt, gehört ohnehin zu dessen 
beruflichem Schicksal. Auch hat der deutsche Professor lange genug 
gerade dem Sozialarbeiter immer wieder scharfsinnig mitgeteilt, wie 
sehr dessen Arbeit "im Interesse des Kapitals" sei, wie sehr er sei- 
ne "Klienten" abhängig mache und wie immer die schlauen Durchblicker- 
Formeln ‚lauten. Ich kenne das als ehemaliger Sozialarbeiter und heu- 
tiger Professor zur Genüge von beiden Seiten und es ermüdet mich. Die^ 
se Ermüdung steigert sich wahrscheinlich noch besonders dadurch, daß 
heute dem deutschen Professor bei jeder sich bietenden Gelegenheit 
eben dieses Argument in Bezug auf seine eigene berufliche Tätigkeit vop 
seinen Studenten entgegengehalten wird. Wenn man hier geduldig wei- 
terfragt, endet man gewöhnlich damit, daß schließlich alles, was im 
Kapitalismus geschieht, "im Interesse des Kapitals" ist- eine weder 
besonders originelle noch besonders hilfreiche noch besonders rich- 
tige Einsicht. In dieser Form von Argument geht es vielmehr um die 
alte linke Profilierungssucht, die sich am besten (selbst) befrie- 
digt, wenn es gelingt, eine besonders "erbarmungslose" und "illu- 
sionslose" Position aufzubauen, der gegenüber der jeweils andere 

dann gezwungen ist, sich als "Reformist", "Pragmatiker" oder 

schlicht "inkonsequent" zu bekennen, was ihn im Profilierungs- 

spiel zutiefst diskreditiert (16). Mit der Etablierung und ver- 

balen Anerkennung der Existenz einer "Alternativ"-Kultur hat 

dieses Spiel neues Material bekommen. Sinnvoller ist es dadurch 

nicht geworden. 





Der Sozialarbeiter wie der Professor gehören, wenn überhaupt, zu dem 
Teil der Bewegung, den Huber (1980) als die "Etablierten der Alterna- 
tiv-Bewegung" beschreibt, und sofern hier gesellschaftsveränderndes 
Engagement besteht, gibt es auch ein Interesse daran, herauszufinden, 
ob sich da halbwegs hoffnungsvolle Möglichkeiten auftun, was halb- 
wegs Sinnvolles zu tun. Der polarisierende Druck, entweder "Ausstei- 
ger" oder "Büttel des Kapitals" sein zu müssen, ist dagegen zentra- 
ler Teil jener linken Selbstentmutigung, die wir aus der Dogmatisie- 
Fungsphase im Niedergang der Studentenbewegung geerbt haben. Es gibt 
eine Menge Anzeichen dafür, daß diese linke Selbstentmutigung sich 
aufzulösen beginnt - was nicht zuletzt auch dadurch zu befördern wäre, 
daß man die Erfahrungen aus der jüngeren Geschichte der sozialen Be- 
wegung in der BRD einmal neu sortiert und sich einmal fragt, ob die- 
se Geschichte nicht auch’unter dem Aspekt einer Erfolgsgeschichte, 
nicht nur unter dem einer Geschichte von Niederlagen zu schreiben 
wäre. Gerade angesichts des Selbstbewußtseins der Alternativ-Kultur 
als antistaatlich, das denen, die von öffentlichen Geldern leben und 
mit ihnen arbeiten, eine Perspektive der Kooperation erschwert, wäre 
da wohl einiges zu lernen und zur Kenntnis zu nehmen. 


Unbestreitbar ist ja, daß die Revolutionsfantasien, die da gewesen 
sein mögen, inzwischen gründlich abgeschminkt sind, daß die "Avant- 
garde-Kader" sich gemeinsam mit ihrer "Massenbasis", die sich nicht 
und nicht zeigen will, als Irrtümer herausgestellt haben - und daß 
umgekehrt nicht gerade nichts sich verändert hat, auch wenn vieles 
wieder zurückgedrängt wurde, vieles in den starken Sprüchen stecken- 
blieb. Von da aus wird vielleicht auch akzeptabel, daß man sich "den 
Staat" nicht einfach wegwünschen kann, daß man vielmehr emotionsfrei, 
schlau und gekonnt mit ihm wird umgehen müssen. Und vielleicht sind 


56 


da auch Arbeitsteilungen denkbar, die in Produktiverem bestehen als 
dem gelegentlichen "Abdecken" von Vorstößen (oft genug verbunden mit 
elastischen Abfedern, weil man sich selbst angegriffen fühlt), der un- 
ermüdlichen hilfsbereiten Arbeit am Einzelfall, zu der sich viele 
verpflichtet fühlen (und dieses Herauslocken von Mehrarbeit aus denen, 
die noch was wollen, gehört zu den wichtigeren Ausbeutungsmechanismen, 
über die der öffentliche Dienst verfügt, indem er die unmittelbaren 
Produzenten seiner Leistungen unter den Druck der Klientenbedürfnisse 
setzt und gleichzeitig die Mittel vorenthält, diese Bedürfnisse zu 
befriedigen), gar nicht zu reden von dem depressiven "Durchhängen" 
derer, die an irgendeinem Punkt beschlossen haben, die Institution, 
die sie nicht tun läßt, was sie gern täten, nun ihrerseits auszubeu- 
ten - was halt nur auf Kosten auch derer geht, die die öffentliche 
Dienstleistung doch brauchen. (Die Beispiele des Krankenhauses oder 
der Müllabfuhr sind da vielleicht überzeugender als die der Sozial- 
arbeit oder der Universität.) 

Das meint folgendes: Gesellschaftliche und politische Verbesserungen 
von einiger Radikalität - das wäre eine Folgerungen aus den in den 
beiden ersten Abschnitten verhandelten theoretischen Erwägungen, 
Wolf-Dieter Narr hat es kürzlich (1980) wieder herausgestrichen, die 
Geschichte lehrt es allenthalben, und überhaupt sollte man es eigent- 
lich für eine Banalität halten können - kommen nur zustande, wenn 
sich die Form der gesellschaftlichen und politischen Organisation 
ändert. Das heißt konkret und für hier und heute: wenn die warenför- 
mige Vergesellschaftung und die bürokratisch-herrschaftsförmige Po- 
litik durchbrochen werden. (Insofern wäre es eben kein Erfolg, wenn 
z.B. "die richtigen Leute im Gefängnis säßen", sondern erst einer, 
wenn wir ohne Gefängnisse auskämen.) 


Die Geschichte der Studentenbewegung könnte auch als die Geschichte 
solcher Experimente mit neuen gesellschaftlichen und politischen For- 
men geschrieben werden - manche davon mit katastrophalem Ausgang, man- 
che durchaus erfolgreich: An den Verkehrsformen hat sich zumindest 

in gesellschaftlichen Teilbereichen gewaltig was verschoben, man den- 
ke nur an die erotischen Beziehungen damals und heute oder an die Le- 
bensform der Wohngemeinschaft, die Demonstration als politisches Mit- 
tel hat sich durchgesetzt (nach polizeilicher Zählung gab es in der 
BRD 1979 fast eineinhalbmal so viele Demonstrationen wie 1969 und 

fast dreimal so viele wie 1970), usw. 

Die Erfahrungen aus solchen Experimenten enthalten auch die, daß sie 
auch bürokratie- bis polizeiförmig niedergeprügelt werden können, 

aber ebenso die, daß Widerstand der Konsumenten von Öffentlichen 
Diensten nicht wirkungslos bleiben muß. Sofern die "Alternativ"-Be- 
wegung solchen Widerstand bietet (und das tut sie zweifellos auch), 
kann sie in arbeitsteiliger Kooperation mit denen, die öffentliche 
Dienstleistungen produzieren, zum Motor von Veränderungen im staatli- 
chen Apparat werden. Und solche Veränderungen des Funktionierens staat- 
licher Appatate sind auch notwendig, wenn die Alternativ-Kultur er- 
halten bleiben und sich verallgemeinern können soll. Sie werden frei- 
lich nicht der Fall sein, solange die Staatsabhängigkeit der "Alter- 
nativ"-Kultur verschämt verleugnet wird, weil man die absolute Staats- 
ablehnung zur Identitätsfindung braucht. Man muß den Staat nicht lie- 
ben, um ihn zur Kenntnis zu nehmen. 


57 


5. SOZIALARBEIT ALS ANPASSUNG DER ÖFFENTLICHEN DIENSTE 


Wenn die bisher vorgelegten Befunde und Erwägungen stimmen, wenn also 
ein Prozeß der Problementeignung festzustellen ist, in dem neben der 
"Kapitalisierung" (also der Umwandlung in Warenbeziehungen) die "Ver- 
staatlichung" eine entscheidende Rolle spielt, wenn ferner "Alterna- 
tiv"-Ökonomien von diesen Enteignungen und Deformationen der Proble- 
me nicht nur schlicht unterdrückt, sondern auch hervorgebracht und be- 
nützt werden, wenn also tatsächlich solche "Alternativ'"-Ökonomien 
ziemlich staatsabhängig sind, wenn sie aber trotzdem wichtige Elemen- 
te nicht-kapitalistischer Vergesellschaftungsformen enthalten, dann 
stehen die Produzenten öffentlicher Dienstleistungen vor der Schwie- 
rigkeit, wie sie die offensichtlich benötigten Leistungen hervorbrin- 
gen und die damit verbundenen Transformations- und Kontrollaufgaben 
vermeiden, nach Möglichkeit sogar abbauen helfen können. Die beiden 
naheliegenden "Lösungen", die Produktion der Leistung einfach aufzu- 
geben oder aber, sie so zu erbringen, wie es die gegebene Organisa- 
tion eben zuläßt, sind offensichtlich kurzschlüssig. Die Leistungs- 
verweigerung speziell des Sozialarbeiters geht in den meisten Fällen 
eben doch auf Kosten der Betroffenen, kommt offensichtlichen Sparin- 
teressen entgegen, geschieht unter der Hand ohnehin schon und verän- 
dert nichts am Funktionieren der Sozialverwaltung. Vielmehr muß es 
umgekehrt darum gehen, die Tatsache der Staatsabhängigkeit so zu be- 
nützen, daß dabei eine Anpassung des Funktionierens der öffentlichen 
Dienste an die Bedürfnisse und Funktionsbedingungen von Initiativen, 
z.B. auch von "Alternativ"-Projekten erfolgt. 


Das heißt aber auf dieser noch immer abstrakten Ebene, daß sich das 
Verständnis von Sozialarbeit umkehrt: Der Sozialarbeiter ist dann 
nicht der Vertreter der Institution, in der öffentliche Dienstlei- 
Stungen produziert werden, der diese Produkte an den "Klienten" ver- 
mittelt, sondern er ist dazu da, daß die Leute, die eine öffentliche 
Dienstleistung brauchen, "ihren Mann/ihre Frau" in der Sozialverwal- 
tung haben. Seine Aufgabe ist die Anpassung der Institution, nicht 
die der "Klienten", Wenn viele "alternative" Projekte nur durch di- 
rekte oder indirekte staatliche Subventionierung ermöglicht werden, 
wenn sie Absicherung gegen Angriffe,vielleicht auch know-how für 

den Umgang mit staatlichen Stellen brauchen können, und wenn z.B. 
Sozialarbeiter einen gewissen Zugang zu diesen Ressourcen haben, dann 
1St zunächst einmal nicht einzusehen, warum diese Leistungen nicht 
erbracht und genützt werden sollen. Das wird freilich Folgen haben: 
Der Sozialarbeiter kommt damit unter Druck, die Kontrollaufgaben, 

die auszuüben er bei Strafe beruflicher Sanktionen, im Extrem des 
Jobverlusts genötigt werden kann, ebenfalls zu erbringen. Damit zwin- 
gen ihn dann aber seine eigenen Jobinteressen, seine Arbeitssituation 
und damit das Funktionieren der öffentlichen Dienstleistungen so zu 
gestalten und umzugestalten, daß eine sinnvolle Betreuung von Basis- 
projekten möglich ist. Wenn das funktionieren soll, muß er nicht nur 
Druck von unten weitergeben können, sondern er muß auch geschützt 
werden gegen die Sanktionen, die da immerhin zur Verfügung stehen. 
Öffentlichkeitsarbeit, auch Abstützung durch die gewerkschaftlichen 
und professionellen Berufsorganisationen, sind daher nicht zu ver- 
nachlässigende Bestandteile einer so verstandenen "Sozialarbeit" (17). 


Dabei geht es vor allem auch darum, neben der Erhaltung und Verbesse- 
rung der Bedingungen für "Alternativ"-Projekte die in ihnen angeleg- 


58 


ten Elemente neuer Vergesellschaftungsformen daraufhin zu überprüfen, 
was sie an Veränderung der öffentlichen Dienste erfordern würden, wenn 
sie sich verallgemeinern sollen. Ich denke, daß dabei recht "radikale" 
Ergebnisse zutage kommen könnten. Ich möchte das nochmals am Beispiel 
der "Enteignung der Konflikte", also an den Bereichen, die heute zwi- 
schen polizei/justizförmiger und sozialarbeiterischer "Bearbeitung" 
schwanken, illustrieren. 


In der "Alternativ''-Kultur haben sich unter anderem auch neue Formen 
der Konflikt-Regulierung entwickelt, Formen, denen jedenfalls gemein- 
sam ist, daß sie möglichst weitgehend ohne autoritative Entscheidung 
und mit einem vergleichsweise flexiblen Regelsystem zurechtkommen. 
Die "Subkultur'' scheint einmal durch eine vergleichsweise hohe Tole- 
ranz für Umgangsformen gekennzeichnet zu sein, die sonst als "abwei- 
chend'' sanktioniert würden, was auch ein Stück Gleichgültigkeit be- 
deutet, aber ebenso Techniken des Umgangs mit solchem Verhalten, in 
denen dieses als erträglich, vielleicht sogar "interessant" oder je- 
denfalls Ausdruck einer Persönlichkeit eingebaut wird, der soweit 
auch zulässig ist. Es geschieht wohl nicht ganz zufällig, daß sich 
auf Subkultur-Veranstaltungen mit einer gewissen Häufung denen, die 
eine "modische" Abweichung in Stil und Verhalten pflegen, auch Leute 
einfinden, die sonst als ausgeschlossen jedenfalls öffentlich wenig 
sichtbar werden. Als in Wien das ehemalige Schlachthofgelände St. 
Marx als "Arena" besetzt war und einen Spätsommer lang als Kultur- 
und Kommunikationszentrum fungierte (18), war etwa der Anteil der Kör- 
perbehinderten an den Besuchern dort auffällig - ein hoch erfreuli- 
ches Zeichen für das Klima, das dort herrschte. Die "Subkultur" hat 
ferner eine hohe Zugänglichkeit der ihr zugehören füreinander, eine 
heruntergesetzte Schranke für Kontaktaufnahmen, die sich schon in der 
geläufigen Du-Anrede auch unter Fremden ausdrückt, und zu der auch 
eine etwas höhere Bereitschaft als sonst üblich gehört, zuzuhören, 
auf einander einzugehen und auch gewisse Hilfen zu leisten. Die Sub- 
kultur könnte unter anderem als der Versuch interpretiert werden, un- 
ter den Bedingungen städtischer Anonymität (deren Vorteile, etwa an 
Toleranz und Nicht-Einmischung, gewahrt werden) die dörflichen Be- 
dingungen allseitiger Bekanntschaft und Vertrautheit zu simulieren 
(vielleicht auch nur zu fingieren). (Die Satire von Dienstag, 1978, 
hat daher wie jede gute Satire einen hohen Wahrheitsgehalt.) Unter 
diesen Bedingungen kann auch kein großes Interesse daran bestehen, im 
Fall von Schwierigkeiten miteinander allzu schnell die offiziellen 
Institutionen zu mobilisieren, die herkömmlich angeboten werden und 
sich anbieten. Vielmehr besteht die starke Neigung, mit jener Mischung 
von Sich-Kümmern und Unverbindlichkeit Probleme zunächst mit Bordmit- 
teln anzugehen. 


Es gibt genügend Beispiele dafür, daß diese Art von Vorgehen Problem- 
lösungen ermöglicht, die besser sind als das, was sich auf "rechts- 
förmigen'" Wegen erreichen ließe. In der oben genannten "Arena" etwa 
entwickelten sich ziemlich rasch Konflikte zwischen den "Kulturlinken' 
(meist "besserer" Herkunft) und den Jugendlichen aus dem proletari- 
schen Bezirk, in dem das "Arena'"-Gelände lag. Der Konflikt war 
schlicht einer zwischen unterschiedlichen Kulturen; die "rauhe" Art 
der Jugendlichen, speziell auch ihre Umgangsformen gegenüber Mädchen 
und ihr Umgang mit Alkohol (samt den sich daraus ergebenden Folgen 
für das Verhalten) erzeugten Angst und führten auch zu unerfreulichen 


59 


Vorkommnissen. Es gab unter den "Arena'"-Besetzern vereinzelt die Idee, 
daß man da die Polizei brauche, die schließlich auf den Ruf nach So- 
zialarbeitern, der Sache der "Arena" nahestehenden natürlich, reduziert 
wurde. Es war in der Folge möglich, die Aufgabe, die ihnen zugemutet 
worden war, allmählich als eine deutlich werden zu lassen, die alle 
Mitglieder der "Arena" zu erfüllen hatten, die nicht auf Spezialisten 
abzuwälzen war. Es wurde deutlich, daß die einzig wirklich nützliche 
Kompetenz des "Sozialdienstes", der sich gebildet hatte, die war, Be- 
hördenkontakte spielen zu lassen, wo es z.B. um die Beschaffung von 
Unterkünften ging (was besonders zuletzt, als die "Arena" geräumt und 
plattgewalzt wurde, Bedeutung bekam), oder um die gelegentlich mög- 
liche Klärung der Situation von Jugendlichen, die von zu Hause oder 
aus Heimen davongegangen waren. Das "Anlaßproblem" war hingegen 

sicher nicht in dem Sinn "lösbar", daß es verschwunden wäre, aber es 
entwickelten sich Formen des Umgangs miteinander, vor allem auch mit 
Hilfe einzelner "vermittelnder" Personen. Dabei war auch deutlich, 

daß die Probleme zum Teil aus dem Druck von außen entstanden, aus 

dem Zwang, einer feindseligen Öffentlichkeit keine Aufhänger für Skan- 
dalisierung zu bieten, daß ohne diesen Druck die Toleranz wahrschein- 
lich weiter gegangen wäre als sie so gehen konnte. 


Ein anderes Beispiel, das angstfreie Eltern mit einer guten Beziehung 
zu ihren jugendlichen Kindern kennenlernen können, bietet der Umgang 
mit Drogen. Man kann da den Eindruck gewinnen, daß junge Leute, die 
in die Nähe eines "ungekonnten'"' Umgangs mit Drogen kommen, wenn über- 
haupt dann durch die Gleichaltrigen "aufzufangen" sind. Das setzt 
dann allerdings voraus, daß diese weder panisch noch mit besonderer 
Faszination und eigenem Beeindrucktsein reagieren, eine Reaktion, die 
von der "offiziellen" Haltung zu diesem Problem nicht gerade erleich- 
tert wird. Hier könnte es aber eine Aufgabe für Sozialarbeit sein, 
die Einschüchterungen und Verängstigungen abzubauen, die derzeit eine 
solidarische Haltung unter Jugendlichen, speziell solchen gegenüber, 
die in Probleme geraten, erschweren (19). 


An der erwähnten "Arena" war im Übrigen gut zu sehen, daß sie ihre 
selbstgestellten Aufgaben besser auch nicht mit mehr Problemen erfül- 
len konnte, als das in jedem "professionell" organisierten Zentrum 
der Fall ist, wobei noch eine Reihe von Personen und Personenkreisen 
integriert wurde, denen gegenüber die "professionelle" Organisation 
nichts zur Verfügung hat als den hilflosen Ausschluß (und seit den 
Zeiten des "Randgruppentrips" haben wir wohl auch gelernt uns zuzu- 
geben, daß Leute, die Probleme haben, häufig auch Probleme machen, 
daß es da also wenig zu romantisieren gibt): Es gab zu essen und zu 
trinken, es gab Veranstaltungen, Einrichtungen und Aktivitäten aller 
Art, in denen sich die Leute wohlfühlten, es gab Hilfeangebote und 
Problemlösungen für die auftretenden Schwierigkeiten - die'"Arena'" war 
nur deshalb unerhört, weil sie bürokratischen Anforderungen nicht ent- 
sprach. Das war auch die Richtung, in die von Seiten einer bis zu ei- 
nem gewissen Grad angesichts der hohen öffentlichen Resonanz kompro- 
mißbereiten Politik dauernd gedrängt wurde: eine den Bedürfnissen der 
Bürokratie angepaßte Organisationsform zu schaffen, Verantwortliche 
zu benennen, einen Verein zu gründen, Funktionen fix auszuweisen, 
Kontrollen zu ermöglichen. Daß es uns nicht gelang, hier die Beweis- 
last umzudrehen, das Problem in die Bürokratie hineinzutragen, dort 
Veränderungen zu bewirken, die umgekehrt die Bürokratie an die Funk- 


60 


tionsweise der "Arena" angepaßt hätten, das war das eigentliche Schei- 
tern des Unternehmens, nicht das, was viele als Scheitern erlebten: 
daß die "Arena'' sich zu einem Zeitpunkt auflöste, das Feld den Planier- 
raupen freigab, daß also eben keine auf Dauer gestellte Institution 
entstand. Auch daß gesellschaftliche Einrichtungen "auf Zeit" funk- 
tionsgerechter sein mögen als solche, die um jeden Preis (und unter 
anderem aus Eigeninteressen der in ihnen "professionell" Beschäftig- 
ten) Dauer herstellen wollen, gehört ebenfalls zu jenen nicht büro- 
kratiegerechten Organisationsmerkmalen, die durchzusetzen wären.Ent- 
scheidend wäre, daß Initiativen dieser Art immer wieder eine Chance 
vorfinden, was heißt: daß auch das staatliche Funktionieren (ohne das 
es ja, um das nochmals in Erinnerung zu rufen, nicht geht - auch die 
"Arena" brauchte Strom, Telefon, Finanzen, und es ist in der Tat Auf- 
gabe staatlichen Funktionierens, solche und andere benötigte Ressour- 
cen für solche Projekte zur Verfügung zu stellen) dieser Möglichkeit 
angepaßt wird. 


ANMERKUNGEN 


(1). In diesem Text werden unter anderem Motive weiter verfolgt, die 
zunächst gemeinsam mit Eva Kreisky in einem Thesenpapier "Über 
die Staatsfrömmigkeit der Alternativ-Bewegung" entwickelt wurden. 
Eine Diskussion mit Wolf-Dieter Narr über dieses Papier hat mir 
weitergeholfen. Von dem hier vorgelegten Text gab es eine erste 
Fassung, die mir Renate Routisseau und Sebastian Scheerer mit 
ihren Anmerkungen dazu gründlich vermiest haben. Sie haben mir 
mit eben diesen Anmerkungen geholfen, trotzdem nochmals anzufan- 
gen. Ich hoffe, das Ergebnis rechtfertigt ihren und meinen Auf- 
wand. 

Ich widme diesen Aufsatz Helga Dieter, weil ihr noch nie jemand 
was gewidmet hat - ein unhaltbarer Zustand, den man nicht länger 
anstehen lassen kann. 


(2) Vergl. dazu Hirsch, 1980 


(3) In diesem und dem folgenden Abschnitt beziehe ich mich stark auf 
die ersten Abschnitte von Pilgram & Steinert, 1980. Wenn es sich 
ergab, habe ich auch den einen oder anderen Absatz wörtlich von 
dort übernommen. 


(4) Ivan Illich wird nicht müde, in seinen zahlreichen Arbeiten die- 
sen Vorgang zu beschreiben - für die Schule, die Medizin, die 
Verkehrsplanung, die "Experten" für die Versorgung mit Gütern 
und Dienstleistungen überhaupt. Einen Überblick gibt neuerdings 
Illich et al., 1979, Ähnliche Gedanken wurden in Anwendung auf 
den Bereich der öffentlichen Verwaltung entwickelt in Kreisky & 
Steinert, 1978. 

Bei aller Übereinstimmung mit und Freude an den Gedanken Illichs 
dürfte aber aus diesem Text deutlich sein (oder noch werden), daß 
mir Illichs Experten- und Bürokratiekritik gelegentlich etwas 
kurzgegriffen erscheint. Das gilt ebenso für die ganz anders fun- 
dierte, aber in den Folgerungen nicht unähnliche Herrschaftskri- 
tik bei Foucault, mit der ich mich in dem einschlägigen Kapitel 
in Treiber & Steinert, 1980, ausführlich auseinandergesetzt habe. 


61 


(5) 


(6) 


(7) 


(8) 


(9) 


(lo) 


(11) 


(12) 


62 


Die Kritik bezieht sich in beiden Fällen auf die etwas schwam- 
mige gesellschaftstheoretische Basis, aus der ein manchmal fast 
naiv anmutender (das eher bei Illich) oder verzweifelter (das 
eher bei Foucault) Aktivismus ableitbar ist. Dergleichen ist ge- 
legentlich durchaus ermutigend. Trotzdem fehlt hier die Katego- 
rie des "Widerspruchs", die mir zentral für jede Analyse der po- 
litischen und historischen Dynamik erscheint. 


Damit ergibt sich eine weitere spezielle Deformation und Enteig- 
nung der Probleme, die freilich nicht in dem Sinn "eigenständig" 
ist, daß eine reine Medienkritik ausreichen würde, vielmehr mit 
zentralen wirtschaftlichen und politischen Funktionsmechanismen 
sich verbindet. Vergl. dazu Pilgram, 1979; Steinert, 1979. 


Diese Unterschiede wurden erst in einer Sekundäranalyse der Da- 
ten sichtbar, über die in Steinert, 1969, berichtet wurde. 


Vergl. dazu Einrichtung und Niedergang der "Nationalwerkstätten" 
in der französischen Revolution von 1848; Steinert & Treiber, 
19755 S. - 298. 378; 


- in der die kommunale Erstellung billiger Wohnungen abgelöst 
wurde durch Wohnungsbeihilfen, die im Effekt der Stützung hoher 
Mieten dienen (vergl. Knoth et al., 1976). 


Ich habe kürzlich im Schlafwagen einen Herrn mittleren Alters 
kennengelernt, der sich als "Devisenspekulant" vorstellte und 
mir seine Lebensorganisation so beschrieb: Die Woche über Hoch- 
druckarbeit - er will möglichst bald soviel Vermögen ansammenIn, 
daß ihm die Erträge ein (arbeitsloses) Monatseinkommen von 

5000 DM garantieren -, am Wochenende Gruppenveranstaltungen, die 
nicht nur nützliche Fertigkeiten für den "Umgang mit Menschen" 
vermitteln, sondern wo man auch selbst "Mensch" sein kann. In 
diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung von Interesse, daß 
die Haus- und Ehefrau offenbar - über die Vermittlung einer im- 
mer anspruchsvolleren und verwissenschaftlichten Technologie 

der Kindererziehung und des Umgangs mit ihrem "Mann, dem unbe- 
kannten Wesen" - tendenziell die Rolle einer "Laientherapeutin" 
zugeschrieben bekommt; vergl. Kontos & Walser, 1979, S. 97ff. 


Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Einrichtung einer 
Staatlichen Sozialversicherung und Sozialistengesetzen in 
Deutschland wie Österreich macht diese Deutung unabweisbar. 

Auch Baron (1979), der demgegenüber Interessen an der Weltmarkt- 
Stellung Deutschlands als Erklärung in den Vordergrund rückt, 
liefert selbst zahlreiche Belege für diesen oben genannten Zu- 
sammenhang. Es wäre die Bismarcksche Sozialgesetzgebung nicht 

das einzige Beispiel einer staatlichen Politik in der sich das 
Kapitalinteresse am wirtschaftlich Notwendigen mit dem Herr- 
schaftsinteresse am politisch Nützlichen trifft. 


Daß die Selbstverwaltung der Kassen an dieser Anonymität nicht 
das geringste ändert, zeigt, Standfest, 1977. 


Das macht es möglich, die Frage der "Sicherheit der Renten" zu 


(13) 


(14) 


(15) 


(16) 


(17) 


(18) 


(19) 


einem Wahlkampfthema und Bevölkerungsprognosen zum Alarmruf "Wer 
wird unsere Renten zahlen?" hochzuhieven. 


Insofern ist die politische Forderung nach einem "Recht auf Ar- 
beit'' ein naives Mißverständnis und/oder nur als taktische For- 
derung, die auf die strukturelle Unmöglichkeit ihrer Erfüllung 
aufmerksam machen soll, ernstzunehmen. 


Von diesen Systemen der unmittelbaren Gebrauchswertproduktion 
wird die "Armuts-Ökonomie'" am Beispiel der Ökonomie der Obdach- 
losen-Existenz beschrieben bei Preusser, 1978. Wie die Gebrauchs- 
wert-Ökonomie der Familie nach ihrer anfänglichen Zerstörung 
durch einen Raubritter-Kapitalismus von einem vorausschauenderen 
patriarchalischen Kapitalismus mit einigem Aufwand wieder herge- 
stellt wurde, ist in Steinert, 1980 b, und Treiber & Steinert, 
1980, dargestellt. 


Die Darstellung ist entnommen aus Steinert, 1980 b, und folgt 
der in Hill, 1972; Zitate ohne nähere Angabe stammen aus dieser 
Arbeit. 


Ein frühes Beispiel dieser Art von linker Auseinandersetzung hat 
Enzensberger, 1966, analysiert. 


Beispiele für die Darstellung von Projektverläufen, in denen sol- 
che Behördenauseinandersetzungen zentral waren, finden sich etwa 
in Hollstein & Meinhold, 1977, oder Winter et al., 1979. 


Die "Arena" ist dokumentiert in einem Sonderheft der Zeitschrift 
"Wespennest" aus dem Jahr 1976. Sie spielt auch in dem Roman 
"Einsame Klasse" von Gustav Ernst eine wichtige Rolle. 


Wie das wiederum vor sich gehen soll angesichts des massiven 
moralischen wie strafrechtlichen Drucks, der derzeit auf dem 
Thema lastet, ist eine Frage, für deren Beantwortung vom Schreib- 
tisch aus ich nicht verantwortlich gemacht werden möchte. Alle 
konkreten Arbeitsansätze können sich, denke ich, nur aus der Pra- 
xis der mit dem Problem Befaßten und von ihm Betroffenen ent- 
wickeln. (Einen Überblick über verschiedene Bewegungen zur Lega- 
lisierung von Cannabis bietet das diesem Thema gewidmete Heft 
26-27/1980 der Kriminalsoziologischen Bibliographie.) Der Theo- 
retiker kann wohl nur allgemeinste Richtungen andeuten und viel- 
leicht die Reflexion der Praxis unterstützen, indem er Fragen 
stellt, die den Selbstverständlichkeiten der herrschenden Pra- 
xis gegenüber "naiv" sind. 


LITERATUR 


Baron, R., (1979), Weder Zuckerbrot noch Peitsche, in: Gesellschaft. 


Beiträge zur Marxschen Theorie 12, Frankfurt (Suhrkamp), 
13-55. 


Brake, M., (1980), The Sociology of Youth Culture and Youth Subcul- 


tures, London (Routledge) 


63 


Christie, N., (1977), Conflicts as property, Britich Journal of Crimj\ 
nology, 17, 1-15. 


Dienstag, M., (1978), Provinz aus dem Kopf, in: Kraushaar, W. (Hg.), 
Autonomie oder Getto?, Frankfurt (Neue Kritik), 148-186 


Edlinger, G., et al, (1976), Kriminalität als Sozialindikator, in: 
Der Aufbau, Monographie 5: Sozialwissenschaften in der 
Stadtplanung, Wien, 31-38. 

Enzensberger, H.M., (1966), Peter Weiss und andere, Kursbuch, 6, 171- 
176. 

Ernst, G., (1979), Einsame Klasse, Königstein (Athenäum/Autorenedi- 
tion) 


Geißler, H., (1976), Die neue soziale Frage, Freiburg (Herder). 

Gross, P. & Badura, B., (1977), Sozialpolitik und soziale Dienste: 
Entwurf einer Theorie personenbezogener Dienstleistungen, 
in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 
Sonderheft 19 (361-385). 


Hack, L. & Hack, I., (1979), Bewirtschaftung der Zukunftsperspektive, 
in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 12, Frank- 
furt (Suhrkamp), 101-237. 

Hill, Ch., (1972), The World Turned Upside Down, Harmondsworth (Pen- 
guin) 

Hirsch, J., (1980), Der Sicherheitsstaat, Frankfurt (EVA) 

Hollstein, W., & Meinhold, M., (1977), Sozialpädagogische Modelle, 
Möglichkeiten der Arbeit im sozialen Bereich, Frankfurt 
(Campus) 

Huber, J., (1980), Wer soll das alles ändern, Berlin (Rotbuch) 


Illich, I., et al., (1979), Entmündigung durch Experten, Reinbek 
(Rowohlt). 


Knoth, E., et al., (1976), Wem nutzt das Wohnungsverbesserungsgesetz? 
in: Öster. Zeitschrift für Soziologie, I, 28-36. 

Kontos, S., & Walser, K., (1979), ...weil nur zählt, was Geld ein- 
bringt, Gelnhausen (Burckhardthaus-Laetare). 

Kreisky, E. & Steinert, H., (1978), Gesellschaftsreform braucht auch 
Bürokratiereform, Die Neue Gesellschaft, 25, 604-6lo. 

Kreisky, E., & Steinert, H., (1980), Über die Staatsfrömmigkeit der 
Alternativ-Bewegung, unveröff. Arbeitspapier. 


Nagel, H., & Seifert, M., (Hg.), (1978), Inflation der Therapiefor- 
men, Reinbek (Rowohlt). 
Narr, W.-D., (1980), Zum Politikum der Form, Leviathan, 8, 143-163 


Pilgram, A., (1979), Zur Auswirkung der Kriminalitätsdarstellung in 
den Massenmedien. Annahmen und ihre Folgen, Österr. Zeit- 
schrift für Soziologie, 4, Heft 3/4, 107-119 

Pilgram, A., & Steinert, H., (1980), Abschrecken und Disziplinieren. 
Über die bürokratische Zurichtung der Probleme durch Straf- 
recht und Sozialrecht, in: Lüderssen, K., & Sack, F., (Hg.), 
Seminar: Abweichendes Verhalten, IV, Frankfurt (Suhrkamp), 
149-180. 


64 


Piven, F.F., & Cloward, R., (1971), Regulating the Poor, New York 
(Pantheon) 

Presser, N., (1978), Zwangsalternativen: Zur Dialektik von Subkultur 
und Hinterwelt, Ästhetik und Kommunikation, 9, Heft 34, 
5-17. 


Rödel, U., & Guldimann, T., (1978), Sozialpolitik als soziale Kon- 
trolle, in: Starnberger Studien 2, Frankfurt (Suhrkamp), 
1.1355 


Standfest, E., (1977), Soziale Selbstverwaltung - Zum Problem der 
Partizipation in der Sozialpolitik, in: Kölner Zeitschrift 
für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 19, 424- 
437. 

Steinert, H., (1969), Sozial& Schichtung und abweichendes Verhalten, 
in: Angewandte Sozialforschung, |, 340-359. 

Steinert, H., (1979), "Bewußtseinspolitik", über einige inhaltliche 
Konvergenzen der Methode von Politik, Mediendarstellung 
und Meinungsforschung, Österr. Zeitschrift f. Soziologie, 

4, Heft 3/4, 57-67. 

Steinert, H., (1980 a), Kleine Ermutigung für den kritischen Straf- : 
rechtler sich vom "Strafbedürfnis der Bevölkerung" (und sei- 
nen Produzenten) nicht einschüchtern zu lassen, in: Lüders- 
sen, K., & Sack, F., (Hg.), Seminar: Abweichendes Verhalten, 
IV, Frankfurt (Suhrkamp), 302-357. 

Steinert, H., (1980 b), Staatliche Kontrollpolitik oder wohlfahrts- 
staatliche Ordnungsanleitungen?, Österr. Zeitschrift f. 
Soziologie, 5, im Druck. y 

Steinert, H., & Treiber, H., (1975), Die Revolution und ihre Theorien, 
Opladen (Westd. Verlag) 

Stolleis, M., (1979), Strafrecht und Sozialrecht, Zeitschrift f. So- 
zialreform, 25, 261 ff. Zitiert nach dem Abdruck in: Lüders- 
sen, K., & Sack, F., (Hg.), Seminar: Abweichendes Verhalten, 
IV, Frankfurt (Suhrkamp), (1980), 125-148. 

Strotzka, H., et al., (1969), Kleinburg. Eine sozialpsychiatrische 
Feldstudie, Wien (Jugend und Volk). 


Treiber, H., & Steinert, H., (1980) Die Fabrikation des zuverlässigen 
Menschen, München (Moos) 


Winter, M., et al., (1979), Venus-Fliegenfalle. Sozialarbeit - Geome- 
trisierung der Nächstenliebe, Frankfurt (Syndikat) 


%* 


65 


HUMANISIERUNG 
DES 
GESUNDHEITSWESENS 











Berichte * Konzepte * Alternativen 


Arbeitsfeldmaterialien zum Sozial- 
und Gesundheitsbereich, Heft 9 





Ilona Kickbusch 


VON DER ZERBRECHLICHKEIT DER SONNE 
Einige Gedanken zu Selbsthilfegruppen 


... der Doktor, der wahre Doktor 
ist ein Poet (ein weiser Mann), 
er teilt Leben mit ... sein Rat 
ist durch Erfahrung geprüft, 

er hält einen Spiegel, 

ehe andere Weisheit in ihren 
Gesichtszügen hervorbringen, 
der falsche Doktor macht Dinge 
kompliziert, 

er zerstört Gesichter, trägt 
dazu bei, daß andere ihre 
Gesichter verlieren. 


Gedicht der Azteken 
(zitiert nach Valentina Borremans) 


HERRSCHAFT UND HILFE 


Entkolonialisierung ist ein Begriff, der nicht nur für die Befreiungs- 
kämpfe in Asien und Afrika von Bedeutung ist. Historische Analysen, 
wie sie z.B. Ivan Illich oder Michel Foucault vorgelegt haben, schil- 
dern die Kolonisation unseres Alltags seit dem Aufstieg der Experten. 
Sie erläutern das Entstehen der festgefügten Strukturen, die unsere 
Körper einengen, die sich in unsere Köpfe eingegraben haben und uns 
handlungsunfähig und passiv machen. Strukturen, die uns glauben ma- 
chen, daß zumindest eine Form der Hierarchie unumgänglich ist: die 
der '"Wissenden' über die "Unwissenden'. In langen Erziehungs- und 
Unterwerfungsprozessen haben wir gelernt, uns sagen zu lassen, wann 
wir Hilfe brauchen und worin sie bestehen soll. Der größte Erfolg 
dieses historischen Enteignungsprozesses war, daß wir gelernt haben, 
die Herrschaft von Experten über Laien als Hilfe zu begreifen, als 
Liebesgabe an uns Unwissende. Notstände werden kodiert, Bedürfnisse 
analysiert, Heilungsprozesse eingeleitet: die Macht der Definition 
und die Macht der Ausführung liegt bei den professionellen Helfern, 
bei Ärzten, Sozialarbeitern, Juristen, Therapeuten und Wissenschaft- 
lern aller Art und Fachrichtungen. Sie wollen nur unser Bestes auf 
dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik, und sie werden uns 
schon helfen - besonders, wenn wir widerspenstig sind. 


Natürlich bestimmen auch andere Herrschaftsformen ökonomischer und 
politischer Natur unsere Existenz. Wie eng sie mit dem als Liebe und 
Fürsorge getarnten Entmündigungsprozess (an den viele Helfer „och 
viel inbrünstiger glauben als ihr Klientel) verflochten sind, macht 
Paolo Freire in seinem Konzept der Erwachsenenalphabetisierung deut- 
lich: es gilt, der Herrschaft der Imperialisten nicht die Herrschaft 


67 


| 


| 

| 

| 
| 
| 
Í 


| 


| 


der Experten folgen zu lassen. Der passiven, rezeptiven Haltung der 
Unterdrückten soll eine wißbegierige und erfinderische Neugier Platz 
machen. Gemeinsam soll gelernt, dann gelehrt und wieder weitergelernt 
werden, sollen formalisierte und vorgeschriebene Lernrituale immer 
wieder umgestürzt und verändert werden. "Denn nur in einer solchen 
Praxis, in der die Helfer und die, denen geholfen wird, sich gleich- 
zeitig gegenseitig helfen, verkehrt sich der Akt der Hilfe nicht in 


| die Herrschaft über den, dem geholfen wird." (1) 


KÖRPERPOLITIK 


Die neue Frauenbewegung hat dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe 

und der gemeinsamen Erfahrungsprozesse zum wichtigsten Teil ihrer 
politischen Strategie gemacht. Erfahrungen aus feministischen Selbst- 
erfahrungsgruppen und Selbsthilfegruppen verdeutlichen, wie eng die 
gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen mit einer Kolonialisierung 
der weiblichen Körper verbunden war und auf welche Weise die HERRschen- 
den davon profitierten. Der Frauenkörper war domestiziert worden, 

der Wildheit und des Ausdrucks beraubt, ästhetisch verformt und je 
nach Zeitgeschmack und Kulturbereich auf Einzelteile reduziert:Kult(ur) 
des Busen, des Hinterns, der aus- und einladenden Hüften, der Gerten- 
schlankheit usw.; sorgfältig dekoriert, gezähmt und der eigenen Sexuali- 
tät verlustig. Beraubt der Selbstbestimmung über Kopf und Körper, 
verlieren die Frauen die Fähigkeit, einander zu helfen und zu vertrauen. 
Damit sind sie den Experten ausgeliefert und ermöglichen ihnen den 
Zugriff auf die Familie. "Beispielsweise ist sie der Partner, den 

sich die Ärzte- und Lehrerschaft erwählt, um ihre Prinzipien und 

ihre neuen Normen im familiären Raum auszubreiten." (2) Barbara Ehren- 
reich und Deidre English beschreiben in ihrem neuen Buch (3), auf 
welche Weise in den letzten 150 Jahren der weibliche Lebenszusammen- 
hang von Experten zivilisiert worden ist: im Bereich der Hausarbeit 
als Hauswirtschaftslehre und "domestic science", im Bereich der Fa- 
milie als die Wissenschaft von der Kindererziehung in Form von 
Psychiatrie, Pädagogik und Psychologie, im Bereich des Körpers als 
Gynäkologie. Die politische Bedeutung der Verwaltung des Körpers 

wurde von Gruppen der Frauenbewegung in die Öffentlichkeit getragen. 
Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht in der Abtreibungsfrage 
bildeten den Anfang einer Körperpolitik der Betroffenen, im Wider- 
stand gegen die Biopolitik der regulierenden Kontrollen durch die 
Medizin. 

Selbstuntersuchung, Selbsterfahrung, Selbsthilfekliniken, das Studium 
volksmedizinischer Hausmittel und Heilmethoden, die Praxis anderer 
Behandlungsformen: all diese Unternehmungen waren Teil einer Suche 
nach einer sanften, ganzheitlichen Medizin, die es ermöglicht, Kennt- 
nisse zu teilen, Entscheidungen selbst zu treffen, Risiken abzuwägen 
und sich gegenseitig zu helfen (4). Entkolonialisierung also als ein 
Selbsthilfe-Lernprozeß, als langsame (oft mühsame) Entdeckung der 
Körper und Köpfe, verlorener und neuer Kompetenzen, als unverwaltete 
Erfahrung in einer verwalteten Welt. Der Wunsch, etwas zu schaffen, 
das nicht nur Freiraum ist, nicht nur Experimentierfeld, sondern 

die un-faßbare Form der Politik, die sich so leicht nicht dingfest 
machen läßt. 


68 


Die Praxis der Ausführung und gegenseitigen Hilfe wurde begleitet von 
der Forderung nach dem Definitionsrecht: Wer ist krank? Was ist ge- 
sund? Was ist normal? Was ist weiblich? Die feministischen Gruppen be- 
tonen, daß Schwangerschaft, Menstruation, Älterwerden, Geburt keine 
Krankheiten sind, sondern Lebensereignisse, deren Inhalt durch Exper- 
tenintervention vertrieben und deren Erleben dadurch verhindert wird. 
Bewußt wählten die Frauen für ihre Treffpunkte den Namen "Gesundheits- 
zentrum", insbesondere auch weil sie der Gesunderhaltung besonderes Au- 
genmerk schenken wollten. Da aber inzwischen die Experten dazu überge- 
hen, ihre Begrifflichkeit zu ändern, und statt von Krankheit ver- 
schleiernd von "Gesundheitsproblemen" reden (und die Ärzteschaft be- 
sonders bemüht ist, ihren Einfluß auf Gesundheitserziehung auszudeh- 
nen), gerät der Kampfbegriff "Gesundheit!" in eine Zweideutigkeit, 
derer wir uns bewußt sein müssen. Impliziert der professionelle Be- 
griff der Gesundheit zunehmende Normierung und Kontrolle, so wollen 
die feministischen Frauengesundheitszentren versuchen, das Prinzip 

des "lernen - lehren - wieder lernen" auf der Basis gemeinsamer Er- 
fahrungen durchzuhalten und nicht unterderhand zu einem Dienstlei- 
stungsbetrieb für die Ware "Gesundheit" zu werden. Selbsthilfe soll 
mehr sein als nur eine alternative Erbringung von medizinischen 
Dienstleistungen: "Wir wollen keine Vermittler sein zwischen den Är- 
zten und den Patientinnen. Wir wollen den Frauen zeigen, wie sie es 
selber machen können. Wir wollen Frauen nicht untersuchen. Wir zei- 
gen Frauen, wie sie sich selbst untersuchen können. Wir verkaufen kei- 
ne Selbsthilfe und wir verschenken sie nicht: wir teilen sie." (Aus 
einer Broschüre der Detroit Women's Clinic, 1974). Mit diesem An- 
spruch sind viele Probleme verbunden, siehe dazu Fischer Taschenbuch 
"Gemeinsam sind wir stärker - Selbsthilfegruppen und Gesundheit" von 
I. Kickbusch u. A. Trojan. Die Utopie einer authentischen Selbsthil- 
fe aber bleibt die treibende Kraft. ; 


KATEGORISIERUNGS-BRÜCHE 


Die Selbsthilfegruppen der Frauenbewegung und ihre radikale Absage 

an die medizinischen Helfer und Experten sind aber nur ein Teil - 
wenn auch der, dem lange Zeit die meiste Öffentlichkeit zukam:—- des 
vielgesichtigen Phänomens der "Selbsthilfe", das sich mit Beginn der 
70er Jahre zuerst in den USA, dann in anderen westlichen Industrie- 
staaten immer mehr ausbreitete. Die New York Times nennt in ihrer 
Neujahrsausgabe 1980 die 70er Jahre "das Jahrzehnt der Selbsthilfe". 
Kaum ein Lebensbereich, kaum ein medizinisches Problem, für das es 
nicht entsprechende Gruppen gäbe. Für viele Beobachter ist dieses 
schillernde Spektrum das Anzeichen einer neuen Gesundheitsbewegung, 
die Auflehnung gegen eine Expertokratie und eine Versorgungsdiktatur. 
Die Ausprägungen umfassen ein Spektrum das von Gruppen mit einem klar 
formulierten Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung reicht bis 
hin zu solchen, die sich nur einem speziellen Krankheitsproblem zuwen- 
den und keinen expliziten Anspruch auf Alternativen in der Gesell- 
schaft oder im Versorgungssystem formulieren. 


Ich habe in einem anderen Artikel (5) versucht, Selbsthilfegruppen 
in Hinblick auf ihre Stellung zum professionellen System zu charak- 
terisieren und zeige auf, wie Gruppen im Versorgungssystem, neben 
dem Versorgungssystem oder gegen das Versorgungssystem arbeiten kön- 


69 


nen. Dabei wird, wie bei ähnlichen Zuordnungsversuchen, zweierlei 
nicht genug betont: 

© Erstens verändern sich einzelne Gruppen in ihrem zeitlichen Ablauf. 
So gibt es Rückzüge von vormals offensiven Gruppen wie z.B. in der 
Frauenbewegung, oder es erfolgt die zunehmende Orientierung auf ge- 
sellschaftliche Probleme hin wie zur Zeit bei vielen Behinderten-Grup- 
pen (6). Um die Kategorien von Reimer Gronemeyer (7) zu gebrauchen: 
eine kommunikative Selbsthilfegruppe kann in ihrem Verlauf zu einer 
sozialen Selbsthilfegruppe werden, eine politische Selbsthilfegruppe 
kann zur Kommunikationsgruppe werden usw. Ebensogut kann die Gruppe 
vieles gleichzeitig sein oder für verschiedene Mitglieder Unterschied- 
liches bedeuten. Selbst wenn sich die Gruppen auflösen, werden unter- 
schiedliche Erfahrungsreste in den Individuen verbleiben. Das wird 
z.B. im Bericht über eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines Park- 
hauses deutlich: "Wir treffen uns nicht mehr gemeinsam, aber wenn wir 
uns sehen, unterhalten wir uns noch über die schöne Zeit, die wir zu- 
sammen erlebt haben." Und wenn das Problem wieder akut werden sollte, 
"dann gehen wir wieder auf die Barrikaden! Dann gings sofort wieder 
los, dann würden wir wieder mitmachen, das ist so sicher wie nur was." 
(8). Ebenso ist für viele Frauen, die in Gruppen der Frauenbewegung 
nitgearbeitet haben, derzeit nicht eine "neue" Selbsthilfegruppe das 
wichtigste, sondern die gemeinsame Erfahrung und das Netzwerk, das 
sich durch die Gruppenarbeit gebildet hat. Etwas qualitativ Neues ist 
entstanden, das aber noch in enger Beziehung mit der ehemaligen Grup- 
penarbeit steht und sie zum gegebenen Zeitpunkt wieder reaktivieren 
wird. 


© Zweitens tendieren Kategorisierungsversuche dazu, über der Einzel- 


betrachtung den Blick fürs Ganze zu verlieren, also vor lauter Bäu- 
men den Wald nicht mehr zu sehen. Mögen einzelne Gruppen völlig un- 
terschiedliche Konzepte vertreten, von lockerer Gegenseitigkeit bis 
hin zu starren Verhaltensregeln und strengen Hierarchien (wie z.B. 
bei Synanongruppen), mögen sie sich selber als explizit politisch 
sehen oder nicht, ihre Gesamtheit macht den realen Unterschied zur 
bisherigen expertenorientierten Versorgung aus. Die Mitglieder von 
Selbsthilfegruppen helfen einander auf der Grundlage gemeinsamer Er- 
fahrungen, sie haben etwas, das sie sich gegenseitig geben können und 
geben wollen. Sie sind damit als Individuen nicht mehr dieselben. 
"Wir sind nicht mehr dieselben", ist auch das Fazit der Teilnehmer 

an Nicaraguas großangelegter Alphabetisierungskampagne, die auf den 
Gedanken Paolo Freires aufbaute. Und das Versorgungssystem kann auf- 
grund des massenhaften Auftretens von Selbsthilfegruppen und Patien- 
tenorganisationen auch nicht mehr das gleiche bleiben. Die Profes- 
sionellen wehren sich, passen sich an, biedern sich an und wollen den 
Gruppen helfen, die beste Selbsthilfegruppe, die es je gab, zu wer- 
den. Aber hier gilt der eingangs zitierte Satz von Freire, daß nur in 
einer Praxis, in der die Helfer und die, denen geholfen wird, sich 
gleichzeitig gegenseitig helfen, sich der Akt der Hilfe nicht in Herr- 
schaft verkehrt. 


SOZIOLOGISCHE ENTDECKUNGEN 


Bei aller notwendigen Betrachtung des Verhältnisses und des Macht- 
kampfes zwischen den sogenannten Laien und den professionellen Hel- 


70 


fern sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, welchen Stellenwert 
die Selbsthilfe innerhalb der gesamten gesundheitsrelevanten Versor- 
gungsleistungen des Laiensystems hat. Wenn wir das duale System der_ 
Gesundheitsversorgung betrachten, stellen wir fest, daß ca. 6o - 85% 
aller Gesundheitsleistungen außerhalb des professionellen Systems er- 
bracht werden. Diese Selbstversorgung (self care) umfaßt Selbstdiag- 
nose, Selbstbehandlung, Selbstmedikation, Pflege in der Familie, nach 
barschaftliche Hilfeleistungen und verschiedene Formen von Prävention 
und Gesundheitserziehung. Der englische Mediziner J.M. Last (9) hat 
für dieses Phänomen das Bild vom medizinischen Eisberg verwendet. Die 
ses Bild ist umso treffender, weil Professionelle aller Art - Ärzte 
wie Sozialwissenschaftler - den verdeckten Teil des Eisbergs, die 
Versorgung im Laiensystem, zwar selbstverständlich voraussetzen, aber 
sich lange Zeit nicht wissenschaftlich damit beschäftigt haben. 

Die Medizinsoziologie hatte sich ihrem Namen gemäß erst einmal auf die 
Versorgungsleistungen im professionellen System beschränkt. Die Denk- 
weisen der Soziologen waren die der Mediziner: die Leute sollten zum 
Arzt, wenn ihnen irgendetwas fehlte, deshalb wurde (mit entsprechend 
in die Untersuchung eingebauten Vorurteilen gegenüber der Laienver- 
sorgung) untersucht, wer warum nicht zum Arzt ging. Natürlich waren 
diese Forscher guten Willens und haben wichtige Ergebnisse zu schich- 
tenspezifischem Krankheitsverhalten vorgelegt, aber sie hielten am 
Glauben an die professionelle Lösung der Probleme fest. Die andere 
wichtige Forschungsfrage beinhaltete, ob die Patienten den Anforde- 
rungen des Arztes Folge leisten (compliance Forschung). Auch hier wur- 
de vorausgesetzt, daß die Anweisungen des Arztes die richtigen sind, 
die Reaktionen der Patienten die falschen. 


Erste Ansätze einer Selbstversorgungs-Forschung beginnen Mitte der 
60er Jahre, aber erst zehn Jahre später fällt es den Soziologen wie 
Schuppen von den Augen: sie "entdecken" das Laiensystem der Gesund- 
heitsversorgung ebenso wie sie einige Jahre zuvor die Armut in rei- 
chen Ländern "entdeckt" hatten. i 
Plötzlich sieht das verbildete Auge des professionellen Forschers mit 
Erstaunen Dinge, die sich die ganze Zeit vor seiner Nase abgespielt 
haben: in seiner Umgebung, in seiner Familie, in seinem eigenen Ver- 
halten. So sind es auch die feministischen Forscherinnen, die den 
männlichen Wissenschaftlern ihre Blindheit gegenüber dem alltägli- 
chen Lebenszusammenhang (z.B. Hausarbeit), der vornehmlich das Leben 
und die Arbeit von Frauen beinhaltet, vorwerfen. In ihrer Blindheit 
treffen sich Soziologie und Medizin: sie haben sich vorzugsweise mit 
Abweichungen von einer durch ihre jeweiligen Disziplinen konstruier- 
ten Normalität beschäftigt. Das zeigt sich beispielsweise in der me- 
dizinischen Sichtweise der Geburt, die nur fähig ist, Risikogeburten 
wahrzunehmen, und die Möglichkeit einer "normalen" Geburt völlig aus 
dem Blick verliert (lo). Das Plädoyer für eine neue Sichtweise der 
Medizin war in voller Vehemenz von Ivan Illich eingeleitet worden, 
indem er konstatierte, daß die Medizin nicht mehr heilt, sondern 
krank macht. Dieses Wort von der "Nemesis der Medizin" (11) ist in- , 
zwischen zum Allgemeingut geworden. Während ich diesen Artikel schrei- 
be, erscheinen im "SPIEGEL" die ersten Folgen einer Serie zur Krise 
der Medizin, hat vor wenigen Monaten der Gesundheitstag in Berlin 

12 ooo Leute auf die Beine gebracht, gibt es kaum ein Pädagogen-, 
Sozialarbeiter- und Psychologenfachblatt, das sich nicht mit Selbst- 
hilfegruppen auseinandergesetzt hätte, erleben die professionellen 


71 


Helfer die Verunsicherung durch ihr "Helfer-Syndrom", gibt es kein 
Massenmedium, das sich nicht ausführlich mit den kernigen Sätzen 
von Julius Hackethal beschäftigt hätte. Die Krisenstimmung läßt sich 
am besten mit Hackethals Ausruf "Vorsicht! Arzt!" kennzeichnen oder 
einreihen in die vielen "nein, danke'"-Bewegungen: "Medizin, nein 
danke!". Die Infragestellung professioneller Leistungen und die Su- 
che nach Alternativen hat vielfältige Ursachen und Beweggründe: die 
Explosion der Kosten im Gesundheitswesen, ohne daß noch spürbare Ver- 
besserungen eintreten, eine sogenannte "Dehumanisierung'' der Medizin, 
die ihr Heil lieber in der Technologie als in der Mitmenschlichkeit 
sucht, die veränderten Krankheiten, insbesondere die Zunahme von 
chronischen Leiden, die Professionalisierung und Medikalisierung von 
immer mehr Lebensbereichen. "Ein Problem zu medizinieren, heißt es 
eher zu verschieben als zu lösen, heißt eine seiner Dimensionen zu 
verselbständigen und technisch anzugehen und auf diese Weise seine 
gesamte soziologische Bedeutung auszuschalten, um es zu einer "rein 
technischen Frage zu machen, die unter die Kompetenz eines "neutra- 
len" Spezialisten fällt." (12). 
Die medizinische Kompetenzanmaßung erfolgt in immer weiteren Berei- 
chen: Verhaltens- und emotionalen Schwierigkeiten, Selbstmord, Dro- 
genkonsum, Sexualität, mangelhafte Anpassung, Abtreibung, Menopause 
usw., usw. Eine solche Ballung von Definitionsmacht muß bewußt de- 
montiert werden (13), und die vielfältigen Selbsthilfegruppen haben 
mit dieser Arbeit begonnen, ohne daß sie Anleitung durch bewußte Ge- 
sellschaftsveränderer gebraucht hätten, sie ließen sich schlicht et- 
was einfallen und handelten. Daß Professionelle inzwischen Gruppen 
initiieren und auf deren Hilferotential verweisen, macht diese Ent- 
deckung nicht weniger wertvoll. Daß viele Gruppen weiterhin einen 
"medizinischen Blick" haben und auf die große medizinische Entdeckung 
hoffen, die auch ihnen die Rettung verheißen wird, zeigt nur, wie 
weit die Kolonialisierung schon fortgeschritten ist, und wie mühsam 
sie abzuschütteln ist. 


LAIENVERSORGUNG 


Welche Erkenntnisse hat nun die Soziologie der Versorgung im Laien- 
system hervorgebracht? Hier nur einige kurze Hinweise, die hauptsäch- 
lich auf den Ergebnissen amerikanischer und englischer Untersuchun- 
gen beruhen. Weiteres findet sich in einem Themenheft zur Laienmedi- 
zin, der Zeitschrift "Medizin, Mensch, Gesellschaft" (14). Schon die 
ersten Zahlen relativieren Vorwürfe der Überbenutzung medizinischer 
Dienstleistungen: nur eine von fünf morbiden Episoden wird einem 
Arzt gemeldet, die anderen vier werden selbst versorgt. Wenn wir die- 
ses Ergebnis mit den Aussagen Illichs verbinden, daß ca. 3/4 der tat- 
sächlich erfolgten Arztbesuche überflüssig bis schädlich sind, so 
wird deutlich, in welche Widersprüche sich die Diskussion über das 
Nutzungsverhalten verwickelt hat und wieviele Aspekte es zu berück- 
sichtigen gilt: die "Konsumenten" verbrauchen einerseits weniger 
Dienstleistungen als ihnen nachgesagt wird, zugleich werden sie ge- 
rügt, weil sie bestimmte medizinische Dienste (z.B. Vorsorge) nicht 
genug nutzen. Einerseits schüren die Professionellen bestimmte Krank- 
heitsängste (z.B. bei Krebs), um sich dann über die unzähligen Tri- 
vial-Konsultationen zu beklagen. Einerseits verlässen sich wohlfahrts- 
staatliche und professionelle Versorgung auf die unteren Teile des 


72 


Eisbergs, andererseits desavouieren sie die Laienversorgung als un- 
verantwortliche Quacksalberei. Zugleich wissen wir, daß Arbeiter und 
Arme auch dann keine guten Gesundheitsleistungen bekommen, wenn sie 
sie brauchen, und daß die Professionellen bestimmte Gruppen und be- 
stimmte Probleme (z.B. Alkoholiker und Alkoholismus) am liebsten gar 
nicht zu Gesicht bekämen. Warum also in ein Versorgungssystem eintre- 
ten, von dem man nichts oder Schlimmes zu erwarten hat? Warum sich 
die Definitionsmacht nehmen lassen und die Geduld: die häufigste 
Reaktion beim Auftreten einer Befindlichkeitsstörung ist die Inakti- 
vität, das Abwarten: "Erst mal sehen, ob ich krank bin." 


Drei große Bereiche der Gesundheitsversorgung werden im Laiensystem 
bewältigt: 

@ erstens kleinere Verletzungen und "Trivial-Krankheiten" wie Erkäl- 
tungen, Kopfweh, Verdauungsstörungen. Hier wird durch Selbstbehand- 
lung und Selbstmedikation das Symptom zum Stillstand gebracht. Wem 
das zu trivial erscheint, der bedenke, daß die zweithäufigste "Krank- 
heit" in der Allgemeinpraxis ebenfalls Erkältungen sind. 

© zweitens der große Bereich chronischer Erkrankungen, z.B. Venen- 
entzündungen, Rheumatismus, Bluthochdruck, einige psychologische Stö- 
rungen. Hier steht die Pflege im Vordergrund, denn das Symptom ist 
oft dauerhaft und kann in vielen Fällen nur an der massiven Ver- 
schlechterung gehindert werden. 

© drittens der kaum faßbare Bereich des gesundheitsfördernden und 
präventiven Verhaltens. Dieser Bereich der positiven Gesundheitsbe- 
handlungen ist noch kaum erforscht. 

Befragte Personen sehen die Selbstbehandlung als durchaus sichere Me- 
thode der Versorgung an. Laut Angaben waren nur 5% der vorgeschla- 
genen Behandlungen wirkungslos oder falsch und diese waren meist auf- 
grund von Falschinformationen in den Massenmedien versucht worden. 
Der gesicherte Fundus eines Laienbehandlungswissens scheint demnach 
vorhanden. Ein Teil der hohen Zufriedenheit mit der Selbstbehandlung 
mag auf das Zusammenfallen von Definitionsmacht und Ausführungsmacht 
zurückzuführen sein: eventuell birgt das Gefühl der eigenen Kontrolle 
über die Lage in sich einen Heilerfolg. 


Die bisher vorliegenden Forschungen zeigen, daß im Selbstversorgungs” 
verhalten wenig Schichtunterschiede vorhanden sien(im Gegensatz zum 
Nutzungsverhalten), dafür aber deutliche Unterschiede im Alter und 
Geschlecht der Betroffenen, z.B. greifen alte Menschen und Frauen 
häufiger zu Tabletten, wenn sich ein Symptom bemerkbar macht. 

Von Bedeutung scheint mir bei dieser Forschung, daß ihre Kategorien 
von Gesundheit/Krankheit stark den medizinischen Sichtweisen ange- 
glichen sind. Wir wissen noch wenig, wann sich Leute krank und wann 
sich Leute gesund fühlen und (so schreibt Valentina Borremans) "es 
ist doch wirklich ganz offensichtlich, daß es mehrere Arten von Ge- 
sundheit gibt, so wie es mehrere Arten von Schönheit, von Lächeln, 
von Körpern gibt. Diese radikale Verschiedenheit des Lebendigen ist 
nur für Bürokraten und Missionare schwierig zu begreifen." Diese 
Forschung erzählt uns auch wenig darüber, wie sich die Menschen be- 
handeln: wie wichtig das Maß an Zuneigung ist, an persönlicher Betrof- 
fenheit, an emotionaler und sozialer Unterstützung für den Leiden- 
den. Sie sagt uns wenig über Wohlbefinden und wenig über subjektive 
Belastungen und subjektive Verarbeitung. Ausnahmen, wie die Arbeiten 
von Elisabeth Kübler-Ross (15) über die Empfindungen von Sterbenden, 


73 


verfallen am Ende doch wieder der Kategorisierungssucht. Zugleich be- 
stehen berechtigte Zweifel, ob dieses totale Ausleuchten der Empfin- 
dungen und damit die totale Erfassung des Laiensystems für die Betrof- 
fenen von Nutzen sein werden, oder ob - wie Castel (16) vermutet - 
mit Hilfe der Sozialwissenschaft der totale Zugriff der Professionel- 
len in die familiale Intimität vorbereitet wird. Unterstützen läßt 
sich diese Vermutung durch das Konzept der "chronischen Krankheit", 
das ein Traumkonzept für Mediziner und Sozialwissenschaftler darstel- 
len muß: endlich ist sie da, die lebenslange Pathologisierung, die 
auf Dauer verwaltbare Krankheit, die stete Kontrolle, intimste Über- 
wachungen und vielfältige Forschungen ermöglicht und zugleich vom 
Anspruch auf Heilung befreit ist. Für jede konstruierte Stufe des 
Krankheitsverlaufs werden sich neue Experten finden. Die Zwiespältig- 
keit dieser Laienforschung zeigt sich aber auch bei den Laien selbst: 
sie beweist, daß die Menschen zwar eine viel höhere Kompetenz haben, 
sich selbst zu versorgen, als ihnen die Professionellen jemals bereit 
waren zuzuschreiben (und als sie selber es wahrhaben wollen) - aber 
sei zeigt auch, daß die Laien in den meisten Fällen ebenfalls nur die 
Symptome ihres gestörten Wohlbefindens kurieren und nicht deren Ur- 
sachen angehen. Vom "Valium-Zeitalter"' kann Robert Jungk nur sprechen, 
weil wir die Ärzte schon gar nicht mehr brauchen, um uns Pillen ein- 
zugeben: wir sind konditioniert (und oft durch äußere Anforderungen 
gezwungen), zur kürzesten Lösung zu greifen: Tablette rein, Problem 
verschoben, Hier liegt die subtilste Macht der Kolonisatoren. 


UNBEZAHLTE ARBEIT 


Die Forschungen zur Versorgung im Laiensystem machen bisher auch nicht 
deutlich, wieviel der Selbstversorgung im Laiensystem gleichzeitig 
extreme Belastung ist (z.B. das Ausmaß an Kraft und Zuwendung, das 
ein chronisch krankes Familienmitglied erfordert), und sie vermeiden 
die Diskussion über bezahlte und unbezahlte Arbeit (17). Viele pro- 
gressive Verfechter einer besseren Gesundheitsversorgung verweisen 
auf die Belastungen im Laiensystem und möchten, daß den Individuen 
und Familien diese Last durch professionelle Hilfen erleichtert wird. 
Deshalb sind Vertreter eines sozialistischen Versorgungsansatzes für 
die Verlagerung der Dienstleistungen in professionelle bezahlte Ar- 
beit in staatlicher Zuständigkeit. Sie sehen die staatliche Lösung 
als notwendige Grundlage eines gerechten und humanen Versorgungssy- 
stems, Diese Kritiker sehen auch zu Recht, daß Tendenzen bestehen, 
die Laien zu "professionalisieren" und sie zu mehr unbezahlter Ar- 
beit für die Reproduktion der Gesellschaft zu erziehen. 


Auch die feministische Bewegung hat sich in der Diskussion über Haus- 
arbeit intensiv mit den unbezahlten Dienstleistungen beschäftigt, die 
Frauen für die Gesellschaft erbringen. Nicht zuletzt sind es die Frau- 
en, die den überwiegenden Teil der Gesundheitsleistungen im Laien- 
system erbringen. Um den gesellschaftlichen und ökonomischen Wert von 
Hausarbeit zu verdeutlichen, faßten erste feministische Ansätze fast 
alles unbezahlte Handeln in der Familie als Arbeit auf (18). An sei- 
ne Grenzen stößt dieses Konzept, wenn es um Handlungen für das eige- 
ne Wohlbefinden geht, um Handlungen also, die freiwillig und autonom 
erbracht werden. Ivan Illich hat einen Weg aus diesem Dilemma aufge- 
zeigt, der auch wichtige Möglichkeiten bietet, Selbstversorgungslei- 


74 


stungen im Gesundheitsbereich zu unterscheiden. Er trennt nicht nur 

die bezahlten von den unbezahlten Dienstleistungen, sondern er führt 
den Unterschied zwischen "Schattenarbeit'' und "Eigenarbeit" im Bereich 
der unbezahlten Dienstleistungen ein. 

u 
Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, möchte ich nochmals auf die i 
Selbsthilfekonzepte der verschiedenen gesellschaftspolitischen Posi- 
tionen zurückkommen: 

Die technokratische wie die konservative Forderung nach Selbsthilfe 
und Selbstbehandlung sehen diese als gerechtfertigte, unbezahlte Ar- 
beit. Den Technokraten liegt der Spareffekt am Herzen, und sie for- 
cieren Aspekte wie Selbstüberwachung, Selbstkontrolle und Selbster- 
ziehung vorrangig aus Effizienzerwägungen; die Laien sollten ihren 
Teil gesellschaftlicher Arbeit dazu beitragen. Die konservativen fü- 
gen diesem Konzept noch weitere ideologische Verzierungen hinzu: das 
Individuum soll bestraft werden, wenn sein/ihr Verhalten nicht dem 
aufgestellten Gesundheitskodex entspricht, Restriktionen werden mo- 
ralisch begründet und unbezahlte Arbeit wird grundsätzlich als Lie- 
besdienst verbrämt. Beide Positionen wollen unbezahlte, standardisier 
te, verwaltete, erzwungene Mitarbeit an der Produktion der gesell- 
schaftlichen Verhältnisse. Diese entfremdete Form von Arbeit in der 
Reproduktionssphäre nennt Illich Schattenarbeit. Ohne sie könnte die 
kapitalistische Gesellschaft nicht überleben. Sie ist die notwendige 
Ergänzung der Lohnarbeit. Sie lebt vom Prinzip der begrenzt zugestanų 
denen Ausführungsmacht unter der Kontrolle und Definitionsmacht von | 
Professionellen. Deshalb spielt in diesen Konzepten die Erziehung zur 
Selbsthilfe eine so große Rolle, Erziehung durch Experten bis hin zuf 
Selbsterziehung (19). | 
Dagegen setzt Illich die Eigenarbeit, "die soziale Subsistenz im Er-| 
leben, Erfahren und Erleiden der Gegenwart". Dieses Subsistenzmoment | 
ist auch vielen wohlgemeinten progressiven Positionen abhanden gekom7 
men. Sie sehen durch ihre Brillen immer zu schnell die Absichten der | 
Gegner, das "selbst" in vielen der Wortkonstruktionen (von Selbsthilr 
fe bis zu Selbstverantwortung) sehen sie zwar unter dem Aspekt der vọn 
außen aufgezwängten Schattenarbeit, aber nicht unter dem der selbst- 
verantwortlichen, selbstbestimmten Eigenarbeit. 
Selbsthilfe"förderung" kann in der Tat ein Versuch sein (auch ein uh- 
bewußter), die Bevölkerung zu unbezahltem Hilfsdienst zu mobilisie- 
ren. Zwar erhalten die Betroffenen ein klein wenig mehr Ausführungs- 
macht, aber die Definitionsmacht bleibt weiterhin in den Händen der 
Professionellen und den Vertretern der Apparate. Authentische Selbst- 
hilfe setzt aber die Definitionsmacht voraus, ebenso wie Neugier und 
Vitalität. Ein Beispiel für die Definitionsmacht der Betroffenen ist 
die Bürgerinitiative Moorfleet, die für sich definiert, was gesund- 
heitsschädigend ist und ihre Handlungen von dieser Eigen-Definiti n 
leiten läßt (20). 





POLITISCHE ANSPRUCHSSPIRALE 


Für diejenigen von uns, denen die politische und gesellschaftsverän- 
dernde Komponente von Selbsthilfegruppen und Selbstbehandlung beson- 
ders am Herzen liegt, kann die Unterscheidung von Schattenarbeit und 
Eigenarbeit eine Hilfestellung sein. Die Wohlfahrtsdiskussion hat die 
Selbstinitiativen meist unter dem Aspekt der Schattenarbeit analysiert, 


75 


ohne Möglichkeit der Eigenarbeit. Das ist ein Konzept, das wenig Hoff- 
nung läßt. Wenn in dieser Tradition argumentiert wird, nützt fast al- 
les letztendlich dem System. Im Extrem kann dies natürlich für jede 
Arbeit gelten, bezahlt und unbezahlt, und sicher auch für die Arbeit 
als Wissenschaftler - selbst wenn wir meinen, für die richtige Seite 
zu sprechen. Franco Basaglia, hat das Dilemma des gutwilligen Exper- 
ten beschrieben: 
l Für uns heißt es weiterhin, die Widersprüche des Systems, das 
| uns konditioniert, leben und ertragen; eine Institution verwalten, 
| die wir ablehnen; therapeutische Arbeit leisten, von der wir 
| nicht überzeugt sind, und dagegen angehen, daß unsere Institu- 
| tion - die ja durch unsere Aktion genauso zu einer Institution 
| subtiler und verschleierter Gewalt wurde - für das System weiter- 
i “hin nur funktional ist." (21) 
Ich meine, daß wir uns tatsächlich in einer Periode der Neuverhand- 
lung der Machtanteile zwischen Laien und Experten, aber auch zwischen 
verschiedenen Expertengruppen befinden. Castel (22) wählt für diesen 
Prozeß den Begriff Metamorphose. Und wir müssen uns wahrscheinlich 
erst daran gewöhnen, daß dieser Prozeß ähnlich lange dauern mag, wie 
| der Aufstieg der Experten. Wir werden mit unseren Urteilen vorsich- 
tiger und lebensnäher werden müssen - ohne zugleich in kritikloses 
Bejubeln jeder noch so kleinen Selbsthilfegruppen zu verfallen oder 
| in totale Ablehnung jeden professionellen Handelns. Wir kommen nicht 
| umhin, aufgrund des Anwachsens lokaler, begrenzter und problemorien- 
tierter Bewegungen die bisher leitenden all-umfassenden Politikkon- 
zepte zu überdenken. In vielen Gesellschaftsgruppen hat das Vertrauen 
in konzeptionelle Politik abgenommen, staatliche Lösungen werden 
| skeptisch beäugt, Aussteigen ist ein ernsthaft diskutiertes politi- 
-sches Verhalten geworden (23). 


Bescheiden werden wir anerkennen müssen, daß ebenso wie es viele Ar- 
ten von Gesundheit gibt, es viele Arten von Gegenwehr gibt. Wichtig 
erscheint mir in diesem historischen Prozeß das Anschaulichmachen 

von Veränderungsmöglichkeit (sozialistische Brutkästen hat Peter Mar- 
cuse die vielen Alternativmodelle und Projekte genannt), das selber 
Ausführen und das selber Definieren. Das Fühlen, daß es bessere Wege 
des Lebens, des Arbeitens, des Politikmachens und des Heilens gibt. 
Für die Professionellen (ob Mediziner oder Sozialwissenschaftler) be- 
deutet es den Verzicht auf den Heilsanspruch. Sicher stehen wir da 
erst am Anfang und neigen dazu, vor unseren eigenen hohen Ansprüchen 
zu resignieren. Alternative Projekte sehen sich besonders der Kritik 
aus den eigenen Reihen ausgesetzt, weil die Erwartungen an sie so 
hoch sind: sie sollen gute Ware preiswert und gute Dienstleistungen 
möglichst umsonst produzieren, sie sollen intern demokratisch sein 
und keine zwischenmenschlichen Konflikte aufweisen, und sie sollen 
die herrschenden Institutionen herausfordern und dabei möglichst Teil 
einer größeren, schon definierten Bewegung sein. Da muß einem ja Mut 
und Spucke ausgehen, wie wir aus vielen Selbsthilfeprojekten wissen. 
Viele der alternativen Kunden sind so konsumorientiert wie sonst auch: 
die alternativen Projekte sollen ihnen noch mehr noch besser bieten. 
Selbsthilfegruppen und selbstorganisierte Initiativen aller Art können 
viel sein: Modell für Selbst- und Sozialveränderung, Felder für poli- 
tisches Erfahren und lokalen Widerstand, Freiräume des Un-Erzogenen, 
die Bewegung selbst. Sie können Inseln des Rückzugs sein, Bewälti- 
gungsgruppen, letzte Zuflucht und letzter Ausweg, wenn das Leiden am 


76 


Selbst und an der Gesellschaft zu groß geworden ist. Sie können aber 
auch Anpassungsstrategien sein, Teil eines neuen medizinischen Über- 
weisungssystems, das nun wie selbstverständlich auch die Schattenar- 
beit offiziell miteinbezieht und mitverwaltet. 

Natürlich müssen wir wachsam sein, daß letzteres nicht geschieht, aber 
wir sollten als Betrachter (auch wenn wir selbst in Gruppen mitarbei- 
ten) nicht überkritisch sein, nicht ein solches Ausmaß an Warnung 

und Skepsis aussprechen, daß wir indirekt mehr zur Befriedung des 
Systems beitragen, als die "un"politischen Gruppen, die wir im Visier 
haben. Partizipation steht als positiver Wert weiterhin im Gegensatz 
zur Passivität, Apathie und Abhängigkeit. Entkolonialisierungsstrate- 
gien verlangsamen die Entwicklung des Systems und legen sich quer zu 
seiner Festschreibung. Es ist sicher ein Weg (von mehreren notwendi- 
gen Wegen), die Transformation der Gesellschaft dadurch zu bewirken, 
daß viele, ganz unterschiedliche Menschen sich für ihre ureigenen In- 
teressen einsetzen. Für meinen Geschmack haben viele Kritiker der 
Selbsthilfegruppen eine sehr elitäre Herangehensweise: sie halten die 
Mitglieder dieser Gruppen für leicht manipulierbar und problemlos | 
für die Interessen der Herrschenden einzusetzen. p 
Wir Soziologen sollten sehr zurückhaltend sein und uns fragen, warum 
wir oft soviel mehr Vertrauen in die Wissenschaft haben als in die 
Aktionen von Menschen. Wir sollten fragen, was wir den Bewegungen 
und Gruppen denn zu bieten haben, was wir von ihnen lernen können 
und wie wir sie unterstützen können - vorausgesetzt, sie wollen es. 
Auf jeden Fall sollten wir das Theorem vom "erziehungsbedürftigen" 
Menschen fallen lassen und darauf hinarbeiten, daß es mehr Freiräume 
des un-erzogenen gibt und mehr Möglichkeiten authentische Selbsthil- 
fe zu praktizieren. Ich möchte mit einigen Sätzen von Valentina Bor- 
remans abschließen, weil sie soviel besser ausdrücken, was ich sa- 
gen möchte: 

"Vielleicht haben sie von mir erwartet, daß ich ein anderes Gesund- 
heitsmodell hinzufüge, ein weiteres "Leitbild" zu jenen, die jetzt 
unter den Futuristen geläufig sind. Ich verweigere das. Ich weigere 
mich zu definieren, was Gesundheit, die für andere wünschenswert ist, 
enthalten sollte. Ich weigere mich, Gesundheit als Ziel zu definie- 
ren, das von einer dritten Person gesetzt werden kann. 

Statt dessen schlage ich vor, daß wir eine Lehre von Netzahualcoyotl, 
dem Prinz-Poeten von Cuautla, der Stadt der Blumen, akzeptieren: daß 
wir die Zerbrechlichkeit unserer Sonne erkennen." (24) 


Ich möchte Alf Trojan, Sabine Schafft und Ellis Huber für die hilf- 
reichen Kommentare danken. 


Der Beitrag von Ilona Kickbusch ist ein Vorabdruck aus: 


“ GEMEINSAM SIND WIR STARKER” 
— SELBSTHILFEGRUPPEN UND GESUNDHEIT — 
Selbstdarstellungen, Analysen, Forschungsergebnisse 


Herausgegeben von Ilona Kickbusch und Alf Trojan, 
fischer alternativ 4050 (Taschenbuchmagazin Brennpunkte) 





——— 








Kritische 
Texte 


Henrik Kreutz/ 

Reinhard Landwehr (Hrsg.) 
Studienführer für Sozialarbeiter/ 
Sozialpädagogen 

Ausbildung und Beruf im Sozialwesen. 
282 Seiten, Paperback, DM 24,80. 
ISBN 3-472-58031-3 


Hans Thiersch 

Kritik und Handeln 
Interaktionistische Aspekte der Sozial- 
pädagogik. Gesammelte Aufsätze unter 
Mitarbeit von Anne Frommann und 
Dieter Schramm. 

185 Seiten, Paperback, DM 17,80. 
ISBN 3-472-58036-4 


Peter Runde/Rolf G. Heinze 
Chancengleichheit für Behinderte 
Sozialwissenschaftliche Analysen für 
die Praxis 

278 Seiten, Paperback, DM 29,80 
ISBN 3-472-58045-3 


Thomas Mathiesen 

Überwindet die Mauern! 

Die skandinavische Gefangenen- 
bewegung als Modell politischer Rand- 
gruppenarbeit 

Mit einer Einführung von Karl F. 
Schumann 

214 Seiten, Paperback, DM 24,80 
ISBN 3-472-58044-5 


Sozialarbeit 
Sozialpädagogik 
Soziale Probleme 


Herausgegeben von Hanns Eyferth, Paul Hirschauer, Joachim Matthes, 
Wolfgang Nahrstedt, Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch 


Eine Auswahl 


ur 


Lange/Müller/Ortmann 
Bedürfnisorientierte 
Jugendarbeit 

Über den Alltag des Jugendarbeiters 
112 Seiten, Paperback, 

DM 14,80 

ISBN 3-472-58048-8 


Projektgruppe Arbeitsmarktpolitik/ 
Claus Offe (Hrsg.) 

Opfer des Arbeitsmarktes 

Zur Theorie der strukturierten Arbeits- 
losigkeit. 

283 Seiten, Paperback, DM 19,80. 
ISBN 3-472-58038-0 | 


Balzer/Rolli NED) 


Sozialpädagogik 

und Krisenintervention 
285 Seiten, Paperback, 

DM 32, — 

ISBN 3-472-58049-6 


Walter Specht 
Jugendkriminalität und Mobile 
Jugendarbeit 

Ein stadtteilbezogenes Konzept 
von Street-Work 

198 Seiten, Paperback, DM 22, 
ISBN 3-472-58043-7 


Hans Drake 

Frauen in der Sozialarbeit 
Sexismus — Die geschlechts- 
spezifische Diskriminierung. 
164 Seiten, Paperback, 

DM 19,80 

ISBN 3-472-58047-X 








Hans Drake 


ÖKOLOGISCHE STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA 


1. VOM NUTZEN AMERIKANISCHER VORBILDER 


Die Alternativbewegung in den USA gefällt mir sehr und ich werde 

wohl die nächsten Jahre meines Lebens dort verbringen. Als ich 

1970/71 dort lebte, mußte ich mich noch vor meinen Freunden legi- 
timieren. Inzwischen ist es ja sehr in Mode gekommen, daß der deutsche 
Alternativtourist (der Dollarkurs macht's möglich) in die USA jettet, 
um Frauen-, Land-, Alternativtechnik- und Ökologiebewegung zu er- 
kunden. Das USA-Bild der deutschen Linken ist in Bewegung geraten, 

und das ist gut so. In den letzten lo Jahren, von denen ich drei in 
den USA und Kandada verbrachte, habe ich jede dieser genannten Be- 
wegung dort erlebt und ihr zeitlich verzögertes Übergreifen nach 
Deutschland beobachtet. Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen, 
sozialen und kulturellen Systeme habe ich doch immer stark gespürt, 
wie sehr die USA Entwicklungen und Bewegungen zeigt, die sich etliche 
Jahre später auch bei uns manifestieren. Daher ist es nützlich, diesen 
Blick in unsere eigene Zukunft zu tun. Eine Reflektion der Übertrag- 
barkeit amerikanischer Bedingungen im Bereich von Sozialarbeit und 
Stadtökologie auf Deutschland soll weiter unten erfolgen. 


Was mich an der amerikanischen Alternativbewegung insgesamt beeindruckt, 
sind wohl vor allem die dort üblichen "Verkehrsformen": eine gewisse 
Leichtigkeit und Lebensfreude, erfrischender Pragmatismus, geringe 
doktrinäre Enge. Es ist im allgemeinen leicht, an dieser Bewegung 
teilzunehmen. Ihre Arbeit ist wenig bevormundend. Stellvertreterpoli- 
tik ist verpönt. Ihre Projekte sind hier-und-jetzt orientiert und 

sehr praxisnah. Diese Bewegung erteilt allen Formen der Geheimnis- 
krämerei und des Expertentums eine Absage, sie insistiert auf Selbst- 
hilfe (statt entmündigender und süchtigmachender Staatshilfe) und be- 
sitzt eine hohe Sensibilität allen Formen der Geschlechts- und Rassen- 
diskriminierung gegenüber. Ich verkenne dabei keineswegs die kritikwür- 
gen Momente, wie z.B. Theoriedefizite, Effektivitätsverluste, lokale 
Bornierungen und Spiritualismustendenz. Aber wo loo Blumen blühen, 
nehme ich einige Sumpfblüten in Kauf. 


2. NOTIZEN ZUR ENTWICKLUNG DER AMERIKANISCHEN STADTTEIL - 
(COMMUNITY-MOVEMENT) UND ÖKOLOGIEBEWEGUNG 


Seit einigen Jahren gibt es in Deutschland eine neue soziale Kraft: die 
Bürgerinitiativen. Obwohl ihre Entstehungsgründe besondere sind, sind 
sie in Form, Zielen und Methoden doch das, was "citizen action groups" 
in den USA immer gewesen sind und was organisationssoziologisch als 
"single issue movement" bezeichnet wird. Damit unterscheidet sich 

die Bewegung von Parteien, die ein umfassendes Programm und eine 


79 


verbindende Ideologie anbieten. Erst seit die doktrinären Parteien 
der Neuen Linken in Deutschland zerfallen und auch die etablierten 
Parteien die allgemeine Verdrossenheit über ihre bürgerferne Politik 
zu spüren bekommen, konnte sich die Bürgerinitiativbewegung bei uns 
etablieren. 


In den USA hingegen hat es nie ein politisches Vertretungsmonopol 

der Parteien gegeben. Aber was noch wichtiger ist, wir haben es dort 
mit einem extrem förderalen Staatsgebilde mit schwachem Zentralstaat 
zu tun. Die Rechte der Einzelstaaten und Kommunen geht weit über den 
Quasi-Förderalismus der BRD hinaus. Obwohl es nicht in unser Amerika- 
bild paßt, ist doch der Vergesellschaftungsprozeß als bürokratischer 
Zugriff der politischen Machtzentren in den USA viel weniger weit 
vorangeschritten als in Deutschland. Es gibt weder Personalausweise 
noch polizeiliches Meldewesen, die Schulgesetze lassen großen Spiel- 
raum für freie Schulen, und die Bürger wählen in ihren Kommunen vom 
Bürgermeister über die Schulräte bis zum Hundefänger so ziemlich jedes 
öffentliche Amt. Solch ein Wahlzettel mag 15 oder 2o Wählerentschei- 
dungen umfassen, einschließlich mehrerer Bürgerbegehren über die 
zweckgebundene Verwendung von Steuermitteln für bestimmte Aufgaben. 
Dies alles sind Bedingungen, die Bürgerinitiativen, die ja primär 
partikulare und regionale Interessen vertreten, einen günstigen 
Entwicklungsrahmen geben. 


Die dezentrale, stadtteilbezogene Interessenvertretung der Bürger, 

das community - bzw. neighbourhood movement gedieh aber auch noch 

aus anderen Gründen, die die spezifische soziale Situation in den 

USA widerspiegelt. Da ist zunächst das äußerst mangelhafte soziale 
Sicherungsystem zu nennen. Die Bismarckschen Sozialgesetze von 1880 
wurden in den USA erst nach der Weltwirtschaftskrise ab 1930 in der 
New Deal - Politik Roosevelts eingeführt. Eine allgemeine gesetzliche 
Krankenversicheung gibt es immer noch nicht, die Sozialhilfe ist 
miserabel und von der offiziellen politischen Kultur verachtet. 
Selbsthilfe tut hier Not (1). Auch die völlig anders verlaufene Ge- 
schichte der Arbeiterbewegung, die in Deutschland etwas überschweng- 
lich als umfassenste Selbsthilfebewegung der bürgerlichen Gesellschaft 
bezeichnet wurde (2), hat in Amerika nie eine solche soziale Schutzfunk- 
tion übernehmen können. 


Hinzu kommt die Heterogenität der US-Bevölkerung: Schwarze, Braune, 
Rote, Gelbe und Europäer aus verschiedenen Einwanderungswellen bilden 
bis heute Subkulturen mit Selbsthilfetraditionen. Die städtische Ar- 
mutsbevölkerung in den Ghettos und verfallenen Stadtkernen oder im 
ländlichen Süden, die oft mit farbigen Minoritäten identisch sind, 
haben sich in der Bürgerrechtsbewegung, einer klassischen Bürger- 
initiative und später dem welfare rights movement organisiert für 
ihre Interessen und Rechte eingesetzt. Diese beiden Bewegungen waren 
stark community orientiert. In sie mündete auch die amerikanische 
Studentenbewegung Ende der 6oger Jahre ein, die nur kurz und erfolg- 
los mit Parteien leninistischer Struktur experimentierte. 


Es gibt jedoch Wurzeln der US-Bürgerinitiativbewegung, die noch wei- 

ter zurückreichen. In gewisser Weise ist ja das europäische utopische 
Denken aufgrund der herrschenden Verfolgungen in die "neue Welt" 
ausgewandert. Zwischen 1800 und 1900 gab es dort mehr als 600 Kommunen 
mit utopischem Charakter, deren größte (die der Shakers) 6000 Mitglieder 


8o 


umaßte. Alle diese Projekte, religiös oder sozialutop‘stisch, fanden 
auf landwirtschaftlicher Grundlage statt, und oft wird heute beim 
Stichwort: amerikanische community Bewegung nur an Landkommunen ge- 
dacht (z.B. an "Twin Oaks" oder "The Farm", die in der BRD dank Fern- 
sehen und Alternativtourismus bekannter als in den USA selber sind). 


Aber das ist nur der eine Teil der Selbsthilfebewegung (3), der andere 
Teil ist "self-help in the city", ausgehend von den Arbeitslosenselbst- 
hilfen während der Weltwirtschaftskrise. 1933, auf dem Höhepunkt 
dieser Projekte (Kooperativen in Produktion und Verteilung, Selbst- 
hilfebörsen, Tauschökonomie, Genossenschaften) waren ca.200 000 Ar- 
beitslose an ihnen beteiligt. 

Schließlich war community "die traditionelle Form der ökonomischen 

und sozialen Selbsthilfeorganisationen aus der Zeit der Eroberung 

des Kontinents: Während der Besiedlung des Landes bildete sich an 

der frontier, der in den 'wilden Westen! vorrückenden Grenze, autonome 
Gemeinwesen der Siedler. Diese Herausbildung selbstverwalteter frontier- 
Gemeinden ist eine bewußtseinsprägende Erfahrung amerikanischer Ge- 
schichte. Das impliziert die populistische Ablehnung zentralstaat- 
licher Autorität und die wenig ausgebildete gesamtgesellschaftliche 
Orientierung auf Klassenkämpfe'.(4) 


Die amerikanische Sozialarbeit hat im community-movement eine wesent- 
liche Rolle gespielt. Neben den beiden traditionellen Arbeitsmethoden: 
Einzelfallhilfe und soziale Gruppenarbeit trat als dritte "community- 
organisation". In den 6oger Jahren wird sie als US-Import unter der 
Bezeichnung Gemeinwesenarbeit auch in die deutsche Sozialarbeit ein- 
geführt. 

Nun erhält die community-Bewegung jedoch durch die neueren Einflüsse 
stadtökologischer Zielsetzungen einen neuen Charakter. Letztere sind 
geboren aus der Überflußgesellschaft Amerikas, der gegenkulturellen 
Jugendrevolte und der generellen Verschlechterung der Lebensbedingungen 
der Ballungsgebiete. Was kein Widerspruch ist. Die USA sind ein Muster- 
beispiel der "Zweikulturentheorie". Ökologische Stadtteilprojekte sind 

in den USA einfach die notwendige Reaktion auf den ungeheuerlichen Grad 
der urbanen Umweltzerstörung. Mit dieser Zerstörung der äußeren Natur 
der Stadtmenschen geht jedoch die Deformierung der inneren Natur der Be- 
wohner einher und genau mit diesen ist die Sozialarbeit befaßt. Die ame- 
rikanische Sozialarbeit beginnt bei der Diagnose ihrer Klienten neben den 
sozio-ökonomischen Bedingungsfaktoren auch sozial-ökologische in die Ana- 
lyse einzubeziehen. 

Der Einfluß ökologischer Prinzipien auf die Community-Bewegung liegt vor 
allem in der Betonung auf "self-reliance': "Betrachtet man self-reliance 
als Gegenteil von Abhängigkeit, so ist es zum besseren Verständnis loh- 
nend, die englische Sprache als Wegweiser zu nehmen. Da "dependence" im 
Englischen zwei Negationen hat, enthalten beide von ihnen die Idee der 
self-reliance: "Independence" und "Interdependence". Independence be- 
deutet Autonomie, das unschätzbare Zusammenwirken von Selbstvertrauen und 
einen hohen Grad von Selbstversorgung, woraus eine gewisse Unverletzlich- 
keit erwächst. Interdependence bedeutet Ausgleich, ein Kooperationsstil, 
der nicht neue Formen der Abhängigkeit erzeugt".(5) 


Die von den Ökologen propagierte angepaßte dezentrale Technik (community 
technology) soll ein Schlüssel zur Erreichung von lokaler self-reliance 
sein, denn sie ist arbeits-statt kapitalintensiv, schafft also Ar- 
beitsplätze im Gemeinwesen. Arbeit und Leben (vor allem im Dienst- 


81 


leistungssektor) im lokalen Gemeinwesen, Rückfluß der Einkommen als 
Konsumausgaben und über das Steueraufkommen als Investitionen für 
Gemeinschaftsdienste in die Kommune, das sind Schritte hin zu öko- 
nomisch stabilen, dezentralen Lebensgemeinschaften. Es gibt verschie- 
dene Studien (6), die z.B. für den Bereich der Energieerzeugung nach~ 
weisen, daß bei einer gleich hohen Kapitalinvestition die herkömm- 
liche Energieindustrie viel weniger Arbeitsplätze schafft als im 
Bereich von Energieeinsparung und Solarenergie entstehen würden. 
Außerdem wäre die Relation Facharbeiter - technische Intelligenz in 
der Nuklearindustrie z.B. 2:1, in der Solartechnik 9:1. Letztere 
entzieht sich der industriellen Massenanfertigung und ist daher besser 
für regionale Kleinunternehmen geeignet. 

Daneben würde eine ökologische Gemeinwesenarbeit jedoch den Ausbau 

der "informellen Ökonomie" unterstützen (7). Das würde eine Stärkung 
der Eigenarbeit, des nachbarschaftlichen Tausches von Dienstleistungen, 
der Schwarzarbeit bedeuten; alles Wirtschaftsaktivitäten außerhalb der 
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. 

Es wäre zu überlegen, welche Rolle Gemeinwesenarbeiter in diesem Pro- 
zeß lokaler self-reliance spielen könnten oder sollten, um die von 
ihnen verwaltete Arbeitslosigkeit in "schöpferische Eigenarbeit" 
(Weizsäcker) überführen zu helfen. 


3. BEISPIELE ÖKOLOGISCHER STADTTEILPROJEKTE IN DEN USA 


Ernest Callenbachs Roman "Ökotopia - Notizen und Reportagen aus dem 
Jahre 1999" spielt an der amerikanischen Westküste.Er wurde in der 
deutschen grünen-bunten Scene ein Bestseller. Endlich mal nicht nur: 
"Weg mit ... A.K.W's" oder "Zur politischen Ökonomie einer alternativen 
Bäckerei", sondern die detaillierte Beschreibung eines ökologischen 
Paradieses von nationalem Ausmaß. Seit Marx (und trotz Bloch), der 

ja bekanntlich alle Gesellschaftsutopisten bitterlich bekämpft und 
theoretisch fertiggemacht hat, gab es unter deutschen fortschritt- 
lichen Menschen eine Art Denk- (besser: Träume-) Hemmung. Das ist nie 
das Problem der pragmatisch denkenden amerikanischen Gesellschafts- 
veränderer gewesen. Für die amerikanische Alternativbewegung bedeu- 
tet Utopie nicht: Unrealisierbares, sondern (dem ursprünglichen Wort- 
sinn entsprechender): noch- nicht- Realisiertes. Und darin sehe ich 
einen wichtigen Grund für die ansehliche Zahl ökotopischer Ansätze, 
von denen einige hier vorgestellt werden sollen. 





Adams-Morgan 


Adams Morgan ist ein Stadtteil mit 30 ooo Einwohnern im Herzen von 
Washington, zur Hälfte von Schwarzen bewohnt, der Rest sind Latein- 
amerikaner und Weiße. Der Stadtteil, einst vornehmer Wohnsitz der 

weißen Mittelklasse, war zum Ghetto der Schwarzen und drogensüchtigen 
weißen Hippies geworden, ein großer Teil der Bewohner lebte von der 
Sozialhilfe. Aber Mitte der 6oger Jahre beginnt, was in Amerika die 
"Graswurzelrevolution" genannt wird. Sicherlich auch verbunden mit der 
universitären Studentenbewegung, fand und findet sie im Stadtteil statt. 


In Adams-Morgan entsteht zunächst ein genossenschaftlich organisierter 
Laden für gesunde Lebensmittel (die in den USA immer billiger als 
Supermarktnahrung sind). Dann öffnet ein zweiter. Eine Stadtteil- 
zeitung entsteht, dann eine zweite. Ein Schallplattenladen, mehrere 


82 








Verlag 2000 
Postfach 591 
6050 Offenbach 4 





Ellen Diederich: 

”,.. Und eines Tages merkie ich, 
ich war nicht mehr ich selber, 
ich war ja mein Mann” 


mks pockei 


verlag 2000 


Eine politische Aufoblographic 


Band 3, Ellen Diederich 

'„. und eines Tages merkte ich, 

ich war nicht mehr ich selber, 

ich war ja mein Mann’ 

Eine politische Autobiographie, DM 9,-- 


Iniormaflousdiens! Gesundheitswesen 
Heli 17, Mal 1950, DM 6,— Verlag 2000 











Selbsibestimmi Leben 


A =a 





Verlag 2000 & Sozialistisches Büro 
Postfach 591, 6050 Offenbach 4 
Telefon 0611/82006 








Buchläden öffnen. Einige Musiker mieten einen Eckladen und beginnen 
mit allabendlicher improvisierter Musik - Jazz, Rock, Country. Eine 
Stadtteilgenossenschaftsbank bildet sich. Es entsteht schließlich 

ein regelmäßiges Plenum, eine Einwohnerversammlung, die "Adams-Morgan 
Organisation" (AMO). 


Was tut die AMO? Nein, sie stellt nicht Forderungen an die Stadtver- 
waltung auf, sondern sieht sich selbst als die Stadtverwaltung. Dis- 
kussionen der Probleme und ihrer Lösungsmöglichkeiten und als erstes 
die Entscheidungen darüber, was der Stadtteil selber dabei tun kann. 
Dieser Punkt ist wichtig, denn er ist Ausdruck einer für die amerika- 
nische community-Bewegung typischen Sozialphilosophie, die bereits mit 
dem Begriff self-reliance umschrieben wurde. Im GWA-Zusammenhang wur- 
de dort erkannt, was I. Illich die "Modernisierung der Armut'' nennt 
und das ich als das Süchtigmachen der Unterprivilegierten nach Sozial- 
hilfe bezeichnen möchte. Die Sozialprogramme unterstellen als Grund 
für Armut einen Mangel an Geld. Der GWA-Arbeiter versucht daher, den 
Bedürftigen besseren Zugang zu den Sozialleistungen zu verschaffen. 
Die AMO dagegen glaubt, daß neben der materiellen Not vor allem die 
Armutskultur (als ein rigides Interpretationsmuster des eigenen 
Schicksals) durchbrochen werden muß, indem Kenntnisse, Fertigkeiten 
und Selbstwertgefühl durch Aktivitäten vermittelt werden, die die ei- 
gene Wohlfahrt produzieren helfen und die eigene Existenz in die eige- 
nen Hände legt. 

Die AMO startete dazu ein Projekt "Stadtteiltechnologie" zur Klärung 
folgender Fragen: Welchen Beitrag können Wissenschaft und Technologie 
zur self-reliance im Stadtteil leisten? Die Nahrungsmittelversorgung 
ist ein naheliegendes Problem. Gemüseanbau in der Großstadt? Wo? Als 
Ergebnis entstehen Gewächshäuser auf den Flachdächern, je nach Dach- 
tragfähigkeit mit Pflanzkästen oder als Hydrokultur.In leerstehenden 
Kellern werden Sojabohnenkeimlinge gezogen. Auf einem unbewohnten, 

zum wilden Müllplatz verkommenen Grundstück wird ein Gemeinschafts- 
gemüsegarten angelegt mit einem riesigen Komposthaufen aus Gemüseabfällen 
verschiedener Geschäfte und Restaurants und Pferdedung von der berittenen 
Polizei. Fleischzucht in der Großstadt? Kühe brauchen Weiden, Hasen 
sind zu niedlich, Hühner zu laut, aber Fische... Ein Chemiker mit 
Erfahrung in der Forellenzucht entwickelt eine Fischzuchtanlage, die 
in jeden Hauskeller paßt und aus Fiberglasbottischen, alten Wasch- 
maschinenpumpen, Wasserfiltern besteht. Ein junger Maurer 
experimentiert mit Bioklos, die Dünger produzieren und die Abwässer 
nicht mehr verschmutzen. Ein Ingenieur baut einen Solarkocher, dessen 
Spiegelkollektor der Sonne automatisch folgt und bis 300 Grad Celsius 
Hitze liefert. Ein Physiklehrer baut einen Sonnenkollektor aus Katzen- 
futterdosen. Wohlgemerkt: Diese Menschen waren keine Experten von 
außerhalb, sondern Bewohner des Stadtteils. 


Adams-Morgan ist heute jedoch anders. Nach einigen Jahren begann die 
Schickeria sich dort einzukaufen, Mieten stiegen, kommerzielle In- 
teressen erwachten. War das Experiment also doch utopisch? Einige 
Jahre lang war es Realität für die Menschen im Stadtteil, sie wird 
nicht einfach vergessen, sie kann woanders wieder entstehen (8). 


84 


Sweat Equity 


New York ist eine unvorstellbare Stadt. Vielleicht 200 ooo verlassene, 
meist ausgebrannte Wohneinheiten gibt es insgesamt. Und dennoch finden 
wir in der South Bronx oder East Harlem, wo ganze Straßenzüge in 
Schutt und Asche liegen, ökologische Stadtteilprojekte. In der East 119th 
Straße wurde ein 6-stöckiges Wohnhaus mit 23 Wohnungen von einer 
Straßenbande und ehemaligen Bewohnern renoviert und gehört heute 

den dort wohnenden Mietern genossenschaftlich. Wohnraum für ca. 1500 
Menschen konnte seit 1972 im Rahmen solcher "Sweat Equity"-Projekte 
beschaffen werden. Dabei bauen die späteren Bewohner/Besitzer ein 
unbewohnbares Haus, das in den Besitz der Stadt übergegangen ist, 

in Eigenarbeit wieder auf. Die Stadt verkauft dem Kollektiv zuvor 
dieses Haus zu einem symbolischen Preis von einigen Hundert Dollar 
und gewährt einen zinsgünstigen Kredit, der für Baumaterial und für 
notwendige Fremdarbeiten verwendet wird. 


In der East llth Straße in Manhatten brachen 1972 mehrere Feuer aus. 
1974 beschlossen die ehemaligen Bewohner, fast alle schwarz, arbeitslos 
und ungelernt, das Gebäude zu renovieren. Sie arbeiteten 2 Jahre lang 
bis zu 60 Stunden pro Woche, und seit 1976 ist das Haus wieder voll 
bewohnbar. Es wurde wärmeisoliert, Sonnenkollektoren auf dem Dach 
leisten die Warmwasserversorgung. Später entstand noch ein Windrad zur 
Stromerzeugung. Das private Stromversorgungsunternehmen, die Edison- 
Company, ging gegen eine solche Selbstversorgung vor Gericht und ver- 
lor den Prozeß. Sie muß nun außerdem noch den Stromüberschuß des 
Windrades kaufen. 

Seit 1978 entstehen im Stadtteil Bronx auf 15 verschiedenen verkommenen 
Grundstücken Nachbarschaftsparks, ein Dutzend Stadtteilgruppen legen 
Nachbarschaftsgärten, open air Theater, Spiel- und Sportplätze und 
Kompostieranlagen an. Die Werkzeuge werden aus Staats- und Stadtbudgets 
finanziert. 

An diesen Projekten (9) arbeiten außer den Betroffenen, den Stadtteil- 
initiativen, auch Alternativtechnikamateure, manchmal auch Sozial- 
arbeiter mit. Die Rolle der letzteren beschränkt sich zumeist auf eine 
Vermittlertätigkeit zu den verschiedensten Behörden und Ämtern, es sei 
denn, sie haben Gebrauchswert für die Projektarbeit. 


Recycling im Stadtteil 


Jeder Sozialarbeiter, der im Jugendfreizeitheim oder Jugendzentrum 
arbeitet, ist schon einmal mit einer Gruppe zum Sperrmüllsammeln ge- 
gangen, um Räume einzurichten oder alte Fahrräder wieder zusammenzu- 
flicken. Sperrmüll ist der für jeden sichtbarste Ausdruck unserer 
Wegwerfgesellschaft. Arbeitslose junge Städter in den USA warten nicht 
mehr auf die dort spärliche Arbeitslosenhilfe, sondern schaffen sich 
ihr eigenes Einkommen durch Abfallrecycling. Ein selbstverwaltetes 
Jugendzentrum in New York finanziert sich durch das Sammeln von 
Aluminium (Bierdosen) und Einwegflaschen, und sie dokumentieren ihre 
Arbeit gleichzeitig als ökologisches Anschauungsprojekt für die um- 
liegenden Nachbarschaften. Bürgerwissenschaft (citizen science) hat 
detaillierte Untersuchungsarbeit über die sozialen Kosten von Abfall 
und dessen Beseitigung geleistet. Umweltorganisationen haben geholfen, 
das gesetzliche Verbot der Einwegflasche in Oregon, Vermont, Maine 
und South Dakota durchzusetzen. Der Oregonplan (lo) zur Abfalltren- 
nung (Metall, Glas, organischer Abfall, Plastik)in den Haushalten 


85 


und der dezentralen Müllabfuhr und Wiederverwertung funktioniert 

und hat interessante Abfallrecyclingtechniken auf Stadtteilebene 
hervorgebracht. In der großen Stadt Portland gibt es z.B. eine Re- 
cyclingbörse, wo jeder wiederverwendbaren Abfall anbieten oder ab- 
holen kann. In Berkeley/California besteht eine Stadtkompostieranlage, 
Die Bewohner sammeln und liefern ihre organischen Abfälle dorthin 

und erhalten eine entsprechende Menge Kompost dafür. In vielen Stadt- 
teilen von Portland, wo wie in vielen amerikanischen Städten die Müll- 
abfuhr privatwirtschaftlich ist, transportieren verschiedene kleine 
Unternehmen den in den Haushalten separierten Abfall ab und führen 

ihn einer Wiederverwertung zu. So z.B. Cloudburst Recycling, ein 
"Alternativunternehmen" zweier junger Arbeitsloser: Sie fahren mit 
einem alten Kleintransporter mit Anhänger Papier, Glas, Aludosen 

und organischen Abfall von ca. loo Familien in der Nachbarschaft 

für 1,50 - 4 Dollar pro Monat ab. Das ist billiger als die bisherige 
private Müllabfuhr und sichert beiden über die Gebühren und den Erlös 
des wiederverwendbaren Mülls ihr Auskommen. 


In verschiedenen Städten befinden sich inzwischen Stadtteilrecycling- 
centren im Aufbau, die den gesammelten Abfall in eigenen Kleinbetrieben 
zu neuen Materialien verarbeiten wollen, um damit Arbeitsplätze direkt 
in der Nachbarschaft zu schaffen. 





Stadtbauern 


In den USA gibt es keine Schreber-: oder Kleingärten wie bei uns. Die 
dort seit einigen Jahren in Gang gekommene Stadtgärtnerbewegung (urban 
gardening) soll aber immerhin inzwischen etwa I Mio Amerikaner um- 
fassen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen 1972 um "Peoples Park" 
(ein Nachbarschaftsgarten, der auf einem Universitätsgrundstück lag 

und an Bodenspekulanten verkauft werden sollte) in Berkeley/Californien 
ist ihr Symbol. Der Garten besteht immer noch. 


In Burlington, einer Kleinstadt in Vermont, gibt es heute 12 Stadt- 
teilgärten mit einer Gesamtfläche von 5 ha, auf denen etwa looo Men- 
schen gärtnern. Verschiedene Bürgerinitiativen haben diese Projekte 
geschaffen, auf Kirchenland, öffentlichen Plätzen und unbebauten 
Privatgrundstücken. Es gibt einen Gemeinschaftsgarten für Kinder neben 
einem Kindergarten, einen für Senioren, der von der Kirche mitbetreut 
wird, einen Gefängnisgarten als Berufsqualifizierung für Insassen 

und außerdem als Gemüselieferant für die Gefängniskantine. Insgesamt 
erzeugen alle Gemeinschaftsgärten von Burlington letztes Jahr Erträge 
im Wert von 175 ooo Dollar. Es wird ausschließlich ohne Kunstdünger 
und nach verschiedenen Methoden organischen Gartenbaus gearbeitet. 

Da Pflanzfläche in der Stadt immer knapp ist, wurde die alte ursprüng- 
liche französische Technik der Tiefbeetkultur so weiterentwickelt, 

daß vierfache Erträge, pro Fläche mit nur der Hälfte der Bewässerungs- 
menge und 1% des Energieverbrauchs der "modernen Landwirtschaft" 
erzielt werden. Die Experimentierfreude ist enorm: Bienen- Fisch- 
Hühner und Keimlingszucht im Stadthausgarten, solarbeheizte Gewächs- 
häuser auf Balkonen und Hausdächern. Es erscheinen detaillierte An- 
regungen, wie man einen Nachbarschaftsgarten organisiert, die im Grund 
sehr brauchbare Anleitungen für jede Art von Gemeinwesenarbeit darstellen 


86 


Du bist (auch), was Du ißt 


In den USA gibt es schätzungsweise 5000 food-coops, die über 1/2 Mio 
Städter mit billigen gesunden Nahrungsmitteln versorgen. Der Gesamt- 
umsatz dürfte jährlich bei loo Mio Dollar liegen. Food-coops sind 
heute ein ökonomischer Faktor und demonstrieren seit über einem Jahr- 
zehnt die potentiellen Möglichkeiten einer Gegenökonomie, die auf 
Kooperation statt auf Profit beruht. Die Sozialarbeit scheint sich 
für die Beziehungen zwischen Ernährung und physischer und psychischer 
Gesundheit nicht zu interessieren. Aber es gibt Sozialarbeiter,die 
beim Hausbesuch alleinstehender alter Menschen zuerst in deren Speise- 
kammern und Kühlschränken nach den Ursachen ihrer Depressionen suchen. 
Die Schulsozialarbeiterin käme den Gründen für das Schulversagen "der 
Problemschüler" vielleicht eher auf die Spur, wüßte sie etwas über 
deren Zucker- und Süßigkeitenkonsum. 


Food-coops sind ideale ökologische Stadtteilprojekte. Verbraucher 
gewinnen wieder Selbstbestimmung über ihr wichtigstes Überlebens- 
mittel, die Nahrung. Dem modernen Supermarkt, ein Musterbeispiel 

für eine zentralisierte, Vielfalt reduzierende, gesundheitsgefährdende 
und informations- und bedürfnismanipulierende Institution steht die 
Lebensmittelkooperative im Stadtteil gegenüber. Ein Laden mit Lagerraum 
wird angemietet, Preise von umliegenden oganischen Bauernhöfen und 
Vertrieben werden eingeholt und verglichen. Eigener Transport wird 
überlegt. Handelsspannen fallen weitgehend weg. Wohngemeinschaften 

im Stadtteil werden angesprochen, Informationen über gesunde Nahrung 
verbreitet. Ein Bestellsystem (wann, wie oft, welche Mengen) muß sich 
langsam entwickeln, ein rotierender Arbeitsplan für die anfallenden 
Arbeiten der Bestellung, des Transports, des Abrechnens und Abpackens 
zwischen den Mitgliedern (Einzelne oder Kollektive) eingerichtet 
werden. 

Die Formen des food-coops sind mannigfaltig, aber alle realisieren 
die ökologischen Prinzipien der Dezentralität, des knappen Energie- 
aufwandes (weniger Transport, Verpackung etc.), der Angepaßtheit 

an die jeweiligen Bedürfnisse. Food-coops unterstützen den ökologischen 
Nahrungsmittelanbau, der meist von den kleineren, energiesparenden 
und arbeitsintensiven Landwirten betrieben wird. 


In den USA sind die food-coops inzwischen durch regionale Netze mit- 
einander verknüpft. In großen urbanen Zentren wie in Boston oder 
Washington verbinden diese Netze Läden, Einkaufsgemeinschaften, Trans- 
portunternehmen und Lagerhäuser mit den Produzenten auf dem Lande. 

In San Francisco umfaßt das "Peoples-Food- System" lo food-coop Läden 
mit 14 Unterstützungskollektiven wie z.B. Lagerhäuser, eine Bäckerei, 
Kräuter-Käse- und Joghurtherstellung und eine Hühnerfarm ("left wing 
poultry"). Dort wird auch eine Zeitschrift hergestellt, die über die 
Probleme der Bewegung für gesunde Nahrungsmittel berichtet, Tips zur 
Organisierung der food-coops gibt und Untersuchungsarbeit über Nahrungs- 
mittelpolitik leistet. 

Wer heute in einer größeren Stadt in den USA lebt (vor allem an der 
Ost- und Westküste) braucht kaum noch in den Supermarkt zu gehen 

und bekommt seine Lebensmittel auf jeden Fall billiger (11). 


87 


Ökotopia jetzt - Hamilton Solar Village (12) 


Städtische Dörfer (urban villages) - das ist die Konzeption der 
ökologischen Städteplaner, und es gibt Projekte, die sich bereits 
im Planungsstadium befinden. 

Der 500 ha große ehemalige Luftwaffenstützpunkt Hamilton in Marin 
County liegt eine halbe Stunde von San Francisco entfernt. Eine 
Bürgerinitiative bildetet sich, um einen dort geplanten Privatflug- 
platz zu verhindern und kämpfte für ihren eigenen Vorschlag: ein 
urbanes Dorf mit ca. 2.000 Einwohnern, das Energieselbstversorger 
und im ökologischen Gleichgewicht mit seiner Umwelt sein soll. Der 
politische Kampf für dieses Solardorf ist so gut wie gewonnen. Wie 
soll es aussehen? 

Das Solardorf strebt die Verwirklichung folgender Prinzipien an: 
Wiederherstellung des natürlichen Ökosystems im Gleichgewicht mit 
landwirtschaftlicher Nutzungsmöglichkeit (Aquakultur im wiederherge- 
stellten Feuchtgebiet - Astuare sind die vielfältigsten Ökosysteme 
dieser Erde!); Beschaffung von Arbeitsplätzen (für die Hälfte aller 
Erwerbstätigen) innerhalb der Siedlung (Kleinindustrie für umwelt- 
freundliche Produktion); Senkung des Energieverbrauchs generell 
(70% der Einsparung bei Raum- und Warmwasserheizung, Transport, 
Nahrungsmittel und Müll- und Abwasserbeseitigung)durch passive Solar- 
heiztechniken für alle Gebäude; Gemüseanbau innerhalb der Siedlung, 
Solargewächshäuser, Fischzucht und Gemeinschaftsgärten; Elektrizi- 
tätsgewinnung aus Wind, Biomasse und Sonne; Müllrecycling; Auto- 
verkehrseinschränkung (Elektroautos und Busse). 


Die Fähigkeit, ökologische Prinzipien in Architektur und Stadtplanung 
umzusetzen, beginnen sich zu entwickeln. Auszugehen ist dabei von den 
fundamentalen Unterschieden zwischen ökologischen Kreislaufprinzipien 
und den traditionellen linearen Städtebaukonzeptionen. Zwei entschei- 
dende Merkmale seien herausgegriffen: 1) Art und Richtung des Energie- 
flusses im System: importierte hohe Energieströme fließen als Ein- 
bahnstraße durch die Stadt mit großen ungenutzten Verwendungsverlusten. 
Sie verlassen die Stadt als Abfall- und Umweltverschmutzung. In der 
ökologischen Stadt fließt Energie in multiplen Kreisläufen, die sich 
gegenseitig überlappen. Jeder Abfall ist input eines anderen Ener- 
giekreislaufes. Die Energieproduktion ist lokal und nutzt verschie- 
dene Quellen. Sie ist dem Energieverbrauch angepaßt. 2) Die Mehr- 
fachfunktionalität der einzelnen Systemteile: Ein Elektroheiz- 

gerät erfüllt nur eine Funktion, nämlich Luft oder Wasser um 

einige Grad C zu erwärmen. Das geschieht zunehmend durch elektrische 
Energie aus Kernspaltungshitze von tausenden Grad C und ist damit 
ungefähr so vernünftig, wie "Butter mit einer Motorsäge zu schneiden" 
(Amory Lovins). Ein passives Solargewächshaus an der unbeschatteten 
Südwand des Wohnhauses ist jedoch gleichzeitig ein Sonnenkollektor, 
ein Wärmespeicher, ein Gemüseladen, eine Wohnraumheizung und ein 
Sauerstofflieferant. Vielfalt und Multifunktionalität sind Merkmale 
stabiler Ökosysteme. 


Zum Abschluß ein Paar Hinweise über Organisationen, Bildungsstätten 


und Literatur, die für die ökologische Lebensweise in der Stadt wich- 
tig sind. 


88 


e Das Institute for Local Self-Reliance (1717, 18th Straße N.W. 
Washington D.C. 20009) befindet sich in einem Reihenhaus in dem 
schon beschriebenen Adams-Morgan-Stadtteil mit Solargewächshaus 
auf dem Dach und Fischzucht im Keller. Es analysiert alle Aspekte 
ökologischer Stadtteilarbeit, leitet Bürgerinitiativen an, entwirft 
Modellprojekte und gibt eine Zeitschrift heraus. 


e Das Farallones Institute (11516 5th Straße, Berkeley/California 
94710) hat ein ökologisch integriertes Stadthaus geschaffen mit 
Fisch- und Bienenzucht, Solarheizung und selbstkompostierendem 
Trockenklo. Es führt Forschungsarbeit auf dem Gebiet des Abfall- 
recycling, der biologischen Schädlingsbekämpfung etc. durch und 
bietet ein von einigen Universitäten anerkanntes Bildungsprogramm 
an. 


e Das New Alchemy Institute P.O. Box 432, Woods Hole, Mass. 02543 

ist auch in Deutschland bekannt geworden (13). Die von ihnen ent- 
wickelten "Archen" sind Beispiele ökologisch durchdachter Überlebens- 
räume, die Wohnen, Arbeiten und Forschen baulich integrieren. Energie- 
autonom durch passive Solararchitektur, nahrungsmittelproduzierend 
durch Aquakultur und Gemüsezucht im integrierten Gewächshaus, re- 
cycling menschlicher Abfälle zu Kompost. New Alchemy betreibt eine 
Reihe alternativtechnologischer Entwicklungshilfeprojekte in der 
dritten Welt. Sie geben eine Zeitschrift "Journal of the New Alchemists" 
heraus. 


e Das Institute for Ecological Policies (9208 Christopher Street, 
Fairfax, VA. 22031) ist eine Forschungs- und Informationsbörse, 
das Materialien über lokale Ökopolitik erarbeitet und entsprechen- 
de Atkionen anleitet. So z.B. eine detaillierte Studie, wie eine 
ganze Region heute konkret einen "sanften Energiepfad" einschla- 
gen könnte, 


Dies war eine sehr subjektive Auswahl. Wer einen Überblick gewinnen 
will, kann das recht leicht mit Hilfe einiger weniger Zeitschriften 
und Dokumentationen. Die Amerikaner schreiben hervorragende "Wie- 
mach-ichs" oder "wo-finde-ichs" - Literatur. "Rainbook - Resources 
for Appropriate Technology" (Schocken Books, NY 1977) bietet auf 
250 Seiten den totalen Überblick über Projekte, Gruppen, Literatur 
und Organisationen der amerikanischen Alternativbewegung. Klas- 
siker sind "The New Whole Earth Epilogue" (1980), die von der 
Zeitschrift "Mother Earth News" (P.O. Box 70, Hendersonville, NC 
28739) herausgegeben wird. Weitere Zeitschriften sind "New Age 
Journal", "CoEvolution Quarterly" und "Rain". Bei USA-Erkundun- 
gen sind außerdem die "Yellow Pages" mit Anschriften und Beschrei- 
bungen aller Alternativprojekte für viele Städte und kleinere 
Regionen gut geeignet. 


4. WELCHEN ANTEIL HABEN SOZIALARBEITER (INNEN) AN 
ÖKOLOGIEPROJEKTEN IM STADTTEIL 


Auf diese Frage muß geantwortet werden, denn dieser Aufsatz 


89 


ordnet sich dem Leitthema dieser Broschüre "Ökologie und Sozialar- 
beit" zu. Für die USA ist die Antwort wohl eher negativ. Ich habe 
jedenfalls von kaum einem Sozialarbeitenden in den soeben beschrie- 
benen Projekten gehört. Das könnte mehrere Gründe haben. Einmal ist 
die Sozialarbeit in den USA hoch professionalisiert (Social Work 

ist ein Universitätsstudiengang) mit deutlicher Tendenz zu klinischen 
und therapeutischen Berufsfeldern. Sie kümmert sich also lieber um 
die im Sinne von Prestige und Einkommen lukrativeren Tätigkeiten. 

Die von den bankrotten Städten angestellten, meist minderqualifizierten 
Sozialarbeiter in den Ghettos stehen auf verlorenen Posten. Die meist 
farbigen Slumbewohner lassen sich nicht mehr von zumeist weißen 
Sozialarbeiter(innen) vertreten. Und sowieso kann es in den USA nicht 
den Luxus einer Sozialarbeit geben, die Selbsthilfegruppen und Bürger- 
initiativen für eine bessere Stadtteilökologie anleiten will, sondern 
sie muß sich primär für die Durchsetzung sozialstaatlicher Rechte 

der Armutsbevölkerung gegen den Staat einsetzen. Zum anderen ist 

die amerikanische community-Bewegung seit den späten 60ger Jahren 

von "radical community organizers" beeinflußt worden, die informelle 
Meinungsführer von nach Stadtteilprinzip organisierten politischen 
Gruppen waren, wie z.B. Überresten der civil rights Gruppen, der 
Black Panthers (die heute noch da sind,aber statt bewaffetem Kampf 
sehr effektive Stadtteilarbeit machen) und anderen Organisationen 

von Farbigen, sowie lokalen Frauengruppen. 


Der wichtigste Grund für den geringen Einfluß der Sozialarbeit auf 
ökologische Stadtteilprojekte liegt eben sicher in diesem ökologischen 
Ansatz. Angepaßte Technik duldet keine professionelle Expertokratie 
von außen; die lokale Orientierung und Dezentralität erschwert den 
normierenden bürokratischen Zugriff, die gebrauchswertorientierte 
Eigenarbeits- und Recyclingmentalität widerspricht der administrativen 
Mittelzuweisung und Bilanzierung. Die sozialökologischen Prämissen 
der "Deprofessionalisierung, Demonetarisierung, Deinstitutionali- 
sierung und der Selbsthilfe in kleinen Netzen" (14) liegen quer 

zu dem heutigen Charakter staatlicher Sozialarbeit, ja macht sie 
tendentiell überflüssig. Andererseits ist natürlich eine Halbpro- 
fession wie die Sozialarbeit in Deutschland immer auf der Suche, 

sich Arbeits- und Kompetenzbereiche zu erobern, und bei der allge- 
mein herrschenden Desillusionierung der Sozialarbeitenden in den 
traditionellen Arbeitsgebieten ist wohl absehbar, daß sie sich mit 
Hilfe einer "neuen Fachlichkeit" (15), im Aufwind der grünen Be- 
wegung eine Konzeption ökologischer Gemeinwesenarbeit zulegen wird. 
Geschähe dies in der Richtung einer Sozialarbeit, die wieder voran- 
schreitet zu ihrer traditionellen Aufgabenfunktion: Hilfe zur Selbst- 
hilfe statt wie heute Hilfe zur Staätshilfe und damit andauernden 
Abhängigkeit des Klientels zu vermitteln, würde sie lokale self- 
reliance aufbauen und mithin produktiver Teil ökologischer Stadt- 
teilprojekte sein können. 


Um es an Beispielen zu verdeutlichen: Es gibt amerikanische Gemein- 
wesenarbeiter, die der Nachbarschaft helfen, eine food-coop aufzu- 
bauen, statt wie früher Klientenanträge auf Nahrungsmittelkarten 
(food-stamps) beim Sozialamt einzureichen. Andere Sozialarbeiter, 
die bisher Arbeitslosen den Weg zu ihrem Arbeitslosengeld ebnen 
halfen, setzen sich für ein sweat-equity Projekt ein, um die Ar- 
beitslosigkeit in schöpferische Eigenarbeit zu verwandeln. Denn 


90 


das ist ja das Dilemma der Sozialarbeit: mit dem Problem der Arbeits- 
losigkeit und ihren psychischen Verarbeitungsformen bei ihren Klienten 
konfrontiert zu sein, aber über die Lösung (Reintegration in die 
Arbeitswelt) in Form von Arbeitsplätzen nicht zu verfügen. Oder aber 
(falls man diese systemstabilisierende Funktion sozialer Arbeit nicht 
will) mit den Schädigungen und Folgen der Lohnarbeiterexistenz beim 
Klienten konfrontiert zu sein, aber nicht über die Lösung: menschlich 
angepaßte Arbeitsplätze zu verfügen. Wäre es für die engagierte So- 
zialarbeit nicht überlegenswert, sich mit dem Konzept des "vierten 
Sektors" bzw. "Dualwirtschaft" (16), das auch den ökologischen Stadt- 
teilprojekten zugrunde liegt, zu beschäftigen? Der teilweise Ausstieg 
aus der Lohnarbeit (erzwungen oder freiwillig, zeitweise oder mit 
flexiblen Übergängen, für Frauen wie für Männer), und das Wenden 
dieser Lohnarbeitslosigkeit zu schöpferischer gebrauchswertorien- 
tierter Eigenarbeit mit dem Ziel nachbarschaftlicher self-reliance 
bedarf heute einer ernsthaften Überprüfung als Realutopie. Die Rolle 
von Sozialarbeitenden mit einer neuen Fachlichkeit und eigenem Be- 
troffensein wäre dabei zu untersuchen. 


5. ZUR FRAGE DER ÜBERTRAGBARKEIT USA-BRD 


Meine Antwort auf diese Frage ist zwiespältig. Da gibt es einer- 
seits unzählige Beispiele von amerikanisch geprägter westdeutscher 
Lebenswirklichkeit: unsere Sprache (o.k.?), Hamburger, Westernfilme, 
Rollschuhwelle, Starfighter, High-sein, Taylorismus, Sesamstraße, 
Latzhosen, Jogging, Windsurfen, Jazz, Beat, Rock und Pop, Coca Cola, 
Jeans usw. Diverse soziale Bewegungen und Lebensgefühle sind hier 
heimisch geworden, über die Grenzen von Geschichte, Sprache und Kul- 
tur hinweg. Für die Sozialarbeit gilt ähnliches. Supervision, Ge- 
meinwesenarbeit, Streetwork, Familien- und Gestalttherapie, Trans- 
aktionsanalyse, anonymer Alkoholiker, Frauenhäuser sind allesamt 
amerikanische Importe, trotz großer Unterschiede in der Struktur 
der Gesellschaft und der sozialen Dienste. Darum sind die hier be- 
schriebenen US-Beispiele ökologischer Stadtteilprojekte grundsätz- 
lich auch bei uns denkbar, denn alle genannten Beispiele sind Ant- 
worten auf Probleme, deren Art und Ursachen in einem prinzipell 

für beide Länder gleichen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß 
wurzeln. 


Und dennoch springen natürlich die unterschiedlichen nationalen 
Bedingungen ins Auge, unter denen solche Projekte konkret statt- 
finden. In einem Land ohne ausgebautem sozialen Sicherungsnetz 

wie den USA ist Selbsthilfe durch Kooperation der Unterprivilegier- 
ten eine quasi natürliche Verhaltensweise. Sie ist dabei weniger 
bürokratischen Regulierungen unterworfen, denn es herrscht ein 
niedrigerer Vergesellschaftungsgrad der verschiedenen Lebensberei- 
che der Menschen. Ein amerikanischer Organizer, Mitbegründer des 
Farallones Institute, der in Deutschland über seine Arbeit disku- 
tierte, sagte mir: "Ihr Deutschen müßt eure Ideen, Vorstellungen 
und Wünsche aus der institutionellen Umarmung befreien, die sie 
umklammert hält." Hinzu kommt, daß die amerikanische Alternativ- 
scene, auch die sich politisch definierende, ihre Projektarbeit 
immer sehr pragmatisch angeht. Mann/Frau trifft wenig abgehobene 
Theoriediskussionen in solchen Gruppen. Die bei uns in Mode ge- 
kommene Theoriefeindlichkeit mit entsprechend spontihaftem Aktio- 
nismus ist aber trotzdem etwas anderes. In der amerikanischen 


Bewegung scheint ohne besondere Anstrengung Kopf und Bauch versöhnter, 
das Theorie/Praxisproblem erträglicher gelöst als bei uns. Bündnisse 
können geschlossen werden, ohne daß Weltanschauungen gleichgeschaltet 
werden müssen. Finanzierung von außen für Projekte fließt immer aus 
den verschiedensten Quellen und vermindert damit Abhängigkeit. Dem 
Prozeß der Projektarbeit kommt hohes Gewicht bei und er fließt 
in die Definition des Ziels und der Effizienz mit ein. Diese Verhal- 
tensweisen und Verkehrsformen, die von deutschen Besuchern immer 

sehr bald bemerkt werden, sind für die Frage nach der Übertragbar- 
keit von nicht geringer Bedeutung. 


x 


Gefangenenmitverantwortung- 


Unterdrückungsinstrument oder Instrument 
zur Beseitigung der Unterdrückung? 


Herausgegeben von Christoph Nix und Mitgliedern der 

Gefangenenvertretung Butzbach 

Mit Beiträgen von Michael Heise, Artur Kreuzer, Kart E 
Schumann Jirgen Schambach, Klaus Kehbein, Christian 

Plumbohm, Birgitta Wolff u.a. 


-edition syntesis- 


GEFANGENENMITVERANTWORTUNG — 
Unterdrückungsinstrument oder 

Instrument zur Beseitigung der 
Unterdrückung? 

—Herausgegeben von Christoph Nix — 


„Die Präzisierung von Foucaults ‘Überwachen und 
Strafen’ am Beispiel einer westdeutschen Justizvoll- 
zugsanstalt.”” (le demon) 


„Leider nur ein Buch für den juristisch geschulten 
Gefangenen?” (paragraphenkotzer) 


„Die Anhalteverfügung bezüglich des Buches ‘Gefan- 
genenmitverantwortung.... durch die Anstaltsleitung 
war damit rechtswidrig.” (Ernz, Richter am LG) 


Beiträge einer bunten Koalition von gewollten und 
ungewollten Autoren. 


180 S. 10,— DM 


Bezug: prolit - Buchversand, 6304 Lollar 


neuerscheinungen im frühjahr 1981: nachtgesänge, gedichte und geschichten 
aus dem Seelenknast. 





Detlev Lecke/ Thomas Tschöke/ Manfred Wittmeier 


ÖKOLOGIE UND JUGENDARBEIT 
UND 
DAS PROBLEM SITZT IM “UND” 


Provozierende Erfahrungen gehören für Jugendliche heute zum Alltag; 
Streß in der Schule, Ausbildungsnot und der Mangel gesellschaftlicher 
und politischer Perspektiven gehören allemal zu dieser Palette. Dis- 
tanz zu den Angeboten gesellschaftlichen Fortschritts und dem Ver- 
sprechen wirtschaftlichen Wachstums sind für die Jugendlichen mei- 
stens die Folge. Für einen nicht unbedeutenden Teil von Jugendlichen 
weist damit die Perspektive in die neuen sozialen und politischen 
Bewegungen, die sich offensiv mit der Kritik der Ökonomie und ökolo- 
gischen Alternativen im umfassenden Sinne auseinandersetzen. Jugend- 
liche werden aktive BI-Mitglieder, Jugendvertreter und junge Be- 
triebsräte setzten neue Schwerpunkte beim gewerkschaftlichen Kampf 
um eine bessere Arbeitsumelt und mehr Gesundheitsschutz.Oder sonst- 
was! 


Welches Verhältnis die Jugendarbeit zu dieser "neuen Jugendbewegung" 
hat, die Lebensraum wieder einklagt, die sich gegen die Zerstörung 
von Umwelt und Natur, die massive Durchsetzung des Bonner Atompro- 
gramms, die Arbeitslosigkeit, Berufsverbote, Zensurparagraphen etc. 
richtet, ist noch nicht ausgelotet. Immer mehr Jugendliche haben die 
bunte Plastikwelt spätkapitalistischer Fernsehparadiese satt und su- 
chen nach umfassenden Alternativen und einer besseren Zukunft. öko- 
logische Konflikte und ihre langfristigen Konsequenzen sind hier ein 
Focus für die engagierte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich 
unzureichenden Angeboten. 


In der politischen Jugendverbadsarbeit der Naturfreunde, des BDP, der 
Falken, wie auch bei einigen fachlichen Jugendverbänden spielt die 
Ökologie-Debatte eine zunehmend wichtige Rolle im Selbstverständnis. 
Die jugendpolitischen Programme wurden dementsprechend auf die "Höhe 
der Zeit' gebracht und auch die Landesjugendringe und der Bundesju- 
gendring reagierten mit Resolutionen zur "Ökologie und den neuen Le- 
bensformen". Während die soziale Zusammensetzung der Verbände die 
Teil- und Bezugnahme zur alternativen Szene je verschieden nur an- 
satzweise möglich macht und somit noch ungeklärt bleibt, welches Ver- 
hältnis insbesondere große Jugendverbände, die von mächtigen Erwach- 
senenorganisationen abhängig sind, dazu entwickeln können, sind erste 
Ansätze vorhanden. In der Bildungsarbeit, in Bildungsurlaubssemina- 
ren mit Arbeiterjugendlichen und in Projekten sind Aktivitäten der 
Ökologiebewegung und Aspekte alternativer Lebensstile aufgekommen. 
Örtliche Initiativen zu geplanten Mülldeponien, Startbahn- und Stra- 
ßenplanungen, die Erschließung neuer Industriekomplexe und Wohnge- 
biete gehören seitdem zu den neuen Inhalten in der Jugendarbeit. Foto- 
dokumentationen, Interviewreihen, Ortsbegehungen, Lokaltermine und 
Wanderungen mit ökologischen Fragestellungen werden praktiziert, auch 
die sozial-historischen und aktuell-politischen Spurensicherungen, 





94 


wie sie ehemals åls bekannte Kundschaften von Pfandfindern 
durchgeführt wurden. Welche Zugänge sich Jugendliche zu der gesell- 
schaftlichen Einlagerung sozialer Konflikte um die ökologische Zu- 
kunft auf den verschiedensten Ebenen erarbeiten können und wie sie 
sich in die Entscheidung brisanter Fragen kompetent einmischen können, 


zeigt die Reflexion über das folgende Projekt eines hessischen Ju- 
gendverbandes. 


BORKEN 6 UND BORKEN 9 
JUGENDLICHE TREIBEN “SPURENSICHERUNG” 
Skizzen eines Projektes der Bildungsarbeit auf dem Land 


1. HILFE! — EIN ATOMKRAFTWERK IST GEPLANT! 


Das Spiel mit dem Standortsicherungsplan, die gezielten Desinforma- 
tionen der Landesherren - die Geburt des Atomzeitalters prägt Schlagzeilen. 
Auch an Nordhessen, wo die Welt bis vor einigen Jahren noch vergleichsweise 
in Ordnung schien, geht diese Entwicklung nicht vorbei. Im Gegenteil, 
eben weil hier "Strukturschwäche" herrscht - oder anders gesehen, die 
Umweltbelastungen in weiten Teilen der Region noch verhältnismäßig ge- 
ring sind - steht diesem Landstrich eine besonders strahlende Zukunft 
ins Haus: Wiederaufbereitungsanlage Volkmarsen, Zwischenlager und 
Atomkraftwerk Borken. Letzterer Standort ist schon seit Jahren in der 
Diskussion. Einer Diskussion, die mit allen bekannten Mitteln der 
Vertuschung und Erpressung geführt wird. Denn: Die sogenannte Struk- 
turschwäche machts möglich - der Energiekonzern Preußen-Elektra (Preag) 
ist einer der großen "Arbeitgeber" und Arbeitsplätze müssen ...+- 
Gezielteres Begreifen von Veränderungen, denen unsere Lebensorte auf 
dem Land ausgesetzt sind, hatten wir bei Untersuchungen zu Hause, 
"Spurensicherung" genannt, bereits gemacht. Wir, ein gutes Dutzend 
Leute, Schüler und Lehrlinge, aus 8 verschiedenen Dörfern und Klein- 
städten Nordhessens, hatten bei unseren Untersuchungen daheim fest- 
stellen können, daß die Orte heute mehr denn je durch Entwicklungen 
von außerhalb geprägt werden. N 
Die Preag, als ein gewichtiger Faktor regionaler Entwicklung und die 
brisante AKW-Problematik hatten uns zu einem Wochenseminar - unter 

dem Thema "Die Zukunft aus der Schublade" - zusammenkommen lassen. 
Ähnlich wie wir es mit unseren Entdeckungen zum eigenen Ort gemacht 
hatten, wollten wir auch die Ergebnisse dieser Woche in einem Heft 
"Spurensicherung" zusammentragen. Wichtig war uns Erfahrungen und 
Kenntnisse zu sammeln, die über den eigenen Ort hinausgehen und An- 
sätze zu finden, wie mit dem Problem AKW umzugehen ist. 


Was uns als vertrackte Frage vorher schon zu schaffen machte: Hier 

in der Borken-Waberner-Senke konnte man das Problem sehen:ausgedehnte 
Felder - offensichtlich gute Böden - da kaum ein Fleck Boden unbestellt 
ist. Also weite flache Gebiete, in denen keine Feldraine, keine 

Bäume den Blick begrenzen. In dieser Landschaft wirkt das Braunkohle- 
kraftwerk der Preußen-Elektra mit seinen Tagebaugruben rundum viel 
gigantischer, als es eigentlich ist. Stellt man sich dazu noch vor, 
daß die Kühltürme des geplanten AKW höher werden sollen, als der 
höchste Schlot jetzt, dann nimmt sich dieses alte Kraftwerk von 1927 
geradezu heimelig aus. 


95 


Die sichtbare Monumentalität ist zugleich auch eine soziale und 
wirtschaftliche, - eben auch eine politische Realität. Mehr noch, 
zugleich auch eine schwere Belastung des eigenen politischen Lernens 
und Handelns. Und gerade das war und ist unser Problem im Zusammen- 
hang mit der Auseinandersetzung um atomindustrielle Anlagen. 


Die Tatsache, daß die Preag in der Borken-Waberner-Senke Löcher bud- 
delt und Braunkohle herausholt, damit Strom kocht und Staub in die 
Luft pustet, kann man sehen, riechen und. schmecken. Hinter dieser 
Konkretheit steckt - und das läßt sich so leichterdings nicht er- 
fassen - ein gigantischer Kapitalfluß aus der Region in die Metro- 
polen, das Aufhäufen von Macht, die Abhängigkeit von Politikern; 

der Wahnsinn, der als Fortschritt verkauft wird. 

Die Ausbeutung von Rohstoffen (Braunkohle) und natürlichen Hilfs- 
quellen (Luft, Wasser, Boden) erfolgt in der Region, ist dort wahr- 
nehmbar; die Akkumulation des Kapitals geschieht in den Metropolen, 
ist nicht einfach greifbar, sondern erst an seiner Re-Investition und 
deren Folgen (z.B. Planung AKW) zu spüren. 

Daß die großen Kapitalien auf die Provinz zurückschlagen, ist eine 
sattsam bekannte Tatsache, die zu wiederholen uns wenig weiterfüh- 
rend zu sein scheint. 


Aber: "Natürlich ist es hervorragend, daß sich antikapitalistische 
Stimmungen hierzulande soweit verbreitet haben, daß sich auch die 
Illustrierten ihnen nicht mehr ganz entziehen können.""Eine Frage ist 
es allerdings, ...was eine Analyse, die jedes erkennbare Problem pau- 
schal dem Kapitalismus anlastet, ... politisch bewirkt. Gerade ihre 
Allgemeinheit macht sie harmlos; der so beschrieene Kapitalismus wird 
zu einer Art gesellschaftlichem Äther, allgegenwärtig und ungreifbar, 
ein quasi natürliches Medium des Verderbens, dessen Beschwörung gera- 
dezu entwaffnend wirken kann. Da nämlich das jeweilige konkrete Pro- 
blem, ... ohne genaue Analyse der wirklichen Vermittlung sofort auf 
die Verfassung des Ganzen zurückgeführt wird, entsteht der Eindruck, 
als sei jeder spezifische und augenblickliche Eingriff zwecklos." 
Entstehen bloße Leerformeln, die "zur ideologischen Hülle der Passi- 
vität werden." (H.M. Enzensberger, Zur Kritik der politischen Ökolo- 
gie, in: Kursbuch 33, Berlin 1973, S. 23) 


2. VERSUCH EINER “ANALYSE DER WIRKLICHEN VERMITTLUNGEN” 


Bei unseren örtlichen "Spurensicherungen" hatten wir erfahren, wie 
wichtig es ist, sich der Bedeutung verschiedener örtlicher Gruppen, 
deren Beziehungen zueinander und die Geschichte der Veränderungen 
dieser Beziehungen bewußt zu werden. Es wurde deutlich, daß solche 
Untersuchungen in die falsche Richtung führen, wenn sie den ein- 
zelnen Ort als autonomes Gebilde verstehen. Geschichte und gegen- 
wärtige Verhältnisse der Orte zeigen, daß sie eine vielfältige Ver- 
arbeitung von inneren und äußeren Entwicklungen sind. Eigenständig 

= nicht im Sinne von "autonom! - sind die Gemeinwesen insofern, als 
sie den Rahmen des Alltags bilden, in dem die gesellschaftlichen 
Entwicklungen verarbeitet werden, werden müssen. 

Gerade an der Entwicklung der Arbeitsplätze beispielsweise wird dieser 
Zusammenhang besonders deutlich: Und hier kommt es auf die örtlichen 
Erfahrungen an. Wie versucht wurde mit Rezessionen fertig zu werden, 
wie Veränderungen der Agrarstruktur von den betroffenen Leuten be- 
wältigt wurden, welche Bedeutung in den Dörfern die großen regiona- 
len Arbeitsplätze der Industrien haben, was sie auslösen .... 


96 


Also ging es uns darum, zwischen einem falschen globalen "der Kapita- 
lismus ist .an allem Schuld" und einem bornierten Ortsverständnis, 

das die Gemeinwesen isoliert zu begreifen sucht, eine Zugangs- und 
Vermittlungsweise zu finden, in der beides bewußt bleibt:Nämlich 
einerseits die historischen und gegenwärtigen Alltagserfahrungen 

in den Orten und jene gesellschaftlichen Prozesse, die diese Ver- 
hältnisse treffen, jedoch nicht einfach und sinnlich wahrzunehmen 
sind, sondern der geschichtlichen und politischen Analyse bedürfen. 


Zwei Interessen zugleich standen am Seminarbeginn: Die eigene Be- 
troffenheit davon, in welcher Dimension sich ein Konzern per atom- 
industrieller Planung eine Region unterwerfen will, und die Frage 
danach, was die Leute dort tun, wie sie leben, welche Erfahrungen 
sie haben und was für eine Zukunft sie wollen. 

Wir einigten uns darauf, daß diese Woche die ersten Schritte einer 

untersuchenden Klärung umfassen sollte. Vorschlag war die Festle- 

gung auf drei Orte: die Kernstadt Borken und zwei sogenannte Orts- 
teile, die Dörfer Singlis und Dillich. In den Vorplanungen - die 

zu Anfang dargelegt wurden - war diese Auswahl unter folgenden Ge- 

sichtspunkten getroffen worden: 

Borken - eine ländliche Kleinstadt, die sich seit den zwanziger 
Jahren zur Preag-Stadt entwickelt hat; 

Singlis - ein ehemaliges Bauerndorf, dessen Strukturen sich durch 
diese Industrialisierung völlig verwandelt haben; 

Dillich - ein früheres Kleinbauern- und Handwerkerdorf mit großem 
herrschaftlichem Gut, das durch seine Lage auf dem Rand 
der Borken-Waberner-Senke - also seinem Abstand zur Preag? 
- eine weniger einlinige Entwicklung nahn. 

Die gemeinsame Planung der Woche ergab, daß - sowohl wegen der Größe 

der Seminargruppe, als auch wegen der Vielfalt der Untersuchungsstränge 

- die Kernstadt Borken ausgeschlossen wurde. Wir beschränkten uns 

darauf mit zwei Mitgliedern der dortigen Bürgerinitiative am zweiten 

Seminartag vormittags eine Ortsbegehung zu machen und informierten 

uns über diese Stadt im Verlauf der Woche anhand einer Dia-Serie, 

die diese Gruppe der Bürgerinitiative hergestellt hatte. 


Im Vergleich zu den "Spurensicherungen" in den eigenen Orten, be- 
fanden wir uns in einer neuen Situation. Wir kamen nicht von 

hier, waren also zum einen darauf angewiesen, daß einige Kontakte 

zu Leuten vorher schon geknüpft waren, zum anderen hatten wir kaum 

bzw. keine eigenen Erfahrungen in diesen Orten, waren also auf den 
Vergleich mit den Verhältnissen zu Hause angewiesen. Die Gefahr, 

die in dieser Situation steckt, wurde uns im Laufe der Untersuchungen 
und Produktionen zu dem Spurensicherungs-Heft deutlich: manchmal er- 
schien es uns, daß die Informationen derart vielfältig und unterschied- 
lich waren, daß sich uns doch wieder die falschen Alternativen stellten: 
entweder ein kunterbuntes Dorf-Mosaik, bloßes Abbilden und Wieder- 
geben von Einzelerscheinungen oder eben dieses sperrige Material 

einer pauschalen Erkärung zu unterwerfen und im großen politischen 
Rundschlag eine Ordnung zu erfinden. ‚ 
Diese zweite Versuchung war aufgrund der beiden Dörfer, auf die wir 
uns festgelgt hatten, doppelt groß. Gerade ihre spezifischen Unter- 
schiede legten schlichte Schwarz-Weiß-Interpretationen wie: "Singlis 

- ziemlich kaputt" und "Dillich - von der Industrieentwicklung ziem- 
lich verschont" nahe. 


97 


PLAKAT — BAUERNVERLAG 


À / 
; A 
ST N )) R B a 
UN SNAN A 
NA V N nl X 
IS SS AS NT 


joachim schritt 


bauern gegen atomanlagen 
oder 
wi wülit den schiet nich hebben 








Wir wollen nicht behaupten, daß es uns in jedem Fall gelungen ist, 
diese Gefahr zu bewältigen, aber es ist hier nicht möglich, die 
Differenzierungen, die wir herausgefunden und festgehalten haben 

in ihrer Gesamtheit zu skizzieren. (Wen interessiert, was wir heraus- 
gefunden haben, der kann beim Hessischen Jugendring, Albrechtstr.15, 


Wiesbaden das Heft: "Spurensicherung in Singlis und Dillich - Borken 6 
und Borken 9" bestellen.) 


3. VON DEN ÖRTLICHEN ABHÄNGIGKEITEN ZUR ÜBERÖRTLICHEN 
ABHÄNGIGKEIT 


Im Folgenden beschränken wir uns auf einige Untersuchungsstränge 
und -ergebnisse, die für uns neue Erfahrungen waren und an denen 
deutlich zu machen ist, inwieweit wir unseren Anspruch "wirkliche 
Vermittlungen" zu entdecken, realisiert haben. 


An der Entwicklung Singliser Landwirtschaft, wurde uns deutlich, 

wie die Bevölkerung eines solchen Dorfes aus einer Vielzahl von 
Abhängigkeiten in eine völlig neue Struktur der Abhängigkeit gerät. 
Die von uns, die aus Mittelgebirgsdörfern - mit kleinen Höfen kommen 
- waren erstaunt über die (enorm) großen Betriebe in Singlis. Schon 
der Ortsplan zeigte uns das, bei der ersten Ortsbegehung wurde das 
sichtbar und im Gespräch mit einem Großbauern wurde die damit zu- 
sammenhängende Hierarchie des Dorfes detaillierter deutlich. 
Prägend für das Dorf waren die wenigen bäuerlichen Großbetriebe, 
daneben gab es kleinere Bauern und Handwerker (meist beides zugleich) 
und eben die Landarbeiter, ohne die die großen Höfe nicht zu bewirt” 
schaften waren. Also keine Dorfidylle gleichberechtigter Nachbar- 
schaften, sondern durchaus ein handfestes System von Abhängigkeiten 
und Konkurrenzen, Unterdrückungen. z 
Angesichts dieser Lage war es nicht verwunderlich, daß die Ansied- 
lung der Braunkohlegruben und des Kraftwerkes Vielen wie eine Be- 
freiung erschien. Das Ausgeliefertsein an persönliche Willkür, ver- 
gleichsweise instabile Anstellungs- und Lohnverhältnisse, wurden 
abgelöst durch sogenannte "feste" Arbeitsplätze, die guten Lohn 
brachten. Der Ort veränderte in vielfacher Hinsicht sein Gesicht: 
Handwerker, Landarbeiter und Kleinbauern gingen in "die Industrie , 
neue Leute - zugezogene Bergarbeits-Fachkräfte - siedelten sich an. 
Mit dem Flüchtlingsstrom wurden diese Veränderungen verstärkt. Die 
"freie" Lohnarbeit stand nun fast gleichberechtigt neben der bäuer- 
lichen Produktion. 

Zunächst wurde es für die kleinen Landbesitzer und Lohnarbeiter 
selbstverständlich ihren Besitz preisgünstig weiterzuveräußern. 

Mit den Entwicklungen innerhalb der Landwirtschaft verstärkte sich 
die Konzentration, die kleinen Bauern gaben auch auf und gingen 

in die Industrie. 


Waren die Bauern vorher die 'wichtigen' Leute im Dorf, so waren sıe 
es deshalb, weil sie ökonomische Macht hatten. Aber in ihrer Öko- 
nomie waren sie auf das Funktionieren des Dorfes zugleich auch an- 
gewiesen. Im eigenen Interesse beteiligten sie sich an dessen Ent- 
wicklung. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft veränderte 
sich diese Situation im Dorf. Die großen Bauern waren immer weniger 
'Singliser', sie wurden wachsend 'Privatunternehmer'. 


99 


Nach vollzogenen Bodenkonzentrationen wurden die Angebote der land- 
hungrigen Industrie verlockender. Zunächst bedurfte die Preag großer 
- landwirtschaftlich genutzter - Flächen für den Kohleschurf, jetzt 
braucht sie diese für die Errichtung ihrer atomindustriellen Anla- 
gen. 


Seine "Herren" ist das Dorf losgeworden. Der 'freie' Arbeitsmarkt 
hat das Kräftepotential "'flüssig' gemacht. Die in die Industrie Ge- 
gangenen sind von dieser abhängig geworden, weil sie die kleinen, 
eigenen Möglichkeiten der Produktion weitgehend veräußert haben. 

Und für die großen bäuerlichen Landbesitzer wird jetzt das Geschäft 
der Spekulation mit dem Landbesitz immer attraktiver, auch der Boden 
ist "flüssig" geworden. Die Preag lockt nicht nur mit den Summen, 
sondern mit schlüsselfertigen Höfen. Singlis, der potentielle AKW- 
Standort, scheint zur Disposition zu stehen. Die Rolle der Bauern 

- wenn Widerstand dringender wird - ist weitgehend klar, auch die 
letzten werden aufgeben, Land verkaufen oder tauschen - auf Besseres 
hin. Ihr derzeitiger Widerstand ist durchbrochen von Spekulation 
und dem Angewiesen-Sein auf eine Perspektive. Hier gibt es keine 
Widerstandsbewegung zu feiern. Selbst Leute, die schon wissen, was 
aus ihren Lebensbedingungen werden kann, stellen ihre Auflehnung zu- 
rück hinter der Angst, das an ökonomischer Sicherheit zu verlieren, 
was ihnen ihr derzeitiger Arbeitsplatz bietet. Für Preag-"Mitarbeiter" 
gilt Unterschriften- und teilweises Versammlungsverbot; keine laute, 
sondern eine stillschweigende Repression. "Denn auch der Betriebs- 
rat sagt schließlich ..." Manche von denen, die noch nicht alles auf- 
gegeben haben - noch über ihren kleinen Laden, ihre Landwirtschaft, 
ihren Betrieb, ihre Rente und ihren Garten verfügen - leisten sich 
etwas mehr Deutlichkeit ... 


In Dillich war es ähnlich, wenn auch die Geschichte - die hier nicht 
skizziert werden soll - anders verlief. Vom großen herrschaftlichen 
Gut eingeengt, gab es fast nur kleinste und kleinere Bauern - meist 
zugleich Handwerker. Eine ortsständige Ökonomie war schon zur Jahr- 
hundertwende nicht mehr gegeben. Die Handwerker arbeiteten weitgehend 
im Verlagssystem, lebten ziemlich schlecht. Als die Braunkohle in 

der Region entdeckt wurde, änderte das im Dorf zunächst wenig. Nur 
einige fanden dadurch eine neue und andere Anstellung. Die Krise 

der 20ziger Jahre traf die schwache örtliche Ökonomie besonders hart. 


Diese Erfahrungen sitzen tief, von der Preag hat man nie so viel gehabt, 
ist auch nie von ihr größer betroffen worden. Das heutige Spektrum 

der Pendel-Arbeitsplätze ist ebenso weit wie breit gefächert. Lohn- 
arbeit, die sich auswärts orientiert, ist hier seit Generationen üblich 
- in der Größenordnung auch länger als im stark großbäuerlich geprägten 
Singlis - aber der entscheidende Unterschied besteht darin, daß man noch 
viel kleinen Eigenbesitz hat und keinen alleinigen großen Arbeitsplatz. 
Die Meinung zum AKW ist diffus - lieber raushalten ... 


Zwei verschiedene Weisen, wie diese beiden Dörfer von den Veränderungen 


betroffen werden; zwei verschiedene Weisen, wie die Bewohner damit 
fertigwerden. 


loo 


4. DAS “GROSSE” PROBLEM UND DIE “KLEINEN” VERHÄLTNISSE 


Die Darstellung unserer Ergebnisse im "Spurensicherungs"-Heft haben 
wir auf das, was wir über geschichtliche und soziale Erfahrung in 
den Orten herausfanden, beschränkt. Dies sollte unser erster Schritt 
sein. Allerdings kreisten viele unserer Diskussionen in dieser Woche 
bereits um die Frage: Wie gehen die Bewohner mit ihrer geplanten 
atomaren Zukunft um? 


Nichts ist einfacher, als ein schwerwiegendes Problem wie AKW zu be- 
nennen, um sich dann mit den Leuten einer Region - quasi von Gleich 
zu Gleich - zum Kampf zusammentun zu wollen. Aber: Das "große" Pro- 
blem ist im konkreten Alltag in soviele andere eingebunden, daß es 
oft nur Kopfschütteln, wenn nicht sogar Abwehr, hervorruft, wenn da 
Leute, die 'von außen! kommen, einfach (mal so) anfragen im Sinne 
"wie haltet ihr es denn mit dem AKW?" Was wissen "die von außen" 
schon über die ganzen anderen Schwierigkeiten und Entscheidungen, 
die zu bestehen sind, gegen die kein Aufkleber allein genügt? Was 
da noch alles läuft, davon haben wir einiges erfahren. Einiges von 
dem wir meinen, daß es durchaus von einiger Gewichtigkeit ist. 


Es gibt also nicht das "große"Problem AKW einerseits und die vielen 
kleinen anderen, die davor zurücktreten müssen, andererseits. An der 
Geschichte der beiden Dörfer werden Verhältnisse deutlich, die die 
Absurdität der Politik großer Apparate, wie sie heute noch gängig 
ist, belegen. Wer sich auf die AKW-Frage einläßt, muß sich vergegen” 
wärtigen in welchem Zusammenhang er das tut, wodurch das ausgelöst 
ist und wohin er damit will. Die sogenannte Energie-Frage droht zum 
republikanischen Glaubensbekenntnis zu werden;Herr Minister Karry 
hat erst neuerdings das "strukturschwache' Nordhessen wieder pro” 
pagiert. Alles Phänomene, die die falschen Richtungen einschlagen 
lassen, wenn nicht die Interessen genau beachtet werden. 

Mit Schlagworten wie 'Infrastruktur-Verbesserung' oder 'Schaffung 
wertgleicher Verhältnisse' wird seit längerem hantiert und damit 
werden auch relevante Differenzen zugedeckt. 


Zwei Dörfer in einer Distanz von noch nicht 10 km und trotzdem zwei 
soziale und politische Erfahrungshintergründe, die sehr verschieden 
denken und handeln lassen. In beiden Orten sitzen die Erfahrungen, ; 
die lokal wie regional mit der Veränderung durch die Braunkohleindustrie 
gemacht wurden, tief. Mit ihr kam nicht nur neuer Reichtum ins Land, 
sondern entstanden auch andere Arbeitsplatzverhältnisse - angesichts 
großbäuerlicher Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse ein historischer 
'Schub'. Diese Industrialisierung war nicht nur ein Import neuer und 
großer Technologie, sondern auch die Konfrontation mit bereits weiter- 
entwickelten Formen der Organisation der Lohnarbeit und damit eben 

auch der Arbeiterschaft. 

Noch heute beugt die Preag möglicher Unruhe mit der Propagierung be- 
sonderer sozialer Leistung vor, sind die Arbeiter dieser Industrie stär- 
ker gewerkschaftlich organisiert als sonstige Gruppen dieser Region. 
Folgerichtig trifft die Planung atomindustrieller Anlagen auf eine 

zwar skeptische, aber zunächst eher bereitwillige Haltung, solange 

sie als "Fortschritt! mystifiziert wird. 

Allerdings zeigen sich zwischen den Dörfern Unterschiede:Im - von 

der Energieindustrie quasi schon "durchkapitalisierten' Singlis - 


lol 


sind Bejahung wie Ablehnung massiver. Im abseitiger gelegenen Dillich, 
mit seiner reichhaltigen kleinen örtlichen und häuslichen Ökonomie, 
geht es leiser in dieser Frage zu; ist das Zögern ausgeprägter, meint 
man noch durch diese Entwicklung weder viel verlieren, erst recht 
nicht viel gewinnen zu können. 


5. FAZIT: WAS WIR FÜR UNS SELBER GELERNT HABEN 


So wichtig die Auseinandersetzung um die Atomindustrie ist, so er- 
freulich wir es finden, daß in dieser und anderen Umweltfragen immer 
mehr Leute in Bewegung kommen, so entscheidend erscheint es uns, daß 
wir die richtigen Ebenen der Auseinandersetzung damit finden. 

Wir haben in dieser Woche BI- Mitglieder getroffen - und kennen das 
auch teilweise aus eigener BI-Erfahrung - die Unterscheidungen tref- 
fen lassen. 

Es gibt so etwas wie eine ohnmächtige Faszination durch diese in- 
dustriellen Eingriffe und Bedrohungen, die sich in einer Wut Luft 
verschafft, die nichts und niemand weiterbringt, keinen Widerstand 
kräftiger entfaltet, sondern eher sich regenden erdrückt. Gerade 
wenn dieser Protest von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen ausgeht, 
löst er bei den Älteren leicht Reaktionen aus wie:"Na, die können 
sich das leisten!" 


Es geht uns nicht darum als die "braven" und "netten", die ach so 
"engagierten" Jugendlichen angesehen zu werden, denn auch uns gehen 
in unseren BI's die "aufgeklärten' Herrschaften auf den Geist, die 
meinen mit einigen markigen Resolutionen zur Rettung der "Lebens- 
qualität" und der "Natur" wäre ihrem Umweltbewußtsein und der Pro- 
blemlage Genüge getan. 


Als "strukturschwache'" Nordhessen haben wir aber gelernt, daß Wider- 
stand - bei aller Wichtigkeit der BI-Arbeit - nicht nur eine Frage 

der politischen Organisation, sondern auch des Zustands ist, in dem 
sich unsere Orte befinden. 

An Dillich und Singlis, in deren Vergleich und im Vergleich dieser 
beiden Dörfer zu unseren eigenen Orten, wurde uns klarer, daß Wider- 
stand gegen die geplanten Entwicklungen, nicht nur eine Sache des poli- 
tischen Bewußtseins und dessen Darstellungsfähigkeit in solchen Fragen 
ist, sondern vor allem auch eine Frage der Möglichkeiten zum Widerstand, 
Ein entscheidender Moment davon ist, inwieweit wir Bewohner in unseren 
Orten noch über eigene Ressourcen - wirtschaftlich wie sozial - ver- 
fügen. Also kommt es neben der BI-Arbeit, dem leisen '"Grünen' in den 
Gewerkschaften u.ä., darauf an, daß wir an der Entwicklung unserer 
Orte mitmischen. 

Als Gruppe Jugendlicher hat man hier auf dem Land ja nicht nur eine 
Menge Schwierigkeiten, sondern auch viele Chancen. Denn - abgesehen 
von den ganz Vernagelten - lassen sich viele Leute auf unsere Fragen 
nach der eigenen und der gemeinsamen örtlichen Zukunft ein, wenn wir 
sie aus unserer Situation offensiv und begreifbar stellen. Gegen die 
von oben propagierten großen Zukünfte - die keine Alternativen zuzu- 
lassen scheinen - können wir so intensiv dazu beitragen, daß die 
"kleinen", aber zahlreichen Zukünfte zu tragenden Bestandteilen der 
Entscheidungen und des Widerstandes von uns Bewohnern werden. 

Nicht meckern - machen! 


lo2 


Roland Roth 


MÖGLICHKEITEN POLITISCHER BILDUNG IM STADTTEIL 


AKTUELLE VORBEMERKUNG 


Als Ende 1975 eine Gruppe von Mitarbeitern von "Arbeit und Leben" 
mit der Vorbereitung eines längerfristig angelegten Projekts mit 
Jugendlichen in einem Frankfurter Stadtteil begann, gab es zwar 
schon eine starke Anti - Kernkraft - Bewegung in der Bundesrepublik; 
niemand wäre jedoch damals auf die Idee gekommen, das eigene Progabt 
als "ökologisch" zu bezeichnen. Ökologie war noch nicht "in Mode", 
diente noch nicht als neuer Schmuck für alte Ansätze, wurde noch 
nicht - positiv gewendet - als Herausforderung für die eigenen po” 
litischen Vorstellungen besonders ernst genommen. Auch die Ansiedlung 
des geplanten Projekts im Rahmen eines vom Bundesministerium für 
Jugend, Familie und Gesundheit aufgelegten Modellprogramms Zentrale 
Aufgaben für lernschwache, berufsunreife, arbeitslose Jugendliche 
und Berufsanfänger" war wenig alternativ. 


Dennoch ist es kein Zufall, daß wir Jahre später feststellen konnten, 
daß unsere Vorstellungen von Stadtteilarbeit, die sich an der Selbst- 
ständigkeit und Selbstorganisation von Alltagsinteressen orientierte, 
weitgehend mit Konzepten deckten, wie sie in Teilen der Ökologie- 
bewegung entwickelt worden sind (z.B. von Andre' Gorz in Ökologie 
und Freiheit, Reinbek 1980, S. 36-46). Es gibt ohne Zweifel eine 
große Nähe zwischen jenen Vorstellungen "emanzipatorischer" Jugend- 
arbeit, wo sie ihre institutionen-kritische Ursprünge nicht vergessen 
hat, und dem ökologischen Leitbild einer Rückgewinnung von autonomen 
Fähigkeiten. " k= 
In diesem Zusammenhang können auch die Projekterfahrungen vom ‚Fran 
furter Berg" nützlich für die aktuelle Diskussion sein - und nicht 


so sehr, weil wir mit Jugendlichen eine Fahrradgruppe gemacht und 
Sonnenkollektoren gebaut haben. 


. .. ” . . . .. i n 
Genauere Informationen über dieses Projekt bietet die Veröffentlichung 


" 
der Projektgruppe Franfurter Berg, "Eigentlich hatten wir null Bock , 
Frankfurt/M 1981 (Campus-Verlag) 


103 


STADTTEILANALYSE UND ERSTE PRAKTISCHE SCHRITTE 


Das Projekt wurde mit folgenden Zielsetzungen gestartet: 


e Die Auseinandersetzung mit Berufswünschen, Lehrstellensuche und 
der Situation der Arbeitslosigkeit erfordert zunächst die Ver- 
mittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Institutionen. 
Selbständige und gemeinsame Interessenartikulation und Erfahrungs- 
verarbeitung sollen dabei besonders gefördert werden (gemeinsamer 
Besuch beim Arbeitsamt, Austausch von Bewerbungserfahrungen etc.), 
was der Konzeption einer aktivierenden Beratung entspricht, in der 
als Hilfe zur Selbsthilfe Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen bei 
der Lösung bestimmter Probleme an andere weitergeben. 


e Hieraus ergeben sich möglicherweise Ansatzpunkte für die Entwicklung 
und Förderung von Formen der kollektiven Interessenvertretung und 
-durchsetzung. 


© Längerfristige Perspektive des Projekts ist die Initiierung von For- 
men gemeinsamer Interessenartikulation von Arbeitenden und Arbeits- 
losen im Stadtteil, wobei die Schaffung tragfähiger Kommunikations- 
strukturen und aktiver Kerne zentrale Bedeutung haben.Durch selbst- 
organisierte Ansätze soll die Projektarbeit zumindest in wesentlichen 
Ausschnitten allmählich von Stadtteilbewohnern übernommen werden. 
Von dieser längerfristigen Arbeit sollen auch Impulse in die Gewerk- 
schaftsdiskussion eingehen. 


Aufgrund innerverbandlicher Auseinandersetzungen und einer Verspä- 

tung der finanziellen Zusage war der in der Konzeption vorgesehene 
Einstieg über Schülerarbeit und gemeinsames Zeltlager 1976 nicht 

mehr möglich, obwohl die Vorarbeiten des Teams dies zugelassen hätten. 
Der praktischen Arbeit mit den Jugendlichen ging zunächst-auch auf- 
grund der finanziellen Unsicherheiten-eine ausgedehnte Phase der Unter- 
suchungsarbeit im Stadtteil voraus. Untersuchungsarbeit bezeichnet 
dabei eine Form der Stadtteilanalyse, die aus einer Einheit von 
Interview, Offenlegung der eigenen Interessen, Aufhellung der Interessen 
der Gesprächspartner und der Entwicklung gemeinsamer Handlungsperspek- 
tiven (oder der Erfahrung ihrer Unmöglichkeit) besteht. Wir hatten 
dabei folgende konkrete Zielsetzungen: 


e eine genauere Erhebung der Sozialstruktur und der Wohnverhältnisse 
im Quartier. 


e Rekonstruktion der objektiven Lebenslage der Jugendlichen im Stadtteil, 
aber auch ihrer Gruppen-und Cliquenstrukturen, ihres Images bei den 
Erwachsenen etc., 


e Untersuchung der Einrichtungen und Angebote für Jugendliche, 
e Aufarbeitung der Erfahrung der Jugendlichen mit früheren sozial- 
pädagogischen Initiativen, um Probleme und Mängellagen in der ört- 


lichen Jugendarbeit zu sondieren und dadurch Konkurrenz oder Holz- 
wege zu vermeiden, 


lo4 


Marlene Neske/ 
Günter v. Juterzenka 


ZWISCHENLÖSUNG: ARBEITSKOLLEKTIVE 
— Selbsthilfeinitiativen und Jugendarbeitslosigkeit — 









































Zeichnungen: Christoph v. Löw 
* 
Vorwort: Roland Roth 





e Kontaktaufnahme mit Vertretern von Institutionen des Stadtteils 
(Sozialarbeiter der Hochhaussiedlung und der Sozialstation, Haus- 
meister, Vertreter von Kirche und Vereinen, aber auch mit einzelnen 
Jugendlichen und Erwachsenen) um Kooperationsmöglichkeiten und Kon- 
fliktpotentiale zu eruieren. 


e Vorstellung des Projekts und der Mitarbeiter. 


Dieses Vorgehen wurde bei den rund zwei dutzend Befragten überwie- 
gend positiv aufgenommen, sofern nicht grundsätzliche Vorbehalte 

gegen die spezifische Ausrichtung des Projekts ("gewerkschaftlich"), 
bzw. gegen nicht dauerhaft institutionalisierte Projekte überhaupt 
jeden Kooperationsansatz von vonherein verhinderten. Die Ergebnisse 
bestätigten die ersten Einschätzungen der Stadtteilanalyse. Cha- 
rakteristisch für die Siedlung "Frankfurter Berg'' ist das weitgehen- 
de Fehlen öffentlicher Infrastruktureinrichtungen, aber auch eine 
völlige Unterversorgung mit privat betriebenen Kommunikationsein- 
richtungen (Kneipen etc.). Dies führt zur Spaltung in einen alten 
Siedlungsteil (mit kleinen Siedlungshäuschen, Gärten etc.) und die 

in den sechziger Jahren errichtete Hochhaussiedlung, in der ca. 3000 
Menschen aus verschiedenen Schichten, allerdings mit einem deutlichen 
Übergewicht von "sozial Benachteiligten" (Spätaussiedler , ehemalige 
Bewohner von Obdachlosensiedlungen, Sozialhilfeempfänger u.a.) zu- 
sammenleben-ohne sozialintegrative Gemeinschaftseinrichtungen oder 
hinreichende sozialpädagogische Betreuung. Diese Form der "sozialen 
Mischung" führte zur Herausbildung von scharfen Konfliktlinien zwi- 
schen den verschiedenen Bewohnergruppen, aber auch zur Isolierung 

vom Rest der Siedlung. Zunächst angebotene bzw. vorgesehene Gemein- 
schaftseinrichtungen wurden bald geschlossen oder nie errichtet. 

Die Jugendlichen des Stadtteils sind davon besonders betroffen. 

Ihr fast zehn Jahre langer Kampf um ein Jugendhaus, das nun Mitte 1979 
in Betrieb genommen werden soll, spiegelt Intensität und Dauerhaftigkeit 
ihres Interesses, hat aber auch einen Prozeß verstärkter Marginalisie- 
rung in Gang gesetzt und die Jugendfeindlichkeit bei vielen Erwachsenen 
des Stadtteils verfestigt. Dies zeigte sich besonders bei unseren 
Bemühungen, eigene Räume für die Jugendarbeit im Stadtteil anzumieten, 
was schließlich erst ein Jahr nach Projektbeginn gelang. 


Nachdem es wegen des verzögerten Projektbeginns im Herbst 1976 nicht 
möglich war, kurzfristig in die Schülerarbeit einzusteigen, die prak- 
tische Arbeit mit den Jugendlichen bis zum Jahresende aber noch an- 
laufen sollte, boten wir im Dezember ein Wochenseminar in der Nähe 
von Hamburg an, an dem sich vor allem arbeitslose Jugendliche und 
Lehrlinge (Bildungsurlaub) beteiligten. Die Ansprache’ erfolgte im 
wesentliche über das Jugendhaus Eschersheim, die Vereine des Stadt- 
teils und eine Gruppe von Aktiven, die sich für den Bau eines Ju- 
gendhauses engagierten. Im Anschluß daran entwickelten wir, unter- 
stützt von einigen Wochenendseminaren, an denen sich auch Schüler 
beteiligten, im ersten Halbjahr 1977 einige Ansätze zur Gruppen- 
arbeit im Jugendhaus Eschersheim, die dort auch auf lebhafte Resonanz 
stießen. Durch die Angebote im Jugendhaus kamen wir zunächst mit 

etwa 50 Jugendlichen aus der Umgebung in Kontakt und wurden von 

ihnen in zahlreichen Fällen bei der Suche nach einer Lehrstelle bzw. 
einem Arbeitsplatz, bei Gerichtsprozessen oder bei der Wohnungs- 
suche in Anspruch genommen. 


106 


In der Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern des Jugendhauses 
konnten wir zwar eine sinnvolle Ergänzung der offenen Jugendarbeit 
leisten, aber weitergehende politisch-pädagogische Zielsetzungen 
nicht zur Geltung bringen. Die Stabilisierung von längerfristigen 
Gruppenprojekten gelang lediglich in einem Fall, begünstigt durch 
den Umstand, daß die Jugendräume aufgrund eines Brandes geschlossen 
wurden. Auf 25 Gruppenterminen und zwei Wochenendseminaren erarbei- 
teten 20-25 Jugendliche einen Videofilm, in dem sie in Spielfilmform 
ihre aktuellen Probleme bei der Lehrstellensuche, im Beruf, bei 
Arbeitslosigkeit, aber auch in der Familie, in Freundschaftsbe- 
ziehungen und Freizeitcliquen darstellten. Ein Teil der Gruppen- 
sitzungen fand in den Privaträumen der beiden im Stadtteil wohnen- 
den Mitarbeiter statt; das Raumproblem wirkte sich jedoch nicht 

so stark aus, weil der Film an verschiedenen Schauplätzen im Stadt- 
teil und in den Wohnungen der Jugendlichen gedreht wurde. Dabei 
boten sich zahlreiche Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit den 
eigenen Lebensbedingungen und zur Einbeziehung von Erwachsenen aus 
dem Viertel. 


SCHÜLERARBEIT, ZELTLAGER UND DIE STABILISIERUNG VON ARBEITSGRUPPEN 


Im ersten Halbjahr 1977 konnten mit rund 70 Schülern aus Abgangs- 
klassen von Sonder-, Haupt-und Realschulen Wochenseminare veran- 
staltet werden. Weitere Seminare - wenn auch in reduziertem Um- 
fang - folgten in der zweiten Jahreshälfte und 1978. Versuche, mit 
arbeitslosen Jugendlichen aus Berufsschulklassen solche Veranstal- 
tungen zu machen, scheiterten, da arbeitslose Jugendliche aus einem 
Stadtteil von der in Frage kommenden Frankfurter Berufsschule bewußt 
in verschiedene Klassen gesteckt werden, um sie aus ihren alten 
Bezugsgruppen zu lösen. Themenschwerpunkte der Seminare waren Pro- 
bleme der Lehrstellensuche (Vorstellungsgespräche, Prüfungen, Kon- 
kurrenz um Lehrstellen zwischen den Schülern etc.), Erfahrungen mit 
der Berufsberatung, Rechte von Lehrlingen, Ursachen, Folgen und 
Bewältigungsmöglikeiten von Arbeitslosigkeit - aber auch (je nach 
Gruppe) die Situation der Jugendlichen im Stadtteil und Adoleszenz- 
probleme (Verhältnis zum anderen Geschlecht, Konflikte im Eltern- 
haus, in den Jugendlichencliquen u.a.m.). 


Die Wochenendseminare bildeten jeweils nur den Ausgangspunkt für 
eine Weiterarbeit, die je nach Möglichkeit über weitere Schulbe- 
suche, besondere Arbeitsgruppenangebote nach Schulschluß oder mit 
dem Ende der Schulzeit bzw. die Integration der Jugendlichen in 
die offene Stadtteilarbeit versucht wurde.Als besondere Hürde er- 
wies sich, daß nicht nur Sonderschüler, sondern auch Haupt-und 
Realschüler wegen der Lehrstellensituation am Ende ihrer Schulzeit 
weiter verschult werden und sich so ihr Eintritt ins Berufs-und 
Arbeitsleben, aber auch die mögliche Arbeitslosigkeit entsprechend 
verschieben. Wir mußten uns daher auf die ungleiche diffusere Si- 
tuation der weiteren Verschulung pädagogisch einstellen, die für 
die Schüler oft zum Verlust von bestehenden sozialen Kontakten 
führt, ohne daß sich ihre Zukunftsperspektiven verbessern, was im 
Kontext des Projekts zu einer Beeinträchtigung der Möglichkeiten 
stadtteilbezogener Bildungsarbeit geführt hat. Im allgemeinen 
konnten wir in der Schülerarbeit u.a.folgende Erfahrungen machen: 


107 


e Die Schulen bieten meist nur unzureichende Möglichkeiten für eine 
intensive Auseinandersetzung mit den Problemen des Übergangs in 
das Arbeitsleben. Dies liegt nicht nur an den institutionellen 
Grenzen der Schulen, sondern ebenso am Widerstand vieler Schüler 
der letzten Schulklassen gegen schulische Formen der Wissensver- 
mittlung. Die in den Seminaren angewandten produktorientierten 
Lernformen ( Video, Foto, Collagen, Schmalfilme etc.) eröffneten 
für diesen Teil der Schüler wieder aktive Lernmöglichkeiten, die 
auch von dem überwiegenden Teil der kooperierenden Lehrer sehr 
positiv aufgenommen wurden. Besonders Sonderschüler reagierten 
äußerst positiv auf die für sie völlig neuen Lernformen, da sie 
mit einer oft feststellbaren schulischen Unterforderung ihrer 
Lernbedürfnisse brachen, ohne an traumatische schulische Situa- 
tionen anzuknüpfen. Dieser Mobilisierung von Lernbereitschaft 
steht allerdings meist übermächtig die apathisierende Wirkung 
der trostlosen Lage auf dem Lehrstellenmarkt und die Perspektiv- 
losigkeit einer weiteren Verschulung entgegen. 


e Als Institution, die auch nach der Schulzeit noch im Stadtteil 
präsent ist, boten wir durch unsere Ansätze den Jugendlichen die 
Chance, den mit dem Zerfall der Klassengemeinschaft verbundenen 
Einbußen an sozialen Kontakten entgegenzuwirken. Das Bedürfnis 
zur Weiterführung der alten Beziehungen aus der Schulzeit war 
jedoch unterschiedlich, je nachdem wieweit die Klassengemeinschaft 
für den einzelnen Jugendlichen als Bezugspunkt überhaupt noch 
existiert oder schon vor Schulende als Zwangsgemeinschaft, die 
hoffentlich bald vorübergeht, empfunden worden. 


e Die verschiedenen Angebote der offenen Arbeit boten den Schülern 


zudem die Möglichkeit, neue Kontakte zu anderen Jugendlichen des 
Stadtteils aufzunehmen. 


Das erste Zeltlager im Sommer 1977 bedeutete eine qualitative Er- 
weiterung der Arbeit, Zielsetzungen des Zeltlagers waren u.a. die 
Integration der diversen Jugendlichencliquen und der Schüler aus 

den verschiedenen Schulen, die wir bis dahin im Rahmen unserer Arbeit 
erreicht hatten. Dazu schien uns besonders der Zwang und der Anreiz 
zur Selbstversorgung und -organisation geeignet, der dadurch gesetzt 
war, daß uns im Elsaß lediglich eine Wiese in einiger Entfernung 

vom nächsten Dorf zur Verfügung stand und somit alle Einrichtungen 
(Wasserleitungen, Latrinen, Sitzbänke in den Großzelten etc.) selbst 
gebaut werden mußten. Zur Vorbereitung wurden Arbeitsgruppen ein- 
gerichtet, und eine Gruppe von Teilnehmern und Teamern schuf als 
Vorhut die Basisstrukturen des Zeltlagers. Das Angebot eines aktiven 
und alternativen Urlaubs sollte zudem der Entwicklung neuer Arbeits- 
gruppen dienen. Schon die zahlenmäßig starke Resonanz von rund 

40 Teilnehmern aus den verschiedensten Bezugsgruppen des Projekts 
(in einer Altersspanne von 13 bis 19 Jahren) und die gemeinsamen 
Anforderungen und Möglichkeiten des Zeltlagers bestätigten diese 
Konzeption. Trotz der zutage getretenen Schwierigkeiten bei der 
Umsetzung des Selbstorganisationsanspruchs, trotz weitgehend feh- 
lender kollektiver Initiativen und einem Mangel an gemeinsamer 
Verantwortlichkeit bei den Jugendlichen, wurde die "Selbstorga- 
nisationszumutung" durchweg positiv aufgenommen, zumal sie mit 

sehr intensiven Kontakten zwischen den Jugendlichen, aber auch 

mit den Teamern verbunden war. 


108 


In der Aufarbeitung der Zeltlagererfahrungen (Ton-Dia-Schau, 
Super-8-Film, Broschüre) zeigten die Jugendlichen großes Engagement, 
das sich noch verstärkte, als es daran ging, die Räume zu renovieren 
und einzurichten, die uns seit November 1977 im Stadtteil zur Ver- 
fügung stehen. Seitdem tagen hier regelmäßig 4 bis 7 Arbeitsgruppen, 
an denen sich 35 bis 50 Jugendliche beteiligen. Außerdem wurde ein 
informeller Treff am Sonntagnachmittag eingerichtet, Zu dem sich 

15 bis 30 Jugendliche einfinden. Auf gelegentlichen Feten (Eröff- 
nung der Räume, Fasching etc.) erscheinen jeweils 60 bis 80 Ju- 
gendliche aus dem Stadtteil. Mit diesen Angeboten sind sozial- 
pädagogische Beratungsaufgaben (von Lehrstellensuche bis zur Jugend- 
gerichtshilfe) verknüpft, wofür das in der regelmäßigen Gruppenarbeit 
entstandene Vertrauensverhältnis zwischen Teamern und Teilnehmern 
eine wichtige Voraussetzung ist. 


Neue Impulse für die Arbeitsgruppenarbeit durch Workshopangebote 

(Foto, Siebdruck, Zeitung etc.) und die Auseinandersetzung mit 

interessanten sozialen und kulturellen Einrichtungen (vorbildliche 
Jugendhäuser, Gemeinschaftseinrichtungen in Wohnsiedlungen, "Christiania'etc.) 
waren das vorrangige Ziel des Zeltlagers 1978 in Dänemark, an dem 

mehr als 40 Jugendliche teilnahmen. Die starke Außenorientierung 

förderte auf der einen Seite zwar desintegrative Tendenzen, brachte 

auf der anderen Seite aber durchaus eine Menge an inhaltlichen An- 

regungen für die Jugendlichen, die wiederum in Film, Broschüre und 


Ton-Dia-Schau festgehalten bzw. in den Arbeitsgruppen aufgegriffen 
wurden. 


Bis Ende 1978 konnten wir etwa 200 Jugendliche ansprechen, etwa 

70 bis 80 davon in mehrmonatigen Arbeitsgruppen. Das Durchschnitts- 
alter liegt bei ungefähr 16 (in einer Spanne von 13 bis 2o Jahren). 
Etwa die Hälfte der Teilnehmer sind Schüler, teilweise in schulischen 
Angeboten der Arbeitsämter und Berufsschulen, ein Drittel jobbt 

oder hat eine Lehrstelle, 15 bis 20% der Jugendlichen sind arbeits- 


los. Einige der regelmäßigen Arbeitsgruppen seien hier kurz vor- 
gestellt: 


Wohngruppe 


Die Wohngruppe hat sich aus Anlaß immer wieder auftretender Schwierig- 
keiten von Jugendlichen in ihrem Elternhaus und dem Wunsch vieler 
Jugendlicher, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, zusammen- 
gefunden. Die konkrete Betroffenheit einzelner (Wohnungssuche, Wohn- 
geld etc.) führte dazu, die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten von 
Konflikten in elterlichen Wohnungen gemeinsam zu besprechen und 
darüberhinaus verschiedene Wohnformen-vom Alleinewohnen bis zur 
Wohngemeinschaft-näher zu betrachten. Möglichkeiten und spezifische 
Problemzonen der verschiedenen Wohnformen wurden durch Besuche, 
verknüpft mit Tonbandinterviews und Filmaufnahmen, einer kritischen 
Betrachtung unterzogen. Im Zentrum der aktuellen Gruppenarbeit 

steht die Produktion eines Filmes über die Wohnbedingungen von 
Jugendlichen am "Frankfurter Berg". 


109 





Stadt gefährlich 


rer 
r ì 


für Anfänger) 


hichte des Fahrrads 
24 
Impressun 2 


Alle Artikel wurden von Mitgliedern der Fahrradgruppe geschrieben. 


Fahrradgruppe "Arbeit und Leben", 6 Frankfurt/Main 50, Homburger 
Landstr. 407, z PoR 66 
Gedruckt auf 100% Recycling Papier, 





llo 


Fahrradgruppe 


Die Arbeit der Fahrradgruppe stellt den Versuch dar, sich am Bei- 
spiel des "Kommunalen Fahrrads'" mit menschenfreundlichen Verkehrs- 
formen zu beschäftigen. Ziel der ersten Phase war es, Fahrräder zu 
besorgen und herzurichten, die der Bevölkerung des "Frankfurter 
Bergs" zur freien Benutzung zur Verfügung gestellt werden sollen. 
Nach einem öffentlichen Aufruf konnten knapp 40 Fahrräder von Pri- 
vathaushalten eingesammelt werden, die dann in mehrmonatiger Arbeit 
zu 20 gebrauchsfähigen Fahrrädern zusammengebastelt wurden. 

Ende Oktober 1978 wurden diese dann der Stadtteilöffentlichkeit 
Übergeben. Die Aktion scheiterte. Mehr als die Hälfte der Fahrräder 
kam zwar zurück, fast alle waren jedoch mutwillig beschädigt oder 
als Ersatzteillager benutzt worden. Die Gruppe startete daraufhin 
eine Befragung im Stadtteil, um die Ursache des Scheiterns genauer 
herauszufinden. Die Ergebnisse dieser Befragung sollen auch darüber 
Aufschluß geben, ob durch konzeptionelle Veränderungen der Versuch 
neu gestartet werden kann (Verleihsystem). Gegenwärtig arbeitet sie 
an einer Broschüre über die Entwicklung des Projekts und die Ergeb- 
nisse der Befragung; darüber hinaus soll sie eine Reparaturanlei- 
tung für Fahrräder, als ein praktisches Ergebnis der eigenen Mühen 
enthalten. Außerdem ist eine Studienfahrt in eine Stadt (wahrschein- 


lich in Holland) mit einem funktionierenden Modell "Kommunales 
Fahrrad" vorgesehen. 


Mädchengruppe 


Die Mädchengruppe kam durch das Interesse von Mädchen zustande, ge 
meinsam über ihre spezifischen Schwierigkeiten als Mädchen zu sprechen, 
aber auch zusammen Sport zu treiben etc. Nach einer Anlaufphase, 

in der vor allem rollenspezifische Schwierigkeiten besprochen wur- 
den, beschäftigte sich die Gruppe besonders mit Fragen der Sexuali- 
tät, Beziehungsproblemen und frauenspezifischen Berufen. Zur Zeit 
versucht sie, die Rollenproblematik von Mädchen in ihrer Alltags- 

und Freizeitsituation aufzuarbeiten. Mit Hilfe von Rollenspielen, 
Foto, Collagen und anderen Medien werden dabei die Erfahrungen in 


Diskotheken, Cliquen und Freundeskreisen, am Arbeitsplatz etc. 
diskutiert. 





Energiegruppe 


Die Energiegruppe will-wie die Fahrradgruppe-alternative und men- 
schenfreundlichere Lebensbedingungen modellhaft untersuchen. Prak- 
tischer Anlaß war das erste Zeltlager im Elsaß, für das sie mit Hil- 
fe eines Sonnenkollektors über einen Wärmetauscher eine Warmwasser- 
dusche installieren wollte. Der erste Versuch scheiterte vor allem 
aufgrund der ungünstigen klimatischen Bedingungen während des Zelt- 
lagers, wurde aber nach einer längeren Winterpause auf dem Zelt- 
lager in Dänemark erfolgreich zu Ende gebracht. Mit Beginn der 
warmen Jahreszeit soll auch 1979 dieses Gruppenangebot weiterge- 
führt werden. Perspektiven sind die Anwendung der Erfahrungen mit 
dem Bau von Sonnenkollektoren für die Kleingärtner der Umgebung 
(Beheizung von Treibhäusern durch Sonnenenergie) oder die Unter- 
suchung von Energiesparmöglichkeiten in den kleinen Siedlungs- 
häusern am "Frankfurter Berg". 


111 


VON DER ARBEIT IM STADTTEIL ZUR STADTTEILARBEIT 


Soweit die Projektentwicklung bisher dargestellt wurde, handelt es 
sich im wesentlichen um pädagogische Arbeit mit Jugendlichen-kon- 
zentriert auf einen Stadtteil und dessen nähere Umgebung. In den 
einzelnen Gruppen haben sich zwar in unterschiedlicher Intensität 
stadtteilspezifische Initiativen entwickelt und im Laufe der Arbeit 
verstärkt (besonders bei der Fahrrad-und der Wohngruppe), meist blieb 
die Resonanz über den Kreis der aktiven Jugendlichen hinaus im Stadt- 
teil relativ gering. Um eine übergreifende Stadtteilarbeit anzugehen, 
aber auch aufgrund intensiver werdender Kontakte zu Eltern im Zu- 
sammenhang mit Konflikten, Beratungsproblemen u.a.m., wurde bereits 
im Herbst 1977 ein erstes Wochenendseminar für Eltern angeboten, 

das zu einer seitdem stabilen Elterngruppe führte-die durchschnitt- 
liche Beteiligung liegt bei neun Personen. Im Vordergrund der in- 
haltlichen Arbeit dieser Gruppe standen zunächst Konflikte, die 

sich aus dem Verhältnis zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern 
und den damit verbundenen Ablösungsprozessen ergeben. Es zeigte sich 
jedoch bald, daß zwar ein Bedürfnis bestand, über Erziehungsstile 

und verändertes Konfliktverhalten zu reden; der Ablösungsprozeß war 
aber meist schon soweit vollzogen, daß grundsätzliche Reflexionen 
über Erziehungsprozesse keinen praktischen Bezug mehr bekommen konnten, 
So standen in der Folge die Wohnsituation, soziale Isolation, Nach- 
barschaft, Freizeitwünsche und Erfahrungen am Arbeitsplatz der ein- 
zelnen Mitglieder der Gruppe-vorwiegend berufstätige Frauen-als ge- 
meinsame Bezugspunkte auf der Tagesordnung der Gruppensitzungen, die 
regelmäßig alle 14 Tage stattfinden und durch Wochenendseminare er- 
gänzt werden. Die Eltern selbst begannen nicht nur mehrere Initiativen 
zu gemeinsamen Veranstaltungen mit den Jugendlichen (Familienseminar, 
gemeinsame Feste), die Gruppe wollte auch ein Beratungsangebot ent- 
wickeln-verbunden mit einem Treff für Erwachsene des Stadtteils. 
Dafür erwies sich jedoch die Gruppenstruktur als wenig tragfähig, 
denn ein Großteil der Teilnehmer wohnt nicht unmittelbar am "Frank- 
furter Berg" sondern in der näheren Umgebung. Hinzu kommt, daß bei 
Erwachsenen aufgrund der meist wesentlich stärker ausgeprägten so- 
zialen Isolation die Offenheit gegenüber nicht-kommerziellen, kom- 
munikativen Angeboten wesentlich geringer ist. 


Nach dem Scheitern der ersten Treffangebote soll ein neuer Anlauf 
durch die Zusammenarbeit mit aktiven Mietern der Hochhaussiedlung 
versucht werden. Konkretes Angebot ist eine Studienfahrt nach Däne- 
mark, um u.a. die gleiche Wohnsiedlung zu besuchen, die auch schon 
von den Jugendlichen der Wohngruppe besichtigt wurde und dort Im- 
pulse für sinnvolle, von den Mietern selbstverwaltete Gemeinschafts- 
einrichtungen zu.erhalten. Dieser Versuch soll durch Kommunikations- 
und Beratungsangebote in den einzelnen Häusern der Hochhaussiedlung 
unterstützt werden, um Breschen in die Anonymität dieser Siedlung 
schlagen zu können. 


Ein weiterer Anstoß für gemeinsame Lernprozesse von Jugendlichen 

und Erwachsenen erhoffen wir uns durch ein Projekt, das auf eine 

an einzelnen Biographien und individuellen Erfahrungen orientierte 
Aufarbeitung der Siedlungs-und Stadtteilgeschichte des "Frankfur- 

ter Berg" abzielt, der seit 4o Jahren besteht. Geplant ist eine 
Ausstellung, die in Kooperation mit Vereinen und interessierten älteren 
Bewohnern, aber auch Jugendlichen aus der Wohngruppe realisiert wer- 
den soll, 





Ein dritter Ansatz liegt in der Erweiterung der Schülerarbeit. Mit 
der zentral im Stadtteil gelegenen Hauptschule sollen künftig schu- 
lische und außerschulische pädagogische Angebote bereits für die 
siebten Klassen gemacht werden, bei denen, soweit wie möglich, auch 
Eltern einbezogen werden sollen. 


POLITISCHE BILDUNG UND POLITISCHES LERNEN 


Im Rahmen dieses Paxisberichts und noch vor der Endauswertung dieses 
keineswegs abgeschlossenen Modellprojekts müssen einige vorläufige 
Bemerkungen über die spezifischen Lernsituationen und Lernchancen, 
sowie einige hervorstechende Erfahrungen in der bisherigen pädago- 
gischen Praxis genügen. Im gegebenen instituionellen Rahmen mußten 
sich-wie beschrieben-politische Bildungsversuche selbst blockieren. 
Stattdessen sollten jetzt in einer Kombination bekannter Bildungs- 
ansätze (Hauptschülerarbeit, Bildungsurlaub etc.) neue entstehen, 
die selbst in ihren politisch-pädagogischen Bedingungen und Möglich- 
keiten noch weitgehend unbekannt waren. 


Die spezifischen Strukturen des Projekts in seiner Kombination von 
Schülerarbeit, offenen Gruppenangeboten und regelmäßigen Arbeits- 
gruppen definieren somit bewußt geschaffene Lernsituationen, die 
keineswegs selbstverständlich sind und gerade durch ihr Zusammen- 
wirken an Bedeutung gewinnen. Trotz fehlender offener Jugendarbeit 
im Stadtteil haben wir versucht, die Grundstruktur zwar prinzipiell 
offener, aber kontinuierlicher Mitarbeit erfordernde, projektbe- 
zogene Gruppenarbeit im Stadtteil durchzuhalten. Von Seiten der 
Jugendlichen gab es durchaus auch andere Bedürfnisse, die die Pro- 
jektarbeit in Richtung offener Treff oder in einen preisgünstigen 
Reisedienst für Wochen-und Wochenendtouren verändert hätten. Somit 
liegt die wohl entscheidende pädagogische Erfahrung des Projekts 
im Aufzeigen der Möglichkeiten von längerfristiger inhaltlicher 
Gruppenarbeit, zu der ein relativ fester Kern von Jugendlichen kon- 
tinuierlich aus freien Stücken in seiner Freizeit erscheint. 


Die Inhalte dieser Gruppenarbeit, die in der Konzeption des Projekts 
bewußt offengehalten wurden, haben sich aus den Erfahrungen und Pro- 
blemen der Jugendlichen ergeben, für die sich gemeinsame Kommuni- 
kations-und Handlungsmöglichkeiten andeuteten. Beispiele sind Wohn- 
und Mädchengruppe. Dabei ist bezeichnend, daß die späteren Arbeits- 
inhalte dieser Gruppen zunächst als kurzfristige unmittelbare Ein- 
zelinteressen eingebracht wurden: Einige der älteren Jugendlichen 
waren dabei,von zu Hause auszuziehen oder hatten Konflikte mit ihren 
Eltern und wollten konkrete Hilfestellungen bei der Wohnungssuche. 
Einige der älteren Mädchen des ersten Zeltlagers wollten zusammen = 
ohne die befürchteten spöttischen Blicke oder übermächtigen Konkur- 
renzversuche der Jungen - Gymastik betreiben. Über die gemeinsame 
Beratungssituation und die Ansprache von weiteren Jugendlichen, sei 
es durch Mitarbeiter oder die Jugendlichen selbst, entwickelte sich 
ein Interesse an übergreifenden gemeinsamen Problemstellungen. (Was 
ändert sich eigentlich, wenn ich zu Hause ausziehe und dann alleine 
wohne, welche sozialen Hoffnungen gehen in diese Überlegungen ein, 
wie sind deren Realisierungschancen in verschiedenen Wohnformen und 
unter den spezifischen Bedingungen des Stadtteils?) Bei den Mädchen 
entwickelte sich aus den Freizeitansätzen schließlich ein Themen- 
spektrum, das sie lieber "unter Frauen" diskutieren wollten. 


diesen Arbeitsgruppen zunächst als Aneig- 


nung und Verallgemeinerung der individuellen Erfahrungen der Gruppenmit- 
glieder bestimmen, so erfolgte im weiteren Verlauf eine pädagogisch pro- 
vozierte bzw. organisierte Erweiterung in zumeist zwei Dimensionen. 
Inhaltlich wurden meist von den Mitarbeitern Lösungsmöglichkeiten 
eingebracht, die zunächst außerhalb des Horizonts der Jugendlichen 

zu liegen schienen (Jugendwohnkollektive, Wohngemeinschaften etc). 
Festgehalten wurde allerdings auch bei diesen phantasieanregenden 
Vorgaben am Prinzip der selbsttätigen Aneignung von Erfahrungen. 

Die Jugendlichen formulierten gemeinsam Fragen, die sie z.B. den 
Bewohnern eines Wohnkollektivs stellen wollten, stabilisierten sich 

so als Gruppe für einen Besuch und konnten dann im Gespräch ihre 
vorgängigen Einstellungen korrigieren oder bestätigen. Für dieses 
Überschreiten des eigenen Erfahrungshorizontes spielt die Aneignung 
von medialen Vermittlungsformen in den Gruppenprozessen eine be- 
deutende Rolle. Durch den Einsatz von Film, Video, Tonband, Rollen- 
spielen etc. wird sowohl der Druck direkter Kommunikation wie auch 

die Barriere gegenüber verbalen (oder gar geschriebenen) Vermittlungs- 
formen ein Stück weit zurückgenommen, ganz abgesehen von den nar- 
zißtischen und anderen motivationalen Ressourcen, die dabei mobi- 
lisiert werden. Der "Umweg" über die Medien scheint deshalb so vieles 
zu erleichtern, weil er sich auf eine zentrale Produktionsweise von 
sozialer Realität im Bewußtsein der Jugendlichen (durch Funk, Fern- 
sehen, Kino etc.) bezieht, sie aber dabei nicht-wie in ihrem Alltag 
sonst üblich-zu Konsumenten macht, sondern in die Rolle von Produ- 
zenten versetzt. 

Daß diese beiden Erweiterungsformen der eigenen Erfahrungsmöglichkeiten 
zugleich die Alltagserfahrungen der Jugendlichen nicht unberührt lassen, 
läßt sich an einem weiteren Beispiel aus der Wohngruppe illustrieren, 

wo beide Momente zusammenkommen. Um sich auf das Treffen mit dem 
Mieterbeirat der dänischen Wohnsiedlung vorzubereiten und auch etwas 
über den eigenen Stadtteil präsentieren zu können, hatten die Teil- 
nehmer zahlreiche Dias vom "Frankfurter Berg" gemacht ,wobei es sich 
durchweg eher um "schöne", ästhetisierende Aufnahmen handelte. Auch 

in den Vorgesprächen für diese Dia-Vorführung war von kritischer 

Distanz zu den eigenen Wohnbedingungen zunächst keine Spur. Aber 

zu unserer Überraschung formulierten die Teilnehmer äußerst kritische 
Kommentare zu den Bildern aus ihrem Wohngebiet, als sie nach dem Be- 
such der Wohnsiedlung mit den dänischen Gastgebern zusammensaßen. 

Die neuen Eindrücke hatten als Lernprovokation gewirkt. 


Läßt sich der Lernprozeß in 


eiten Typus von 
die zunächst 
en scheinen. 


Die Hoffnung auf solche Prozesse führte zu einem zw 
Arbeitsgruppen, die Projekte zum Gegenstand haben, 
jenseits des Erfahrungshorizonts der Jugendlichen zu lieg 
Daß sich ausgerechnet drei Sonderschüler am intensivsten beim Bau 
eines Sonnenkollektors beteiligen, etwas was ihr Bedürfnis nach 
Handwerkelei, nach Umgang mit Holz und Metall befriedigt, scheint 
Ergebnis eines pädagogischen Tricks, bei dem die Absichten der 
pädagogen zu Schanden gehen müssen. Es drängt sich leicht der Ver- 
dacht auf, daß die umwelt-und energiebewußten Mitarbeiter das 
Bastelinteresse der Teilnehmer funktionalisieren. Bei den wochen- 
langen handwerklichen Arbeiten werden nicht nur physikalische Kennt- 
nisse vermittelt; die Eltern und die anderen Jugendlichen fragen 
nach dem Sinn der Tätigkeit. Schließlich entsteht ein Erfolgsdruck, 
ob das Gerät nun auch wirklich funktioniert. All das im Kampf 

gegen die eigenen Zweifel. Die Auseinandersetzung mit einem 


nichtkonventionellen Projekt (bezogen auf den sozialen Kontext der 
Jugendlichen),schafft, wenn es nur in Ansätzen gelingt, eine Lern- 
bereitschaft und eine soziale Bestätigung, die sicherlich nicht auf 
die Energieproblematik eingegrenzt bleiben muß. Selbst wenn diese 
kaum vermittelt werden kann, bleibt den Teilnehmern die Erfahrung, 
etwas ebenso Kompliziertes wie Nützliches produziert zu haben (die 


warme Dusche auf dem Zeltplatz). 


Vergleichbare Prozesse spielten sich bei der Fahrradgruppe ab, für 
die die Idee des "kommunalen Fahrrads" zunächst auch völlig fremd 
war, auch wenn sich eine Anzahl von jüngeren Jugendlichen-trotz 
aller Skepsis gegenüber Sinn und Erfolg des Projekts-gewinnen ließen. 
Triebkraft war auch hier in erster Linie das Bastelinteresse an 
Fahrrädern-dem Hauptverkehrsmittel für diese Jugendlichen. Trotz- 
dem wurde die Ernsthaftigkeit des Projekts von Anfang an für die 
Teilnehmer deutlich, da es stark öffentlichkeitsbezogen angegangen 
wurde. Nach der ersten Pressemitteilung forderte die Presse in 
teilweise längeren Artikeln zur Unterstützung des Versuchs durch 

die Spende von alten Fahrrädern auf, die schließlich von der Gruppe 
bei den Leuten abgeholt wurden. Die Bekräftigung des Projektziels 
durch die Medienöffentlichkeit wirkte sich stabilisierend für die 
Arbeit der Gruppe aus; die Idee wurde schließlich gut befunden, wenn 
auch die Zweifel am konkreten Erfolg der Aktion blieben. Selbst als 
der erste Startversuch scheiterte, blieb die Bereitschaft zur Auf- 
arbeitung der Ursachen und zu einem neuen Start. Dieser ist wieder 
über die Presse vermittelt, allerdings haben dieses Mal schon die 
Jugendlichen die Pressekonferenz abgehalten und drangen darauf, daß 
ihre Namen in der Zeitung erscheinen. 


Sie konnten und wollten die Projektidee trotz der gerade bestätigten 
Skepsis nun selber vertreten. Auch hier lief der Lernprozeß der 
Gruppe nicht etwa über eine Kritik des Autoverkehrs und seine Folgen 
für die Wohnbedingungen, sondern über ein weitgestecktes Projektziel, 
das indirekt Lernprozesse in Gang setzt, wenn man sich erst darauf 


eingelassen hat. 


Im letzten Beispiel wird zudem eine andere Dimension der Alltags“ 
orientierung des Projekts deutlich. Die Arbeitsgruppenarbeit ist 
nicht auf private Zirkel, sondern auf Öffentlichkeit angelegt, zu” 
nächst die der anderen Jugendlichen des Projekts, dann des Stadt- 
teils und schließlich der lokalen Presse. Derartige Gruppenprozesse 
bedeuten implizit einen stärkeren Legitimationsdruck, d.h. auch den 
Zwang, zu den eigenen Unternehmungen zu stehen, sich damit auseinan- 
derzusetzen. Dies nimmt den Arbeitsgruppen den unverbindlichen und 
bliebigen Charakter von bloßer Beschäftigungstherapie. Gleichzeitig 
verlieren diese Öffentlichkeitsbereiche ansatzweise ihren abge- 
hobenen Herrschaftscharakter. Sie werden in kleinen Schritten an= , 
geeignet, wenn der Übergang von einer demonstrativen Projektöffentlich- 
keit zur Veröffentlichung von einzelnen Projektansätzen der und durch 


die Jugendlichen gelingt. 


einer Lern- 
zahlreiche 
ihre Probleme 


Gruppenarbeit wird für die Jugendlichen jedoch nur zu 
situation, mit der sie produktiv umgehen können, wenn 
Bedingungen, die sich besonders auf ihre Bedürfnisse, 
und Situationsdeutungen beziehen, durch die Strukturierung jeder 

einzelnen Sitzung erfüllt werden. Sie lassen sich am ehesten beschreiben, 





wenn benannt wird, was Gruppensitzungen jenseits der namensstiften- 
den Inhalte und der damit verknüpften vielfältigen praktischen Be- 
tätigungsmöglichkeiten auch sind: 


Sie sind ein in den eigenen Alltag eingebetteter Treffpunkt mit an- 
deren Jugendlichen. Hier gibt es einen regen Austausch über den 
täglichen Ärger, die Möglichkeit sich für gemeinsame Aktionen, für 

die Kneipe etc. zu verabreden. Hier werden auch Lehrstellen unter- 
einander "vermittelt", die Schüler bekommen Tips für das Einstellungs- 
gespräch von den älteren Lehrlingen etc. Dieses Interesse kann Flauten 
der inhaltlichen Arbeit ebenso überstehen helfen, wie auch die Gruppen- 
arbeit eine-im Vergleich zur Situation im Jugendhaus oder in der 
Clique-größere Legitimität und Verbindlichkeit der gemeinsamen Treffs 
entstehen läßt, zumal gemeinsame Essen und Wochenendsminare intensivere 
Kontakte zulassen als die meisten Alltagssituationen. 


Die Mitarbeiter werden oft zu stabilen Orientierungspunkten für die 
Jugendlichen, werden ins Vertrauen gezogen, um Rat in kritischen 
Situationen gefragt-ein Prozeß, der an Qualität und Dichte gewinnen 
kann, da er sich teilweise über Jahre erstreckt. Anders als in den 
meisten Lernsituationen haben die Teamer in der Arbeitsgruppensituation 
den Vorzug, bei bewußt lockerem Arbeitsstil von institutionellen 
Zwängen (wie sie sich z.B. schon aus den räumlichen und zeitlichen 
Bedingungen von seminaristischer Arbeit ergeben) relativ befreit zu 
sein und sich damit auch stärker auf die Motivationsstruktur und den 
Alltag der Teilnehmer in ihren aktuellen Veränderungen beziehen zu 
können. 


Neben den positiven Erfahrungen mit dem Arbeitsgruppenansatz sind 
vor allem die integrativen Ansätze hervorzuheben. Besonders geeig- 
net war der Ansatz des ersten Zeltlagers, wo sich über die not- 
wendigen Arbeitsprozesse völlig unterschiedliche, teilweise mit 
wechselseitigen Vorurteilen belastete Gruppen von Jugendlichen 
zusammenfanden. Vor allem für die jüngeren und mit Diskriminierungs- 
erfahrungen belasteten Jugendlichen (z.B. Sonderschüler) ergaben 
sich durch das Zusammensein mit den "Erwachsenen" eine Fülle von 
Bestätigungsmöglichkeiten und Lernchancen, verstärkt durch die vom 
Team praktizierte und durchgesetzte Gleichbehandlung der Teilneh- 
mer und Arbeitsansätze, die keine neuen Ausgrenzungen produzierten 
oder bestehende auflockerten. Perspektivisch bedeutsam dürfte zu- 
sätzlich gewesen sein, Jugendliche kennenzulernen, die auch im 
Stadtteil erreichbar sind. 


Die Verdichtung der Kommunikation unter den Jugendlichen durch die 
Projektangebote führte in der praktischen Arbeit im Stadtteil zu 
gegenläufigen Prozessen. Zum einen beteiligte sich phasenweise 
nahezu ein komplette Freizeitclique von 40 bis 50 Jugendlichen 

in irgendeiner Weise an unseren Angeboten und es herrschte der 
Eindruck vor, daß diese Cliquen sich dadurch stabilisieren, neue 
Impulse erhalten. Auf der anderen Seite öffnete die Projektarbeit 
diese Cliquen, ermöglichte Jugendlichen den Zugang, strukturierte 
sie damit teilweise um oder stellte sie implizit in Frage, wo sie 
lediglich als konsumorientierte Freizeitgruppen am Wochenende 
funktionierten. 


116 


Im Verhältnis zu den weitgesteckten Zielsetzungen des Projekts 
scheinen die hier beschriebenen Lernprozesse und Entwicklungen 

weit zurückzubleiben. Wir haben trotzdem den Findruck, daß die 
ursprünglichen Perspektiven im Prinzip gangbar sind, wenn auch 

nach drei Jahren Praxis der Zeitraum der Realisierung wesentlich 
länger erscheint als ursprünglich angenommen. Die bewußten Wahr- 
nehmungen von Lebensbedingungen im Stadtteil, in der Arbeit und 

im Elternhaus ist ein langwieriger Lernprozeß, in dem die Natur- 
wüchsigkeit der eigenen Lebensbedingungen schwindet und diese all- 
mählich machbar und veränderbar erscheinen. Dieser Aneignungsprozeß 
ist tief in die eigene Identitätsbildung eingebettet und nicht durch 
pädagogische Curricula planbar. Mit dem Projekt wurden jedoch Rahmen- 
bedingungen geschaffen, die als Lernsituationen im Alltag diese Per- 
spektive begünstigen. Das Maß an Selbstbewußtsein und Selbständigkeit, 
das sich ein Teil der im Projekt engagierten Jugendlichen erworben 
hat, lassen perspektivisch die Hoffnungen auf eine eigenständige 
Weiterführung einiger Projektansätze zu, wenn auch gegenwärtig ohne 
letzte Gewißheit. Immerhin gibt es seit Ende 1980 einen von den Ju- 
gendlichen getragenen gemeinnützigen Verein, der-unabhängig von 
"Arbeit und Leben'"-demnächst eine Stadtteilzeitung herausgeben will. 


GROSSES FAHRRADHIN- 
DERNISRENNEN DER 
| „STADT KRUX HEIM om26 7. 


Br 












EIN PRIMA RENNEN Ä 
MN PER SCHWEREN 
FORT MAL \ NACH AUSSCHEIDIEN 

von HM. TRITT, DEM Ass, 


Sc 
Sneu Ge = FÜHRT JETZT k. LUFT! 
IL, 


HER 








7 


SEIT DER GELUNGENEN SYNTHESE von RADREUDEV OND IWDIVIDUALVERKEHR GEWINNT 
DAS RADFAHREN AUCH BEI UNS IMMER MEHR INTERESSE. FAHRRADFAHREN IST ENDUCH 
EIN ABENTELER WAS DEDEN FASZIVIEREV WIRD. DEDER HAT DEN WUlSch 

SICH DIESER LeRENSAUFFARE VOLL Zu WIDMEV. FAHRRAD LUD AUTO SIUD 

SOW VV2ZERTREDVLICHEVERKEHRSUITTEL. 


INFORMATIONSDIENST 
GESUNDHEITSWESEN 


KRITIK 
DER 
PSYCHOSOZIALEN VERSORGUNG 


Ausserdem: Zum Tode von Franco Basaglia è 
Sozialhilfe-Aktion — 2. Runde e Termine und Hinweise 


Offenbach /Stuttgart, im November 1980 
Doppelnummer - Preis DM 6,- 





Rolf Schwendter 


OKOLOGIE, SOZIALARBEIT, ARBEITSFELDER 
— Einige deprimierte Notate — 


1. Lange habe ich gezögert, diesen Arbeitsauftrag doch noch zu er- 
füllen. Eine Organisation in der Krise, die zudem weit über diese 
Organisation hinausgreift: nicht gerade sehr motivierend für eine 
Niederschrift, deren heimliches Curriculum die konstruktive Erweite- 
rung der Organisation sein sollte. 

Zumindest wollte ich die Ergebnisse der Marburger Arbeitsgruppenta- 
gung abwarten - wozu über etwas schreiben, was ohnehin schon abge- 
schafft sein könnte? (In einer kleinen Organisation ist Abschaffen 
immer leicht). 


2. Ich schreibe also für eine Publikation im Umkreis des SB über et- 
was, das es dort organisiert nicht gibt. Es gibt kein "Arbeitsfeld 
Ökologie", das mit dem Arbeitsfeld Sozialarbeit in einen vereinbarten 
Diskurs treten könnte, wie sich die beiden Gegenstände ineinander ver- 
mitteln. Aus der Logik des SB heraus wohl, weil es keine Interessen 
an Ökologie gäbe, die sich organisieren könnten. 


3. Denn, seinem Anspruch nach, orientiert sich das Sozialistische Büro 
immer noch am seinerzeitigen Aufsatz von Oskar Negt " Nicht nach 
Köpfen, sondern nach Interessen organisieren". Dieser Aufsatz war 

zur Zeit seiner Entstehung der zeitgenössischen Organisationsdebatte 
weit voraus; zu befürchten ist, daß dies acht Jahre später, noch 3 
immer gilt. Und zwar einschließlich des Sozialistischen Büros, soweit 
sich dies an dessen stattgefundener Geschichte ablesen lässt. 


4. Der genannte Aufsatz hatte sehr viele Vorzüge und einen Fehler. 
Zu den Vorzügen zählten: 


© Die Erkenntnis, daß mit Notwendigkeit Sozialisten der Siebziger- 
jahre aus einer Vielfalt von Begründungen, Interessen, Bedürfnissen, 
Verletzungen etc. heraus die Unverträglichkeit der bestehenden Gesell- 
schaftsordnung erkannt haben (eine Vielfalt, die selbst aus der | 
ständig wachsenden Heterogenität der nicht-bürgerlichen Klassenstro” 
mungen entspringt). 


© Die entsprechende Erkenntnis, daß es folglich hinsichtlich der Or- 
ganisierung von Sozialisten keine andere Möglichkeit gäbe, als bei 
den je zutreffenden Momenten dieser Vielfalt anzusetzen, und den Weg 
zu folgen, der diese Momente mit Notwendigkeit in den Zusammenhang 
einer Totalität stellt. 


© Die implizite Aufforderung an alle dem SB nahestehenden/angehörigen 
Sozialist(inn)en, sich darüber klarzuwerden, worin denn diese spezi- 
fischen Interessen an gesellschaftlicher Veränderung bestünden. 


5, Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich 1973 hinsetzte, und 
meine Interessen auf ein Blatt Papier niederschrieb. Ich kam auf unge- 


119 


fähr 18 Stück; ich krieg sie jetzt sicher nicht mehr alle hin: gut 
essen; kein Berufsverbot bekommen/nicht arbeitslos sein; in Frieden 
leben; eine angenehme Wohnung (ohne Beton etc.) zu erträglichen Prei- 
sen mieten können; sich mit Hilfe von öffentlichen Verkehrsmitteln 
bewegen; mit Frauen sexuelle Beziehungen haben; in gesunder Umwelt 
leben; gesund bleiben und im Falle der Krankheit keine Ärzte bean- 
spruchen müssen; die Irrenhäuser abschaffen; kritische Musik machen; 
Zeit für Theoriearbeit haben; und wie gesagt, noch einiges mehr. 

Das heißt,ich hätte, bei bloß 2 Wochenstunden pro Interesse, allein 
36 Stunden zur Organisierung derselben aufzuwenden gehabt. 


6. Und hierin lag der Fehler des Negt-Aufsatzes: es gab nicht die ge- 
ringste Andeutung eines Kriteriums gemäß welchen zeitökonomischen 
Präferenzen die Organisierung nach Interessen erfolgen könnte. 

Dies setzte sich in der Diskussion fort. 

Es gab folglich letztlich 2 (widersprüchliche) Möglichkeiten: 
entweder von einer Pluralität, gar einer "Flut" (Theweleit) von In- 
teressen auszugehen, die ihre Präferenzen relativ rasch wandeln, und 
sich demgemäß (auch evt. rasch flukturierend) zu organisieren. 

Das taten die verschiedenen Spontis, Umweltgruppen, Frauenzentren, 
Psychogruppen (die 1973 noch gelegentlich "Emanzipationsgruppen" 
hießen) - die dann auch entsprechend bald (abgesehen von Punktuellem) 
wenig mit dem SB im Sinne hatten. Oder ein einziges, jahrelang fixes, 
präferierendes Interesse zu unterstellen, das letztlich wieder auf 
die Organisierung eines Kopfes, vermittelt über ein Interesse, hin- 
auslief. Dies geschah, in Etappen, im SB. 


7. Der (zunächst und implizite) Zwang, sich in einer relativ kleinen 
Organisation (in der die Variationsbreiten eines Charles Fourier 
schon von der Zahl her auf lokaler Ebene nicht gegeben war) nach Ar- 
beitsfeldern zu organisieren, führte zunächst zu den zwei Wegen des 
geringsten Widerstandes: die Abstraktion als Gegenstand, oder der 
(auch zukünftige) Beruf als Gegenstand. 

Da das erstere womöglich noch unbefriedigender war (in Heidelberg z.B. 
gab es für kurze Zeit ein "Arbeitsfeld Emanzipation"), reduzierte es 
sich in kurzer Zeit auf das zweitere. Was zu der Erscheinung führte, 
die früh und folgenlos als Syndikalisierung der Arbeitsfelder be- 
klagt worden ist. 


8. Es entstanden als die "klassischen" Arbeitsfelder: Betrieb/Gewerk- 
schaften, Schule, Sozialarbeit, Gesundheitswesen, Bildungsarbeit, 
später Kirche und Antimilitarismus. Es entstanden eine Reihe von Ar- 
beitsfeldern nicht: Wissenschaftsarbeiter, Studenten/Hochschule, 
Medienarbeit. Der Rest blieb außen vor. 

Das Ergebnis war ein mehrfaches: Zum einen die teils explizite, teils 
implizite Ausgrenzung aller Sozialisten, deren hierin nicht enthaltene 
Interessen gerade die Präferenz derjenigen hatten. 

Zum zweiten ein Eindringen der Abstraktion vom Interesse in die Ar- 
beitsfelder selbst( Bitte mir den Genossen zu zeigen, der am Betrieb 
an sich interessiert ist!) 

Zum dritten führte beides zu einer zunehmenden Beliebigkeit, verstärkt 
von lokalen Zufälligkeiten, in der Zuordnung zu Arbeitsfeldern. 

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis jedes bestimmte, jedes be- 
sondere Interesse ausgelöscht war. 


120 


9. Um die historische Beschreibung zur Struktur zurückzuvermitteln, 
drückte die genannte Entwicklung aus: 


® den jedenfalls quantitativ geänderten Stellenwert der lohnabhängigen 
Kopfarbeit (und den daraus entspringenden Doppelcharakter, siehe hof- 
fentlich unten); 


© den Widerspruch zwischen der traditionell (mit guten Gründen) er- 
folgten Produktionsorientierung von Sozialist(inn)en und der zuneh- 
menden Obsoletheit bürgerlicher Produktion selbst; 


© die Unklarheit der Vergesellschaftungsformen lohnabhängiger Kopf- 
arbeit. ; 


10. Ich halte es für verdienstvoll, daß im SB im Zuge der Ökologie- 
Debatte (etwa Kritik an Otto Ulrich, der in Umkehr einer ebenfalls 
älteren Tradition dazu neigt, Marx mit Kautsky zu verwechseln) wieder 
begonnen worden ist, auf den Begriff der "Vergesellschaftung' zu re- 
flektieren. Nur besteht die Gefahr, daß die "Vergesellschaftung" die 
nächste fetischisierbare Abstraktion wird, wenn nicht im einzelnen 
untersucht wird, wie sie in den jeweiligen Produktionseinheiten, 
Branchen, Berufen erfolgt. Hinsichtlich der lohnabhängigen Kopfarbeit 
ist etwa zu sagen, daß in ihrem Rahmen die ganze Reichweite von der 
dritten reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital (z.B. Tech- 
niker, die nach EDV-Vorlagen zeichnen) bis zur gleichsam unabhängigen 
Privatarbeit (z.B. Schriftsteller) vorhanden ist. 


11. Die meisten im Umkreis des SB organisierten lohnabhängigen Kopf- 
arbeiter befinden sich da irgendwo zwischendrin. Im allgemeinen sind 
sie weder so sehr durch eine ihnen äußerliche Maschinerie fremdbe- 
stimmt (oder wie ich immer die Analogie nennen soll: als Staatsar- 
beiter z.B. sind sie nicht unter das Kapital subsumiert), daß unver- 
mittelte Auflehnung und Apathie die Folge wäre. Noch arbeiten sie ge- 
meinhin so unabhängig, daß sie sich ein bestimmtes Bild solidarischer 
Kooperation machen könnten, aus dem sich auch eine planvolle Strate- 
gie ergeben könnte. Ihr Arbeitsplatz (sofern vorhanden) ist einer 
ihrer Interessen, aber eben e i ne r ihrer Interessen, 


12. Daraus ergibt sich auch, daß ich eines der meistgenannten Argu- 
mente gegen die Arbeitsfeldstruktur (das seinerseits bereits unhinter- 
fragt von der Syndikalisierung ausgeht) für pure Mythenbildung halte: 
Daß diese ihr Entstehen Reformillusionen zu verdanken gehabt hätte, 
und mithin, mit dem Ende der Reformeuphorien, überflüssig/überfällig 
geworden sei. 

Nun will ich keineswegs in Abrede stellen, daß es hier ein Nord-Süd- 
Gefälle gegeben haben mag: im Hessen Oswald/Friedeburgs oder in 
Berlin konnten sicher Reformillusionen eher aufkommen, als dies schon 
1973 in Bayern oder Baden-Württenberg der Fall war. Dies war keine 
Spezialität des SB, dies gab es anderswo auch( etwa im BdWi, wo sei- 
tens der aus sozialliberal regierten Ländern kommenden Mehrheit auf 
Probleme, die Süd-Mitglieder z.B. mit dem BuFW hatten, mit völliger 
Verständnislosigkeit reagiert wurde). Aber dies trifft, meine ich, 
nicht den Kern. Die meisten lokalen Arbeitsfelder waren garnicht in 
der Lage dazu, ihre Praxis aus Reformillusionen zu speisen, weil sie 
hinlänglich mit den Problemen ihrer eigenen Vergesellschaftung befaßt 


121 


waren, und das auf dem kleinsten Nenner der sie übergreifenden Ab- 
straktion (z.B. "Schule"). Nicht selten ein zusammengewürfelter Hau- 
fen auf der Suche nach seinem Gegenstand, war es kaum möglich, von 
einer auch nur syndikalistischen Organisierung zu sprechen, geschweige 


denn von einer Organisierung nach Interessen. 


13. Das Sinnbild syndikalistischer Organisation ist jene Skizze, die 
die Industrial Workers of the World "Vater Hagertys Glücksrad' nan- 
nten (ein Abglanz findet sich in manchen Rätemodellen nach der No- 
vemberrevolution). Hier sind in Radform alle arbeitenden Branchen 
angeordnet, die Gebrauchswerte für die Gesellschaft beitragen, und 

- vorweggenommen in den IWW, später auch in der sozialistischen Ge- 
sellschaft - auch sich entsprechend selbstverwalten. 

Sehen wir uns das'Glücksrad' des SB an, wird uns auffallen, daß eine 
Menge Speichen fehlen. Der handarbeitende Bereich hieß schlicht "Ar- 
beitsfeld Betrieb und Gewerkschaft" (mich wundert es bis heute, daß 
nie jemand/jefraud auf die Idee kam, Arbeitsfelder Metall, Energie, 
Chemie, Post anzuregen), während im kopfarbeitenden Bereich die oben- 
genannten Speichen vorhanden waren, oder auch nicht. Mag sein, daß 
dies mit der zugenommen habenden Austauschbarkeit in der materiellen 
Produktion zusammenhing; doch war diese im intellektuellen Bereich 
auch nicht gerade ohne. So weiß ich bis heute nicht (über meine In- 
teressen siehe oben), ob ich "eigentlich" zu den (nicht - mehr - vor- 
handenen) Wissenschaftsarbeitern, Medienarbeitern, Lehrern (GEW! ob- 
wohl die Hochschule hier auch eher das 8.Rad am Wagen bildet), Sozial- 
arbeitern oder Gesundheitsarbeitern gehöre. (Daß ich sowohl in Heidel- 
berg als auch in Kassel bei den letzteren gelandet war, verdankt sich 
jeweils eher einer Reihe von Zufällen). Mit Interesse lese ich, daß 
nunmehr an eine Art Super-Arbeitsfeld Schule - Sozialarbeit - Gesund- 
heitswesen - Bildungsarbeit gedacht wird: hier wird der zunehmenden 
Austauschbarkeit des lohnabhängigen Kopfarbeiters Rechnung getragen, 
wenngleich um den Preis einer noch weiteren Abstraktion von den 


"organisationsfähigen Interessen". 


14. Kaum war eine (unterschiedlich provisorische) Vergesellschaftung 
im Rahmen der syndikalistischen Verkürzung der Arbeitsfelder erfolgt, 
gab es auch schon eine doppelte Bewegung: zum einen der wiederholte 
(und in Göttingen halbwegs geglückte) Versuch, nun auch noch diese 
Arbeitsfelder (jedenfalls lokal) halbwegs absterben zu lassen, um 

im SB zu einer noch weitergehenden Abstraktion voranschreiten zu 
können. Zum anderen die Leute, die sich nun in der Tat nach Interes- 
sen organisierten, in Bürgerinitiativen, Frauen-, Männer-,Schwulen- 
gruppen, alternativen Projekten etc.. Die taten dies aber nun außer- 


halb des SB. 


15. Oskar Negt und Alexander Kluge haben einmal über die "Lagermentali- 
tät" der historischen Arbeiterparteien geschrieben und ihren Doppel- 
charakter (als Bündnishindernis und als "Heimat') herausgearbeitet. 
1976 - 1978 befand ich mich in der genau konträren Situation: nichts, 
was mit meinen unter 5. genannten Interessen zu tun hatte, hatte noch 
mit dem SB zu tun; nichts, worin ich mit dem SB zu tun hatte, hatte, 
außer in höchst vermittelter, sporadischer und abstrakter Form, noch 
mit meinen Interessen zu tun. Von Ausnahmen abgesehen (z.B. Russell- 
Veranstaltungen; Bloch-Tage; lokales Arbeitsfeld Gesundheitswesen - 

in dem ich das einzige SB-Einzelmitglied bin! -; AG-Tagung "Politische 
Sozialisation"), hat sich bis heute nicht viel daran geändert. 


Statt Lagermentalität: Stranger in a strange land. 


war ich in Kassel 


zu illustrieren, 
der seiner- 


16. In den gleichen Jahren, um 14. 
der Stadtzeitung, 


an den Gründungen der Sozialtherapie, 

zeitigen AG "Kunst und Medien" (hieran schloß sich der Aufruf für das 
Arbeitsfeld Medien, der mir zwei Zuschriften und eine ironische Glos- 
se der Marxistischen Gruppe in den "Resultaten 2/7 " einbrachte), der 
Freien Internationalen Universität im Kommunikationszentrum Werkstatt, 
des Netzwerkes Selbsthilfe und des Regionalbüros der AG SPAK betei- 
ligt. Als mir noch, bei gegebenem Anlaß, angeheischt wurde, auch noch 
eine alternative Schule zu gründen, langte es mir. Hier hätte ich eine 
Organisation brauchen können, in der eine übergreifende Organisierung 
nach Interessen stattfindet. Gab's aber nicht. 


in individuelles Pro- 

B verließen 

SB nicht nur 

n Tabu darstellt), 


les sei me 
Dieter Duhm das 5 
daß Sexualität im 


17. Zunächst dachte ich noch, dies al 
blem. Als 1976 Aike Blechschmidt und 
(letztlich eine Folge der Tatsache, 
als nicht organisationsfähig gilt, sondern weithin ei 
dachte ich, es sei auch noch das individuelle Problem anderer. 
Skeptisch wurde ich, als ich erfuhr, es gäbe eine Männergrupp®» die 
zwar selbstverständlich kein Arbeitsfeld im lokalen SB sei, aber aus- 
schließlich aus SB-Mitgliedern bestünde. Vollends überzeugt von der 
Richtigkeit meiner Position wurde ich, als ich eine Art Erhebung las, 
wo nun überall die einzelnen SB-Leute tatsächlich politisch tätig 
sind: das war ein Panorama der Organisierung n n ohne 


: s wa ach Interesse 
syndikalistische Verkürzung, nur halt,leider, ohne Organisation. 


18. In diesem skizzierten Raum, bestimmt durch immer engere Abstrak- 
immer weitergehenden Fragmentierungen auf 


tionen auf der einen Seite, 

der anderen, prallen nun Ökologie und Sozialarbeit aufeinander. 
Ökologie steht nun für das Ganze, gleichwohl konkretisiert in der Not- 
wendigkeit von Dezentralisierung und Selbstregulierung - also eine 

für die bestehende Gesellschaft vollends realutopische Konstellation. 
Sozialarbeit ist eine spezifische Form der Trennung, ausgeübt von 
Experten an Personen, welchen die "eigenen Wesenskräfte" ("forces 


propres") bereits soweit enteignet worden sind, daß sie dieser Ex 
perten bedürfen. Käme der Begriff von Ökologie zu seiner Wirklichkeit, 


gäbe es keine Sozialarbeit mehr. 


19. Erschwert wird die Lage dadurch, daß Ökologie wie Sozialarbeit 
Produkte der lohnabhängigen Intelligenz einschließlich ihrer litera- 
e Tochter 


Ökologie ist nicht zufällig ein c 
Haeckel und Bogdanow, nicht erst bel 
Totalität auf System zu reduzieren, 


selbstredend mit den passenden Systemingenieuren (auch wenn sie als 
Priester der Wahrheit und Schönheit verkleidet sind). 3 
Die Sozialarbeit wiederum tritt ebensowenig zufällig auf, wenn die 

Arbeiterbewegung eine Niederlage erlitten hat: das Elberfelder Modell 


nach 1848; in der Weimarer Republik; nach dem New Deal etc. ~ wieder” 
um mit den passenden Helfern. In einem Sozialismus, der den Namen 
"ökologie" 


verdiente, weswegen er noch lange nicht real ist, wäre 
schadlose Produktion und "Sozialarbeit" gegenseitige Hilfe. 


20. Oben habe ich erwähnt, daß den bestehenden Bewegungen (wie das 

SB als Moment dieser) der Widerspruch zwischen traditionell erfolgter 
Produktionsorientierung und zunehmender Obsoletheit bürgerlicher 
Produktion selbst zu schaffen macht. In Vater Hagertys Glücksrad 


rischen Vertreter sind. Die 
des Monismus, die schon bei 
Meadows, eine Neigung verspürt, 


123 


mußte nur noch die bestehende Produktion in Räteform gebraucht wer- 
den; bei Fourier, Marx, Engels, Bebel, Ballod, Popper-Lynkeus,Kropotkin 
spielt die Produktionskritik eine nicht so bedeutende Rolle. 
Allenfalls die Produktion von Waffen, Alkohol, Tabak wird hinterfragt, 
der Stellenwert der Luxusproduktion, und, umfassender, als es das 
Gerücht meldet, vermeidbare ökologische Folgen. (Die sozialistische 
Ökologiediskussion etwa von Fourier über Bebels Plädoyer für die 
Sonnenenergie bis hin zu etwa 1914 zählt überhaupt zu dem, was 

J.E. Seiffert einen "unterdrückten Bildungsinhalt'" nennen würde). 
Derzeit sind wir glücklich so weit, daß es kaum noch ein Produkt gibt, 
bei dem nicht in Frage gestellt werden kann, daß, oder wie, es pro- 
duziert wird. 


21. Solcherarts gerät der Begriff der Produktion in das Zentrum der 
Überlegungen. Schon Rosdolsky hat an Hilferding die Reduktion des 
Gebrauchswerts auf das Wort von "Warenkunde" kritisiert: jedoch 

nicht einmal der letztere Anspruch wird erfüllt, wo doch, indem alles 
zur Ware geworden ist, die "Warenhunde'" die Totalität alles dessen 
beinhaltet, was nicht von der Wertformanalyse impliziert ist. 

Das Problem der Ökologie stellt sich dort, wo sich das Problem der 
Produktion stellt: die Produzenten produzieren gleichzeitig Güter, 
Schäden, und Güter, die Schäden sind. Das Problem der Ökologie ist 
das der "zweiten Natur": eine "ökologische Nische" (im buchstäblichen 
Sinne) ist eine, in der nicht produziert wird. Gleichzeitig wird 

(ich verkürze) zum Problem der Sozialarbeit die Produktion von Sozial- 
isation, wie im "Jahrbuch der Sozialarbeit II" von Barabas u.a. 
detailliert herausgearbeitet wurde. Wieder könnten wir pointieren: 
die Produzenten produzieren gleichzeitig die Aneignung der "eigenen 
Wesenskräfte" ihre Enteignung, und ihre scheinhafte Aneignung, die 
real eine Enteignung des "Klientel" darstellt. (Weitere Bestimmungen 
wären mühelos auszumachen; dies würde den Rahmen dieser Notate 
sprengen). 


22. Daß unter den bestehenden Bedingungen tendenziell alles zur 
Produktion wird (Produktion von Beziehungen; von Kreativität; Sexuali- 
tät als geistige und als körperliche Arbeit; Produktion der "lebend- 
igen Mitte"(R. zur Lippe) etc.), hat wiederum zweierlei zur Folge. 
Einmal zeigt sie auf, wie allumfassend der Entfremdungszusammenhang 
bereits geworden ist, da es untersuchbar wäre, welche Produktion 

wie formell oder reell unter das Kapital (oder in Analogie dazu) 
subsumiert ist. Zum anderen macht sie es wiederum denkbar, daß 
Produktion diesen Entfremdungszusammenhang abstreifen und zu einem 
"ersten Lebensbedürfnis" werden könnte. Nichts anderes versuchen, 

in bornierter Form, die realen alternativen Bewegungen. 


23. Wenn auch die Formulierung, die Bourgeoisie habe Lehrer,Pfaffen 
etc. in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt, bereits von Marx 

und Engels stammt, hieß Produktion in der Geschichte zunächst 
materielle Produktion, Produktion von Gütern( und Schäden, und Gütern, 
die Schäden sind) - selbst die gleichzeitige Produktion von Bezie- 
hungen innerhalb der materiellen Produktion wurde kaum vor 1928 be- 
arbeitet. Nicht nur traten materielle und nicht-materielle Produktion 
immer mehr auseinander (ein Prozeß, dessen Anfänge bereits Marx be- 
schreibt), sondern die quantitative Bedeutung verschob sich zu- 
gunsten der Letzteren. Ich will die Gründe hier nicht wiederholen, 


124 


kurz: auch bei vorsichtiger Extrapolation werden wir um 2000 in der 
BRD an die 1o Millionen Intellektuelle haben. An die 90% davon 
werden wohl lohnabhängig sein, bzw. der "Reservearmee" angehören. 

Ihr Dominieren in so gut wie allen Organisationen, die sich zur 
Arbeiterbewegung zurechnen, in so gut wie allen alternativen Bewe- 
gungen, und in einer Reihe von bürgerlichen Einrichtungen, gibt ei- 
nen Vorschein ab (siehe z.B. Kursbuch 45; eine detaillierte Analyse, 
die auch eine Zusammenschau aller Momente von Klassenanalyse des 
letzten Jahrhunderts umfassen müßte, kann hier nicht gegeben werden). 


24. Die lohnabhängigen Kopfarbeiter (welcher Klassenströmung nicht 
nur der Autor, sondern wohl auch ein Großteil der Leser zugehören 
dürfte) wiederholen den Widerspruch der Ware Arbeitskraft auf ihre 
Weise. Zum einen sind sie fähig, massenweise (und chaotisch und 
unüberschaubar) Ideen zu produzieren (die ja auch gebraucht werden; 
siehe auch 21). Zum anderen müssen sie leben, d.h. ihre Arbeitskraft 
als Ware verkaufen, mit allen bekannten Nebenfolgen: Arbeitslosig- 
keit/Anziehung und Abstoßung, gewerkschaftliche Organisierung, 
Konkurrenz. 

Am ehesten können sie leben, wenn sie zu Experten werden, also z.B. 
zu Sozialarbeitern, Lehrern etc. Damit muß sich aber ein großer Teil 
von ihnen gerade in jenen Gegensatz zu den lohnabhängigen Handarbei- 
tern, ihrer Reservearmee, ihrer Frauen, Kindern etc. stellen, den 

er auf Grund seiner eigenen Ideenproduktion zu vermeiden beabsichtigt. 
Das scheint mir der materielle Kern der Experten-Kritik Ivan Illichs, 
der Ärzte-Psychologen-Sozialarbeiter-Kritik der Patientenfront, der 
Institutionen-Kritik Michel Foucaults zu sein (sehr verkürzt). 


25. Daraus ließe sich erklären: 


® Die immer weitergehende Enteignung der "eigenen Wesenskräfte" 
der lohnabhängigen Handarbeiter, auch dort, wenngleich im vermit- 
telten Zusammenhang, wo es nicht unmittelbar durch die bestehende 
Formbestimmung des industriellen Produktionsprozesses erheischt 
wird. 


© Die vielfältigen Formbestimmungen der Konkurrenz lohnabhängiger 
Kopfarbeiter (siehe dazu mein Papier "Über den Aufbau und Abbau 
von Gruppen" im SPAK-Forum 7/80). 


26. Gleichzeitig ist bekanntlich (z.B. "Philosophisch-ökonomische 
Manuskripte") der lohnabhängige Handarbeiter von Produktion,Produkt, 
Produzenten und sich selbst getrennt. Entsprechend nimmt es nicht 
wunder, daß er den ökologischen Gesamtzusammenhang der Produktion 
nicht durchschaut, zumal, wenn an dessen Negation noch der Verkauf 
seiner Ware Arbeitskraft hängen sollte ("Arbeitsplätze!"). 

Doch sollte darüber der lohnabhängige Kopfarbeiter nicht vorschnell 
frohlocken; ihm geht es in Zusammenhang seiner Produktion nicht 
anders. Paradoxerweise könnten wir einen weiteren Zusammenhang 
zwischen Ökologie und Sozialarbeit negativ formulieren: ebensowenig 
wie der lohnabhängige Handarbeiter die ökologischen Folgeschäden 
seiner Produktion überschaut, überschaut der lohnabhängige Kopfar- 
beiter die Folgeschäden seiner pädagogischen, therapeutischen 

etc. Expertentätigkeit. 


27. Auf die erkenntnistheoretischen Folgen der zunehmenden Wichtig- 


125 


keit einer ökologischen Produktionsform will ich hier nicht hinwei- 
sen - ich habe dies an anderer Stelle getan (Kursbuch 53). 

Nun setzt eine Reihe anderer Autoren an den genannten Entwicklungen 
lohnabhängiger Kopfarbeit an. Die Verallgemeinerung der Produktion 
ist Leitthema (und materieller Kern) von Deleuze und Guattari. 

Wo die Produktion der Wünsche in die Güterwelt gerät, ist die Wunsch- 
maschinerie nicht weit (wobei die Autoren die bereits vorliegenden 
Widersprüche Lewis Mumfords bruchlos übernehmen). 

Wo die Fragmentierung des Einzelnen durch seine konkurrierenden In- 
teressen und Bedürfnisse weit fortgeschritten ist, können Deleuze 
und Guattari formulieren, jedes Individuum sei schon eine Gruppe. 
In derKonkurrenz lohnabhängiger Kopfarbeiter fundiert sich u.a. 
Paul Feyerabends "Alles geht" - es wäre ja noch schöner, wenn nicht 
auch noch Experten für indianische Regentänze, für das I Ching, für 
die Astrologie ihr Unterkommen fänden. 


28. Solcherarts erweist sich Oskar Negts eingangs zitierter Aufsatz 
als eine Art Zwölftonmusik der politischen Organisation, der durch 
die erfolgte Rückkehr zu Richard Wagner oder Gustav Mahler nicht 
beizukommen ist. Als allzu avantgardistisch syndikalistisch zurück- 
genommen, diente er eher, wie aus der Retrospektive sicher leichter 
zu erkennen ist, dazu, noch das zu vereinen, was als auseinander- 
brechendes schon zu erkennen war: Ein "Rhizom" (Deleuze/Guattari, 
auf deutsch: Geflecht) aus Arbeitsfeldern, das sich aber bei der 
"Flut" konkurrierender Interessen noch aufeinander bezieht. 

"Alles geht", aber es geht exemplarisch, und nie ohne Bezug auf 

den Zusammenhang der Vielfalt in der Totalität. Der Rest war Reduktion. 


29. Reduktion zu der vielbeschworenen "Priorität von Betrieb und 
Gewerkschaft" auf eine einzige Form der Produktion, nämlich die 
fabrikförmige, und zwar von Gütern (und nicht einmal "in letzter 
Instanz", wie es in den "Grundrissen" so schön heißt). 


30. Reduktion :im Arbeitsfeldsyndikalismus auf die dort vorliegenden 
Experteninteressen und ihre notwendig provisorischen Formen der 
Vergesellschaftung (wann hätten denn je Eltern und Schüler im Ar- 
beitsfeld Schule das Sagen mit gehabt? Wann Klienten im Arbeitsfeld 
Sozialarbeit? Wann Patienten im Arbeitsfeld Gesundheitswesen?). 


31.Reduktion in den realen Bewegungen und ihrer Splittergruppen 
auf ihr je besonderes Interesse, das in bester Tradition als das 
allgemeine ausgegeben werden konnte. 


32. Reduktion schließlich von allen nur denkbaren Arbeits- und Lebens- 
zusammenhängen (dies etwa die Position Wolfgang Harichs), wo durch 
selbst so überlebensnotwendige Ziele sozialistischen Handelns wie 
Kampf gegen die Kriegsgefahr und Verhinderung ökologischer Katastroph- 
en zu Abstraktionen gerinnen, die in den Strudel konkurrierender In- 
teressen hineingezogen werden. 


33. Reduktion, nein danke. 


%* 


126 


BERICHTE, HINWEISE, MATERIALIEN 


© "Kinderhorte - Sozialpädagogische Einrichtungen oder Bewahranstalten" 
- Ergebnisse einer empirischen Untersuchung am Institut für Sozial- 
forschung; nähere Informationen bei: Institut für Sozialforschung, 
Senckenberganlage 26, 6 Frankfurt 1. 


© Bund Deutscher Pfadfinder verstärkt Arbeit mit Kindergruppen in So- 
zialen Brennpunkten 


Vom 30. Januar bis l. Februar fand in ST. Johann bei Bad Kreuznach 
ein Seminar des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP/BDJ) zum Thema "Ar- 
beit mit Kindern aus Obdachlosengebieten und Sozialen Brennpunkten" 
statt. Es nahmen Gruppenbetreuer aus Mainz-Zwerchallee, Bad Kreuz- 
nach-Rolandsbogen und Koblenz-Am Fort Konstantin teil. Die Teilneh- 
mer berichteten über ihre Arbeit und tauschten Erfahrungen aus. Bei 
diesem ersten überregionalen Seminar standen Probleme der Finanzie- 
rung, der Elternarbeit, der räumlichen Voraussetzungen und die Zu- 
sammenarbeit mit sozialen Einrichtungen im Vordergrund der Berichte. 
Für die erste Sommerferienwoche wurde ein gemeinsames Zeltlager ge” 
plant und vorbereitet. Dem Ferienlager sollen gegenseitige Besuche 
der Kindergruppen vorausgehen. 

Zur eigenen Weiterbildung wurden Spiele und Lieder ausgetauscht und 
praktisch erprobt. 

Dieser überregionale Arbeitskreis, der im Dezember 1980 gegründet wur- 
de, wird sich in regelmäßigen Abständen treffen, um gemeinsame Pro- 
bleme wie Öffentlichkeitsarbeit, Verhalten der Kinder und Vorurteile 
der Bevölkerung zu erörtern und rraktische Fertigkeiten zu erlernen. 


Der BDP hat den Bericht der Kinde,gruppenarbeit in Sozialen Brenn- 
punkten aufgegriffen, damit dort entstandene Initiativen ein überre- 
gionales Diskussionsforum haben und die Einbindung von Kindern und 
Jugendlichen aus Sozialen Brennpunkten in bestehende Jugendverbands- 
arbeit möglich wird. Weitere Gruppen, die in diesem Bereich arbeiten, 
sind eingeladen, mitzudiskutieren, mitzuarbeiten und mitzulernen. 
Kontakt: BDP LV Rheinland-Pfalz, Mühlenstr. 21, 6550 Bad Kreuznach. 


© "Kinderkalender 1981" der Bewohnerinitiative Sozialer Brennpunkte 
Waldhof-Ost in Mannheim 


Die Bewohnerinitiative hat für das Jahr 1981 einen neuen 'Kinderkalen- 


127 


der' herausgebracht. Der Kalender hat ein Deckblatt, 3 Seiten Text 
über die Initiative und die Siedlung sowie 12 Kalenderblätter mit 
Kinderfotos und Kalendarium. Der Kalender hat für die Initiative vor 
allem 2 Funktionen: 

1) Mit dem Kalender soll die Öffentlichkeit auf den Sozialen Brenn- 
punkt hingewiesen werden, welche Probleme hier bestehen und welche 
Forderungen die Initiative für eine Verbesserung der Wohnsituation 
aufgestellt hat. 

2) Die Arbeit der Initiative soll in der Öffentlichkeit dargestellt 
werden. 

3) Mit dem Kalender soll die weitere Arbeit der Initiative finanziert 
werden, da sie sonst über keine weiteren Mittel verfügt. 

Der Kalender kostet lo,-- DM. Bezug: Sozialaktion, Obere Riedstr. - 
Frohe Zuversicht 5-7, 68 Mannheim 31 


® Selbsthilfematerialien für Jugendzentren 


Die Liste der Literatur von & für Jugendzentren 

"Dokumentationen sind wichtig: sie geben die Erfahrungen, die Sehn- 
süchte, die Aktionen, Reflektionen und Erfolge oder Mißerfolge wie- 
der. Dadurch sind sie eine wichtige Hilfe für andere Initiativen - um 
zu sehen, daß wir nicht alleine sind, und um Anregungen und Tips zu 
erhalten und um Fehler zu vermeiden." 

Über loo Dokumentationen der JZ-Bewegung von 1970 bis heute sind in 
diesem Heft aufgelistet, eine jede mit kurzer Inhaltswiedergabe und 
der Bezugsadresse. Dokumentationen, die nicht mehr erhältlich sind, 
wurden archiviert und können als Fotokopie bestellt werden. Dies ist 
ein zusätzlicher Service, der diese Liste mit Leben füllt. Leben spie- 
gelst auch das sehr hübsch gestaltete Lay-Out des Heftes wieder. Ge- 
sammelt und zusammengestellt wurden die Dokumentationen von einer 
Vielzahl von Aktiven der JZ-Bewegung des gesamten Bundesgebietes. Das 
Ziel dieser Selbsthilfematerialien ist es die Erfahrungen der letzten 
lo Jahre nicht einfach in der Schublade der Geschichte verschwinden 
zu lassen. So stellt dann auch die Liste der Literatur nur den ersten 
Teil der Selbsthilfematerialien dar. Geplant sind noch weitere Hefte 
zu Themen wie Recht, Selbstverwaltung, Öffentlichkeitsarbeit, Foto, 
Video, Musik und Film. 

Bezug: AG SPAK, München 1981, 62 Seiten, 3.50 + 0.50 DM Porto auf das 
PSchK München Nr. 205 47-808 der AG SPAK Reifenstuelstr. 8, 8 München 
5, Tel.: 089/775420 

Innerhalb dieser Selbsthilfematerialien gibt es auch einen Jugend- 
zentrumsfilm auszuleihen 

WIR WERDEN KÄMPFEN - WIR WERDEN SIEGEN - EIN JUGENDZENTRUM WERDEN WIR 
KRIEGEN 

Mainz 1972, 16 mm, 40,-- DM. Bezug über: Thomas Scheuer, Brombergstr. 
24, 7800 Freiburg. Diesen Film haben Mainzer Jugendliche in ihrem 
Kampf um ein selbstverwaltetes Jugendzentrum selbst gedreht. Er zeigt 
eine Vielzahl von Aktionen: über Go-Ins, Demo bis zur Hausbesetzung 
ist alles drin. Somit ist dieser Film eine Fundgrube für die Öffent- 
lichkeitsarbeit einer JZ-Initiative! 


© BILDER VOM KINDERHAUS 


Bilder und Texte vom Kinderhaus Neuenheim in Heidelberg (163 Seiten: 
171 Fotos, Kinderzeichnungen, Texte, Dokumente) DM 20,-- zu beziehen 
direkt beim Kinderhaus Neuenheim Humboldtstr. 17, 69 Heidelberg. 


128 


Der Band ist in halbjähriger Arbeit von drei jetzigen und früheren Be- 
treuern der letzten selbstverwalteten Kindertagestätte Heidelbergs ent- 
standen und stellt das Kinderhaus Neuenheim als inzwischen lo Jahre 
alte Modelleinrichtung eigenverantwortlicher pädagogischer Arbeit dar. 
Gleichzeitig schildert er die großen Probleme des Kinderhauses: einmal 
die Verweigerung von Zuschüssen durch die Stadt Heidelberg seit 1976, 
zum anderen die Kündigung der Räumlichkeiten durch den Vermieter, das 


Studentenwerk Heidelberg (dieser Tage erging ein erstinstanzliches 
Räumungsurteil). 


BILDUNGS- UND ERHOLUNGSSTÄTTE 


Liebe Leute, 


wir betreiben seit fast zwei Jahren eine Bildungs- und Erholungsstät- 
te bei Neckargerach in einem idyllischen Seitental des Neckartales 
(45 km von Heidelberg). Für das Jahr 1981 können wir Euch noch plätze 
für Seminare und Freizeiten anbieten. Es ist sowohl möglich, daß sie 
von uns verköstigt, als auch, daß sich die Gruppe selbst verpflest- 
Genauere Information könnt Ihr über untenstehende Anschrift bekommen. 


Die Kosten für einen Aufenthalt betragen 9,-- DM bei Selbstversorgung 
und 23,-- DM bei voller Verpflegung, desweiteren ist es möglich, daß 
wir für Euch das Mittagessen besorgen. Ihr aber selbst das Geschirr 
spülen müßt, dies kostet dann 14.-- DM. Solltet Ihr an einer Belegung 
interessiert sein, wären wir Euch für eine baldige Nachricht an fol- 
gende Adresse sehr dankbar. 

IJGD e.V., Lietzenburgerstr. 98, looo Berlin 15 


Ratgeber für Gefangene 


Im Hamburger Verlag Libertäre Assoziation ist jetzt der "Ratgeber für 
Gefangene - mit medizinischen und juristischen Hinweisen" |. Teil er- 
schienen. 

In dem Buch werden die Verschiedenen Stadien der Haft - von der Fest- 
nahme bis zur Entlassung - behandelt. Im einzelnen wird unter anderem 
auf folgende Probleme eingegangen: ohti 
Verhalten bei der Festnahme/ Wie die erste Zeit im Gefängnis auss1le 
Was man gemeinsam tun kann/ Überleben in strenger Tsolationshaft/ Als 
Frau im Gefängnis/ Die Situation als Ausländer/ Besondere Haftver- 
schärfungen/ Kontakte nach draußen/ Möglichkeiten und Techniken ge- 
sund zu bleiben/ Was man selbst bei Gesundheitsbeschwerden tun kann 
Welche Rechtswege einem als Gefangenen offenstehen/ Musterbeispiele 
für Anträge und Beschwerden etc. 2 oe 
Der jetzt erscheinende erste Teil des Handbuchs (ca. 250 Seiten 1n r 
ner eingelegt) kostet 20,-- DM. Der Ergänzungsteil, der anfang näch- 
sten Jahres erscheint (350 Seiten, ohne Ordner) kostet weitere Ve a 
DM. Im Abonnement beide Teile für 35,-- DM. Ein begrenzter Teil der 
Auflage steht Freunden und Angehörigen von Gefangenen zum ermäßigten 
Preis von 20,-- DM für das gesamte Werk im Abo sowie Gefangenen als 
Freiexemplare zur Verfügung. N 
Bestellen (gegen Vorauszahlung) an den Verlag Libertäre Assoziation, 
Ottenser Hauptstr. 35, 2000 Hamburg 50/Postscheckamt Hmbg. 437937-200 
(200 loo 20) 


Student der HfSS in Bremen sucht Kontaktadressen von "ökologisch orien- 
tierten" Gemeinwesen- bzw. Stadtteilprojekten (zwecks Studienfahrt), 


129 


sowie Texte über "Ökologisch orientierte" Sozialarbeit. Jürgen Schöbel, 
Würzburger Str. lo a, 2800 Bremen | 


® Kinder- und Jugendbuchverzeichnis zum Thema Ökologie 


Ein kommentiertes Verzeichnis zu Kinder- und Jugendbücher, die sich 
im weitesten Sinne mit dem Thema Umweltzerstörung - Umweltschutz be- 
fassen, ist vor kurzem im Schwarzwurzel-Verlag, Rokenstr. 4, 741o Reut- 
lingen erschienen. Fast alle verfügbaren Bücher, Schallplatten und 
Spiele, (z.Zt. ca. 55 Titel) wurden darin aufgenommen und jährlich 
wird das Ergänzungswerk durch Nachlieferungen aktualisiert. Das Ver- 
zeichnis umfasst 80 Seiten und kostet DM 6.80. Buchhandlungen und Bür- 
gerinitiativen erhalten den üblichen Rabatt. Einzelbezug durch Über- 
weisung von DM 6.80 + DM 1.50 Porto auf das Konto 47719 (Peter Reif- 
steck) bei der Kreissparkasse Reutlingen oder Betrag als Scheck an die 
angegebene Adresse. 
Parallel zum Verzeichnis verleiht der Verlag eine Ausstellung aller be- 
schriebenen Bücher (z.Zt. ca. 50 ex.). Interessenten (Bürgerinitiati- 
ven, Schulen, Bibliotheken, Buchhandlungen, etc.) können näheres über 
die Verlagsadresse erfahren. 
Schwarzwurzel-Verlag 

6 "die Lupe", Pädagogische Zeitschrift, Heft 30 zum Thema Umweltlernen 
Inhalt: "Jedes Kind auf der Welt wird ungefragt in eine ihm vorgege- 
bene gesellschaftliche Situation hineingeboren." Unter Berücksichti- 
gung all der bestehenden Voraussetzungen muß es sich anpassen und sich 
möglichenfalls kritisch schöpferisch mit dieser gesellschaftlichen 
Situation auseinandersetzen. Bis ein Kind zu diesem Stand mit seiner 
Umwelt kommt und sie handelnd bewältigen kann, muß es viel in seiner 
Umwelt und über seine Umwelt erfahren. Wir wollen versuchen die ver- 
schiedenen Bedingungen aus Gesellschaft, Natur und Technik und die Er- 
fahrungen, die wir in unserer pädagogischen Praxis mit Kindern, Jugend- 
lichen und Erwachsenen gemacht haben, darzustellen. 
Bezug: Spiel- und Lernzentrum Braunschweig e.V., Bruchtorwall 1-3, 
3300 Braunschweig 


© SPAK - Informationen 


+ Tagungsvorschau der Seminare und Tagungen der AG SPAK für I. Halb- 
jahr 1981, erhältlich gegen Unkostenerstattung (1,--DM in Briefmar- 
ken) an AG SPAK, Reifenstuelstr. 8, 8 München 5 

+ Programm der "Europäischen Arbeitsgruppe Bewußtseinsbildung" erhält- 
lich, gegen IUnkostenerstattung (1,--DM in Briefmarken) an AG SPAK/ 
AK Freire, Reifentuelstr. 8, 8 München 5 

+ Neu: Rundbrief "AK Freire" Nr. 8 - erhältlich gegen eine Spende. 
Viele Informationen zur bewußtseinsbildenden Arbeit (Friedenspäda- 
gogik, alternative Bildung, 3.-Welt-Arbeit), bitte mind. 1,50DM in 
Briefmarken an: AG SPAK, Reifenstuelstr. 8, 8 München 5 (AK Freire) 

+ Neu: SPAK-FORUM Nr. 9 - zum Thema "Sozialpolitik in den 80'er - Ver- 
suche zur Standortbestimmung. (Provinzarbeit, wir lassen uns nicht 
kaufen, Armut in der BRD, Drogenpolitik, Projekte, etc.) 

Erhältlich für 3,50DM (inkl. Porto) bitte in Briefmarken beilegen 
oder Überweising auf PSchK. München Nr. 205 47 - 8o08. 


Regionalbüro Köln Publikationsstelle Archiv der AG SPAK 
Immermannstraße 55 Schlesische Str. 3] K.Friedr.Ring 61 
5000 Köln 4l looo Berlin 36 62 Wiesbaden 


130 


Carl-Wilhelm Macke 


RÜCKSICHT 


Immer wenn ich irgendwem sage, ich würde in Gruppen von Behinderten 
mitarbeiten, verklärt sich sein Gesicht. Die Stimme bekommt dann 
einen leicht pathetischen Unterton, manchmal wird noch tief Luft 
geholt. "Oh, welch eine sinnvolle Aufgabe. Dazu gehört sicherlich 
viel Idealismus. Ehrlichgesagt, ich könnte das nicht". Ein Gefühl 
von Bestätigung und Anerkennung empfinde ich dann ebenso wie Un- 
sicherheit. Wie soll ich reagieren? Ich könnte ausweichen, von So- 
lidarität und den Schwachen reden, mein persönliches Interesse, meine 
Bedürfnisse verleugnen. 

Was ist es aber denn, das mich als Nichtbehinderten in Behinderten- 
gruppen mitarbeiten läßt? Ich muß ausholen, in der Lebensgeschichte 
graben. Freigelegt werden nur die oberen Schichten. 


1944, noch in den letzten Monaten des Krieges und der Nazi-Herrschaft 
wurde mein Bruder geboren. Für meine Eltern muß es ein Schock gewesen 
sein, als sie von der Spastik ihres ersten Sohnes und zweiten Kindes 
erfuhren. Der Krieg hatte sie schon genügend strapaziert. Irgendwann 
hatten sie sicherlich auch von Euthanasie, der "Vernichtung lebens- 
unwerten Lebens" gehört. Ihr Bischof hatte mutig dagegen gesprochen, 
aber welche Bedeutung hatte es schon für sie, solange sie kein "le- 
bensunwertes Leben" kannten. Jetzt waren sie selbst mit einem Menschen 
konfrontiert, den die damals noch herrschenden als "Ballastexistenz" 
abwerfen wollten. Es war nicht irgendein Mensch, es war ihr Kind! Mit 
dem Zeitpunkt der Geburt änderte sich das Verhalten der Eltern. Sie 
mieden jetzt die Umgebung, wie die Umgebung sie mied. In der Klein- 
stadt spricht es sich schnell herum, wenn ein "nicht normaler Mensch" 
geboren wird. Im Suff gezeugt, sagt der Volksmund hinter vorgehaltener 
Hand, manchmal auch nicht. Die Religiösen haben andere Erklärungen. 
Man flüstert von Gottesstrafe oder von der großen Bewährung der Mutter- 
liebe. 


In die Erziehung des behinderten Kindes vermischten sich Schuldgefühle, 
Hilflosigkeit und warme elterliche Zuneigung. Eingeschult wurde mein 
Bruder in die zuständige Volksschule, nicht in eine Sonderschule. 

Ein Fortschritt würde man heute sagen, aber damals war es der Beginn 
eines Spießrutenlaufens. Um diese Zeit herum wurde ich dann geboren. 
Nach den Erfahrungen mit einem spastisch gelähmten Sohn noch ein wei” 
teres Kind zu gebären, dazu gehört schon Mut. Oder war es nur die 
kirchlich verbannte Geburtenregelung, die mir zu meiner Existenz ver- 
half? Oder war es der Wunsch, den Nachbarn zu zeigen, daß nichts von 
ihren Zeugungsphantasien stimmte? Meine Erziehung war, obwohl ein ge- 
sundes Kind, auf ein behindertes Kind zugeschnitten. Wie sollten die 
Eltern sich auch so schnell wieder umstellen. Behinderung ist nicht 
nur eine körperliche oder seelische Lädierung. Es ist auch Ergebnis 
einer Erziehung, die Art wie ein Mensch auf die Welt vorbereitet wird, 


131 


wie er älter wird, wie er von anderen lernt oder nicht lernt, weil 

er sie nicht zu Gesicht bekommt, weil er von der Außenwelt fernge- 
halten wird. So habe ich es in der Familie erlebt. Selbständigkeit 
habe ich nie gelernt. Man nahm mir alles ab. Ich durfte nie auffallen, 
sollte immer dankbar sein, mich anpassen, nie habe ich nein sagen ge- 
lernt. "Wir haben schon genügend Probleme in der Familie", hieß es, 
wenn ich aus der Rolle fiel. Bis heute hat sich meine Scheu vor mir 
unbekannten Menschen ebensowenig gelegt wie die Angst, etwas falsch 
zu machen, also aufzufallen. Immer noch fühle ich mich in vielem 
minder - wertig. Aber wieso, warum? Meine eigenen Interessen mußte 
ich immer zurückstellen. Rücksicht zu nehmen auf meinen Bruder war 
die Tugend, die immer und überall galt. Nicht mit Gewalt wurde mir 
das eingebleut. Gewalt, direkte Gewalt hat es in unserer Familie nie 
gegeben. Sich zurückzunehmen, seine eigene Person zu vergessen, galt 
als selbstverständlich. 


Heute glaube ich, meine Eltern und ich haben vielleicht mehr unter 
der Behinderung eines Familienmitgliedes gelitten als der Betroffene 
selbst. Meine Mutter, weil sie als Frau ohnehin schon aus der Gesell- 
schaft ausgeschlossen war. Der Vater, weil er das Kind überall zu 
verleugnen oder zu verdrängen suchte. Über sie kann ich nur vermuten, 
über meine Erfahrungen verfüge nur ich. Die Hänseleien und Demüti- 
gungen, die meinem Bruder entgegengebracht, entgegengeschrien, ent- 
gegengelacht wurden, trafen immer auch mich. Jagte man einen Hund 
hinter ihm her, fürchtete ich den Biß. Noch heute gehe ich Hunden 

aus dem Weg. 

Wenn er verspottet wurde, hat mich das immer wütend gemacht. Diese 
dumpfe Wut konnte ich keinem zeigen, weil ich gleichzeitig auch so 
hilflos war. Ich habe sie in mich hineingefressen. Wenn ich mit ihm 
über die Straße ging, verspürte ich Angst vor den Entgegenkommenden. 
Würden sie lachen, würden sie selbst zu torkeln anfangen, würden sie 
ihn als besoffen hinstellen? Die größte Angst hatte ich vor Kindern. 
Sie zeigten ihre Verwunderung und Belustigung besonders deutlich. 

Die Erwachsenen begannen ihre Tuscheleien immer erst hinter unserem 
Rücken. Sie schauten sich mit einem Lachen im Gesicht erst wenige 
Meter später um. Bis heute habe ich die Gewohnheit beibehalten, mich 
umzuschauen, wenn Menschen an mir vorbeigegangen sind. Ich will sehen, 
ob sie sich nach mir umdrehen, mich vielleicht auch auslachen. In 
manchen Augenblicken lernt man eben mehr als in Büchern. Die Angst 
vor den Kindern hat sich gelegt. Sie sind neugierig und offen, haben 
es nicht nötig ihre Gefühle zu verstecken. Das Verletzen geschieht 
nicht bewußt. 

Das Gefühl ohnmächtiger Wut ist mir geblieben - im wörtlichen Sinne. 
In der Kindheit kam es häufig vor, daß ich im Zusammensein mit schwer 
körperlich Behinderten plötzlich zusammengesackt bin, ohnmächtig wur- 
de. Nicht bei meinem Bruder, den ich nie als behindert wahrgenommen 
habe, weil ich ihn ja gar nicht anders kannte. In diesen Momenten 
staute sich soviel an Ängsten, soviel an Hilflosigkeit auf, die meinen 
Körper und meine Sinne überwältigten. Inzwischen weiß ich solchen 
Situationen geschickt aus dem Wege zu gehen, aber sicher bin ich da 
nie. 


Mein Bruder konnte seine Schulzeit nicht in der örtlichen Volksschule 
beenden. Mangelnde Förderung war der offizielle Grund. Ablehnung durch 
Mitschüler und Lehrer der wahrscheinlichere. Später in meiner Schul- 
zeit habe ich damn Situationen miterlebt, die denen meines Bruders 


132 


sicherlich sehr nahe kamen. In unserer Grundschulklasse war ein 
geistig gestörter Schüler. Seine wirren Antworten, seine oft un- 
kontrollierten Bewegungen reizten zum Spott. Ich glaube sogar mit- 
gelacht zu haben. Aber es war ein schmerzvolles Lachen. Für ihn 
Partei zu ergreifen, wäre ja aufgefallen. Um eben das zu vermeiden, 
tat ich alles. So wie mein Bruder wurde dann dieser Mitschüler aus 
der Schule entfernt. Weit außerhalb fand man ein Heim für ihn. 
Vielleicht wurde er dort tatsächlich besser gefördert, mußte er sich 
nicht mehr so viele Demütigungen gefallen lassen. Aber er wurde abge- 
schoben, so wie man es bei uns immer gemacht hat mit Menschen, die 
nicht "normal" waren oder sich nicht einpassen ließen. 


Ist jetzt etwas klarer geworden, warum ich als Nichtbehinderter in 
Behindertengruppen mitmache? Nicht aus beruflichen Gründen, sondern 
weil ich Behindertenerziehung und öffentliche Diskriminierung haut- 
nah, wenn auch nicht in ihrer Haut mitbekommen habe. Ich würde sofort 
ausscheiden, wenn ich als ein Alibi für Integration betrachtet würde. 
Von wem auch immer. Behinderte sollten sich Nichtbehinderten gegen- 
über die Freiheit nehmen, zu fragen, was sie bewegt, mit ihnen gemeinsam 
etwas zu unternehmen. Mißtrauisch sollten sie sein, wenn sich für sie 
engagiert wird. Einem anderen helfen zu wollen, ob behindert oder 
nicht, halte ich für zu selbstverständlich, als daß es eine über- 
zeugende Antwort wäre. Durch die Erfahrung in der Kindheit und in 
Behindertengruppen, bin ich vorsichtig geworden mit der Forderung 
nach Integration. Mir ist nicht einsichtig, warum sich Behinderte 

den Normen, Werten und Kulturvorstellungen der jeweiligen Mehrheit 
anzupassen haben, um als "integriert" zu gelten. Ist es nicht fatal 

zu glauben, durch Mehr - und bessere Arbeit im Beruf seine Behinderung 
ausgleichen zu können? Vielleicht gewinnt man dadurch Anerkennung 

- die jeder Mensch braucht - aber wie oft geht dies einher mit Zer- 
störung der Gesundheit, der Verkürzung des Lebens. 

Man sollte einmal eine Untersuchung anregen, mit der belegt wird, 

wie viele Behinderte sich ruiniert haben durch diesen wahnsinnigen 
Druck zum kompensieren (zum Ausgleichen der körperlichen oder see- 
lischen Schädigung). Noch zwei Rückblenden zum Schluß: Während meiner 
Schulzeit hat sich ein Freund das Leben genommen. Die Gründe wurden 
mit der letzten Schaufel Erde für immer zugedeckt. Aber für mich 

war eines klar: Er konnte seinen Dialekt, das Plattdeutsche, einfach 
nicht mit der "normalen" Sprache in Einklang bringen. Mit einer "Sechs" 
im Deutsch wäre er sitzengeblieben. Da griff er zum Strick. Muß man 
so vor der großen gleichmachenden Danpfwalze kapitulieren, auch wenn 
vorne auf der Kühlerhaube die Flaggen "Humanität" und "Fortschritt" 
wehen? Welche Opfer muß man bringen, um als "normal" und ' "integriert" 
zu gelten? 

Die Lektüre von Romanen und Reden amerikanischer Neger gehört für 
mich zu den ersten und prägensten Leseerlebnissen. Nicht von ungefähr, 
denn in ihrem Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung als Schwarze 
gibt es viele Parallelen zu den Behinderten. Immer und immer wieder 
habe ich einen Satz des Schriftstellers James Baldwin gelesen, bis 
ich ihn auswendig konnte, um ihn nie wieder zu vergessen: "Ich lebe 
nur ein einziges Mal auf dieser Erde und dieses eine Mal will ich 

als Mensch leben, nicht als etwas, das von anderen manipuliert und 
definiert wird. Ich will als Mensch leben, als ich selbst". 


133 








Handbuch zur 
Sozialarbeit/Sozialpädagogik 


Herausgegeben von Hanns Eyferth, Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch 
ca. 1000 Seiten, Leinen, ca. DM 68, — 
ISBN 3-472-51014-5 





In der Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Bundesrepublik steht es nicht gut 

um das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Zwischen einander bestenfalls 
ergänzenden, vielfach aber noch wenig mit den Bedürfnissen einer sich ausdiffe- 
renzierenden Berufspraxis integrierenden Theoriebildungen ist der Informations- 
fluß gering, die allgemein als notwendig erachtete Kooperation unbefriedigend 
und deshalb die Bildung gemeinsamer Interessen und Fragestellungen bislang 
schwierig. Deutlich wird das z. B. in der keineswegs überwundenen Konfliktstruktur 
zwischen Ausbildung und Beruf. 


Den Herausgebern kommt es in dieser Situation auf eine kritische Darstellung an, 
die den gesellschaftlichen Zusammenhang des Ganzen sowie die Handlungs- 
konflikte der Einzelfelder für die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit nutzbar 
macht. In diesem Problemrahmen sollen aber weder ein eingeengtes theo- 
retisches Konzept noch praktische Rezepte festgeschrieben werden. 

Fast 90 Autoren, profilierte Vertreter ihrer Fachdisziplinen, realisieren in ebenso- 
vielen Beiträgen das Anliegen der Herausgeber. Das konsequent gegliederte 
Stichwortverzeichnis erleichtert den Einstieg in die jeweilige Problematik. 


Zu den Herausgebern: f 
Prof. Dr. Hanns Eyferth, lehrte bis zu seiner Emeritierung Pädagogik und Sozial- 
pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und war dann langjähriger 
Vorsitzender des Trägervereins des Deutschen Jugendinstituts in München. 
Prof. Dr. Hans-Uwe Ötto hat einen Lehrstuhl für Sozialarbeit und Sozialpädagogik 
an der Universität Bielefeld inne und ist Geschäftsführender Vorstand der i 
Kommission Sozialpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswis- 
senschaften (DGfE). 
Prof. Dr. Hans Thiersch hat den Lehrstuhl für Pädagogik im Arbeitsbereich Sozial- 
pädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaften | an der Universität 
Tübingen inne und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungs- 
wissenschaften (DGfE). 











Peter Krahulec/Karlheinz Herr 


“ALTERNATIVES HEIMVERZEICHNIS” ERSCHIENEN 


In die Hand vieler Beteiligter und betroffener Kollegen gehört die 
vor kurzem bei der "Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung" 
(IGfH) erschienene 179-Seiten-Broschüre: "Probleme von Kindern und 
Jugendlichen lassen sich nicht einsperren - Alternativen in der Heim- 
erziehung", kurz ALTERNATIVES HEIMVERZEICHNIS genannt. 

Das Verzeichnis wurde von einer 16köpfigen Arbeitsgruppe (Vertreter 
aus der Praxis, dem Fachhochschul- und dem Fortbildungsbereich) in 
einem eineinhalbjährigen Projekt erstellt. Dieses Projekt wiederum 
steht im Zusammenhang mit der seit Jahren leidenschaftlich geführ- 
ten Kontroverse um die sogenannte "Geschlossene Unterbringung" und 
deren geplante gesetzliche Festschreibung anläßlich der Reform des 
Jugendhilferechts. (Siehe auch Info Sozialarbeit Heft 18 und 22.) 


Die Arbeitsgruppe gehört zu den Gegnern der Geschlossenen Unterbrin- 
gung; sie geht davon aus, "daß die Unterbringung in geschlossenen 
Einrichtungen eine den praktischen Erfordernissen der Heimerziehung 
und dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand widersprechende 
unmenschliche und damit durch nichts zu rechtfertigende Zwangsmaß- 
nahme ist" (S.4f). 


Im Theorieteil "Argumente wider eine böse Sache" konstatieren die Ver- 
fasser, daß die notwendige Strukturreform der Heimerziehung auf brei- 
ter Ebene ausgeblieben ist: 
"a) Noch immer ist die traditionelle Heimerziehung durch die folgen- 
den strukturellen Merkmale gekennzeichnet: 
- Hierarchie 
- Prinzip der totalen Versorgung 
- instabiles persönliches Bezugsfeld 
- zu große Gruppen 
- Vorrangigkeit der Verwaltung 
- Reglementierung des täglichen Lebens 
- finanzielle Unterversorgung n 
b) Noch immer produziert das Jugendhilfesystem seine eigenen Klien- 
ten für Geschlossene Unterbringung, und noch immer kommen Kinder 
und Jugendliche ins Heim, denen viel vesser dort geholfen werden 
könnte, wo die Probleme entstehen: in der Familie, der Schule, 
dem Gemeinwesen." (S.1If) 


Daraus folgern die Verfasser konsequent: 

"Es geht also darum, verschiedene Einrichtungen zu finden und zu ent- 
wickeln, die den Minderjährigen mit ihren unterschiedlichen Bedürf- 
nissen, Biographien und Anforderungen entsprechen. Alternative heißt: 
die richtige Maßnahme für den Einzelfall finden. Dies schließt auch 
nicht-stationäre Hilfen ein. 

Grundvoraussetzung insbesondere für stationäre Einrichtungen sind 
strukturelle Bedingungen, wie sie seit Jahren gefordert werden: 


135 


- Demokratisierung des Zusammenlebens 

- Prinzip der Selbstversorgung 

- Selbstkontrolle und Eigenverantwortlichkeit 

- Vorrangigkeit pädagogischer Erfordernisse 

- kontinuierliche soziale Bezüge 

- kleine, überschaubare Lebenseinheiten 

- Orientierung an Bedürfnissen und Erfahrungen der Kinder und Jugend- 
lichen." (S. 16) 

Aus diesen Einschätzungen resümieren die Autoren: Wenn heute Jugend- 

liche deshalb geschlosssen untergebracht werden, weil genügend ver- 

schieden gut ausgestattete Unterbringungsmöglichkeiten fehlen und die 

bestehenden nicht hinreichend bekannt sind, dann sagt dies nichts 

über die von "Geschlossener Unterbringung" bedrohten oder hiervon 

betroffenen Jugendlichen aus, aber viel über den mangelhaften Zu- 

stand unseres Jugendhilfesystems. 


In den "Hinweisen zum Gebrauch" warnen die Autoren vor einem undif- 
ferenzierten Umgang mit den vorgestellten Einrichtungen, "da es 
oberstes Prinzip einer guten Fremdbetreuung sein muß, für jedes ein- 
zelne Kind bzw. Jugendlichen die ihm und seiner biographischen Be- 
sonderheit angemessene Betreuungsform zu finden" (S.23). Sie "hoffen 
aber, durch unsere Veröffentlichung einweisende Sozialarbeiter zu 
ermutigen, nach weiteren Einrichtungen zu suchen, die den Kriterien 
für eine gute Fremdunterbringung entsprechen bzw. dazu beitragen, daß 
vermehrt solche Einrichtungen geschaffen werden" (S.23). 


Der Anschriftenteil umfaßt (nach Postleitzahlen geordnet) die Ein- 
richtungen, die bereit sind, solche Kinder und Jugendlichen zu be- 
treuen, die von Geschlossener Unterbringung betroffen oder bedroht 
sind - und die darüber hinaus den o.a. strukturellen Anforderungen 
entsprechen. Die Autoren betonen, es sei notwendig, diese Liste fort- 
zuschreiben und bitten über eine Kontaktadresse um Mithilfe. 

Im Teil "Selbstdarstellungen" werden 16 ausgewählte Beispiele aus- 
führlich dokumentiert und von der Arbeitsgruppe als Orientierungs- 
hilfe für gute Fremdplazierung empfohlen. 


Abschließend setzt sich die Arbeitsgruppe mit "Modellprojekten zur 
Vermeidung von Geschlossener Unterbringung" auseinander: Celle, Im- 
menhausen und Viernheim. Sie kommt zu dem Ergebnis: "Auch wenn die 
Initiatoren der Modelle sich die Zuschreibungspraxis der Jugendhil- 
febehörden nicht zu eigen machen, so setzten sie diese während der 
Dauer ihrer Modellversuche doch voraus. Es kann nicht das Ziel sein, 
Sondereinrichtungen für besonders gefährdete Kinder und Jugendliche 
zu schaffen, die zwar eine nicht - geschlossene Unterbringung, aber 
doch eine besondere Maßnahme für besondere Kinder und Jugendliche 
bedeuten. Nicht Modelle in der Jugendhilfe sind zu fordern, sondern 
ein engagiertes Eintreten für die unmittelbare strukturelle Verände- 
rung des Jugendhilfesystems" (S.150). 


Das ALTERNATIVE HEIMVERZEICHNIS ist für 7 DM zu beziehen bei: 


Internationale Gesellschaft für Heimerziehung, Heinrich-Hoffmann- 
Str. 3, 6 Frankfurt 71, Tel.: 0611/6706251 


136 


Eine Auswahl: 


INFORMATIONSDIENST ARBEITSFELDMATERIALIEN 
GESUNDHEITSWESEN ZUM SOZIALBEREICH 





























Timm Kunstreich: 
DER INSTITUTIONALISIERTE 
KONFLIKT 




















KRITIK 
DER 
PSYCHOSOZI ALEN VERSORGUNG 

















1819 u. 


Arbeitsfeldmaterialien | HUMANISIERUNG 


; DES 
zum Sozialbereich GESUNDHEITSWESENS 


| 






SOZIALARBEIT 
ZWISCHEN 
BÜROKRATIE UND KLIENT 


7] 












Dokumente der Sozialarbeiterbewegung 
Sozialpädagogise he Korrespondenz 
1969 - 1973 
(reprint) 





Berichte * Konzepte * Alternativen 








* Arbeitsieldmaterialien zum Sozial- 
und Gesundheitsbereich, Heft 9 









Wollen Sie mehr wissen über die Informationsdienste und Arbeitsmateria 
lien aus den Arbeitsfeldern Schule, S ‚zialarbeit und Gesundheitswesen? 





Haben Sie Interesse an aktuellen Themen: Okologie, Marismusdiskus 
sion, Arbeitskämpfe? 


Dann fordern Sie unseren Verlagskatalog an und lassen Sie sich auch Pro 
beexemplare unserer Monatszeitungen "links" und "express" zuschicken 


Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 6050 Offenbach 4 







links 


Sozialistische Zeitung 


bringt monatlich auf etwa 32 Seiten Informationen und Anregun- 
gen für die politische Arbeit, Beiträge zur sozialistischen Theo- 
rie und Strategie, Berichte aus der Linken international. „links“ 
ist illusionslos, undogmatisch — eine Zeitung für Theorie der 
Praxis und für Praxis der Theorie. 





Einzelpreis DM 2,—. 
Bezugspreis, jährlich, DM 23,— + DM 7,— Versandkosten 


CXDICSS 


Zeitung für R 
etriebs - und 
Gewerkschaftsarbeit 


Sprachrohr der Kollegen und Genossen, die sozialistische Be- 
triebs- und Gewerkschaftsarbeit machen. Informationen über 
die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Beiträge, 
die man nicht in den Gewerkschaftszeitungen findet. 


Einzelpreis DM 1,50 

Bezugspreis, jährlich, DM 18,— + DM 7,— Versandkosten 
Probeexemplare anfordern bzw. Abonnementsbestellung bei 
Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 605 Offenbach 4.