N
Dieser Informationsdienst Sozialarbeit wird im Sozialistischen Biiro von Gruppen,
die im Sozialisationsbereich arbeiten, herausgegeben. Der Info dient der Kommů-
nikation und Kooperation von Genossen, die mit sozialistischem Anspruch im
Feld der sozialen Arbeit tätig sind.
Der Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 26, erscheint gleichzeitig als Informa-
tionsdienst Gesundheitswesen, Heft 18. Damit erscheint erstmals der Informations-
dienst cines Arbeitsfeldes gleichzeitig als Informationsdienst eines anderen Arbeits-
feldes. Die vom Arbeitsfeld Gesundheitswesen behandelte Thematik der psycho-
sozialen Versorgung ist für im Sozialbereich Tätige ebenso von Bedeutung wie für
die im Gesundheitswesen Tätigen, so daß eine derartige Erscheinungsweise nicht
nur jetzt sinnvoll und gerechtfertigt erscheint, sondern zukünftig auch zu einer
engeren Zusammenarbeit der verschiedenen Arbeitsfelder führen kann.
Herausgeber:
Verleger:
Erste Auflage:
Vertrieb:
Preis:
Verantwortlich:
Presserechtlich
verantwortlich:
Druck:
ISSN:
ISBN:
Titelfoto:
Beilagen:
Sozialistisches Büro
Postfach 591, Ludwigstr.33, 605 Offenbach 4
Verlag 2000 GmbH, Offenbach
November 1980, 3000 Exemplare
Alle Rechte bei dem Herausgeber
Verlag 2000 GmbH, 605 Offenbach 4
Postfach 591, 605 Offenbach 4
Postscheck Frankfurt Kto. Nr. 61041-604
Einfachnummer DM 6,--
bei Abnahme von mindestens lo Exemplaren 20% Rabatt
Weiterverkäufer (Buchläden, Buchhandel) 40% Rabatt
jeweils zuzüglich Versandkosten
Koordinationsrat des Arbeitsfeldes Gesundheitswesen/
Redaktion Info Sozialarbeit
Giinter Pabst, Offenbach
hbo-druck, Einhausen
0170 - 2688
3-88534-017-8
“Aufbruch”, aus Johannes Grützke, Misch Du Dich nicht
auch noch ein, Verlag Zweitausendundeins
Prospekt Juventa Verlag e Flugblatt Russell-Tribunal iiber
die Rechte der Indianer e Flugblatt des SSK ө Prospekt
“Neu im Verlag 2000” e Bestelliste “Broschüren des SB -
Winter 1980/81” e Material der Sozialhilfe-Aktion ө
Prospekt “Zwischenténe”
Fur unsere
Genossin Kathe Barwald,
die seit Jahren die Informationsdienste
der Arbeitsfelder geschrieben hat und
unerwartet am 21.10.1980 im Alter
von 59 Jahren gestorben ist.
Kathe hatte in den letzten Jahren ein
schweres Asthmaleiden, aber sie hat mit
starkem Willen gegen die Krankheit ge-
kämpft und war auch an schwierigen
Tagen eine gute und engagierte Kollegin.
INFO GESUNDHEITSWESEN, HEFT 18/19
KRITIK
DER
PSYCHOSOZIALEN VERSORGUNG
INFO SOZIALARBEIT, HEFT 26
NEUERSCHEINUNG:
Freiheit + Gleichheit
Streitschrift für Demokratie und Menschenrecht
Mit dieser Streitschrift sollen Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik im
Spiegel der Menschenrechte als unmittelbar geltende Normen gezeigt werden. Die
gewordene Wirklichkeit der Menschenrechte aufzuspüren heißt aber, sie in den ver-
schiedenen gesellschaftlichen Gruppen aufzusuchen, sprich: bei den Majoritäten
und Minoritäten der Bundesrepublik. Die Gefährdung der Grund- und Menschen-
rechte hat viele Dimensionen, vom Betrieb bis zur Polizei, vom 'Atomstaat’ bis zur
Friedensfrage, von der Meinungsfreiheit bis zu den Berufsverboten, von den zahl-
reichen 'Minderheiten’ (Alte, Kinder, Strafgefangene, Obdachlose, Homosexuelle,
Ausländer, Zigeuner ...) bis zur längst nicht verwirklichten Gleichberechtigung der
Frau.
Das Heft 2 der Streitschrift "Freiheit + Gleichheit” (Oktober 1980) bringt u.a. folgen-
de Beiträge @ Roland Narr: Kinder und ihre halberwachsenen Rechte ® Christine
Morgenroth: Arbeitslosigkeit ist grundgesetzwidrig @ Hannelore Narr: Altsein im
gesellschaftlichen Abseits @ Peter Schlotter: Politik der Angst — Rüstung und Ab-
rüstung @ Joachim Hirsch: Der neue Leviathan oder der Kampf um demokratische
Rechte @ Roland Roth: Bürgerinitiativen und Sicherheitsstaat © Dorothee Sölle:
Menschenrechte in Lateinamerika @ Bernhard Blanke: Schutz der Verfassung durch
Spaltung der Demokratie? @ Arbeitsgruppe: Berufsverbote 1979/80 @ Wolf-Dieter
Narr: Verfassungsschutz — Ein Lauschangriff und die Folgen @ Christoph Nix: Straf-
vollzug in hessischen Haftanstalten.
Im Heft 1 (Dezember 1979, aber noch immer aktuell) sind u.a. folgende Beiträge
enthalten @ Wolf-Dieter Narr/Klaus Vack: Menschenrechte, Bürgerrechte, aller
Rechte @ D. Helmut Gollwitzer: Der Kampf für Menschenrechte — heute noch zeit-
gemäß? @ Ute Gerhard/Eva Senghaas-Knobloch: Was heißt Gleichberechtigung ?
@ Wolfgang Däubler: Menschenrechte im Betrieb @ Rüdiger Lautmann: Homo-
sexuelle als Indiz @ Klaus Horn: Medizinische Versorgung und Menschenrechte @
Helmut Ortner: Wer bestraft wird, verliert sein Bürgerrecht ® Hans Heinz Heldmann:
Unsere ausländischen Mitbürger @ Ingeborg Drewitz: Die Vergangenheit liegt nicht
hinter uns @ Thomas Blanke: Der 'innere Feind’ in der Geschichte der BRD @ Al-
brecht Funk: Welche Sicherheit schützt die Polizei? @ Ulrich Albrecht: Soldaten und
Demokraten — eine bleibende Differenz ? @ Mechthild Düsing/Uwe Wesel: Die Feste
der freien Advokatur wird gestürmt.
Je Heft 130 Seiten, Magazinformat, fester Umschlag, DM 10,--.
Herausgeber und Bezugsadresse: Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.,
An der Gasse 1, 6121 Sensbachtal (gegen Vorauszahlung; Scheck, Briefmarken,
Bargeld o.ä. beilegen).
& git йу, ole bringen dok nichts аб...
@ Pennerleben
© Jugend & Bundeswehr
® Lernen in Situationen
@ Ein Deutscher Verein
Ф Alkohol im Freizeitheim
@ Hierarcholie - das Erzieherspiel
für versierte Professionelle
ө Mädchenfreundschaften
das ist eine Auswahl von Themen
und Beiträgen, die dieses Jahr in
päd.extra sozialarbeit erschienen.
Dazu hat jedes Heft einen aktuellen
Zeitungsteil, ausführliche Besprechungen
von neuen Büchern, Filmen, Dia-Serien
und anderes mehr.
Zum Kennenlernen gibt es das
Probierpaket: 4 fortlaufende Hefte
päd.extra sozialarbeit und dazu
das päd.extra Lexikon im Kasten,
das mit jedem Heft weitergeführt wird -
ein universelles Nachschlagewerk
mit über 300 Stichwörtern auf
Karteikarten.
pad. af
d
der Mitarbeiter.
SOZI
So de кале Wahre ГА
E
pddex-Verlag, РЕ 295, 614 Bensheim
Ich bestelle:
О ein Probierpaket päd.extra sozial
arbeit zum Preis von DM 20,--, die
ich als V-Scheck/Briefmarken beige-
fügt habe.
Ich bin damit einverstanden, daß
päd.extra sozialarbeit als Halb-
jahresabo* weitergeliefert wird, wenn
ich nicht spätestens nach Erhalt des
dritten Heftes kiindige.
* Halbjahresabo DM 29,50 abzgl.
DM 3,-- bei Abbuchung + DM 5,--
4uslandszuschlag (Luftpost)
Мате
Vorname
Straße
Plz, Ort
Datum, Unterschrift
Von meinem Recht, diese Bestellung
innerhalb einer Woche zu widerrufen, 7
7
bin ich unterrichtet.
1
I
|
|
|
|
|
1
I
|
|
|
|
1
|
|
|
I
l
|
|
|
!
|
I
|
I
4
1
Prokla
пен б рона Zoe 39
Okologie, Technologie
und Arbeiterbewegung
Editorial, Ökologiebewegung
und Arbeiterbewegung - ein
Widerspruch? / Harald Gla-
ser, Die ‘friedliche’ Nutzung
der Atomenergie als Beispiel
kapitalistischer Technologie-
entwicklung / Lutz Hieber, Ist
der naturwissenschaftlich-
technische Fortschritt noch
demokratisch kontrollier-
bar? / Christel Neusüß, Der
“freie Burger gegen den
Sozialstaat - Sozialstaats-
kritik von rechts und der
Alternativbewegung /
Roundtable-Gesprach, ‘Die
Arbeiter sind nicht bereit, sich
einem wahnwitzigen Arbeits- H
tempo zu unterwerfen, um oo
Autos zu produzieren, die von ~~
vornherein reif für den Müll
sind!’ / Thomas Hahn, Alter- E
nativen des ADGB in der Krise im Abo
1928-33 / Siegfried Hei- DM 8,-
mann, Die DGB-Konferenz zur
Geschichte der Gewerk-
schaften / Albert Krölls, Lohn Rotbuch
für Hausarbeit Verlag
"Iinks”-
Sondernummer
”SOZIALE
BEWEGUNGEN "GROSSER RATSCHLAG”
UND EE
SOZIALISTISCHE
POLITIK”
zum
3 GROSS EN
RATSCHLAG”
Diese Sondernummer bietet Materialien, Diskussionsbeiträge
und Analysen zur Vorbereitung des "Großen Ratschlag” (Kon-
greß 27.-29.6.1980 in Frankfurt).
Sie befaßt sich mit den folgenden Themen:
© Editorial @ Solidaritätsfonds des SB Ө David Wittenberg: Ent-
spannungspolitik e Dan Diner: Krise im Mittleren Osten — Welt-
krise @ Josef Esser u.a.: Entwicklungsperspektiven des "Modell
Deutschland” ® Eva Matzanke u.a.: Datenschutz @ Klaus Horn:
Strauß und die Emotionalisierung der Politik @ Joachim Hirsch:
Proletariat adieu? @ Lothar Hack/Eckart Teschner Technische
Intelligenz — Meßdiener des Fortschritts @ Roland Roth: Bürger-
initiativen @ Helmut Burgwinkel: Bei wem stimmt’s denn hier
nicht? Anmerkungen zum Arbeitsfeld Schule @ Suso Lederle/
Reinhard Laux: Politische Arbeit im Gesundheitswesen @ Er-
hard Wedekind/Renate Blum-Maurice: Beziehungsarbeit als
Lohnarbeit @ Heide Erd-Küchler/lris Bergmiller: Frauen und
Friede © Volkhard Brandes: SB-Sommerschule 1980 e Wolf-
Dieter Narr/Klaus Vack: Form und Inhalt der Politik @ Andreas
Buro: Verschlungene Pfade — Lernprozesse und Emanzipation
@ Volkhard Brandes: Für ein neues Politikverständnis
64 Seiten, illustriert, "links”-Format, DM 5,--.
Erhältlich gegen Vorauszahlung (Briefmarken beilegen) über
Sozialistisches Büro + Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 6050
Offenbach 4; Telefon 0611-82006.
INFORMATIONSDIENST
SOZIALARBEIT
Schwerpunktthema
PSYCHO — ` METHODEN
IN DER SOZIALARBEIT
INHALT
Vorbemerkung
Die Anstalt: Gespräch mit Helmut Riiddenklau
Reinald Weiß
Bemerkungen zum Doppelcharakter sogenannter Modellein-
richtungen in psychiatrischen Großkliniken
Rose Ostermann
Erfahrungen und Erlebnisse in einem Übergangsheim
Interview mit K., der in einer Behindertenwerkstatt arbeitet
Roswitha Gebauer
Werkstatt für Behinderte - Gefangenschaft anders
Friederike Rauschenberger
Wohngruppenmodell in Marburg
A.Letz/U.Blanke/U.Tubbesing
Erfahrungen aus einer, zur Psychiatrie alternativen
Wohngemeinschaft in London — Ein Interview
Christiane Heider
Über ein Buch: La peste gagne la grand psy
Wilma Neuenhagen
Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften
Dietmar Roeschke
Ist ein Suizident ein Dissident?
Rolf Schwendter
35 Thesen
Beschwerdezentren
Michelangelo Notarianni
Zum Tode von Basaglia
A.Hofmann/G.Pabst/U.Stascheit
Sozialhilfe-Aktion: 2.Runde
Termine und Materialien
26
28
32
38
41
63
69
77
VORBEMERKUNG
In diesem Heft wird ein bestimmtes abweichendes Verhalten behandelt,
das heute psychische Krankheit genannt wird. Die darunter gefaßten
Abweichungen sind ganz unbestimmt und nirgends in Gesetzen oder
Vorschriften festgelegt, wie etwa Raub oder Unzucht mit Kindern - 8
solche Abweichungen heißen kriminell. Dennoch werden von Ärzten gon
kette wie schizophren, manisch-depressiv oder neurotisch mit den be
kannten schwerwiegenden Folgen verhängt. Hingestellt wird das als
Hilfe für einen Kranken. ;
Ein einfacher historischer Riickblick zeigt, daß der Umgang mit der
Abweichung von sozial gefordertem Verhalten sich stark gewandelt
hat. Noch vor wenigen Jahrhunderten hätte man vielleicht einen im А
heutigen Sprachgebrauch psychotischen Menschen als Zauberer mit ho
hen sozialen Ehrungen anerkannt.
Was im sozialen Verhalten Abweichung bedeutet, hängt von dem ab,
was als normal gilt. Dazu ist das Buch von N. Elias Der Prozess der
Zivilisation lesenswert. Den besonderen Gesichtspunkt der TE.
im Umgang mit denen, die heute psychisch krank heißen, hat M. Foucau
in dem Buch Wahnsinn und Gesellschaft dargestellt. Zu der Vereinnah-
mung von Gesundheit - auch psychischer - in die Kompetenz der pro-
fessionellen Medizin I. Illich Die Enteignung der Gesundheit.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die Ausgrenzung des Wahnsinns aus
dem gesellschaftlichen Leben den Tod im KZ zur Folge hatte. Auch heu-
te werden mit Psychopharmaka, mit hirnchirurgischen Eingriffen und
den besonderen Haftbedingungen der Irrenhäuser Menschen zu Grunde
gerichtet. Auch die sanfte Keule Psychotherapie will nur mit ihren
Mitteln die Anpassung an herrschende Gewalt erzwingen.
DIE ANSTALT: GESPRACH MIT HELMUT RUDDENKLAU
Du warst in einer psychiatrischen Abteilung in der Bundesrepublik.
Soweit ich weiß, ein oder zwei Monate?
Drei.
: Wie kam das, daß du da rein kamst? Also warst du früher schon
einmal in so einer Anstalt, wie bist du da rein gekommen?
: Die Einweisung erfolgte auf Grund von Krankheitsgeschichten aus
der DDR, wo eine Einweisung war.
Wieviele Jahre liegen dazwischen, zwischen der Einweisung hier
und der in der DDR?
Das sind neun Jahre.
Und was ging der Einweisung hier direkt voraus?
Die Einweisung erfolgte auf Grund meiner Eltern, nach denen an-
geblich eine psychische Krankheit vorlag. Ich sollte laut Be-
schluß an einer jahrelangen Geisteskrankheit leiden, einer endo-
genen Psychose (Schizophrenie) und würde zunehmend angriffslustig
gegen Eltern und Ärzte und würde wüste Drohungen ausstoßen.
Warst du bei dem Arzt vorher in Behandlung, oder hat er sich aus-
schließlich auf die Angaben deiner Eltern gestützt?
Ich glaube, wie aus dem Beschluß hervorging, nur auf Angaben
meiner Eltern, das ist meine persönliche Meinung.
Und die stützten sich wieder auf die Angaben der Ärzte in der
DDR?
Ja, in Bezug auf die Krankheit.
Wie war das dann, als du da hin kamst, ins Krankenhaus? Da kamst
du wahrscheinlich auf die Aufnahmestation, was ist da passiert?
Aufnahmestation? Da war ein Arzt, der nicht lange Formalitäten
machte, nur nach Namen usw. fragte; und ich fragte ihn dann, ob
denn gleich Medikamente verordnet würden. Das verneinte er, was
aber trotzdem kurz darauf gemacht wurde.
Hat er dich körperlich untersucht oder was?
Nein.
Ja, was hat er gesagt: Guten Tag?
Er hat nur den Namen aufgeschrieben, und damit war die Sache ge-
tan.
Und was passierte dann?
Ja dann war das übliche. Dann wurde mir ein Zimmer zugewiesen,
und dann war Abendbrot und dann Medikamentenverteilung, bei mir
Haloperidol (im Westen Haldol).
Gab es irgendwelche Untersuchungen vorher?
Nein.
: Überhaupt keine? Und wurde dann eine Diagnose gestellt oder auch
noch nicht?
Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, ich glaube ja, aber
davon weiß ich nichts.
Und am nächsten Tag, wie war das so, also war es dann jeden Tag
dasselbe?
HUMANISIERUNG
ОЕ
DES
Berichte * Konzepte * Alternativen
Arbeitsfeldmaterialien zum Sozial-
und Gesundheitsbereich, Heft 9
: Waren die lange da oder so lange wie Du?
: Nein, die waren sehr lang da.
Nein, die erste Nacht konnte ich iiberhaupt nicht schlafen; ja,
und ich hatte mich sozusagen auf das Ganze schon eingestellt,
ich weiß nicht wie, aber ich war es und die nächsten Tage lief
dann das Normale, was in einer Psychiatrischen Anstalt so läuft.
Was ist normal? Viele Leute wissen ja nicht, was in einer solchen
Anstalt normal ist und was nicht.
Das ist also Wecken.
Wann?
Sieben, sechs und dann Frühstück, Beschäftigungstherapie.
Was ist das? Was habt ihr da gemacht?
Das ist vor allen Dingen Handwerkliches, sie machen dann so hand-
werkliche Sachen, Nadelarbeit.
Hast du denn auch so etwas gemacht?
Nach vierzehn Tagen dann ja, vierzehn Tage muß man drin bleiben.
Drin, das heißt, man muß innerhalb der Station bleiben. Man kann
schon einmal in die Beschäftigungstherapie gehen, ich selber war
es aber nicht, und die ersten acht Tage war ich auf einer geschlos-
senen Station.
Die du nicht verlassen darfst?
Nein.
Aber mit einem Pfleger?
Doch, nur mit auf den Spaziergang, sonst nicht. Und dann kam ich
auf eine offene Station.
: Wie sah das aus?
: Wecken, Beschäftigungstherapie und dann Mittagessen. Ja, und nach-
mittags auch wieder Beschäftigungstherapie, abends wieder essen
und dann gleich schlafen. Ja, und dann noch Beschäftigungen.
Was ist denn nun Beschäftigung?
: Auf der Station zum Beispiel Fernsehen sehen oder daß es das Üb-
liche, zum Beispiel Spielen gab, wie zum Beispiel im Altersheim,
bestimmte Spiele.
Wieviel Leute wart ihr im Zimmer?
Drei.
Und was bekamen die anderen, auch dieselben Medikamente oder an-
dere?
Nein, ich weiß nicht mehr so genau, aber zum Teil bekamen sie
ähnliche Medikamente, das überschnitt sich mit mir.
Vor dem zweiten Tag, wie sah das mit Kontakt zu Ärzten aus, wur-
den Medikamente geändert, oder wurde dann noch einmal eine Unter-
suchung gemacht?
Ja, das habe ich vergessen und zwar war es nach drei, vier Tagen,
ich weiß das auch nicht mehr so genau, da hatte ich schon eine
ganz hohe Dosis Haloperidol eingenommen; das hat sich auf eine
Gesichtsversteifung ausgewirkt, aufgrund derer ich nicht mehr
richtig denken konnte. Da gingen mir Fähigkeiten, die ich irgend-
wo einmal erworben hatte, abhanden, und ich konnte auch dem Arzt
nicht mehr richtig darstellen, was gewesen war. Also, ich konnte
es schon noch, ich habe es so gut wie möglich versucht. Dieser
setzte, weil er es irgendwie sah, die Dosis Haloperidol herab.
Hat er also nur reduziert?
Ja, und dann sagte er sofort, daß nach 8 Wochen eine Verlängerung
der Zwangseinweisung auf ein Jahr geschehen könne, das gehe dann
automatisch. Ich fragte ihn vorsichtshalber, wie lange meine Be-
5
шшш
шн
handlung dauern würde. Da sagte er 6 - 8 Wochen. Dann haben wir
uns unterhalten, wie das eben ist. Ja, dann hat er sich nicht mehr
mit mir beschäftigt, mit dem Fall. Ach so, das wollte ich noch
sagen, es gab natürlich bestimmte Tagesabläufe: Da war Gruppe.
Gruppendynamische Prozesse wurden dort analysiert; meiner Ansicht
nach wurden bestimmte Probleme der Station, das Leben innerhalb
dieser betreffend, besprochen. Ich fand die Gruppengespräche im
Ansatz sehr gut, aber es hätte viel Effektiveres da rausgeholt
werden können, um eventuell daraus eine richtige therapie-unter-
stützende Maßnahme zu machen. So war es eben nur ziemlich lang-
weilig, weil banale Probleme aus der Station, meinetwegen das
Stehlen von Löffeln, oder was weiß ich , besprochen wurden; durch
die erzeugte Langeweile wurde die Chance genommen, irgend was
effektiv zu machen,
: Was denkst du, was das Ziel der Behandlung war, deiner Meinung
nach?
: Speziell meiner Behandlung?
Ja.
Da bei mir die Annahme war "endogene Psychose", ich aber selbst
auch nicht genau wußte, wie sie sich die Behandlung vorstellten,
kann ich nur sagen, was ich gehört habe. Durch die Medikamente
sollte ein "aufgeschlossenes Verhalten" des Patienten erreicht
werden, wodurch man aber nicht alleine etwas herstellen konnte;
also eine Behandlung, um dann psychotherapeutische Maßnahmen ein-
zuleiten. Also, bei mir speziell, "endogene Psychose" ist ja nach
ihrer Darstellung eine von innen herkommende, ererbbare Krankheit,
die medikamentös körperlich nur bedingt heilbar ist.
Und was sollte jetzt erreicht werden?
Wahrscheinlich erst einmal eine Beruhigung, eine Eindämmung des
Krankheitsherdes, so wie sie es darstellten. Das Problem war na-
türlich, wie auch in der DDR schon, daß angeblich keine gruppen-
dynamischen Gespräche notwendig waren, wie auch damals immer. Die
Behandlung war praktisch nur die körperliche "Wiederherstellung"
durch Medikamente.
: Du hast aber genau das Gegenteil beschrieben , daß es dir zu-
nächst durch die Medikamente, körperlich gesehen, gar nicht bes-
ser ging.
Das hatte ich; das, was ich jetzt brachte, ist die Darstellung
der offiziellen Psychiatrie. Die Medikamente hatten einen Einfluß,
der lähmend war, ermüdend und quälerisch und solche körperlichen
Schmerzen machte.
: Du bist doch dann nicht ein Jahr geblieben, sondern drei Monate.
Warum wurdest du denn entlassen? Hatte sich irgend etwas geändert?
Vor allen Dingen war es mir von vornherein klar, daß man gegen
diese Art von Psychiatrie, diese Art der Nichtbeachtung, des
Übergehens von Aussagen nur etwas erreichen konnte durch eine Art
Anpassung und teilweises Zugeben; daß man bei ihnen den Eindruck
erweckte, man wäre krankheitseinsichtig. Diese Strategie habe ich
auch verfolgt, indem ich, als der Richter kam, einen Kompromiß
gemacht habe und sagte, ich wüßte nicht genau,was da gewesen wäre
und es könnte wahrscheinlich so sein, wie sie sagten. Hinterher
habe ich dann versucht, die Ärzte unsicher zu machen. Ich glaube,
das macht jeder Patient.
Ich glaube, ich habe dich verstanden, damit du wieder rauskommst?
Ja, nein, ich wollte eine höchste Effektivität erreichen. Einer-
seits raus und andererseits nachher nicht in Schwierigkeiten
kommen. In dieser Situation ist es eben, wie gesagt, schwer. Z.B.
gab ich einem Psychologen friiher von mir Geschriebenes zum Lesen,
was ihn und die gesamten Arzte so verunsicherte, daß dann die
Oberärztin mir zugestand, daß ich eine Schreibmaschine haben könn-
te. Andererseits wurde ich zu einer sogenannten Maltherapie ge-
schickt, wo man mit mir nicht so viel anzufangen wußte. Mir wur-
de also der Status eines Intellektuellen zugestanden. Von meiner
sozialen Herkunft hatte ich als Pfarrerssohn natürlich gewisse
Vorteile. Ich weiß es nicht genau, aber in irgendeiner Weise ha-
ben sie es bestimmt beachtet.
: Als du entlassen wurdest, wurdest du dann als geheilt entlassen
oder als gebessert? Ging es dir dann besser oder schlechter oder
anders? Hatte sich etwas geändert?
Ja, insofern hatte sich etwas geändert, als ich durch die Medika-
mente gegenüber vorher nicht reaktionsfähig war, daß ich also
erst in einer Behindertenwerkstatt arbeiten mußte, um wieder reak-
tionsfähig zu werden.
Meinst du, daß der Aufenthalt insgesamt für das weitere Leben
hier in der Bundesrepublik mehr negative oder positive Aspekte
hatte für dich?
Also von meiner persönlichen subjektiven Darstellung glaube ich,
daß es natürlich negative Folgen hat, weilmeiner Ansicht nach aus
dem, was ich bisher gedacht habe, dieser Aufenthalt nichts ge-
bracht hat. Also, das Gesundheitsamt hat ja Kenntnis bekommen,
das Arbeitsamt hat Kenntnis bekommen, daß man in der Psychiatrie
war, das wird ja den Behörden bekannt. Wir gehen mal von den nach-
folgenden Problemen aus und da ist eben das, daß man in jedem
Fall mit dem Arbeitsamt Schwierigkeiten hat, weil der Arbeitgeber
irgendwann einmal herauskriegen kann, daß man in einer psychia-
trischen Anstalt war. Mir hatte ein Mann, der eine gute Stellung
gehabt hatte und wegen eines bestimmten Armnervenleidens in der
psychiatrischen Klinik lag, gesagt, was bezeichnend dafür ist,
daß er nur noch Rente beantragen wollte; daß er dann nur noch ab
und zu, bei Vermittlung eines Arbeitsamtvorschlages durch das Ar-
beitsamt, daß er dann eben sagt, er wäre in Merxhausen gewesen
und dann, sagteer mir, dann wäre für ihn die Sache gelaufen, dann
braucht er nicht mehr zu kommen; insofern ist dies bezeichnend
für die Lage der ganzen Patienten, daß man keine Arbeitsstelle
mehr bekommt. Mir selber ist es nicht passiert, aber ich weiß ganz
genau, daß es so ist.
Wie kam es dazu, daß das Arbeitsamt etwas erfährt?
Das Arbeitsamt wußte insofern etwas, als man in der Behinderten-
werkstatt war und dann bestimmte Gutachten vorliegen, die eine
gesundheitliche Einschränkung bestätigt haben. Zum zweiten ist
natürlich dann die Frage mit der Wohnung, das habe ich auch gemerkt;
als ich suchte, hatte ich natürlich Vorteile insofern, als ich
eine Adresse nachweisen konnte, aber ich weiß, daß auf jeden Fall
Sozialhilfeempfänger, Patienten aus psychiatrischen Anstalten einen
eingeschränkten Status haben im augenblicklichen Wohnungsengpaß
in der Bundesrepublik, was wiederum auf die soziale Krisener-
scheinung usw. zurückzuführen ist.
Würdest du noch einmal freiwillig in ein Psychiatrisches Kranken-
haus gehen, wenn du in Schwierigkeiten kommst, oder meinst du,
es ist für dich sinnlos?
Da die Zwangseinweisung sowieso eine Zwangseinweisung war, und
ich niemals freiwillig in so etwas hineingegangen wäre, kann man
sich leicht vorstellen, daß ich so etwas freiwillig niemals ma-
chen würde. Daß schon eine Zwangseinweisung vorliegen muß, es sei
denn, man macht sogenannten indirekten Druck, wie ich das gelesen
und auch gehört habe, von anderen Patienten, daß man sagt, man
schreibt eine Zwangseinweisung, oder sie weisen sich selber frei-
willig ein, eben durch freiwilligen Zwang. Das Problem ist natür-
lich, es braucht jetzt nicht von mir abzuhängen, das weiß ich,
daß Patienten, wenn sie einmal draußen sind, eben schnell von der
Polizei aufgegriffen werden können, wenn sie nur in irgendeine
Schlägerei verwickelt sind und sie noch nicht einmal daran Schuld
waren, aber dann eben, weil sie einmal in einer psychiatrischen
Anstalt gewesen sind, entsprechend als schuldig behandelt werden.
Zum anderen auch, was ich auch negativ sehe, daß eine Vereinfa-
chung des Problems der Behinderten, des Problems der psychisch
Kranken gemacht wird, indem z.B. Intelligenzschwäche, Legastenie
und Geistesschwäche so zusammengezogen werden, zu Assozialität
usf., in ein anderes Kriterium
z.B., assozialem Verhalten usw.
für den Status des Kranken.
Noch einmal zurück zur Klinik, welches Verhältnis hattest du zu
den Ärzten? Und was wollten die Ärzte in der Visite von dir im
wesentlichen wissen?
Also, es schien mir so, als wenn die Visite mehr dazu da war,
indem nämlich z.B. der Arzt
daß der Patient etwas vom Arzt wollte,
entschied, ob Urlaub gewährt wurde oder nicht oder Ausgang. Das
ist wiederum Erziehungswesen, ich weiß nicht, in welcher Form das
sein sollte; es war aufgebaut auf ein bestimmtes Punktesystem und
an bestimmte Sachen gekoppelt. Wer an Beschäftigungstherapien
usw. teilnahm und das wiederum wurde wahrscheinlich als sogenann-
te gesundheitsunterstützende Maßnahmen angewandt, indem der Pa-
tient aktiviert werden sollte. Und dann je nach der Erteilung von
Urlaub Anreiz sein sollte; dieses Anreizsystem war insofern er-
schwert, als die Medikamente natürlich dämpfend wirkten und in-
sofern ein eingeschränkter Aktivitätsradius war. Die Visite war
ein Gespräch im wesentlichen über die Maßnahmen. Sie fand mittags
statt, und wenn man etwas besprechen wollte, montags; sie dauer-
te drei bis vier Minuten. Nun muß noch dazu gesagt werden, das
Psychiatrische Krankenhaus, in dem ich war, war ein äußerst fort-
schrittliches, also moderne Ausstattung und eine gegenüber anders-
wo in der Bundesrepublik relativ fortschrittliche Behandlung
Und welche Rolle haben die Psychologen gespielt und das andere
Pflegepersonal überhaupt. Hast du mit diesen etwas zu tun gehabt?
Ja ich weiß, daß das Pflegepersonal indirekt ein Meldeorgan der
Psychiatrischen Anstalt selber war und nicht unbedingt im Inter-
esse der Patienten handelte. Aber auch der Arzt war nicht in der
Lage, ein bißchen mehr Aktivität, ein bißchen mehr Courage zu
entwickeln und sich im Interesse der Patienten einzusetzen, um
diese ganze Behandlung insgesamt zu verbessern. Das wäre ein
guter Ansatzpunkt.
Hattest du etwas mit Psychologen zu tun?
Ja, ein Psychologe war da. Das war im wesentlichen die Krank-
heit zu analysieren, das war eben der Mann, der mehr das Psycho-
logische macht, während der Arzt mehr für die Medikamente zustän-
dig war. Der Pschologe war bei den Gesprächsgruppen dabei und hat
= ra
psychologische Tests gemacht und psychologische Gespräche, wäh-
rend der Arzt mehr Untersuchungen machte.
Weißt du, was daraus wurde?
Ich selber habe sie nicht gemacht, ich weiß allerdings auch nicht,
ja insofern allerdings auch für die Einschätzung von bestimmten
Krankheiten usw. hat man das verwendet.
Daß die Ärzte nur Medikamente verordnen können, die gestaffelte
Ausgangsstellung nach Punktesystemen vorsehen und daß der Psycho-
loge dann irgendwelche Tests macht und bei Gesprächen dabei ist
und ohne daß das irgendwelche Folgen hat?
Ja, also das war ja nur Skelett, was ich erläutert habe.
Konntest du denn da ausdrücken, was in dir vorging, denn auf der
einen Seite hast du ja versucht, dich in einer Scheinweise anzu-
passen? Konntest du denn etwa in der Maltherapie, das, was dich
wirklich anging, deutlich werden lassen?
Ja, wenn ich von meinem persönlichen Fall ausgehe, war natürlich
die Maltherapie nicht geeignet für mich, weil ich weitaus inten-
sivere oder komplizierte Ausdrucksmöglichkeiten suchte; es lag
aber letztenendes nicht an der Maltherapie oder an anderem, son-
dern vielmehr an einschränkenden Medikamenteneinnahmen, daß ich
im Augenblick nicht in der Lage war, irgend etwas zu machen.
Hat sich das Krankenhaus vor deiner Entlassung irgendwie um dei-
ne Zukunft gekümmert, sozial usw.?
Ja, das hing natürlich von Patient zu Patient ab. Bei mir wurden
die Behindertenwerkstätten empfohlen.
Hat man Gespräche mit deiner Familie geführt, Resozialisierungs-
maßnahmen?
Um die Wohnung hat sich speziell eine Sozialtherapie gekümmert,
aber bei den anderen Patienten habe ich oft gehört, daß sowas
nicht der Fall ist.
Wie war es mit deinen Eltern, wurde das irgendwie nachgeprüft,
was die erzählt hatten?
: Ich hatte nur ein Gespräch. Wenn mein Vater immer ausdrückte,
mein politisches Interesse wäre nicht normal, hingegen der Arzt
sagte, daß dieses nicht annormal wäre. Ja, und ich habe mit dem
Arzt darüber gesprochen, weiß aber nicht konkret, was aus den Ge-
sprächen mit meinen Eltern tatsächlich heraus kam.
Führte der Psychiater die Gespräche oder der Psychologe?
Die Psychiaterin und der Psychologe.
Ja, wieviel Gespräche waren das?
Ich weiß es nicht, es waren eine ganze Anzahl mit meinem Vater.
: Deine Mutter war nie da?
Nein, nur mein Vater; was da genau gesprochen wurde, weiß ich
nicht.
Wie fühlst du dich nach der Entlassung, im Gegensatz zu vor der
Entlassung?
Im Gegensatz zu vor der Entlassung kann man ganz konkret feststel-
len, daß ich durch die Medikamenteneinnahmen in einen starren
Gang versetzt war, daß ich weder richtig sitzen noch stehen konnte,
und daß ich ständig in Unruhe war, Robotergang, wie man so schön
sagt.
Hattest du mehr Hassgefühle?
Es war mir damals sowieso nicht klar, was dieser ganze Vorgang
bedeutete, einerseits hatte ich den Eindruck, was sie erzählt
hatten und andererseits war die Frage, ob man krank oder nicht
9
krank war, man hatte erst einmal mit seinen eigenen Problemen
zu tun, man mußte erst wieder einmal reaktionsfähig werden man
mußte Kräfte sammeln, man konnte da eben nicht verschiedenes ma-
chen, dazu war man überhaupt nicht in der Lage.
Wie lange warst du in der DDR in der Anstalt?
Das war ein 3/4 Jahr, in der geschlossenen Abteilung.
Da warst du noch ein Kind?
Vierzehn Jahre, fünfzehn.
Waren da die Verhältnisse vergleichbar gegenüber hier?
Ich weiß nicht mehr was damals genau war, aber das fing an, nach-
dem man ganz bestimmte Sachen erzählte, ich zu einem Arzt ging.
Die machten dann allerlei Untersuchungen, verschrieben auch eini-
ge Medikamente, die nicht sehr stark waren und angeblich -- ich kann
das von damals nicht mehr zurückspiegeln -- kam es im Herbst 1970
zu einer Einweisung, wieso weiß ich nicht. Ich konnte mich auch
nicht wehren, weil ich keine Kenntnisse von den Gesetzen hatte.
Ich wußte zwar, was ablaufen würde, aber konkret die Gesetze
das mußte ich erst erfragen; insofern war man hier in der Weise
wehrlos.
Reinald Weiß
BEMERKUNGEN ZUM DOPPELCHARAKTER
SOGENANNTER MODELLEINRICHTUNGEN
IN PSYCHIATRISCHEN GROSSKLINIKEN
Über den Abdruck des folgenden Artikels haben wir in der Redaktion
Lange gesprochen. In erster Linie hat uns gestört, daß wir viele
Teile davon nicht verstanden haben - oder erst, nachdem wir Lange
gemeinsam überlegt haben, was gemeint sein könnte. Den ersten Ent-
wurf hat der Verfasser noch einmal überarbeitet - es war abzusehen,
daß wir nach wie vor Verständnisschwierigkeiten haben würden.
Es kann niemandem vorgehalten werden, daß seine Ausbildung und der
Wunsch, sich genau auszudrücken, zu Formulierungen führt, die nicht
Jeder versteht. War unsere mangelnde theoretische Vorbildung der
Grund dafür, daß wir keine Diskussion mit dem Verfasser über die In-
halte führten konnten? Einige Mitglieder der Redaktion hegen Zwei-
fel, ob nicht einige Bemerkungen bloßer Bluff sind.
Der Artikel ist auf unsere Bitte an den Verfasser, etwas für das
Info zu schreiben, angefertigt worden. Wir wußten, daß R. Weiß
sich schon früher sehr theoretisch mit Fragen der psychosozialen Ver-
sorgung befaßt hat. Insofern wäre es schon mindestens grob, eine
Veröffentlichung nun abzulehnen. Den Ausschlag für den Abdruck des
Artikels hat schließlich die Überlegung gegeben, daß sich in dem
Kontrast zu anderen Aufsätzen vielleicht die Schwierigkeit zeigt,
welche Sprache wir untereinander sprechen und mit welcher Sprache
wir hoffen können, verstanden zu werden. Und diese Schwierigkeit ist
kein Problem von R. Weiß mit der Redaktion; nachdenken müssen wir
alle darüber.
"Die Grundursache der Entwicklung eines
Dinges liegt nicht außerhalb, sondern
innerhalb desselben, sie liegt in seiner
inneren Widersprüchlichkeit." Mao Tse-tung
Im folgenden sollen einige Widersprüche anhand einer Modellstation
aufgezeigt werden, welche ihrerseits als Sozialtherapeutische Sta-
tion definiert worden ist und irgendwo im Norden des Niemandlandes
(BRD) liegt.
Die Merkmale der Sozialtherapeutischen Station sind schnell datge-
legt. Es handelt sich um ein selbständiges Gebäude im Kliniksgelän-
de und zeichnet sich vorwiegend dadurch aus, daß
a) hier nicht nach "Krankheitsbildern", sondern nach der Motivation
und dem Kommunikationswillen der Patienten gearbeitet wird
b) und hier eine Bezugstherapeutendichte und eine Konstellation an
fachspezifischen Mitarbeitern gegeben ist, die in dieser Form wahr-
scheinlich in der BRD einmalig ist. Durchschnittlich befinden sich
28 Patienten auf der Station, wobei der einzelne Bezugstherapeut
mit seinem jeweiligen Patienten relativ selbständig die Therapie -
selbstverständlich immer auf dem Hintergrund des Teams - bestimmen
11
und durchführen kann. Es ist also durchaus die Möglichkeit gegeben,
modernere Therapieformen wie z.B. "Neo-Reichianische" Therapien zur
Anwendung zu bringen, was sicherlich in der klassischen Psychiatrie
noch vielerorts belächelt oder bekämpft wird.
Im Laufe der Geschichte bekam das Team sehr schnell zu spiiren, in-
wieweit es dazu diente, als Aushängeschild der Klinik herzuhalten.
Es wird zwischendurch immer mal wieder unerträglich zu erfahren,
daß man selbst fortschrittliche Therapien macht, während 50 Meter
weiter in einem Langzeithaus Patienten total medizinisch und thera-
peutisch unterversorgt sind - und auch bleiben. Der Student oder die
Personengruppe, welche sich auf den "psychotourismus" (Besichtigun-
gen) begibt, bekommt diese Seite des Geschehens nicht zu sehen. Zur
Station selbst ist noch zu erwähnen, daß sie sich von einer mehr so-
zialtherapeutisch orientierten Station, welche ursprünglich durch-
aus auch Langzeitpatienten rehabilitieren wollte, immer mehr hin zu
einer psychotherapeutischen Einrichtung entwickelt hat. Diese Ent-
wicklung wird von der Kliniksleitung gern gesehen, aber von der
sonstigen Mitarbeiterschaft eher feindlich betrachtet. In diesem
Zusammenhang muß das Wort "Edelpsychiatrie" mal wieder genannt wer-
den.
Die liberalistische Kliniksleitung ist durchaus mit dem Nowhere-man
der Beatles zu vergleichen - und hier sind wir beim nächsten Para-
doxon: Der Nowhere-man erstellt alle seine Nicht-Pläne für - nieman-
den - oder doch? Die Nicht-Pläne, genau: das Stete-offen-lassen, die
Verhinderung der Festschreibung von einmal erreichten Modellen, wer-
den durchaus für jemanden gemacht - bzw. eben nicht gemacht: Für
die ökonomische Selbsterhaltung der Klinik (des In-put) und den
Status quo (Legitimation der Klinik) also letztendlich für das Psycho-
Establishment. Trends werden zunächst gerne erst einmal zugelassen,
sei es auch nur, um an ihnen den angeblich utopischen Charakter auf-
zuzeigen. Engagierte Mitarbeiter, welche eben neuere, mehr therapeu-
tische und weniger medikamentöse Therapien in die klassische Klinik-
situation bringen wollten, sahen sich merkwürdigerweise oft genug
dem Ausspruch gegenüber gestellt: Das haben wir schon immer so gemacht
(Einspruch so frech er auch ist: bei der konsequenten Analyse die-
ses Ausspruchs tritt leider ein materieller Kern hervor, was aber
nur auf die Unmöglichkeit des wirklich Neuen verweist). Es ging
also bei der neuen Einrichtung lediglich darum, psycho- und sozial-
therapeutische Momente miteinander zu koordinieren und diese, ein-
gebettet ins System der therapeutischen Gemeinschaft, zur praxis-
bezogenen Handlungsstrategie werden zu lassen.
Die Grenzen, in einer bürgerlichen Institution (d.h. idealistisch,
Individuums-orientiert und Mehr-Wert erheischend) zu arbeiten, sind
sehr schnell erreicht. Der gewährte Freiraum gilt nur solange, wie er
den üblichen Kliniksbetrieb nicht stört (der gängige Spruch der
Leitung lautet: "Wir müssen einen Flächenbrand vermeiden"). Daß
eine progressive Einrichtung innerhalb einer klassischen Klinik
immer ein Borderline-Syndrom (Grenzfall) sein wird mit allen pro-
gressiven Tendenzen (z.B. Teamarbeit) und regressiven Tendenzen (z.
B. Spezialisierung, Fachidiotentum), dafür sorgen zwei blockierende
Momente:
A) das ökonomische System (Krankenkasse),
B) die Tabus des bürgerlichen Bewußtseins und das hierarchische Sy-
stem im Subsystem (Team)
dürfen nicht abgeschafft werden.
12
Zu A): Eine Einrichtung wie die beschriebene, ist auch als liberal
kapitalistisches Subsystem innerhalb eines organisierten spätkapita-
listischen Systems (Gesamtgesellschaft) anzusehen, wobei in diesem
Zusammenhang die Klinik als ganze fast mit dem gesamtgesellschaft-
lichen System als gleichgeschaltet betrachtet werden kann. Dies hier
weiter auszudifferenzieren, würde nach Habermas der Entpolitisie-
rung dienen, ein Moment zur Erhaltung des Spätkapitalismus. (Jürgen
Habermas , Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M.
1973). Die ökonomisch definierte Zweckrationalität richtet sich am
Input-Outputkriterium aus, das heißt konkret 1) die Bettenzahl und
damit gekoppelt 2) die Auflagen der Krankenkassen und deren Pflege-
sätze. Die rechtliche Grundlage der Langzeitpatienten ist noch anders
definiert. Sie bedarf sicherlich einer genaueren Analyse, doch ist
das Problem mit den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe keines-
wegs geringer.
Diese, dem BRD-Gesundheitssystem entspringende Formbestimmung ist
zunächst sicher nicht personenspezifisch einer Kliniksleitung anzu-
lasten, dient aber immer wieder dem berühmten Sachzwang zur Eindäm-
mung auch kleinerer Reformvorhaben. Dabei geht es gar nicht unbe-
dingt um die Ökonomie, womit wir schon direkt in den Bereich B her-
einragen. Die Definition des Subsystems (einzelnes klinisches Gebäu-
de, Abteilung, Station, Langzeitbereich, ambulante Behandlung,
Team usw.) durch die Totalität (dialektische Ganzheit) (Christel
Baier, Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Erkenntnistheorie -
Untersuchungen zum Totalitätsbegriff in der Kritischen Theorie
Adornos, Frankfurt a.M. 1977) des Systems führt zur permanenten Be-
schneidung des Bereichs B. Man könnte vorweg schon einmal sagen:
ein vermeintlich dynamisches, offen wirkendes System sorgt aufgrund
dieser Formbestimmung für eine Struktur im Subsystem. Struktur be-
zeichnet dabei etwas Undynamisches. (Renate Mayntz, Soziologie der
Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963).
Am Beispiel der Sozialtherapeutischen Station hieß dies, daß zunächst
der Kampf gegen beide Bereiche A und B geführt werden mußte. Heute,
fünf Jahre danach, kommen noch immer Vorwürfe, wenn Betten nicht be-
legt sind, und indirekt wird verlangt (selbst von "progressiv-dyna-
mischen" Kollegen), Personen aufzunehmen, die auf der Modellstation
nicht therapierbar sind. 50 % der Arbeit ist Auseinandersetzung ums
Konzept, immer wieder erklären, warum, wieso und wieso nicht. Der
zermürbende Kampf, allein den Status Quo zu erhalten, führt in einer
wellenförmig sich darstellenden periodischen Abfolge immer wieder zu
Resignation und systemimmanenter, wie auch physischer Erschöpfung,
welche dem System (vor allem B) dient. Das therapeutische Team ver-
einzelt sich, jeder muß Kräfte für sich sammeln und zieht sich hin-
ter seine Tür zum Therapiezimmer zurück, womit die Totalität doppelt
bestätigt wird. Die Mitarbeiter individualisieren sich, eine Ver-
einzelung die sich in der therapeutischen Haltung, d.h. der Therapie,
niederschlägt. Es vergeht jeweils einige Zeit, nach der das Team
aufwacht und bemerkt, wir machen nur noch Einzeltherapie, wir haben
kaum noch eine therapeutische Gemeinschaft, wie es einst - nach Jones
- die Ausgangsdefinition der Station war. So wird die Therapie viel-
leicht zur Verlängerung von Krankheit, denn die Betroffenen leiden
nicht an irgend einem Abstraktum, sondern an der bürgerlichen Ge-
sellschaft, welche sich eben über das vereinzelte Individuum her-
stellt, womit es dem System über Subsysteme gelungen wäre, den In-
put zu erhalten. (Etwas liberal oberflächliche Psychiater nennen
das Ergebnis "Drehtiirpsychiatrie".)
13
Zu fragen war nach den Grenzen einer solchen Modellstation und
nach den Wahrnehmungslücken, die der einzelne Bezugstherapeut im
ganzen System haben muß oder die auch das ganze Team aufbringen muß,
um politisch oder auch nur ethisch das Tun und Lassen noch vor sich
selbst verantworten zu können. So oder so, es muß eine enorme Energie
zur "Subjektverleugnung" aufgebraucht werden - wie sie sonst nur
die ernsthaft narzistisch gestörten Patienten aufweisen, um ihren
tiefen Depressionen zu entgehen. D.h. die Mitarbeiter müssen die
atherapeutischen Widersprüche verdrängen, um sich und ihre Arbeit
legitimieren zu können. Der Doppelcharakter und damit die Grenzen
der Arbeit bedeutet, daß viel zu häufig auf der Station aufgrund
der Bedingungen eine Therapie nicht zu Ende geführt werden kann,
wobei merkwürdige Widersprüche zwischen zwei Momenten zu finden sind.
Auf der einen Ebene - und der Leser wird schnell bemerken, daß hier
ein institutioneller "double-bind" (Beziehungsfalle) auf den Plan
kommt - heißt der Vorwurf "Ihr macht Edelpsychiatrie, wo bleiben die
Langzeitpatienten, kann ich euch einen hospitalisierten Psychotiker
überlassen?"
(Aber gerne!)
Nur kommt da das zweite Moment - das bürgerliche Bewußtsein - in
die Quere durch die Pfleger und teilweise durch Mitpatienten, die
ihre Definition und ihr Selbstverständnis ja auch vom übergeordne-
ten System Klinik verinnerlicht haben: "Das geht nicht, die können
sich nicht einordnen, wir müssen hier auf Sauberkeit achten". Wel-
chem Moment soll aber nun der Therapeut folgen? Gleichwie, er wird
keinem gerecht, am wenigsten sich selbst.
Nehmen wir das Beispiel zweier völlig verschiedener Betroffener.
Der eine ist seit acht Jahren in psychiatrischer Behandlung und so-
mit dem "Segen" des deutschen Gesundheitssystems ausgesetzt; der an-
dere ist erst seit einigen Wochen auf der Station und wird vermut-
lich, je nachdem welches System sich durchsetzt, mehr oder weniger
neurotisch in das Alltagsleben zurück entlassen. Beide Patienten
haben etwas gemein: beide sind voll in ihrem Widerstand. Der Trotz,
ein notwendig zu bearbeitendes Mittel in der Therapie, ohne das jeg-
liche Form von Therapie - sei es Sozial- oder Psychotherapie -
nicht denkbar ist, das zudem auf Momente des Widerstandes gegen das
Alltagsleben verweist, darf nicht zutage treten; es müssen Regeln
erlassen werden, Regeln welche vom übergeordneten System und von
der Ebene B definiert sind, um das, was eigentlich Therapie bedeu-
ten würde, nicht zu erreichen. Denken wir aber daran, daß Therapie
ohne Widerstand nicht möglich ist - wir brauchen nur die Überlegun-
gen zur Übertragung dazu betrachten - so heißt dies, daß therapiert
werden kann nur im Sinne von Verlängerung der Anpassung, d.h. des
falschen Selbst innerhalb des Alltagsgeschehens, was gleichzeitig
meint, Depressionen z.B. sind gut akzeptabel auf der Station (wie
auch hoffähig in der Gesamtgesellschaft). Ein Psychotiker hingegen,
der das echte Selbst - und dies ist eine Notwendigkeit für ihn -
im Sinne von Widerstand gegen das Alltagsleben trägt, fällt eigentlich
schon aus dem Rahmen der therapeutischen Möglichkeit.
Bei dem ersten Patienten heißt dies, er ist oft geistesabwesend,
steht nur in der Ecke (er produziert nicht), er achtet nicht gemäß
den bundesrepublikanischen Sitten auf Sauberkeit, und das Personal
sieht eigentlich nur die Momente der Verweigerung, während der Be-
zugstherapeut stets bemüht ist, innerhalb der jahrelang dauernden
Therapie die Fortschritte zu sehen, daran zu arbeiten und sie immer
14
wieder dem Subsystem der Ebene В deutlich zu machen. Der Bezugsthe-
rapeut gerät somit permanent in eine Verteidigungshaltung, es pas-
siert paradoxer Weise etwas, was in der Sozialarbeit die Parteinah-
me genannt wird, die Auflösung des doppelten Mandats, zumindest für
Momente innerhalb der Teamsitzung (was als materieller Kern nicht
ganz uninteressant erscheint).
Der zweite Patient ist mit seiner Trotzhaltung eigentlich schon in
die Klinik gekommen. Er hat ein merkwürdiges Mittel entwickelt,
seine Rechte durchzusetzen und trotzdem noch einigermaßen auf dem
zwischenmenschlichen Markt zu bestehen, was einige Konfusionen in-
nerhalb des Teams auslöste. Mal war das Subsystem dafür, daß er
bleibt, mal sollte ihm die therapeutische Zuwendung der Station ent-
zogen werden, die Pfleger und Schwestern, welche sich über das Sy-
stem definieren und auch ihre Identität und damit ihren Selbstwert
aus dem System beziehen, fühlten sich durch die permanenten Angrif-
fe und das in Fragestellen des Patienten selbst in Frage gestellt.
Man könnte sagen, der Patient hat eine enorme therapeutische Wirkung
auf die Mitarbeiter, doch soll hier keine Idealisierung oder Mysti-
fizierung stattfinden, es soll nur darauf hingewiesen werden, wie
mit Widerständen umgegangen wird. Der Patient hatte mit dieser Art
Konfliktverarbeitung oder auch Vermeidung im Alltagsleben durchaus
seine Probleme und die sollten auch angegangen werden. Oft wird dann
innerhalb der Therapie auf einen - der Psychoanalytiker würde es
fein Parameter nennen - zurückgegriffen, wobei dies als therapeuti-
sche Intervention verkauft wird. Schaut man auf die unbewußten Wün-
sche, so darf man es durchaus als Bestrafung bezeichnen, wieder ein
Moment von Subjektverleugnung,dem sich die Therapeuten bei noch so
ausgeprägter Reflexion nicht entziehen können.
Die Übertragung ist innerhalb einer therapeutischen Beziehung immer
Widerstand, aber auch gleichzeitig erkenntnisträchtig. Sie erhellt,
wo das Problem des Betroffenen liegt. Eine Patientin lebte ihre ero-
tischen Wünsche dem Vater gegenüber in alkoholisiertem Zustand aus.
Sie versuchte gleichzeitig, den Vater dadurch eifersüchtig zu machen,
indem sie betrunken mit jungen Männern sexuell verkehrte - eine
Situation, die sie mehrmals auf der Station wiederholte. Dabei hat-
te ich mittlerweile für sie die Rolle des "geliebten Vaters" zu über-
nehmen, den es galt, eifersüchtig zu machen. Eine Stationsregel lau-
tet: absolutes Alkoholverbot, auch während des Therapieurlaubs. Im
therapeutischen Verlauf wurde deutlich, daß die Regelverstöße keine
Verstöße im üblichen Sinne (Therapieabbruch) sind, sondern sich als
Widerstand in der Übertragungssituation darstellen. (Es muß gesehen
werden, daß Regelverstöße oft zu schnell als Therapieabbruch von
der Station definiert werden - um das System zu schützen. Streng-
genommen handelt es sich immer um Widerstände, die ihren Ort in
der Biographie des Patienten haben.)
Dieses für die weitere therapeutische Arbeit auszunutzen, hieße, an
diesem Widerstand arbeiten, ihn zuzulassen. (Unter Einbeziehung von
Träumen, Assoziationen usw.) Der Station gegenüber ist ein solches
Vorgehen nicht oder nur in kleinen Dosen zu verantworten. Um die
Therapie aus diesem Dilemma herauszuführen, bedürfte es einer para-
dozen Intervention. Sie müßte lauten: "Sie werden 'trotz' Regelver-
stößen nicht entlassen." Die Folge wäre totale Verunsicherung der
Mitpatienten. In diesem Fall bleibt abzuwarten, wann ich gezwungen
werde, die Therapie abzubrechen, oder ob sich das System doch als so
flexibel erweist, um damit umzugehen. 15
Solcher Art Beispiele verweisen darauf, wo die Grenzen liegen in-
nerhalb einer bürgerlichen Institution und diese sind annähernd nicht
vollständig angesprochen, sondern nur beispielhaft.Therapie und
psychosoziale Versorgung im progressiven Sinne oder gar alternativ
durchzuführen, erweist sich als (un)möglich.
Die Reise durch den Wahnsinn? Dafür gibt es nicht einmal ein Reise-
büro, geschweige denn einen Reiseleiter. Die innere Dialektik solch
fortschrittlicher Institutionen, d.h. das gegenseitige Ausspielen
von progressiven und reaktionären Momenten, wie auch der Ebenen A
und B, verweist auf weitere Grenzen institutioneller psychosozialer
Arbeit. Eine dieser Grenzen ist dadurch gezeichnet, daß sie nicht
zulassen kann, notwendig im Alltagsleben entstandene Trennungen in
der Arbeit aufzuheben. So wäre Bildungsarbeit neben der Therapie -
und bürgerliche Therapeuten höre ich schon aufschreien an dieser
Stelle - sicherlich notwendig, um auch dem betroffenen Patienten
die Situation sowohl des Therapeuten, wie seine eigene, deutlich
zu machen, die aufgestellten Fallen transparent werden zu lassen und
sie so ihrer Gefährlichkeit zumindest teilweise zu berauben. Am
schwerwiegendsten dürfte sich allerdings das Subjekt-Objekt-Pro-
blem, d.h. der Dialog zwischen Patient und Therapeut erweisen. Wäre
dem Therapeuten eine wirkliche Hineinversetzung erlaubt in den Be-
troffenen, gleichzeitig damit eine Solidarität mit dem Patienten
auch emotional angesprochen, so müßte dies automatisch sich gegen
die Institution wenden. Dies ist zugleich eine für die Institution
wichtige Tatsache: Es besteht eine tiefsitzende Angst, jenes altbe-
klagte Moment des doppelten Mandats aufzuheben, was die therapeuti-
sche Situation innerhalb der Institution schlichtweg ad absurdum
führen würde. Man kann soweit gehen und fragen, für wen sind eigent-
lich die Regeln da, für den Patienten oder für die Therapeuten. In
diesem Falle für die Klinik, die Modelleinrichtung innerhalb des
Systems? - Die Nichtaufgabe solcher Regelnormen und institutionali-
sierter Riten sind das Angebot der jeweiligen Modelleinrichtungen,
der Kompromiß an das System, um überhaupt überleben zu dürfen und
zu können. Gleichzeitig sind die Mitarbeiter des Subsystems gezwun-
gen, sich zu prostituieren; man wird verkauft nach außen, wobei sich
das Klinikestablishment als psychosozialer Zuhälter erweist. Fin
sich ernsthaft therapeutisch verstehender Mitarbeiter müßte konse-
quenter Weise sagen: Therapie hat derartig große Einengungen inner-
halb einer psychiatrischen Großeinrichtung zu erfahren, daß sie im
Sinne des Anspruchs so nicht machbar ist. Der Wunsch nach einer Villa
21 (Vgl. Villa 21. Ein anti-psychiatrisches Experiment, in: ders.,
Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, Frankfurt/M. 1971)
muß notgedrungen auf den Plan kommen, da der Therapeut sonst immer
gezwungen ist, in der indirekten Gegenübertragung zu reagieren auf
ein gesetzes Institutionsimago, d.h. der Therapeut arbeitet mit
Patienten im Sinne verinnerlichter Institutionsnormen. Es geht um
eine menschliche Gemeinschaft, die Widersprüche zuläßt und an ihnen
arbeitet bis hin zur Selbstaufhebung. Man kann dem gesetzten Imago
der Institution nie entrinnen. Fazit: wirkliche therapeutische Ar-
beit mit psychisch Kranken kann eigentlich nur - und hier sollte
wieder und gerade eine ethische Prämisse gesetzt werden - unter
antiinstitutionellen Bedingungen geschehen. Das Setting einer Modell-
einrichtung bietet sicherlich einiges mehr im Vergleich zur klassi-
schen kustodialen Psychiatrie (verwahrende Psychiatrie), doch hat
sie eben da ihre Grenzen, wo sie sich ständig selbst erneuern und
erzeugen muß.
Rose Ostermann
ERFAHRUNGEN UND ERLEBNISSE
IN EINEM UBERGANGSHEIM
FUR PSYCHISCH KRANKE
",..daß unser 'normaler', "angepaßter'
Zustand zu oft der Verzicht auf Ekstase
ist, Verrat an unseren wahren Méglich-
keiten, daß viele von uns nur zu erfolg-
reich darin sind, sich ein falsches
Selbst anzuschaffen, um sich an falsche
Realitäten anzupassen."
Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst,
5... 12
Das Übergangsheim "Haus Roseneck" ist eine von mehreren Einrichtun-
gen der Diakonie Wohnstätten e.V. in Kassel. Der Verein ist ein
freier Trägerverein, der aber seine Zugehörigkeit zum Diakonischen
Werk in seiner Satzung regelt: "Der Verein ist eine diakonische
Einrichtung gemäß Diankoniegesetz der Evangelischen Kirche von Kur-
hessen-Waldeck vom 14.5.1975 und gehört durch seine Mitgliedschaft
bei dem Diakonischen Werk in Kurhessen-Waldeck e.V. dem Diakoni-
schen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland an."
Aufnahmebedingung ist in erster Linie eine Arbeitsfähigkeit bzw.
Arbeitswilligkeit des zukünftigen Hausbewohners. D.h., wenn der
Hausbewohner keinen Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft findet,
muß er sich dazu verpflichten, kontinuierlich in einer der "Be-
schützenden Werkstätten" in Kassel zu arbeiten.
Der hohe Wert, der der "Arbeit" beigemessen wird, zeigte sich für
mich beim täglichen Umgang mit den Hausbewohnern, daß gerade hier in
starkem Maße darauf geachtet wurde, daß der Hausbewohner regelmäßig
zur Arbeit ging. Die beiden im "Gruppendienst" arbeitenden Mitar-
beiter (Schichtdienst) hatten dafür Sorge zu tragen, daß der Haus-
bewohner pünktlich aufstand; er wurde von dem dort arbeitenden Per-
sonal geweckt, was je nach Einstellung und Verhalten des sogenannten
"Betreuers" relativ sanft oder feldwebelhaft ausgeübt wurde. Nicht
selten kam es vor, daß ein "Betreuer" sich befugt fühlte, nicht nur
an die Tür des jeweiligen Hausbewohners zu klopfen, sondern, wenn
diese Tür abgeschlossen war, diese mit "seinem" Schlüssel zu öff-
nen, was nicht selten als Eingriff in die "Privatsphäre" wahrgenom-
men wurde.
In einem Brief des Vorsitzenden an den Landeswohlfahrtsverband wird
unter Punkt 4 der Tagesablauf im "Haus Roseneck" folgendermaßen be-
schrieben: "Der Tagesablauf des Hauses Roseneck wird vom Rhythmus
der normalen Arbeitswelt bestimmt. Am Morgen sollen nach der Kon-
zeption unserer Übergangseinrichtung die Klienten pünktlich das
Haus zum Arbeitsantritt verlassen. Die Rückkehr erfolgt in der Re-
gel gegen 17 Uhr. Der Abend und das Wochenende stehen mit Einschrän-
kungen - so wie das bei jedem anderen Bürger auch der Fall ist - der
Freizeit zur Verfügung. Unser Heim ist darum durchgehend geöffnet."
Tatsache ist oder war aber, daß = mit wenigen Ausnahmen - fast je-
der Hausbewohner in einer "Beschützenden Werkstatt" seinen Arbeits-
platz hatte, was nicht gleichbedeutend mit normaler Arbeitswelt"
sein kann. Zwar ist die Arbeitstätigkeit eine ähnliche insofern,
daß fast nur monotone Fabrikarbeit geleistet werden kann, die Ent-
lohnung jedoch in einem krassen Mißverhältnis zu dem Lohneinkommen des
in der "normalen Arbeitswelt" Arbeitenden steht. So ist ein Stunden-
lohn von 0,80 DM keine Seltenheit. Es ist für den Betroffenen (und
nicht nur für ihn) oft eine Erfahrung, die ihn Arbeit nicht unbe-
dingt als sinnvoll erscheinen läßt, er aber 7 -8 Stunden des Tages
dort verbringen muß. Hier wäre es sicher notwendig, auf die "Be-
schützenden Werkstätten" näher einzugehen. (Siehe dazu den Artikel
von Roswitha Gebauer in diesem Heft.) Allerdings hat dieser Bereich
starke Auswirkungen auf das Leben im "Haus Roseneck",
Zu bemerken sei hier noch, daß der Leiter einer Werkstatt an den
einmal in der Woche stattfindenden Dienstgesprächen im Haus Rosen-
eck teilnimmt, so daß die Arbeitssituation der Hausbewohner die Nor-
men im Hause mitbestimmt. Daß, wie bereits erwähnt, das Personal
die Verantwortung für die Pünktlichkeit des Hausbewohners mit über-
nommen hat, wenn nicht gar diesem diese abnimmt, Geleitet ist das
Interesse an der Verantwortungsübernahme wohl aber auch von den
eigenen Werten und dem angeblich normalen Verhalten. Es zeigte sich
teilweise eine Empörung bzw. ein Unverständnis, wenn jemand nicht
arbeiten wollte. Nicht arbeiten wollen, hieß faul sein wollen; es
wurde wenig gefragt, für welche Arbeit sich jemand interessieren
könnte; Arbeit galt als etwas unbedingt Notwendiges, Arbeit auch als
Pflicht.
Ein Beispiel: |
Ein junger Mann, der so gut wie keine Motivation hatte, in die Be-
schiitzende Werkstatt zu gehen, seinen Tagesrhythmus in keinster
Weise darauf abstellte, wurde ständig und wiederholt am Morgen ge-
weckt. Dieser Ritus wiederholte sich ständig (großzügig gesagt:
mindestens seit einem Jahr). Zwischen 9.00 und 11.00 war er so weit
zu gehen, d.h. mit dem Druck der Autorität des Heimleiters. Es war
allgemein bekannt, und er verleugnete dies auch nicht, daß er nicht
geradewegs auf das von ihm erwartete Ziel, nämlich die Arbeitsstel-
le, zusteuerte, sondern in der Stadt herumlief und in verschiede-
nen Imbißstuben Einkehr hielt. Gegen 14.00 Uhr erschien er evtl.
in der Werkstatt, wo er entweder schlafend, rauchend oder wenig
tuend seine Zeit verbrachte.
Trotzdem fanden die Versuche, ihn an die Pünktlichkeit anzupassen,
immer wieder statt. In den Dienstgesprächen wurde immer wieder über
ihn gesprochen, nicht die Art und Weise des Umgangs mit ihm wurde
kritisiert und in Frage gestellt, sondern die Argumentation für den
Umgang mit ihm fand man in der Begründung, er sei "antriebsschwach"
und müßte insofern auch gezwungen werden. Dieser Mensch konnte sich
aber stundenlang mit elektronischen Dingen beschäftigen; so hatte
er einen Elektronik-Baukasten, mit dem er verschiedene Schaltsyste-
me ausprobierte. Diese Form von Arbeit oder Beschäftigung war jedoch
in der Werkstatt nicht erwünscht unter dem Motto: "Wir können keine
Ausnahmen machen."
Aus dem Geschilderten wird sichtbar, wie hoch der Stellenwert der
Arbeit im Hause ist. Eine sehr wichtige Norm, vorrangig vor allen
anderen. Dazu sei noch gesagt, daß in den Diskussionen Arbeit als
etwas Selbstverständliches, Pflichtgemäßes aufgenommen wurde. Die
18
Arbeit selbst, auch die miserable Entlohnung war weniger Gegenstand
der Diskussion. Ich hätte manchmal gern in die Köpfe hineingeguckt,
wie die Mitarbeiter sich denn bei ihrer Arbeit fiihlen. Auf diese
Weise hätte man vielleicht einen anderen Umgang mit dem Thema Ar-
beit finden können, wie auch vielleicht die Weigerung nicht als
"antriebsschwach" abgetan worden wäre.
Alltag
In dem bereits erwähnten Brief des Vorsitzenden ist unter Punkt 5
folgendes bemerkt:
"Entscheidend und bestimmend für das Wohl des Klienten eines Über-
gangswohnheimes ist der 'Getst des Hauses'. Es soll die bergende
Atmosphäre einer Großfamilie bieten, ohne dabei ängstliche 'over-
protectton' zu vermitteln. Darum bemühen sich unsere Mitarbeiter.
Alles, was dem Mündigwerden dient, ist von Nutzen. Einzelne Klienten
sollen nicht bevorzugte Zuwendung erfahren. Die Mitarbeiter sind für
alle Heimbewohner 'da' und nicht für einen allein. ..."
Im Haus Roseneck wohnen zwischen 25 und 30 Hausbewohner, Männer und
Frauen; die Altersstruktur bewegt sich zwischen 20 und 50 Jahren.
Das tägliche Miteinander ist ständig spannungsgeladen, was nicht
nur an den aus der Vergangenheit resultierenden und noch nicht bear-
beiteten bzw. bewältigten Konflikten liegt. Es gibt auch genügend
aktuelle Anlässe für Konfliktsituationen. Die einen sind bedingt
durch Bedingungen und Forderungen der Institution, die anderen durch
die dort lebenden Menschen, die in ihrer Unterschiedlichkeit begrün-
det sind. Hier war die Methode des Verdeckens, Vermeidens im Spiel,
wobei man sagen muß, daß hier keine Methode bewußt vertreten wur-
de. Es war eher der Umgang mit dem "gesunden Menschenverstand",
der überall und irgendwo stattfand, wohl auch deshalb, um sich Kon-
flikte "vom Halse" zu halten, aber auch, weil Konfliktsituationen
angstbesetzt sein können und manchmal keine Lösungsmöglichkeiten zu
sehen sind. Öfters hatte ich den Eindruck, daß man meint, man müsse
mit sogenannten psychisch Kranken wie mit Kindern umgehen, bzw.
wie man meint, mit Kindern umgehen zu müssen. Dies passiert in Fa-
milien, in Schulen: wenn ein Streit ausbricht, versucht man, diesen
einzudämmen: "Seid friedlich und streitet nicht miteinander." Sicher
ein verständliches Harmoniebedürfnis, doch bleibt die Frage, wem
dies in solchen Situationen nützt.
"Die bergende Atmosphäre einer Großfamilie" zeigte sich für mich der-
gestalt, daß der Heimleiter (Sozialarbeiter grad.) den autoritären
Vater im Hintergrund verkörperte, die Wirtschaftsleiterin die über-
all anwesende Mutter, kontrollierend, versorgend, dominierend in
der Weise, daß sie versuchte, überall ihre Hände im Spiel zu haben.
Wenn in dem erwähnten Brief von Vermeidung von "overprotection"
gesprochen ist, so glaube ich, daß das damit bedingte Verhalten unbe-
kannt ist. Kontrollierendes, versorgendes usw. Verhalten engt den
davon Betroffenen ein, unterstützt seine evtl. sowieso vorhandenen
Autoritätsängste. Es gab zwar einen Küchen- und Wäschedienst, um
die Hausbewohner in ihrer Selbständigkeit zu fördern; die jeweili-
gen Gruppen wurden jedoch von "oben" zusammengestellt, die Wünsche
der Hausbewohner wurden zwar manchmal, doch selten berücksichtigt.
Eine Begründung wurde ihnen ebenso nicht gegeben. Die wäre ja viel-
19
leicht einsichtig gewesen, wenn es darum ging, daß eine Gruppe zu-
standekommen sollte, die starke und schwache Mitglieder hat, Gerade
wenn es um die Frage des Kochens geht, hat jeder unterschiedliche
Erfahrungen damit. Nun muß man aber auch erwähnen, daß Männer wie
Frauen diesen Dienst übernehmen mußten, wobei den Frauen, soweit sie
bereits Hausfrauen gewesen waren, die Hauptverantwortung zugescho-
ben wurde. Ebenso geschah es, daß, wenn ein Kuchen gebacken werden
sollte, was schon auf freiwilliger Ebene passierte, immer eine Frau
gefragt wurde, nie ein Mann.
Für die Erstellung des Speiseplans war die Wirtschaftsleiterin ver-
antwortlich, was die "versorgende Mutter" unterstreicht. Mein Vor-
schlag, den Speiseplan gemeinsam zu erstellen, wurde ohne genaue
Begründung abgelehnt, für unreal gehalten. Die Hausbewohner wurden
hier - ebenso wie an ihrem Arbeitsplatz in den "Beschützenden Werk-
stätten" - auf eine ausführende Rolle reduziert. Auch wurde nicht
gern gesehen, wenn außerhalb der festgelegten Essenszeiten die Küche
benutzt wurde. Teilweise wurde diese abgeschlossen, was wiederum von
der Einstellung der zwei im Schichtdienst arbeitenden Mitarbeiter
abhing, auch von ihrem Mut gegen die Entscheidung von "oben" zu
handeln und sich damit angreifbar zu machen.
Die von mir erlebte zudeckende Haltung bei Konflikten zeigte sich
ebenso, wenn es um individuelle Probleme der einzelnen Hausbewohner
ging. Obwohl es verständlich ist, daß eine Frau, die aufgrund ihrer
"Krankheit" geschieden wurde, unter der Trennung von ihren Kindern
leidet, für die das Sorgerecht dem Ehemann zugesprochen wurde, ten-
dierte man zu dem Vorschlag, den der Psychiater in seinem Krankenbe-
richt erwähnte, man sollte auf Themen wie Scheidung, Kinder, Religion
usw. nicht eingehen. Als diese Frau mit einem Rechtsanwalt Kontakt
aufnehmen wollte, um sich von diesem wegen ihres Besuchsrechts be-
raten zu lassen,und ich ihr einen mir bekannten Rechtsanwalt vor-
schlug, zu dem sie auch hinging, stieß meine Haltung auf Kritik bei
den Mitarbeitern. Man meinte, ihre "Krankheit" würde sich dadurch
verschlimmern.
Was denn Krankheit sei, was diese für den Betroffenen bedeute, auch
für das dort arbeitende Personal, war selten Gegenstand der Diskus-
sion. Nochmals ein Zitat aus dem erwähnten Brief: "Dennoch sind
wir der Meinung,daß bei Psychosen "biologische Abläufe! eine nicht
unerhebliche Rolle spielen, die medizinischer Behandlung bedürfen.
Die Wirkungsmöglichkeiten von Gesprächstherapien sind bei Psychosen
im Unterschied zu Neurosen begrenzt." Hier denke ich, es gibt ver-
schiedene Theorien, Therapieformen, die ganz anderer Meinung sind;
selbst in dem Diagnoseschlüssel und Glossar psychiatrischer Kran-
ken (WHO) vermeidet man eine Festlegung. Es wird dort erwähnt, daß
"in der Psychiatrie jedoch die Ursache der meisten psychischen Er-
krankungen unbekannt ist."
Jervis sagt: "Geistesstörung ist meistens das Resultat von Schwie-
rigkeiten und Erfahrungen des Lebens, die bestimmte Interpretations-
weisen für diese Erfahrungen und besondere Reaktionsweisen für fol-
gende Erfahrungim geschaffen haben." (S. 87)
In diesem Zusammenhang möchte ich aus einem vom Diakonischen Werk
der Evangelischen Kirche Deutschland herausgegebenen Heft "Psychisch
krank - Psychisch Kranke brauchen Verständnis, Förderung, Annahme
und Begleitung" zum Thema Zielvorstellungen in Übergangsheimen zi-
tieren: "Der Aufenthalt in einem Überaangsheim sollte zeitlich auf
20
ein bis zwei Jahre begrenzt werden. In dieser Zeit durchläuft der
Bewohner ein abgestuftes Rehabilitationsangebot, bestehend aus sozial-
therapeutischen, psycho-therapeutischen, körper-therapeutischen,
werkstofforientierten und verhaltenstrainierenden, z.B. stabilisie-
renden Aktivitäten. — Im Vordergrund sollte das situationsbedingte
und problembewußte Umgehen mit innerpsychischen und gesellschaft-
lich zwangsläufigen Konfliktsituationen stehen." (5, 119) (Hervor-
hebungen von mir.)
Dieser genannte Anspruch wird in der von mir beschriebenen Einrich-
tung kaum eingelöst . Aus den erwähnten Beispielen wird der Umgang
mit Konflikten, dem Begriff "Krankheit" und den damit Etikettierten,
der Umgang mit verschiedenen Norm- und Wertvorstellungen usw. deut-
lich. Widersprüche werden eher verleugnet und ignoriert, wobei ge-
sellschaftliche Widersprüche besonders negiert werden; dies wird
deutlich in den Zeilen des Vorstandes: "Hier denken wir gewiß anders
als die Vertreter der sogenannten demokratischen Psychiatrie, die
Psychosen weitgehend durch gesellschaftliche Zwänge erklären wollen."
(5%. 2)
Was die Frage des Personals betrifft, so besteht ein Defizit quali-
fizierter Ausbildung und Fortbildung. Der größte Teil der dort Tä-
tigen kommt aus Krankenpflegeberufen, teilweise nur mit Kurzausbil-
dung; zu meiner Zeit arbeitete hier eine Erzieherin. Im großen und
ganzen kann man sagen, daß eine angemessene Aus- und Fortbildung
fehlt. Hinzu kommt, daß keine Kooperation und entsprechender Infor-
mationsfluß innerhalb des Personals vorhanden ist, was in der hierar-
chischen Struktur begründet ist.
Die Hausversammlung als Möglichkeit
Als ich im September 1976 mein Praktikum im Haus Roseneck anfing,
existierte bereits eine einmal wöchentlich stattfindende Hausversamm-
lung. Sie war für alle Hausbewohner verpflichtend und wurde auch von
diesen als lästige Pflichtübung gesehen. Es war weniger eine Ver-
sammlung nach dem demokratischen Prinzip, sondern hier wurden eher
von "oben", d.h. der Heimleitung, Mahnungen, Anweisungen, Beschlüs-
se weitergegeben. Sofern einige mutigere Hausbewohner es wagten,
etwas aus ihrer Sicht darzustellen, Konflikte im Zusammenleben zu
benennen oder gar Anordnungen der Heimleitung zu hinterfragen, rea-
gierte diese meist dergestalt darauf, daß sie die Angelegenheit der
öffentlichen Diskussion entzog oder Auseinandersetzungen durch die
Berufung auf bestimmte anerkannte Normen aus dem Wege ging. Der Heim-
leiter oder seine Vertreterin waren bei dieser Versammlung die zen-
tralen Personen. Alles wirkte recht einschüchternd, und die mei-
sten waren froh, wenn die Veranstaltung beendet war. Sie konnten
sie nicht als ihre eigene Sache betrachten,
Obwohl nach dem Heimgesetz ein Heimbeirat gewählt wird, hat diese
Möglichkeit keine praktischen Konsequenzen für die Hausversammlung
gehabt. Es war eher ein resignatives Moment zu erkennen, daß man ja
sowieso nichts verändern könne.
"Das Verhältnis des Sozialarbeiters (oder sonstigen Mitarbeiters,
Anm. v. mtr) zum "Klientel! ist institutionell genau geregelt: es
ist ein Objektverhältnis - ein gleichgültiges, desinteressiertes
Verhältnis. Diese Regeln stehen nirgendwo geschrieben, sind versteckt.
Man merkt sie erst, wenn sie durchbrochen werden. Dann werden sie
wirksam: als Drohung, Verbot, Rausschmiß.'" (Sozialmagazin 5, 1978,
5:22)
INTERVIEW MIT К.
DER IN EINER WERKSTATT
FUR BEHINDERTE ARBEITET
ee
юк юқ o e o
Kannst du mir mal sagen, wie lange du schon in der Werkstatt fiir
Behinderte - früher die Beschützende Werkstätten genannt - ar-
beitest?
Ich arbeite dort seit 1974. |
Das heißt Werkstatt für Behinderte. Wie kommt das? Bist du be-
hindert? A
So haben sie mich eingestuft. Weil der Sozialarbeiter nicht mehr
weiter wußte. Und irgendetwas mußte ja geschehen, und ich hab
auch keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Alleine bin ich nicht
zurechtgekommen, da bin ich dann ins Übergangswohnheim. Durchs
Wohnheim mußte ich dann in die Werkstatt wegen der Arbeit.
Was hast du denn vorher gearbeitet?
Vorher hab ich an der Drehbank gearbeitet.
Ja. Und was ist dein erlernter Beruf?
Maschinenschlosser.
Kannst du jetzt in der Werkstatt in deinem erlernten Beruf ar-
beiten?
Nicht direkt, aber ich bin an der Drehbank.
Kannst du mal erklären, was du da machst?
Was so'ne Drehbank alles macht. Ich hab jetzt grad wieder so was,
so bißchen kompliziert, ich komm aber nicht auf den Namen, wie
das heißt. Muß also ein bißchen aufpassen. Ist auch besser, kann
man sich noch ein bißchen konzentrieren. Vergeht die Zeit auch
wenigstens, wenn man so keinen langweiligen Kram da hat.
Das ist nicht dein erlernter Beruf, aber es hat was damit zu tun.
Hab ich ja früher schon mal gemacht.
Macht dir die Arbeit Spaß?
Ja, die Arbeit schon
Und ansonsten?
Nur eben mit dem Geld.
Ja, kannst du mal sagen, wieviel Stunden du arbeitest und wie-
viel Geld du bekommst?
Ich arbeite im Monat 140 Stunden. Da bekomm ich jetzt 448 Mark
und ein paar Pfennige.
Und wieviel hast du früher verdient?
An die 1.000.
Wie komt es ‚ daß ihr da so wenig bezahlt bekommt? Weißt du das?
Eben keine Möglichkeit, das finanziell da, irgendwer muß da we-
niger verdienen.
Bist du damit zufrieden oder nicht?
Ja im Moment, was es jetzt gibt, das geht ja schon mal. War
früher noch weniger.
Wie denn?
Jo, was gab's denn früher im Wohnheim, so an die 300, und da
wurde ja noch mal was abgezogen.
. Also, als du im Ubergangswohnheim warst, wurde noch was abgezogen
von dem, was du da in der Werkstatt hattest? Kannst du mal sagen,
ob diese Arbeit in der Werkstatt fiir den Ubergang geplant ist
oder ob es auf Dauer ist? Und was sich die Werkstatt oder die
Leitung da irgendwie denkt, wie du da wieder rauskommen sollst?
Ja, es lief vom Ubergangswohnheim aus. Wie war denn das jetzt
noch mal? Eine Umschulung war da, alle Hebel in Bewegung gesetzt
wegen der Umschulung, und ich war kaum ausgezogen, da kriegte
ich ein Schreiben, wir lehnen das ab, ich hatte dann noch Wider-
spruch eingelegt, weil sie das abgelehnt hatten, dann kam gleich
anschließend ein Schreiben, daß eben das alles abgelehnt ist.
Warum ist es abgelehnt worden?
Jo, weils um Geld ging.
Zu was solltest du denn umgeschult werden?
Das weiß ich auch nicht.
Du bist nicht weiter dazu gefragt worden? - Wie sieht das denn
jetzt aus. Jetzt bist du seit drei Jahren da, und was planen die
in der Werkstatt jetzt weiter?
Von der Werkstatt aus hör ich gar nichts. Wenn man nicht selber
irgendwas macht, dann tut sich auch nichts.
Es ist also nicht geplant, daß du da übergangsweise arbeitest
und dann in einen anderen Betrieb irgendwie wieder kommst?
Nee. Bis jetzt hab ich davon noch nichts gehört, daß das so ge-
plant ist.
Wie ist das denn mit den anderen, haben die auch so einen ähnli-
chen Beruf, die die Arbeit verrichten?
Nee, die haben ganz andere Berufe. Werden da eben angelernt.
So leichte Sachen am Anfang, die man darauf machen kann auf der
Drehbank.
Was hatten die denn für Berufe?
Die meisten haben gar keinen Beruf.
Kannst du mir mal sagen, ein bißchen näher beschreiben, wieso
du in der Werkstatt gelandet bist? Das war nicht ganz so deut-
lich.
Ich war im Blauen Kreuz, ach nee, ich muß im PKH anfangen. Ich
bin im PKH gewesen, acht Monate, da hatte ich so mit dem Psycho-
logen, ich hatte so Angst wieder vor draußen, weil ich schon ein
paarmal im Blauen Kreuz war. Ich hatte mich auch nicht getraut,
mich noch mal dahinzuwenden. Es war immerhin das drittemal. Ich
nehme an, daß das dann nachher durch den Psychologen geklappt
hatte. Weil ich schon acht Monate da war, und die Krankenkasse
war am Drängen, daß ich raus sollte, und dann hat es noch mal
geklappt. Dann hab ich drei Monate im Blauen Kreuz gelebt, mit
Alkohol war nichts in der Zeit, aber als immer die komische ...
vor dem Ausziehen. Dann eines Tages, nach drei Monaten, sagte
Herr A., ich müßte ausziehen, weil ich keine Arbeit hätte. Ich
hab mich auch so stark gefühlt, schaffte ich auch jetzt. Dann
hab ich auch eine Bleibe gefunden, ich kannte da jemanden, der
trank nichts und da bin ich dann hingezogen. Es hat nur 1 - 2 Tage
gedauert, dann hab ich wieder angefangen zu trinken, weil mir die
Decke auf den Kopf gefallen ist, und dann war's schon unten im
Keller. Ich hab's mir so schön vorgestellt, aber es ging einfach
nicht. Dann hab ich wieder angefangen zu tringen, regelmäßig,
dann bin ich wieder ins Blaue Kreuz gegangen. Da hatte der rich-
tige Mann gerade Dienst gehabt. Der hat mich aufgerichtet und
23
Sege: ich sollte doch noch mal kommen und nicht aufgeben. Der
Can daan alles Mögliche in die Wege geleitet. Ins PKH wollte
er mich nicht schicken, dann haben sie mich noch 14 Tage behalten
bis die Kostenfrage geregelt war und dann bin ich ins Übergangs- |
heim gekommen, und seit der Zeit trink ich keinen Alkohol
Das ist ein Pluspunkt, aber sonst ... das hört sich alles
keinen Alkohol mehr trinken. Aber das andere ... man
will ja mehr, als keinen Alkohol mehr trinken. Man will sich ja was
leisten können, wenn man schon keinen Alkohol trinkt.
st das mit dem Leisten-können in der Werkstatt?
wohn
mehr.
so gut an,
R. Wie i e
K. Das geht doch eigentlich. Я |
R. Was meinst du sonst noch mit Leisten-kénnen?
K. Mal in Urlaub fahren so richtig. Vor allen Dingen, wo sich die
Situation jetzt geändert hat, ich bin nicht mehr alleine. Aus
dem Grunde schon.
R. Das geht aber schlecht, weil du so wenig verdienst. Ich wollte
noch mal nachfragen, wie es eigentlich kommt, daß du soviel ar-
beitest, fast tarifliche Arbeitszeit hast und nicht tariflich
bezahlt wirst? Was wird denn dazu gesagt? Du leistest ja an der
Drehbank eine ganz normale Arbeit. Oder hast du irgendwelche Vor-
züge gegenüber anderen Arbeitsplätzen?
K. Wir verdienen noch am meisten mit.
R. Im Vergleich zu anderen Werkstätten?
K. Bei uns so in der Werkstatt.
R. Für den Arbeitsplatz bekommt ihr am meisten?
K. Wenn man natürlich so mindere Arbeit macht an der Drehbank, dann
bekommt man auch nicht so viel.
R. Aber du machst jetzt eine ziemlich hoch qualifizierte Arbeit
kriegst aber trotzdem nur 448 Mark. А
К. Јо, die Betreuer sagen uns immer, wir können euch nicht mehr aus-
bezahlen. Mehr gibts nicht.
R. Wie kommt das zustande mit dem Verdienst? Wißt ihr das?
K. Ja, für die Teile, die wir machen, bekommen wir von der Firma
soundsoviel, angenommen 1.50 für das Teil, wenn das dann fertig
ist, daraus setzt sich der Verdienst zusammen. Dann noch irgend-
welche Zuschüsse vom Arbeitsamt.
R. Also, die individuellen Teile, die du machst und dann noch den
Zuschuß. Kannst du mal sagen, wie du es sonst noch so findest,
in der Werkstatt zu arbeiten? Für dich persönlich?
K. Am meisten ärgert mich das immer mit dem Geld. Aber sonst, so
die Arbeit, kann ich eigentlich nichts gegen sagen.
R. Was ist, wenn jemand krank ist?
K. Man kann nie genau sagen, wieviel Geld man kriegt. Angeblich
2,50 für den Tag, wo man krank ist. Aber als ich mal 14 Tage
krank war, habe ich nichts davon gemerkt.
R. Von was hängt das ab?
K. Wie die Betreuer einen einstufen. Die schätzen das über den
Daumen.
R. Wie ist es, wenn du irgendwohin gehst und man dich nach deinem
Arbeitgeber fragt?
K. Das sag ich lieber nicht.
R. Kannst du mir sagen wieso?
K. Das ist irgendwie eine komische Situation. Weil ich schon mal
beim Unfallarzt war, da hab ich mich bei der Arbeit verletzt und
da hat der mich gefragt, wie kommen Sie denn ... Sie sehen doch
24
gar nicht so aus. Wieso sind Sie in der Werkstatt? Das sind dann
immer so Situationen, da fragt man sich selber, ja, wie ist man
denn dahin gekommen. Warum ist das denn alles so?
Gibt es noch mehr Situationen, wo es unangenehm ist?
Ja, so allgemein, wenn man das sagen muß, ich kann das nicht so
richtig aussprechen.
Mir fällt da die Situation ein, wo ihr ein Auto gemietet habt.
Es war so deprimierend, so richtig peinlich. Ja, Moment, ich muß
erst mal wissen, wo Sie arbeiten, die Bankverbindung. Ich war in
der Annahme, das wär schon alles geregelt und alles gesagt und
dann hat er so komisch gemacht: Sind Sie denn fest angestellt
oder arbeiten Sie da? Und da wollte er unbedingt auch die Telefon-
nummer wissen und da anrufen und da wars mir schon ein bißchen
komisch und flau im Magen. Jetzt kriegst du das Auto womöglich
noch nicht mal. Dann hat er dann da oben angerufen ... den Werk-
stattleiter. ... Er wollte es uns eigentlich nicht geben, dann
ist mir noch eingefallen, ach, du hast ja noch eine alte Rechnung
und daraufhin haben wir ihn dann gekriegt.
Wie ist das mit deinen Arbeitskollegen jetzt, die unterscheiden
sich doch von denen, die du früher hattest? Es ist doch eine an-
dere Atmosphäre in der Werkstatt?
Das ist eigentlich keine schlechte Truppe. Einer ist manchmal
so drunter, der macht den wilden Max, ist dann so nervös und
hopst dann rum ... aber zur Zeit sind wir alle zu ruhige Vertre-
ter, die ihre Arbeit machen, da geht das eigentlich zur Zeit,
kann man sich ein bißchen konzentrieren auf die Arbeit. Ist schnell
was kaputt.
Sind da welche, die kränker sind, kannst du sie mal beschreiben?
Viele sind eigentlich geistig ... die kommen nicht so richtig
mit. Das sind dann auch viel so von der Trinkerei, hab ich heute
wieder gemerkt beim Einrichten. Mir ist nichts eingefallen...
(stöhnt). Und dann Körperliche, die können schlecht laufen, der
eine hats mit dem Kreislauf und mit dem Herz.
Also verschiedene Krankheiten, die die Leute haben. Ja, fällt
dir noch irgendetwas ein?
Nee.
Dann machen wir Schluß.
25
Roswitha Gebauer
WERKSTATT FUR BEHINDERTE —
GEFANGENSCHAFT ANDERS
Laut Psychiatrie-Enquete (S. 229) gehören die Werkstätten für Be-
hinderte zu den speziellen rehabilativen Diensten und haben den Auf-
trag, als ein Teil eines gestuften Angebotes möglichst die volle Re-
habilitation der Betroffenen am Arbeitsmarkt zu erzielen.
Diese Aufgabe erfüllen sie bislang nicht, denn es scheint so zu
sein, daß die Werkstätten auch ein Glied in der oft erwähnten thera-
peutischen Kette sind, der keiner so leicht entrinnen kann und soll.
Dieselben Patienten kreisen häufig zwischen PKH - Übergangswohnheim
- Werkstatt für Behinderte - PKH.
So ist in einem Mitteilungsblatt einer Werkstatt zu lesen:
"Durch diese Initiativen des Vereins für Volkswohl wurde erreicht,
daß 190 behinderte Mitbürger ihren Fähigkeiten entsprechende Be-
schäftigungsmöglichkeiten fanden, die ohne Vorhandensein einer sol-
chen sozialen Einrichtung im allgemeinen Arbeitsleben chancenlos
als Außenseiter am Rande der Gesellschaft hätten leben müssen."
Die Aussonderung, die vermieden werden soll, wird also mit der Werk-
statt sichtbar betrieben, die dort Arbeitenden bleiben Außenseiter.
Unterschiedliche Gruppen von Außenseitern werden zusammengefaßt. So
arbeiten beispielsweise in einer Werkstatt:
60 % sogenannte geistig Behinderte
15 % sogenannte psychisch Behinderte
15 % sogenannte körperlich Behinderte
10 % sogenannte Sinnes- und Organ-Behinderte
Der einzig plausible Grund scheint dafür in rationellen Überlegungen
zu liegen. Die Werkstattleitung jedoch bezeichnet die Zusammenar-
beit dieser verschiedenen Menschen als positiv und eine gegenseiti-
ge Bereicherung.
Die Rehabilitations- und Arbeitsangebote richten sich nicht nach
den individuellen Bedürfnissen der Einzelnen, sondern sind in der
Regel von den Angeboten der jeweiligen Industrie abhängig.
Die Manifestation der Ausgrenzung wird auch durch das Konzept der
Werkstatt deutlich. So ist bezeichnend, daß eine Werkstatt drei
Hauptbereiche benennt: Eingangsbereich, Trainingsstufe, Dauerar-
beitsplätze. Die Vermittlung auf dem freien Arbeitsmarkt gehört zur
Ausnahme. "Mit den so erlernten Fähigkeiten soll das Ziel im Rah-
men der Trainingsstufe vereinzelt die Vermittlung an einen Arbeits-
platz der Industrie sein oder im Regelfall in der Eingliederung an
einem qualifizierten Dauerarbeitsplatz innerhalb der Werkstatt
enden." (Selbstdarstellung der Kasseler Werkstatt) Dieser zweifel-
los soziale Abstieg, der für den psychisch Kranken mit dem Arbeits-
platz in der Werkstatt verbunden ist, wird auch durch die symboli-
sche Bezahlung dokumentiert.
Was sind diese "behinderten Mitbürger" eigentlich? Sind sie Arbeit-
nehmer oder Patienten? Von der Werkstattleitung werden sie oft als
Belegschaft bezeichnet, jedoch gibt es für diese Belegschaft keinen
Betriebsrat (die Mitarbeitervertretung ist unbedeutend) und auch
keine gewerkschaftliche Organisation.
So bleiben sie Patienten.
uassq
* TAUT yi- 8°44
u Wad 09-05 u и u ‚Ос = EE EE
0% + ‚© 99917 = 008 8с o
: WNF a
NOCH п" мЦо$ ues sq enz 9 + 91-008“ 44
*OM/* PIS I ‘TUT "3191 + 0S = "5 L*0G-"OW MA әЗез
тәѕцоәм ul WA 06-09 e e "OME Of + OZ 0091 - 498 -чошиен [HI oc ө
a EEE EE EE Oe SE TS a С, Жез
На = Sy.
Wd —*05- ‘PIS T= "Р55 £ 2тон'п
u WA -"56 u Teast u Z/1+2/1 6091 = 60% тшш “OW 8 т ө
әлчәт'т u
"eg auyo 05°@© ‘pas Т = "pas L yoou
u Wd =: SSI u Wa u Z/1+2/T og! = og? тәләцәла “OW 8 т ©
*qsny
Wa -"0S éi
na -"05- ‘PIST= ‘PIS L ted +
o Wd -'OOT “ u u с/1+с/1 og?! = oc’ -95501925 “OW 8 LI ©
“sq əuyo 'P3S T= "P3S L тәл
н Wd -"0E1 u u u Z/1+Z/1 og! = oe? -aprauy>s EG 6z ©
Jay чәхҗдә
Wa _-"06 -yueiyos
"ом Z alle Иа -°06- "pals Т = "pas 9 -Tymy’A
"mue “PIS т Иа -"0%1 e Е й ЫЛЫН ` cl — wf әЗезпоң Ti єс ө
NO
057-007
K `2тәлд
vg $ ЭТТЕ ee "291+ "PS Т = "pas L 99У
я = тәләцәл Ы
agang ES Т И =*OCE еН ой ә ЛЫН ol - gel PaP Ti ос ө
"sıon
usssg - -usJusey 21014 y>Tsı
з35пәтрләд assey "qay'z зтәттәлд uesneg -aqs3un3
qaods -[Jeuog -uayueTy 11р qnefın ‘[z3ESNz 31ә2531ә91ү -TIyEYOSeg azeneq 2ә31ү ©
ЧУІМЗИИОМ ANHO 'ILYAIANIHII ANA ІТУІЅМҸЯМ ҸЯМІЯ SAV
nm
CH
Friederike Rauschenberger
WOHNGRUPPENMODELL IN MARBURG
"Ab morgen will ich selber leben" - so hieß ein ZDF-Film vom Sep-
tember letzten Jahres, in dem die Biirgerinitiative Sozialpsychiatrie
e.V. aus Marburg vorgestellt wurde. Der Titel sollte den programma-
tischen Anspruch dieser Einrichtung andeuten, psychisch Kranken eine
Möglichkeit zu geben, sich nach teilweise langen Klinikaufenthalten
im Rahmen eines Übergangsheims auf ein selbständiges Leben vorzube-
reiten.
Wir haben, als Zivildienstleistender und als Jahrespraktikantin der
Sozialarbeit die Entwicklung der Bürgerinitiative kennengelernt und
waren als Mitarbeiter sozusagen beteiligt an der praktischen Um-
setzung der theoretischen Ansprüche, bzw. an ihrem Scheitern.
Zunächst einmal existierten nur diese Ansprüche, ausgearbeitet vor
etwa sieben Jahren von einer Gruppe von Laien und "psychiatrischen
Profis", die Kontakt zu Patienten der Klinik in Marburg aufgenommen
hatten. Diese Kontakte beschränkten sich anfangs auf Besuche in der
Klinik, man traf sich wöchentlich zum Kaffeetrinken und zu Spazier-
gängen in der Stadt. Diese Art der Betreuung reichte aber nicht aus,
denn obwohl die Patienten so weniger isoliert waren, änderte sich
doch nichts Grundlegendes an ihrer Situation. Die Patienten dräng-
ten schließlich selbst darauf, Wohn- und Arbeitsplätze außerhalb
der Klinik zu bekommen und so wieder Zugang zu einem normalen,
selbstverantwortlichen Leben zu finden.
Die BI wurde gegründet und kaufte mit der finanziellen Unterstützung
des Landeswohlfahrtverbandes und der Stadt ein großes Haus in Mar-
burg. Ein professionelles Team wurde für die zwölf Patienten einge-
stellt, das sie während ihres Aufenthaltes im Übergangsheim und in
den daran anschließenden Wohngruppen betreuen sollte.
Die Therapie der BI besteht einerseits aus psychotherapeutischen
Angeboten; die Patienten haben in Einzel- und Gruppengesprächen die
Möglichkeit, sich in ihrer Entwicklung, wie auch in den aktuellen
Schwierigkeiten im Haus zu reflektieren. Den Alltag der Therapie
macht allerdings das Hausprogramm aus, ein genau ausgearbeiteter
Wochenplan, der alle Bewohner zu gemeinsamen Aktivitäten schon bei
ihrem Einzug verpflichtet. Im Grunde ist es als Ziel der Zeit im
Übergangsheim zu definieren, sich während der neun Monate diesem
Plan anzupassen, ihm Folge leistend einkaufen zu gehen, zu putzen,
Essen zu kochen und die Freizeit zu verbringen. Darin besteht das,
was im Munde der Therapeuten "Soziotraining" heißt.
In der letzten Behandlungsphase im Übergangsheim, nach etwa einem
halben Jahr, werden die Bewohner der BI auf die Ablösung vom Haus
und der intensiven Betreuung dieser ersten Zeit vorbereitet. Die
Patienten werden in kleineren Gruppen alleine wohnen, eine Ausbil-
dung machen oder arbeiten gehen.In Gesprächen mit Angestellten des
Arbeitsamtes, in Eignungstests und schließlich durch Praktika sollen
28
die Hausbewohner ihre beruflichen Wünsche und Fähigkeiten kennen-
lernen.
Zu Zeiten der Vollbeschäftigung, als das BI-Konzept entstand, schien
die Frage der beruflichen Wiedereingliederung keine Schwierigkeit.
Bei der heutigen Arbeitsmarktlage, bei steigender Arbeitslosigkeit
in besonderem Maße bei Randgruppen wie psychisch Kranken, erweist
sich die Vermittlung von BI-Patienten als nahezu größtes Problem.
Angesichts der dauernd scheiternden Versuche und der Resignation und
Unlust, die daraufhin bei den Patienten entstand, entschlossen sich
die Mitarbeiter, ihnen voran die Vorsitzende des Vereins, zur Ein-
richtung einer Beschützenden Werkstatt.
Fast jeder Patient, mit Ausnahme derer, die ohne Schwierigkeit einen
Arbeitsplatz finden, wird noch während seines Aufenthaltes im Haus
verpflichtet, in diese Werkstatt zu gehen. Die Werkstatt, getragen
von der Lebenshilfe, die ursprünglich nur als Träger in Erscheinung
treten sollte, ihre Interessen im Laufe der Zeit aber immer vehemen-
ter durchsetzt, ist auf lukrative Aufträge der Industrie angewiesen,
um existieren zu können. Vom eigentlichen Konzept dieses Unterneh-
mens, die Patienten auf dem Wege kreativitätsfördernder Arbeiten in
einen späteren Beruf einzugewöhnen, konnte daher nicht viel übrig-
bleiben: fast ständig werden die Patienten damit beschäftigt, pri-
mitivste und stumpfsinnigste Arbeiten auszuführen, die eben sonst
kein Mensch tun würde, jedenfalls nicht bei dermaßen schlechter Be-
zahlung. Seelisch Behinderte werden dort als ebenso zu behandeln
eingestuft wie die körperlich und geistig Behinderten, mit denen
es die Lebenshilfe sonst zu tun hat.
Nach vollendeter Zeit im Übergangsheim, d.h., wenn die Betreuer eine
Patientengruppe zusammengestellt haben, die sie für reif und fähig
befinden, sich unter loseren Bedingungen zurecht zu finden, voll-
zieht sich der Übergang in die Wohngruppen. Dort sollte nun bereits
jeder Patient imstande sein, mit seinen Mitbewohnern - relativ lok-
ker betreut - zusammenzuleben. Die Besuche des Sozialarbeiters wer-
den immer mehr eingeschränkt,und die Patienten sollen nun die auf-
tretenden Schwierigkeiten miteinander alleine lösen können.
Dies geschieht allerdings sehr selten. Es ist uns kaum ein Fall
einer so funktionierenden Wohngruppe bekannt. Vielmehr scheint die
Bürgerinitiative hier eine eigene Spielart der Drehtürpsychiatrie
entwickelt zu haben; von nahezu jeder Krise sieht sich das Team so
überfordert, daß es keine anderen Möglichkeiten findet, als die Be-
troffenen wieder in die Klinik einzuweisen. Es gibt eine ganze Rei-
he von Patienten, die schon jahrelang ständig zwischen Klinik und
kurzen BI-Aufenthalten pendeln und kaum einen Monat in ihren Woh-
nungen verbracht haben. =
Solche "Rückfälle" sind natürlich nicht auszuschließen, und man wird
sich im Umgang mit psychisch Kranken daran gewöhnen müssen, daß es
Krisen gibt, die zur Einweisung in die Psychiatrie zwingen. Doch
scheint uns ein Zusammenhang zwischen der überbehüteten Situation
der Patienten während ihres Aufenthaltes im Übergangsheim und der
Verlorenheit, in die sie demgegenüber geraten, wenn sie auf sich
selbst gestellt sind, zu bestehen.
Bei denjenigen, die sich um eine Therapie in der BI bemühen, ist es
in den meisten Fällen so, daß sie über den behandelnden Arzt mit
29
der BI in Berührung kommen; sind sie aufgrund der von diesem vermit-
telten Informationen bereit, sich näher mit der Einrichtung zu be-
fassen, wird ihnen ein Gespräch mit der Psychologin im Übergangs-
heim vermittelt, welches vor allem dazu dient, dieser eine Vorstel-
lung vom Krankheitsbild der potentiellen Bewerber zu vermitteln, ihr
bei der Entscheidung zu helfen, ob diese zu den übrigen Patienten
passen könnten. Die Besucher selbst können sich durch ein- oder mehr-
malige Teilnahme am Hausprogramm eines bestimmten Tages einen ober-
flächlichen Eindruck über den Alltag im Haus, die Mitglieder des
Teams und die Mitbewohner,die zu erwartenden Anforderungen und Be-
lastungen verschaffen.
Kommen sie zu dem Entschluß, sich auf eine Therapie einzulassen, к
müssen sie oft längere Zeit, manchmal еіп halbes Jahr, auf das Frei-
werden eines Therapieplatzes warten. Der Einzug ist für die meisten
zugleich ein Verlassen der Heimatstadt, in jedem Fall aber der
Zwang, sich nun mit zuhächst Fremden auf engstem Raum arrangieren
zu müssen.
Zwischen 8.30 und 18.30 Uhr sind die Betreuer im Haus und erwarten,
daß in dieser Zeit an den therapeutischen Gruppen teilgenommen und
dort die Gelegenheit wahrgenommen wird, Probleme und Konflikte zu
bearbeiten. Verweigerung in den Gruppen, Nichterfüllung übernomme-
ner Dienste, das Verhalten gegenüber den Mitbewohnern und Betreuern,
all das und vieles mehr wirft Fragen auf, auf die Antworten in den
Gruppen verlangt werden; es wird Verantwortlichkeit und Bewußtheit
sich selbst gegenüber erwartet.
Von Beginn an gilt es, einen Beitrag zur Gestaltung des alltäglichen
Zusammenlebens zu leisten (Putzen, Kochen, Einkaufen usw.). Nach
Möglichkeit sollen die menschlichen Beziehungen nicht auf das Haus
beschränkt bleiben. Es wird soziale Aktivität erwartet, und nach
einigen Monaten setzen intensive Bemühungen um eine geeignete Berufs-
perspektive ein.
Wer vorher nur das Leben bei den Eltern kannte, wo die Krankheit zwar
meist auf Unverständnis stieß, aber auch die Entbindung von vielen
Pflichten bedeutete, über den müssen die geschilderten Anforderungen
wie ein Trommelfeuer hereinbrechen. Wer ihnen zu entfliehen ver-
sucht, wird mit größter Geduld und Regelmäßigkeit wieder hineingeführt
- und nur, wer diesem Härtetest standhält und sich den Erwartungen
anpaßt, kann mit baldiger Erfolgsmeldung rechnen. Ausweichen im ge-
setzten Rahmen wird nur in Maßen geduldet. Wer sich den Normen des
Übergangsheims konsequent verweigert, dem wird in aller.Regel die
Tür gewiesen - für den hält man sich nicht für zuständig.
Spektakuläre Aktionen sind für Bewohner und Betreuer eine zu große
Belastung. Es wird kaum eine andere Konsequenz geben, als die Inter-
nierung in der Nervenklinik. Dann, nach wenigen Wochen, kann das
Wagnis Therapie wieder eingegangen werden, eingedenk der Mahnungen,
welch nahezu einmalige und vor allem letzte Chance hier gegeben sei,
den Absprung von der Psychiatrie der Drehtür zu schaffen.
Lohnt sich dafür nicht die Unterwerfung unter die Zwänge der Alter-
native zur herkömmlichen Psychiatrie? Ähnlich verbitterte Fragen
sind sicherlich auch aus Kreisen der Mitarbeiter zu hören. Man fragt
sich dort angesichts eines ständig steigenden Legitimationsdruckes
und eher sinkender Bereitschaft zur Unterstützung von Modellversu-
chen, ob es sinnvoll ist, auf diesem Wege weiter ein Höchstmaß von
persönlicher Kraft zu investieren; Erfolge in der Arbeit mit psy-
chisch Kranken sind nicht so kurzfristig zu erreichen, wie man in
30
der BI gezwungen ist, sie sich, gedrängt durch eigene Ansprüche
und Erwartungen der Geldgeber, vorzumachen.
Nach siebenjähriger Praxis eines Versuchs, alternative, freiere
Psychiatrie zu machen, läßt sich noch keine Erfolgsstatistik auf-
stellen, die diesen Weg gegenüber dem der traditionellen Psychiatrie
rechtfertigt. Die Zahl derer, die trotz BI-Betreuung noch in der
Klinik landen und als hoffnungslos angesehen werden, ist hoch.
Wir stehen der Arbeit der BI gespalten gegenüber : Einerseits mei-
nen wir, daß die Entwicklung, die die BI nimmt, diese immer weiter
von der ursprünglichen Idee der Bürgerinitiative entfernt. Die Insti-
tutionalisierung nimmt zu, und mit ihr schwindet die Möglichkeit,
von außen her Einblick zu erhalten und Einfluß zu nehmen.
Doch gibt es noch viel zu wenig vergleichbare Ansätze, und man muß
sagen, daß trotz aller Kritik und Enttäuschung das Engagement für
einen Versuch wie den der BI vertretbarer ist als der gängige re-
signierte Karrierismus in unseren psychiatrischen Kliniken.
Weltweit sind die
Lebensgrundla-
gen der Mensch-
MARXISMUS
UND
TURN STE Aert durch die ka-
— - pitalistische Art
der Naturbeherr-
schung bedroht.
Die Alternative
lautet heute
nicht mehr nur:
Sozialismus oder
Barbarei. Sondern
ne Sozialismus oder
Braten, a eh gal Mondwerdung
der Erde. Erst
spat beginnt die
Lyi Sa | Linke sich dieses
Problems bewußt
zu werden.
‘Marxismus und Naturbeherrschung’’ ist ein Dok-
ument dieses Umdenkens.
Mit Beiträgen von: O.Negt, B.Schmidt, P.Dudek,
B.v.Greiff, G.Armanski, N. Diemer,O. Ullrich,
H. Zeltwanger, V. Brandes, H. Sackstettter,
W. Hoss u.a. 184 Seiten, DM 1o,--
„чы
7 РА
31
Albrecht Letz/Ulrich Blanke/Ulrike Tubbesing
ERFAHRUNGEN AUS EINER,
ZUR PSYCHIATRIE ALTERNATIVEN
WOHNGEMEINSCHAFT IN LONDON
EIN INTERVIEW
Ulrike Tubbesing hat ein halbes Jahr in einer therapeutischen Wohn-
gemetnschaft der Arbours Association in England gelebt. Sie schil-
dert in einem Gespräch ihre Erfahrungen, den geschichtlieh-konzep-
tionellen Hintergrund und einige therapeutische Arbeitshypothesen
der Gruppe.
Ulrich: Ulrike, du hast eine Zeitlang in England in einer therapeu-
tischen Wohngemeinschaft gearbeitet und gelebt. Kannst du mal sagen,
was das für eine Einrichtung war, wie du da hingekommen bist und als
was du da tätig warst?
Ulrike: Formaler Grund war, daß ich innerhalb meines Projektstudi-
ums an der Gesamthochschule Kassel, Fachbereich Sozialwesen, ein
halbes Jahr Praktikum machen mußte. Da ich vorher in der Sozialthe-
rapie in Kassel engagiert war, und wir damals in unserer Wohngemein-
schaft privat öfters Leute aus der Psychiatrie vorrübergehend auf-
genommen hatten und länger Beziehungen zu ihnen eingegangen sind,
war es für mich ein logischer Schritt, mich in der "Antipsychiatrie",
oder besser gesagt, in den bekannten Alternativen zur Psychiatrie
in Italien und England umzusehen. Bei der Arbours Association in
London habe ich dann einen Praktikumsplatz in einer therapeutischen
Wohngemeinschaft bekommen.
Ulrich: Wie ist die Stellung dieser therapeutischen Wohngemeinschaf-
ten im Rahmen der "Antipsychiatrie" Englands, und wie ist diese
Idee entstanden?
Ulrike: In den sechziger Jahren, im Zuge der Studentenbewegung haben
sich Psychiater, Ärzte, Sozialarbeiter, Künstler und Studenten zu-
sammengetan - die waren auch beeinflußt von der psychedelischen Be-
wegung (Timothy Leary u.a.) - und wollten ganz einfach die traditio-
nelle Psychiatrie, die als repressiv und krankmachend galt, verän-
dern. Sie haben damals in Kingsley Hall eine Wohngemeinschaft ge-
bildet und haben dort mit Leuten, die aus der Anstalt kamen, oder
als wahnsinnig etikettiert worden waren, zusammengelebt. Das waren,
um bekannte Namen zu nennen, Laing, Schatzman, Berke, Esterson,
Cooper und Mary Barnes. Eine ihrer Grundideen war, das herkömmliche
Machtverhältnis Arzt - Patient oder die Trennung zwischen "gesund"
und "krank" aufzuheben und eine gemeinsame Betroffenheit des Lei-
dens unter bestimmten gemeinsamen Bedingungen in der Gesellschaft
herauszuarbeiten und sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen.
Die Gruppe hat sich bald aus verschiedenen Gründen gespalten, und
daraus sind die Philadelphia Association und die Arbours Association
gebildet worden. Neben diesen Vereinen gibt es in London noch eini-
ge Selbsthilfegruppen, wie zum Beispiel "cope". - Berke und Schatz-
man sind gewissermaßen "die ideologischen Leiter" der Arbours Asso-
32
ciation. Abours hat drei therapeutische Wohngemeinschaften, Phila-
delphia ca.acht, die sich alle in London befinden, und die bis zu
zwölf Bewohner aufnehmen können. Leider sind nicht einmal die Wohn-
gemeinschaften untereinander vernetzt.
Ulrich: Wer kommt als "psychisch Kranker" in eine solche therapeu-
tische Wohngemeinschaft?
Ulrike: Alle, die sich in irgendeiner Weise dafür interessieren.
Das kann durch Eigeninitiative, durch Vermittlung eines Sozialar-
beiters oder im Anschluß an eine Krisenintervention oder Intensiv-
therapie geschehen. Es gibt also nur echte Freiwillige, keine Zwangs-
einweisung aus einer psychiatrischen Anstalt in eine therapeutische
Wohngemeinschaft. Die Freiwilligkeit des Aufenthalts ist eines der
obersten therapeutischen Grundprinzipien von Arbours.
Ulrich: Gibt es Aufnahmekriterien?
Ulrike: Bei Sucht würde wohl jemand nur nach einer Entziehungskur
aufgenommen. Ansonsten gibt es keine Einschränkungen, weder in Be-
zug auf die Art der Problematik (Psychose, Neurose, Verhaltensauf-
fälligkeiten) noch in Bezug auf die persönliche Geschichte. Die
Wohngemeinschaftsmitglieder suchen sich unter den Bewerbern selbst
ihre zukünftigen Mitbewohner aus. Bei Arbours sah man die Probleme
der Leute nicht als Krankheiten, sondern vielmehr als überwindbare
psychosoziale Krisen. Jemanden als "psychisch krank" oder ähnlich
zu bezeichnen, gilt als schwere Stigmatisierung, die insofern athe-
rapeutisch ist, als Leute solche Bezeichnungen verinnerlichen kön-
nen.
Ulrich: Wie sieht so ein Tagesablauf in der Wohngemeinschaft aus?
Ulrike: Der Tagesablauf war in keiner Weise vorgeplant. Jeder konn-
te tun und lassen, was er wollte. Als feste Termine gab es lediglich
zweimal in der Woche Gruppentreffen unter der Leitung eines nicht
in der Wohngemeinschaft lebenden Therapeuten. Einige WG-Mitglieder
gingen arbeiten, einige waren arbeitslos und lebten von der Sozial-
hilfe und waren überwiegend zuhause. (Sich abweichend Verhaltende
sind bekanntlich besonders stark von der hohen Arbeitslosigkeit be-
troffen.) Was eine unverbindliche Norm war, häufig aber nicht einge-
halten wurde, war die Einnahme einer gemeinsamen Mahlzeit am Abend.
Albrecht: Wovon hast du gelebt?
Ulrike: Aus eigenen Mitteln und Mitteln der Hochschule in Kassel.
Ich wurde als Praktikantin nicht bezahlt und mußte für die allgemei-
nen Kosten wie Miete und Nebenabgaben anteilig genauso aufkommen,
wie jeder andere auch. Wir hatten eine gemeinsame Haushaltskasse.
Ulrich: Woher kamen die Leute in deiner Wohngemeinschaft, wie lange
blieben sie erfahrungsgemäß im Durchschnitt, und wohin gingen sie
anschließend?
Ulrike: Fast alle, bis auf einen oder zwei, hatten einen Psychia-
trieaufenthalt hinter sich. Sie kamen aus allen gesellschaftlichen
Klassen und Schichten. Überwiegend kamen sie aber aus kleinbrüger-
lichen bis proletarischen Verhältnissen. Einige waren schon in staat-
lichen Rehabilitationseinrichtungen gewesen. Fast niemand hatte
eine Berufsausbildung. Das Alter der WG-Mitglieder lag in unserer
WG zwischen achtzehn und vierunddreißig Jahren. Es lebten Männer
und Frauen zusammen. Ich halte ein annäherndes Gleichgewicht im Ge-
schlechterverhältnis für günstig.
Ulrich: Wie sehen Bewohner die therapeutische Wohngemeinschaft, mehr
als Übergangseinrichtung oder als dauerhafte Lebensgemeinschaft?
Ulrike: Es wurde mehrfach diskutiert, ob man eine Mindest- oder Höchst-
33
In dieser Frage waren sich die WG-Leute
und die Mitarbeiter von Arbours untereinander nicht einig, Ich kam
zu der Überzeugung, daß es individuell sehr verschieden ist und von
persönlichen Entwicklungsgeschichten abhäng1g gs WER gader Bin-
zelne die Wohngemeinschaften für sich nutzt und wieviel Zeit er da-
zu braucht: Der eine mag zwei Monate brauchen, um sich in eine Grup-
pe zu integrieren, der andere ein Jahr; einer mag die WG als Schutz-
raum länger brauchen - etwa zum Selbstständigwerden - als noch ein
anderer. Einerseits halte ich eine Wohndauer von mindestens einem
Jahr sowohl für den einzelnen als auch für den Gruppenprozeß für
iben der Gruppe in derselben Zu-
llenfixierungen und Stagnation
wohndauer festlegen sollte.
günstig; ein zu langes Zusammenble
sammensetzung kann andererseits Ro А Pane p ч
fördern, da keine frischen Impulse und Beziehungsmöglichkeiten in
die Gruppe hineingetragen werden. Deshalb halte ich festgelegte Auf-
enthaltsdauerbestimmungen für zu starre, unflexible Regelungen. {
Es gibt WG-Mitglieder, die meinen, die Wohngemeinschaft sollte eine
Lebensperspektive sein, andere sehen 51е als Ubergangseinrichtung.
Die Gefahr von Hospitalisierungstendenzen sehe ich bei den Arbours
Wohngemeinschaften kaum, obwohl man schon mehr auf Selbstverwaltung
der Häuser und der Gelder hinarbeiten sollte. б h
Ulrich: Wie sieht das therapeutische Angebot für die Wohngemein-
schafts-Leute aus? R
Ulrike: Arbours Association hat neben den drei therapeutischen Wohn-
gemeinschaften noch ein Kriseninterventionszentrum und ist gleichzei-
tig Ausbildungsinstitut. Sie haben auch noch einen ambulanten The-
rapiebereich, wo alle losen und festen Mitglieder und Therapeuten
der Arbours Association Hilfen anbieten. Es ist eigentlich eine Re-
gel, daß jeder aus einer therapeutischen Wohngemeinschaft sich in
Einzeltherapie befindet, analytischer Gesprächstherapie. Ein Angebot
ist ferner, daß zweimal in der Woche die Gruppentreffen stattfinden,
wo neben organisatorischen Problemen auch interpersonelle Schwierig-
keiten der Wohngemeinschafts-Bewohner besprochen werden. An diesen
nimmt ein externer Haustherapeut teil.
In diesen Gruppen schien sich die Beeinflussung von Laing - dessen
therapeutischer Ansatz existentialistisch (Sartre u.a.) ist, vor-
teilhaft auszuwirken. Ganz praktisch kam dieser Ansatz in den the-
rapeutischen Gruppensitzungen darin zur Geltung, daß die Therapeuten
doch immer wieder darauf hinweisen, daß man eine Wahl hat, in die-
se oder jene Situation zu geraten, diese oder jene Rolle anzuneh-
men oder zu verweigern. Es wurde auch klar, daß niemand jemanden А
anderen zu irgendetwas zwingen kann und da& man auch eine Wahl trifft,
wenn man keine trifft. Diese Argumente riicken dem Betroffenen die
Verantwortung fiir sein Leben, sein Handeln, seine Zukunft ins Be-
wußtsein.
Ferner gibt es in einer der anderen therapeutischen Wohngemeinschaft
eine Kunstgruppe, an der jeder freiwillig teilnehmen kann. In der
Freiwilligkeit der Teilnahme sehe ich eine Alternative zur unfrei-
willigen Beschäftigungs- und Arbeitstherapie der Psychiatrie.
Dann gibt es eben diese Praktikanten/innen, wie ich eine war, die
mehr als Beziehungspersonen definiert sind. Sie bieten Beziehungen
an, und ihre Rolle ist nicht vorgegeben. Ich denke, viele Arbour-
Therapeuten würden es begrüßen, wenn das therapeutische Angebot
dahingehend erweitert werden könnte, daß nicht nur zwei, sondern
mehrere wöchentliche Gruppentreffen stattfinden könnten - nur das
ist momentan nicht zu leisten.
34
Ulrich: Gibt es andere Unternehmungen, werden andere Angebote ge-
macht, die nichts mit Therapie zu tun haben, wie z.B. in den Zoo
gehen, gemeinsam zu angeln, gemeinsam eine Blockhiitte zu bauen oder
eine Fabrik zu besichtigen?
Ulrike: Nein. Das wiirden Arbours und auch die Gruppenteilnehmer in
gewisser Weise ablehnen. Das wäre ihnen zu psychiatriemäßig. Wie
gesagt, Beschäftigungs-"therapie' war alles andere als beliebt.
Ulrich: Ich meine nichts Psychiatriemäßiges, sondern: Was habt ihr
zusammengemacht, was ist auf deine Anregung hin unternommen worden?
Ulrike: Z.B. Tagesausflüge, gemeinsam Filme und Stadtteilfeste besu-
chen; einigen habe ich versucht, deutsch beizubringen. Wir haben
zusammen gekocht und gewerkelt.
Albrecht: Mich interessiert: Was haben die Leute selbst zusammen
in Angriff genommen?
Ulrike: Bei Netzwerktreffen aller Mitglieder der Arbours Associa-
tion, die einmal im Monat in den therapeutischen Wohngemeinschaften
im Wechsel stattfinden, kocht die betreffende WG für alle. Im übri-
gen unternahm jeder etwas mit dem, mit dem er sich verstand. Für
eine der wichtigsten therapeutischen Grundeinstellungen von Arbours
halte ich in diesem Zusammenhang die Freiheit der Wahl der Beziehun-
gen. Das ist der entscheidende Unterschied zur Psychiatrie: Dort
können sich bekanntlich weder die Insassen noch das Personal aus-
suchen, ob, mit wem und wie lange sie miteinander leben oder arbei-
ten möchten; es handelt sich also dort in der Psychiatrie eher um
eine Zwangsgemeinschaft.
Albrecht: Was waren die Hauptprobleme in eurer Wohngemeinschaft?
Ulrike: Tendenziell die gleichen wie in jeder anderen Wohngemeinschaft
auch: Nichterfüllte Beziehungswünsche, Eifersucht und Neid, starke
Ambivalenzen in den Beziehungen, Doppelbotschaften und indirekte
Kommunikation, informelle Hierarchien, damit verbunden Kontrolle
und Macht und nicht zuletzt das Nichtumgehenkönnen mit starken Ag-
gressionen.
Albrecht: Sind über Außenkontakte Verbindungen entstanden, die die
Kontakte innerhalb der Gruppe ergänzt haben?
Ulrike: Tendenziell nicht. Das liegt an den Vorurteilen der Umwelt,
daß die meisten Wohngemeinschaftsmitglieder nicht so akzeptiert wur-
den, wie man sich das wünscht. Deshalb waren die intensivsten und
meist auch einzigen persönlichen Kontakte die innerhalb der Gruppe.
Mehr Außenkontakte wären natürlich wünschenswert.
Albrecht: Gab es aus dieser Konstallation heraus nicht gerade für
dich besondere Schwierigkeiten? Denn du warst einerseits in diesen
intensiven Kontakt mit einbezogen, andererseits stand aber fest, daß
du nach einem halben Jahr wieder weggehen würdest.
Ulrike: Ja. Ich denke, daß sich auf die Praktikanten besonders viele
Bedürfnisse konzentrieren, besonders Beziehungs- und Gesprächsbedürf-
nisse, weil man quasi dafür da ist, eben so viel wie möglich anwe-
send zu sein. Man läßt sich gerade als Praktikant sehr stark ein,
weil man weiß, man geht wieder, man ist auf diese Form des Wohnens
weniger angewiesen. Andererseits ist das Problem, daß sich kaum je-
mand findet, der dort rund um die Uhr wohnen will und sich stärker
auf solche Beziehungen einlassen will. Trotzdem kann ich es jedem
empfehlen, sich auf diese Erfahrung einzulassen, ich habe für mich
selbst und über mich selbst viel daraus gelernt.
Albrecht: Liegt es auch daran, daß die anderen in ihrer Kommunikations-
fähigkeit stärker eingeschränkt sind?
35
Ulrike: In unserer Wohngemeinschaft hatten fast alle konfuse
Kommunikationserfahrungen in ihren Familien erlebt, denen sie nicht
entrinnen konnten, so daß sie Kommunikation oft lieber vorsichtshal-
ber verweigerten oder vermieden. Gerade deshalb wird vom Konzept her
so großer Wert auf die Freiwilligkeit der Beziehungen gelegt. Ich
bot von daher gewissermaßen eine alternative Beziehungs- und Kommu-
nikationserfahrung an, die weniger verwirrend und eben freiwillig
sein sollte.
Das Verhältnis der Mitglieder der Wohngemeinschaft untereinander,
aber auch zu mir, war sehr ambivalent. Auf mich bezog sich ein
großer Neid als eine sogenannte "Normale", als eine, die jederzeit
ohne Schwierigkeiten wieder abhauen kann, als eine, die bessere Le-
bens- und Arbeitsmöglichkeiten hat. Es war den Mitbewohnern ja klar,
daß ich eine ganz andere Lebensgeschichte hatte, keinen Psychiatrie-
aufenthalt hinter mir hatte, nicht ihre schlimmen Erfahrungen hatte.
Ich hatte andere Chancen bekommen und eine Berufsperspektive und
so einige enge Freunde. Ich war eben im Vergleich privilegiert, re-
präsentierte für sie eine andere Klasse. Es wäre auch von diesem As-
pekt her gut, wenn mehr Helfer aus dem Proletariat und dem Kleinbür-
gertum kämen.
Ulrich: Meinst du nicht, daß diese hier von dir konkret dargestellte
Ambivalenz die sogenannte Resozialisation gerade verhindert?
Ulrike: Medizin und Sozialarbeit - und aus diesen Widersprüchen
kommen sie nicht heraus, festigen letztlich immer gesellschaftliche
Normen und Herrschaft. Aber an diesen Widersprüchen arbeiten wir ja.
Meines Erachtens sind Hilfeleistungen jetzt noch notwendig und kön-
nen auch positiv sein bei genügender Aufdeckung und Reflexion der
Widersprüche und der Normensysteme des gesellschaftlichen Gesamtzu-
sammenhangs; bei veränderten Formen von Hilfe, ohne aus den Augen
zu verlieren, was anzustreben ist.
Ulrich: Wäre nicht schon alles anders, wenn das Zahlenverhältnis
anders wäre, wenn also z.B. eine Wohngemeinschaft ein oder zwei Leu-
te, die schlecht zurecht kommen, zu sich nähmen?
Ulrike: Das halte ich für ein gutes Konzept.
Albrecht: Kannst du einmal sagen, worin sich dein Einlassen von den
herkömmlichen therapeutischen Strukturen unterscheidet?
Ulrike: Der wesentliche Unterschied war, daß meine Rolle in keiner
Weise festgelegt war, und daß ich Hilfe nur leistete, wenn ich dazu
Lust hatte, Ich konnte Beziehungen eingehen oder es auch lassen und
so viel Zeit mit den Leuten in der Wohngemeinschaft verbringen, wie
mir möglich war, was bei therapeutischen Verhältnissen traditionel-
ler Art nicht der Fall ist. Arbours Association geht davon aus, daß
jede Zuwendung oder Hilfe, die nicht authentisch und freiwillig ge-
leistet wird, genau jene "double-bind"-Strukturen für die meisten
Leute in der Wohngemeinschaft wiederholt, denen sie in ihrer zer-
störten Familienkommunikation unterworfen waren.
Ulrich: Gibt es Hinderungsgründe, diese Praxis in der BRD anzufangen?
Ulrike: Wahrscheinlich sind die geringere Toleranz und die starreren
Strukturen in Deutschland im Unterschied zu den Engländern ein Pro-
blem. Von den Betroffenen mit Psychiatrieerfahrung wird oft das
Wort "Therapie" mit Psychopharmaka, Anpassungsdruck und Zwang ver-
bunden oder auch mit Versorgtwerden. So wird eine "therapeutische
WG" oft als "kleineres Übel" oder "Notlösung" gegenüber der Insti-
tution angesehen werden, da keine bessere Alternative da ist. Man-
che werden es auch frustrierend erleben, daß sie in einer therapeuti-
36
schen Wohngemeinschaft mehr Verantwortung fiir sich selbst und das
Gruppenleben übernehmen müssen, als es in der Psychiatrie der Fall
war. - Wichtig wäre es, daraufhin zu arbeiten, daß sich die WG's
r Weile selbstverwalten ohne Hilfe und Auflagen von außen.
nach eine
1e Wohngemeinschaft sollte eine freiwillige Sache sein, die
Eine sole
die Sache der Betroffenen ist, in die man geht, weil man dort für
sich eine Erfahrung machen will, die einen weiterbringt. Eine Person
dürfte durch den Aufenthalt in einer solchen Wohngemeinschaft aller-
ı in keiner Weise stigmatisiert oder diskriminiert werden.
dings auc
Bei der Errichtung einer therapeutischen Wohngemeinschaft stellt
sich immer wieder die Frage nach der Finanzierung durch die öffentliche
Hand. Finanziert man so, ergibt sich die Gefahr der amtlichen Kon-
trolle, des Anpassungsdrucks an Ämternormen, die Gefahr der Insti-
tutionalisierung und Hospitalisierung, was atherapeutisch ist. -
Trotzdem sollte alles getan werden, um den Abbau von den Großkran-
kenhäusern, einschließlich der Psychiatrien zu fördern.
INFORMATIONSDIENST
ARBEITSFELD SCHULE
CARRTOFEL
VRESSER. /
0, O
„Gastarbeiterkinder sind doot, die konnen nicht mal richtig Kartoffel schreiben!
Schwerpunktthema:
AUSLÄNDER IM
DEUTSCHEN SCHUL (UN) WESEN
Ausserdem: Frauen und Gewerkschaftsarbeit
Offenbach, im Juni 1980
Doppelnummer, Preis DM 8,-
37
Christiane Heider
UBER EIN BUCH: LA PESTE GAGNE LE GRAND PSY
DIE PEST ERREICHT DIE GROSSE PSYCHOSCENE
Die Leute, die ihre Selbstdarstellung unter diesem Titel veröffent-
licht haben, verstehen ihre Organisation mehr als Alternative zur
Institution denn als Alternative zur Psychiatrie. So haben sie ih-
ren Namen - ursprünglich CRAP - (collectif réseau alternative
a la psychiatrie) incollectif reseau alternative (im folgenden)
CRA umgewandelt.
"Es gibt tagtäglich neue Institutionen für Deviante jeder Art, weil
die öffentlichen Mächte Schwierigkeiten haben, besonders mit den
Drogen. Wenn man für sie ein paar andere Formeln findet, etwas wei-
cher, nachgiebiger, wird man schon Unterstützung finden."
Hier liegt deutlich eine Gefahr der Vereinnahmung durch den Staat.
Das CRA will also kein Ersatz für eine Institution sein - somit be-
stände die Gefahr, selbst eine zu werden. Es möchte vielmehr Risse
schaffen an institutionellen Einrichtungen dadurch, daß es diese
in direktem Kontakt ständig in Frage stellt. Dafür scheint es ihm am
wichtigsten,offen zu bleiben, offen, einmal in dem Sinn, als das
CRA sich als Zugang für das ver-rückte Kind zur sozialen Welt ver-
steht, zum anderen in dem Sinn, als sich seine Praxis ständig wan-
deln können soll, entsprechend den betroffenen Personen, Einrichtung-
gen usw.
Die Leute, die sich später zum CRA zusammenschlossen, lernten sich
zufällig - wenn es Zufall gibt - kennen und beschlossen, "anders"
zu leben, "anders" als in dieser Gesellschaft, in der alles vorbe-
stimmt und geregelt, starr und fest sein soll. Bis dahin hatten sie
unterschiedliche Lebenswege. Einige von ihnen waren vorher in Insti-
tutionen für psychisch geschädigte Kinder beschäftigt. So wie sie
sich nun begegnet waren, zogen sie zu zweit oder zu mehreren nach
Südfrankreich aufs Land. Sie bauten eine Landwirtschaft auf, von
der sie sich, wenn auch dürftig, ernähren konnten und begannen
mit der Aufnahme psychisch geschädigter Kinder. Diese ursprünglich
vereinzelten Gruppen/Häuser traten untereinander in Kontakt und
gründeten das CRA(P), ein Netz von Einrichtungen, die sie "Orte
des Lebens" (lieux de vie) nennen.
(Anm.: Im Adressenteil des Buches sind sechzehn verschiedene "Orte
des Lebens" genannt. Diejenigen, die am meisten über sich geschrie-
ben haben, sind: "Le Choral", "Chateau Gombert".
Die Kinder, manchmal Jugendliche, die dort aufgenommen werden, kom-
men wohl zumeist aus verschiedenen Einrichtungen für psychisch Be-
hinderte. Sie bleiben für eine begrenzte Zeit in den "Orten des
Lebens", ein paar Wochen, Monate, während der Ferien oder an den
Wochenenden. Daueraufenthalte sind bisher die Ausnahme geblieben.
Die Leute von dem CRA sind oft von den Institutionen als Lücken-
büßer benutzt worden, wenn diese mit einem Kind nicht weiter wußten,
bei Personalmangel usw. Für die Aufnahme eines Kindes wird ein Ta-
38
gessatz gezahlt, der aber meist nicht der Нбһе des Satzes entspricht,
den die Krankenkasse an die Institution zahlt, von der das Kind ver-
mittelt worden ist.
Die meisten Kontakte des CRA mit den Institutionen laufen iiber
Claude Sigala, den Secretaire, Er organisiert die Verteilung der
Kinder innerhalb des CRA, wenngleich die Entscheidung für die Auf-
nahme eines Kindes immer innerhalb des in Frage kommenden Hauses
gefällt wird. C. Sigala ist in seiner Funktion in dem CRA heftiger
Kritik ausgesetzt. Dies geht aus einem Interview mit Felix Guattari
und Jean Marc Dou hervor.
Die Leute des CRA wehren sich gegen jede Art von Organisation und
Zentralisierung. Diese gegen Organisation gerichtete Haltung wird
auch an der Aufmachung des Buches deutlich. Es gibt kaum ein logi-
sches Prinzip in der Reihenfolge der Artikel, kein Inhaltsverzeich-
nis (fast ganz hinten fand ich unvermutet einen '"Kompaß", der eini-
ge Hinweise auf Seitenzahlen gibt). Das Wichtigste ist, es kommt
jeder zu Wort, die Kinder, die Erwachsenen, Personen, die mit dem
CRA in Verbindung stehen, wie Eltern oder die Psychoanalytiker (?)
Roger Gentis, Fernand Deligny, Felix Guattari. Es gibt Fotos von
Ziegen, Hunden, Kindern, Erwachsenen, Briefe, Gedichte, Kinderbil-
der, Erlebnisberichte und wenig theoretische Diskussion. Korrekte
Orthographie ist keine Bedingung, jedem wird die Möglichkeit gege-
ben, sich mitzuteilen, so wie auch in den "Orten des Lebens" niemand
als schizophren, depressiv oder psychotisch etikettiert wird.
Dort heißt sie Sophie und lebt ihre Nacht, in der sie schreit oder
lacht nach einem langen Tag, oder Martial, der überall herum läuft,
mit dem Glauben, woanders zu sein, ganz nah oder ganz fern, von
einer Minute auf die andere.
Die ver-rückten Kinder teilen das Leben der Menschen, die dort woh-
nen, d.h., sie beteiligen sich, soweit sie können und möchten, an
den Arbeiten des ländlichen Lebens. Sie kümmern sich um Ziegen,
Schafe, Enten, Salat und um die täglichen Pflichten wie Kochen, Auf-
waschen, Putzen. Niemand erledigt etwas ihm Zugewiesenes, es geht
alle an. Niemand will "Erziehen'. Erwachsene und Kinder sind nicht
aufgeteilt in Erzieher und zu Erziehende, es gibt keine Arbeit- und
Freizeitteilung. Sie alle möchten ganz miteinander leben, mit ihren
Wünschen, mit ihren ureigensten Bedürfnissen und Lebensäußerungen.
"Wir sagen: "Keine Medikamente’, und wir tun, was wir können. Wenn
man wirklich Zahnschmerzen hat, wird man wohl schnellstens eine
Tablette nehmen. Aber was viel interessanter ist, ist, daß wir ver-
suchen zu teilen, der Angst zuzuhören, ohne Droge. Durch Beschöni-
gen wird das Leben nicht möglich. Einige Beispiele: Olivier komt
hier an, mit einer endlos langen Liste von Medikamenten gegen Epi-
lepste, wir sind mißtrauisch, den Medikamenten aber auch der genann-
ten Krankheit gegenüber. Nach ein paar Tagen schon hören wir auf
mit den Neuroleptika und dann vergessen wir sogar DEPAQUINE und
GARDENAL!
Ich sage: 'Vergessen.' Unser Leben ist nicht starr, wir wollen keine
Routine. Es kann in einem Moment wichtiger sein, Sophie, die in
einer Ecke weint und schreit, die Hand zu halten, als Olivier, der
gerade Musik hört oder im Garten arbeitet, seine Medikamente zu ho-
len. Nun, als Olivier wieder anfängt zu lachen, zu tanzen, zu sprin-
gen, als er wieder anfängt schlafen zu können, sagen wir uns, es ist
richtig zu vergessen. ap
dër Ae P TEE
Das Vergessen zeigt deutlich, daß unsere Sorge, vielmehr unsere
eigene Angst, woanders ist. Und dann passiert etwas Unglaubliches,
es ist mehr als eine Anekdote.
Es kommen Leute zu uns in den 'Choral', und was für Leute: z.B.
Psychiater, drei mal in vier Monaten. Ich weiß nicht, was wir unter
uns darüber gesagt haben, jedesmal, wenn sie kamen, war Olivier krank,
so krank, daß sogar wir Angst bekamen, so sehr, daß die Psychiater
sagten: 'Ste sehen doch, sie müssen thm GARDENAL geben. !
Die Medikamente, die in der Psychiatrie gegeben werden, sind auch
da, ит die Pfleger (die Helfenden) zu beruhigen. Bei uns türmen sich
die Medikamente in einer Schublade. Finer der Besucher, neugierig
wie alle, öffnete die Schublade und schimpfte: 'Was denken sie sich,
all diese Tabletten in Reichweite der Kinder. Wenn sie die für Bon-
bons halten! '
So dumm kann man sein, wenn man Angst vor seiner eigenen Angst hat."
"Wir haben schnell erkannt, daß es unzureichend ist, sich nur mit
den Problemen des Kindes zu beschäftigen, daß man vielmehr parallel
dazu thre natürliche Umgebung einbeziehen muß.
Nach Absprache mit den Kindern haben wir angefangen, uns einmal mo-
natlich mit den Eltern zu treffen. Die Eltern werden so mit ihren
eigenen Schwierigkeiten konfrontiert und bekommen Unterstützung,
daran zu arbeiten. Jahrelang haben sie die Angst ihrer Kinder erlebt
und stellen nun fest, daß sie selber solche Ängste haben und begrei-
fen, daß, wenn sie sich auch entwickeln, es von beiden Seiten eine
Möglichkeit gibt, sich wiederzufinden."
Die Leute von dem CRA wollen dem Kind einen Weg aus der abgeschlos-
senen Situation der Institutionen in das soziale Leben ermöglichen.
So haben die Kinder auch die Möglichkeit, Kontakte zu den Nachbarn
im Dorf aufzunehmen. Ein Versuch, einige Kinder mit in eine Sonder-
schule gehen zu lassen, mißglückte. Viele Eltern versuchen nun ihrer-
seits, etwas zur Arbeit des CRA beizutragen und haben einen Verein
zur Unterstützung des CRA gegründet. Sie bemühen sich um finanzielle
Unterstützung und um Öffentlichkeitsarbeit, die auch von fortschritt-
lichen Zeitungen, z.B. der "Liberation", geleistet wird.
Das CRA unterhält viele Kontakte zu anderen "alternativen" Bewegun-
gen in Frankreich, wobei es von Maud Mannoni, die die experimen- “
telle Schule Bonneuil gegründet hat, abgelehnt wird. In einem Schrei-
ben von ihr heißt es, es seien unverantwortliche Vorfälle in solchen
Häusern (wie die des CRA) bekannt geworden. i
Hierüber ist in diesem Buch nichts Näheres herauszufinden. Es gibt
nur ein Beispiel von einem Kind, welches in einem Haus als allzu
große Belastung empfunden wurde und sehr bald in die Institution
zurückgeschickt werden mußte. Insgesamt frage ich mich, ob die Selbst-
darstellung des CRA mit aller Lebensfreude, die es ausstrahlt,
nicht zu enthusiastisch ist. Andererseits ist es ganz wichtig zu
sehen, daß diese Leute dabei sind, etwas Neues zu schaffen, etwas,
das sich ständig weiter entwickelt und daher lebt. So etwas kostet
viel Mut und Kraft, und dafür brauchen sie auch ihre Begeisterung.
4o
Wilma Neuenhagen
PSYCHO-SOZIALE ARBEITSGEMEINSCHAFTEN
Die Psychiatrie-Enquéte von 1975 Bericht über die Lage der Psychia-
trie in der BRD sagt aus, daß die gegenwärtige Situation der Behin-
derten und psychisch Kranken teilweise menschenunwürdig und unmensch-
lich ist. Besonders deutlich wurden folgende Mißstände:
@ Benachteiligung der psychisch Kranken gegenüber körperlich Kranken.
@ Fehlende gemeindenahe ambulante und stationäre Einrichtungen und
Dienste,
© Unzureichende Weiterbildungsmöglichkeiten der im psychosozialen
Bereich Tätigen.
© Mangelnde Kooperation und Koordination der in einem Psycho-sozia-
len Einzugsgebiet Tätigen.
Der Arzt Dr. Wedler beschreibt sehr bildhaft die Situation derer,
die in unterschiedlichen Einrichtungen und Diensten in einem "Ver-
sorgungsgebiet" arbeiten:
"Tst es schon seltsam, daß so etwas wie Zusammenarbeit gefordert
werden muß, daß man nicht ganz einfach eben zusammenarbeitet, so
wird es geradezu gruselig, wenn man einmal die Versorgungsrealität
in deutschen Stadtlandschaften betrachtet. Da sitzen sie wie die
Einstedler auf ihren Bäumen und versorgen psychosozial, dicht ge-
drängt, man möchte sagen: Baum an Baum und fühlen sich wie in der
Wüste:
sie sehen einander nicht,
sie hören einander nicht,
sie bemerken einander nicht
und wollen voneinander nichts wissen. |
Zusammenführen kann sie höchstens noch der Drang nach Wahrung детети-
samer Besitzstände in berufsständischen Zirkeln, wo an den Ziffern
der Gebührenordnung ebenso eifrig gefeilt wird wie am Wortlaut eines
Protestes gegen drohende Regierungsbeschlüsse, die vielleicht irgend-
etwas an der derzeitigen Situation ändern könnten." (Wedler, 1978)
Dieser Mangel an Koordination und Kooperation hat Überschneidungen,
Doppelbetreuungen und Lücken im Versorgungsgebiet zur Folge. Die
Spezialisierung der einzelnen Einrichtungen auf bestimmte Problembe-
reiche geht einher mit einer gegenseitigen Abgrenzung, und eine
ganzheitliche Sichtweise des Menschen und seiner Probleme ist nicht
mehr möglich.
Um diesen Mißstand ein wenig aufzuheben, ist es wichtig, ein Forum,
wie die Psycho-soziale Arbeitsgemeinschaft (PSAG) zu schaffen, um
einer gemeinde- und menschennahen "Versorgung" einen Schritt näher
zu kommen. Die Psycho-sozialen Arbeitsgemeinschaften sollten folgen-
de Aufgaben haben:
41
© Kennenlernen und Erfahrungsaustausch der im psycho-sozialen
Bereich Tätigen; Mitarbeiter können sich dadurch eher auf gemein-
same Schwerpunkte hin entwickeln, anstatt zu rivalisieren.
@ Unterstützung; eine emotionale, fachliche und auch institutionel-
le Unterstützung zur gemeinsamen Bewältigung der schwierigen Auf-
gaben ist gegeben.
@ Planung; durch die Zusammenarbeit können Versorgungslücken aufge-
zeigt und bestehende Einrichtungen hinterfragt werden, um dann
ein gemeinsames Konzept zu entwickeln.
Darstellung der Psycho-sozialen Arbeitsgemeinschaft in Kassel
Durch die Initiative des Gesundheitsamtes fand am 31.5.1977 die
1. Arbeitssitzung einer Psycho-sozialen Arbeitsgemeinschaft statt.
Alle im psycho-sozialen Bereich bekannt Tätigen waren eingeladen.
Erschienen waren ca. 60 Kollegen und Kolleginnen.
Die gegenseitigen Erwartungen und die einzelnen Interessen wurden
in Kleingruppenarbeit abgeklärt, und ein gemeinsamer Konsens konnte
gefunden werden:
@ Gegenseitiges persönliches Kennenlernen, sowie das Kennenlernen
der unterschiedlichen Institutionen und Einrichtungen.
@ Gemeinsame Fort- und Weiterbildung.
© Vervollständigung des "Grünen Wegweisers für soziale Dienste",
Des weiteren wurde beschlossen, die Arbeitssitzungen einmal monatlich
stattfinden zu lassen. In den folgenden elf Arbeitssitzungen tagte
die Arbeitsgemeinschaft reihum in den verschiedenen Institutionen
und Einrichtungen, um an Ort und Stelle näher zu erfahren, wie die
einzelnen Stellen arbeiten und welche Probleme sie haben.
Folgender Problemkatalog wurde zusammengestellt:
"-Was ist Sozialtherapie?
- Probleme bet Pfleg- und Vormundschaften.
- Schwierigkeiten bei der Gehörlosenbetreuung.
- Wie kann eine Arbeit mit Angehörigen von z.B. psychisch Kranken
aussehen?
- Krisenintervention an Wochenenden und nach Dienstschluß.
- Wohngruppen, insbesondere für Alkoholiker und Frauen.
- Arbettsvermittlung für Randgruppen.
- Fort- und Weiterbildung für die im psycho-soztalen Bereich Tätigen."
Die Arbeitsgemeinschaft einigte sich darauf, daß die Vorstellung
der einzelnen Einrichtungen im Vordergrund stehen solle und daß
anschließend entweder aktuelle oder bereits gesammelte Problemstel-
lungen diskutiert werden sollten.
Aufgrund der Tatsache, daß wesentliche Probleme nur angeschnitten
und nicht ausdiskutiert werden konnten, wurden Kleingruppen gebil-
det, die sich intensiver mit den einzelnen Problemen beschäftigen
sollten. Es entstanden Gruppen zu folgenden Themen:
- Therapeutische Wohngemeinschaften
- Erarbeitung von Weiterbildungswiinschen und deren Realisierung.
- Errichtung und Finanzierungsmöglichkeiten eines in Kassel notwen-
digen Frauenhauses.
- $ 218;
- Versorgung der Suizidenten in Kassel.
42
— Beratungstätigkeit.
= Rechtliche Voraussetzungen einer zwangsweisen Unterbringung von
psychisch Kranken.
Der Informationsfluß dieser Untergruppen zurück ins Plenum verlief
teilweise recht schlecht und die Arbeit in diesen Kleingruppen ver-
lor sich im Sande.
Hauptthema der Arbeitssitzungen im letzten Jahr war die von der Bun-
desregierung geplante Modellförderung für komplementäre ambulante
Einrichtungen im psycho-sozialen Bereich. Die Errichtung einer Tages-
klinik und der Aufbau einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kassel
standen im Vordergrund. In Kleingruppen wurden Konzeptionen und Fi-
nanzierungsmöglichkeiten entwickelt.
Zum dreijährigen Bestehen der PSAG in Kassel wurde im Juni 1980 eine
Öffentlichkeitsveranstaltung initiiert, auf der über den Stand der
Planung einer Tagesklinik, Aufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Ausbau der Geriatrie informiert und diskutiert wurde. Die PSAG
ist zur Bewältigung ihrer Aufgaben auf eine gute Beziehung zur Öf-
fentlichkeit angewiesen, sie muß ihre Ziele und ihre Funktion den
verschiedenen Zielgruppen, d.h. politischen Entscheidungsträgern,
Trägerverbänden und Bürgern klarlegen.
Es wurden Presseberichte, z.B. über die mangelhafte Versorgung der
Suizidenten, veröffentlicht. Des weiteren wurden Resolutionen zu be-
stimmten Themen verabschiedet und konkrete Forderungen an den Magi-
strat der Stadt Kassel gestellt.
Gedanken zur Psycho-sozialen Arbeitsgemeinschaft
In der PSAG dienten die freiwilligen Zusammenkünfte zunächst dazu,
sich gegenseitig näher kennenzulernen. Dadurch, daß die PSAG reihum
in unterschiedlichen Institutionen und Einrichtungen tagte, konn-
te man jeweils an Ort und Stelle genauer erfahren, wo und wie die
einzelnen arbeiten und welche Probleme sie haben. Durch dieses Kennen-
lernen untereinander war die Möglichkeit gegeben, ein wachsendes ge-
genseitiges Vertrauen entstehen zu lassen. Die naheliegende Hoffnung,
nicht allein und machtlos unveränderlichen Grenzen gegenüberzustehen,
läßt jeden positiver an seine Arbeit rangehen. Als positiv anzusehen
ist des weiteren, daß durch die Mitarbeit aller ein umfangreicher
Wegweiser der psycho-sozialen Angebote in Kassel erstellt werden
konnte.
Innerhalb der PSAG war mit der Zeit festzustellen, daß es nur einen
kleinen Kreis von Mitarbeitern/innen gab, die regelmäßig kamen und
verbindlich Aufgaben übernahmen. Die meisten Teilnehmer verhielten
sich eher passiv und kamen nur sporadisch. Ein Grund dafür könnte
sein, daß sicherlich gerade der Austausch über Probleme und Schwie-
rigkeiten der einzelnen Mitarbeiter starke Widerstände auslöste;
man hatte Angst, die anderen könnten Fehler und Schwächen entdecken
oder aber auch geheime Privilegien anprangern.
Durch diese große Fluktuation war eine kontinuierliche Arbeit und
ein gleicher Informationsstand nicht gewährleistet. Viele Aufgaben
wurden einem Teilnehmer der PSAG übertragen, womit sein Informations-
stand und seine Problemkenntnis anstiegen, während die Aktivitäten
und Kompetenzen anderer Teilnehmer infolge mangelnder Anforderungen
zu verkümmern begannen. Inhaltliche Äußerungen konnten nicht mehr von
allen Teilnehmern der PSAG gleichmäßig nachvollzogen werden, was
43
wiederum die Struktur der wenigen Aktiven und der vielen Passiven
verstärkte. Als ein weiterer Mangel ist ebenfalls die Tatsache an-
zusehen, daß bis auf einige wenige Ausnahmen ausschließlich Profes-
sionelle und keine Betroffenen und Laien in der PSAG vertreten waren.
Die nette, freundliche Atmosphäre in den Arbeitssitzungen der PSAG
überspielte Differenzen, und eine echte Austragung von Konflikten
war so kaum möglich. Es entstand eine Scheindynamik, was sich an
einer großen Quantität qualitativ niedriger Arbeitsergebnisse zeigte.
Es wurde so getan, als gäbe es nur punktuell Mängel und Defizite
in der psycho-sozialen Versorgung, ansonsten sei alles in Ordnung.
Gesundheitspolitische Themen wie z.B. Abschaffung der Großkranken-
häuser wurden vermieden.
Die Status- und Prestigedifferenzen der unterschiedlichen Berufs-
gruppen und die hierarchischen Strukturen der Institutionen stellten
ein großes Rivalitätspotential dar. Was ein gemeinsames Handeln ver-
hinderte.
Wichtig ist darauf zu achten, sich nicht persönlich für vorhandene
und z.T. unbefriedigende Strukturen und berufspolitische Regelungen
verantwortlich zu machen, sondern diese im gesamtgesellschaftlichen
Rahmen zu sehen.
Die PSAGs sind einerseits wichtig für die Offenlegung der unter-
schiedlichen Versorgungsangebote und andererseits auch für die Of-
fenlegung ihrer Unzulänglichkeiten. Die bisherige Arbeit war eng auf
den eigenen Arbeitsbereich ausgerichtet. Die PSAGs geben die Mög-
lichkeit, größere Zusammenhänge im Versorgungsangebot zu erblicken.
Es geht nicht darum, die Versorgung zu perfektionieren, sondern die
Chance unserer Arbeit liegt darin, uns tendenziell überflüssig zu
machen, d.h. das Selbsthilfepotential der Menschen sollte in dem
Maße aktiviert und begleitet werden, bis sie sich selbst mit ihrer
sozialen Umgebung auseinandersetzen können und ihre eigenen Interessen
wahrnehmen können. Das Gesundheitswesen, einschließlich der psycho-
sozialen Versorgung, wird insgesamt als eine Versorgung von Krankheit
angesehen. Die Versorgungsangebote bedeuten immer Wiederanpassung
an den jeweiligen individuellen oder gruppenspezifischen Rahmen des
bestehenden und gleichgebliebenen Systems, welches letztendlich mit
Ursache für die Krankheit ist. Krankheit muß also auch als Protest
gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen werden.
Die Gesundheit im Sinne der WHO-Definition, nämlich "körperliches,
geistiges und soziales Wohlbefinden", wird für uns zur Utopie, von
der wir weit entfernt sind. Das Einsetzen für die Gesundheit aller
ist nicht damit erreicht, daß wir eine optimale Versorgung von
Krankheit schaffen, sondern ist Voraussetzung für den Kampf um eine
Gesundheit ermöglichende Gesellschaft.
44
Dietmar Roeschke
IST EIN SUIZIDENT EIN DISSIDENT?
"Es ist an der Zeit, daß wir unser Bemühen verstärken, mit Hilfe
neuer sozialer Mikroskope, die wir selbst erfinden werden, unsere
konkrete Beziehung zu dem zu begreifen, das andernfalls schiere
Abstraktion bliebe: die Unterdrückung (oppression) der Arbeiter
und der nationalen Minderheiten, die Beseitigung (suppression) der
Information (durch subtile Zensur und Mystifikation in den Massen-
medien und im Erziehungsprozeß), die Repression der Frauen, der Kin-
der, der "sexuellen Minderheiten’, der arbeitslosen und proletari-
sierten Studenten sowie der Opfer der Psychiatrie und des Strafvoll-
zugs. Damit wir schließlich auch unsere eigene Drepression begrei-
fen, jene aus der Erfahrung geborene Verzweiflung darüber, daß un-
sere Kraft von Ohnmächtigen, welche die Macht innehaben, untergra-
ben wird. Aus dem klaren Bewußtsein unserer Depression heraus kön-
nen wir Haß, eine Analyse, Aktivitäten entwickeln, statt wie heute
üblich den Geist aufzugeben." (1)
Wer sich anschickt, über Suizidalität zu handeln, begibt sich auf
einen Weg, der - trotz einer ständig zunehmenden Zahl von Veröffent-
lichungen aus den verschiedensten wissenschaftlichen Fachgebieten -
noch immer stark tabuisiert ist.
Wer sich anschickt, über Dissidenz zu handeln, begibt sich eben-
falls - so er Dissidenz nicht nur in Osteuropa und besonders in
der UdSSR ansiedelt - auf einen tabuisierten Weg. Wer tabuisierte
Wege beschreitet, autonom sich sei nen Weg sucht, ist Dissi-
dent, ein Dissident, weil er sich der herrschenden Definition der
Normalität entgegenstellt.
Suizidalität wird hier begriffen als das Ergebnis andauernder, ex-
tremer Isolationserfahrung inmitten (scheinbar) kommunizierender
Umwelt. Die Erfahrung des "Anders-Seins" führt, verhinderte oder
gestörte Identitätsbildung vorausgesetzt, ins "Ab-gesondert-sein",
schließlich zu abweichendem Verhalten und u.U. zum Suizid/Suizid-
versuch.
Dissidenz meint: Anders Denken. Allgemein für "anders denken als `
die Staatskirche" gebraucht, wird der Begriff hier wörtlich, dissi-
dens = abgesondert, angewendet werden. Grob vereinfachend wäre Dis-
sidenz demnach von der Norm abweichendes Denken und Voraussetzung
für reflektiertes, von der Norm abweichendes Verhalten.
Voraussetzung dafür, daß aus abweichendem Denken - daraus folgend
abweichendes Verhalten - Dissidenz wird, ist ds gegen die
herrschenden Verhältnisse gerichtete Denken. So erfahren z.B. die
Mitglieder des Jet-set, denen man von der Norm abweichendes Denken
und Verhalten wohl durchaus bescheinigen kann, in den Medien eine
andere Beurteilung und Aufmerksamkeit als z.B. Hartmut Gründler,
der sich in Hamburg aus Protest gegen die Kernkraftpolitik der Bun-
desregierung verbrannte.
45
Um den Zusammenhang zwischen Suizidalität und Dissidenz mehr zu
verdeutlichen, bin ich versucht, einen Aufsatz von H.L. WEDLER
(Suicidprophylaxe.Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Selbst-
mordverhütung, 3. Jg- 1976, Nr. 3 $. 183) in ganzer Lange wiederzu-
geben, muß mich hier aber auf eınen Ausschnitt beschränken. Wedler
setzt sich in seinem Aufsatz mit der Frage auseinander, ob denn
Selbstmord eine Krankheit sei. Wedler stellt dabei fest, daß es von
den Bedürfnissen des Beobachters oder Beurteilers abhängt, ob suizi-
dales Verhalten als krankhaft oder nicht krankhaft beschrieben wird.
Er schreibt:
exemplarisch im Fall des DDR-Pfarrers
Kirche in Zeitz sich selbst verbrannte,
um auf die ihm unhaltbar erscheinende Situation der Religionsausübung
in der DDR aufmerksam zu machen (er vollzog seine Verbrennung öffent-
lich und hatte vorher Spruchbänder entrollt). Von offizieller Seite
der DDR wurde sogleich erklärt, es handele sich hier um die Tat eines
abnormen Menschen, eines Kranken und schon deshalb nicht voll Zurech-
nungsfähigen. In der Bundesrepublik - sonst nieht so kleinlich in
der Wertung nonkonformer Verhaltenswersen als abnorm und psychisch
krankhaft - ertönte gegen solches Abwiegeln des selbstmörderischen
Fanals gehöriger und hämischer Protest. Im ghetohen Maße, wie Ulri-
ke Meinhoff, die Selbstmord beging, etn eigentlich zutiefst kran-
ker Mensch' zu sein hatte (was die ihr Nahestehenden energisch be-
streiten), hat Pfarrer Brüsewitz, der Selbstmord beging, nicht
krank zu sein (was dessen Angehörige auch bestreiten). Er hat als
leuchtende Fackel Beweis für die Unmensehlichkeiten in der DDR zu
sein, wie Ulrike Meinhoffs Tod für manch andere als Beweis für ver-
mutete bösartige Haftbedingungen tn der BRD dienen sollte. 'Krank'
dürfen sie beide nicht sein, damit das von ihnen gesetzte Zeichen
Cem zum Symptom individual pathologischen Versagens degeneriert."
2)
"Solches geschah letzthin
Brüsewitz, der vor seiner
Aus diesen Ausführungen über die Manipulation mit dem Krankheitsbe-
griff hat sich zwischen H.L. Wedler und E. Ringel, auf letzteren
werden wir noch einige Male zurückkommen, ein Briefwechsel entwik-
kelt (3).
Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß es immer auch Ge-
sundheitsarbeiter (Pflegepersonal, Wissenschaftler der entsprechen-
den Fachgebiete, Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter) gab - heute in
zunehmender Zahl gibt - die mit den ihnen zur Verfügung stehenden
Mitteln und im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegen die Manipulation
mit dem Krankheitsbegriff, d.h. gegen die ihnen zugewiesene Funk-
tion, unterdrückerische und ausbeuterische gesellschaftliche Syste-
me zu stützen, angekämpft haben. Nicht zufällig gehören sie deswe-
gen nicht - wie z.B. E. RINGEL - zu den hervorragenden Vertretern
ihrer Disziplin. Warum dies so ist, braucht hier nicht ausgeführt
zu werden, die Protektion und Publikation gewünschter Forschungs-
ergebnisse sollte hinlänglich bekannt sein.
So wird denn auch die im Titel gestellte Frage, besonders seit der
zunehmenden Abgrenzung der Psychiatrie zu einer eigenständischen
Disziplin - beginnend im 18. Jahrhundert! -, von den hervorragen-
den Vertretern dieser Disziplin, mit einem eiligen und hartnäckigen
N ein beantwortet.
Aus der Geschichte der Suizidforschung - wie aus der Geschichte der
46
gesamten Psychiatrie - läßt sich nachweisen, daß die Forschungs-
richtung ihren Schwerpunkt in der Verhinderung des Suizids und weni-
ger in der Suche nach den primären Ursachen für die einer Suizidhand-
lung zugrundeliegenden Verzweiflung hatte.
"Im 18. Jahrhundert begann der Glaube an die Vernunft die Tradi-
tion und die religiöse Überzeugung in vielen Aspekten der Gesell-
schaft zu ersetzen. Die Psychiatrie hatte sich von der Vorstellung
gelöst, daß innere geistige Störungen durch äußere Dämonen verur-
sacht wurden und wandte sich unter dem Einfluß von Morgagni der
‚Hypothese zu, daß die Begründung für geistiges Übel in physiologi-
schen Störungen liegt." (4) (Hervorhebung von mir, D.R.)
Im gleichen Maß, in dem die Kirche ihre, durch die Mystifizierung
psychischen Leidens, die jeweilige herrschende Gesellschaft stützen-
de Funktion verloren hat und verliert, trat und tritt die Medizin -
besonders die Psychiatrie - an ihre Stelle.
Der Dissident Jesus von Nazareth hatte die "äußeren Dämonen" iden-
tifiziert, in dem er die Händler und Wechseler aus dem Tempel jagte.
Er hat seine Dissidenz letztlich mit dem Leben bezahlt durch die
Weigerung, sich der drohenden Hinrichtung durch die Flucht zu ent-
ziehen. Nach heutiger psychiatrischer Definition: pathologisches,
selbstzerstörerisches Verhalten.
Es ist in keiner Weise richtig, daß die Bibel den Suizid verboten
hat. Hätte sie dies getan, dann stünden die Kirchen heute ohne Mär-
tyrer da. So nahm die Christenverfolgung erst dann ein Ende, als die
Verfolger einerseits die Mengen der ins "Himmelreich" strebenden
Christen nicht mehr geordnet hinrichten konnten, und andererseits
die Bischöfe die Reduzierung ihrer Gemeinden nicht mehr hinnehmen
konnten. So hat erst Augustinus (353-430) den Suizid prinzipiell
verworfen. Diese Haltung ist von der Kirche aufrecht erhalten wor-
den, sie löst sich langsam seit der Aufklärung auf. Es läßt sich
nachweisen, daß in Zeiten großer Not (sprich: besonders harter Aus-
beutung des Volkes), die kirchlichen Sanktionen gegen Suizidanten
am rigorosesten waren.
Nach diesem kirchengeschichtlichen Ausflug zurück zu den neuen
Meistern der Mystifikation psychischen Leidens, zurück zu den Psy-
chiatern,
K. DÖRNER (5) nennt den schon in Zitat (4) erwähnten Morgagni den
"größten Anatom seiner Zeit", er weist aber auch darauf hin, daß
das Werk Morgagnis auch klar macht, "daß man sich bei Annahme über
die körperliche Fundierung der Krankheiten des Gehirns und der Ner-
ven kritisch zurückzuhalten habe". (Hervorhebung von mir D.R.)
Diese geforderte Zurückhaltung fand statt; allerdings wenig kri-
tisch und nur in der von den Herrschenden unerwünschten Forschungs-
richtung, nämlich bei der Identifizierung der "äußeren Dämonen".
Die neuen Meister der Mystifizierung psychischen Leidens, zudem -
ausgestattet mit der "traditionellen" Autorität der Mediziner, lies-
sen sich nur allzu bereitwillig, auf den Glauben an ihre Omnipotenz
gestützt, soziale Realität nicht wahrnehmend, als Normierer für
geistige und seelische Gesundheit von den Herrschenden einsetzen.
Es ist unbestritten, daß es Suizide und Suizidversuche schon immer
gegeben hat. Geschichte und Geschichten aus allen Epochen und Kul-
turen berichten davon. Es wird auch in Zukunft immer Menschen ge-
47
ben, die - im Wissen um die Endlichkeit allen Lebens - von dieser
menschlichen Fähigkeit Gebrauch machen werden. Daß es sich dabei
nicht in allen Fällen um Proteste gegen die herrschenden gesell-
schaftlichen Verhältnisse handelt, ist einsichtig. Es kann auch
keinesfalls darum gehen, jeden Suizid oder Suizidversuch - wobei
hier Unterscheidungen zutreffend wären - um jeden Preis zu verhin-
dern. Wer jedoch - und die hervorragenden Vertreter der Psychiatrie
tun es -, einer Suizidhandlung pauschal einen inneren Zwang unter-
stellt, der tritt einen Freiheitsbegriff, wie er z.B. in Sartre's
Humanismusbrief, mit allen Einschränkungen, dargestellt wird, mit
Füßen. Wer einen inneren Zwang lediglich behauptet ohne in allen
Richtungen nach der Genese dieses inneren Zwanges zu suchen, die Er-
gebnisse anderer wissenschaftlicher Forschung außer acht läßt, dem
darf mehr unterstellt werden als bloße Fahrlässigkeit. Wer so han-
delt, beteiligt sich zumindest an der Konservierung gesellschaftli-
cher Verhältnisse, denen das Erzeugen psychischen und physischen
Leidens immanent ist. K. WEIS (6) schreibt:
"Die Selbstmordrate ist wie die Kriminalitätsziffer eine Rate ge-
sellschaftlicher Pathologie. Auch wenn es sich dabei um das persön-
liche Verhalten zahlreicher Individuen handelt, so ist die Summe
dieser Verhaltensweisen doch gesellschaftlich bedingt, wie ihre
weitgehende Konstanz und ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen
Entwicklungen andeutet."
Im folgenden werde ich zwei (von vielen) Beispiele anführen dafür,
daß die im Titel gestellte Frage weiterhin - wunschgemäß für die
ohnmächtigen Machthaber - von prominenten Psychiatern, mit einem
hartnäckigen N e i n beantwortet wird und daß diese weiterhin an
ihrem Krankheitskonzept ("Яав die Begründung für geistiges Übel in
physiologischen Störungen liegt") festhalten.
Erstes Beispiel: Der Dichter und Arzt Gottfried BENN hatte sich im
Jahre 1940 in einem Gutachten zu der Frage zu äußern, ob ein An-
spruch auf Versorgung der Hinterbliebenen bestünde, wenn ein Soldat
durch Suizid die Wehrkraft vermindert habe. BENN bejahte diesen
Versorgungsanspruch für den Fall einer vorliegenden geistigen Er-
krankung, er konnte sich aber - ohne etwa dazu aufgefordert zu sein
- der folgenden allgemeinen Stellungnahme zur Suizidalität nicht
enthalten:
"... Es kann kein Zweifel sein, daß die meisten Selbstmörder zu den
gefährdeten und labilen Typen gehören, deren Fortpflanzung nicht
unbedingt wünschenswert nach dem Ideal der heutigen Staatsbiologie
ist. Die Selbstmörder werden nicht in allen, aber in den meisten
Fällen zu der Bilanz des Bionegativen gehören, also in der Richtung
der Entartung und der Substanzauflösung Liegen. Man könnte daher
im Selbstmord sehr wohl einen rassischen Eliminationsprozeß erblik-
ken, und insofern wird man den Selbstmord keineswegs von vornherein
als ummoralisch, weder im individuellen noch im volkhaften Sinne
bezeichnen können. ..." (7)
Eines Kommentars enthalte ich mich, will aber anmerken, daß ich
den Lyriker BENN bewundere.
Zweites Beispiel: Erwin RINGEL. Ringel steht hier stellvertretend
für viele seiner Berufskollegen deshalb, weil er die Suizidforschung
48
in den vergangenen 30 Jahren richtungweisend beeinflußt hat. Zwar
anerkennt er neuerdings, wenn auch zögernd und zurückhaltend, den
Einfluß der sozialen Lebensbedingungen bei der Entstehung eines
suizidalen Klimas, er wird sich dennoch den Vorwurf gefallen lassen
müssen, daß er sich in den Dienst herrschender Ideen gestellt hat.
Er veröffentlichte 1953 seine aus dem Jahre 1949 stammende Untersu-
chung von 745 Menschen, die einen Suizidversuch unternommen hatten.
Gründend auf dieser Untersuchung fühlte RINGEL sich berechtigt fest-
zustellen:
"... bei allen individuellen Unterschieden war also ein gemeinsa-
mer Nenner zu finden." (8)
RINGEL hatte eine vor der Suizidhandlung liegende "charakteristi-
sche seelische Verfassung" festgestellt und nannte sie daher, das
"präsuizidale Syndrom",
Es kann in diesem Rahmen freilich nicht ausführlich auf die einzel-
nen "Bausteine" (so nennt RINCEL selbst die verschiedenen Teile des
präsuizidalen Syndroms) eingegangen werden; es ist für unsere Frage-
stellung jedoch von Bedeutung, daß RINGEL die Schlußfolgerung seiner
Untersuchung (aus 1949) auch heute noch grundsätzlich verteidigt.
Suizidalität sei in jedem Falle ein psychopathologischer Tatbestand,
so meint RINGEL. Im Schlußwort seiner Monographie mit dem Titel:
Der Selbstmord - Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung,
schreibt er:
"... ein Wort an die Öffentlichkeit und alle diejenigen, die mithel-
fen, die öffentliche Meinung zu gestalten: Es ist von entscheidender
Bedeutung, daß der Selbstmord als das angesehen wird, was er wirk-
lich ist: als eine Krankheit und nicht als eine Lösung oder gar als
ein Ideal. Die Ansicht, man solle jedem Menschen seinen Willen las-
sen, man solle ihn also auch durch eigene Hand sterben lassen, wenn
es sein Wille sei, ist medizinisch und ethisch gleich irrig." (9)
Nicht erstaunlich ist (siehe oben über Forschungsförderung und Pu-
blikation "wünschenswerter" Ergebnisse), daß das Buch des Schülers
von Alfred Adler richtungsweisend für die Suizidforschung der auf
die Veröffentlichung folgenden zwei Jahrzehnte wurde. Eines zum
Thema Suizid treffenden Ausspruchs seines Lehrers erinnerte sich
RINGEL erst im Jahre 1978. Adler hatte gesagt:
"Der Selbstmord ist ein individuelles Problem, welches aber soziale
Ursachen und Folgen hat." (10)
Um die dem Krankheitskonzept immanente Absicht zu verstehen müssen
wir uns ein weiteres Zitat aus RINGELs zahlreichen Veröffentlichun-
gen ansehen:
"... Die Selbstmordforsehung hat zwei große Väter, der eine ist
Freud, der die individuelle Psychopathologie zu ergründen begonnen
hat, und der andere ist Durkheim, der die gesellschaftspolitische
Situation der Selbstmordgefährdeten ins nähere Blickfeld rückte."(11)
Hier muß angemerkt werden, daß RINGEL bei der Niederschrift und Ab-
fassung seiner Selbstmordmonographie weder DURKHEIM (12)
49
noch HALBWACHS (13), auf die wir später noch zu sprechen kommen
werden, erwähnt hat.
Anschließend an das vorher zitierte fährt RINGEL fort:
"Was wir tun müssen ist, eine Synthese zwischen diesen beiden
Richtungen zu finden: jede Einseitigkeit ist hier ganz besonders
falsch. Einige Beispiele: Ich habe 1961 die Internationale Vereini-
gung für Selbstmordverhütung (IASP) gegründet, die heute eine welt-
weite Organisation ist; wir haben am Anfang große Schwierigkeiten
mit den Ostblockstaaten gehabt, weil dort ein Selbstmörder als ein
Mensch galt, der gegen das bestehende soziale System protestiert.
Dementsprechend war jeder Selbstmord eine Schande für das System
und wurde nach Möglichkeit verheimlicht." (14)
Hier wird der Bezug zur Dissidenz deutlich. Zwar ist, wie schon er-
wähnt wurde, nicht jeder Suizid ein Protest gegen das "soziale Sy-
stem", dennoch ist er, wie auch WEIS (6) aufgezeigt hat, eine Rate
gesellschaftlicher Pathologie und von daher ist die Höhe der Zahl
suizidaler Handlungen durchaus eine Schande für das gesellschaftli-
che System.
RINGEL fährt fort:
"Hier führten die modernen Erkenntnisse eine entscheidende Wende
herbei: man konnte jetzt darauf hinweisen - und die Psychiater die-
ser Länder haben es getan -, daß der Selbstmord z.B. in einer Melan-
cholie, also einer endogenen Krankheit erfolgen kann, die mit der
Gesellschaftsstruktur in dem betreffenden Land nichts zu tun hat,
und daß es daneben viele andere Selbstmorde gibt, die individuelle,
psychopathologische Ursachen haben." (14)
RINGEL nennt dann ein weiteres Beispiel für die "entscheidende Wen-
de", die durch die "modernen Erkenntnisse" herbeigeführt worden ist,
indem er die zu Suizidenten geänderte Einstellung der Katholischen
Kirche anführt. Seinen gesellschaftspolitischen Standort macht er
deutlich, indem er schreibt:
"Ein zweites Beispiel, und man verzeihe mir, daß es gleich nach
dem Kommunismus kommt, betrifft die Katholische Kirche." (14)
Die in keiner Weise bewiesene Behauptung, es handele sich bei der
"Melancholie" um eine endogene Krankheit, deren Ursachen nichts mit
der Gesellschaftsstruktur, also z.B. auch nichts mit der jeweiligen
Sozialisation zu tun habe, unterstreicht nachdrücklich seinen ge-
sellschaftspolitischen Standort und das ihm eigene gesellschaftliche
Interesse.
Daß es sich dabei nicht nur um die übliche Ignoranz anderer wissen-
schaftlicher Fachgebiete handeln kann, soll verdeutlicht werden.
RINGEL weiß sehr gut, daß ein nicht-suizidaler Mensch eine Selbst-
mordhandlung nicht deswegen unternehmen wird, weil er von einer sol-
chen gehört oder gelesen hat; dennoch versucht er den Eindruck zu
erwecken - im Zusammenhang mit dem Buch von Jean AMERY (15) Hand-an-
stch-legen -, daß ein solches Buch ein suizidales Klima erzeugen kön-
ne. Wohlgemerkt, es sind nicht die Verhältnisse, sondern das Be-
wußtmachen der Verhältnisse erzeugt, nach RINGEL, ein suizidales
Klima!
50
Das erste, nun schon klassische Werk aus soziologischer Feder über
den Selbstmord erschien 1897 (12). DURKHEIMs statistisch-soziologi-
sche Arbeit stellt - obwohl nicht in allen Punkten unumstritten -
die Grundlage moderner Soziologie dar. Die Soziopathogenese der
Suizidalität wurde in diesem Werk bewiesen. Wie schon erwähnt, fehlt
dieses Buch genauso wie die Arbeit des Soziologen HALBWACHS (13),
der die Probleme erzwungener Anpassung 1930 vom Standort der Sozial-
psychologie betrachtet hat, in der großen Selbstmordmonographie von
RINGEL (9) aus dem Jahre 1953. Es mag ein Zufall sein, daß es sich
in beiden Fällen um französische Soziologen handelt und diese sich
mit der Veröffentlichung "unerwünschter" Forschungsergebnisse we-
niger schwer tun, als dies im deutschprachigen Raum, mit dem per-
manenten Blick auf das Wohlwollen der Herrschenden, üblich ist.
Bei der Durchsicht des bisher Geschriebenen wurde mir der Umfang,
das Ausmaß der Mystifizierung erst recht erkennbar. Wir werden dem
nur begegnen können, indem wir die wahren "äußeren Dämonen" entlarven.
An dieser Stelle wäre es notwendig, über Tabuisierung ausführlicher
zu handeln; in diesem Rahmen aber muß es ausreichen zu erinnern,
daß die Funktion eines Tabu ebenfalls der Entmystifizierung bedarf.
Die zu stellende Frage lautet in jedem Fall: Wem dient was?
Wir werden uns bei der permanent zu wiederholenden Frage nicht auf
die "Verantwortlichkeit der Intellektuellen" verlassen können, wie
CHOMSKY (16) gezeigt hat. Wir werden unsere Fähigkeit zur Dissidenz
wieder entwickeln, indem wir die Frage: "Wem dient was?" zum Zwecke
der notwendigen Entmystifizierung und Enttabuisierung bis zu ihrer
gültigen Beantwortung immer wieder stellen.
Wir werden uns allerdings nicht allein auf das Fragen beschränken
dürfen. Bei der Begegnung mit suizidalen Menschen, dies gilt nicht
nur für die Begegnung am Arbeitsplatz des Gesundheitsarbeiters, wer-
den wir unsere Dissidenz durch Mitmenschlichkeit beweisen müssen.
Die in aller Welt - nicht nur in den kapitalistischen Ländern - an-
steigende Zahl der Suizidhandlungen ist Beweis für die durch Mysti-
fizierung und Tabuisierung verhinderte Identifizierung der "äußeren
Dämonen". Es ist unsere Aufgabe, diese"äußeren Dämonen"sichtbar und
greifbar zu machen, so daß sich die Aggression gegen sie und nicht
gegen die eigene Person richten kann.
Es gilt Bewußtsein, Selbstbewußtsein zu entwickeln. Denn:
"... Aus dem klaren Bewußtsein unserer Depression heraus können wir
Haß, eine Analyse, Aktivitäten entwickeln, statt wie heute üblich
den Geist aufzugeben." (1)
Anmerkungen:
(1) Cooper, D., Wer ist Dissident, Berlin 1978: Rotbuch Verlag
(2) Wedler, H.L., Selbstmord in Zeitz, in: Suicidprophylaxe - The-
orie und Praxis, Mitteilungen in der Deutschen Gesellschaft
für Selbstmordverhütung, 3. Jg., 1976, Nr. 3
(3) Wedler, H.L. u. E. Ringel, Für und wider den Krankheitsbegriff
in der Selbstmordverhütung, in: Suicidprophylaxe - Theorie und
Praxis, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Selbstmord-
verhütung, 4. Jg., 1977, Nr. 2
51
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(9)
(10)
(11)
(12)
(13)
(14)
(15)
(16)
52
Kulessa, Ch. u. K. Böhme, Suizidprophylaxe in der Tradition
der Deutschen Psychiatrie, in: Suicidprophylaxe - Theorie und
Praxis, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Selbstmord-
verhiitung, 6. Jg., 1979, Nr. 19
Dörner, K., Bürger und Irre, Ffm. 1969
Weis, K., Der Eigennutz des Sisyphos: Zur Soziologie der
Selbstmordverhütung, in: Eser, A. (Hrsg.) Suizid und Euthana-
sie - als sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart. 1976
Zitiert in Pohlmeier, H., Selbstmord und Selbstmordverhütung,
München-Wien-Baltimore 1978
Ringel, E., Selbstmordverhütung: Eine allgemeine verpflichten-
de Aufgabe, in: Ringel u.a., Sucht und Suizid, Freiburg 1976
ders. Der Selbstmord: Abschluß einer krankhaften psychischen
Entwicklung, Wien/Düsseldorf 1953
Zitiert aus:ders. Das Leben wegwerfen? Reflexionen über Selbst-
mord, Wien 1978
ders. Selbstmordverhütung: Eine allgemeine Verpflichtung, in:
Ringel u.a., Sucht und Suizid, Freiburg 1976 4
Durkheim, E. Der Selbstmord, Neuwied/Berlin 1973
Halbwachs, M. Les causes du suicide, Paris 1930
Ringel, E., Selbstmordverhiitung: Eine allgemeine Verpflichtung,
in: Ringel u.a., Sucht und Suizid, Freiburg 1976
Amery, J., Hand an sich legen: Diskurs über den Freitod, Stutt-
gart 1976
Chomsky, N., Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, Frank-
furt a.M. 1969
Rolf Schwendter
35 THESEN
1. Wenn Foucaults Auffassung zutrifft, daß Wahnsinn die Ausgrenzung
alles nicht unter den bürgerlichen Begriff von Vernunft Subsumierba-
ren bedeutete, also auch jede nicht als anders abgetrennte und da-
durch legitimierte Emotion (z.B. Liebe oder Kunst), muß sich das
Konzept des Wahnsinns und seiner Bewältigung in dem Moment wiederum
wandeln, in dem der bürgerliche Begriff von Vernunft selbst infrage
gestellt wird, nachdem er Tendenzen gezeigt hat, sich in sein Gegen-
teil zu verkehren.
2. Die Formbestimmung der Ausgrenzung des Wahnsinns geht Hand in
Hand mit der Akkumulation des Kapitals vom frühen Kaufmannskapital
bis zum multinationalen Conglomerat. Stichworte wie Verinnerlichung
von Gewaltstrukturen (Foucault), zunehmende Affektkontrolle (Elias),
Verräumlichung des Körpers (zur Lippe), Geist des Calvinismus (Max
Weber) säumen diesen Weg. Die AG könnte feststellen, ob die Frage,
inwiefern die Entwicklung des Kapitalverwertungsprozesses diese
Erscheinungen in letzter Instanz verursacht oder erst durch diese
hervorgetrieben wird, nur von akademischem Interesse ist - oder
praktische Bedeutung aufweist.
3. Die zyklische Bewegung des akkumulierenden Kapitals und die von
dieser produzierten Entäußerungen (etwa in Form des monumentalen
Staatsapparats) haben die Vereinzelung des Individuums (das auch
schon nicht mehr als "Ungeteiltes" betrachtbar geworden ist) bis
auf seine vorletzte logisch denkbare Stufe vorangetrieben. (Die
letzte, noch ausstehende Stufe wäre die reelle Subsumtion der gesam-
ten Biomasse des Indiviuums unter das Kapital. Ein Aspekt, der in
der Kritik psychosozialer Versorgung noch eine Rolle spielen könnte.)
4. Die vorangetriebene Vereinzelung setzt sich in Form der Konkur-
renz aller gegeneinander durch ("Konkurrenznormen"/Ottomeyer):
die tendenzielle Verallgemeinerung des Lohnabhängigenstatus bedeutet
zugleich die Verallgemeinerung der Konkurrenz unter den Lohnabhängi-
gen. Sinnfällige Beispiele dafür sind die Vereinzelung in der indu-
striellen Produktion (z.B. Meßwarte, Automatenkontrolle; Tayloris-
mus/REFA/MIM), die Appartmentparzellierung im Wohnbau; der "Tod
der Familie" (Cooper) und ihr Aufbrechen in einzelne; der Privat-
verkehr; die peep-show.
5. Gleichzeitig erfordert die reelle Subsumtion unter das Kapital
die Zunahme teamförmiger Kooperation dieser einander zumeist äußer-
lich gegeneinander gesetzten Individuen ("Kooperationsnormen"/Otto-
meyer). (Stichworte: Teamarbeit; Großraumbüro; teilautonome Arbeits-
gruppen; Projektstudium; Wohngemeinschaft; Intimnetzwerk.)
53
6. Für die beiden genannten Grundstrukturen wie für alle noch zu
nennenden gilt, daß sie in einer Vielzahl von höchst disparaten,
lebensgeschichtlich nebeneinander einherlaufenden Erscheinungsformen
ungleichzeitig verlaufen, und das noch in einer zum Teil äußerst
rasanten Entwicklung. Für die Betroffenen psychosozialer Versorgung,
damit auch für letztere selbst, zeitigt dies unmittelbare Folgen:
Bald muß psychosoziale Versorgung Vereinzelungen mildern, indem sie
Vergesellschaftungsformen überhaupt erst schafft bzw. antizipiert
(Patientenclubs, therapeutische Wohngemeinschaften). Bald muß sie
in destruktiv verlaufende Vergesellschaftungsprozesse eingreifen,
um Vereinzelungen überhaupt erst herzustellen (Familientherapie).
Bald hält sie noch die Fiktion von Gleichzeitigkeit aufrecht, um
den gewünschten Vergesellschaftungsprozeß durch gemeinsame Rituale,
Einübungen zu gewährleisten (Großkrankenhäuser). Bald setzt sie je-
doch an der wirklich bestehenden Ungleichzeitigkeit an, ebenso dis-
parat, wie sie diese vorfindet: die therapeutische Kette ist das
implizite Eingeständnis dieser Ungleichzeitigkeit.
7. Folge dieser Vereinzelung auf der subjektiven Ebene ist die Ab-
wesenheit einer verbindlichen Vernunft, die mit einer verbindlichen
Struktur von Normen in eins fiele. Die Klinifizierung von Dissiden-
ten in Ost und West ist zwar eine Ausdrucksform des Wunsches, eine
solche Verbindlichkeit von Vernunft wiederherzustellen, doch kann
sie sich nicht mehr auf einen grundlegenden Konsens beziehen: der
Vernünftige des einen wird immer mehr zum Wahnsinnigen des anderen,
und umgekehrt.
8. So kann denn Michael Lukas Moeller (Kursbuch 55) die Gesamtgesell-
schaft in eine Milchstraße affirmativer wie abweichender Sekten auf-
lösen; die In-dividuum-Sekte, die Mutter-Kind-Sekte usw. Zum Aus-
druck kommt hierin die Vergeblichkeit der Wiederherstellung einer
einheitlichen bürgerlichen Vernunft, es sei denn, um den Preis um-
fassenden Wahnsinns (vgl. dazu Paul Feyerabend ebenso wie "Holo-
caust"-Diskussion; das Wiederanknüpfen von Foucault oder Deleuze-
Guattari - implizit auch von Schmidbauer - an Nietzsche ebenso wie
die gegenseitige diskursive - noch nicht reale! - Klinifizierung
von Atomgegnern und Atombetreibern).
9. Die Psychiatrie der letzten Jahrhunderte ist, von einigen wei-
teren (zu erarbeitenden) Momenten abgesehen, primär im Spannungsver-
hältnis zwischen medizinischen und moralischen Konzepten gestanden
(wovon diese ökonomisch, politisch, ideologisch in seinen jeweiligen
Ausprägungen abhängig war, wäre zu erarbeiten). Nachdem das medizi-
nische Konzept als Versuch, die Verbindlichkeit bürgerlicher Ver-
nunft durch eine ebenso enge wie immer differenziertere Anknüpfung
an die Natur wiederherzustellen, an die Grenzen der Barbarei gelangt
ist (nämlich als Vorwegnahme der reellen Subsumtion der gesamten
Biomasse des In-dividuums unter das Kapital: Lobotomie, Schockthe-
rapien, Psychopharmaka),beginnt das Pendel, wiederum zu den morali-
schen Konzepten auszuschwingen. Nicht umsonst hat Marcuse die Idee
von der Moral als Produktivkraft restituiert, nicht umsonst sind
fast alle an der Diskussion neuerdings Beteiligten (Foucault, Illich,
Szasz, Laing, Goffman) große Moralisten.
10. In zwei Momenten unterscheidet sich allerdings die zeitgenö.si-
54
sche moralische Konzeption von allen ihren Vorgängern: sie analy-
siert (je nach den subkulturellen Normen, welchen die einzelnen
Moralisten nahestehen) die Moral selbst; und sie setzt die Auflösung
der nicht wiederbringlich mit der Verbindlichkeit bürgerlicher Ver-
nunft verknüpften Moral in einzelne Normensysteme voraus.
11. Dementsprechend gilt es für Gesamtgesellschaft wie für Subkul-
turen nicht mehr, den Wahnsinn zu bekämpfen, zu heilen etc., sondern
nur noch, je gesamtgesellschaftlich oder subkulturell legitimierte
Ausdrucksformen für ihn zu schaffen. Dies scheint mir der gemeinsame
Nenner aller gemeindenahen Psychiatrien, von Laing bis zur Ambulanz
in Mönchengladbach, vom SPK bis zum psychiatrischen Kontaktbereichs-
beamten bei allen sonstigen gewaltigen Unterschieden, zu sein.
12. Für eine AG, die ihren Gegenstand in der Kritik psychosozialer
Versorgung hat oder, wenn sie es nicht schafft, für ihre Nachfolge-
gruppe in zwei Jahren, wäre es lohnend, die erfolgte Synthese von
Wahnsinn und Vernunft als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Re-
formkräfte im einzelnen strukturell und geschichtlich nachzuvollzie-
hen.
Im einzelnen könnte das heißen:
- Die Entwicklung des Konzepts bürgerlicher Vernunft im Laufe der
letzten beiden Jahrhunderte. Stichworte: Kant und sein inneres
Sittengesetz; Fichte: Der erste Narzißmus-Theoretiker?; Hegels
Vernunft der Wirklichkeit und Wirklichkeit der Vernunft; Vernunft
und Emotion bei Marx; Nietzsche: Vereinzelung und Lob des Wahn-
sinns; Freud: Wo Wahnsinn ist, soll Vernunft werden; von Wittgen-
stein bis Popper: Die Parzellierung der Vernunft; Lukäcs: Feier
und Zerstörung der bürgerlichen Vernunft (zu Gabel, zu Seve, zu
Rexilius: die Zerstörung der bürgerlichen Vernunft aus dem Geiste
entfremdeter Arbeit); Reich: Die Homöopathie des Wahnsinns zur
Rettung der Vernunft; Perls: Wo Vernunft ist, soll Wahnsinn wer-
den; Feyerabend: Von der Parzellierung zur Selbstaufhebung der
Vernunft; Lacan: Der Wahnsinn ist die Vernunft/ der Wahnsinn des
anderen. f
- Dazu analog: welche ökonomischen, politischen etc. Bedingungen
treiben obige Entwicklungen hervor? Folgen daraus? І
- Dazu analog: der Krankheitsbegriff als Suche nach dem Mischungs~ ` R
verhältnis von Wahnsinn und Vernunft (wann, wie, wo wird "Krankheit
zum "Begriff"?). Vergesellschaftung von Neurose und Neurotisierung
von Gesellschaft. Die "gesunden und kranken Anteile". Der "double-
bind", der Verfremdungseffekt als Abtrennung und Verbindung von
Wahnsinn und Vernunft. РУ.
- Die (Lohn-)arbeit am Wahnsinn als gesellschaftlich legitimierte
Bewältigungsform von Wahnsinn (Schmidbauer. Dörner/Plog: Repres-
sionen gegen Ausgegrenzte ist legitim, "weil wir mit ihnen (es)
nicht besser aushalten, zurechtkommen" etc. Wer aber Pharmaka,
"Elektro-Krampf-Therapie" bekommt, bleibt klar!).
- Historische Erfahrungen, durch die das Wahnsinnigwerden der Ver-
nunft anschaulich werden konnte: Destruktion der Gebrauchswerte;
Produktivkräfte als Destruktivkräfte; Weltkriege; Ostermarsch;
Ökologiebewegung; Völkermord. К
- Die Rehabilitation des Wahnsinns als Ausdruck einer geschichtlich
authentischen Dezentrierungstendenz (Stichworte zu Parallelen:
"small is beautiful". Frauenbewegung - "Der ver-rückte Diskurs der
Frauen"/Irigaray; Hexen! - ....). =
- Systemgrenzen der Rehabilitation des Wahnsinns ("Chaoten").
13. Soweit die Abstraktion. Im einzelnen sind die folgenden Folgen
für die psychosoziale Versorgung und ihre Kritik zumindest anzudeu-
ten:
14. Vereinzelung/zunehmende reelle Subsumtion unter das Kapital ent-
eignen das In-dividuum Zug um Zug seiner "forces propres" ("eigenen
Kräfte"). Die psychosoziale Versorgung bestimmt sich durch den Dop-
pelcharakter, zum einen die "forces propres" zumindest soweit wie-
derherstellen zu müssen, daß der gesamtgesellschaftliche Reproduk-
tionsprozeß nicht darunter leidet (Beschäftigungs-/Arbeitstherapie
- siehe dazu unten -, daily living learning, Alltagstraining etc.),
zum anderen hilft sie durch eine weitere Entmündigung ("Ver-sorg-
ung") bei der Enteignung der "forces propres" mit (Illichs Zentral-
thema).
15. Vereinzelung/zunehmende reelle Subsumtion unter das Kapital tren-
nen im Verlaufe der Geschichte einen eigenen Sektor der '"Beziehungs-
arbeit" von der materiellen Produktion (human relations) wie von
den übrigen Sektoren der Kopfarbeit (Sozialarbeiter, Gesundheitsbe-
rufe) ab. Die "Interaktion" (deren Begriff im Verlaufe dieses Pro-
zesses erst entsteht) wird zur abgetrennten Arbeit. Sie wird hier-
durch quantifizierbar (Gruppendynamik, Verhaltenstherapie, aber auch
methods-time-measurement), sie wird hierdurch zur Mehrwertproduktion
geeignet. Sämtliche aus der materiellen Produktion bereits bekannten
Begleiterscheinungen (Konkurrenz zwischen Therapieformen, Lohnab-
hängigengleichgültigkeit etc.) setzen sich unmittelbar (Altenheime,
Therapieschulen) oder mittelbar (Konkurrenz um knappe Revenuen)
im Bereich der psychosozialen Versorgung durch.
16. Stand dieses Prozesses und sozioökonomische Interessen bestim-
men denn auch die aus der Vergleichzeitigkeit des Prozesses entste-
henden Widersprüche. Profitable Vereinzelung (niedergelassene Nerven-
ärzte) steht gegen die ersten Erscheinungsformen reeller Subsumtion
(Gruppenpraxen, multiprofessionelle Teams). Die akutellen Diskussio-
nen um enquéte und Therapeutengesetz markieren den jeweils aktuel-
len Stand der Kräfteverhältnisse.
17. Die dargestellte Normenvielfalt (gelegentlich, wie von Ernst
von Weizsäcker, wohl stilisiert) konstituiert also im Verbund mit
sozioökonomischer Ungleichzeitigkeit gemeindenahe Psychiatrie. Da,
wie dargelegt, der Vernünftige des einen zum Wahnsinnigen des ande-
ren wird, kommt es nun zuvörderst darauf an, daß jede(r) jene ihm
gemäße Teilkultur oder Subkultur findet, in dem sein (ihr) spezielles
Mischungsverhältnis von Vernunft und Wahnsinn am sanktionsfreiesten
legitimiert werden kann. "Sanktionsfrei' deshalb, weil die Klinifi-
zierung aller Abweichungen (siehe die Sozialtherapie-Debatte im
Strafvollzug, den Aufschwung der Gerontologie, den Versuch, Frauen-
häuser unter das besondere Anstaltsrecht zu fassen etc.) im Fort-
schritt begriffen ist.
18. So erweist sich die psychosoziale Arbeitsgemeinschaft als nichts
anderes als der Versuch, die entstandenen Einrichtungen der dispa-
ratesten Teil- und Subkulturen äußerlich zusammenzufügen.
56
19. So zeigt sich das Dilemma der Selbsthilfegruppen darin, daß mit
Notwendigkeit von ihnen eine Gemeinsamkeit abweichender Normen er-
heischt ist, die in der Realität selten vorliegt. (Daß Selbsthilfe-
gruppen mit Notwendigkeit Sekten sind, hat Michael Lukas Moeller
brillant nachgewiesen, vielleicht ohne dies zu wollen.)
20. So bestimmen sich eine Reihe von Gliedern der therapeutischen
Kette als schon wieder verschieden ritualisierte Ausdrucksformen
von Ungleichzeitigkeit (auffällig bei Tagesklinik und Nachtklinik,
die sich denn auch wie Tag und Nacht zueinander verhalten: die reell
unter das Kapital subsumierten, die ihre Vereinzelung im Reproduk-
tionsbereich nicht ertragen - Nachtklinik -, werden jenen entgegen-
gesetzt, die hinsichtlich ihrer Wohnformen, auf welche Weise immer
(und hier gibt es subkulturellen Spielraum, vergesellschaftet sind,
aber hinsichtlich des Arbeitsbereichs vereinzelt).
21. So schafft die medizinische Therapie gleich zwei Doppelcharak-
tere ins Haus: so lebenswert die Kapitalseite die für sie ebenso
rentable wie staatserhaltende Vorwegnahme der bereits erwähnten
reellen Subsumtion der gesamten Biomasse des In-dividuums unter das
Kapital findet, (wobei Einigkeit darüber herrscht, daß Pharmaka,
LObotomie und Schocks leider äußerst grob sind und sich Zukunfts-
forscher in Visionen darüber ergehen, wie solche Methoden im 21.
Jahrhundert verfeinert werden könnten), so sehr schreckt sie die
Aussicht auf die völlige Destruktion des Gebrauchswerts, der an die-
sem In-dividuum hängenden Arbeitskraft. So lobenswert die Seite der
Gesundheitsarbeit die Unterstützung ihrer Lohnabhängigengleichgültig-
keit durch die medizinische Therapie findet, so sehr bedauert sie
letztere als Hindernis zur Wiederherstellung von "forces propres".
Dieser Doppelcharakter erscheint in der Praxis als Rede von den
"Nebenwirkungen". Er erklärt den Eiertanz, den alle "Techniker",
von Basaglia bis Dörner/Plog um die Psychopharmaka aufführen.
22. Allerdings tritt der "Nebenwirkungs"-Widerspruch auch bei sub-
kulturellen Konzepten gemeindenaher Psychiatrie auf. Zu untersuchen
z.B. die "Nebenwirkung" der "Produktivkraft Krankheit" beim SPK.
23. Es liegt auf der Hand, dap die Arbeit eine ebenso große Rolle
bei der Entstehung der Emotionen in ihrer Erscheinungsform als Wahn-
sinn spielt, wie bei dem Versuch, mit letzterer zurechtzukommen. Da
die Arbeit nicht nur als "force propre" bereits weitgehend enteig-
net ist (auf die entgegenwirkenden Tendenzen kann ich hier nicht
eingehen), sondern noch vielfältig modifiziert wird, so u.a. durch
Technisierung und ihre Widersprüche, immer neue Arbeitsteilungen und
-zusammenfassungen, Rationalisierungen bzw. öffentliche Mittelknapp-
heiten und daraus folgende Arbeitslosigkeit, den Doppelcharakter der
Hausfrau als Reproduktionssicherung und Reservearmee, durch den Kreis-
lauf jeweils marginaler kleinbürgerlicher und lohnabhängiger Tätig-
keiten, wird die Verwirrung dabei ziemlich groß. Zumal der Anteil
der elterlichen Arbeit an der Menschwerdung des jeweiligen Kindes
noch mitreflektiert zu werden hätte.
24. Hierbei tauchen gleich mehrere Bruchstellen auf einmal auf. Ab-
gesehen von den bereits erwähnten Fragen von Normen (ob es nun eine
Einrichtung ist, deren Mitarbeiter von der "Abschaffung der Arbeit"
57
träumen, oder eine, die den Calvinismus mit der Muttermilch einge-
sogen hat) und von Ungleichzeitigkeiten, treten nun hinzu:
- der Versuch, an einen Arbeitsmarkt anzupassen, den es, nach er-
folgter Anpassung, so nicht mehr gibt;
- (im günstigsten Fall) die Umschulung auf Tätigkeiten, die nach
erfolgter Umschulung zumeist ebenfalls nicht mehr gefragt sind;
- (im zweitgünstigsten Fall) die Erkenntnis der "kranken Anteile"
der Arbeit am Wahnsinn, die nach Entlassung zumeist wenig nützt;
- (im ungünstigsten Fall) die Anpassung an die dequalifiziertesten,
krankmachendsten Arbeiten, die gerade am Arbeitsmarkt zu haben
sind, zumeist verbunden mit einem eigenen ökonomischen Interesse
der arbeitsanleitenden Institution einschließlich der je dahinter-
stehenden Konzerne.
25. Dies wäre im Detail zu untersuchen, einschließlich symbiosen
wie Bethel-Oetker, beschützende Werkstätten (die fast immer den
"ungünstigsten Fall" repräsentieren) und der pikanten Frage des no-
torischen Desinteresses des DGB an Tariflöhnen in diesem Bereich.
26. Ausgehend von jener unmittelbar oder vermittelt Wahnsinn mit-
produzierenden höchstentfremdeten form von Arbeit, an die gleich-
wohl zwecks Bewältigung des Wahnsinns angepaßt wird, wird auch die
spezifische Vertauschung sinnfällig, die fast alle psychosozialen
Einrichtungen kennzeichnet:
Jene Therapie, die dazu geeignet sein soll, durch gebrauchswertorien-
tierte Arbeit (Hannah Arendt würde sie als "Herstellung" bezeichnen)
die "forces propres" des Patienten sich wieder anzueignen, gilt
als "Beschäftigungstherapie'" (dementsprechend unbezahlt). Jene De-
qualifikation, die die "forces propres" noch weiter dezimiert und
oben dargestellt ist, gilt als "Arbeitstherapie' (und wird "bezahlt",
wenn dies so genannt werden darf).
27. Der sanktionsfreien Legitimation des Mischungsverhältnisses von
Vernunft und Wahnsinn verdankt die italienische demokratische Psy-
chiatrie ihre vergleichsweise Beliebtheit. Sie zeigt gleichzeitig,
wie berechtigt der erwähnte Satz ist, der von der Notwendigkeit der
Existenz entsprechender Teil- und/oder Subkulturen redet.
Somit erschlösse sich uns auch die Bedeutung der Abschaffung der
Großkrankenhäuser und von "Freiheit heilt" (Sil Schmid). Sie besteht
darin, daß die Wahnsinnigen/Vernünftigen nicht länger daran gehin-
dert werden sollen, sich den entsprechenden Teil- oder Subkulturen
anzuordnen, in welchen sie sanktionsfrei leben können. Bis dann die
"Krise" kommt.
28. Die "Krise" (sodann als Grundlage der'Krisenintervention") be-
zeichnet in diesem Kontext jenen Moment, in dem sich gemäß den Nor-
men der jeweiligen Teil- bzw. Subkultur Vernunft und Wahnsinn je
entsprechend entmischen. Dies impliziert ein jeweils zumindest vier-
faches Verständnis von "Krise":
- des(der)jenigen, der (die) selbst in der "Krise" ist;
- derjenigen Teil- bzw. Subkultur, in der sich der (die) Betroffene
befindet;
- derjenigen Teil- bzw. Subkultur, in der sich der(die)selbe nicht
befindet;
- derjenigen, die in der Krise intervenieren.
58
Der Rest ist eine Frage des "Kräfteparallelogramms" (Engels), das
auch im berühmten "Rollenspiel" eingeübt werden kann. Ersteres ent-
scheidet wohl auch darüber, welche Ungleichzeitigkeiten konstituiert
werden, folglich, wo in der therapeutischen Kette der (die) Betroffe-
ne landet, folglich, wie (und wie lange) mit seiner (ihrer) Krise
dort umgegangen wird.
29. Die Rolle der Normen in den verschiedenen Teil- und Subkultu-
ren, hier bereits abstrahiert von ihrem Produktionszusammenhang im
gesamtgesellschaftlichen/subkulturellen Alltag, verweist uns auf
die, siehe oben, konkurrierenden therapeutischen Schulen.
Ausdruck der jeweils herrschenden Norm ist die Etikettierung. Daß
sich, wie Dörner/Plog stolz verweisen, in (und dann mittels) der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Reihe von Etiketten durchge-
setzt hat, sagt nichts über deren Wissenschaftlichkeit aus, sondern
etwas darüber, wer derzeit in diesem Bereich die herrschenden Normen
zusammenfaßt und setzt. (Wie die WHO mit diesem ihrem Widerspruch
zurechtkommt, gleichzeitig normbestimmende Etiketten zu setzen, und
einen Begriff von Gesundheit zu bestimmen, der alle vorherigen Krank-
heitsbegriffe zu destruieren geeignet ist, wäre auch eine interessante
Untersuchung.)
30. Dörner/Plog relativieren die Etiketten immerhin bereits so weit,
daß sie sich bemühen, vom "traurigen", vom "gespaltenen" etc. Men-
schen zu sprechen, der ein(e) jede(r) sein kann (woran, siehe oben,
etwas Wahres ist). Noch weiter werden die Etiketten relativiert,
wenn die einzelnen Schulen zu betrachten wären, die miteinander
um die Wette neue Etiketten produzieren.
31. Die oben erwähnten Ег scheinungsformen der Vereinzelung und der
reellen Subsumtion bilden die gemeinsame Grundlage der Schulen;
die Konkurrenz zwischen Gesundheitskleinunternehmern bzw. zwischen
Gesundheit sarbeitern die gemeinsame Grundlage der Aufrechterhaltung
ihrer Trennung (siehe die Papiere des Therapeutischen Clubs und die
Arbeit von Reinald Weiss zur Skizzierung dieses Themas).
32. Die Vereinzelung führt zum einen über die "Ideologie der Anonymi-
tät" (Hans С. Helms) zu narzißtischen Erscheinungsformen (Entgren-
zungen, Omnipotenzphantasien etc.), zum anderen hat sie Etikettie-
rungen wie "Ich-Schwäche" (Psychoanalyse), "Kommunikationsunfähig-
keit" (Kommunikationstheorie) ebenso zur Folge wie "Selbstverstär-
kungstraining" (Verhaltenstherapie). Heimliches Curriculum aller
mir bekannten Schulen ist, über die Wiederherstellung abgetrennter
gleichsam portionierter "forces propre s" die Konkurrenzfähigkeit der
In-dividuen zu verbessern.
In Verbindung mit dem oben angefiihrten Skonomischen Dilemma (Thesen
23.-26.) kommt es zu dem folgenden Teufelskreis: з
Soziodkonomi sch ausgelést entmischen sich Wahnsinn und Vernunft in
einem In-dividuum. Dieses wird einer Therapie unterzogen, in welchem
es sich fragmentierte "forces propres" wiederaneignet. Es verbessert
seine Konkurrenzfähigkeit bis hin zum vorläufigen Sieg über andere
in der Konkurrenzsituation. Woraufhin sich bei anderen In-dividuen
Wahnsinn und Vernunft entmischen, diese einer Therapie unterzogen
werden etc., bis hin zur tendenziellen Durchtherapierung der gesam-
ten Gesellschaft.
59
33. Da jedoch die oben (Thesen 5. und 6.) angefiihrten Notwendigkeiten
zunehmen, da Kooperation und ungleichzeitige Vergesellschaftung
gleichzeitig auftreten, haben sich die Schulen auch daran zunehmend
zu orientieren. Erkennbar wird dies an den offenkundigen Schwierig-
keiten, die eine Reihe von Schulen (z.B. die Psychoanalyse und die
Gestalttherapie) hatten bzw. haben, eine fiir den Gebrauch des In-
dividuums konzipierte Therapieform zum Gebrauch von Gruppen umzude-
finieren. Ebenfalls ist auffällig, daß, in einer Milchstraße von
Formbestimmungen, die Durchsetzung der Gruppenkooperation durch
Konkurrenz zum Dauergegenstand der Gruppenarbeit zu werden neigt.
34. Da die verschiedenen Schulen in sich, vermittelt durch ihr Per-
sonal, ebenfalls das erwähnte Mischungsverhältnis von Wahnsinn und
Vernunft beinhalten, setzt sich dieses in Arbeitsform und Konkur-
renzform der Schulen auch durch. Auffällig bei Dörner/Plog ist etwa,
daß diese vom Standpunkt ihrer Vernunft her den Momenten des Wahn-
sinns in der Gestalttherapie eine überaus vernichtende Abfuhr ertei-
len (eine saftige Replik der Gestalttherapeuten in der DGSP wäre
ihnen zu gönnen), jedoch die Momente des Wahnsinns, z.B. der Ver-
haltenstherapie, nahezu freundschaftlich kommentieren, wo nicht aus-
blenden.
35. Daß die genannte Vereinzelung (bei den selbständigen Schulthera-
peuten) als narzißtische Omnipotenzphantasie erscheint, welcher der
Patient und auch der therapeutische Ausbildungskandidat unterworfen
werden, hat H.E. Richter in einer nahezu aufsehenerregenden Rede
in Kassel deutlich dokumentiert. Entsprechend zeigt sie sich beim
therapeutischen Lohnabhängigen in einem eigentümlichen Schwanken
zwischen Omnipotenzphantasie und Lohnabhängigengleichgültigkeit.
Nachdruck aus: AG SPAK-Forum, Nr. 5
Monika Aly
VERDRÄNGUNG, NORMALITÄT & THERAPIEGLAUBE
Überlegungen zur krankengymnastischen Behandlung cerebralgeschädigter Kinder
in Berlin und Florenz
Für DM 4,-- zu bestellen bei: Monika Aly, Stubenrauchstr. 11, 1000 Berlin 45
60
BESCHWERDE-ZENTREN
Es ist wichtig, daß immer mehr Menschen gegen den Aussonderungsappa-
rat kämpfen und dadurch mithelfen, dieses menschenverachtende Sy-
stem zu beseitigen.
Nach 30 Jahren Grundgesetz werden immer noch Menschenrechte mit Fü-
ßen getreten. Immer noch können Menschen wie Vieh gehalten werden,
mit Dämpfungsmitteln vollgestopft, ihrer Freiheit und Würde beraubt
werden, ohne daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wer-
den. Unter dem Deckmantel von medizinischer Wissenschaft geschehen
Dinge, die an die Greueltaten des Faschismus erinnern. Diese Zeit
ist nie wirklich aufgearbeitet worden; einen wirklichen Neuanfang
hat es nicht gegeben. So hat sich mancher Psychiater und manche
schlimme Tradition durch die Zeiten gerettet. Die Psychiatrie er-
füllt weiterhin ihre alte Funktion: Die Aussonderung der Entarteten,
Unproduktiven, Schwierigen und Listigen.
Seit 3 Jahren versuchen die Beschwerdezentren sowohl einzelnen In-
sassen zu ihrem Recht zu verhelfen, als auch die für das Elend Ver-
antwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Vielen konnte geholfen werden und einiges wurde erreicht:
Skandalöse Zustände in Brauweiler, Düren, Bonn wurden von uns auf-
gedeckt. Brauweiler mußte geschlossen werden, schuldige Ärzte und
Pfleger kamen vor Gericht. Im Rheinland kann sich die Psychiatrie
kaum noch der öffentlichen Diskussion entziehen.
Deshalb rufen wir alle auf, unsere Arbeit zu unterstützen, in den
Beschwerdezentren mitzuarbeiten oder neue zu gründen!
Jeder, ob Patient oder Angestellter des LVR sowie alle anderen kön-
nen bei uns mitarbeiten, oder sich mit Beschwerden und Informatio-
nen an uns wenden. Eine weitere Hilfe sind Geldspenden bzw. Abonne-
ments dieser Zeitung (pro Jahr ab 10 Mark bis ...) Zahlungen auf
das Konto:
Kristin Bauer - Postscheck Köln Nr. 28 88 76 - 507 - Stichwort:
Unbequeme Nachrichten.
@ Beschwerdezentrum des SSK e.V. (Sozialistische Selbsthilfe Köln)
5 Köln 30, Liebigstr. 25 Tel. 0221 55 61 89
@ Beschwerdezentrum Psychiatrie Bonn, Bornheimerstr. 92
53 Bonn Tel. 0228 65 54 09
@ Beschwerdezentrum der SHD e.V. (Selbsthilfe Düsseldorf)
4 Düsseldorf, Kopernikusstr. 53 Tel. 0211 34 37 27
© Beschwerdezentrum Bielefeld Tel. 0521 17 71 37
@ Beschwerdezentrum Münster Tel. 0251 27 78 30
© Beschwerdezentrum Dortmund Tel. 0231 17 30 45
61
Neu im Verlag 2000
links pocket — das taschenbuch im Verlag 2000
Seit über einem Jahrzehnt erscheinen im Verlag 2000 des Sozialistischen Büros
Broschüren, insbesondere für die verschiedenen Arbeitsfelder. Dieses Programm
wird jetzt durch eine breit konzipierte Taschenbuchreihe im Format 12 x 19 cm
ergänzt. Zur Buchmesse "BI erscheinen die ersten Titel:
( Band |
Zur konkreten Utopie
| d geselischaftlicher Arbeit
Beiträge zur Arbeitstagung im An
schluß an die ersten Ernst-Bloch-Ta
ge ın Tübingen 1979
konkrete
und das heißt auch
Arbeit entwickeln?
Läßt sich eine Utopie der
~ gesellschaftlichen
der industriellen
Kann dieser Versuch die vielfältigen
Ansätze in der Ökologie- und Alter-
nativbewegung mit der Arbeiterbe-
wegung vermitteln?
Derartige Fragen standen im Mittel-
punkt der Tübinger Tagung 79 des
Sozialistischen Buros zum Thema “Zur
konkreten Utopie der gesellschaftli
Arbeit”. Mit Thematik
wurde an die Bloch-Tage 779 zum The-
ma "Marxismus und Naturherrschung”
e "e
Lo konkreten Utopie
‘der gesellschafflichen
eg ` ll | куш deren е enen
= — und inzwischen їп der
160 Seiten, DM 10, Preis von DM 10.
chen dieser
deren Ergebnisse eben
Auflage zum
vorliegen
Band 2
Erfahrungen
Sozialisten bearbeiten ihre politische Sozialisation
Herausgegeben von Gerd Koch und Volkhard Brandes
Mit Beiträgen von Н. Stubenrauch, H. Obenland, F. Manke, 5.
eisen u.v.a
216 Seiten, DM 12
Das Wort von der Krise der Linken macht die Runde
Tesch, H. Mühl
Zen also, cine Bestands-
aufnahme zu versuchen und sich mit den eigenen Erfahrungen und bisherigen Vor
stellungen kritisch auseinanderzusetzen. Nicht um narzißtischer Selbstbespiege
lung willen = sondern als ein Schritt, um eine veränderte politische Praxis zu ent-
wickeln und bisherige Theorien = wo immer nötig — neu zu formulieren
Dieser Band enthalt autobiographische Versuche, Reflexionen und Analysen
Außerdem kontroverse Materialien über eine Tagung des SB zur Politischen So-
zualisation. Mit zahlreichen Bildern und einem Arbeitsbogen
Soma ro hbe
ANDERS ARBEITEN - ANDERS LEBEN
Erfahrungen # Eimdrucke # Ergebnisse
40 Senen, Format DIN A 3 DM \ 50
72 S., DIN A 4, DM 8,-
Sommerschul-Broschüren '79 und
"Во zusammen nur DM 10,
ANDERS ARBEITEN - ANDERS LEBEN
Lrtnderungen + абаа + зеен
Wer sich für sämtliche zur Zeit erhält-
liche Broschüren aus dem Schriften-
programm des Verlag 2000 GmbH —
Sozialistisches Büro interessiert, findet
diese in der aktuellen Broschürenli-
ste Winter 1980/81. Alle Broschüren
sind im linken Buchhandel erhältlich,
können jedoch auch gegen Voraus-
zahlung direkt beim Verlag bezogen
werden: Verlag 2000 GmbH, Post-
fach 591, 6050 Offenbach 4
Band 4
Teufel, Teufel!
Trau keiner Stunde über 35!
Ein Stück der Mobilen Rhein-Main
Theater GmbH zum Kampf um die
35-Stunden-Woche. Theater, Lieder
Film und Video im Arbeitskampf
152 Seiten, DM 9,
Der Engel Lucifer (bekannt als Teu
fel) ruht sich їп der behaglichen Wär
me seines Hochofens aus, nachdem er
ein paar Jahrtausende versucht hat,
Aufklärungsarbeit für die Forderung
nach Mitbestimmung und kürzerer Ar
beitszeit im Paradies zu leisten. Plötz
lich = Ende 1978 ~ wird es kälter in
seiner Behausung. "Was ist? Stille
gung. Pleite, oder wird gestreikt?"
Vorsichtig verläßt der Teufel seine
Hochofenhölle, um zu schen, was vor
geht. Dabei begegnet er Beteiligten
(Arbeiter, Unternehmer, Reporter,
Pfarrer und Nonne) an der Auseinan
dersetzung um die 35-Stunden-Wo-
che. Für den Teufel als Unwissenden
gibt es zunächst viele Verwechselun-
gen
Erarbeitet wurde dieses Stück mit Un
terstützung des Betriebsrates
Hoesch-Dortmund. Die Gespräche,
Interviews und Materialsammlungen
von Gewerkschaftern und Arbeitern
von
beiten ihre
alisation
Ro
über Streik bildeten die Arbeitsgrund-
lage. Das Ergebnis des Streiks wird
später als Niederlage begriffen, doch
der Kampf der Arbeiter war kein End
punkt, cher wohl ein Anfang. Erfah-
rungen sind gemacht worden. Dies
dokumentieren die selbstgemachten
Lieder, die Lieder sich solidarisieren
der Liedermacher, der Beitrag über
Kultur im Streik. Weitere Beiträge
über den Einsatz von Film und Video
im Arbeitskampf sowie Adressenma-
terial geben diesem Buch einen Ge
brauchswert, so daß es nach dem Le
sen nicht im Bücherregal verstauben
muß,
Im Dezember 1980 erscheint
Band 3
Ellen Diederich
"Und eines Tages merkte ich,
ich war nicht mehr ich selber,
ich war mein Mann”
Eine politische Autobiographie
In Vorbereitung
Band 5
Energiekrise — Neue Kleider
für den alten Kapitalismus
Zur aktuellen Krisenentwicklung und
den politischen Konsequenzen. Bei-
träge von Massarrat, Hirsch, Diner,
Brandes, Huhn, Emenlauer u.a
Michelangelo Notarianni
DIE ABWEICHENDE MEHRHEIT
ZUM TODE VON FRANCO BASAGLIA
Am 29. August starb Franco Basaglia in Venedig im Alter von 56 Jah-
ren. Seit er in den sechziger Jahren die psychiatrische Klinik in
Gotizia geleitet und grundlegend verändert hatte, qing von thm eine
große Ausstrahlung auf die gesamte demokratische oder alternative
Psychiatrie aus. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die traditionel-
len Institutionen zur Verwahrung von Geisteskranken vorab dem psy-
chischen Schutzbedürfnis der "Normalen" dient, arbeitete Basaglia
zeitlebens an ihrer radikalen Reform. Abbau des hterarchischen Ge-
fälles zwischen Arzt, Pflegepersonal und Patienten sowie die Öffnung
der Kliniken sollten einer wiklichen Resozialisierung der Patien-
ten ebenso dienen, wie sie das Verhältnis der Gesellschaft zu ge-
sellschaftlich verursachtem abweichendem Verhalten grundlegend wn-
wälzen sollten.1978 erließ das italienische Parlament ein Gesetz,
das - maßgeblich von den Ideen Basaglias und seiner Schule beein-
flußt - bis Ende dieses Jahres die vollständige Aufhebung der psy-
chiatrischen Kliniken vorsieht. Wenn seine Umsetzung in die Praxis
auch noch lange auf sich warten lassen wird - von Basaglias Engage-
ment gingen entscheidende Anstöße aus zur Aufklärung über die ge-
sellschaftlichen Wurzeln psychischer Erkrankungen und über das Elend
hinter den Mauern der Irrenhäuser. Den folgenden Nachruf haben wir
aus "ТЇ manifesto" (30. Aug. 1980) übersetzt.
Heute möchte man vom Menschen Franco Basaglia sprechen: für einmal
alle Etiketten und Klassifikationen, Theorien und politische Aus-
einandersetzungen, all jene großen und kleinen Dinge beiseite las-
sen, mittels derer wir ihm in diesen Jahren begegnet sind und die
ihn versteckt haben, während sie ihn bloßstellten. Man kann nicht,
wenigstens heute nicht.
Der Tod kehrt die Distanzen hervor, macht die Scham zur Pflicht.
Dieser extrovertierte und aggressive Mann war nicht einfach kennen-
zulernen, er überließ sich nicht seinen Gefühlen, seine Verfügbar-
keit koinzidierte mit seiner Zerstreutheit. "Es ist für das psychia-
trische Establishment zu einfach", schrieb er vor Jahren in der Ein-
leitung zu dem Buch, das seine Erfahrung in Gorizia widergab, "unse-
rer Arbeit jede Ernsthaftigkeit und jeden wissenschaftlichen Respekt
abzusprechen. Das Urteil kann uns nur schmeicheln, da es uns letzt-
lich verbindet mit dem fehlenden Ernst und der fehlenden Achtung,
die man seit je dem Geisteskranken und allen Ausgschlossenen entgoe"
gengebracht hat."
Es steckte viel Gewalt in jener schlagfertigen Antwort, viel Distanz
in jenem Sarkasmus. Die Einsamkeit des Menschen der Masse, der
Basaglia war, war indessen in der Tat das Motiv, das ihn mit den
Ausgeschlossenen verband; sie blieb etwas Hartes und tief Erlitte-
nes, vielleicht allen und auch ihm selbst unbekannt. Die Sanftheit
Basaglias lag ganz in der Ironie seines venezianischen Dialekts,
63
wie eine Anspielung auf ein mögliches Einverständnis, sofort gebro-
chen vom Ungestüm eines Zieles, das keinen Aufschub duldete. Es gab
keine Sentimentalitäten beim Populisten Basaglia, nichts, was Em-
pörung und das Gefühl für Verletzung abschwächen konnte. Das antike
und vornehme Moment jener Einsamkeit und der Gelassenheit, mit der
er sie zu leben schien, war dasselbe, das seinen Protest ohne allzu
menschliches Tremolo schwingen ließ.
Franco Basaglia, dieser Mann des Widerspruchs und der Widersprüche,
wurde nicht von vielen geliebt. Seine Stärke war die Hartnäckigkeit,
mit der er, unnachgiebig gegen einfache Wahrheiten, die ihm seine
Zeit entgegenhielt, seinen Weg ging und sich alle Ekklektizismen
der Praxis leistete und sich jeder Versöhnung der Kultur verweiger-
te. Wer ihn nicht mochte, sprach von Extremismus und Reformismus,
sah in Basaglias Praxis nichts substantiell Verschiedenes von den
Reformexperimenten, wie sie inzwischen in allen fortgeschrittenen
Ländern durchgeführt werden, wo die langsame Tilgung des Irrenhauses
Hand in Hand geht mit der Verallgemeinerung der Kontrolle und der
Medizinisierung des Leidens. Basaglia, der Maxwell Jones und seine
therapeutische Gemeinschaft, einen der Höhepunkte des britischen
Reformismus der vierziger Jahre, sehr geliebt hat und von ihm aus-
ging, als er in den frühen sechziger Jahren in Gorizia begann, hatte
zugleich jene Erfahrung recht häufig kritisiert. Und ebenfalls frü-
he Kritik hatte er gegenüber dem französischen Sektor geäußert, einer
anderen Speerspitze der Reformerfahrung.
Seit Gorizia ist der Hauptgegner mit großer Klarheit identifiziert
worden. Es war sicher nicht die "italienische Rückständigkeit", die
der Kultur des Wohlfahrts- und Fürsorgestaates der fortgeschritte-
nen Demokratien entgegenstehende Barbarei der Gewalt im Irrenhaus.
Im Gegenteil, gerade aus der Aufmerksamkeit für den Fortschritt
und für die fortgeschrittenen Situationen war der Impuls gekommen
zum Kampf für die Zerstörung des Irrenhauses - nicht für seine Huma-
nisierung und Verwandlung in eine beschützte, noch abgeschiedene
Gemeinschaft. Basaglia erkannte sich nicht wieder in Thomas Szasz
und dessen Negation der Geisteskrankheit aus einem behavoiuristi-
schen Szientismus heraus, der mit der Warengesellschaft harmonieren-
den Ideologie. Vielmehr hatte er Asylums von Erving Goffman über-
setzt und herausgegeben, wo die Realität des Irrenhauses nicht als
archaische Barbarei gesehen wird, sondern als paradigmatisches und
wesentliches Moment einer Gesellschaft, in der die Norm sich von der
affektiven Verbindung mit den Dingen entfernt und sich Vorstellun-
gen macht, ein Rollenspiel, in dem die einzige mögliche Heilung die
Möglichkeit zu einer nicht allen erlaubten Distanz wird. Basaglia
bestritt den Wert des Widerspruchs von Modernität und Rückständig-
keit ebenso wie desjenigen von Rationalem und Irrationalem, Vernunft
und Verrücktheit. Er mahnte gestern noch, das Irrenhaus nicht zu
vergessen - und zwar anders als jemand, der Arbeitern die Holzschuhe
des Großvaters in Erinnerung ruft, um die bereits vollbrachten Fort-
schritte zu zeigen. Eher schon wie jemand, dem sich in einem Moment
der historischen Erfahrung die Realität der Unterdrückung in ihrer
reinen Form entschleiert - das Bild, das die Bedeutung jener ganzen
komplexen Phänomenologie erhellt, die in der zerstreuten Familiari-
tät der Erscheinungen schwer zu begreifen ist. Das Irrenhaus kann
entweder zerstört werden oder aber sich aufs ganze Terrain ausbrei-
ten, eins werden mit einer Gesellschaft der - unterdrückten und ge-
64
hegten - abweichenden Mehrheit, von der Basaglia sprach, als er
uns einen aufklärenden Artikel von Jürgen Ruesch vorlegte.
Die Wette war sowohl eine Wette auf Zeit, als auch eine lange Wette
auf Messers Schneide, wobei die Ambiguität und der Widerspruch sich
nicht auf das einfach Identische reduzieren lassen.
Basaglia hatte 1968 erkannt, und 1968 hatte Basaglia erkannt. Er
sah in der Bewegung und der Gewerkschaft der Räte das Zeichen einer
Kontinuität, die in jenen beiden Momenten ihre Höhepunkte hatte.
Das war kein zufälliger Zusammenklang, auch wenn es der stärkste
Widerspruch war, der Kampf, Organisation, Arbeit, Erfahrung und pro-
letarische Werte in die Nähe von Ausschluß, Einzelheit, lächelndem
und bis zur Aggressivität entleertem Elend, den Zeichen der Verrückt-
heit, brachte. Die Erfahrung Basaglias und seine italienische Spe-
zifik lagen in diesem Widerspruch. Die Wette galt der Möglichkeit,
ob die Gestalt des Marxismus, die sich im 19. Jahrhundert herausge-
bildet hat und die in der Geschichte der sozialistischen und kommu-
nistischen Internationalen noch lebt, die Fähigkeit habe, sich
selbst zu überwinden und in der Kritik des Spätkapitalismus wieder
zur Radikalität eines - noch nicht ausgeschöpften - Marx zurückzu-
finden.
Gewiß gibt es ein Paradoxon in jenem Marsch in den Institutionen,
den Basaglia mehr als andere wirklich zu durchlaufen wußte, einer
nicht theoretisch bestimmten und quasi-spontanen Anweisung von
1968 folgend. Die traditonelle Arbeiterbewegung, wie reformistisch
oder revolutionär auch immer, hatte geglaubt, die eigene Andersar-
tigkeit allein darin zu finden, daß sie sich auf dem eigenen Gebiet,
in den eigenen, abgetrennten Institutionen bewegte, sich eine eige-
ne Ideologie verschaffte, unabhängig von der Kultur der gegneri-
schen Klasse und von deren getrenntem Wissen. Die neue Bewegung
besaß diese Möglichkeit nicht. Ihre Radikalität drückte sich viel-
mehr aus in der Kritik der Rollen, der Institutionen, der abge-
trennten Wissenschaften. Was man jetzt als Formen einer gesellschaft-
lichen Totalität erkannte, sollte sich einzelner Niederlagen zum
Trotz neu erzeugen und nicht mehr einfach aufteilbar sein in die
ständig entgegengesetzten Lager - in Erwartung des letzten Gefechts.
Mao Tse tung hatte eine frühe Erfahrung auf dieser neuen Ebene ge-
macht, indem er die Widersprüche im Volk theoretisch faßte und dann
zur Kulturrevolution trieb, die das Zeichen des Widerspruchs auf
jeder gesellschaftlichen Ebene ausmachte und bestimmte.
Basaglia war ein Mensch dieser Zeit und dieser Widersprüche. Zuerst
in Gorizia, dann in Parma und schließlich in Triest, wo seine Erfah-
rung die größte Ausbreitung erfuhr, während die Diaspora von Gorizia
sich von Arezzo nach Ferrara, von Genua nach Neapel und Turin ver-
breitete, hat er Politik gemacht, indem er die Kraft der Meinung
und die vielfachen Widersprüche des gegnerischen Lagers ausnutzte.
Er hat sich praktisch der Kommunistischen Partei angenähert, obwohl
er deren allgemeine Politik bekämpfte; stets war er zerrissen zwi-
schen dem Erfordernis, auf die Besonderheit seines Kampfes nicht
zu verzichten, und dem Risiko, dessen Bedeutung ständig mißachtet
zu sehen. Er hat es schließlich vor kurzem angenommen, nach Rom zu
kommen, um die Arbeit der Region Latium im Bereich der mentalen Ge-
sundheitspflege zu koordinieren: damit hat er erstmals eine explizit
politische Aufgabe übernommen. Ein neues Risiko, eine neue Gelegen-
heit ‚sich wieder auf etwas einzulassen.
65
Manche wollten in seiner beharrlichen Weigerung, die eigene Erfah-
rung zu theoretisieren, in seiner Aversion gegen jede Kultur, die
sich wie ein Schirm über das Leiden der Ausgeschlossenen legen könn-
te, die Offenbarung eines tiefen Irrationalismus sehen, eines Prag-
matismus, der die scheinbaren Unsicherheiten seines politischen Ver-
haltens erklären sollte. Paradoxerweise vermochte niemand in einer
praktischen Haltung, die das Urteil suspendierte und den Wert von
Kultur und Wissenschaft nicht negierte, sofern diese das Gericht der
präkategorialen Lebenswelt nicht außer Kraft setzen, die philosophi-
sche Erfahrung zu erkennen, die Basaglia geprägt hat, nämlich die
Phänomenologie Edmund Husserls (nicht nur vermittelt durch die Be-
ziehung zum Denken Sartres). In Zeiten, in denen neue Formen von
popularisiertem Heideggerismus Aufwind haben, war es nicht leicht
zu erkennen, daß Franco Basaglia auf dem Boden des radikalsten phi-
losophischen Bewußtseins unserer Zeit stand, und daß jenes philoso-
phische Bewußtsein ihre volle historische Aktualität erst im letzten
Jahrzehnt erreicht hat.
Basaglia konnte seine Erfahrung nicht vollenden. Auf dem Gebiet von
Geschichte, Politik und Kultur bleiben die Widersprüche, die seine
Erfahrung offengelegt hat und die sich in ihr öffneten, schneiden-
der denn je. Nicht nur, weil sein Tod die Restaurationsgelüste all
derer verstärkt, welche die offenen Widersprüche eines Gesetzes sa-
nieren wollen, das seinem Namen verhaftet bleibt und das bestimmt,
daß die Verrücktheit nicht mehr von der Gesellschaft getrennt wer-
den soll. Es wird von nun an nicht einfach sein zu unterscheiden zwi-
schen denen, die das Irrenhaus wiederherstellen wollen und denen,
die es auf die abweichende Mehrheit ausdehnen wollen.
Der Feind wird zwieschlächtig bleiben und wir werden scharfe und
kritische Augen benötigen, um ihn zu identifizieren. Aber nicht nur
für ihn bleiben die Widersprüche offen. Glücklicherweise sind sie es
auch für uns, die wir mit Basaglia gekämpft und uns in seinen Käm-
pfen wiedererkannt haben.
Viel ist jetzt auf dem Gebiet der alternativen Psychiatrie die Rede
vom Problem der Kultur, der Theorie und der Wissenschaft, wobei un-
ter verschämten Formulierungen das Problem der Techniken versteckt
wird.
Basaglias Ablehnung überwindet man gewiß nicht, indem man teilwei-
se wieder auf sie zurückgreift, noch, indem man sich empiristisch
von Fall zu Fall entscheidet, noch durch die Forderung, in den psy-
chiatrischen Erfahrungen sei der Weizen von der Spreu zu trennen.
Basaglia wußte besser als jeder, daß die Geschichte sich kraft ihrer
schlechten Seiten bewegt, seine Ablehnung der Theorie war nur ein
Moment - das schärfste und spezifischste - einer Spannung, die das
Problem nicht löst.
Es ist kein Zufall, daß man heute auch in den schärfsten Selbstkri-
tiken des Freudismus davon spricht, die Theorie als Schutz und Ge-
wißheit eines Wissens abzulehnen, das ausschließt. Die Negation
der Theorie ist die radikalste Anerkennung der Theorie, die Ableh-
nung der Wissenschaft ist das höchste Bewußtsein von der Wissenschaft
und von ihrem Gewicht in der Welt des heutigen Menschen. Auch der
Marxismus war Theorie der Ablehnung der theoretischen Entfremdung,
Kritik und revolutionäre Praxis. Der Widerspruch ist über den Marxis-
mus und das von ihm gewählte Terrain hinausgegangen. Er ist kein
66
theoretischer Widerspruch- dies hat Franco Basaglia verstanden, in-
dem er ihn gelebt hat und sich weigerte, sich innerhalb einfacher Ab-
grenzungen zu täuschen. Es wird nicht leicht sein, ohne ihn weiter-
zumachen.
"links - гергїпї”
SOZIALISTEN
UND
DEMOKRATIE `
Verlag 2000
Albert Hofmann/Giinter Pabst/Ulrich Stascheit
SOZIALHILFE-AKTION: 2. Runde
Runde 1 — “Gelbe Karte” fiir den Deutschen Verein
Mit einer Kundgebung am 23. April 1980 auf dem Liebfrauenberg in
Frankfurt a.M., fanden die vielfältigen Aktionen und Initiativen der
SOZIALHILFE-AKTION, anläßlich des loojährigen Bestehens des Deut-
schen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und dem 69. Deut-
schen Fürsorgetag, ihren vorläufigen Höhepunkt. (1)
Rund dreißig Sozialhilfegruppen und 500 Teilnehmer aus der gesamten
BRD waren nach Frankfurt gekommen, um bei dem "Jubiläum ohne Grund
zum Jubeln" (Frankfurter Rundschau vom 24. April 1980), das offiziel-
le Bild, das der Deutsche Verein zu zeichnen bemüht war, etwas ge-
radezuriicken" (die Tageszeitung vom 25. April 1980) und den "Reden
der Offiziellen zum Anspruch" (Frankfurter Rundschau vom 24. April
1980) entgegenzusetzen. (2) s 2%
Bereits vor dem 23. April war der Deutsche Verein durch die Aktivi-
täten und Initiativen der SOZIALHILFE-AKTION spürbar in die Defen-
sive gedrängt worden.
"Auf nach Frankfurt zur Sozialhilfedemo - Sozialhilfeempfänger aus
dem gesamten Bundesgebiet machen mit", forderten die örtlichen So-
zialhilfegruppen. Flankiert wurden die örtlichen Aktivitäten der
Sozialhilfegruppen, durch die überregional veröffentlichte Untersu”
chungen sowie Rundfunk- und Fernsehberichte. (3) 4 А
Angesichts solcher Offensive war der Deutsche Verein sichtlich in
Bedrängnis geraten. Und nur aus dieser Defensive kann die Ankiindi-
gung des Deutschen Vereins noch während des Deutschen Fiirsorgetages
verstanden werden, bereits in diesem Jahr "eine Studientagung ein-
(zu)berufen und dort auch die Kritiker der bisherigen Bemessungs~
grundlage (d.h. des Warenkorbs, d.Verf.)(zu) bitten, mit ihm und
seinen Fachleuten zu dikutieren." (4)
Zwischenspiel
Im Juli 1980 verschickte der Deutsche Verein die Einladungen zu der
angekündigten "Studientagung 'Regelsätze der Sozialhilfe am 20.
und 21. November 1980 in Frankfurt. Eingladen wurden neben "den
Fachleuten des Deutschen Vereins":Albert Hofmann (Frankfurt), Utz
Krahmer (Fachhochschule Düsseldorf), Stephan Leibfried (Universität
Bremen), Annegret Rückriem (Vorsitzende der Interessengruppe Sozial-
hilfe e.V. Köln), Uli Stascheit (Fachhochschule Frankfurt), Günter
Stahlmann (Fachhochschule Fulda), Florian Tennstedt (Gesamthochschu-
le Kassel) und Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in
Köln.
Schon die Auswahl der Kritiker durch den Deutschen Verein verdeut-
licht die Arroganz und Ignoranz des Deutschen Vereins. Mit Ausnahme
69
von Annegret Riickriem (Interessengruppe Köln) zielt die Gesprächsbe-
reitschaft des Deutschen Vereins ausschließlich auf die "wissenschaft-
lichen Kritiker" aus dem Hochschulbereich.
Ein Verhalten mit Tradition. Im Juni 1978 veranstaltete der Verband
Alleinstehender Mütter und Väter (VAMV), Ortsverband Frankfurt, eine
Podiumsdiskussion über Sozialhilfe-Regelsätze-Warenkorb. Obwohl ein-
geladen fand es der Deutsche Verein nicht für notwendig, einen Ver-
treter zur Diskussion zu entsenden. Man siehe ferner das zähe und er-
folglose Ringen um Hintergrundinformationen über die Zusammenstellung
des Warenkorbes. (5) Und jüngstes Beispiel: Am 25. Sept. 1980 veran-
staltete die Interessengruppe Sozialhilfe Duisburg eine Podiumsdis-
kussion über Regelsätze-Warenkorb-Kindergeld und Lage der Sozialhil-
feempfänger in Duisburg. Otto Fichtner, der in seiner Eigenschaft
als Vorsitzender des Deutschen Vereins ankündigte: "Der Deutsche
Verein ist an einem vertieften Dialog mit seinen Kritikern interes-
siert und wird Chancen für diesen Dialog geben und nutzen", (6) blieb
der Einladung der Sozialhilfegruppe Duisburg mit der Begründung fern:
"An der Podiumsdiskussion am 25.9.1980 wird ein Vertreter der Verwal-
tung nicht teilnehmen. Nach der Gemeindeordnung ist es nicht Sache
der Verwaltung, an politischen Veranstaltungen wie z.B. einer Po-
diumsdiskussion mit Vertretern der politischen Parteien sich zu be-
teiligen. Ich bitte daher um ihr Verständnis." (7)
/
25%.
; GEN
"Die Hohe ali
WareuKorbes-
beshmme ieh!"
70
Runde 2 - “Rote Karte” für den Deutschen Verein?
Im Juli 1980 trafen sich die eingeladenen Kritiker aus dem Frankfur-
ter Raum, um über die Teilnahme oder Nichtteilnahme an der Studien-
tagung zu diskutieren. Die Überlegungen wurden in Form eines Briefes
an die Hochschullehrer-Kollegen und Sozialhilfe-Initiativen versandt
(siehe nachfolgenden Brief). Gegenwärtig ist bekannt, daß mindestens
2/3 der eingeladenen Kritiker (unter ihnen die einzig eingeladene
Sozialhilfeempfängerin Annegret Rückriem), nicht an der Studienta-
gung teilnehmen werden. Wie sich der Rest, angesichts dieser Situa-
tion verhält, bleibt abzuwarten.
Mit Sicherheit läßt sich aber ausmachen, daß noch in diesem Jahr ein
"Sozialhilfe-Tribunal" oder eine Tagung stattfinden wird. Diesbezüg-
liche Aktivitäten sind gegenwärtig schon von verschiedenen Initiati-
ven angeregt (siehe Brief der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale
Brennpunkte Hessen und den Brief der Interessengruppe Sozialhilfe
Duisburg). Diese Tagung oder dieses Tribunal bietet die Möglichkeit
zur Klärung der weiteren gemeinsamen inhaltlichen und praktischen
Arbeit.
Noch gilt, was wir schon im Juni im Anschluß an die Kundgebung in
Frankfurt geschrieben haben:
"Die Sozialhilfe-Aktion wendet sich dagegen, daß der Deutsche Verein
das Monopol hat, über den Warenkorb das Los von mehr als 2 Millionen
Sozialhilfeempfängern festzuschreiben. Ziel der Sozialhilfe-Aktion
ist es nicht, durch Teilnahme an unverbindlichen Diskussionen mit
dem Deutschen Verein dieses Monopol zu befestigen, sondern es viel-
mehr zu brechen." (8)
Anmerkungen
(1) Über den Hintergrund und die Forderungen der Sozialhilfe-Aktion
siehe: Materialien zur Sozialhilfe-Aktion, Informationsdienst Sozial-
arbeit Nr. 25, Offenbach, März 1980
(2) Die Sozialhilfe-Aktion konnte eine durchwegs positive Berichter-
stattung in der Presse verzeichnen. Aus der Vielzahl der Berichte
vgl. vor allem: Während der Carstens-Rede demonstrierten Fürsorgeem-
pfänger, in: Frankfurter Rundschau vom 24.9.1980, 5.1 und 69. Deut-
scher Fürsorgetag: Reden der Offiziellen zum Anspruch - Kritik der
Betroffenen an der Wirklichkeit. Jubiläum ohne Grund zum Jubeln, in:
Frankfurter Rundschau vom 24.April 1980, 5.5. Einfaches Leben, in:
Der Spiegel vom 28.April 1980 (Jg. 34. Heft 18) s. 257-260.
(3) Albert Hofmann, Florian Tennstedt, Im Warenkorb der Sozialhilfe
ist Menschenwürde nicht enthalten, in: Franfurter Rundschau vom 22.
April 1980, S. lo (Dokumentation). Albert Hofmann, Stephan Leibfried,
Historische Regelmäßigkeiten bei Regelsätzen - loo Jahre Tradition
des Deutschen Vereins?, Vorabdruck aus Neue Praxis, Kritische Zeit-
schrift für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Nr. 3, 1980
(4) Otto Fichtner in seiner Abschlußansprache. Siehe Nachrichten-
dienst des’ Deutschen Vereins, (60 Jg., Heft 7) Juli 1980, S. 205
(5) Fußnote 1, S. 34 Р
(6) Otto Fichtner, loo Jahre Deutscher Verein - 69. Deutscher Fürsor-
getag: Rückschau und Nachlese, Nachrichtendienst des Deutschen Ver-
eins, (60 Jg., Heft 7) Juli 1980, 5. 205
(7) ders. in einem Brief (9.Sept. 1980) an die Interessengruppe So-
71
zialhilfe Duisburg
(8) Albert Hofmann, Günter Pabst, Ulrich Stascheit, Schuß mit dem Ge-
schwätz, erhöht die Regelsätze. Sozialhilfe-Aktion zur Jubelfeier
des Deutschen Vereins, in:päd.extra sozialarbeit, (4.Jg., Heft 6),
5. 46-50, hier S. 50. Dieser Bericht stellt einen Abschlußbericht
der Sozialhilfe-Aktion dar.
INFORMATIONSDIENST
SOZIALARBEIT
MATERIALIEN
ZUR
SOZIALHILFE — AKTION
Zum loo-jährigen Bestehen des Deutschen Vereins
und zum 69. Deutschen Fürsorgetag in Frankfurt
Offenbach im März 1980
Einfachnummer - Preis DM 6,--
ANHANG:
BRIEFWECHSEL ZUR STUDIENTAGUNG DES DEUTSCHEN VEREINS
I. Brief von All ert Hofmann, Utz Kramer, Uli Stascheit und Günter Stahlmann
an die Hochschullehrer-Kollegen und alle Sozialhilfe-Initiativen v. 6.8.1980
Liebe Freunde, liebe Kollegen,
der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV) will am 20./21.11.80 eine Stu-
dientagung über “Regelsätze in der Sozialhilfe” veranstalten. Diese Veranstaltung ist eine Ant-
wort des DV auf die von der Sozialhilfe-Aktion im April in Frankfurt recht erfolgreich vorge-
brachten Kritik am Warenkorb. Das Presseecho hatten wir ja allen zugeschickt! Zu der Studien-
tagung sind neben den Mitgliedern des DV-Arbeitskreises “Aufbau der Regelsätze’’ auch die
Kollegen Hofmann, Krahmer, Leibfried, Stahlmann, Stascheit und Tennstedt (wer sonst noch —
bitte melden!) eingeladen worden.
Wir vier im Briefkopf genannten Kollegen haben am 24.7.80 in Ffm. die Frage diskutiert, ob
eine Teilnahme an der Tagung sinnvoll ist, und haben dabei folgende Möglichkeiten erwogen:
1. Teilnahme an der Tagung des DV?
Grundsätzlich könnten wir uns eine Teilnahme überhaupt nur dann vorstellen, wenn folgende
Minimalbedingungen erfüllt wären:
© Offenlegung aller uns bisher vorenthaltenen Materialien zu den Regelsätzen (z.B. Protokolle
der Beratungen über den Warenkorb, entsprechende Gutachten etc.) noch vor der Tagung sowie
entsprechende Zusage für die Zukunft;
@ gleichberechtigter Einfluß auf Programm und Ablauf der Studientagung sowie auf die Ver-
wertung der Ergebnisse (Votum/Abschlußbericht)
@ Einbeziehung der Sozialhilfe-Initiativen und Öffentlichkeit (Presse etc.)
Aber selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt wären, spräche folgendes weiterhin gegen ei-
ne Beteiligung:
© Der DV versucht offensichtlich durch die Vereinnahmung seiner Kritiker sein seit der Sozial-
hilfe-Aktion angekratztes Image in der Öffentlichkeit wiederherzustellen, ohne den Kritikern
wirklich Einfluß auf die Verbesserung des Warenkorbs zu geben. Denn welche Empfehlungen
der DV zum Warenkorb gibt, wird nicht auf der Studientagung entschieden;
@ die Schlüsselstellung des DV bei der Festlegung des Existenzminimums von über zwei Millio-
nen Menschen würde durch eine Teilnahme an der Tagung bestätigt. Das widerspräche unserer
ständigen Kritik an der fehlenden demokratischen Legitimation der Gremien des DV für solch
fundamentale sozialpolitische Entscheidungen.
@ Selbst wenn einzelne Sozialhilfeempfänger (wer sucht da wen aus? ) teilnehmen könnten, wür-
den sie (genauso wie die Hochschullehrer) voraussichtlich den Versuchen des DV ausgesetzt
sein, sie für dessen Zwecke (sozusagen als “Feigenblatt-Sozialhilfeempfanger”’) zu vereinnahmen.
© Dem Einwand, man müsse jede Möglichkeit der Einflußnahme ausprobieren, sind die bisheri-
gen Erfahrungen der Sozialhilfebewegung entgegenzuhalten: Sie zeigen (s. Kindergeld), daß die
überhaupt erreichbaren Verbesserungen des Warenkorbs auch und gerade durch Kritik und Ak-
tion außerhalb von Tagungen erreicht werden können.
Wichtig erscheint uns schließlich, daß sich die eingeladenen Hochschullehrer einheitlich für oder
gegen eine Teilnahme entscheiden, weil dem DV schon ein oder zwei Kritiker zur “Befriedung”
reichen werden. Deshalb an die anderen Kollegen noch zwei Fragen: a) Glaubt wirklich jemand
daran, daß der DV tatsächlich “kostendeckende Regelsätze’”’ — und zwar “‘schleunigst” — errei-
chen möchte (Fichtner in FAZ у. 26.4.80) und daß der DV unter “Kostendeckung” dasselbe ver-
stehen wird wie wir oder die Betroffenen? b) Und woraus soll sich die Annahme begriinden las-
sen, der DV sei neuerdings in seiner Struktur so offen, daß man ihn als “reformpolitisches Instru-
mantarium nutzen” könne (Vorwort: Neue Praxis)?
2. Bildung eines Arbeitskreises “Alternativen zur Sozialhilfe”?
Nicht nur die Beschäftigung des DV mit Fragen der Sozialhilfe sondern auch ein Teil unserer Kri-
tik daran kranken an mangelndem Bewußtsein von den Alternativen zur Sozialhilfe. Die Entwick;
lung von Alternativen setzt die intensive Ausarbeitung und kritische Gesamtanalyse der bundes-
republikanischen Sozialpolitik voraus und müßte insbesondere die alternativen ausländischen Мо-
delle einbeziehen. Diese Arbeit verlangt von vorneherein einen anderen Rahmen als die Studien-
tagung des DV; in einem entsprechenden Arbeitskreis müßten auch Sozial-, Steuer-, Gewerk-
schaftspolitiker ect. mitarbeiten, und die Zeitperspektive wäre eine ganz andere.
Sollte ein solcher Arbeitskreis in der nächsten Zeit zustandekommen, stellte sich angesichts der
dort zu behandelnden Probleme die Schwierigkeit in verstärktem Maße, wie die Betroffenen an
einem zu entwerfenden Arbeitsprogramm beteiligt werden könnten.
3. Veranstaltung eines “‘Sozialhilfe-Tribunals’’?
Die beste Reaktion auf die Umarmungsstrategie des DV wäre nach unserer Meinung die Veran-
staltung eines “Sozialhilfe-Tribunals’’ (u.a. Darstellung der sozialen Lage durch die Betroffe-
nen, Beiträge der Selbsthilfe-Initiativen über die Gegenwehr, Diskussionen mit Politikern etc.).
Das könnte aber nur von den Betroffenen selbst vorbereitet und durchgeführt werden — denn
wer könnte den Warenkorb besser und lebensnaher kritisieren als diejenigen, die von ihm leben
müssen. Durch ein solches Tribunal unter Beteiligung möglichst vieler Sozialhilfeempfänger
würde die mit Kindergeld- bzw. Sozialhilfe-Aktion begonnene Mobilisierung der Betroffenen
fortgesetzt.
Da dieses Tribunal eine Menge Geld kosten würde (Fahrt, Verpflegung, Unterkunft, Material-
kosten, etc.), müßten die Betroffenen erst die entsprechenden Finanzierungsquellen auftun
(wie z.B. den DPWV für die Tagung “Gewerkschaft der Armen”). Der DV wird sich hüten da-
für Geld herzugeben, sollte als “Verursacher” aber gleichwohl dazu aufgefordert werden. Den
Versuch, ein solches Tribunal anzukurbeln, sollte u.E. die neue Kölner Info-Zentrale der
Selbsthilfe-Gruppen übernehmen.
Wir sind natürlich auch weiterhin an allen anderen möglichen Vorschlägen interessiert, wie
man angemessen auf die Taktik des DV reagieren kann. Diskutiert bitte die angestellten Über-
legungen und schreibt uns sehr schnell an die im Briefkopf genannte Anschrift, damit wir
Eure Meinung bei unserer Entscheidung berücksichtigen können! Es eilt!
П. Brief der Interessengruppe Sozialhilfe Duisburg у. 16.9.1980
An die Sozialhilfegruppen und Utz Kramer u.s.w.
Liebe Freunde!
Zur Frage der Teilnahme an der Tagung des Deutschen Vereins, vergl. Schreiben vom 6.8.80 und
zu dem Schreiben der LAG vom 19.8.80 meinen wir folgendes:
1.) Wir befürworten eine Veranstaltung in Form einer Tagung oder eines Tribunals der Sozialhil-
feempfänger, bei der die Lage der Sozialhilfeempfänger und die wichtigsten Mißstände und we-
sentlichen Forderungen vorgetragen werden: wie Regelsätze, Nichtanrechnung des Kindergeldes.
Nur auf solch einem Tribunal können die Sozialhilfeempfänger zu Wort kommen und haben die
Chance, gehört zu werden.
2.) Nur wenn in unmittelbar zeitlicher Nähe (am besten kurz danach), dieses Tribunal stattfindet,
ist es zu verantworten, daß kritische Fachleute, die auf Seiten der Sozialhilfeempfänger stehen,
an der Tagung des Deutschen Vereins teilnehmen.
Ihre Aufgabe wäre:
— Informationen sammeln
— dem Verein die Berechtigung abzusprechen, über die Regelsätze mitzuentscheiden
— zeigen, daß keine Bereitschaft besteht, ein Feigenblatt zu sein.
Daher sollten:
— keine konstruktiven Vorschläge zu den Regelsätzen gemacht werden,
— ausdrücklich erklärt werden, daß nicht für die Sozialhilfeempfänger gesprochen wird.
3.) Um dies zu erreichen sollten nur etwa 2 oder 3 Fachleute teilnehmen, vor allem keine “Vor-
zeige-Sozialhilfeempfänger”. Es müßte auf die eigene nachfolgende Veranstaltung hingewiesen
werden. Damit es klar ist: Wir meinen, daß auf keinen Fall derzeit ein oder wenige Sozialhilfe-
empfänger an der Tagung des DV teilnehmen sollten, da derzeit hierfür keine Grundlage vorhan-
den ist. Voraussetzung wäre:
@ eine rechtzeitige Information seitens des DV, damit die Sozialhilfegruppen darüber diskutie-
ren können.
© der Organisationsgrad der Sozialhilfegruppen untereinander ist noch nicht soweit entwickelt,
daß jemand die offizielle Vertreterrolle für alle Gruppen übernehmen könnte.
Hierdurch ließen sich die im Brief am 6.8.80 aufgezeigten Gefahren vermeiden, gleichzeitig wird
eine Öffentlichkeitsarbeit der Sozialhilfeempfänger unterstützt und schließlich kann keiner sagen,
wir drücken uns.
@ Wir schlagen vor:
— etwa Anfang Dezember 80 ein Tribunal (Wochenende)
— Vorbereitungstreffen für ein Tribunal im Oktober, auf dem auch genau besprochen wird, wie
die Fachleute auftreten sollen und ebenfalls die Finanzen des Tribunals.
Mit freundlichen Grüßen
Interessengruppe Sozialhilfe Duisburg
ПІ. Brief der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Hessen e.V.
an alle Sozial- und Selbsthilfegruppen v. 19.8.1980
Geschäftsstelle: Moselstr. 25, 6000 Frankfurt 1, Tel. 0611/2343391
— Arbeitsgruppe Sozialhilfe —
Frankfurt, den 19.08.1980
An alle
Sozial- und Selbsthiflegruppen
Mitgliedsprojekte der LAG
Liebe Freunde,
Mit unserer Sozialhilfeaktion im Frühjahr in Frankfurt haben wir die öffentliche Diskussion um
den Warenkorb des Deutschen Vereins und die Regelsätze der Sozialhilfe eingeleitet und kosten-
deckende Regelsätze und Beihilfeleistungen gefordert.
Der Deutsche Verein mußte gezwungenermaßen zugeben, daß bei den Regelsätzen etwas verän-
dert werden und der Warenkorb von 1970 überarbeitet werden muß. Otto Fichtner, 1. Vors. des
Deutschen Vereins hat damals lauthals verkündet, daß im Herbst mit der Überarbeitung des Wa-
renkorbs begonnen wird und dabei die Kritiker am bestehenden Warenkorb — also wir alle — da-
zu eingeladen werden. Inzwischen steht der Termin der Tagung fest und die Einladungen sind
raus. Wir sind natürlich nicht eingeladen, sondern nur ein paar kritische Fachleute! Damit setzt
dieser gute Verein seine Tradition fort und will wohl auch weiterhin unter sich bleiben. Er will
nicht erfahren wie wir leben müssen, will nicht unsere Meinung hören, sondern mit Fachleuten
diskutieren, ob wir mit 16 oder etwa besser 18 oder gar 20 Kilowattstunden oder mit 2 mal
oder 2,345678901 mal baden im Monat auskommen.
Wir meinen, daß wir uns jetzt nicht diese Sachen aus der Hand nehmen lassen dürfen, indem wir
den Deutschen Verein unter sich oder mit ein paar kritischen “Fachleuten” und Sozialarbeitern
einen neuen Warenkorb festlegen lassen. Wir müssen selbst auf einer Tagung darüber diskutieren,
wie nach unserer Meinung die Sozialhilfe und die Leistungen auszusehen haben.
Wir meinen, daß wir zusammen für Ende Oktober oder Anfang November eine eigene Ta-
gung zu der Frage der Regelsätze und auch des Kindergeldes organisieren und durchführen
sollten. Auf dieser Tagung sollten alle Interessierten ihre Kritik an der Sozialhilfe vortragen
und ihre Froderungen und Interessen diskutieren.
Eine solche Tagung, die nicht von uns alleine organisiert werden kann und für die wir eine
Finanzierung beim Bundesfamilienministerium fordern sollten, könnte auch klären wie wir
gemeinsam weiter vorgehen wollen. Unabhängig davon sollten wir aber trotzdem vom Deut-
schen Verein die Einlösung seines Versprechens nach Beteiligung von Betroffenen fordern.
Wir fordern Euch ınit diesem Brief auf, zu unseren Vorschlägen Stellung zu nehmen bzw. uns
eigene Vorschläge zu machen, wie wir zusammen weiterarbeiten wollen. Wir fordern Euch also
also auf, bis zum 15. September mitzuteilen ob ihr eine solche Tagung für richtig haltet und
vor allem, ob ihr an der Vorbereitung mitarbeitet. Ein solches Projekt kann nur erfolgreich
durchgeführt werden wenn sich alle Gruppen tatkräftig beteiligen an der Vorbereitung.
Wir warten auf Eure Antwort.
Mit freundlichen und solidarischen Grüßen
LANDESARBEITSGEMEINSCHAFT
SOZIALE BRENNPUNKTE HESSEN e.V.
— AG Sozialhilfe —
i.A. Dieter Mihm
HINWEISE, MATERIALIEN, TERMINE
@ Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Hilfe für Behinderte" hat nunmehr
die 8. Auflage der Broschiire "Die Rechte der Behinderten und ihrer
Angehörigen" herausgegeben.
Die Broschüre ermöglicht behinderten Menschen einen guten Überblick
über ihre rechtlichen Ansprüche und erleichtert ihnen dadurch die
Inanspruchnahme von Hilfen und Vergünstigungen.
Die Broschüre kann kostenlos über die Bundesarbeitsgemeinschaft
"Hilfe für Behinderte" e.V., Kirchfeldstraße 149, 4000 Düsseldorf 1,
bezogen werden.
@ Mitteilung des AJZ-Druck + Verlag: Neu aufgelegt haben wir das
seit einiger Zeit vergriffene Fischer-Buch:
- SOZIALARBEIT UNTER KAPITALISTISCHEN PRODUKTIONSBEDINGUNGEN
herausgegeben von Walter Hollstein und Marianne Meinhold,
die nach wie vor aktuelle Einführung in die Geschichte und Funktion
der Sozialarbeit.
Neu erschienen ist sodann das grundlegende Lehrbuch für den Bereich
der Gemeinwesenarbeit:
- GEMEINWESENARBEIT - Eine Grundlegung
von Jaak Boulet/Jürgen Krauss/Dieter Oelschlägel.
Ebenfalls neu in unser Programm haben wir die von Ulla Bock und
Barbara Witych erstellte Bibliographie der deutschsprachigen Lite-
ratur zur Frauenfrage 1949 - 1979 über 4 000 systematisierten Ti-
teln genommen.
AJZ-Druck + Verlag, Heeperstr. 132, 48 Bielefeld 1
@ "Eine fortschrittliche Bildungsarbeit, die bisher in der Jugend-
bildungsstätte Emlichheim geleistet wurde, ist in Zukunft in dieser
Einrichtung nicht mehr zu erwarten." Mit dieser Schlußfolgerung
kündigten die freien Mitarbeiter der in West-Niedersachsen gelegenen
Jugendbildungsstätte Emlichheim - einer Einrichtung der Außerschuli-
schen Jugendbildung - nach einem halbjährigen massiven Konflikt ihre
Mitarbeit auf.
Neben Konflikten um den finanziellen Status der Mitarbeiter und
Praktikanten ging es vor allem um die Abwehr der Versuche des neuen
Leiters und des Vorstandes, eine christlich-mythologische Bildungs-
arbeit einzuführen. Als schließlich die angedrohte Kündigung der
drei erfahrensten freien Mitarbeiter vollzogen wurde, zogen die übri-
gen 16 die Konsequenz und kündigten von sich aus.
Nähere Informationen in einer 70-seitigen Dokumentation, für die
ein Unkostenbeitrag von mind. 5.- DM erbeten wird, bei:
Martin Beyersdorf, Rühmkorffstr. 7, 3 Hannover 1, Tel. 0511/661170
77
@ Broschüre zum Thema "Faschismus"
In dieser Broschiire wird in kurzer Form auf die Ursachen und die
Politik des deutschen Faschismus eingegangen sowie ausfiihrlicher
auf den antifaschistischen Widerstand. Ziel der Broschiire ist es,
über den Faschismus in einfacher und verständlicher Form aufzuklä-
ren, sowie faschistischen Tendenzen der Gegenwart wirksam und recht-
zeitig zu begegnen.
Die beiden Teile der Broschüre: 1. Ursachen und Politik des deut-
schen Faschismus und 2. der deutsche antifaschistische Widerstand
gibt es auch in Form von zwei Kassetten.
Preis der Broschüre: DM 5.-- als Einzelstück; bei Abnahme von fünf
und mehr DM 4.-- pro Broschüre.
Preis der Kassetten: DM 20.-- für beide Teile.
Zu bestellen über: Brigitte Dottke, Eimsbütteler Str. 45 a, 2 Hamburg
50
@ Im Verlag Jugend & Politik ist erschienen:
Bernhard Altert/Hermann Müller, Verhaltensstörungen oder gestörte
Verhältnisse
"Beiträge zur Praxis der Arbeiterwohlfahrt" Band 4, 116 Seiten,
DM 8.--
Die Autoren machen deutlich, daß theoretische und praktische Sozial-
arbeit die immanente Struktur von Verelendung in der hochindustria-
lisierten Gesellschaft noch nicht einmal ansatzweise aufgelöst hat.
Das will sagen, daß auch Arbeit mit Kindern "aus sozialen Brenn-
punkten", wie sie hier von den Autoren beschrieben wird, zuerst ein-
mal - was die Betroffenen selbst angeht - wenig an der Situation
verändert. Und daß das Ziel der Arbeit "Resignation zu durchbrechen
und gemeinsam solidarische Formen zu entwickeln, die in einer poli-
tisch, sozialen Perpsektive das eigene Leben begreift und darin
eine langfristige Verbesserung der eigenen Lage sieht" (so die Auto-
ren), durch kurzfristige Aktionen innerhalb "sozialer Brennpunkte"
nicht zu erreichen ist.
© Deklassierte Arbeiterfamilien - Handlungsansätze zur Veränderung
ihrer Lebensverhältnisse (SPAK-M 43), 240 Seiten, erhältlich gegen
Vorkasse: 18.50 DM (einschl. Porto) auf Postscheckkonto: 205 47-808 -
AG SPAK.
Dokumentation: Neofaschismus - Die Rechten im Aufwind - wichtiges
Material zur neuen Entwicklung, 313 Seiten, erhältlich gegen Vorkas-
se: 14,- DM einschl. Porto, Postscheckkonto: 205-47-808 AG SPAK,
München.
@ Widerstand aus der Hinterwelt - zum Verhältnis von Randgruppenexi-
stenz und vorindustrieller Kultur - konkrete Erfahrungen aus der
Obdachlosenarbeit. Eine Kritik an einer geschichtslosen Begriffsbil-
dung namens "Капаргирре". Bezug: 12.50 DM per Vorkasse: Postscheck-
amt München: 205 47 - 808 AG SPAK, Belfortstr. 8, 8 München 80.
@ Reader zur Psychiatrie und Antipsychiatrie, Band 2 (М 41), (u.a.
zu "Gefühlstherapien u. Therapieboom", "Sozialpsychiatrie u. Anti-
psychiatrie", "Marxismus, Psychoanalyse und franz. Diskurs",
207 Seiten. Bezug: 17.- DM (einschl. Porto) gegen Vorkasse: Post-
scheckamt München 205 47-808 AG SPAK Belfortstr. 8, 8 München 80.
78
@ Die Bedeutung offener Lernorte für die Jugendhilfe-Praxis, exem-
plarisch dargestellt am Haus der Jugend Hamburg-Niendorf und ent-
wickelt als Arbeitskonzeption, 113 S., Bezug über:
Henner Peinert, Schinkelstr. 3, 2000 Hamburg 60
@ Hilfe nur auf Krankenschein?
Stand der Diskussion um die Neuordnung der ambulanten Versorgung
- Psychotherapeutengesetz
- Ersatzkassenvertrag
- Alternative Modelle
Bezug gegen Voreinsendung von DM 2.50 bei DGSP, Postfach 1253,
3050 Wunstorf
Ф Ich erstelle meine Diplomarbeit über das Thema
Staatlicher Zivildienst als friedlicher Kriegsdienst, aufgezeigt
am Beispiel des Einsatzbereiches Behindertenbetreuung.
Ich suche daher Erfahrungsberichte von Zivildienstleistenden über
ihren Dienst, insbesondere von ZDLern, die in diesen Einsatzberei-
chen tätig waren oder sind!
Erfahrungsberichte an: Wolfgang Ortner, Paderbornerstr. 101,
46000 Dortmund 1, Tel.: 0231 - 594035
@ Literaturliste zur Heimerziehung d
Das Heilpädagogische Institut der Universität Freiburg/Schweiz
(Place du Collège 21) hat eine 12seitige Literaturliste herausge-
geben, die in Ergänzung zu den periodisch erscheinenden Zusammen-
stellungen von Zeitschriftenbeiträgen aus dem Bereich der Heimer-
ziehung Monographien, Sammelwerke, Tagungsberichte und Dokumentat1o-
nen erfaßt. Titel: "Literatur zur stationären Jugendhilfe (Heimer-
ziehung) - Monographien, Sammelwerke, Tagungsberichte, Dokumenta-
tionen".
© Sozialtherapie Kassel, Verein zur Rehabilitation psychosozial
Geschädigter, 3500 Kassel, Motzstr. 3 - Wir bieten ап:
- Erfahrungsberichte aus der Arbeit in zwei therapeutischen Wohn-
gemeinschaften der "arbours association", London, ca. 50 Seiten
Din A 4, Preis: 6,-- DM plus 2.-- DM Porto
- Uber Systeme der menschlichen Verstiimmelung (eine Untersuchung
iiber die Bundeswehr) I. Teil: die Sprache der Bundeswehr und ihre
Funktion, ca. 100 Seiten Din A 4 (mit Collagen), Preis: 10.-- DM
plus 2.- DM Porto
Überweisungen bitte auf unser Konto Nr. 024232 bei der Stadtsparkas-
se Kassel
@ Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. Postfach 1149, 5300 Bonn
Zentrale Fortbildung der Arbeiterwohlfahrt - Fortbildungsprogramm
2. Halbjahr 1980 anfordern.
© Tagung "Sozialpsychiatrie und Sozialrecht"
Diese Tagung wird voraussichtlich von
Montag, den 5.1.1981 11.00 Uhr bis Mittwoch, den 7.1.1981 16.00 Uhr
in der Evangelischen Akademie Rheinland-Westfalen, Haus Ortlohn,
Berliner Platz 12, 5860 Iserlohn stattfinden.
Anmeldungen bitte an die DGSP - Bundesgeschäftsstelle, Postfach 1253,
305 Wunstorf.
79
@ Lernen geht auch anders, Reader zu Alternativ-Schulen und Alter-
nativ-Päd. (М 39) - Inhalt u.a.: Antipädagogik, Waldorf-Päd.
Makarenko, Montessori-Päd., Freinet-Päd. Bemposta, Italienische
Alternativmodelle, Summerhill, Tvind-Schulen, Alternativschulen in
den USA, Kollektiverziehung in China, Erziehungskonzept у. Paulo
Freire, Auroville, Indien, Deutsche Alternativmodelle - 210 Seiten,
Bezug: 17.- DM (einschl. Porto) gegen Vorkasse:
Postscheckamt München: 205 47-808 AG SPAK, Belfortstr. 8, 8 München
80.
Auswertungen des "Musikfestes der Zigeuner"
der Medien-Cooperative wurden zwei Dokumenta-
eranstaltung zusammengestellt, die bei
Adressen erhältlich sind:
@ Dokumentationen und
In Zusammenarbeit mit
tionen und Auswertungen der V
den im folgenden angegebenen
- Die Network-Medien-Cooperative, Hallgartenstraße 69, 6000 Frank-
furt hat in Zusammenarbeit mit uns einen Kassetten-Set "Das Musik-
fest der Zigeuner" mit 2 1/2 Stunden Musik, Original-Interviews
und Statements im Mitschnitt, dazu ein Büchlein von 56 Seiten mit
Bildern und Texten produziert. Der Preis: DM 22.80 plus Porto
(Bestellzettel liegt bei).
- Das Heft "Musikfest der Zigeuner", das im Rahmen unserer Reihe
'Organisationsmodelle kirchlicher Erwachsenenbildung (abgekiirzt
OKE) erschienen ist, legen wir kostenlos (samt Original-Programm-
heft) bei.
Weitere Bestellungen (gegen eine Schutzgebiihr von DM 8.--) sind
an unsere Adresse zu richten.
ө "Soziale Infrastruktur" - iiberregionale Treffen fiir Stadtteil-
gruppen ~
14. - 16.11.80 Katlenburg b. Kassel, Auskunft: Hardy Valier,
Anmeldung: Geschäftsstelle München, Teilnehmerbeitrag ca. 25.- DM.
entrum-Zusammenschlüsse -
ө 8. Bundestreffen der regionalen Jugendz
Stand und Entwick-
Überregionale Zusammenarbeit der Jugendzentren,
lung - 14.-16.11.80 Roßdorf b. Darmstadt,
Auskunft und Anmeldung: Tiedeke Heilmann, TN-
(25.- DM).
Beitrag: 30.- DM
in Wohngemeinschaften -
Gedanken zur täglichen Praxis in der
WG-Arbeit, Verhältnis von Finanzierung und pädagogischer Arbeit,
Beurteilung der WG-Tendenz Außenwohngruppen von Heimen -
21.-24.11.80 Ulmbach/FFM, Auskunft und Anmeldung: Koordinierungs-
stelle (KoSt) Teilnehmerbeitrag 30.- DM.
@ Fortbildungstagung für Berater
jberprüfung der konzeptionellen
n nach der Bundestagswahl
@ Perspektiven der Umweltinitiative
Auskunft und Anmeldung:
28.-30.11.80 gepl. Nähe Frankfurt/M.,
Geschäftsstelle AG SPAK München.
@ Seminar: Bewußtseinsbildung in Bürgerinitiativen " 14.-16.11.80.
Nähere Informationen: AG SPAK (AK Freire) Belfortstr.
80
8, 8 Miinchen 80.
INFORMATIONSDIENST INFORMATIONSDIENST
SOZIALARBEIT SOZIALARBEIT
MATERIALIEN
ZUR
SOZIALHILFE — AKTION
Zum loo-jährigen Bestehen des Deutschen Vereins z Schwerpunktthema:
und zum 69. Deutschen Fürsorgetag in Frankfurt FRAUEN UND SOZIALARBEIT
Arbeitsfeldmaterialien HUMANISIERUNG
Sozialbereich oT
zum Sozialbereic GESUNDHEITSWESENS
SOZIALARBEIT
ZWISCHEN
BÜROKRATIE UND KLIENT
olf
ce
Dokumente der Sozialarbeiterbewegung
Sozialpadagogische Korrespondenz
1969 - 1973
(reprint)
Verlag 2000 Offenbach — Preis sehn Mark
Wollen Sie mehr wissen über die Informationsdienste und Arbeitsmateria-
lien aus den Arbeitsfeldern Schule, Sozialarbeit und Gesundheitswesen?
Haben Sie Interesse an aktuellen Themen: Ökologie, Marxismusdiskus-
sion, Arbeitskämpfe?
Dann fordern Sie unseren Verlagskatalog an und lassen Sie sich auch Pro-
beexemplare unserer Monatszeitungen "links" und "express" zuschicken.
Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 605 Offenbach 4