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Full text of "Informationsdienst Sozialarbeit (1972 - 1980)"

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INFORMATIONSDIENST 
SOZIALARBEIT 


DER KAPIALISMUS 


EBT AUCH VON DER 
BEZIEHUNGSARBEIT 


se. und wer springt einfür die Hausfraven in dieser Funktion 2 
— Sosialarbeiterinnen- &’Die Weiblichsten Traven der Nation’ 





Schwerpunktthema: 
Q FRAUEN UND SOZIALARBEIT 


Offenbach im Juni 1979 
Doppelnummer - Preis DM 8,-- 





NFU 


IRSC 





INFO SOZIALARBEIT, HEFT 23 


INHALT 
Vorbemerkung zu dieser Ausgabe 3 


Conni Lang/Claudia Wieland, Tübingen 
Geschichte der Frauenbewegung und Sozialarbeit 7 


Friederike Harter/Marlies Paasche, Tübingen 
Weiblichkeit als Beruf 15 


Gertrud Meuth, Stuttgart 
Arbeit von Frauen in der Gewerkschaft und gewerkschaft- 


liche Frauenarbeit 2 


Rosemarie Raab, Hamburg 
Frauenarbeit im Stadtteil Wilhelmsburg 33 


Astrid Hochwald, Hamburg 
Gruppenarbeit mit alleinerziehenden Müttern und Ehefrauen 4] 


Annemie Blessing, München 
Das Frauentherapiezentrum München 49 


Projektgruppe "Arbeitslose Mädchen" ,München 
Neue Wege statt Rückzug 59 


Karin Berger/Lioba Mölbert/Christa Rödel, Lüneburg 
Arbeitslose Mädchen - ein Seminarbericht 65 


Ilse Hans, Hamburg 
Erfahrungen in der Arbeit mit Mädchen aus Arbeiterfamilien 73 


Susanne Maurer, Tübingen 


Buchbesprechung 79 
Frauengruppe Kinderhaus 

Männer und Frauen im Kinderhaus - 

Ansprüche, Verhalten, Zusammenarbeit 83 
Janni Hentrich/Elke Schmid, Tübingen 

Familienpolitik - Frauen zwischen Herd und Fliessband lol 


Horst Bossong, Bremen 
Ärger mit der Jugendbürokratie 
- Zum Streit um das Subsidaritätsprinzip - 115 


ÖTV Kreisverband Stuttgart/Betriebsgruppe AWO 
Kollegen kämpfen um die 40 Std.-Woche 
AWO will Lehrlingsheim schließen 


"Es bleibt die Selbstverwaltung in Quaregnon" 
- Frauen kämpfen um ihre Arbeitsplätze - 


Materialien, Hinweise,Stellenangebote/-suche 


Stellenanzeigen 


MARXISMUS 
UND 
NATURBEHERRSCHUNG 

















Beiträge 
zu den 
Ersten Emst-Bloch-Tagen 
Tübingen 1978 


Verlag 2000 10,— DM 


Bezug: Verlag 2000 GmbH, Postfach 591, 6050 Offenbach 4 





129 


138 


142 


7a 


VORBEMERKUNG ZU DIESER AUSGABE 


Die Idee,uns einmal publizistisch mit dem Thema "Frauen und Sozialar- 
beit zu beschäftigen,entstand im Frühjahr 1978 auf einem Arbeitsfeld- 
treffen des Arbeitsfeldes Sozialarbeit bei der Planung zukünftiger 
Schwerpunktthemen, die im Info Sozialarbeit behandelt werden sollten. 
Wir-Frauen aus der Fachgruppe Sozialarbeit im SZ Tübingen - haben 
die notwendigen organisatorischen und redaktionellen Arbeiten bis 

zur Fertigstellung übernommen. 

Wir haben Kontakt aufgenommen zu anderen im Sozialbereich arbeiten- 
den Frauen aus Hamburg, München und Stuttgart. 

Im Dezember 1978 trafen wir uns, diskutierten über unsere Erfahrun- 
gen in der Sozialarbeit und unsere Erwartungen, wie das Thema "Frauen 
und Sozialarbeit" im Rahmen des Info abgehandelt werden sollte und 
planten die einzelnen Artikel. Die weitere redaktionelle Arbeit woll- 
ten wir dann über Post und Telefon in Absprache mit den anderen Frau- 
en erledigen. Ein schwieriges Vorhaben - das auch aus Zeitgründen 
nicht ganz durchführbar war. Daß es uns als Studentinnen leichter 
fällt, die Koordinations- und Redaktionsarbeiten zu machen, liegt 
daran, daß wir eher als Berufstätige diese Zusatzarbeit leisten und 
auch in unser Studium integrieren können. 


Die Motivation dieses Info zu erstellen, steht im Zusammenhang mit 
unseren Erfahrungen in der Frauenbewegung. Als Studentinnen der So- 
zialpädagogik sind wir in unserem Studium ständig mit der Tatsache 
konfrontiert, daß sehr viele Frauen dieses Fach studieren, ohne daß 
sich die im Studienablauf und den -inhalten widerspiegelt. 

Die Geschichte der Sozialarbeit wird uns immer als Geschichte großer 
Pädagogen dargestellt; in den Theorien z.B. über Heimerziehung, 
Jugend- und Kinderarbeit wird (unausgesprochen) immer von einer männ- 
lichen Zielgruppe ausgegangen, und auch die praktische Arbeit be- 
zieht sich auf die sozial "auffälligen" Betroffenen, die fast immer 
Männer und Jungen sind. 

Unsere Beschäftigung mit der Geschichte der Frauenbewegung und der 
Geschichte der Sozialarbeit hat uns deutlich gemacht, daß seit der 
Entstehung der Sozialarbeit Frauen eine wesentliche Rolle gespielt 
haben und auch heute noch spielen. Denn sie waren und sind immer die- 
jenigen, die die Arbeit "vor Ort" mit den "Klienten" leiste(te)n, 
während Männer die gehobeneren Schreitischposten einnahmen (einneh- 
men). Diese Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung, mit geschlechts- 
spezifischer Erziehung und Frauenrolle in dieser Gesellschaft zeigte 
uns, daß es sicherlich kein Zufall ist, daß gerade Frauen in der È 
zialarbeit tätig sind bzw. diese Ausbildung wählen. 

Diese Aspekte gehen nicht in unsere Ausbildung ein, sodaß wir ge- 
zwungen sind, uns selbständig mit den Fragen nach Charakter, Inhalt 
der Sozialarbeit und Berufsmotivation von Frauen zu beschäftigen. 
Diese Zusatzarbeit bedeutet für uns die Aufarbeitung unserer eige- 


-3- 


nen Geschichte, nicht als individuelle, sondern gerade als Frauen” 
geschichte. 


Der Erfahrungsaustausch mit anderen Frauen, die in ähnlicher Richtung 
denken und arbeiten, gibt uns immer wieder Mut, weiterzumachen und 
zeigte uns auch die Notwendigkeit, unsere Erkenntnisse einer breite” 
ren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Anstöße zu geben und zu be- 
kommen. In Tübingen bedeutet dies zum Beispiel für uns, Erarbeitetes 
und Fragestellungen in Seminare, in die Fachschaftsinitiative (Orga- 
nisationsgremium der politsch aktiven Studenten/innen am Fach Pädago- 
gik) und in Politische Gruppen reinzutragen. P 
Auch bei unserer Arbeit in den politischen Gruppierungen merkten WIT, 
daß frauenpolitische Fragen nicht selbstverständlich einbezogen sind, 
sondern oft unter dem Mäntelchen der Objektivität von Analysen aus” 
gegrenzt bleiben. 

Diese Erfahrungen bedeuten, das herrschende Politikverständnis infrage” 
zustellen. Das ist ein langer, schwieriger Weg, Frustrationen blei- 
ben nicht aus. Aber wir haben schon das Gefühl, den notwendigen Anz 
fang hinter uns gebracht zu haben, nicht zuletzt mit diesem Info. 


Neben der Einflußnahme auf die Studiensituation und die Arbeit in 
politischen Gruppierungen ist es uns wichtig, mit diesem Info bei al- 
len im Sozialarbereich tätigen Frauen Auseinandersetzung über unse” 
re Berufssituation und Berufsrolle beizutragen. Sollen im Reproduk- 
tionsbereich politische Bewußtseinsprozesse initiiert werden, für uns 
besonders auch unter dem Gesichtspunkt der Frauenproblematik, SO 
drängt sich die Frage auf: "Wie sozialarbeiterisch ist die heutige 
Frauenbewegung?" 

Läuft nicht gerade auch das Aufgreifen sozialer Probleme und die Ein- 
richtung selbstorganisierter Projekte durch die Frauenbewegung Gefahr 
im öffentlichen bzw. staatlichen Interesse funktionalisiert zu werden? 
Füllen die für die Frauenbewegung fortschrittlichen Projekte (z.B. 
Frauenhäuser) nicht bestimmte "soziale Marktlücken", die nahtlos die 


institutionelle Sozialarbeit ergänzen, ohne daß dies von den Frauen 
beabsichtigt ist? 


In einem eher theoretischen Teil werden Rolle und Funktion der S0- 
zialarbeiterinnen behandelt. Auseinandergesetzt wird sich mit der Ge 
schichte der Sozialarbeit und der Frauenbewegung, um insbesondere 

aus den Fehlern gerade der bürgerlichen Frauenbewegung zu lernen und 
auch ein Bewußtsein der eigenen Geschichte zu entwickeln. 

Die "Weiblichkeit" als Inhalt der Sozialarbeit aufzuarbeiten, ist not“ 
wendig, um ihren Stellenwert für eine feministische Politik (Parter 
lichkeit für Frauen) zu bestimmen, ohne jedoch der Gefahr der Selbst- 
aufopferung zu erliegen. Eine andere Seite unseres Berufes ist die 
Lohnarbeiterexistenz, die es notwendig macht, sich mit der Gewerk- 
schaftspolitik zu beschäftigen und auch die Schwierigkeiten aufzu- 
zeigen, die sich Frauen in einer aktiven Gewerkschaftsarbeit entge” 
genstellen. 

Praktische Beispiele einer bewußt parteilichen Sozialarbeit sind die 
Erfahrungsberichte aus der Arbeit mit Müttern, Ehefrauen und arbeits” 
losen Mädchen: aus dem Therapiezentrum München, der Stadtteilarbeit 


in Hamburg, Seminar- und Jugendelubarbeiten in München, Lüneburg und 
Tübingen. 


Die Erfahrungen in einem Kinderhaus beziehen sich auf die Geschlechts- 
rollenproblematik, die sich innerhalb eines Teams und in der Kinder- 
erziehung deutlich niederschlägt. Den Schluß bildet ein Artikel über 
die Familienpolitik unter dem Aspekt der Frauenerwerbstätigkeit und 
ein Beitrag zum Streit um das Subsidaritätsprinzip am Beispiel des 
Kinderhauses Ostertor in Bremen. Aktuelle Berichte und Hinweise aus 
der Sozialarbeit ergänzen das Schwerpunktthema. 

Wir sind uns darüber im klaren, daß uns die Verbindung zwischen dem 
theoretischen Teil und den Erfahrungsverichten nicht ganz gelungen 
ist, sodaß die grundlegenden Probleme, die sich Frauen in der Sozial- 
arbeit stellen, in den Praxisberichten nicht genug spürbar werde. Die- 
se Verbindung herzustellen ist damit eine Aufgabe der Leserinnen und 
Leser, da freut ihr euch, gell? 


Wir fänden es gut, Rückmeldungen über das Info zu erhalten und wären 
euch dankbar für Zuschriften jeglicher Art. 


Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung zur abgedruckten Dokumentation: 
die Dokumentation hat erstmal nichts mit dem übergeordenten Thema zu 
tun. Wir halten es aber trotzdem für notwendig, dieses Paradebei- 
spiel eines Arbeitskonflikts der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 
Wir fänden es gut, wenn ihr euch mit den Betroffenen solidarisiert! 


Viel Spaß beim Lesen 


Eure Redaktion 





ID hesen SIUNE FPAUEN.... 


- 








REIHE ROTER PAUKER 
















REIHE ROTER PAUKER, HEFT 16 
Materialien für die Unterric htspraxis 







m Sozialistische Zeitung 





bringt monatlich auf etwa 28 Seiten Informationen ng ATORND: 

) \EUEN on für die politische Arbeit, Beiträge zur sozialistischen Theo- 

en mer Stadi N E U l N fe und Biraispie, Berichte aus der Linken international Ian: 
SCHULERÖFFENTLICHKEIT THEMEN it na ln a RL 






Praxis und für Praxis der Theorie 


Einzelpreis DM 2 
= Bezugspreis, Jährlich, DM 22,- + DM 6.- Versandkosten 


REIHE 
GESCHICHTE DER 
ARBEITERBEWEGUNG 
Heft 3 
SOZIALISTISCHE 
LINKE 

NACH DEM KRIEG 
-Beiträge 






























INFO SCHULE 
Heft 35 a 
“UMGANG MII 

















FASCHISMUS” 
(104 S./DM 7,--) 














ROSTA -Fenster und Schablonendruck 






REIHE 
ROTER PAUKER 
Heft 15 

MEDIENPRAXIS 
-Öffentlichkeit für 
Schüler u. Lehrlinge- 
(104 Seiten, DM 7,- 





von Fritz Lamm u.a.- 
(240 Seiten, DM lo,--) 























REIHE aM 
POLITISCHES THEATER 









TAL 
gungen-Zentrales Problem gewerkschaft- 





licher Politik 


»Der Freiheit eine Gasse« 
(96 Seiten, DM 6,--) 


Dokumentation zur Zensur im Theater 












ARBEITSFELDMATE RIALIEN 
ZUM SOZIALBEREICH 


SOZIALARBEIT 


ZWISCHEN BÜROKRATIE UND KLIENT 


Reprint der Sozialpäd.Korrespondenz 1969-1974— 
(200 Seiten, DM lo,--) 













INTERNATIONALISMUS RUNDBRIEF 
Heft 4 ar Teer 
THEMA: “REALER SOZIALISMUS” ORTE ea 
(Din A4 , 48 Seiten, DM 4 ) = 


y- 








Postfach 591, 6050 Offenbach 4 





Bitte, fordern Sie unseren ausführlichen Verlagsprospekt an, 
Verlag 2000 GmbH des Sozialistischen Büros, 





Claudia Wieland/Conni Lang 


GESCHICHTE DER FRAUENBEWEGUNG UND SOZIALARBEIT 


1. ZUSAMMENHANG VON FRAUENROLLE UND SOZIALARBEIT 


Die Frage nach dem strukturellen Zusammenhang von Sozialarbeit und 

Frauenrolle drängt sich uns auf, wenn wir sehen, daß 

© der Anteil von Frauen in sozialarbeiterischen Berufen (67 %) und 
wieder zunehmend in den Ausbildungsstätten sehr hoch ist 

© daß Frauen der überwiegenden Teil der Klienten ausmachen - in be- 
stimmten Bereichen haben wir es fast ausschließlich mit Frauen zu 
tun: z.B. in der Familienfürsorge, Ehe- und Erziehungsberatung, 


Therapie... 


und wenn wir uns klar machen, daß 

© die Frauen primär Reproduktionsarbeiterinnen sind, d.h. daß sich 
ihre gesellschaftliche Frunktion und ihre Identität darüber be- 
stimmt, daß sie andere Menschen (den Mann, die Kinder) versorgen 
und wiederherstellen, 

® daß die Sozialarbeit im Reproduktionsbereich "Lückenbüßerfunktion" 
hat, indem sie dort eingreift, wo "die Familie" (wer ist das an- 
deres als die Frau?) versagt, wo Probleme anstehen, die in der 
"Privatheit" nicht gelöst werden können und in Widerspruch geraten 
zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. 


und wenn wir uns bewußt werden, 
© über unsere Motivation, diesen Beruf zu wählen: "Umgang mit Men- 


schen", "helfen wollen", Beziehungsarbeit als "erfüllender" Beruf 

© daß dies der weiblichen Persönlichkeitsstruktur entspricht, wie wir 
sie entsprechend der gesellschaftlichen Rolle der Frau übernom- 
men haben: Einfühlungsvermögen, Emotionalität, Selbstlosigkeit, 
Personenkonzentriertheit, "Aufgehen" im Helfen und Gebrauchtwerden 
von anderen... 

© daß eben diese Eigenschaften in der Sozialarbeit ausgebeutet und 
funktional sind, nicht zuletzt um die objektive Funktion von So- 
zialarbeit zu verschleiern und die Illusion zu schüren, "daß da 


wer ist, die/der helfen will". 


Es ist wohl kein Zufall, 
© daß die neue Frauenbewegung sich aus einem hohen Anteil von Frauen 


zusammensetzt, die in sozialen Berufen arbeiten (werden), 

© daß die heutige Frauenbewegung Sozialarbeit macht, oft unbezahlt: 
in Beratungsstellen (FZ), Gesprächsgruppen und Frauenhäusern 

© daß es hierbei Parallelen in der Geschichte der Sozialarbeit und 


Frauenbewegung gibt. 


Die Geschichte hat gezeigt, daß das politis R 
S F che P å 
bewegung durch und in die Sozialarbeit Kanalisfert wurde” irde “im rg 
. araus 


-7- 


zu lernen und um nicht in ähnlicher Weise unter Aufgabe der politischen 
Ziele den Weg der Integration ins System zu gehen und dem Staat sozial- 
arbeiterische Maßnahmen abzunehmen, wollen wir einen Beitrag zu die- 
sem noch lange nicht ausdiskutierten Problem geben, indem wir den hi- 
storischen Zusammenhang von Frauenbewegung und Sozialarbeit in ihrer 
Entstehung darstellen. 


2. GESCHICHTE DER SOZIALARBEIT UND FRAUENBEWEGUNG 


Mit dem aufkommenden Kapitalismus ging die Auflösung der alten Fami- 
lienform als Arbeits- und Lebenszusammenhang einher: die Einheit von 


Produktion und Reproduktion löste sich in zwei voneinander getrennte 
Bereiche: der Mehrwert wird in der öffentlichen Produktion der Fabrik 
in die Tasche eines Produktionsmittelbesitzers durch die Lohnarbeiter 
erwirtschaftet, die sich im privaten Bereich der Familie mit dem Lohn 
und durch die Arbeit der Frau reproduzieren. 

Die Einbeziehung der Frau in die Produktion, die grenzenlose Ausbeu- 
tung aller zur Verfügung stehenden Arbeitskrfäte trug dazu bei, daß 
die Repdroduktion der Arbeitskräfte nicht mehr gewährleistet war, die 
Sterblichkeit und Verwahrlosung der Kinder zunahm, die Alten und 
Kranken nicht mehr versorgt waren etc. Dies führte zur notwendig ge- 
wordenen Erweiterung der ehrenamtlichen Fürsorgetätigkeit, die bisher 
von Männern geleistet worden war. Die höheren Anforderungen an die 
zum öffentlichen Anliegen gewordenen Reproduktionsarbeit (Sozialar- 
beit) führten zum Bedarf an qualifizierten Fachkräften. 


Um die Reproduktion der Ware Arbeitskraft auch langfristig zu sichern, 
wurde als sozialstaatliche Maßnahme die Bismarcksche "Sozialgesetz- 
gebung" (Kranken-, Unfall- und Altersversorgung) eingeführt; Ziel die- 
ses Sozialversicherungswerkes war es auch, die Sozialstaatsillusion 
zu schüren, die Klassenverhältnisse zu verschleiern und quasi als 
"Entschädigung" zu den Sozialistengesetzen von 1878 anzubieten: 

"Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und wenn nicht eine Menge Leu- 
te sich vor ihr fürchteten, wäre diese Sozialpolitik nie zustande ge- 
kommen" (Hollstein/Meinhold, S. 75) 

ne sa ie 

Die bürgerliche Frauenbewegung 

EA NE 

Die zunehmende Kapitalisierung der Produktion zerstörte auch die Le- 
bensgrundlage der bürgerlichen Mittelschicht und des Handwerks. Die 
Zünfte kämpften um ihr Überleben und weite Teile diese Bevölkerungs- 
schicht wurden proletarisiert. Die Großhaushalte lösten sich ange- 
sichts der wirtschaftlichen Not auf, und damit war die traditionel- 
le Basis der sozialen Stellung der Frau zerstört. Für viele Frauen 
war es notwendig geworden, eine Erwerbstätigkeit zu ergreifen, und 
ledige Frauen verdingten sich oft als Dienst- oder Kindermädchen. 
Viele wurden Prostituierte, denn nicht einmal die Lohnarbeit konn- 

te ihnen das Überleben sichern, da sich ihr Lohn als "Zuverdienst" 
zum Lohn der Männer bemaß. Sie waren von nahezu allen Berufen ausge- 
schlossen und so forderte die bürgerliche Frauenbewegung das "Recht 
auf Arbeit” und Bildung, wie ökonomische, rechtliche und politische 
Gleichberechtigung. Dies ist auch auf dem Hintergrund der Forderungen 
der bürgerlichen Revolution ("Freiheit, Gleichheit") zu sehen und dem 


preußischen Vereinsgesetz, (Verbot der Vereinsmitgliedschaft für 


=8- 


Frauen), das nur ein Ausdruck ihrer allgemein rechtlosen und unter- 
drückten Lage war. Sie rechneten sich als Trägerinnen von Institu- 
tionen mehr politischen Einfluß aus - um u.a. das Frauenwahlrecht 
durchzusetzen -, drängten so in den neuen Beruf der Sozialarbeit, 
für den sie sich auch durch ihre Eigenschaften als Frauen wesens- 
mäßig berufen fühlten und gründeten die ersten sozialen Frauen- 
schulen. 


Für den Staat waren damit zwei Fliegen auf einmal geschlagen, der Ar- 
beitsmarkt der Männer war beruhigt, da die Konkurrentinnen ausge- 
schaltet waren, und die Sozialarbeit wurde kostensparend zu niedri- 
gen Löhnen durch den hohen Persönlichkeitseinsatz der Frauen getra- 
gen, was zur Verschleierung der brutalen Ausbeutungsverhältnisse und 
zur Kanalisierung des politischen Potentials der Frauenbewegung bei- 
trug. 

Die bürgerliche Frauenbewegung begriff nicht die allgemeinen Grund- 
lagen der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse, und erhoffte 

sich und den "notleidenden Schwestern" (den proletarischen Frauen) 
eine Verbesserung ihrer Lage durch formale Gleichstellung und 'Re- 
formen'. Sie erkannten ebensowenig die klassenspezifische und besonde- 
re Ausbeutung der Proletarierinnen, die sie zu organisieren suchten 
und mit Bildungsangeboten langweilten. "So waren sie wohl bereit, 

den Arbeiterinnen zu 'helfen', aber sie verstanden nicht, daß es für 
sie nur eine wirksame Hilfe gab: ihre Organisierung gemeinsam mit 

den Klassengenossen zum Kampf gegen den Kapitalismus und seinen Staat, 
seine soziale Ordnung" (Clara Zetkin, $S.57). Im Gegenteil, sie kamen 
damit dem Anliegen des Staates entgegen, '"Klassenschranken zu über- 
winden' und durch die Anteilnahme, die Individualisierung der Not 

und Notlinderung die realen Verhältnisse zu verschleiern. 

Teile der bürgerlichen Frauenbewegung hatten auch (sehr im Sinne der 
Sozialarbeit) vor allem das Anliegen, die Frauen besonders der Unter- 
schicht in der sich neu stellenden Frauenrolle zu unterweisen und sie 
auf die damit verbundene Ideologie festzulegen. 


III 
Die sozialistische Frauenbewegung 
LEO O L l 


Die sozialistische Frauenbewegung glich sich unter Aufgabe ihrer so- 
zialistischen Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung in der Sozialar- 
beit an. Um zu zeigen, wie es dazu kommen konnte, gehen wir kurz auf 
die dafür ausschlaggebenden Momente der Bewegung ein. 

Die Frauenbewegung war ein Teil der durch die kapitalistische Umwäl- 
zung der Verhältnisse entstandenen Arbeiterbewegung. Die Frauenfrage 
wurde dementsprechend als ein Teil der allgemeinen sozialen Frage ver- 
standen, die besondere Lage der Frauen als Reproduktionsarbeiterinnen 
außerhalb der Produktion wurde nicht berücksichtigt. 

Ziel der Frauenbewegung sollte es sein, durch die massenhafte Einbe- 
ziehung der Arbeiterfrauen in die Produktion sie ökonomisch unabhän- 
gig von ihrem Ehemann zu machen, und aufgrund der gleichen Erfahrun- 
gen in der Fabrik sollte sich ihr Klassenbewußtsein derart entwickeln, 
daß sie gemeinsam mit ihren Klassengenossen den Klassenkampf führen. 
Damit wäre die Befreiung der Frau als Teil der allgemeinen Befreiung 
des Proletariats gesichert. 

Karl Marx prophezeite den durch die Lohnarbeit der Frau bedingten Zer- 
fall der proletarischen Familie als zerstörerisches Prinzip der kapi- 
talistischen Gesellschaft und zwar in dem Sinne, daß sich die gesell- 


-9- 





LAJ 
4 vYoch 
7 


PET 
/onnstu = x 
Zennstungentagkämpferten! 


schaftlichen Widersprüche durch die Verelendung der Individuen der- 
art zuspitzen würden, daß sie zwangsläufig zur Umwälzung der gesell- 
schaftlichen Verhältnisse drängen würden. 

Für die revolutionäre Aufgabe sollten die Frauen durch "Aufklärung" 
an die Seite und auf das Niveau des klassenbewußten Arbeiters geführt 
werden. Doch leider waren die Klassengenossen nicht "aufgeklärt! ge- 
nug, ihre Privilegien dafür aufgeben zu wollen: sie fürchteten um 

ihr letztes "Privateigentum", die Ehefrau, und fürchteten, daß durch 
die Frauenbewegung die häuslichen Zustände in "Unordnung" gerieten. 
Außerdem sahen sie die Frauen als Lohndrückerinnen und so forderten 
z.B. die Lassaleaner 1865 zum ersten Mal die Abschaffung der Frauen- 
arbeit. Gegen diesen und den harten Widerstand auch in der Gewerk- 
schaftsbewegung setzte sich erst nach und nach die Erkenntnis durch, 
daß nicht die Frauenbarbeit selber, sondern die Ausbeutung der Frau- 
enarbeit durch den Kapitalisten lohndrückend sei, und die Konkurrenz 
geschaffen werde. An dem Faktum der Frauenarbeit kam man nicht mehr 
vorbei und so setzte sich u.a. Clara Zetkin dafür ein, daß die Frau- 
en mit den Männern den Klassenkampf gegen die kapitalistischen Ver- 
hältnisse führen sollten, und zusammen mit den fortschrittlichen 
Kräften (Marx, Engels, Bebel) suchte sie die Gleichstellung der Frau- 
en auch in der Arbeiterbewegung durchzusetzen. 


Nachdem, bedingt durch die Abschaffung der Sozialistengesetze 1889 
die Frauen als Wählerpotential für die Sozialdemokratische Partei 
interessant wurden, wurde 1891 auf dem Erfurter Parteitag das Wahl- 
recht für die Frauen als Forderung aufgenommen sowie die Forderung 
nach Abschaffung aller die Frauen benachteiligenden Gesetze. Innerhalb 
der Partei wurden Frauenorganisationen gegründet, ebenso in den Ge 
werkschaften, die ein Jahr später verpflichtet wurden, die Frauen als 
gleichberechtigte Gewerkschaftsmitglieder aufzunehmen. In der Praxis 
weigerten sich jedoch noch zahlreiche Einzelgewerkschaften, die sich 
weiterhin gegen die Frauenarbeit organisierten. 

In der darauffolgenden Zeit, bis 1913, wurde verstärkt Frauenagita- 


tion betrieben, wobei jedoch alle über die Frauenerwerbstätigkeit 
hinausgehenden Forderungen als bürgerlich’ abgetan oder als Spal- 


tungsversuch erklärt wurden. Die Doppelbelastung der Frau durch Be- 
ruf und Haushalt wurde nicht erkannt, ihre Stellung in der Familie 
bzw. die Familienform wurde nicht in Frage gestellt und daher für 

und von den Frauen auch keine besonderen Forderungen erhoben. Zur 
Hauptaufgabe der Frauen innerhalb der Partei wurde Wahlhilfe, was 
bereits den Weg der Integration in die bürgerliche Gesellschaft ebne- 
te, die zum Parlamentarismus führte. Die Wandlung der SPD von einer 
revolutionären zur staatstragenden Partei führte nach der Bewilli- 
gung der Kriegskredite zu ihrer Spaltung. Diese Spaltung der Partei 
schwächte nicht nur die Arbeiterbewegung, sondern auch die Frauen- 
bewegung. Nachdem Clara Zetkin und die anderen fortschrittlichen Frau- 
en mit dem linken Flügel aus der Partei ausgetreten waren, war die 
Frauenpolitik geschwächt und veränderte sich. 





Die juristische Gleichstellung und das gewährte Frauenwahlrecht wirk- 
ten demobilisierend, und mit dem Einzug der Frauen ins Parlament wa- 
ren die Forderungen der Frauen genausowenig erfüllt wie die der So- 
zialisten allgemein. 

Die Frauen der reformerischen Partei hatten bald kaum mehr etwas ge- 
mein mit den früheren Vertreterinnen der sozialistischen Emanzipa- 


-]1- 


tionstheorie, was sich am Beispiel der Gründerin der Arbeiterwohl- 
fahrt Marie Juckacz, deutlich machen läßt. Sie war 1919 die erste 
Frau auf der Natioanlversammlung in Weimar. Sie selbst schrieb 1919: 
"Die Revolution hat die Frauen hineingeführt in den Parlamentarismus. 
Dadurch sind der Bewegung wertvolle Kräfte entzogen." Gerühmt wird 
sie auf der 50-Jahrfeier der AWO mit ganz anderen Tönen: "Mit der 
Rednerin Marie Juckcz tritt uns ein neuer, ein ganz anderer Typ ent- 
gegen, der Typ der Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger 
Selbstverständlichkeit wahrnimmt. Es ist die Mütterlichkeit, die 
frauliche Menschenliebe, die mit Marie Juckacz in der Volksvertretung 
das Wort ergreift. Angesichts einer solchen Erscheinung, die erfreu- 
licherweise nicht vereinzelt bleibt, muß die Witzelei der Spießbür- 
ger, die in früheren Zeiten den Fortschritt der Frauenbewegung be- 
gleitete, einer stummen Verlegenheit Platz machen." (Dokumentation 
zum 50-jährigen Bestehen der AWO). 

Die Witzeleien der Parteigenossen in der Zeit der starken Frauenfrak- 
tion, die Diskriminierung der aktiven Frauen, denen oft vorgeworfen 
wurde, sie seien zu querulant, leisteten zu wenig und sähen den Fort- 
schritt ihrer Sache nicht genügend in Zusammenhang mit der allgemei- 
nen Entwicklung der Arbeiterbewegung, verstummten also dort wieder, 
wo sich die Frauen mit Berufung auf ihre alte Rolle in das patriar- 
chalische Herrschaftssystem wieder einfügten. Genau wie allgemein 
nach dem I. Weltkrieg die Frauen wieder auf ihre "wesensmäßige Be- 
stimmung" verpflichtet wurden, an den Herd oder in die sich verbrei- 
tende Sozialarbeit abgedrängt wurden, so war auch innerhalb der SPD 
die Erschließung eines spezifisch weiblichen Arbeitsgebietes die Pa- 
tentlösung für den "von den Frauen bedrängten Parteivorstand", um 
mögliche Radikalisierungen zu vermeiden. "Dem Drang der Genossinnen 


zur positiven Mitarbeit kommt die Einrichtung des Hauptausschusses 

für Arbeiterwohlfahrt entgegen" (Görlitzer Parteitag 1921). 

So entspricht dem Wandel der Sozialdemokratie zur Reformpartei die 
Wandlung der proletarischen Frauenbewegung zur sozialen Nothelferin. 
Das Zuschieben dieser Funktion, die Sozialarbeit, diente also dazu, 
"den Schaden für die Männer so gering als möglich" zu halten (Thönes- 
sen), sowie der Integration der Frauen in die bürgerliche Gesellschaft, 
aus der sie auszubrechen drohten. 





Aus der Geschichte lernen .... 





Wie wir sehen, gingen die Frauen beider Frauenbewegungen in der So- 
zialarbeit auf und ihre politischen Ziele dabei unter. Ein anderer 
Teil der bürgerlichen Frauenbewegung kümmerte sich in "unpolitischen" 
Frauenvereinen um Kunst, Kleidung und andere schöne Dinge. Wem fal- 
len da nicht die hennagefärbten Haare und lila Latzhosen ein, die 
Emigration in die "neue Weiblichkeit"... und die Unfähigkeit, unsere 
feministischen Inhalte, unsere Art zu leben, unsere Vorstellungen 
von "befreiten" gesellschaftlichen Verhältnissen den anderen Frauen 
zu vermitteln! 

Auch die neue Frauenbewegung findet sich in der Sozialarbeit wieder, 


und das ist eigentlich kein Wunder, da Frauen ihre primäre Funktion 
und Identität über den Reproduktionsbereich erhalten, und eine Frau- 


enbewegung an den sich dort manifestierenden Widersprüchen ansetzen 
kann. 


Die neue Frauenbewegung hat sich entzündet an Aktionen gegen die bür- 
gerliche Gesellschaft, ihrer Doppelmoral und der Festlegung auf die 
traditionelle Frauenrolle im Kampagnen gegen den & 218. Und heute ist 
sie Lückenbüßerin im Sozialbereich, Flickschusterin von Problemen, für 
die der Staat keine Lösungen anzubieten hat, h.B. Gewalt in der Ehe 
(Frauenhäuser, Beratung) oder Verhütungsproblematik. 

Dies war zunächst Anknüpfungspunkt, um über das studentische Milieu 
hinaus auch andere Frauen anzusprechen und für die Bewegung zu gewin- 
nen. Durch die aktuelle Not der Hilfesuchenden und der sich auf Grund 
ihrer Realität anders stellenden Problemlage und Perspektive (-losig- 
keit) kam es nicht zu dieser von sicherlich naiv gewünschten Verein- 
heitlichung von Frauen mit unterschiedlicher Klassenlage. Hier liegt 
auch eine der Parallelen zur bürgerlichen Frauenbewegung, deren Ver- 
suche, die Proletarierinnen in ihre Bewegung zu integrieren fehlge- 
schlagen waren. 

Stattdessen besteht die Gefahr, daß sich die linken Feministinnen in 
der Sozialarbeit, z.B. in den Frauenhäusern, verschleißen, und durch 
die starke Identifikation mit dem helfenden Beruf die Illusionen über 
den "Sozialstaat! schüren und die objektive Funktion der Sozialarbeit 
verschleiern helfen. Ihre Arbeit hat Gemeinsamkeiten mit der Hausar- 
arbeit: sie soll Schäden beheben oder lindern, die in einer abgetrenn- 
ten Sphäre(dem Reproduktionsbereich) ständig erzeugt werden; also um- 
gekehrt leistet die Sozialarbeiterin "öffentliche! Reproduktion als 
Reaktion auf den Verschleiß und die Zerstörung der Arbeitskraft und 
Person von Frauen in der Privatheit der Familie. Das erfordert auch 


Eigenschaften wie Emotionalität, ständige Bereitschaft, Arbeit ohne 
Anfang, Ende und Resultat etc. 


Von der Traufe in den Regen... 











Unsere individuelle Geschichte als weibliche Sozialarbeiterinnen oder 
solche, die es werden wollen, ist dadurch gekennzeichnet, daß wir dem 
"Nur''-Hausfrauen- und Mütter-Dasein eine Berufstätigkeit vorziehen, 
die uns ökonomisch erst mal unbabhängig von einem Mann leben läßt. 
Ähnlich wie die Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung such(t)en wir 
einen Beruf mit "Erfüllung", bei den meisten Frauen wohl unbewußt an 
der weiblichen Persönlichkeitsstruktur und der "Bestimmung" von Frau- 
en anknüpfend. Um einer Festlegung auf unsere '"Weiblichkeit' mit all 
ihren für die Sozialarbeit funktionalen Eigenschaften entgegenzuwir- 
ken, müssen wir klarmachen, daß "eine politisch-emanzipative Ver- 
änderung der Sozialarbeit und Sozialpädagogik ohne eine grundlegen- 
de Reflexion der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Frauenrolle und 
der weiblichen Persönlichkeitsstruktur, die in der Sozialarbeit funk- 
tionalisiert und ausgenutzt werden, nicht möglich ist". (K.Walser, 
Neue Praxis 1/76, S. lo). 

Diese grundlegende Kritik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung 
und der Frauenrolle ist von den früheren Frauenbewegungen ebensowe- 
nig geführt worden wie die gesellschaftskritische Reflexion ihrer 
Fürsorgetätigkeit. 

Die sozialistische Frauenbewegung vernachlässigte den Reproduktions- 
bereich als das für die Frau bestimmende Moment ihrer Unterdrückung, 
erkannte nicht deutlich genug den Zusammenhang ihrer und der allge- 
meinen Ausbeutung in der Produktion und ihrer Stellung in der Familie. 
Entsprechend beschränkte sich die Agitation der sozialistischen Frau- 
enbewegung auf den gesellschaftlich öffentlichen Bereich. Die Proble- 


-13- 


me in ihrem primären Lebenszusammenhang, der "Privatheit'" Familie, 
wurden nicht aufgegriffen und verhinderten ein Aufbrechen der ge- 
samtgesellschaftlichen Verhältnisse. 


Die neue feministische Bewegung ging daran, diese "Privatheit' als 
gesellschaftlich bedingte, kapitalistisch-patriarchalische Struktu- 
ren zu erklären und konzentrierte sich mehr und mehr auf den Repro- 
duktionsbereich. Wir als Sozialarbeiterinnen tun dies von unserem 
professionellen Auftrag her ohnehin. Vielleicht liegt in unserer 
professionellen Erfahrung - daß individuelles Leiden gesellschaft- 
lich verursacht ist und individuell nicht oder kaum gelöst werden 
kann - die Chance, innerhalb der neuen Frauenbewegung diesen ge- 
samtgesellschaftlichen Zusammenhang stets im Auge zu behalten, wenn 
die Probleme von Frauen behandelt werden. 

Aus den Fehlern der bürgerlichen Frauenbewegung können wir u.a. ler- 


nen, daß mildtätiges "Helfen wollen" und ideele Vereinheitlichung 
aller Frauen keine Perspektive ihrer Befreiung sein kann - im Gegen- 


teil! 

Wir müssen die Unterschiede klar machen zwischen uns und den "Klien- 
tinnen" der Sozialarbeit, sowie allen anderen Frauen, die nicht im 
Besitz der Privilegien sind, die es uns erlauben, unsere Frauenrol- 
le in Frage zu stellen und teilweise zu verweigern. 

Wir haben aufgrund unserer Klassenherkunft, unserer Bildung etc. Per- 
spektiven und Möglichkeiten, die andere Frauen nicht haben und die 
wir ihnen nicht als Norm aufsetzen können. Denn Veränderung und ein 
Loslösen von bestehenden, eingefahrenen Verhältnissen kann nur dort 
geschehen, wo sich alternative Möglichkeiten realistisch auftun. 

Das heißt, wir können mit unserem feministischen Anspruch den Frauen 
nicht das wenige nehmen, was ihre Realität und Identität einigerma- 
ßen stabil hält. 

Wir sollten uns vielmehr darum bemähen, ihnen Möglichkeiten zu schaf- 
fen, aus ihrer Lage heraus gemeinsam mit anderen Betroffenen neue 
Perspektiven entwicklen zu können. 





3. LITERATUR 

Clara Zetkin "Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung 
Deutschlands", Frankfurt 1971 (Verlag Roter Stern) 

Werner Thönessen "Frauenemanzipation", Frankfurt 1976 


Karin Walser "Frauenrolle und soziale Berufe - am Beispiel von So- 
zlalarbeit und Sozialpädagogik", in: Neue Praxis 1/1976, $.3-12 


Hollstein/Meinhold "Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktions- 
bedingungen", Frankfurt 1973 


sås 


Friederike Harter/Marlies Paasche 


WEIBLICHKEIT ALS BERUF 


Wir studieren Sozialpädagogik und versuchen, aus Erfahrungen von 
Frauen, die schon im Beruf stehen (Artikel "Gefühlsarbeit' im So- 
zialmagazin September 78), über Diskussionen (auf dem Kongreß in 
Köln-"Feministische Theorie und Praxis in sozialen und pädagogi- 
schen Berufsfeldern") und aus eigenen theoretischen Überlegungen 
heraus für uns zu klären, was es heißt, als Frau Sozialarbeit zu 
machen. 

Dabei gehen wir davon aus, daß gerade ein linkes und feministisches 
Bewußtsein eine Reflexion und Neubestimmung der Berufsrolle notwen- 
dig macht. Nicht alle im Sozialabereich tätigen Frauen werden sich 
daher durch die hier angesprochenen Probleme betroffen fühlen. 


1. “MACHT” UND “OHNMACHT” DER FRAUEN 


Geschichtlich gesehen ist Sozialarbeit fast ausschließlich von 

Frauen gemacht worden und die Fähigkeiten, die in diesem Beruf gefor- 
dert werden (Zuhören können, auf andere eingehen...), sind größten- 
teils als weibliche Fähigkeiten definiert. Gerade diese Möglichkeit 

- Fortsetzung der Weiblichkeit im Beruf - hat früher die bürgerlichen 
Frauen dazu bewogen, Fürsorgearbeit zu übernehmen, und auch wir 
selbst können diese Berufsmotivation nicht völlig von uns weisen. 

Um unsere Situation als Sozialarbeiterinnen genauer zu bestimmen, 
müssen wir deshalb zunächst die Situation und Funktion von Frauen 

in der Gesellschaft allgemein aufzeigen. 

Durch die bürgerlich-ideologische Zuschreibung von spezifisch weib- 
lichen "Qualitäten", werden Frauen festgeschrieben in der Verant- 
wortung für den häuslichen psychischen Reproduktionsbereich. Diese 
spezifische Weiblichkeits-/Mutterideologie, im Zusammenhang mit dem 
Kleinfamilienideal, ist notwendige Voraussetzung für das Funktionie- 
ren der kapitalistischen Gesellschaft, da nur durch die (Versorgungs-) 
Arbeit von Frauen, Männer und Kinder lebens- bzw. arbeitsfähig gehal- 
ten werden. Aus der Erfüllung dieser Aufgabe ergibt sich auch eine 
Macht der Frau gegenüber ihrem Mann und ihren Kindern, die von ihr 
abhängig sind. Diese Macht, die gesellschaftlich unsichtbar bleibt, 
wollen wir im folgenden als "Versorgungsmacht" bezeichnen. 


Trotz dieser für das Weiterbestehen der Gesellschaft entscheidend 
wichtigen Aufgabe von Frauen befinden sie sich in einer Position der 
Ohnmacht, der Unterdrückung. Dies zum einen, weil ihre Arbeit nicht 
gesellschaftlich sichtbar ist (da privat und unbezahlt geleistet 

und aus "Liebe" motiviert), zum anderen, weil in der Weiblichkeits- 
ideologie die Minderwertigkeit der Frau festgelegt wird, ob angeboren 
oder ansozialisiert begründet. Diese Zuschreibung schlägt sich in 
allen gesellschaftlichen Bereichen und in unseren Köpfen versteckt 


-]15- 





oder offen nieder. 


Die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft umfaßt also die reale 
"Versorgungsmacht"und gleichzeitig ihre geschlechtsbedingte Gering- 
schätzung, den Mangel an gesellschaftspolitischer Anerkennung und 
Einfluß. 


Dieser Widerspruch verdoppelt sich noch einmal in der Situation der 

Sozialarbeiterin: sie hat als Frau unter diesen Zuschreibungen zu 

leiden, auch wenn sie nicht Mutter und Ehefrau ist. In der Berufs- 

hierarchie nimmt sie niedrigere Positionen ein, bzw. übt sie weniger 

anerkannte Tätigkeiten aus. Tätigkeiten, die die "weiblichen Fähig- 

keiten'-Umgang und Versorgung von anderen Menschen - erfordern. 

Was sich rein äußerlich als typisch weibliche Schwäche, Zurückhal- 

tung oder Minderqualifikation darstellt, kann verschiedenen Ursachen 

haben: 

- daß Frauen sich mit ihrer Weiblichkeitsrolle identifizieren und 
von daher keine Schwierigkeiten mit ihrer Berufsstellung haben, 

- daß sie sich aus Ängsten heraus nicht auf einen harten Konkurrenz- 
kampf unter schlechteren Voraussetzungen einlassen wollen, 

- daß sie Konkurrenzverhalten, Macht und Hierarchie bewußt ablehnen, 
aufgrund eigener (linker/feministischer) Ansprüche in der Arbeit. 

Sie sind jedoch in der Konsequenz unwichtig, da sie auf jeden Fall 

die Einflußlosigkeit von Frauen im Sozialbereich zementieren, Höher- 

gestellte Positionen werden, trotz der überwiegenden Mehrheit von 

Frauen in der Sozialarbeit, größtenteils mit Männern besetzt, wo- 

mit auch die Festschreibung dieses Zustandes einhergeht, da dies 

die bestimmenden Positionen sind. 


Verbunden mit der beruflichen Tätigkeit ist jedoch auch eine be- 
stimmte institutionell bedingte "Macht" gegenüber den "Klienten" 
(hinsichtlich Kontrolle, Beurteilung möglicher Einweisung, usw.) vor- 
handen. Sie hört aber dort auf, wo Institution oder andere Zustän- 
digkeitsbereiche die Grenzen (auch der Möglichkeiten) festlegen 
(durch Gesetze, oder im Zusammenhang mit der Medizin, Psychiatrie, 
Verwaltung etc.). 

Da in der Arbeit mit "Klienten" ähnlich wie bei der Hausfrau/Mutter 
bestimmte "weibliche'Qualitäten (als da sind Einfühlungsvermögen, 
Verständnis, Aufopferung) gefordert und eingesetzt werden, entsteht 
auch hier ein Abhängigkeitsverhältnis, das der Sozialarbeiterin 

auf der zwischenmenschlichen Ebene "Macht", d.h. "Versorgungsmacht" 
verleiht. 

In dieser Parallele, Sozialarbeit als Weiterführung bzw. Ersatz 
weiblicher Reproduktionstätigkeit, wird deutlich, daß Frauen in der 
Sozialarbeit nicht nur dazu beitragen, gesellschaftlich kapitali- 
stische Widersprüche zu verschleiern (Funktion von Sozialarbeit 
allgemein), sondern auch die gesellschaftlich-patriarchalischen zu 
tradieren. 

Wir tun nichts anderes als Hausfrauen und Mütter, sind im Gegenteil 
profesionelle "Supermütter", denn wir können besser (?) erziehen, 
beraten, mit Kindern umgehen. Was uns unterscheidet, ist, daß wir 
unsere Fähigkeiten gegen Lohn zur Verfügung stellen, nicht aber das 
reale Verhalten. Wiederum haben wir "Macht" über Menschen als Ent- 
schädigung für gesellschaftliche Ohnmacht und damit trotz veränder- 
tem Bewußtsein noch keineswegs unsere traditionelle Frauenrolle 
überwunden. 


-16- 


2. WIDERSPRUCH ZWISCHEN ROLLE UND BEWUSSTSEIN 


Fortschrittliche Sozialarbeiterinnen stehen in einem sehr widersprüch- 
lichen Verhältnis zu der Bewältigung der alltäglichen Schwierigkei- 
ten im Beruf. Die eigenen Ansprüche reichen von "emanzipiert' 

(sich auch in einer männerdominierten Welt durchsetzen können, d.h., 
weibliche Schwäche überwinden) über fortschrittlich/links (kritisch 
sein, Gefühle, Offenheit, Einbeziehen von Persönlichem) bis zu fe- 
ministisch (statt bloßer Übernahme männlicher Normen, die Entwick- 
lung neuer weiblicher Stärke, Radikalität). 

Mit all diesen Ansprüchen lavieren wir oft zwischen alter Identität 
und noch nicht gefundener neuer, zwischen den Extremen zu weich/ 
weiblich/schwach und zu hart/männlich/kalt. 

Die Distanzierung von der alten Rolle wird außerdem dadurch er- 
schwert, daß sie zunächst hauptsächlich einen Verlust von Sicherhei- 
ten bedeutet, es dagegen für uns noch kein positives Bild der So- 
zialarbeiterin gibt, so wie auch kein Vorbild für "die neue Frau". 


Emanzipation heißt nämlich nicht nur, mehr und neue eindeutige Mög- 
lichkeiten, sondern bedeutet für uns oft vor allem erhöhten Lei- 
stungsdruck, die Bestimmung und Erfüllung neuer Normen. Oft werden 
diese Widersprüche und Schwierigkeiten individuell gelöst, frau muß 
es eben schaffen, gleichzeitig Mutter, berufstätig, politisch aktiv 
und gleichwertige Partnerin zu sein, wo sie jetzt doch die Möglich- 
keit dazu hat! 


Unsere Unsicherheit wird jedoch nach außen meist nicht deutlich. In 
unserer Arbeit, in der wir sehr oft mit Frauen und Müttern zu tun 
haben, erscheinen wir als perfekte Frauen, die zum einen bessere Pä- 
dagoginnen (und damit auch die Normen setzen), zum anderen auch per- 
sönlich emanzipierter (Berufstätigkeit) sind, was die Distanz zwi- 
schen uns und den "normalen" Frauen nicht gerade verringert (im Ge- 
genteil). Daß diese Frauen weniger Zeit und Mittel haben, "gute" 
Erzieherinnen zu sein, daß sie weniger Möglichkeiten haben, aus ihrer 
Rolle auszubrechen; und daß auch wir große Schwierigkeiten haben, 
die Arbeit zu bewältigen und für uns eine neue Identität zu finden, 
fällt meist unter den Tisch. Sichtbar bleibt unsere Perfektheit und 
die Unzulänglichkeit der "Klientin", die wir damit noch kleiner, 
noch abhängiger machen. i 
Von unserer Seite kommt noch der Anspruch hinzu, in der Sozialarbeit, 
die ja Arbeit mit Menschen ist, sich wirklich einzusetzen und somit 
die Widersprüche, die sich aus der gesellschaftlichen Funktion von 
Sozialarbeit ergeben, in der eigenen Person aufzulösen. 

Aus Verständnis für die Situation eines "Klienten" arbeiten wir auch 
noch am Feierabend, aus Einsicht, daß es die Falschen trifft, setzen 
wir unsere eigenen Forderungen nicht mit Streik durch, oder, weil 

es ja um hilfebedürftige Menschen geht, lassen wir uns oft als Per- 
sonen mit Gefühlen beiseite, sind immer die Starken, Ruhigen, All- 
seits-Bereiten. 


Es wird immer schwerer zu unterscheiden zwischen eigenen Interessen 
und den Anforderungen des Berufs, denn ist es nicht auch eigenes 
Interesse, gute engagierte Sozialarbeit zu machen? Diese Verquickung 
kann, je man sich mit der Arbeit identifiziert (und die Grenze ist 
hier am meisten verwischt in selbstorganisierten Projekten), zur to- 


E y an 


talen Selbstausbeutung führen. 
Doch gerade diese vollständige Identifikation mit dem Beruf und den 


Interessen anderer ist genau das, was die "gute Mutter" für ihre Kin- 
der leistet. Das Abhängigkeitsverhältnis ist nunmehr ein beidseiti- 
ges, denn wenn wir nicht mehr gebraucht würden, uns für niemanden 
mehr einsetzen könnten, woher sollten wir dann unser Selbstwertge- 
fühl beziehen? Ähnlich wie eine Mutter, die ihre Kinder abhängig 
macht, geht es uns mit den "Klienten". Wir müssen das Abhängigkeits- 
verhältnis in der Form aufrechterhalten, um der eigenen Identität 
willen, - was jedoch jeder fortschrittlichen Sozialarbeitsintention, 


ee 2 7, 


fits hia 


Von 6. W. nach U, Mareks . 








— 


nämlich durch Emanzipation der "Klienten" sich selbst überflüssig 

zu machen, widerspricht. 

Die Festschreibung unseres aufopfernden Verhaltens wird also nicht 
nur von außen an uns herangetragen oder ist durch Institutionszwänge 
bedingt, sondern wir selbst tragen durch unsere unbewußten (?) Be- 
dürfnisse in großem Maß zu ihrer Erhaltung bei. 


Natürlich unterliegen auch fortschrittliche Sozialarbeiter (Männer) 
ähnlichen Konflikten, doch ein großer Unterschied besteht darin, 
daß wir durch das Einsetzen unserer weiblichen Fähigkeiten,die 
wichtig im Umgang mit Menschen sind, die traditionelle Frauenrolle 
vorbildhaft weitergeben, obwohl wir uns bewußtseinsmäßig von ihr 
distanzieren und sie neu bestimmen wollen. Männer in der Sozialar- 
beit tragen mit dem Einsetzen ihrer "weiblichen" Fähigkeiten eher 
dazu bei, starre Rollenzuschreibungen aufzubrechen , Männerklischees 
zu hinterfragen. (Schon allein durch ihre Berufswahl) 


3. ENTWICKLUNG EINER BERUFLICHEN UND POLITISCHEN PERSPEKTIVE 


Dieses ständige Infragestellen unserer Rolle als Frau und als So- 
zialarbeiterin bringt uns nur weiter, wenn wir versuchen, daraus 
Alternativen zu entwickeln, die uns später im Beruf (dasselbe gilt 
für Frauen, die schon im Beruf stehen) die Überwindung der Schwie- 
rigkeiten leichter machen. 

Um die Distanz zwischen uns und den "normalen" Frauen zu verringern, 
und damit auch nicht so leicht in die Rolle der Alleswissenden, die 
beide abhängig macht, zu geraten, müssen wir unsere Stellung angreif- 
barer, unsere Schwierigkeiten sichtbarer machen. Dies darf aller- 
dings nicht zu einer oberflächlichen Solidarisierung - wir sind ja 
alle so gleich - führen. Es muß klar sein, daß wir in einer privili- 
gierten Stellung sind, in der wir ökonomisch und bildungsmäßig mehr 
Möglichkeiten haben, aus unserer Rolle auszubrechen. Genauso wie es 
auch deutlich bleiben muß, daß wir teilweise resultierend aus unse- 
ren besseren Chancen andere Bedürfnisse haben, die wir nicht als 
allgemeingültige darstellen können. Konkreter meint dies, daß wir 

in unserer (zukünftigen) Arbeit nicht versuchen wollen, die Frauen 
für unsere Ziele - da wir ja wissen, daß es eigentlich auch die ih- 
ren sind - zu agitieren, sondern sie ernst nehmen in ihren Bedürf- 
nissen, die unseren vielleicht total gegenläufig sind. 


Es kommt viel eher darauf an, sie in ihrem Selbstwertgefühl zu 
stützen, sie als Person anzuerkennen. Gerade diese Erfahrung können 
die meisten Frauen nicht machen, weil sie ständig über ihren Mann 
definiert werden und sich selbst über ihn definieren. Seinen Wert 

in Frage zu stellen, heißt für sie selbst auch eine Entwertung, be- 
deutet aber die einzige Chance ein eigenes Selbstwertgefühl zu ent- 
wickeln. Ferner geht es darum, gerade aus unseren unterschiedlichen 
Erfahrungen voneinander zu lernen, aber Sozialarbeiterinnen und 
"Klientinnen" müssen sich gegebenenfalls getrennt organisieren. Viel- 
leicht ist auf diesem Wege eine gegenseitige Anerkennung und eine 
spätere Solidarisierung von Frauen, die nicht auf Gleichmacherei be- 
ruht möglich. 


Der Gefahr, uns total mit der Arbeit zu identifizieren und damit 


-19- 





auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den "Klienten" und uns an- 
gewiesen zu sein, können wir wohl nur dann entgehen, wenn wir auch 
außerhalb unseres Berufes wichtige Beziehungen haben, aus denen wir 
Selbstbestätigung und Befriedigung unserer emotionalen Bedürfnisse 
ziehen können. Diese Abgrenzung zwischen Freizeit und Beruf, die wir 
vielleicht gerade mit der Entscheidung Sozialpädagogik zu machen, 
auflösen wollten, ist unserer Ansicht nach hier besonders notwen- 
dig. Wir wollen uns nicht total auslaugen lassen, unsere Fähigkeiten, 
die wichtig und gut sind, nur immer für andere Menschen einsetzen. 
Und wenn wir uns von unserer Aufgabe im Beruf teilweise distanzie- 
ren können, wird es möglich, Sozialarbeit sinnvoller, weil nicht so 
stark von unseren eigenen Bedürfnissen belastet, zu gestalten. Was 
durchaus nicht unseren Vorstellungen von befriedigender Arbeit wi- 
der spricht. 

Ferner geht es darum,bestimmte weibliche Qualitäten infrage zu stel- 
len und in der Konsequenz zu verweigern. 


Verweigerung heißt in diesem Zusammenhang zum einen die Ablehnung 
der Weiblichkeitsrolle mit allen dazugehörigen Anforderungen 

und Verhaltensweisen, die uns in das alte Rollenklischee mit den 
oben beschriebenen Aspekten, festschreiben. Zum zweiten - und das 
ist längerfristig eine politische Frage - die Verweigerung von Ar- 
beitsformen und -bedingungen, die genau diesem Rollenverhalten er- 
fordern, was von uns aber eben nicht mehr so widerspruchslos erfüllt 
werden kann. Damit geraten wir in Widerspruch zur Arbeit selbst. 
Hier werden auch gewerkschaftliche Forderungen, wie Begrenzung der 
Arbeitszeit und angemessener Lohn (Lohnarbeiterbewußtsein) für uns 
wichtig. 

Verweigerung heißt also nicht, passiv werden, sich nicht mehr aus- 
einandersetzen, Beziehungen nur ablehnen, sondern beinhaltet in 

der Negation gleichzeitig das aktive Suchen und Leben neuer Verhal- 
tensweisen und Umgangsformen. Für die, die bisher auf unsere weib- 
lichen Qualitäten angewiesen waren, bedeutet dies eine Verunsiche- 
rung aber auch gleichzeitig eine Chance, sich weiterzuentwickeln. 


Damit dies nicht auf der individuellen Ebene bleibt, sondern länger- 
fristig ein Gegengewicht zu männlicher (und auch struktureller) 
Macht darstellt, müssen wir uns auch einen organisatorischen Rückhalt 
aufbauen. Denn wir werden nicht nur mit dem Verzicht auf Bestätigung 
durch abhängige "Kleinten' umzugehen haben, sondern auch mit Re- 
pressionen und Unverständnis von Institutions- und Kolleg (inn)en- 
Seite. Dies erfordert eine immer neue Klärung von Verhaltensweisen, 
Bedürfnissen, Vorgehensweisen und auch politischen Strategiediskus- 
Sionen im größeren (zunächst Sozialarbeiterinnen) Zusammenhang. Die- 
se eigenständige Organisierung sollte längerfristig dazu führen, in 
fortschrittlichen Organisationen (insbesondere Gewerkschaften) qua- 
litativ andere Forderungen einzubringen und durchzusetzen. 


All dies sind zunächst theoretische Überlegungen, die wir als Stu- 
dentinnen und auch Frauen im Beruf anstellen und versuchen wollen 
zu praktizieren. Dabei ist auch uns klar, daß der Kopf der alltäg- 
lichen Praxis schon 10 Schritte voraus ist; doch die Schwierigkei- 
ten in der Umsetzung machen die Gedanken nicht falscher. 

Dieser Artikel soll ein Beitrag zu einer notwendigen Diskussion 
unter uns Sozialarbeiterinnen sein. 


-20- 


Gertrud Meuth 


ARBEIT VON FRAUEN IN DER GEWERKSCHAFT 
UND 
GEWERKSCHAFTLICHE FRAUENARBEIT 


Ich bin Sozialpädagogin und in der ÖTV organisiert. Der Gegenstand 
meines Artikels ist die gewerkschaftliche Frauenarbeit (historischer 
Rückblick, Frauenpolitik des DGB, Organisationsgrad bei Frauen) und 
einige Überlegungen zur Problematik der gewerkschaftlichen Organi- 
sierung von Sozialarbeitern/pädagogen. Zu diesen beiden Teilen wer- 
de ich abschließend ein paar Erfahrungen schildern. 


Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Frage, was Frauen 

tun können, mittels gewerkschaftlicher Aktivitäten die Bedingungen 
fiir den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu verbessern. Dabei werde ich 
nicht auf die Frauenbewegung und deren teilweise entscheidenden 
Beiträge zur Emanzipation eingehen. Allerdings halte 

ich Positionen innerhalb der Frauenbewegung für problematisch und 
politisch gefährlich, die die Interessen von Frauen, die lohnabhän- 
gig beschäftigt sind, nicht bzw. außerhalb der Gewerkschaften ver- 
treten. Frauenbewegung und Gewerkschaftsarbeit dürfen keine Alterna- 
tiven sein. In den harten betrieblichen Auseinandersetzungen, wo wir 
uns in erster Linie gegen den Druck der Arbeitgeber (Diffamierungs- 
und Spaltungstaktiken, Kündigungen, Arbeitshetze etc.) und gegen die 
drückenden Arbeitsbedingungen wehren müssen - was vor allem von der 
Basis ausgeht -, ist die gemeinsame Organisierung und der starke 
Zusammenhalt unter den beschäftigten Frauen und Männern von größter 


Bedeutung und unsere einzige Waffe. 


Freilich muß die Gewerkschaftsarbeit inhaltlich und strategisch die 
spezifischen Problemlagen von lohnabhängigen Frauen aufgreifen 

und angehen. Dazu ist es notwendig, daß wir Frauen hartnäckig unse- 
re Forderungen in die Gewerkschaften tragen und uns dort Verbündete 
suchen. Das soll keine abgehobene Forderung sein! Ich weiß, allein 
schon die Organisationsform der Gewerkschaften mit z.T. festeinge- 
sessenen und festgefahrenen Funktionären schreckt viele Frauen ab. 
Sie arbeiten lieber ohne große Apparate, unbürokratisch und direkt. 
Bewußte, fortschrittliche Frauen setzen eher bei den unmittelbar Be- 
troffenen, an den Konfrontationsstellen im Betrieb und in der Fami- 
lie an. Sie versuchen Durchsichtigkeit und Öffentlichkeit herzustel- 
len, wodurch die Beteiligten besser in die Auseinandersetzungen ein- 
bezogen und Veränderzungsprozesse eher in Gang gebracht werden können. 
Z.B. hat sich das Rollenverständnis und das Bewußtsein über verschie- 
dene Funktionen in Haus und Fabrik bei Frauen, die maßgeblich in 
Streiks beteiligt waren, gründlich gewandelt (man denke an Erwitte, 
Lip, VFW Fokker in Speyer). 


Eine solche Form der Betriebsarbeit an der Basis muß einhergehen 


mit der Verbreitung qualitativ neuer Inhalte, die zum Ziel haben: 
Abbau von Hierarchie und Unterdrückungen; Frauen und Männer in ihren 


== 











gesellschaftlich bedingten Zusammenhängen begreifen zu lernen und 
deren Probleme in Produktion und Reproduktion grundlegend anzugehen. 
Innerhalb der Gewerkschaften ist dieses Vorgehen eine Gratwanderung 
und ich würde mich auf sie nur einlassen, d.h. z.B. Funktionen über- 
nehmen oder in Gremien mitarbeiten, wenn abzusehen ist, daß es dort 
Kolleginnen und Kollegen gibt, die für solche Positionen aufgeschlos- 
sen sind. Andernfalls wäre es ein sinnloser und aufwendiger Ver- 
schleiß. 


Klar muß da aufgepaßt werden, sich nicht von sogenannten Sachzwängen 
fesseln zu lassen. Dementsprechend müßte auch eine basisnahe Bil- 

dungsarbeit - und nicht nur Funktionärsschulungen - betrieben werden, 
die uns Arbeitnehmer befähigt, Durchblick in die Produktionsverhält- 
nisse und deren Hintergründe zu bekommen und entsprechende Gegenwehr 


zu entwickeln. 


1. HISTORISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE FRAUENARBEIT 


Erst Ende des letzten Jahrhunderts wurde in Ansätzen das Recht er- 
kämpft, daß sich Frauen als Arbeitende organisieren konnten, obwohl 
sie schon Jahrzehnte in der Produktion standen und ihre Arbeitskraft 
in Manufakturen und Fabriken ausgebeutet wurde. 
Mit dem Gedanken der Gründung von Vereinen für Arbeiterinnen ging 
einher die Diskussion darüber, ob Frauen überhaupt in der Industrie 
arbeiten sollten: einmal galten sie als Schutzbedürftige, zum ande- 
ren sollte die Konkurrenz um Arbeitsplätze nicht noch mehr verschärft 
werden. Doch die Wirklichkeit sah ja anders aus. Die Wirtschaft 
brauchte die Frauen als billige und willige Arbeitskräfte,die Kon- 
kurrenz unter den Arbeitnehmern erschwerte deren Zusammenschluß und 
diente dazu, die Löhne zu drücken. Diese Probleme und Gefahren wa- 
ren den organisierten Arbeitern bekannt, so daß sie auf Vereinsta- 
gen und Kongressen der Sozialdemokraten und des Allgemeinen Deutschen 
Arbeiterkongresses (zwischen 1860 und 70) forderten: 
© die Gleichstellung und Gleichberechtigung von Arbeiterinnen und 
Arbeitern 
© die gewerkschaftliche und politische Organisierung, um gerade 
der Konkurrenz zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt 
entgegenzuwirken und gegen die Folgen der kapitalistischen Ausbeu- 
tung kämpfen zu können. 


Die damals entstehende sozialistische Emanzipationstheorie (August 
Bebel) vertrat die Meinung, daß der Kampf gegen die kapitalisti- 
schen Produktionsverhältnisse nur gemeinsam von Männern und Frauen 
erfolgreich durchgeführt werden könne. Dabei wurde als ein wichtiges 
Argument für die Befreiung der Frau deren Erwerbstätigkeit angese- 
hen, weil sie sich dadurch ökonomische Unabhängigkeit vom Mann ver- 
schaffen könne. Außerdem galt die Einbeziehung der Frauen ins Erwerbs- 
leben als Voraussetzung für diesen gemeinsamen Kampf gegen unter- 
drückende Verhältnisse. Daraus entstanden neben den bereits erwähn- 
ten Forderungen die nach Gleichberechtigung der Frauen im Arbeits- 
leben, nach gleichem Lohn für Frauen und Männer. 


Dies waren Vorstellungen und Ansprüche. Die Wirklichkeit zeigte aber, 
daß es ein harter Kampf für die Frauen war, diese einzulösen. Auf 


=p Fa 


die Unterstützung der Männer konnten sie kaum bauen, denn diese sa- 
hen trotz ihrer theoretischen Einsichten in den Frauen weniger Ver- 
bündete als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, durch die sie sich 
existentiell bedroht fühlten. Eine Umsetzung ihrer theoretischen 
Forderungen hätte eben auch den Abbau ihrer Privilegien in Arbeit 
und Familie bedeutet. 


1905 wurde von der Generalkommission der Gewerkschaften ein Arbei- 
terinnensekretariat eingerichtet, dem die Aufgabe zukam, Fraueninter- 
essen und -probleme aufzugreifen und sie organisatorisch zusammenzu- 
fassen. (Leitfaden II/31) Inhaltliches Ziel war es, das politische 
Bewußtsein der Frauen zu wecken und sie für den Sozialismus zu er- 
ziehen. (Leitfaden II/32, 33). Eigene zentrale Frauenverbände durf- 
ten nicht gegründet werden; zugelassen wurden nur besondere Organi- 
sationsformen innerhalb der bestehenden Arbeiterverbände. Trotz 
Einrichtung der Sekretariate hatten die Frauen auch damals größte 
Schwierigkeiten nur annähernd einen Fuß in die Gewerkschaft zu be- 
kommen. Indiz dafür war u.a. auch schon damals der geringe Anteil 

an weiblichen Mitgliedern sowie ehren- und hauptamtlichen Funktio- 
närinnen. Versprechungen und Parolen wurden für die Frauen geschwun- 
gen, doch wo es darauf ankam, sie zu verwirklichen, sprang für sie 
praktisch nichts raus. "Anträge zur Lohngleichheit wurden noch auf 
dem Gewerkschaftstag 1928 abgeschmettert." (Pinl S. 18). 

Was einer Vereinheitlichung der Frauenarbeit innerhalb der Arbeiter- 
bewegung entgegenwirkte war die Spaltung innerhalb der Frauenbewe- 
gung selbst. Einige Frauenabteilungen und Vereine wurden nicht selten 
von bürgerlichen Frauen gegründet und getragen, um kostenlose Für- 
sorgearbeit zu leisten und sie damit in Wohlfahrtsverbände integrie- 
ren zu können. Damit fielen tarifrechtliche Angelegenheiten und die 
Sicherung der berufstätigen Frauen völlig heraus. 


Die beruflichen Chancen und die Möglichkeit der Existenzsicherung 
sind für Frauen in besonderem Maße abhängig von der Arbeitsmarktlage. 
Dies wurde besonders deutlich an der Rolle, die die Frauen in den 
beiden Weltkriegen einnehmen mußten. Sie wurden in Industrie und 
Landwirtschaft geholt und waren unentbehrlich für die Produktion und 
die Aufrechterhaltung der Versorgung mit Lebensnotwendigem. Im Zuge 
der Demobilisierungspolitik nach Beendigung des 1. Weltkrieges, an 
deren Ausarbeitung auch die Gewerkschaft beteiligt war, mußten die 
Frauen sukzessive die Arbeitsplätze räumen,wie Männer aus dem Krieg 
zurückkamen. Während der Frauenanteil in den Gewerkschaften in der 
Zeit des 1. Weltkrieges mit 26 % bisher am größten war (Leitfaden 
11/36), hatte der Rausschmiß der Frauen aus dem Erwerbsleben einen 
gewaltigen Rückgang von weiblichen Mitgliedern und Aktivitäten in 

den Gewerkschaften zur Folge. Damit waren auch die Rechte der Frauen 
Insgesamt bedroht. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Arbeitskraft der 
Frauen in erster Linie gebraucht, um die riesigen Zerstörungen be- 
wältigen zu können (Trümmerfrauen). Doch dies blieb ohne Folgen auf 
den gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Daran änderte sich auch 
während des "Wirtschaftswunders", in dem Frauen wieder verstärkt in 
die expandierende Wirtschaft gezogen wurden, nichts. Erst in jüng- 
ster Zeit, vor allem durch die zunehmenden Krisen des Systems bedingt, 
ist wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen. (Frauenanteil in 

den Gewerkschaften betrug 1976 18,8 Z; 25 Z der erwerbstätigen Frauen 
sind gewerkschaftlich organisiert, 50 Z der Männer). 


Dh- 


2. DIE FRAUENPOLITIK DES DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTSBUNDES 


Der DGB - 1945 gegründet - befaßte sich u.a. auch damit, wie die Pro- 
bleme der arbeitenden Frauen aufgegriffen werden könnten. Unüberseh- 
bar war zu diesem Zeitpunkt, daß sich die Stellung der Frauen in der 
Gesellschaft durch die Bedeutung der weiblichen Arbeitskraft während 
des Krieges kurzfristig verändert hatte. 


In den Richtlinien für Frauenarbeit, dem "Programm für Arbeitsnehme- 

rinnen", sind die Forderungen und Vorstellungen zusammengestellt. 

Charakteristisch für dieses Programm ist, daß Probleme der Frauen in 

Familie und Betrieb nicht radikal angegangen werden: 

© die bestehende Familienstruktur - ideologisch und ökonomisch funk- 
tional zur Stabilisierung unserer kapitalistischen Gesellschaft - 
in Frage zu stellen,wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen. 

® die Doppelbelastung der Frau wird akzeptiert, lediglich werden 
Überlegungen angestellt, wie durch Reformen diese erträglicher wer- 
den kann. 

Das DGB-Programm sieht vor, die Situation der Frauen an die der Män- 

ner anzugleichen und fordert deshalb z.B. gleiche Bildungsmöglichkei- 

ten und Begabungsförderung, Chancengleichheit im Beruf, gerechte Be- 

wertung der Arbeit und Leistung. Dementsprechend ist das Bildungsan- 

gebot für die Frauen eine Art kompensatorische Erziehung. Sie sollen 

an die Formen und Inhalte gewerkschaftlicher und allgemeiner Politik 


angepaßt werden. (Vergl. Pinl S. 100) 


Die gewerkschaftlichen Organe für die Frauenarbeit sind die Frauen- 
ausschüsse und Frauenkonferenzen, die den übrigen "ordentlichen" 
gewerkschaftlichen Gremien untergeordnet sind. Diese Organisations- 
form der Frauenarbeit knüpft 1945 an die Arbeiterinnensekretariate 
vor 1933 an. Die Frauenausschüsse, die auf Kreis-, Bezirks- und Bun- 
desebene der Einzelgewerkschaften und des DGB eingerichtet sind, müs- 
sen in ihrer konkreten Arbeit allerdings recht wirkungslos bleiben, 
solange sie nur Empfehlungen aussprechen und nur beratende Funktionen 
wahrnehmen können. Die Entscheidungen über die gewerkschaftliche 
Frauenarbeit werden auf den Gewerkschaftstagen der jeweiligen Gewerk- 


schaft getroffen. 


Den Frauenausschüssen können drei Funktionen zugeschrieben werden: 

® Legitimationscharakter (Rechtfertigung der Unterordnung von Frauen- 
interessen unter die der Männer), 

® Bändigung des vorhandenen Unmuts der Kolleginnen, indem kontrol- 
lierbare Bahnen geschaffen werden. 

© Aufrechterhaltung des Scheins, daß für Frauen was getan wird. 
(Pinl S. 104) j 

Eine Politik, basierend auf der Interessenlage der Frauen, die von 

autonomen Frauengremien innerhalb der Gewerkschaften getragen und 

von der Gesamtorganisation mitunterstützt würde, könnte mit Sicher- 

heit direkter eingreifen und eher Veränderungen bewirken. Doch dem 

Gewerkschaftsapparat und dessen Politik, der primär die Interessen 

der Mehrheit der männlichen Mitglieder traditionellerweise vertritt, 

liegt sicher nichts an einer solchen Regelung. 


-25- 





3. GEWERKSCHAFTLICHER ORGANISATIONSGRAD BEI FRAUEN 


Woran liegt es, daß relativ wenig Frauen gewerkschaftlich organi- 
siert sind und sich noch weniger aktiv beteiligen? 


Zum einen liegen die Ursachen dafür wohl in der gewerkschaftlichen 
Frauenpolitik selbst, wie sie seit Jahrzehnten betrieben wird: ihre 
partielle Erfolglosigkeit, Perspektivlosigkeit und auch ihre Organi- 
sationsform schreckt Kolleginnen eher ab und läßt sie resignieren. 
Eine selbständige und bewußte Auseinandersetzung mit der eigenen Lage 
und dem Einsatz für die eigenen Interessen werden eher verhindert. 
Was springt dabei heraus, Mitglied in der Gewerkschaft zu sein? Die 
Ergebnisse für die Frauen waren mager und motivieren nicht gerade, 
Mitglied zu werden oder welche zu werben: Lohndiskriminierung, Dop- 
pelbelastung, Frauen als stille Reserve, hohe Frauenarbeitslosigkeit, 
totale Abhängigkeit der beruflichen Chancen von der Arbeitsmarktla- 
ge. 


Zum anderen liegen die Gründe für den geringen Organisationsgrad 
in den Verhältnissen, in denen Frauen in unserer Gesellschaft leben 
und arbeiten müssen. Ein Desinteresse an den Gewerkschaften darf 
Frauen aber nicht einfach unterstellt werden; vielmehr stehen sie im 
gleichen Maße wie Männer gewerkschaftlichen Angelegenheiten aufge- 
schlossen gegenüber. (Pinl S. 87) Ihre relative Inaktivität beruht 
auf einer Vielfalt von Bedingungen: Erwerbstätigkeit bedeutet für 
eine Frau in der Regel Doppelbelastung: 
© In der Familie sind sie den Verpflichtungen und Belastungen unter- 
worfen, sie begreifen sich primär als Mutter, Hausfrau, Ehegattin. 
(Nur eine solche Haltung zur Familie, der ständige Aufbau und 
die emotionale Stabilisierung derselben, macht es den Männern erst 
möglich, ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten nachzugehen). 
Frauen identifizieren sich weniger mit ihrem Beruf. Die Haltung 
der Frauen zur gewerkschaftlichen Arbeit hängt oft von der Ein- 
stellung ihrer Männer ab. 
© In der Arbeit sind folgende Faktoren entscheidend für gewerkschaft- 
liches Engagement: 
Art des Betriebs und der Beschäftigung (Produktion, Handel, Dienst- 
leistung), Größe des Betriebs, Dauer der Beschäftigung, Qualifika- 
tion und damit berufliche Position und Einkommen. 


Die meisten Frauen sind in typischen Frauenberufen beschäftigt: im 
Dienstleistungsbereich (37%) und im Handel/Verkehr (21 7), sowie in 
der Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie arbeiten als Heimarbei- 
terinnen, als Teilzeitbeschäftigte, ihre Berufstätigkeit ist oft 

von kurzer Dauer oder unterbrochen und wird meist als etwas Vorüber- 
gehendes betrachtet. Frauen sind überall in den niedrigsten Positio- 
nen zu finden und werden folglich durchschnittlich schlechter bezahlt 
(1/3 liegen die Frauenlöhne unter denen der Männer), u.a. deshalb, 
weil sie über keine Qualifikationen bzw. nur mangelhafte verfügen 
(45 % der erwerbstätigen Frauen haben eine abgeschlossene Berufsaus- 
bildung) (Bösel S. 159). 

Tatsache ist, daß in Betrieben, in denen vorwiegend Frauen beschäf- 
tigt sind, oft die schlechtesten Arbeitsbedingungen herrschen und am 
schlechtesten bezahlt wird. Gerade im Textil- und Bekleidungsbereich 
und im tertiären Sektor wurden gewerkschaftliche Aktivitäten bisher 


-26- 


kaum bekannt, entsprechend ist der Organisationsgrad dort besonders 
niedrig. Kontaktmöglichkeiten, sowie Gespräche über Betriebs- und 
Arbeitsprobleme sind bei repetitiv-monotoner Arbeit nicht möglich 
oder sehr erschwert. Eine solche Arbeit, womöglich noch im Akkord, 
läßt kaum Lernprozesse zu. Ohnehin eher als Männer durch Rausschmiß 
bedroht und damit potentieller Arbeitslosigkeit, haben Frauen Angst, 
durch gewerkschaftliches Engagement diesen Prozeß zu beschleunigen. 
In Untersuchungen wurde herausgefunden, daß der gewerkschaftliche 
Organisationsgrad niedrig ist 
@ in kleinen Betrieben (Schwankungen von 9 % in Kleinbetrieben bis 

31 Z in Großbetrieben über 500 Beschäftigte) 
® bei Teilzeitbeschäftigten (9 % bei Halbtagsbeschäftigten, 21 % 

der Ganztagsbeschäftigten) 
© bei kurzer Berufstätigkeit (weniger als 5 Jahre 8 Z, mehr als 

20 Jahre 25 %) 
® bei geringem Einkommen/niedriger beruflicher Position (Bösel $.162). 


Dies sind einige Hintergründe für die geringe gewerkschaftliche Be- 
tätigung von Frauen. Dies spiegelt sich aber nicht nur in der Mit- 
gliederzahl wider, sondern auch innerhalb der Organisation der Inter- 
essenvertretung der Frauen in den Gewerkschaften. In gewerkschaft- 
lichen und gesetzlichen Organen aller Ebenen (Vertrauensleutekörper, 
Tarifkommission, Gewerkschaftstage und im Betriebsrat) sind Frauen 
entsprechend ihrer Mitgliederzahl völlig unterrepräsentiert. Haupt- 
amtliche Gewerkschafterinnen gibt es aber noch viel weniger als eh- 
renamtliche: sie arbeiten in den Frauensekretariaten, wenn diese 
nicht von einem männlichen Funktionär, der am Anfang seiner Karriere 
steht, besetzt ist. 

Weibliche jugendliche Mitglieder sind wesentlich besser in ihren Kon- 
ferenzen vertreten (zwischen 30 - 38 %, Pinl, S. 92). Ater die 

Frauen hören in der Regel nach der Eheschließung mit den gewerkschaft- 
lichen Aktivitäten auf. "Aktive Gewerkschafterinnen außerhalb der 
Jugendarbeit sind geschiedene, ledige oder verwitwete Frauen mittle- 
ren Alters, kinderlos oder mit bereits erwachsenen Kindern." 

(Pinl, S. 94) 


Es ist weniger ein Problem, daß sich keine geeigneten Frauen für 
ehren- oder hauptamtliche Tätigkeiten finden ließen. Doch mehr Frauen 
in den gewerkschaftlichen Gremien würde den Anteil der Männer sen- 
ken. Ob diese ihre Positionen freiwillig zugunsten von Frauen abtre- 
ten würden, muß bezweifelt werden. In bestimmten Funktionen kann man 
dem Arbeitsalltag entkommen,oder es stehen neue höhere Positionen in 
Aussicht; auf diese Privilegien will wohl keiner der Funktionäre ver- 
zichten. Die Vertretung der Frauen in den Gremien ist folglich auf 
eine Alibifrau beschränkt, die darf ja schließlich nicht fehlen, um 
einen Mindestanschein zu wahren. Mit Einzelmandaten aber läßt sich 
keine Politik machen, die die Interessen der Frauen angemessen durch- 
setzen könnte. Um dieses zahlenmäßige Mißverhältnis zwischen weibli- 
chen Gewerkschaftsmitgliedern und ihren Vertreterinnen aufzubrechen, 
wurde in Gewerkschaftskreisen die Einführung eines Quotensystems 

(pro x Mitglieder y Vertreterinnen) diskutiert, um die Repräsentanz 
der Frauen in den verschiedenen Organen zu sichern .Es ist vor allem 
in der Gewerkschaftsspitze und außerhalb der Frauenreferate sehr 
umstritten. Meines Erachtens ist es politisch vollkommen verfehlt, 
diese formale Absicherung der Frauenvertretung losgelöst von bestimm- 


Tim 


ten Inhalten zu sehen, um die die gewerkschaftliche Arbeit verändert 
und erweitert werden muß, will sie nicht nur Vertretung sichern, 
sondern tatsächlich Probleme der Frauen in unserer Gesellschaft an- 
gehen: z.B. die Rollenverteilung in der Familie, Wohnbedingungen, 
Versorgung der Kinder, fehlende Tagheimplätze und Ganztagesschulen 
etc., kurz mehr als rein ökonomische Interessenvertretung sein. 


4. SOZIALARBEIT UND GEWERKSCHAFT OTV 


Erfreulich ist zu beobachten, daß im sozialen Bereich, in dem viele 
Frauen arbeiten, der gewerkschaftliche Organisationsgrad zunimmt und 
die Notwendigkeit der Organisierung von immer mehr Beschäftigten er- 
kannt wird. 

In den letzten Jahren kamen zunehmend mehr qualifizierte Pädagogen/ 
innen auf den Arbeitsmarkt, die ihre Arbeit nicht ehrenamtlich, son- 
dern als Beruf betreiben, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdie- 
nen müssen, und dadurch eher ein Lohnarbeiterbewußtsein entwickeln 
können. In Einrichtungen und Verwaltungen der Jugend- und Sozialhil- 
fe stoßen wir aber auch auf äußerst unsoziale Arbeitsbedingungen: 
Viele von uns Sozialarbeitern/innen arbeiten dann, wenn andere Leute 
ihre Freizeit verbringen, abends, nachts oder an Wochenenden und 
sind dadurch großen sozialen Belastungen ausgesetzt. In den aller- 
meisten Fällen müssen überdurchschnittlich viel Überstunden gelei- 
stet werden; im Heimbereich sind Arbeitsverträge mit 50 Std. nicht 
selten die Regel; ohne gewerkschaftliche Tarifvereinbarungen wird 
noch immer im kirchlichen Bereich gearbeitet; wo Tarifverträge be- 
Stehen, werden sie nicht einmal angewandt, weil die Beschäftigten 
ihre eigenen Interessen häufig noch gar nicht erkennen oder aber 
schwer durchzusetzen vermögen. 


Akzeptieren wir diese Bedingungen bei Einstellungen nicht oder kämpfen 
dann später dagegen, dann steht mit großer Wahrscheinlichkeit die Kün- 
digung an bzw. man wird erst gar nicht eingestellt. Seit Jahrzehnten 
wird mit personeller Minimalbesetzung in den Einrichtungen gearbei- 
tet. Als Begründung dient den freien und öffentlichen Trägern die 
Finanzknappheit. Außerdem können sie auf einen Stamm Ehrenamtlicher 
bauen, die aus Idealismus und Identifikation mit dem Verein, kosten- 
los oder minimal bezahlt, Sozialarbeit leisten. Die Mißstände im 
sozialen Bereich sind Ausdruck einer langen Tradition: Erziehungsar- 
beit, insbesondere mit sozialen Randgruppen, muß für den Staat so 
billig wie nur möglich gehalten werden. Unterstützt wurde und wird 
dieser Tatbestand durch entsprechende Ideologien, sich aus Nächsten- 
liebe und ethischen Gründen um die Armen zu kümmern. Ein solch cari- 
tatives Bewußtsein begann in dem Maße aufzubrechen, wie erkannt wur- 
de, daß gesellschaftliche Verhältnisse für soziale Mißstände verant- 
wortlich sind. 

Viele von uns akzeptieren diese verschleißenden Arbeitsbedingungen 
nicht mehr. So organisieren sich immer mehr Kolleginnen/Kollegen in 
der für unseren Bereich zuständigen Gewerkschaft, der ÖTV. Sie ist 
inzwischen im öffentlichen Bereich zur gewichtigsten Arbeitnehmerver- 
tretung geworden, zwar vor allem in ökonomischer Hinsicht,aber auch 
in politischer und sozialer. 

Trotz kritischer Einwände gibt es meiner Meinung nach zur Organisie- 
rung in der ÖTV keine Alternative, wenn es um unsere Interessen am 


-28- 


Arbeitsplatz und im Betrieb geht, z.B. um Einhaltung und Verbesse- 
rung der Tarif- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen, um die gemein- 
same Abwehr von Disziplinierung und Vereinzelungsstrategien der Ar- 
beitgeber. 


Von offizieller Seite der ÖTV wird aber bisher recht wenig für die 
Kollegen/innen im Sozialbereich getan, was sicherlich u.a. auch wegen 
des relativ niedrigen Organisationsgrades noch so ist und somit 
der Druck von der Basis fehlt. In den bestehenden Manteltarifverträ- 
gen (MTV) fehlen ganze Arbeitsbereiche der Sozialpädagogik, so z.B. 
Arbeitsplatzbeschreibungen und Eingruppierungsmerkmale für die offe- 
ne Jugendarbeit. Viel schlimmer ist aber noch, daß große Arbeitgeber 
in der Jugend- und Sozialhilfe sich überhaupt weigern, Tarifverträge 
abzuschließen wie z.B. die Kirchen, wodurch die Mitarbeiter unter 
einen ziemlich hohen Anpassungsdruck gesetzt werden. 

Doch wir müssen diese Verhältnisse anfangen aufzubrechen, indem wir 
konsequent unsere spezifischen Probleme und Forderungen in die ÖTV 
hineintragen und die gewerkschaftlichen Organe so weit wie möglich 
nutzen. Dann wird auch die ÖTV Stellung beziehen müssen und kann 
nicht länger den sozialen Bereich außer acht lassen. Zur Artikula- 
tion unserer Interessen, zur gegenseitigen Information unter den 
Kollegen/innen, zur Durchsetzung unserer Forderungen arbeiten wir 
betriebsbezogen in Betriebsgruppen zusammen mit Vertrauensleuten 
(VL) und dem Betriebsrat (BR); überbetrieblich wird in Fachgruppen 
(z.B. soziale Arbeit oder kirchliche Mitarbeiter) gearbeitet. 


Falsch und illusionär wäre allerdings zu glauben, daß unsere Forde- 
rungen und Positionen reibungslos Eingang in die ÖTV finden und dort 
mitgetragen werden. Hinderlich und erschwerend erweist sich die Ver- 
flechtung und teilweise Identität von Vertretern städtischer Ämter, 
Stadträten und Gewerkschaftsfunktionären. Dort stimmen sie für Ein- 
sparungen, hier "kämpfen" sie dagegen. Die Funktionäre stehen eher 
zu uns, wenn es z.B. gegen den CDU-Stadtrat geht, handelt es sich 
aber um einen SPD-Gemeinderat oder einen SPD-orientierten Arbeitge- 
ber (z.B. die Arbeiterwohlfahrt), sieht man sich oft einem Bündnis 
von Arbeitgeber und ÖTV gegenüber und steht fast auf verlorenem Po- 
sten. Nicht selten lösen ÖTV-Kreis verwaltungen Fach- und Betriebs- 
gruppen auf, werden Betriebszeitungen zensiert, wenn dort neben öko- 
nomischen auch politische Forderungen aufgestellt werden, die den 
offiziellen Vorstellungen der ÖTV nicht entsprechen (z.B. keine Un- 
vereinbarkeitsbeschlüsse). Weil die ÖTV in einigen Städten ihre Mit- 
glieder in unserem Bereich so lasch vertritt oder ihnen gar in den 
Rücken fällt, haben sich Kollegen/innen aus der Gewerkschaftsarbeit 
zurückgezogen und sind gezwungen, auf eigene Faust und isoliert von 
anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in selbstorganisierten 
Arbeitsgruppen ihrer Vereinzelung entgegenzuwirken. 


Eine solche Gewerkschaftspolitik,die oft parteipolitischen Interes- 
sen näher steht, als denen der Mitglieder, hat durchaus auch nega- 
tive Folgen: Die ohnehin schwierige Organisierungsarbeit im sozialen 
Bereich wird nicht gerade erleichtert; durch unzureichende Tarifab- 
schlüsse wird den miserablen Arbeitsbedingungen und der schlechten 
Bezahlung bisher wenig entgegengewirkt; die Isolation der im sozia- 
len Bereich Beschäftigten von anderen öffentlichen Dienstleistungs- 
bereichen bleibt bestehen, wobei durch die häufig anzutreffende 


-5- 


Kleinbetriebsstruktur im Sozialwesen ohnehin schon eine große Ver- 

einzelung existiert. 

Als Sozialarbeiter geraten wir in verschiedene Widersprüchlichkei- 

ten, was mit der Art unseres Arbeitgebers und der "Objekte" unserer 

Arbeit zusammenhängt. Diese Voraussetzungen bringen Schwierigkeiten 

mit sich, sich primär als Lohnabhängige(r) zu definieren: 

© So ist es nicht leicht, im Öffentlichen Dienst oder auch bei 
freien Trägern, seinen Gegner klar auszumachen. Er nimmt allgemeine 
Staatsfunktionen wahr im (vermeintlichen) Interesse des Gemein- 
wohls. 

© Oft scheinen wir auf den ersten Blick mit unseren Interessen nach 
verbesserten Arbeitsbedingungen (z.B. kürzere Arbeitszeit) im Wi- 
derspruch zu den Bedürfnissen und Interessen unserer Klienten zu 
stehen. Meist wird dabei der Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung 
und Qualität der Arbeit aber übersehen. Qualifizierte Arbeit durch 
Intensivierung oder Verlängerung der Arbeitszeit leisten zu wollen 
ist m.E. ein Trugschluß. Außerdem ist es von vornherein nicht aus- 
gemacht, daß wir einen solchen Konflikt den Kindern, Jugendlichen 
oder Eltern nicht durchsichtig machen könnten, bzw. daß wir mit 
den Betroffenen nicht wenigstens streckenweise dieselben Interessen 


haben. 


5. EIGENE ERFAHRUNGEN AUS DER GEWERKSCHAFTLICHEN FRAUENARBEIT 


Im letzten Teil meines Artikels sollen Erfahrungen aus meiner gewerk- 
schaftlichen Frauenarbeit dargestellt werden, die durchaus die theo- 
retischen Ausführungen des ersten Teils bestätigen können. Mein 
Schwerpunkt in der Gewerkschaftsarbeit liegt jedoch im Betrieb, in 
der Betriebsgruppe, wo es dauernd darum geht, gegen Repression und 
die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu kämpfen, wobei wir ge- 
legentlich Erfolge erzielen konnten. 

en Ir Fr 

Der DGB-Frauenstammtisch 


Ich bin gelegentlich Teilnehmerin eines DGB-Frauenstammtisches: das 
ist ein informeller Treffpunkt für Frauen, Anlaufstelle für inter- 
essierte Kolleginnen. Der Stammtisch ist kein "ordentliches" Gre- 
mium, d.h.,es können dort keine Beschlüsse gefaßt werden, er ist 
also auch nicht vorgesehen im offiziellen Gewerkschaftsaufbau. Monat- 
lich treffen sich zum Stammtisch in der Kneipe im Gewerkschaftshaus 
Frauen aus den verschiedenen Einzelgewerkschaften, um dort gemeinsam 
zwanglos zu diskutieren und sich zu informieren. Der Gedanke zu 
einem solchen Treffpunkt ist auf einer Wochenendschulung für Frauen 
der DGB-Kreisverwaltung entstanden. Dahinter stand der Wunsch, sich 
eben nicht nur gelegentlich auf Schulungen austauschen zu können, 
sondern auch einen regelmäßigen Diskussionszusammenhang für Frauen 
aufzubauen. So weit ich informiert bin, gibt es bereits in einigen 
Städten in Baden-Württemberg solche Stammtische. 


Unser Frauenstammtisch wird von einem Sekretär (!) betreut, der u.a. 
zuständig ist für die Jugend- und Frauenarbeit auf DGB-Kreisebene. 
Die Thematik der Stammtischgespräche wird von den Frauen selbst fest- 
gelegt. Einige Kolleginnen bereiten jeweils das abgesprochene Thema 
für das nächste Treffen vor und geben dann zu Beginn Informationen 


-30- 


z.B. in Form eines kurzen Referats, über das dann diskutiert wird. 
Die bisher in Angriff genommenen thematischen Schwerpunkte beschrän- 
ken sich in keiner Weise auf Probleme am Arbeitsplatz und im Be- 
trieb. Einen großen Stellenwert hat auch gerade der ganze Reproduk- 
tionsbereich. Themen sind z.B.: Mädchensozialisation, Frauenarbeits- 
losigkeit, Lohndiskriminierung und schlechte Qualifikationsvoraus- 
setzungen bei Frauen, das Bewußtsein der Angestellten, Frauen im 
Streik, Frauenfeier zum 1, Mai, Auswirkungen der Arbeitsförderungs- 
gesetznovelle für Frauen. 

Gelegentlich finden Wochenendschulungen statt, auf denen dann inten- 
siver bestimmte Problematiken behandelt werden. Themen waren hier 
z.B. Einflußmöglichkeiten der Gewerkschaften auf allgemeine Lebens- 
situation (Wohnung, Städteplanung etc.), neue Technologien und deren 
Auswirkungen; gesetzliche Interessenvertretung im Betrieb: Vertre- 
tung der Arbeitnehmerinnen im Betriebsrat, Frauen im Betriebsrat, 
Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf Arbeitnehmer/innen. 
Obwohl während des Schulungswochenendes für die Betreuung der von 
den Frauen mitgebrachten Kindern gesorgt ist - was sicher vielen 
Kolleginnen die Teilnahme erst ermöglicht - ist es für etliche Frauen 
nicht einfach, sich von Haushalt und den Verpflichtungen gegenüber 
dem Mann und den Kindern zu befreien - besonders am Wochenende. So 
müssen sich nicht selten die Frauen ein solches Wochenende mit inten- 
siver Vorarbeit verdienen. Eine aktive Kollegin und Betriebsrätin, 
die ihre Kinder zur Schulung mitgebracht hatte, erzählte mir, daß 
sie ihrem Mann die Mahlzeiten hätte vorkochen müssen, so daß er die- 


se nur noch aufzuwärmen brauchte. 


Die Auseinandersetzungen und Erfahrungen mit Frauen auf den Schulun- 
gen und am Frauenstammtisch motivieren mich, intensiver bestimmten 
Fragestellungen nachzugehen. Die gemeinsamen Diskussionen sensibili- 
sieren mich für spezifische Probleme der erwerbstätigen Frauen, die 
in der Regel im betrieblichen Wirbel um Lohn und Manteltarif leider 
oft ziemlich vernachlässigt werden, auch von Frauen. 


Den Frauenstammtisch halte ich für eine gute neue Form der Ausein- 
andersetzung innerhalb der Gewerkschaft. Es wird immer sehr enga- 
giert diskutiert, offen und solidarisch. Die Inhalte haben sich nie 
auf die Betriebssituation beschränken lassen. Ganz selbstverständlich 
wird die Gesamtheit der Problematik der erwerbstätigen Frauen auf 

den Tisch gepackt, so daß es auch kein Tabu ist, "persönliche" Ange- 
legenheiten anzusprechen. So entsteht eine gute Atmosphäre und ein 


solidarischer Zusammenhalt. 


Das Interesse der Frauen,im gewerkschaftlichen Rahmen nicht nur zu 
arbeiten, sondern sich auch zu unterhalten und sich kennenzulernen, 
drückt sich u.a. aus in kulturellen Veranstaltungen, gemeinsamen 
Ausflügen, Besichtigungen von Betrieben und sozialen Einrichtungen, 
wie sie z.B. vom ÖTV-Frauenausschuß gelegentlich angeboten werden. 
Bei solchen informellen und überschaubaren Veranstaltungen herrscht 
meist eine lockere Atmosphäre ohne Leistungsdruck, die vielen Frauen 
erleichtert, sich einzubringen und sich aktiv an der Diskussion zu 
beteiligen. Mir geht es so, daß, je größer und höher irgendeine ge- 
werkschaftliche Veranstaltung ist, ich umso unsicherer und ängstli- 
cher werde. Es braucht lange, bis ich mal wage, meinen Mund aufzuma- 
chen. Da geht es mir nicht anders wie in Seminaren oder Versammlungen 


an der Hochschule. 


-3]- 


Obwohl der Organisationsgrad der Frauen in der ÖTV ca. 24 % (1977) 
beträgt, treffe ich eigentlich nur auf den unteren Ebenen der Ge- 
werkschaftsorgane einen beträchtlichen Anteil von Frauen an. Was im 
theoretischen Teil über die mangelhafte Vertretung von Frauen in den 
Gremien gesagt wurde, kann ich aus eigener Erfahrung nur voll be- 
stätigen: nsere Betriebsgruppe setzt sich vorwiegend aus Frauen zu- 
sammen (insgesamt sind im Betrieb mehr Frauen als Männer beschäf- 
tigt), auch fast alle Vertrauensleute sind Frauen. In VL-Versammlun- 
gen, betriebsübergreifend, kann ich auch noch einen vertretbaren 
Frauenanteil feststellen, doch alles was drüber ist, z.B. in der De- 
legiertenversammlung, dem untersten beschlußfassenden Organ einer 
Kreisverwaltung, muß man die Frauen mit der Lupe suchen! 


Aufgefallen ist mir - allerdings erst, nachdem ich mich selbst in- 
tensiver mit Frauenpolitik der Gewerkschaften beschäftigt habe 

(z.B. im Rahmen dieses Artikels u.a.) - daß die schlechte Situation 
der Frauen im Erwerbsleben nicht ernsthaft aufgegriffen und angegan- 
gen wird. Das zeigen z.B. die Lohntarifverhandlungen im öffentli- 
chen Dienst: die Empfehlungen des geschäftsführenden Hauptvorstan- 
des der ÖTV über Lohnerhöhungen zu den jährlich stattfindenden Lohn- 
tarifverhandlungen und die ausgehandelten Abschlüsse enthielten fast 
immer prozentuale Lohnerhöhungen, allenfalls mit einem Sockelbetrag. 
Wie bekannt ist, hat gerade eine solche Art von Lohnerhöhung für 

die unteren Lohngruppen, die sich ohnehin schon an der Grenze eines 
zumutbaren Lohnes bewegen, die Folge eines drastischen Reallohnab- 
baus. Im öffentlichen Dienst sind immer noch etwa zwischen 20 und 

30 % der Beschäftigten in der untersten Lohngruppe eingruppiert. 

Das sind in erster Linie Frauen im Wirtschaftsbereich und im Reini- 
gungsdienst! Berücksichtigt man dann noch die Tatsache, daß Arbei- 
ter/innen Zuschläge bekommen nach der Dauer der Betriebszugehörig- 
keit und nicht wie Angestellte nach Lebensalter, und daß Frauen - 
wie bereits erwähnt - aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen 
weniger lang in einem Betrieb arbeiten, wissen wir, wer die Beschis- 
senen sind. Doch um solch subtile aber sutschaldundn Diskriminie- 
rungsmomente zu durchschauen, müssen wir uns erstmal recht ausführ- 
lich einarbeiten in Tarifverträge und Gesetze, wo dies alles festge- 
legt ist. Gleichzeitig müssen wir bestehende Möglichkeiten der ge- 
werkschaftlichen und gesetzlichen Interessenvertretung noch viel 
intensiver kennenlernen, um das Optimale aus den Gesetzen - die ge- 
wiß nicht das Gelbe vom Ei sind - für uns und unsere Kollegen/innen 
herauszuholen. 


6. LITERATUR 


Bösel, Monika, Frauen - im Erwerbsleben noch immer benachteiligt? 
in: Der Bürger im Staat, 3. Sept. 77 

Frau im Berufsleben, in der Gesallschaft, in der Politik. 

Referentenleitfaden zum Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsar- 

beit, Hrsg.: DGB-Landesbezirk Bayern, München 1968 

Pinl, Claudia, Das Arbeitnehmerpatriarchat , Köln 1977 


-32- 


Rosemarie Raab 


FRAUENARBEIT IM STADTTEIL 


DER STADTTEIL 


Wilhelmsburg, flächenmäßig größter Stadtteil Hamburgs, wäre als De- 
monstrationsobjekt geeignet für ein Lehrstück über menschenfeindli- 
che, an kurzfristigen Wirtschaftsinteressen orientierte städtebauli- 
che Planung: Um der Entwicklung des Hamburger Hafens und der Gewer- 
be- und Industrieansiedlung Raum zu schaffen, sollte die Bevölkerung 
des westlichen Teils Wilhelmsburgs in neuzuerrichtende Wohngebiete 

im östlichen Teil umgesiedelt werden. Nachdem dann einerseits 10 
Jahre lang (1967 - 1977) im Osten ein Neubaukomplex nach dem nächsten 
entstand, andererseits im Westen die Gewerbe- und Industrieansiedlung 
nicht so expansiv wie geplant verlief und der Stadtteil zum Slum zu 
werden drohte, entschloß sich der Senat endlich zu einer Erhaltung 
des westlichen Teils als Wohngebiet und zu einem Verzicht auf weite- 
re Hochausbebauung im östlichen Teil. 

Hier waren allerdings inzwischen alle nur möglichen Probleme moder- 
ner Stadtrand-Hochhaussiedlungen ohne ausreichende Wohnvoraussetzungs- 
einrichtungen angelegt worden. Sie betreffen eine Bevölkerung, die in 
ihrer Struktur gekennzeichnet ist durch einen hohen Anteil an Kin- 
dern und Jugendlichen, an ungelernten Arbeitern, Facharbeitern und 
Handwerkern und einen hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfe- 
empfängern. Ein Drittel der Bevölkerung gilt nach Angaben des Orts- 


amtes als "sozial schwach'. 


DIE SITUATION DER FRAUEN IM STADTTEIL 


"Es wäre lohnend, eine 'vergleichende Sozialökologie' der Alters- 
klassen, Familienstände und Lebensphasen zu schreiben und das unter- 
schiedliche Gewicht der jeweiligen näheren und weiteren räumlichen 
Umwelten zu erfassen." (1) Dieser Vorschlag von H.P. Bahrdt wäre zu 
ergänzen durch eine "vergleichende Sozialökologie' der Geschlechter. 
Wenn auch alle Bevölkerungsteile von den Bedingungen im Stadtteil 
betroffen sind, so doch nicht in gleicher Weise und gleicher Inten- 
sität. Während die Männer in der Regel den größten Teil des Tages 

am Arbeitsplatz außerhalb des Stadtteils verbringen, ist dieser für 
die Mehrzahl der Frauen und Kinder der Hauptlebensbereich. Was öko- 
nomisch und gesamtgesellschaftlich zutreffend als Reproduktionsbe- 
reich bezeichnet wird, ist für Frauen Produktions- und Reproduktions- 
bereich zugleich. Das Wohnquartier ist für sie Arbeitsplatz und Er- 
holungsstätte. 

Das gilt sogar bis zu einem gewissen Ausmaß für berufstätige Frauen, 
da sie in der Regel zusätzlich die Pflichten der Hausfrau (Haushalt, 
Kinderversorgung und z.T. auch die Versorgung der älteren Genera- 


tion) übernehmen müssen. 


-33- 


Wie sehr gerade Frauen von einer unzureichenden Versorgung des Stadt- 
teils mit Einkaufsmöglichkeiten, Ärzten, Angeboten für Kinder und 
ältere Menschen betroffen sind, zeigte am Beispiel Wilhelmsburg eine 
Befragung, die 1976 im Auftrage der Hamburger Baubehörde bei Stadt- 
teilbewohnerinnen durchgeführt wurde. Aufgefordert, mögliche Einrich- 
tungen für ein geplantes Zentrum im Stadtteil in eine Rangordnung 
gemäß ihrer Wichtigkeit einzustufen, nannten die Frauen auf den 
ersten acht Plätzen verschiedene Einkaufsmöglichkeiten, Ärztezentrum 
und Einrichtungen für Kinder und Alte. (2) , 

Die Folgen der unzureichenden Versorgung spüren die Frauen in der 
zeitlichen Ausdehnung und Erschwernis ihrer Aufgaben im Haushalt und 
für die Familie und in der Verhinderung einer möglichen Erwerbstätig- 
keit. 

Doch nicht nur die unzureichende soziale Versorgung eines Stadtteils 
trifft Frauen in verstärktem Maße, sondern auch die Folgen der kom- 
plexen Hochhausbebauung, die als "Verdünnung von Interaktion, Aus- 


merzung von Selbsthilfe, Selbstversorgung und Selbstorganisation" 
beschrieben wurden. (3) 


Die aufgrund der nichtgewachsenen Struktur des Wohnquartiers fehlen- 
den engen Nachbarschaftsbeziehungen werden in Wilhelmsburg wie auch 
anderswo nicht in ausreichendem Maße durch Treffpunkte und kommunika- 
tive Angebote ausgeglichen. Selbst da, wo solche Angebote Männern 
noch in gewissem Ausmaß zur Verfügung stehen, bzw. von ihnen wahr- 
genommen werden - wie etwa in Form von Kneipen und Sportveranstal- 
tungen - sind sie den Frauen aufgrund gesellschaftlicher und ge- 
schlechtsrollenspezifische Normen vielfach versperrt. (4) Gerade 
diese Isolation im Stadtteil ermöglicht den Anschein einer Individua- 
lität von Einzelschicksalen bei Frauen. 

Sie verstärkt das geringe Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl der 
Hausfrauen, das wesentlich durch die fehlende gesellschaftliche und 
meist auch private Anerkennung ihrer Arbeit verursacht wird. Proble- 
me mit Kindern und Ehemännern werden als individuelles Versagen er- 
lebt und nicht selten mit Tabletten und Alkohol verdrängt. Nur wo es 
Frauen gelingt, den sich verstärkenden Kreislauf von Isolation, Rück- 
zug ins Private, Fixierung auf Haushalt und Familie, Verzicht auf 
Möglichkeiten, außerhalb der Familie Anerkennung zu erlangen, Ver- 
lust von Selbstwertgefühl und dessen Verdrängung zu druchbrechen und 
zusammen mit anderen Frauen Erfahrungen mit sich selbst zu machen, 


kann ein Bewußtsein des eigenen Wertes und der eigenen Fähigkeiten 
entstehen. 


AUSGANGSPUNKT DER FRAUENARBEIT IN WILHELMSBURG 


Anstöße für die Entwicklung von Frauengruppen und anderen Frauen- 
aktivitäten in Wilhelmsburg sind von verschiedenen Seiten gekommen: 
© Durch Aktivitäten im Rahmen einer kirchlichen Gemeinwesenarbeit, 
die die Verbesserung der Lebensbedingungen im Stadtteil, die Stär- 
kung der Kräfte einzelner und Gruppen in der Durchsetzung berech- 
tigter Lebensinteressen und die Aufhebung von Isolierung der Men- 
schen untereinander zum Ziel hat. 
Durch Einzelinitiativen von Frauen im Stadtteil, die durch die 
Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Situation der Abhängigkeit 
und fehlenden Selbstverwirklichung das Bedürfnis nach Veränderung 


=gh 


verspürten, aber schon bald merkten, daß diese Veränderungen nur 
zusammen mit anderen Frauen zu schaffen sind. 
® Durch Frauen, die durch berufliches und privates Engagement am 
Stadtteil bzw. an Frauen Interesse an einer Stärkung der Frauen- 
bewegung im Stadtteil haben. 
Ausgangspunkt der Frauenarbeit ist bei all diesen Ansätzen die Über- 
legung, daß eine Stärkung von Frauen im Sinne von Selbst-Bewußt-Wer- 
dung und im Sinne des Erwerbs von Fähigkeiten, sich gegen die gesell- 
schaftliche und private Unterordnung der Frau unter die Interessen 
des Mannes zu wehren, nicht allein dadurch entsteht, daß die Frau 
aus ihrer Hausfrauenrolle in die Rolle der Vollzeit- oder Teilzeit- 
Erwerbstätigen schlüpft. 
Selbst wenn man davon ausgeht, daß letztlich eine finanzielle und 
soziale Unabhängigkeit der Frauen ohne eine Erwerbstätigkeit nicht 
zu erreichen sein wird, so sind doch vorbereitend und begleitend 
zur Erwerbstätigkeit kollektive Erfahrungen und Lernprozesse notwen- 
dig, die den Frauen die Bewußtwerdung und Veränderung ihrer gesell- 
schaftlichen Rolle ermöglichen. 
Das gilt nicht nur für die große Zahl der stundenweise beschäftig- 
ten Frauen, die im Stadtteil Büros, Schulen, Arztpraxen und Treppen- 
häuser putzen und durch die Art ihrer Tätigkeit kaum Möglichkeiten 
haben, Selbstbestätigung zu finden. Sie erleben diese Arbeit als Ver- 
längerung ihrer sowieso schon zugeschriebenen und ausgeübten tägli- 
chen Aufgaben - allerdings mit dem Unterschied der Bezahlung, die 
einen Ansatz von Unabhängigkeit ermöglicht. Das gilt auch nicht nur 
für die vielen Frauen, die nach langjährigem Hausfrauendasein so 
sehr in ihrem Selbstbewußtsein beschädigt sind, daß sie nicht ohne 
weiteres in der Lage sind, sich auf eine angebotene Stelle zu bewer- 
ben bzw. eine Ausbildung oder Umschulung zu beginnen. 
Angebote zur gemeinschaftlichen und individuellen Stärkung aller 
Frauen zum Wiederentdecken und -gewinnen der eigenen Fähigkeiten 
und zur Durchsetzung als eigen erkannter Interessen sind vonnöten. 
Sie müssen allerdings da ansetzen, wo diese Frauen stehen: Als Haus- 
frauen ebenso wie als berufstätige Frauen und Mütter in dem Bereich, 


in dem sich ihre gesellschaftliche Rolle als Frau tagtäglich repro- 
duziert: im Stadtteil. 


KONKRETE ANSATZPUNKTE 


Die konkreten Ansatzpunkte für eine Stärkung von Frauen im Stadt- 
teil liegen in der Wilhelmsburger Praxis auf drei Ebenen: 





Veröffentlichung und Kollektivierung von Hausfrauentätigkeiten 





Die erste Ebene ist gekennzeichnet durch Ansätze zur Veröffentlichung 
und Kollektivierung bisher isoliert und privat ausgeübter Hausfrauen- 
tätigkeiten wie z.B. Einkaufen, Kochen, Kindererziehung. So kam z.B. 
eine Frau aus dem Stadtteil auf die Idee, das jeweils individuelle 
Kochen der Frauen in ihren Haushalten an einem Tag in der Woche auf- 
zuheben und ein gemeinsames Kochen zu initiieren. 

Beim "Montagskochen", das jetzt bereits über zwei Jahre in Gemeinde- 
räumen stattfindet, kochen abwechselnd einige Frauen für etwa 

15 - 20 Frauen und die doppelte Anzahl Kinder. Beim gemeinsamen 
Kochen und Essen werden sowohl Neuigkeiten aus dem Stadtteil und 


-35- 


politische Ereignisse als auch Probleme aus den Gruppen und Proble- 
me, die sich aus der Organisation dieser Montage ergeben, besprochen. 
Ein solches Problem war z.B., daß Frauen, die berufstätig sind, von 
den Hausfrauen z.T. wie müde heimkehrende Ehemänner bewirtet wur- 
den, bzw. sich bewirten ließen. Damit war eine typische geschlechts- 
rollenspezifische Situation, die sich sonst in der privaten Sphäre 
unhinterfragt abspielt, öffentlich und für Kritik und Veränderung 
zugänglich. Be 
Das "Montagskochen" erfüllt auch eine Funktion als Anlaufstelle für 
neue Frauen. Gerade für Frauen, die bisher weitgehend isoliert im 
Stadtteil gelebt haben, bietet das gemeinsame Kochen und Essen mit 
anderen Frauen und Kindern eine unverbindlichere Möglichkeit als z. 
B. feste Frauengruppen, mit anderen Frauen Kontakt aufzunehmen und 
sich allmählich mit ihren Fähigkeiten und auch ihren Problemen ein- 
zubringen. 
Weitere Beispiele auf dieser Ebene liegen im Bereich der kollektiven 
Kinderbetreuung. Da gibt es z.B. ein über die kirchliche Gemeinwe- 
senarbeit angeregtes, dann aber eigenständig organisiertes Selbst- 
hilfeprojekt von Frauen, bei dem Kinder gemeinschaftlich stundenwei- 
se in einem Kinder-Spiel-Club betreut werden. 

Dieses Projekt soll sowohl den Müttern im Wohnquartier die Möglich- 
keit bieten, sich bei Einkäufen, Arzt- oder Behördenbesuchen usw. 
für einige Stunden von ihren Kindern zu entlasten als auch den Kin- 
dern gemeinsame Spielerfahrungen zu ermöglichen. , 

Die Frauen, die die Betreuung der Kinder für jeweils einen Vormit- 
tag unentgeltlich übernehmen, treffen sich regelmäßig als Gruppe, 
um über ihre Erfahrungen in der Arbeit mit den Kindern zu reden. 

Bei diesen Treffen trat nach einigen Monaten zunehmend das Problem 
der Bezahlung der im Spiel-Club tätigen Frauen in den Vordergrund. 
Was im Rahmen der Kleinfamilie widerspruchslos ohne Entgeld tagtäg- 
lich geleistet wird, gewinnt im Rahmen der Öffentlichkeit ein ande- 
res Gewicht. Hier wird die gleiche Tätigkeit zur entlohnbaren Lei- 
stung. Was bei den Ehemännern unhinterfragt akzeptiert wird, daß 
sie nämlich auf Kosten bzw. auf der Basis der Hausarbeit der Frauen 
die Möglichkeit einer Berufstätigkeit mit der entsprechenden finan- 
ziellen Unabhängigkeit (auch in der Ernährerrolle) und den Chancen 
von Selbstbestätigung in Anspruch nehmen, wird in Bezug auf andere 
Frauen im Stadtteil, die ihre Kinder gegen geringes Entgeld (für 
Spielmaterial) beim Spiel-Club abgeben, um dann z.B. stundenweise 
oder halbtags zu arbeiten, nicht akzeptiert. Das Gefühl von Ausnutzung 
oder Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft kommt auf und wird auch im 
Hinblick auf die familiäre Situation diskutierbar. 


JEP 
Freizeit- und Selbsterfahrungsgruppen 
— 


Eine zweite Ebene der Stärkung von Frauen im Stadtteil sind die 
Freizeit- und Selbsterfahrungsgruppen, in denen Frauen - anknüpfend 
an ihre jeweilige Situation - ihre individuelle und kollektive Ge- 
schichte aufarbeiten können und sich gegenseitig Mut machen. Ini- 
tiiert und geleitet wurden solche Gruppen in den letzten drei Jah- 
ren zum größten Teil von Frauen, die einen persönlichen und beruf- 
lichen Bezug zum Stadtteil haben: als Ärztinnen, als Lehrerinnen, 
als niedergelassene Rechtsanwältinnen, als Rechtsanwaltsgehilfinnen, 
als Sozialarbeiterinnen, als Pastorin. Die meisten dieser Frauen 
haben sich in einer Gruppe zusammengeschlossen, die seit drei Jahren 


-36- 














Kritische 
Texte 





Sozialarbeit 
Sozialpädagogik 
Soziale Probleme 






Herausgegeben von Hanns Eyferth, Paul Hirschauer, Joachim Matthes, 
Wolfgang Nahrstedt, Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch 


Eine Auswahl 


Henrik Kreutz/ 

Reinhard Landwehr (Hrsg.) 
Studienführer für Sozialarbeiter/ 
Sozialpädagogen 

Ausbildung und Beruf im Sozialwesen. 
282 Seiten, Paperback, DM 24,80. 
ISBN 3-472-58031-3 


Hans Thiersch 

Kritik und Handeln 
Interaktionistische Aspekte der Sozial- 
pädagogik. Gesammelte Aufsätze unter 
Mitarbeit von Anne Frommann und 
Dieter Schramm. . 

185 Seiten, Paperback, DM 17,80. 
ISBN 3-472-58036-4 


Peter Runde/Rolf G. Heinze 
Chancengleichheit für Behinderte 
Sozialwissenschaftliche Analysen für 
die Praxis 

ca. 250 Seiten, Paperback, ca. DM 25, — 
ISBN 3-472-58045-3 


Thomas Mathiesen 

Überwindet die Mauern! 

Die skandinavische Gefangenen- 
bewegung als Modell politischer Rand- 
gruppenarbeit 

Mit einer Einführung von Karl F. 
Schumann 

ca. 200 Seiten, Paperback, ca. DM 24,— 
ISBN 3-472-58044-5 


Luchterhand 


Elke Stark — von der Haar 
Arbeiterjugend — heute 
Jugend ohne Zukunft? 

230 Seiten, Paperback, DM 16,80. 
ISBN 3-472-58037-2 


Projektgruppe Arbeitsmarktpolitik/ 
Claus Offe (Hrsg.) 

Opfer des Arbeitsmarktes 

Zur Theorie der strukturierten Arbeits- 
losigkeit. 

283 Seiten, Paperback, DM 19,80. 
ISBN 3-472-58038-0 


Barbara Schmitt-Wenkebach 
(Hrsg.) 

Elternbildung als sozial- 
pädagogische Aufgabe 
Erfahrungen, Modelle, Vorschläge 
185 Seiten, Paperback, DM 19,80. 
ISBN 3-472-58035-6 


Walter Specht 

Jugendkriminalität und Mobile 
Jugendarbeit 

Ein stadtteilbezogenes Konzept 
von Street-Work 

ca. 180 Seiten, Paperback, ca. DM 22, — 
ISBN 3-472-58043-7 


Martin Sauer 
Heimerziehung 

und Familienprinzip 

231 Seiten, Paperback, DM 24, — 
ISBN 3-472-58042-9 











eine Beratung im Stadtteil anbietet (seit zwei Jahren auch als aner\ 
kannte $ 218-Beratung). 

Ausgangspunkt war bei den Frauen die eigene positive Erfahrung von 
Gesprächen mit Freundinnen und in Selbsterfahrungsgruppen und die 
dort erlebte Stärkung des Selbstbewußtseins. Diese Erfahrung wollten 
die Frauen neben ihrer jeweiligen Fachkompetenz an die Frauen im 
Stadtteil weitergeben. 


Die Beratungsgruppe hat sich selbst immer auch als Frauengruppe vers 
standen - in der ersten Phase eher als Selbsterfahrungsgruppe, spä- 
ter gekoppelt mit gemeinsamer Fortbildung und Supervision. Durch 

die teilweise personelle Identität ist die Beratungsarbeit eng mit 
den verschiedenen Frauenaktivitäten im Stadtteil verknüpft. Frauen 
aus den Gruppen kommen zur Beratung und Frauen aus dem Stadtteil 
werden über die Beratung in bestehende Gruppen weitergeleitet oder 
für neue Gruppen vorgemerkt. 

Die Frauengruppen, die in den letzten Jahren in Wilhelmsburg ent- 
standen sind, unterscheiden sich z.T. erheblich voneinander. Das 
resultiert daraus, daß die Gruppen jeweils an der konkreten Situa- 
tion der Frauen ansetzen, d.h. wo sie etwas verändern wollen. Frauen, 
die den Schritt, sich aus der Fixierung auf Haushalt und Kinder zu 
lösen, noch nicht begonnen haben, aber ein Bedürfnis in der Richtung 
'mal rauszukommen' oder 'mal was für sich selbst zu machen' formu- 
lieren, haben andere Erwartungen an eine Gruppe als z.B. in Schei- 
dung lebende Frauen an eine Geschiedenen-Gruppe oder Frauen, die in 
ihren Beziehungen gerade zu ihren Töchtern ihre eigene Geschlechts- 
rollenproblematik erleben und verändern wollen, an eine Mutter-Toch- 
ter-Gruppe. 

Bei den erstgenannten Frauen z.B., die zum überwiegenden Teil Haus- 
frauen sind, boten die Leiterinnen zuerst eine Bastelgruppe an, aus- 
gehend von der Annahme, daß das Herausgehen aus dem vertrauten Rah- 
men der Familie in eine Frauengruppe für die Frauen relativ angst- 
besetzt ist und das Besprechen von persönlichen Problemen bei die- 
sen Frauen erst in einem längerfristigen Prozeß auf der Basis von 
emotionaler Sicherheit in der Gruppe möglich sein wird, und um mög- 
lichst eng an dem bisherigen Freizeitverhalten bzw. Rollenverständ- 
nis der Frauen anzusetzen. 

Diese Gruppe trifft sich jetzt schon seit über drei Jahren. Die 
Frauen haben z.T. sehr enge Kontakte untereinander oder zu anderen 
Frauen, einige treffen sich regelmäßig außerhalb der Gruppenabende. 
Das Basteln spielt heute keine Rolle mehr, im Vordergrund steht die 
gemeinsame Freizeit und die praktische gegenseitige Unterstützung. 
In den Geschiedenen-Gruppen ist sowohl die Möglichkeit als auch die 
Bereitschaft, über die persönlichen Probleme einen Einstieg in die 
Gruppe zu finden, da sich die Gruppe gerade durch die Problemsitua- 
tion der Scheidung oder Trennung definiert. Im Vordergrund steht 

das Mutmachen für die Bewältigung der Probleme, der Austausch von 
Informationen und Ratschlägen und die praktische Unterstützung in 
Behördenangelegenheiten sowie das Entwickeln von Perspektiven für 
ein Leben in eigener Verantwortung für sich und die Kinder. 

In der Mutter-Tochter-Gruppe steht die Aufarbeitung der individuel- 
len Geschichte der einzelnen Frauen, ihre eigene Mutter-Beziehung 
und ihre Sozialisation zur Frau im Mittelpunkt. Psychologische Me- 
thoden (z.B. der Transaktionsanalyse) oder Rollenspiele sind dabei 
hilfreich. 


-38- 


Auch in der Dauer unterscheiden sich die einzelnen Gruppen vonein- 
ander. Je klarer die Fragestellung ist, mit der die Frauen in die 
Gruppe gehen, je sicherer sie wissen, was sie dort für sich errei- 
chen wollen, um so klarer kann eine Gruppe zeitlich begrenzt sein. 
Wichtig ist aber bei allen Gruppen der Stadtteilbezug, da er über 
die Gruppentreffen hinaus eher private Kontakte, nachbarschaftliche 
Hilfen und gemeinsame Aktivitäten wie z.B. den gemeinsamen Gang zum 
Sozialamt ermöglicht. 





Stadtteil- und Bürgerinitiativen 
TA a a e Sa 


Die dritte Ebene, auf der Frauen sich im Stadtteil stärken können, 
ist der Bereich der Stadtteil- und Bürgerinitiativen, die sich z.B. 
für die Verbesserung der sozialen Infrastruktur des Stadtteils ein- 
setzen. 

In Wilhelmsburg ist das z.B. eine Bürgerinitiative, die schon seit 
Jahren für ein soziales und kulturelles Ortszentrum kämpft oder ein 
Arbeitskreis Erziehung und Schule, der sich mit der Situation an den 
Wilhelmsburger Schulen auseinandersetzt, Schulprobleme veröffentlicht 
und Aktionen plant, die der Verbesserung der Situation an den Schu- 
len dienen sollen. 

Ein anderes Beispiel ist eine Gemeindeinitiative, die sich spontan 
bildete, als die Gemeinwesenarbeit der Kirchengemeinde von Kirchen- 
vorstehern als "zu sozial" angegriffen wurde und ein Pastor versetzt 
werden sollte. Da die Frauenarbeit z.T. eng mit der Gemeindearbeit 
verknüpft ist, solidarisierten sich insbesondere viele der Frauen 
mit den betroffenen Mitarbeitern und Pastoren. Die Initiative kämpf- 
te fast zwei Jahre für den Erhalt der Gemeindearbeit und viele 
Frauen waren bereit, für den neu zu wählenden Kirchenvorstand zu kan- 
didieren. 

In solchen Initiativen, an denen Frauen verhältnismäßig stark be- 
teiligt sind, lernen Frauen gesellschaftspolitische Zusammenhänge 
erkennen, Ziele und Durchsetzungsstrategien entwickeln, die an ihren 
persönlichen Bedürfnissen anknüpfen. Das Erfahren der eigenen Fähig- 
keiten in solchen öffentlichen Bereichen hat - wenn auch teilweise 
erst langfristige - Wirkungen auf das Erkennen und Durchsetzen von 
Interessen im privaten Bereich. 

Zu dieser dritten Ebene zählen nicht nur die Bürger- und Gemeinde- 
initiativen, in denen Frauen und Männer sich für gemeinsame Ziele 
einsetzen, sondern auch Initiativen für Einrichtungen, die die l 
Frauenarbeit im Stadtteil stärken. So wurde in Wilhelmsburg auf Ini- 
tiative der Frauen vom "Montagskochen" ein Verein gegründet, dem ca. 
60 Frauen angehören und über den im Stadtteil eine Wohnung als kom- 
munikativer und kultureller Treffpunkt für Frauen (Café- und Bücher- 
stube) angemietet wurde. Damit lösten sich die Frauen aus der Ab- 
hängigkeit von Institutionen wie z.B. der Kirche, die ihnen bisher 
Raum zur Verfügung gestellt hatte und schufen sich aus eigenen Mit- 
teln (Spendenbeiträge) Bedingungen für die Realisierung ihrer Inter- 
essen. 

Erfahrungen nicht nur in Wilhelmsburg haben gezeigt, daß Frauen, 
wenn sie sich in solchen Initiativen engagieren, eher kämpferischer, 
kreativer und ausdauernder sind als Männer, was sich z.T. sicher auf 
ihre größere Betroffenheit von den zu beseitigenden Mißständen im 


Stadtteil zurückführen läßt. 


-39- 





ANMERKUNGEN 


a) 
(2) 


(3) 


(4) 


Bahrdt, H.P. Das Wohnquartier, in: Müller, C.W., Nimmermann, P 
Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit, München 1973 S, 31 

Ein Zentrum für Wilhelmsburg-Ost. Eine Untersuchung der Baube- 
hörde Hamburg, Landesplanungsamt. Hrsg. Baubehörde Hamburg, 
Hamburg, Mai 1976, S. 30 

R. Gronemeyer, Neubauwohnungen, Bausteine der Versorgungskultur 
in: Gronemeyer, R., Bahr H.E. (Hrsg.), Nachbarschaft im Neubau- 
block, Weinheim 1977, S. 51 

So ergaben sich bei der o.a. Befragung im Auftrage der Baubehör- 
de für Männer und Frauen deutliche Unterschiede auf die Frage 
hin, an wieviel Abenden der letzten Woche die Erwachsenen zuhau- 
se oder fort waren: Von den Frauen war mehr als die Hälfte an 
allen sieben Abenden zuhause, von den Männern dagegen nur rund 
ein Drittel. Vgl. Ein Zentrum für Wilhelmsburg-Ost asas, So 34, 





Stadi vat 
anra bf Caık 






Astrid Hochwald 


GRUPPENARBEIT 
MIT ALLEINERZIEHENDEN MÜTTERN UND EHEFRAUEN 


1. ZUM ARBEITSFELDRAHMEN 


Ich mache gemeinwesenarbeitsorientierte Mieterarbeit in einem schnell 
wachsenden Ort bei Hamburg. Von einem Wohnungsunternehmen angestellt, 
betreue ich mit einem Kollegen gemeinsam ca. 550 Wohneinheiten, über- 
wiegend sozialer Wohnungsbau. Dafür stehen uns insgesamt 12 Gemein- 
schaftsräume zur Verfügung. Seltene Zugeständnisse eines Wohnungs- 
unternehmens für mehr menschliches Wohnen in Betonsilos! 

Die Gründe dafür haben 2 Seiten: 

a) tatsächliches persönliches Engagement des Geschäftsführers, eine 
Mustersiedlung nach dänischem Vorbild mit gut funktionierender 
Versorgung zu schaffen; 

b) geschäftliches Interesse: das Wohnungsunternehmen ist klein und 
die Konkurrenz gerade im sozialen Wohnungsbau groß. Die Sozial- 
leistungen werden ausgenutzt, um das Image der Gesellschaft zu 
stärken, damit sie Aufträge zur Planung, Errichtung und Wartung 
von Sozialwohnungen erhält und ihre Bauvorhaben außer der allge- 
meinen Förderung für den sozialen Wohnungsbau, als Modellprojekt 
besonders gefördert werden (gerade für finanzschwache Gemeinden 
ist dieses Wohnmodell attraktiv, da soziale Folgeleistungen mit- 
geliefert werden). 

Im Rahmen dieser Mieterarbeit habe ich vor einem Jahr mit der Arbeit 

in zwei Frauengruppen begonnen: 

einer Ehefrauengruppe und einer Gruppe mit alleinstehenden Müttern. 


2. ZUR UNTERSCHIEDLICHEN LEBENSSITUATION BEIDER GRUPPEN 


Bevor ich mich mit Zielvorstellungen und methodischen Schritten für 
den Gruppenaufbau beschäftigte, habe ich mich mit der Lebenssitua- 
tion beider Zielgruppen auseinandergesetzt - anfangs aus eigener theo- 
retischer Einschätzung, später ergänzt, vervollständigt, relativiert 
durch die Selbstdarstellungen der Frauen. Kategorien für die Gegen- 
überstellung beider Lebenszusammenhänge waren folgende: 

© welchen Status haben die Frauen in unserer Gesellschaft? 

© in welchem Arbeitszusammenhang stehen Sie? 

® welche Stellung nehmen sie in ihrer Familie ein? 

© wie sieht ihr Freizeitbereich aus? 


Daraus haben sich folgende Erkenntnisse für mich ergeben: 


Beide haben einen unterschiedlichen Status und sind einer anderen 
Form von Isolation ausgesetzt. 


PA 


ME au a Te en en 
Ehefrauen 

EEE TI nn a 
Der Status Ehefrau und Familien- 
mutter ist in unserer Gesell- 
schaft vollkommen etabliert und 
normenkonform - sichert die Ehe- 
frau doch durch die Akzeptierung 
und Verinnerlichung ihrer tradi- 
tionellen Rolle den Familien- 
verband als Reproduktionsstätte, 
indem sie ohne Lohn für ihre 
Hausarbeit zusätzlich auch noch 
Liebes- und Beziehungsarbeit 
leistet. 

Sie trägt durch die zusätzli- 
che Belastung eines Halbtags- 
jobs häufig dazu bei, daß Kon- 
sumgüter, an denen der Status 
der Familie gemessen wird und 
die mehr und mehr zum Lebens- 
inhalt gemacht worden sind, 
angeschafft werden können. 
Dahinter verschwinden Freun- 
desbeziehungen, der Kontakt 

zu anderen Ehepaaren läuft 
oberflächlich oder über die 
Konkurrenzebene: "Die haben 

sich gerade wieder das und 

das angeschafft." 

Die Ehefrau zieht sich voll- 
kommen in die Familie zu- 

rück, Selbstdefinierung 

läuft fast nur noch über 

den Ehemann, Kinder und zu 
erstrebende Konsumgüter. 

"sich nur nicht exponieren" 
"nicht ins Gerede kommen" 
"nichts von den Problemen 

nach außen dringen lassen". 


hd 


a 
Alleinstehende Mütter 
e 
Der Status der alleinstehenden 
Mütter ist dazu im Gegensatz weit- 
aus geringer: 
Zwar erfüllt sie noch in der Rest- 
familie die gesellschaftlich not- 
wendige Reproduktionsarbeit - 
nämlich Erziehung der Kinder - der 
tatsächliche gesellschaftliche 
Wert ihrer Tätigkeit hat sich je- 
doch verringert: 
@ Materiell: 
Oftmals kann sie wegen kleiner 
Kinder nicht arbeiten und ist so 
von Sozialhilfe abhängig (Unter- 
haltszahlungen von Vätern erhal- 
ten höchsten 50 Z aller led/gesch. 
sorgeberechtigten Mütter - Quelle: 
Verein alleinerziehender Mütter 
und Väter, Zahlenspiegel Einel- 
ternfamilien '76). 
Arbeitet sie, dann vorwiegend im 
unteren Angestelltenverhältnis, 
so daß sie mit ihrem Einkommen 
keine großen Sprünge machen kann, 
sich weniger Konsumgüter leisten 
kann, an denen in unserer Gesell- 
schaft u.a. der Status gemessen 
wird. 
© Ideologisch: 
Sie hat die "Säule" unseres Sy- 
stems angeknackst, die Norm in 
Frage gestellt. Dieses "Nichtfunk- 
tionieren" löst Ängste und Abwehr- 
reaktionen anderer Eheleute aus: 
"Vorsicht, die hat eine geschei- 
terte Ehe hinter sich, das könnte 
für unsere Ehe bedrohlich sein"... 
"Irgendwie muß sie ja schuld ha- 
ben" ... Amoralität oder persön- 
liche Schwäche werden ihr unter- 
stellt. Sie wird isoliert, Freun- 
de, meist Ehepaare, ziehen sich 
nach der Scheidung zurück. Andere 
Möglichkeiten,neue Freunde kennen- 
zulernen sind begrenzt: 
a) durch die Dreifachbelastung 
Kindererziehung/Haushalt/Beruf 
bleibt ihr eh wenig Zeit für die 
eigene Freizeitgestaltung 
b) die meisten Freizeitmöglichkei- 
ten sind entweder auf Paare aus- 
gerichtet, oder aber 
c) die alleinstehende Frau hat sich 


stark mit der ihr zugeschriebenen 
Frauenrolle in unserer Gesell- 
schaft auseinanderzusetzen: sie 
ist Freiwild, vor allem auf der 
Suche nach einem neuen Partner. 
Dabei wird von ihr die traditio- 
nelle Frauenrolle erwartet, näm- 
lich keine Initiative zu ergrei- 
fen, sondern abzuwarten. Fühlt sie 
sich dadurch erniedrigt und will 
ihre Situation verändern, hat sie 
dann gegen die eigene Verinnerli- 
chung genau dieser Rollenerwartung 
zu kämpfen. Ihre Reaktion darauf 
ist dann häufig Rückzug aus den 
meisten Freizeitangeboten. 


Aus diesen beiden unterschiedlichen Lebenszusammenhängen heraus 
erfolgen von den Ehefrauen auf andere Reaktionsweisen auf die Frauen- 
gruppe als von den alleinstehenden Müttern. Beide haben einen unter- 
schiedlichen Bewußtseinsstand ihrer Bedürfnisse, was sich auf die 
Strukturierung der Gruppenabende niederschlägt. 


3. DIE ALLEINSTEHENDEN MÜTTER 


Das erste Problem tat sich schnell auf: Wie komme ich überhaupt an 
meine Zielgruppe heran? 

In meinem Fall war das relativ einfach, da alle Mieter beim Einzug 
in den Wohnblock für das Wohnungsunternehmen einen Fragebogen ausfül- 
len, der ihre sozialen Daten, Freizeitinteressen, Fragen nach Stell- 
plätzen und Garagen festhält. Bei Durchsicht dieser Daten stellte 
ich fest, daß 10 % aller Wohnparteien aus alleinstehenden Müttern 
bestanden. 

Ich habe dann systematisch fast alle Frauen besucht; ein Großteil 
der angesprochenen alleinstehenden Mütter zeigte großes Interesse 

an einer Gruppe mit "gleichbetroffenen" Frauen - tatsächlich besteht 
die Gruppe jetzt aus 13 Frauen, die alle Kinder haben und zwischen 
30 und 40 Jahre alt sind. 

Da jede Frau annehmen konnte, daß die andere ein ähnliches Scheidungs- 
drama hinter sich hatte, war die Bereitschaft, über eigene Probleme 
zu sprechen, außerordentlich groß. Hinzu kam das Bedürfnis, neue 
Menschen am Wohnort kennenzulernen, die auch spontan bereit wären, 
einen Teil der Freizeit miteinander zu verbringen. 

So erzählte am Anfang fast jede Frau ihre Ehegeschichte - gegensei- 
tige Ähnlichkeiten und Schwierigkeiten wurden festgestellt. Durch 
die Verallgemeinbarkeit ihrer Probleme fühlten sich die Frauen ent- 
lastet. Danach war bereits eine so vertraute Ebene geschaffen, daß 
andere Probleme angeschnitten wurden: Kindererziehung (wobei gegen- 
seitiges Babysitting nicht mehr so nötig war, da die meisten Kinder 
schon im Schulalter sind); Arbeit; Partnersuche. Der letzte Bereich 
war für alle besonders problematisch, hatten doch alle schon den 
"Tanzlokaltick" (in ein Lokal gehen, so tun, als ob man auf jemanden 
wartet und wieder abziehen) hinter sich. Diese Szenen waren für alle 
Frauen ausnahmslos erniedrigend, so daß die Idee, sich mit der Grup- 


-4 3- 


pe eine entlastende Atmosphäre zu schaffen, nicht lange auf sich war- 
ten ließ. 

Inzwischen unternehmen die Frauen viel in Gruppen zusammen, sie füh- 
len sich sicherer, mögen sich und können miteinander reden. 

Lernt eine Frau einen Mann kennen, wird rege Anteil genommen - bis- 
her hat sich wegen einer Männerbekanntschaft noch keine Frau aus 

der Gruppe zurückgezogen. 

Vielen Frauen ist klar, daß es für sie schwer geworden ist, für län- 
gere Zeit einen neuen Partner zu finden, der bereit ist, ihre neuer- 
lernte Selbständigkeit und Verantwortlichkeit zu akzeptieren. Umso 
wichtiger ist ihnen deshalb der Kontakt zur Gruppe, auf den sie ge- 
rade in Zeiten neuer Einsamkeit zurückgreifen können. Die Gruppenaben- 
de sind gefüllt mit Klönen, Diskussionen über abgesprochene Themen 
und lockeren Angeboten wie Folkloretänze, Spiele, Basteln. 

Ein Großteil dieser Angebote wurde von den Frauen eingebracht, die 
konkrete Realisierung fiel ihnen jedoch schwer, so daß ich anfangs 
eine stärkere Strukturierung des Abends übernommen habe. 

Inzwischen, wo wir uns alle gut kennengelernt haben,und die Frauen 
auf das letzte Jahr zurückblicken, wo sie ständig die alleinige Ver- 
antwortung für ihre Handlungen getragen haben, sind sie weitaus 
bereiter, selbst dafür zu sorgen, daß das aufgestellte Programm 
durchgeführt und gegebenenfalls kritisiert wird, wenn etwas schief 
gelaufen ist. 

Meine Rolle in der Gruppe hat sich somit verschoben. Zwar werden 
Abende auch inhaltlich von mir vorbereitet, aber durch die offene 
Atmosphäre in der Gruppe ist meine Berufsrolle zurückgetreten. Ich 
kann einen guten Teil meiner Belange einbringen, fühle mich bei vielen 
Themen in meiner eigenen Problematik als Frau angesprochen. Aller- 
dings wähle ich dabei aus, was von meinen Dingen der Gruppensitua- 
tion zumutbar ist. 


4. DIE EHEFRAUEN 


Wie habe ich die Ehefrauengruppe zusammenbekommen? 

Um nicht nur diejenigen Frauen zu erreichen, die ich eh kannte und 
die schon in Frauencliquen steckten, bin ich von Haustür zu Haustür 
gegangen: Die Reaktion der Frauen war aufgeschlossener als am Tele- 
fon, da sie sich durch das unmittelbare Gegenüber nicht so schnell 
zurückziehen konnten. Letztlich haben von 50 erreichten Frauen 15 
für die Gruppe zugesagt und sind auch heute noch dabei. 

Da bei den Ehefrauen kein offensichtlicher, für alle akzeptierbarer 
gemeinsamer Problembereich vorhanden war, galt es hier einen anderen 
gemeinsamen Nenner zu finden: 

"Frauengruppe mit Klönen und Erfahrungsaustausch" stieß auf wenig 
Resonanz: "Da wird dann doch nur getratscht", oder: "Ich bin eman- 
zipiert genug". 

Ein tatsächlicher Anhaltspunkt war dann der Gedanke, daß die wenig- 
sten Frauen einen eigenen, sie ausfüllenden Freizeitbereich haben. 
Also definiert sich diese Gruppe, in der sich alle Frauen bereits 
oberflächlich kannten, über eine Sache: Gymastik, Folkloretänze, 
Bowling, Basteln. 


Das Ziel dieser Gruppe konnte demnach zunächst sein, daß sich die 


-44- 











Kursbuch 54 
Jugend 


Rock me: Diskotheken. Buden. Lä- 
den / Arbeitslos oder: Mit der Zeit 
vergeht das/ Der macht seinen Weg/ 
Ichdenk,ihrwerdetmich nochsehn/ 
Manta-Frau undglücklich, geht das? / 
Ich möchte ein anständiges Mädchen 
sein / Dark Ladies: Wenn ich 'ne 
Karre hab... / Ein junger Faschist. 
Der neue Führer? / Fan-Club der 
Bundeswehr / Dorfjugend / Drogen- 
szene / Selten allein. Szenen einer 
WG / Die langandauernde Jugend 
der Linken 


Kursbuch 54 
192 Seiten, DM 8 
(im Abonnement-DM 6) 





Kursbuch 55 
Sekten 


Zwei Personen - eine Sekte / Die 
Mehrheit als Sekte. Oder: Ein Alb- 
traum / Die Lust des Hirns auf Haus- 
mannskost/ Der linke Psychodrom / 
Wozu diese dummen Fragen Genos- 
sen? / Im Schoß von Begriffen / Die 
Gurus der demonstrativen Lebens- 
stil-Suche / Astral-Marx. Über An- 
throposophie, Marxismus und ande- 
re Alternatiefen / Im Club. Beob- 
achtungen in verschiedenen hessi- 
schen Tennisvereinen 


Kursbuch 55 
192 Seiten, DM 8 
(im Abonnement DM 6) 





Kursbuch 56 
Unser Rechts-Staat 


Die freiheitlich demokratische 
Grundordnung als Superlegalität / 
Arbeitsrecht. Der Betrieb als rechts- 
freier Raum / Strafrecht und Rechts- 
staat / Wie entsteht unter Juristen die 
»herrschende Meinung«? / Gibt es 
eine objektive Rechtsprechung? Be- 
obachtungen im Gerichtssaal / Wis- 
senschaft und Recht. Die Macht der 
Gutachter vor Gericht / Daten- 
schutz / Miet- und Ausländerrecht / 
»Taktik« als»Verrat«? Die Linken auf 
dem Langen Marsch 


Kursbuch 56 (Juni 79) 
192 Seiten, DM 8 
(im Abonnement DM 6) 








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Frauen über den kurzen "Klönschnack" auf der Straße hinaus kennen- 
lernen, sich also vielseitiger wahrnehmen, schon verteilte Rollen 
dadurch etwas aufweichen; daß so ein tieferer Kontakt untereinander 
hergestellt wird, der es möglich macht, auch über private Schwierig- 
keiten zu reden, also einen Teil ihrer Isolation auflöst. 

Dieses Ziel erwies sich als keineswegs zu kurz gesteckt. Im Gegen- 
satz zur anderen Frauengruppe sind die Frauen kaum bereit, persön- 
lich etwas zu investieren: Der Ausflug in die Welt nach draußen wird 
nur kurz wahrgenommen - die Ehe und die Familie warten. Dabei wird 
die Harmonie der Ehe mit allen Mitteln nach außen und innen aufrecht- 
erhalten: eventuelle Probleme, Einsamkeitsgefühle, Überlastung, Strei- 
tigkeiten etc. werden vollkommen überspielt, das heißt, es gibt in 
der Gruppe kaum Themen, die persönlich werden, eher gleiten die Ge- 
spräche in small talk ab, der sich ständig wiederholt. 

Gerade jetzt ist bei den Frauen Unzufriedenheit über diesen Zustand 
spürbar - diese Art von Gesprächen führten sie auch sonst auf der 
Straße. 

Der Wunsch, gesetzte Programme auf dem Gruppenabend tatsächlich 
durchzuführen, wird jetzt stärker vertreten. Dennoch ist die Erwar- 
tungshaltung mir gegenüber, nämlich daß ich strukturiere, ankurble, 
sehr ausgeprägt. Gruppenvorbereitungen und -kritik werden nur zag- 
haft mitgetragen. 

Wie die Ehemänner auf die Gruppe reagieren, ist schwer einzuschätzen. 
Offensichtlich hat noch kein Mann einer Frau die Gruppe "verboten". 
Teilweise wird über den "Frauenverein" gelästert. Deutliche Reak- 
tionen gab es jedoch beim Aufbau der Gruppe: Viele Frauen wollten 
erst, bevor sie sich entschieden, die Meinung (Einwilligung) ihrer 
Männer hören. Insofern bilden die Frauen, die an der Gruppe teilneh- 
men, tatsächlich schon eine Auswahl der sowieso aktivieren, selb- 
ständigeren Ehefrauen. 


5. ZUM ABSCHLUSS 


Als ich mich an die Vorbereitungen beider Gruppen heranmachte, glaub- 

te ich nicht, daß der unterschiedliche Status beider Zielgruppen tat- 

sächlich so unterschiedliche Auswirkungen auf das Gruppengeschehen 

haben würde, zumal alle Frauen derselben Schicht zuzuordnen sind 

und von daher ähnliche Erfahrungshintergründe haben. 

Tatsächlich haben sich jedoch die "ehemaligen" Ehefrauen aufgrund 

ihres "Statusverlustes" sehr verändert: 

© in vielen Bereichen selbst diskriminiert, sind sie wacher und kri- 
tischer gegen Ungerechtigkeiten geworden 

© durch die notgedrungen allein getragene Verantwortung für Familie 
und sich selbst sind die Frauen sehr viel selbstsicherer geworden, 
haben sie doch etwas geschafft, was sie sich vormals kaum zu- 
trauten. 

Dagegen sind die Ehefrauen sehr wenig bereit, für ihre Interessen 

aktiv einzutreten, sie wiegeln eigene "Problemchen" ab, halten sich 


an ihrem häuslichen Rahmen fest. 


Für die Zukunft bedeutet dies für mich mühsame Kleinarbeit, d.h.: 
Angebote zu finden, die den Frauen Spaß machen und die deshalb den 
Wert der Gruppe für jede einzelne Frau steigen lassen; wenn Themen 
angesprochen werden, den roten Faden in der Hand zu behalten, Nach- 


-47- 


fragen zu stellen, nicht so schnell wie gewohnt unverbindlich von 
einem Thema zum anderen zu springen. 


ZU MEINER ROLLE IN DEN GRUPPEN 


Durch die unterschiedliche Reaktion der alleinerziehenden Mütter und 
der Ehefrauen auf die Frauengruppe erlebe ich mich in beiden Gruppen 
sehr verschieden. 

Aufgrund der starken Erwartungshaltung der Ehefrauen habe ich mich 
in dieser Gruppe vor allem anfangs fachlich stark gefordert gefühlt: 
Wie leiere ich die Gruppe an? Stoßen die Angebote auf Interesse? Wie 
kann ich die Frauen mehr aus ihrer Reserve locken? Wieviel an Kon- 
fliktpotential kann ich den Frauen zumuten, ohne daß sie sich zurück“ 
ziehen? Es kommt wenig Rückmeldung - wie empfinden die Frauen mich 
und das, was wir in der Gruppe gemeinsam erleben? etc. etc. 

Ich fühlte mich ständig verantwortlich und unter leichtem Streß. 

Im Laufe der Zeit hat sich dieser Zustand jedoch zunehmend verändert 
Wir haben uns gegenseitig mehr kennen- und mögengelernt, so daß 
zeitweilig die Bereitschaft der Frauen, ein neues Angebot auszupro- 
bieren eher aus der Motivation resultierte, mir einen Gefallen zu 
tun. Inzwischen ist der erste Sprung ins kalte Wasser getan, die 
Frauen sind viel mehr in der Lage als am Anfang zu sagen, was ihnen 
Spaß macht und schlagen z.T. selbst vor, wie wir den Abend verbrin- 
gen wollen. 

Der Erwartungsdruck an meine Fachlichkeit hat sich also gelegt, ich 
bin mehr als "Frau" - mehr als ihresgleichen akzeptiert (wenn auch 
mein Leben in einer Wg ohne Mann und Kinder ein völlig anderes ist, 
als das ihre). Dennoch steht für mich meine fachliche Rolle mehr im 
Vordergrund als meine eigene Problematik als Frau. Die tatsächlichen 
Berührungspunkte oder ähnliche Erfahrungen zwischen den Frauen und 
mir sind gering, wir leben in völlig verschiedenen Welten. So wähle 
ich sorgfältig aus, welche persönlichen Bereiche ich in der Gruppe 
anspreche und welche nicht. 

In der Gruppe der alleinerziehenden Mütter erlebe ich mich vollkom- 
men anders. Durch die Tatsache, daß alle Frauen am Gruppenbeginn un- 
glaublich froh waren, ihre Sorgen gleichbetroffenen Frauen mittei- 
len zu können, ergab sich für mich nicht die Rolle der "Macherin", 
die Frauen hatten genügend Energie, ihre Interessen zu artikulieren 
und einzubringen. Lediglich in Fragen der Strukturierung oder bei 
Überlegungen, wie ein Thema didaktisch anzupacken sei, rückte meine 
fachliche Rolle wieder stärker in den Vordergrund. 

Durch die zunehmend intimen und offenen Gespräche über die Lebens- 
situation jeder Frau haben wir uns schnell kennengelernt. Über die 
Erfahrung, daß die Frauen in der Lage sind, sich selbst einzubringen 
und die Tatsache, daß sie sich wie ich mit der Auflösung eigener 
festgefahrener Rollenzuweisungen herumschlagen (was sie notgedrungen 
aufgrund ihres Status tun müssen, um ihr Leben allein organisieren 
zu können), erlebe ich mich in dieser Gruppe mehr als Frau und 
Freundin, denn als Sozialpädagogin. Ich bin in der Lage, persönli- 
che Bereiche in der Gruppe anzusprechen, kann mich engagieren, ohne 
gleich Bedenken haben zu müssen, der Gruppenrahmen würde gesprengt 
oder überstrapaziert. Ich weiß: die Frauen sagen, wenn ihnen etwas 
nicht paßt. 


-48- 


Annemie Blessing 


DAS FRAUENTHERAPIEZENTRUM MÜNCHEN 


Die theoretische Auseinandersetzung mit den Fragen einer feministi- 
schen Therapie und unsere praktischen Erfahrungen in den verschie- 
densten Frauengruppen, führten im Februar 1978 zur Konkretisierung 
unserer Vorstellungen in einem Frauentherapiezentrum. 

Wir sind 6 Frauen zwischen 27 und 37 Jahren, fünf von uns sind Di- 
plom-Psychologinnen, mit teilweise Zusatzausbildung in Gesprächs-, 
Gestalt-, Verhaltenstherapie, eine kommt aus einem technischen Beruf. 
Zwei von uns haben Kinder. 

Alle kommen wir aus der Frauenbewegung. 

Im Frauentherapiezentrum sehen wir eine reale Möglichkeit, unsere 
berufliche Arbeit mit dem politischen Engagement zu verbinden, aus 
dem persönlichen Interesse aneinander neue Arbeits- und Beziehungs- 
formen zu entwickeln. 


Für die theoretischen Vorüberlegungen zu unserem therapeutischen Kon- 

zept sind zwei Gesichtspunkte wesentlich: 

© Die feministische Analyse der Reproduktionsarbeit, aus der wir 
den weiblichen Geschlechtscharakter und eine neue Auffassung soge- 
nannter "psychischer Störungen" von Frauen herleiten. 

® Unsere Kritik an der herkömmlichen Psychotherapie, die wir für un- 
geeignet halten, die Probleme von Frauen adäquat zu erfassen und 
zu bearbeiten. 


Die Lebensbedingungen von Frauen und deren psychische Verarbeitung 
sind im Zusammenhang ihrer unterdrückten Stellung im Patriarchat zu 
sehen. Diese beruht auf der primären Festlegung der Frauen auf den 
privaten Reproduktionsbereich und damit ihrem weitgehenden Ausschluß 
von der Gestaltung des öffentlichen Lebens. Sie bestimmt Sozialisa- 
tion und Lebensperspektive jeder Frau. 

Die Festschreibung bestimmter Rollenzuweisungen zwischen den Ge- 
schlechtern mit den damit verbundenen unterschiedlichen Verhaltens- 
anforderungen, bewirkt nicht nur die Ausbildung geschlechtsspezifisch 
einseitiger Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern sie legt die Zu- 
gehörigkeit zu den gesellschaftlich Herrschenden oder den Unterle- 
genen fest. Mit der Herausbildung des weiblichen Geschlechtscharak- 
ters im Verlauf der Kulturgeschichte und in der individuellen Sozia- 
lisation eines jeden Mädchens findet das objektive Machtverhältnis 
seine Verankerung in der Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen 
selbst, wird die Repression von außen durch die Selbstrepression ab- 
gesichert. Die durchgängige Präsenz der Geschlechtertrennung durch 
alle gesellschaftlichen und persönlichen Strukturen macht es so 
schwierig, sie als historisch entstanden und daher veränderbar zu 
begreifen. Sie erscheint in ihrer Selbstverständlichkeit als naturge- 
geben und wird als das "Normale" betrachtet. Individuelles Leiden 
daran wird schuldhaft als persönliches Versagen erlebt. 


-49- 


Daran hat sich auch durch die formale Gleichberechtigung nichts we- 
sentlich geändert. Von den Frauen wird weiterhin die Erfüllung ihrer 
weiblichen Rolle erwartet - zusätzlich soll sie jetzt dem Standard 
der abstrakten Gleichheitsnorm genügen; Normen, die ausschließlich 
am Mann orientiert sind. Das Rollendilemma wird ausweglos: Ob eine 
Frau ganz in ihrer Ehefrauen- und Mutterrolle aufgeht, nur für Mann 
und Kinder da ist, sie muß sich mit Abhängigkeit und Isolation ab- 
finden; ob sie sich der Doppel- und Dreifachbelastung durch Beruf, 
Haushalt und Kinder aussetzt, mit dem ständigen schlechten Gewissen, 
keinem gerecht zu werden, ob sie Unabhängigkeit und eine Lebensper- 
spektive im Beruf vorzieht - und dafür mit der gesellschaftlichen 
Achtung der alleinstehenden Frau bezahlt. Wie sie sich auch ent- 
scheidet, sie kann den Anforderungen nicht genügen. 


Das Unbehagen und Leiden der Frauen an ihrer Lebensrealität bildet 

in seiner Bewußtwerdung und aktiven Bewältigungsform das Potential 
für die Entstehung und das ständige Anwachsen der Frauenbewegung. 
Diesen Bedingungen isoliert und bewußtlos ausgeliefert zu sein ist 
zum anderen wesentliche Ursache des großen Ausmasses an psychischen 
und körperlichen Leiden, dem Nicht-Mehr-Funktionieren-Können vieler 
Frauen in den unterschiedlichsten Ausprägungen. 

Die sogenannten "psychischen Störungen" von Frauen sind unserer Mei- 
nung nach sinnhaltige Reaktionen auf überfordernde und widersprüch- 
liche Lebensbedingungen . Entstehung und Bedeutung einer Krise wer- 
den verstehbar, wenn wir das Zusammenwirken von individueller Lebens- 
geschichte und aktueller Situation mit den gesellschaftlichen Vor- 
aussetzungen aufdecken. Als Grundmuster erkennen wir darin den Kon- 
flikt zwischen Überanpassung an und Protest gegen widersprüchliche 
Rollenanforderungen und erdrückende Lebensbedingungen. Sie enthalten 
gleichzeitig den Versuch, mit den zur Verfügung stehenden Verhaltens- 
möglichkeiten den Widersprüchen gerecht zu werden - und ohnmächtigen 
Protest dagegen. 

Wir definieren "psychische Störungen" daher als gescheiterte Lösungs- 
Strategien in ausweglosen Lebenssituationen. Im Erscheinungsbild 
erkennen wir darin typische Strategien der Alltagsbewältigung von 
Frauen, wenn auch in extremer und überspitzter Ausprägung. 


Die Anwendung unseres Erklärungsansatzes auf einige bei Frauen sehr 
häufig auftretende "Krankheitsbilder", wie z.B. die Depression oder 
die Agoraphobie (Platzangst), führt uns daher zu neuen Schluߣfolge- 
rungen. 

Uns fällt auf, daß bei der Beschreibung depressiver Symptomatiken 
weitgehend Begriffe gebraucht werden, die auch für einige "typisch 
weibliche" Eigenschaften gelten, wie Passivität, mangelndes Selbst- 
vertrauen, Hilflosigkeit, Pessimismus, usw. 

Vor dem Hintergrund der Sozialisation von Mädchen als einem fort- 
schreitenden Prozeß der Einschränkung selbstbehauptender und aggres- 
siver Strebungen bei gleichzeitiger Unterstützung von Abhängigkeits- 
haltungen und Unselbständigkeit, sowie angesichts der realen Ein- 
schränkungen des Handlungsspielraums von Frauen wird deutlich, wie 
stark die Bedingungselemente depressiven Verhaltens im normalen Le- 
benszusammenhang von Frauen vorliegen. Depressive Reaktionen von 
Frauen werden oft erst dann als solche erkannt und behandelt, wenn 
sie über das "normal" Übliche hinausgehen, Frau sozial auffällig 
wird: Haushalt und Familie nicht mehr versorgen kann, Beruf oder Studium 


-50- 


nicht mehr bewältigt, Suizidversuche macht. 

Mit der Depression bestätigt die Frau sich und anderen ihre Hilf- 
losigkeit, den Mangel an Kontrolle über ihr Leben, das Gefühl von 
Wert- und Sinnlosigkeit - oft bis zur völligen Lebensunfähigkeit. 
Auch die Agoraphobie, ein bei Frauen sehr häufig auftretendes Symp- 
tom (70 % Frauen) kann als Strategie der Selbsteinschränkung im 
Konflikt zwischen Abhängigkeitskonditionierung und Selbständigkeits- 
bestrebungen gesehen werden. Mit der Agoraphobie schließen sich 
Frauen im Haushalt, ihrem Arbeitsbereich ein. Sie versuchen so, je- 
dem Anspruch an ihre Weiblichkeit zu genügen und verbieten sich selbst 
den Wunsch nach größerer Bewegungsfreiheit. Gerade unter Phobikerin- 
nen finden sich oft Frauen, die aus den Einschränkungen des üblichen 
Frauenlebens ein Stück weit ausgebrochen sind, durch höhere Schul- 
bildung oder qualifizierte Ausbildung mehr Möglichkeiten der Selbst- 
verwirklichung hätten - und der Angst vor dem Verlust ihrer weibli- 
chen Identität dann nicht mehr gewachsen sind. Sie fürchten die Kon- 
sequenzen, wenn sie ihr Leben eigenständig in die Hand nehmen. 

Auch in den vielfältigen psychosomatischen Leiden, sowie den Phäno- 
menen des Alkoholismus und der Medikamentenabhängigkeit erkennen wir 
den Mechanismus der Selbsteinschränkung bis hin zur Lahmlegung psy- 
chischer und körperlicher Funktionen. Insbesondere bei den psycho- 
somatischen Leiden spielt das zwiespältige Verhältnis von Frauen zu 
ihrem Körper eine wichtige Rolle: Die narzißtische Überbewertung 
und Beschäftigung mit dem Körperäußeren einerseits und das hohe Aus- 
maß an Entfremdung und Enteignung des weiblichen Körpers anderer- 
seits. 


Die therapeutische Bearbeitung dieser Formen des Leidens an der Weib- 
lichkeit muß von der Kritik am weiblichen Rollenklischee ausgehen 
und die Reflexion der Lebensrealität von Frauen miteinbeziehen. Von 
den Therapeuten/innen erfordert sie die Auseinandersetzung mit der 
eigenen Befangenheit in geschlechtsspezifischen Haltungen und Wert- 
vorstellungen, den Mut, sich selbst in Frage zu stellen und offen 

zu sein für die Auflehnung gegen Rollenzwänge, aus der geschlechts- 
unabhängige . Kriterien für eine intakte Persönlichkeit zu entwickeln 
sind. Diese Voraussetzungen sind in der bislang praktizierten Psy- 
chotherapie nicht einmal ansatzweise enthalten. p 

In unserer Kritik der herkömmlichen Psychotherapie schließen wir uns 
der progressiven sozialpsychiatrischen Perspektive insofern an, als 
wir psychisches Leiden in Zusammenhang mit und verursacht durch ge- 
sellschaftliche Strukturen sehen. Wir lehnen die psychiatrischen 
Klassifizierungssysteme sowie den individualistischen Krankheitsbe- 
griff ab, weil sie einer individuellen Schuldzuschreibung Vorschub 
leisten, und so eher der Verschleierung als dem Verständnis der Ur- 
sachen dienen. 

Nirgends wird aber bis jetzt auf die besondere Situation von Frauen 
Bezug genommen. Solange diese nicht explizit in psychologischer For- 
schung und psychotherapeutischer Praxis problematisiert und aufge- 
arbeitet wird, halten wir sie nicht nur für ungeeignet, die psychi- 
schen Probleme von Frauen adäquat zu erfassen und zu bearbeiten, son- 
dern sogar für gefährlich. 


Wie wenig Bewußtsein über die Geschlechterfrage bei Therapeuten be- 


steht, zeigt die Broverman-Studie sehr eindrucksvoll: Die Befragung 
von Therapeuten ergab, daß diese im allgemeinen eine "gesunde Frau" 


-51- 


als "weniger unabhängig, weniger aggressiv, leichter zu beeinflus- 
sen usw..." also durchweg in negativer Abgrenzung zum "gesunden Mann" 
beschreiben. Zudem decken sich die Beschreibungskategorien für den 
gesunden Mann mit denen für den "gesunden Menschen", denen die gesun- 
de Frau mithin niemals entsprechen kann. 

Das Rollenklischee der Weiblichkeit in den Köpfen der Therapeuten 
fungiert unhinterfragt als Zielvorstellung für die Therapie, die so- 
mit bestenfalls als Hilfestellung für die Frauen dienen kann, besser 
damit leben zu können, oft aber die Schuldgefühle, das Gefühl des 
Versagens und der Minderwertigkeit noch verstärken. Das - zwar ohn- 
mächtige und bewußtlose - Potential der Auflehnung, das im Psycho- 
Symptom enthalten ist, wird erneut neutralisiert und gegen die Frauen 
selbst gerichtet. 

Das Problem des ungleichen Machtverhältnisses in der Therapie wird 
in der Beziehung zwischen einem männlichen Therapeuten und einer 
Klientin noch verschärft. In der Therapie mit ihrem extrem unglei- 
chen Rollenverhältnis -hier der Therapeut als Experte im Erkennen 
und Behandeln psychischen Leidens, dort die Klientin in ihrer Hilf- 
losigkeit und Verwirrung - wiederholt sich die typische Abhängig- 
keitssituation von Frauen in zugespitzter Form. Angesichts der all 
gemein niedrigen Bewußtseinslage über dieses Problem keine sehr gün- 
stige Konstellation, um die Folgen davon aufzuarbeiten. 


FOLGERUNGEN FÜR UNSERE PRAKTISCHE ARBEIT 


Eine wesentliche Voraussetzung unserer Arbeit stellt das Kollektiv 
dar. Hier werden organisatorische Fragen ebenso behandelt wie the- 
rapeutische Probleme. Ein weiteres wichtiges Ziel stellt die gegen- 
seitige Selbsterfahrung dar. Die organisatorische Arbeit bezieht 
sich auf Öffentlichkeitsarbeit, d.h. Verschickung von Informations- 
briefen, Kontaktaufnahme zu Institutionen der psychosozialen Ver- 
sorgung, Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Weiter- 
hin gibt es einmal in der Woche einen offenen Informationsnachnit- 
tag, an dem sich Mitarbeiter/innen anderer Institutionen und Projekte 
über unsere Arbeit informieren können. 

Die weitere organisatorische Arbeit umfaßt dann Verwaltungsarbei- 
ten wie Abrechnung, Buchführung, Terminplanung, Einrichtung etc. 


Das therapeutische Angebot ist weit gefächert. An zwei Abenden bie- 
ten wir eine offene Beratung in der Gruppe an. Hier können Frauen 
miteinander und mit zwei Therapeutinnen ihre Probleme besprechen 

und nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Dies können ganz praktische 
Schritte der Lebensbewältigung sein, die Zusammenarbeit mit anderen 
Frauen in einer Selbsterfahrunsgruppe oder einer psychotherapeuti- 
schen Selbsthilfegruppe oder eine Gruppen- oder Einzeltherapie. Eine 
Frau kann auch mehrmals in die Beratung kommen und über ihre Erfah- 
rungen, Lernprozesse und Unsicherheiten Rücksprache halten. Oft ist 
ein solches Gruppengespräch für die Frau das erste Erlebnis, offen 
mit anderen über ganz persönliche, meist sorgsam überspielte Dinge 
zu reden und zu erkennen, daß andere Frauen in ähnlichen Schwierig- 
keiten stecken. 

Nach Vereinbarung bieten wir auch Einzelberatung an. Wir machen Ein- 
zeltherapie und Therapie in Gruppen, wobei wir das Schwergewicht auf 
die Arbeit in der Gruppe legen. Bei der Gruppentherapie ist es uns 


-52- 


wichtig, die aktive Zusammenarbeit der Frauen zu unterstützen, die 
Arbeit an den Beziehungen untereinander ebenso zum Gegenstand der 
Therapie zu machen wie die Einzelprobleme. Außerdem sehen wir es als 
wichtiges Therapieziel, daß die Frauen auch außerhalb der Therapie 
Kontakt zueinander aufnehmen, d.h. sich bei Problemen des Alltags 
unterstützen oder gemeinsam Unternehmungen machen. 


Alle Frauen des Kollektivs arbeiten therapeutisch, machen Beratung 
und erledigen die anfallenden organisatorischen und Verwaltungsar- 
beiten. Ziel ist es, eine möglichst geringfügige Spezialisierung 
durchzuführen, so daß alle Arbeiten gleichermaßen von allen Frauen 
der Kerngruppe übernommen werden können. In der Praxis ist dies nie 
ganz herzustellen, da die einzelnen Frauen aufgrund anderweitiger 
Berufstätigkeit zum Geldverdienen und Ansprüchen von Kindern und 
Familie in sehr unterschiedlichem Maße Zeit und Energie einbringen 
können. Trotzdem überprüfen und hinterfragen wir unsere Zusammenar- 
beit immer wieder in Bezug auf diesen Anspruch,was zu Auseinander- 
setzungen der Frauen untereinander führt. 

In der Aufbauphase kam über den Sachzwängen der organisatorischen 
Arbeit und der Darstellung nach außen der Austausch über die laufen- 
den Therapien und die Beratung sowie unsere gegenseitige Selbsterfah- 
rung zu kurz. Organisatorische Probleme bestimmten die Beziehungen 
der Frauen untereinander. Deshalb wenden wir jetzt verstärkt Zeit 
auf für den Austausch über Therapien sowie für Selbsterfahrung, zu 
der die Weiterentwicklung unseres Therapiekonzeptes, die gegenseiti- 
ge Vermittlung des methodischen Vorgehens, sowie die Auseinander- 
setzung über unsere Beziehungen und Körperarbeit gehört. 

Wir machen die Erfahrung, daß die unterschiedlichen Sichtweisen und 
Vorgehensweisen in der therapeutischen Arbeit gut miteinander in 
Einklang gebracht werden können und daß wir auf diesem Gebiet vonein- 
ander lernen und profitieren können. Im Umgang mit den Sachzwängen, 
die sich aus der Darstellung des Projektes nach außen und insbeson- 
dere der Finanzierung des Therapiezentrums ergeben, erweisen sich 
der unterschiedliche Erfahrungshintergrund, die unterschiedlichen 
Ansprüche sowie der unterschiedliche Gradan Kompromißbereitschaft 
als Konfliktstoff, mit dem wir uns ständig auseinandersetzen müssen. 


PROBLEME, MIT DENEN DIE FRAUEN ZU UNS KOMMEN 


Im Zeitraum seit unserer Eröffnung am 19.6.78 bis Ende Oktober 1978 
haben etwa 60 Frauen unsere Hilfe in Anspruch genommen. Wir versuchen 
im Folgenden zuerst die Lebensumstände dieser Frauen zu beschreiben, 
in denen wir die vorher dargestellten unterdrückenden Verhältnisse 
wiederfinden und sehen ihre Probleme als Ausdruck des Leidens oder 
Scheiterns an diesen Lebensbedingungen. i 

Es kommen Frauen zu uns, die durch mangelnde Ausbildung und typi- 
sche Mädchensozialisation von ihren Ehemännern und Freunden ökono- 
misch und psychisch abhängig sind. Besonders erschreckend und neu 
für uns ist die Tatsache, wie viele Frauen und Mädchen durch ihre 
Männer zum Animieren und auf den Strich geschickt werden und dadurch 
der größten Ausbeutung anheimfallen. Zumeist geht mit dieser Abhän- 
gigkeit psychische und physische Gewalt: der Männer gegenüber ihren 
Frauen, Freundinnen und Töchtern einher. 

Eine weitere Gruppe umfaßt Frauen, die - von außen gesehen - eine 


-53- 


relative Selbständigkeit erreicht haben, was sich in ihrer Berufs- 
tätigkeit niederschlägt. Sie arbeiten in typischen Frauenberufen 
(Sozialberufe, Sekretärinnen, Verwaltungsberufe) und sind finanziell 
unabhängig. Hier ergeben sich Probleme aus den Widersprüchen von pri- 
vaten und beruflichen Anforderungen sowie aus der Rollenzuschreibung 
am Arbeitsplatz selbst. 

Nicht wenige der Frauen, die zu uns kommen, sind in Übergangssitua- 
tionen begriffen, sei es Trennung oder Scheidung, Berufswechsel oder 
Berufsfindung oder Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nach langem 
Hausfrauendasein. 

Weiterhin kommen Frauen zu uns, die die vorherrschenden gesellschaft- 
lichen Bedingungen, vor allem die Situation, wie sie sich für Frauen 
darstellt, in Frage stellen, und in der politischen Arbeit eine we- 
sentliche Voraussetzung für Veränderungen sehen. Nur so wird es ih- 
nen möglich, ihr Leben in einem sinnvollen Zusammenhang zu begrei- 
fen. 

Ihre soziale Situation ist zumeist gekennzeichnet durch Berufstätig- 
keit, um den Lebensunterhalt zu sichern, und durch Engagement in 
Frauen- und anderen politischen Projekten, in denen sie sich selbst 
zu verwirklichen versuchen. Sowohl in dieser Zweigeteiltheit als auch 
in der politischen Arbeit selbst sind diese Frauen ständig Wider- 
sprüchen ausgesetzt. 

Das Leiden dieser Frauen an ihren Lebensumständen bzw. den daraus 
resultierenden Widersprüchen drückt sich auf der Ebene der psychi- 
schen Verarbeitung in Gefühlen von Zerrissenheit, Sinnlosigkeit und 
Verzweiflung, existentiellen Ängsten vor der Zukunft, Gefühl, der 
Situation nicht mehr gewachsen zu sein, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Re- 
signation, Wert- und Rechtlosigkeit, geringem Zutrauen zu sich selbst, 
Schuldgefühlen und Apathie aus. Nicht selten treten dann lähmende 
Depressionen, Ängste und Agoraphobien, körperliche Beschwerden wie 
Migräne und Kreislaufschwäche, z.T. auch quälende Selbstmordgedanken 
oder tatsächliche Selbstmordversuche auf. Zu diesen Problemen kom- 
men noch häufig Alkohol- und Tablettenabhängigkeit hinzu. 


DIE THERAPEUTISCHE BEARBEITUNG DER SCHWIERIGKEITEN 


Wir haben verschiedene Prinzipien des therapeutischen Vorgehens ent- 
wickelt, die wir für die Verwirklichung einer frauengerechten Thera- 
pie für nützlich erachten. Sie stehen in enger Beziehung zur Sicht- 
weise unserer Rolle als Therapeutin und zur Problematisierung der 
Beziehung zwischen Klientin und Therapeutin. 

Zunächst gilt es festzustellen, daß wir keine bestimmte methodische 
Ausrichtung als besonders geeignet für Therapie mit Frauen betrach- 
ten. Wichtiger als jede Methodenfrage ist, unsere Einstellung zu 
Frauen und unsere Sichtweise der Probleme, mit denen Frauen sich 
herumschlagen. Wir versuchen, den "Klientinnen" zu vermitteln, daß 
wir hinter ihnen und ihren Bedürfnissen stehen und nicht irgendwel- 
che gesellschaftliche und "normale" Anforderungen vertreten. Oft ist 
die Therapeutin die erste Frau, die die Klintin ernst und wichtig 
nimmt, und ihr die Kompetenz zutraut, über sich Bescheid zu wissen 
und die im Augenblick richtige Lösung zu finden. 

Wir sind uns bewußt, daß es keine wertfreie Psychotherapie gibt, 

und daß sich Einstellungen und Ziele der Therapeutinnen in vielfäl- 
tiger Weise durchsetzen. Diese Tatsache wenden wir in offene Par- 


-54- 


teilichkeit und machen so die gemeinsame Erfahrung zum Ausgangspunkt 
der therapeutischen Beziehung. Die Therapeutin ist nicht Expertin, 
die sich raushält, sondern eine gleichfalls betroffene Frau und 
macht dies gegebenenfalls deutlich. Das Bewußtsein der gemeinsamen 
Betroffenheit ermöglicht ein tieferes Verständnis und stärkeres En- 
gagement für die Klientinnen, als dies in anderen therapeutischen 
Situationen möglich ist. 


Das ungleiche Machtverhältnis zwischen Therapeutin und Klientin, 

das mit einer gleichheitlichen und solidarischen Beziehung unverein- 
bar ist, muß daher zum Gegenstand der Therapie werden. Wir hinter- 
fragen und problematisieren die Erwartungen der Klientinnen an die 
Rolle der Therapeutin als einer Autorität, die ihre Probleme defi- 
nieren, Lösungen kennen, immer Bescheid wissen soll. Und wir stel- 
len unser eigenes Verhalten in der Therapie zur Diskussion, wenn 
wir in einer Therapiegruppe den Frauen vorschlagen, sie sollte ein- 
mal untereinander ihre Erwartungen und die Gestaltung der Gruppen- 
arbeit diskutieren, löst dies oft die höchsten Verwirrungen und auch 
Aggressionen gegen uns aus. Vorschläge und Hilfen von anderen Frauen 
in der Gruppe werden zunächst lange nicht so wichtig genommen wie 
unsere. Die Selbstverantwortung der "Klientinnen" und der Abbau des 
Machtgefälles sind Ziele, denen wir uns erst im Verlauf der thera- 
peutischen Zusammenarbeit annähern. 

Indem wir vermitteln, was wir für Überlegungen anstellen, welche 
emotionalen Reaktionen bei uns ablaufen, und auch von Erfahrungen 
berichten, die uns geholfen haben, treten wir in einen realen Dialog 
in einer realen Beziehung. Die Frauen können uns auch außerhalb der 
Therapie kennenlernen, z.B. beim Tee am Küchentisch. Sie erfahren 
neben persönlichen Erlebnissen auch die organisatorischen Aspekte 
unserer Arbeit, wie wir die Zusammenarbeit gestalten und wie wir das 
Zentrum finanziell über Wasser halten. 


Bei der inhaltlichen Bearbeitung von Problemen hat die Analyse der 
konkreten Lebenssituation der Frau großen Stellenwert. Wichtig dabei 
ist, herauszufinden, welcher Teil der Schwierigkeiten liegt an mir 
selbst - was an den Verhältnissen. Wie greifen Selbstrepression und 
Unterdrückung von außen ineinander. 

Es gilt festzustellen, was an der objektiven Situation zur unerträg- 
lichen Belastung wird und wie sie veändert werden kann. Wir unter- 
stützen die Frauen darin, ihre Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Lebens- 
situation zu erkennen, ernstzunehmen und ihr Leben danach umzuge- 
stalten: die Wohnsituation, Kontaktmöglichkeiten, Ausbildung, Beruf 
usw. 

Die Bewußtseinsbildung ist von Wichtigkeit, damit Frauen endlich auf- 
hören, sich selbst als die Versagenden und Schuldigen zu begreifen. 
Es soll erkennbar werden, daß eine Parallele zwischen Selbstverach- 
tung, geringem Selbstvertrauen, Angst und Depression auf der Seite 
des inneren Erlebens - und Frauenverachtung, realer Einschränkung 
und Gewalt gegen Frauen auf der Seite der sozialen Realität besteht. 


Für die Arbeit an individuell erfahrenen Schwierigkeiten halten wir 
die Therapie in Gruppen für besonders produktiv. Im Austausch mit 
anderen Frauen sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Probleme 
erkennbar, und der gemeinsame Bedingungszusammenhang wird deutli- 
cher. Die Isolation als eine der Hauptursachen von Leiden wird 


-55- 





durchbrochen. Aus der Interaktion der Frauen ergeben sich Beziehun- 
gen, in denen alltägliche Grundmuster von Verhalten real erfahrbar 
werden. Die Gruppe wird dann zum Ort, an dem Eigen- und Fremdwahr- 
nehmung exemplarisch stattfinden und kommuniziert werden können. 

Uns liegt viel daran, daß sich die Frauen gegenseitig auch in ihrer 
Stärke und Kompetenz erfahren. Auch durch Identifikation mit den 
Erfolgen und Einsichten der anderen entstehen Veränderungen. Die 
"Expertin" ist dann nicht mehr die einzige, die einer Frau feedback 
über ihr Verhalten gibt und ihr Unterstützung und echte Auseinander- 
setzung bietet. Das Therapeutinnen-Übergewicht wird relativiert. 

Die Kraft, die gemeinsames Erleben und Handeln geben können, wird 
in der Gruppe konkret erfahrbar. 

Ganz wichtig ist uns, daß Beziehungen über die Therapie hinausgehen, 
die Frauen sich auch privat treffen, Freundschaften entwickeln, 


In Gruppen wie in der Einzeltherapie versuchen wir, die Methoden 
unserer Arbeit zu entmystifizieren: wir erklären, warum und in wel- 
chem Kontext wir eine Übung eingesetzt haben, oder warum wir be- 
stimmte Fragen immer wieder stellen, wir lassen eine Übung nach den 
Bedürfnissen der "Klientinnen'" weiterentwickeln. 

Das Vorgehen in der therapeutischen Arbeit muß den "Klientinnen" 
immer durchschaubar bleiben und soll von ihnen so mitbestimmt wer- 
den, daß sie die Erfahrung von selbständigen Lernschritten aus eige- 
nen Erkenntnissen machen. Methoden, die eine Frau einfach in eine 
Erfahrung hineinstossen (z.B. der Wut), müssen durch solche ergänzt 
werden, die eine Aufarbeitung der abgelaufenen Prozesse gewährlei- 
sten. 

Indem wir unser methodisches Vorgehen in der Therapie verständlich 
machen, geben wir den Frauen Mittel und Wege in die Hand, selbstän- 
dig - allein oder in einer anderen Gruppe ohne Leiterin - weiterzu- 
arbeiten. 


Gegenstand der Therapie soll nicht nur das Leiden und die Schwäche 
der Frauen sein, sie sollen auch lernen, ihre Stärken anzuerkennen 

und für sich zu gebrauchen. Verschiedene Methoden, wie Atem- und 
Entspannungsübungen, Phantasien und Meditation sollen helfen, Quel- 
len der Stärke zu entdecken und auch schöne Erlebnisse hervorzuho- 
len: wie frau sich körperlich gut fühlen kann, welche Idealbilder 

sie von sich hat. Dies soll ein Angebot sein, daß sich die Frauen auch 
außerhalb der Therapie Möglichkeiten schaffen, um Energien zu tan- 
ken und sich etwas Gutes zu tun. 


Ziel der Therapie ist die Selbsthilfe. Und eine gute Möglichkeit 

der Weiterführung der Erfahrungen und Prozesse in der Therapie ist 

die Mitarbeit in einer "Psychoselbsthilfe-Gruppe", d.h. einer the- 
rapeutisch arbeitenden Gruppe ohne Leiterin. 

Zwei. Gesichtspunkte bilden die Basis für die gemeinsame Problemlö- 

sung: 

U Tede Frau ist verantwortlich für ihre eigenen momentanen Bedürf- 
nisse, sei dies die Arbeit an einem persönlichen Problem, die 
Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, oder das Ausprobieren 
einer bestimmten Übung. 

© Jede Frau ist kompetent, sich selbst zu helfen und kann durch 
ihre Fähigkeiten zuzuhören und sich einzufühlen die anderen unter- 
stützen. 


-57- 


Wir betonen diese Selbsthilfeprinzipien auch in der Therapie, um so 
anzuregen, daß die eine oder andere Gruppe später als Selbsthilfe- 
gruppe weiterarbeitet. Wir vermitteln Adressen zum Aufbau solcher 
Gruppen und geben auf Wunsch Anleitungen. 


Wir haben angeregt, daß sich die Klientinnen unseres Zentrums öfter 
zusammensetzen, um ihre Erfahrungen in der Therapie auszutauschen, 
Kritik und Anregungen zu sammeln. Darüber wollen wir mit ihnen in 
einen Diskussionszusammenhang treten. Wir sehen darin einen wichti- 
gen Schritt, das Machtgefälle in der Therapie abzubauen und die Iso- 
lation der Frauen aufzuheben. Die Metakommunikation über die Thera- 
pie hilft uns, die Erfahrungen in der praktischen Arbeit zu verar- 
beiten und unseren Ansatz von Frauentherapie in Zusammenarbeit mit 
den Klientinnen inhaltlich weiterzuentwickeln. 


Von unseren Klientinnen und den Selbsthilfegruppen werden die mei- 
sten Impulse ausgehen, um aus dem Therapiezentrum einen Frauentreff- 
punkt zu machen. Raum für die Verwirklichung unterschiedlichster 
Interessen und Aktivitäten. 


FINANZIERUNG 


Der schwierigste und noch ungelöste Punkt in unserer internen Dis- 
kussion ist die Frage der Finanzierung des Projekts. Wir haben zum 
Aufbau des Zentrums einen Kredit aufgenommen und nehmen inzwischen 
genügend Geld ein, um unsere laufenden Unkosten zu decken. Vorläu- 
fig arbeiten wir aber noch umsonst und einige zusätzlich in ander- 
weitigen Jobs zum Geldverdienen. Das bedeutet einen enormen Ener- 
gieverschleiß durch die Aufgespaltenheit und Arbeitsüberlastung für 
die einzelnen Frauen und weniger Zeit und Energie für die Arbeit im 
Zentrum. 

Fragen, die zwischen uns noch weitgehend ungeklärt sind, beziehen 
sich darauf, wie teuer oder billig wir Therapiekosten veranschlagen 
können/müssen, wie wir den Wert unserer eigenen Arbeit einschätzen, 
welche Vorstellungen von Lebensstandard die Einzelnen haben. Vorläu- 
fig haben wir uns auf Therapiepreise geeinigt, die einer Minimalkal- 
kulation entsprechen . Die Frage einer einkommensgestaffelten Bezah- 
lung ist noch offen. 

Einen Teil unserer Therapien können wir übers Sozialamt abrechnen. 
Das bedeutet eine große Entlastung für die Frauen, für uns einen 
erheblichen Mehraufwand an Verwaltungsarbeit: Anträge, Gutachten, 
Behördengänge, erheblich verspätete Zahlungen. 

Trotzdem gilt es, gerade in dieser Richtung weiterzuarbeiten, daß 
öffentliche Träger die Kosten für Therapie übernehmen, so daß sie 
letztlich zu einer Sozialleistung wird, die jede in Anspruch nehmen 
kann und für die die öffentliche Hand aufkomt. 


-58- 


Projektgruppe “Arbeitslose Mädchen”, München 


NEUE WEGE STATT RÜCKZUG 
— Erste Erfahrungen im Projekt “ Beratung und Anleitung 
zur Selbsthilfe für arbeitslose Mädchen” — 


Wir sind eine Gruppe von 2 Sozialarbeiterinnen, 2 Psychologinnen, 

l Lehrerin und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und haben mit der 

Planung und Konzeption des Projekts im Juni 1978 begonnen. 

Erste Schritte zur Konkretisierung waren 

- Austausch von Informationen und Erfahrungen mit anderen Arbeits- 
losen-Initiativen und anderen Einrichtungen für verwandte Ziel- 
gruppen 

- Klärung über eine mögliche Zusammenarbeit mit der nahegelegenen 
Glockenbachwerksatt (stadtteilbezogene sozialpädagogische Arbeit 
mit verschiedenen Werkstätten) 

- Einholen von Informationen und Vorverhandlungen mit Institutionen 
bezüglich der Finanzierung 

- Erstellung eines Arbeitskonzepts. 

Inzwischen ist eine teilweise Finanzierung durch das Bayerische 

Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung gesichert, die Über- 

nahme von Miet- und Sachkosten durch die Stadt München steht noch 


aus. 


UNSERE PRAXIS 


Wir sind davon ausgegangen, daß arbeitslose Mädchen eine willkommene 

Hilfe im Haushalt der Eltern sind und die Wertigkeit einer Berufs- 

ausbildung und der damit verbundenen Selbständigkeit sich anders 

darstellt als bei männlichen Jugendlichen. Dieses Verschwinden in der 

Familie und die auch damit verbundenen psychosozialen Folgeerschei- 

nungen (Resignation, Isolation, mangelndes Realitätsbewußtsein etc.) 

erfordern eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. 

Diese gestaltet sich durch 

- Veröffentlichungen in Tageszeitungen, Stadtteilzeitungen Illu- 
strierten und 

- persönliche Kontaktaufnahme bei Flugblattaktionen vor Schulen und 


Freizeiteinrichtungen. 


Unsere ersten Erfahrungen waren, daß eigentlich nur Mädchen kamen, 
die bereits selbst Eigeninitiative entwickelt hatten zur Veränderung 
ihrer Lebenssituation wie z.B. Kontakte zum Arbeitsamt, Sozialein- 
richtungen und anderen Projekten. 

Dieses vorhandene Interesse der Mädchen machte es ihnen möglich, bei 
unserem Projekt einzusteigen, während jedoch die oben beschriebene 
Gruppe durch ihre Ausgeschlossenheit von der Öffentlichkeit für uns 
bisher unerreichbar blieb. 

Unsere einzige Möglichkeit war bisher, durch Kontakte zu anderen 
Sozialeinrichtungen wie den Allg. Sozialdienst von einigen Mädchen 
zu erfahren und sie kennenzulernen. Diese Art der Kontaktaufnahme 


-59- 


beinhaltet für uns allerdings die Schwierigkeit, daß durch dieses 
"Weiterreichen von Institution zu Institution" die Passivität und 
Zurückhaltung der Mädchen verfestigt bzw. verstärkt wird. 

Dies zeigte für uns u.a. die Notwendigkeit, den Mädchen konkrete 
Möglichkeiten anzubieten wie Schreinern, Töpfern, gemeinsame Unter- 
nehmungen, da rationale Beratungsverfahren zunächst kaum zur Anwen- 
dung gelangen. 


WERKEN ALS MÖGLICHKEIT ZUR INTERESSENFINDUNG UND STÄRKUNG 


Die Orientierung an der Zielgruppe macht es notwendig, die gesamte 
Lebenssituation der Mädchen miteinzubeziehen, Wünsche ernstzunehmen 
und Ideen zu wecken. 

Wir stellten fest, daß Lernen durch gemeinsame Betätigung und gemein- 
same Produktivität der einzelnen den Zugang zur Gruppe erleichtert, 
da die Mädchen die Art der Beziehung zu uns, zu der Gruppe, die 
gewünschte Nähe oder erforderliche Distanz selbst bestimmen und re- 
gulieren können. ` 

In der nahegelegenen Glockenbachwerkstatt können wir die Schreinerei 
mitbenutzen. Dort trifft sich seit September 1978 regelmäßig eine 
Gruppe von inzwischen 10 Mädchen, die unter Anleitung lernt, mit Ma- 
terialien und Maschinen umzugehen. Wir finden es wichtig, daß sie 
die Erfahrung machen, brauchbare und schöne Gegenstände selbst her- 
zustellen, mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln 
und dies in einer Mädchengruppe, ohne sich den männlichen Jugendli- 
chen im Vergleich immer unterlegen fühlen zu müssen. Oder um allge- 
meine Einschätzungen revidieren zu können wie ein Mädchen, der hand- 
werkliche Fähigkeiten nach einem Berufstest aberkannt worden sind: 
"Wenn die mich hier sehen würden!". 

Andere Kursangebote neben der bereits bestehenden Töpfergruppe in 
unseren eigenen Räumen wie KFZ-Kurse, Fototechnik, Drucken und Weben 
machen wir von den Interessen der Mädchen abhängig. 


DIE ENTWICKLUNG DER GRUPPE 


Nach und nach wurden von einzelnen Mädchen Wünsche artikuliert, sich 
doch mal nur zum "Reden" zu treffen, zum Tanzen zu gehen (sehr wich- 
tig), und unsere Angebote wie gemeinsamer Kinobesuch, eigene Veran- 
staltungen mit Dia-Programmen und Videofilmen, Wochenendfahrten etc. 
wahrgenommen. 
Auch die Entwicklung von konkreten Berufsperspektiven, das Angehen 
der realen Bedingungen wie gemeinsame Arbeitsamtsbesuche , Informa- 
tionen über Schulen und Weiterbildung gewannen an Raum, während dies 
bisher nur sehr bruchstückweise geäußert wurde. 
An diesem Punkt kristallisierten sich zwei Probleme heraus: 
© die Zeitfrage: die meisten Mädchen waren gezwungen, zu joben. 
© die Notwendigkeit einiger fester Termine in unseren Räumen, um 
die Stabilität, die Verbindlichkeit und Verantwortung gegenüber 
der Gruppe zu fördern. 
Durch die Verwirklichung der oben aufgeführten Interessen wie: 
zwei gemeinsame Wochenendfahrten, Organisation eines Festes mit vor- 
heriger Öffentlichkeitsarbeit, Dia-Veranstaltungen (Serie "Mädchen 
über sich" - Berliner Medienzentrum) usw. wurde schrittweise die Scheu 
vor persönlichen Gesprächen und die geringe Artikulationsmöglichkeit 
überwunden und die unterschiedlichen Problematiken konkretisiert. 


Eine Radikallösung 


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— 2 
Berufsperspektiven 
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Über den Austausch von Erfahrungen in Arbeitsstellen, Arbeitsämtern 
und Schulen erlebten die Mädchen ihre Situation und ihre Probleme 
nicht isoliert und als persönliches Versagen. 

So erzählten sie in Gesprächen: 

- nach längerer Arbeitslosigkeit wurden drei Mädchen unabhängig von- 
einander nur noch Buchbinderlehren angeboten, 

- mehrere hatten bereits beim Arbeitsamt einen Berufs- und Eignungs- 
test absolviert, waren hinterher vollkommen fertig und nach dem 
Ergebnis nur für einige Berufe "geeignet" (meist Mangelberufe), 

- Sonderschülerinnen erzählten, sie müßten zum Berufsberater für 
Behinderte, was allgemeine Entrüstung hervorrief, 

- andere berichteten von ihren früheren Lehr- oder Arbeitsstellen, 
wie ein Mädchen, das für wenig Geld mehrere Monate im Hinblick 
auf eine Lehrstelle in einem Blumengeschäft gearbeitet hatte, dann 
aber gekündigt wurde. 

Durch das Entdecken von ähnlich gelagerten Schwierigkeiten wurde 

den Mädchen klar, wie gesellschaftliche Anforderungen und Bedingun- 

gen das Leben und Erleben des(r) Einzelnen bestimmen und eingrenzen, 

Durch dieses Begreifen kann der Druck eigener Schwäche und Schuld 

relativiert und anfängliche Resignation durchbrochen werden. 





Lebensperspektiven 


Vorstellungen über die eigene Berufstätigkeit und deren Stellenwert 
führten zu Diskussionen über die jetzige Lebenssituation und de- 
ren späteren Gestaltung. Da die Mädchen unterschiedlichen Alters 
sind (15 - 21 Jahre), somit bereits über unterschiedliche Erfahrun- 
gen verfügen und verschiedene Wohn- und Beziehungssituationen ha- 
ben, war das gegenseitige Wissen um die anderen wichtig. Dadurch 
wurde Vertrauen möglich, ein Begreifen und Verstehen, der Austausch 
von bereits Erlebtem und Praktiziertem (wie z.B. eigenes Wohnen) 
und neuem Ausprobieren (erst einmal aus dem Elternhaus ausziehen). 
Das Erzählen von Beziehungen, Freundin, Freund, Kollegen ermöglicht 
das Eingehen auf Partnerprobleme bzw. Vorstellungen über Freund- 
schaften. Dabei wurde vielfach geäußert, Tanzen zu gehen, "dort hin, 
wo auch Jungen sind". 

Hier tauchen auch die Fragen auf: 

Welchen Stellenwert hat die Freundin? 

Die Erfahrung von einer Freundin sitzengelassen zu werden, nach- 
dem sie einen Freund gefunden hat. 

Wie gehe ich mit meinen Bedürfnissen und den meine(s)r Freund(in) 
um? 

Welche Perspektiven habe ich (Zusammenleben, Heirat, Kinder) 

An diesem Punkt finden wir es wichtig, uns einzubringen als Frauen 
mit unseren Lebensbereichen, u.U. ähnlichen Erfahrungen, "sich 
direktiv zu verhalten, um alternative Verhaltensweisen anzubieten,.., 
(um nicht) dabei zu(zu)sehen, wie sich die hinlänglich bekannten 
Probleme der Mädchen immer wieder aufs neue reproduzieren." 
("Mädchen zwischen Anpassung und Widerstand" von Carola Wildt/Moni- 
ka Savier Verlag Frauenoffensive München) 

Die Frage der Veränderbarkeit, ausgehend von den Problemen und 
Ideen der Mädchen, muß somit immer wieder gestellt werden und ge- 
meinsam Möglichkeiten entwickelt werden. 


-62- 


pad.extra MÄNNER 
EF die irritierten 


UNTERRICHT ur” 

ee ana Es schreiben: Gustav Grauer, 

2. mund Herbert Stubenrauch, 
Gerhard Vinnai, Thomas Ziehe, 
Jürgen Zinnecker. 


Außerdem im Februar-Heft: 


Dokumentation über das Russell-Tribunal. Gespräch 
mit Schülern und Lehrern von escuela viva. Unterrichts- 
projekt mit deutschen und Türkenkindern. Ernest 
Bornemann über Studenten, Politik und Sexualität u.v.a. 
O ich bestelle ein Probepaket päd. extra* 

4 fortlaufende Hefte plus das päd. extra Lexikon fur 

DM 18,-. Ich zahle O mit beiliegendem Scheck, Straße: _ 
D gegen Rechnung (DM 2,50 Rechnungsgebühr) 

Ich bin damit erstanden, daß päd. extra n 
als Jahr esabo weiten geliefert Fe weh ich PLZ/Ort 


nıcht spätestens nach Erhalt des dritten Heftes 
kundige. Datum: ________Unterschrift: — 


“Jahresabo DM 72,-; Studentenabo DM 56,- pädex-Verlag, Pf 295, 614 Bensheim 


oZi, E abonniert - 
in der Praxis 


Bel ui 
Ben 

an arcer angehen: Droger- 

Z ng 

“Spiejund Spielzeug - Neofaschisti- 











Ob in Schule, Jugendzentrum; Stadt- Ar 
teil — Lehrer und Sozialarbeiter sind 


wi pädex-Verlag, Pf 295, „ 614 Bensheim 


Is 


C ich bestelle ein Probepaket päd. extra sozialarbeit” Name 
4 fortlaufende Hefte plus das päd. extra Lexikon für 

DM 18,-. Ich zahle C] mit beiliegendem Scheck, z 

O gegen Rechnung (DM 2,50 Rechnungsgebühr) Straße: __— 
Ich bin damit einverstanden, daß päd. extra sozial 
arbeit als Jahresabo weıtergeliefert wird, wenn ich 
nıcht spätestens nach Erhalt des dritten Heftes 
kündıge. 

"Jahresabo DM 56, Datum: _________Unterschrift 








PLOT ——— — 





SELBSTHILFE ALS ZIEL 


Trotz der bekannten Situation von arbeitslosen Mädchen (Passivität, 
Resignation) und unsere Schwierigkeit, sie in größerer Anzahl zu 
erreichen, ist die zentrale Perspektive die Selbsthilfe. Wir sehen 
den Weg, daß zwar anfänglich mehr Information, Beratung und konsumiert. 
bare Angebote im Mittelpunkt der Arbeit stehen werden, dann aber ein 
gradueller Übergang zur selbständigen und kontinuierlichen Planung 
und Gestaltung von eigenen Aktivitäten der Mädchen hergestellt wer- 
den muß. 

Genauso muß im Verhalten von uns gegenüber den Mädchen deutlich wer- 
den, daß wir keine Vertreterinnen von einer Institution oder zur 
Verfügung stehende, gebende und beschützende Fürsorgerinnen sind, 
sondern auch wie sie Frauen mit erlebtem Wissen über das Frau-Sein 


in dieser Gesellschaft mit seinen Schwierigkeiten und (aufbrechbaren) 
Grenzen. 


Verein für psychosoziale Initiativen e.V. - Projektgruppe: "Arbeits- 
lose Mädchen", Auenstr. 31/ Tel.: 7 25 25 50 , 8000 München 5 


MADCHEN KSNNEN DAS DICHT? 





Karin Berger/ Lioba Möbert/Christa Rödel 


ARBEITSLOSE MÄDCHEN — EIN SEMINARBERICHT 


Das Seminar, das wir beschreiben wollen, fand innerhalb der Sonder- 
maßnahmen des Landes Niedersachsen: "Hilfen für arbeitslose Jugend- 
liche" statt. Dieses Projekt lief im Herbst 1977 an und wendet sich 
besonders an diejenigen arbeitslosen Jugendlichen, die von den "An- 
geboten" der Arbeitsämter und Berufsschulen keinen Gebrauch machen. 
Von öffentlichen Trägern der Jugendhilfe wurden Sozialarbeiter speziell 
zur Betreuung arbeitsloser Jugendlicher eingestellt. Mit arbeitsmo- 
tivierenden, berufsorientierten Angeboten, sowie sonstigen Erzie- 
hungs-, Bildungs- und Freizeitangeboten sollen die Jugendlichen an- 
gesprochen werden. 

Im Verlauf der Maßnahme, insbesondere während der arbeitsmotivieren- 
den Programme (z.B. Bau eines Abenteuerspielplatzes) und der Bil- 
dungsprogramme (Seminare) zeigte sich für uns, daß die Probleme der 
arbeitslosen Mädchen, die "unauffälliger'" sind als die der Jungen, 
unberücksichtigt blieben. Dies ist besonders bedenkenswert, denn 
nach den Statistiken sind 2/3 der arbeitslosen Jugendlichen Mädchen! 


Der nun folgende Bericht über ein 10-tägiges Seminar mit 10 arbeits- 
losen Mädchen stellt für uns einen Versuch dar, auf die rollenspe- 
zifischen Probleme aufmerksam zu machen, die die Situation der Mädchen 
zusätzlich erschweren. Wir möchten die Notwendigkeit einer Mädchenar- 
beit herausstellen, die in der heutigen Jugendarbeit noch immer stark 
vernachlässigt wird. 

Als Grundlage für die Vorbereitung des Seminares benutzten wir das 
Buch von Monika Savier, Carola Wildt: "Mädchen zwischen Anpassung 

und Widerstand", Verlag Frauenoffensive 1978. 


1. ZIELSETZUNG FÜR DAS MÄDCHENSEMINAR 


In Uelzen waren im Schuljahr 1977/78 von 120 arbeitslos gemeldeten 
Jugendlichen 78 Mädchen. In der landwirtschaftlichen Berufsschule 
Uelzen gibt es 5 Mädchen- und 1 Jungenklasse. Trotzdem wird die Mäd- 
chenarbeitslosigkeit weniger ernstgenommen als die Jungenarbeits- 
losigkeit. Das läßt sich z.B. durch die Aussage des Direktors der 
Berufsschule belegen, der das Seminarangebot der Stadt Uelzen für 
arbeitslose Jugendliche mit dem Satz kommentierte: "Gehn Sie mal in 
die Jungenklasse, mit den Mädchen haben wir kaum Probleme". In bis- 
her durchgeführten gemischten Seminaren zeigte sich ein ähnliches 
Bild. Im Mittelpunkt stand das auffällige Verhalten der Jungen, d.h. 
Alkohol, Kriminalität und Freizeitverhalten. Das Konkurrenzverhalten 
und die Anerkennung durch die Jungen stand für die Mädchen im Vor- 
dergrund. Ihr Verhalten, das angepaßter, unauffälliger, normengerech- 
ter ist, führt dazu, daß auf die aus diesem Rollenverhalten entste- 
henden Probleme nicht eingegangen wird. Diese typische Erscheinung 


-65- 


in der Jugendarbeit, die sich auf das auffälligere Verhalten der Jungen 
konzentriert, weil ihre sozialen Probleme sichtbarer und wichtig 

genug sind, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Darüber hinaus ist e8 
schwer, die üblichen Rollen aufzubrechen, weil sie für die Mädchen 
eine Möglichkeit darstellen, sich zurückzuziehen auf das Verhalten, 
was sie gelernt haben. So wurde die zu Hause gewohnte Arbeitstei- 

lung auch auf das Seminar übertragen, d.h. Haus- und Schreibarbeiten 
wurden in erster Linie von den Mädchen freiwillig übernommen, obwohl 
von den Teamern beabsichtigt war, diese gleichmäßig auf alle Teil- 
nehmer zu verteilen. Die Mädchen machten keine neuen Erfahrungen, son- 
dern ließen sich von den Jungen stets in ihre altbewährte Rolle 


zurückdrängen. 


Uns kam es daher in einem Mädchenseminar darauf an, daß sie die Ge- 
legenheit hatten, in dieser Hinsicht neue Erfahrungen zu machen und 
gleichzeitig die Lebenssituation ihrer gewohnten Umgebung aufzuar- 


beiten. 
Wesentliche Voraussetzung dafür war, daß das Seminar von Frauen vor- 


bereitet und durchgeführt wurde 

® weil das typische Rollenverhalten, das die Arbeit erschwert, auch 
gegenüber männlichen Teamern auftritt und der Mann in seiner er- 
lernten Rolle ebenso befangen ist wie die Mädchen; 

© weil Frauen aus eigener Erfahrung heraus Schwierigkeiten mit der in 

unserer Gesellschaft vermittelten Frauenrolle haben, sie besser 

nachvollziehen können und mit den Mädchen Ansätze zur Veränderung.‘ 
suchen können; 

® weil der selbstverständliche Umgang der Teamerinnen mit dem Werkzeug 
bewirkt , daß auch die Teilnehmerinnen ihre Angst vor Werkzeugen 
bzw. "typischer Männerarbeit'" verlieren. 

Aus den vorangegangenen Überlegungen ergaben sich zwei Schwerpunkte: 

handwerkliche Arbeit und Gespräche über Themen, die für die Mädchen 


relevant sind. 


2. PLANUNGEN 


Als handwerkliche Arbeit wurde die Herstellung von Setzkästen ausge- 

wählt: 

© der Arbeitsprozeß läßt sich in mehrere, gut überschaubare Abschnit- 
te aufteilen; 

© die Herstellung erfordert selbständige Planung und Durchführung 
(jedes Mädchen fertigte nach eigenen Vorstellungen einen Plan für 
ihren Setzkasten an, den sie im Verlauf des Seminars baute); 

© eigenständiger Umgang mit Werkzeugen (Hammer, Schraubzwingen, 
Zangen, Winkel, Schraubenzieher und Kreissäge). 

Am Ende des Seminars stand ein fertiges Produkt, das die Mädchen mit 

nach Hause nehmen durften. 

Pro Arbeitsstunde wurde den Teilnehmerinnen DM 1.-- "Lohn" gezahlt. 

Ihren Setzkasten konnten sie gegen DM 10.-- Materialkostenbeteili- 

gung erwerben. 

Die handwerkliche Tätigkeit sollte auch dazu dienen, die Situation 

am Arbeitsplatz zu simulieren. Akkord- und Vorarbeitersystem, sowie 

der Zusammenhang von Arbeit und Geld sollte durch die Lohnzahlung 


aufgezeigt werden. 


-66- 


Für die Gespräche hatten wir uns folgende Themen überlegt: 
Situation in Schule, Familie usw. 

Verhältnis zu den Eltern (besonders Mutter-Tochter-Beziehung) 

die Bedeutung des Freundes 

Mädchenarbeitslosigkeit und Perspektiven 

Männerarbeit - Frauenareit (Möglichkeiten für Mädchen sogenannte 
Männerberufe zu ergreifen) 

© Freizeitverhalten 

® Sexualität, Verhältnis zum eigenen Körper 

Die Themen sollten nicht nur durch Gespräche, sondern auch durch 
Rollenspiele, Planspiele, Collagen, Verkleiden und einen Film bear- 
beitet werden. 


3. SEMINARKRITIK 


Setzkästen 





Am Ende des Seminars hatte jedes Mädchen seinen Setzkasten gebaut. 
Dabei hatte sich gezeigt, daß im Verlauf der Arbeit die Motivation 
wuchs. Die Mädchen gewannen zunehmend Selbstvertrauen durch den Um- 
gang mit dem Werkzeug und der Maschine und dadurch, daß die Arbeit 
Form annahm. Eine der Teilnehmerinnen hatte anfangs skeptisch geäus- 
sert: "Ich habe keine Lust, das glaubt mir zu Hause doch keiner, 
daß ich den Setzkasten selbst gemacht habe". Als es zum Zusammenset- 
zen der Kästen kam, wurden ständig Überstunden gemacht. Dadurch, daß 
die Mädchen zunehmend Spaß an der Arbeit fanden, erübrigte sich die 
von uns ursprünglich beabsichtigte Problematisierung der Arbeits- 
situation. Die Arbeit wurde in erster Linie als bestätigend empfun- 
den. Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Geld wurde kaum bewußt, 
was sich darin ausdrückte, daß die Auszahlung von den Mädchen ver- 
gessen wurde. Erst zum Ende des Seminars, als sie nicht mehr genü- 
gend Geld hatten, um sich Zigaretten zu kaufen, wurde die Auszah- 
lung wichtig. Der geringe Betrag von DM 1.-- pro Stunde wurde nie 
in Frage gestellt, ebensowenig die Bezahlung der freiwillig gelei- 
steten Überstunden gefordert. Daraus läßt sich ableiten, daß der 
eigentliche Wert der Arbeit eher die Bestätigung war als die Bezah- 
lung . Im nachhinein scheint uns das Verhältnis der Mädchen zum Geld 
fragwürdig, was jedoch im Laufe des Seminars nicht problematisiert 
wurde. Trotz der Selbstversorgung und der Auszahlung des "Lohnes" 
stellte das Seminar in finanzieller Hinsicht eine Versorgungssitua- 
tion dar, wie sie bei den Mädchen zu Hause wohl ähnlich zu finden 
ist und wie sie auch von vielen Hausfrauen hingenommen wird, denen 
das Geld vom Mann zugeteilt wird, je nachdem wieviel sie brauchen. 
Um diese Situation zu ändern, müßte ein realistischer Lohn ausge- 
zahlt (z.B. DM 5.-- pro Stunde) und davon das Geld für Unterkunft 
und Essen eingezogen werden. 

Ausgehend von den DM 10.-- Unkostenbeitrag für den fertiggestellten 
Setzkasten, der von uns zunächst einfach festgesetzt worden war, 
wurden noch einmal die tatsächlichen Materialkosten errechnet, wo- 
bei alle von deren Höhe von DM 24.-- beeindruckt waren. 


-67- 


Gruppenthemen 





Es war schwierig, ein Gruppengespräch mit einem festen Thema durch- 
zuhalten. Am ersten Tag fand ein Kennenlern-Gespräch statt, in dem 
die Mädchen ohne vorgegebenem Thema von sich erzählten. Nachdem es 

am zweiten Tag nicht gelungen war, sich auf ein Thema zu einigen, 
weder auf ein von uns vorgeschlagenes (Situation zu Haus) noch auf 
ein von den Teilnehmerinnen vorgeschlagenes, schlugen wir für den 
nächsten Tag eine Collage zum Thema "5 Jahre später" vor, in der sich 
Wünsche, Vorstellungen, Perspektiven der Mädchen ausdrücken sollten, 
Es stellte sich heraus, daß weder die Mädchen noch wir mit dem vorhan- 
denen Material (Frauenzeitschriften und Stern) die Vorstellungen aus- 
drücken konnten. Die Collage wurde nicht fertiggestellt. Aus der Un- 
zufriedenheit mit diesen beiden Tagen heraus, erarbeitete eine Klein- 
gruppe Themen und Vorschläge, um die Gesprächssituation zu verbes- 
sern. 


Vorschläge: Kleingruppen, Gesprächsleitungen 
Themen: Verhältnis zu Eltern, Freund, Erfahrungen mit dem Arbeitsant, 


Berufsberatung 


Von da an verliefen die Gespräche konzentrierter und führten auch 

zu befriedigenden Ergebnissen. Aus dem Thema "Freund" ergaben sich 
einige neue Fragestellungen, die in dem Seminar aus zeitlichen Grün- 
den nicht mehr aufgearbeitet werden konnten. Auffallend großen An- 
klang fand das vorbereitete Planspiel zum Thema "Arbeitsamt und Be- 
rufsberatung". Ein Grund für das aktive Interesse hängt mit der Me- 
thode des Rollenspiels zusammen, die den Mädchen sichtlich Spaß 
machte. Jede der Teilnehmerinnen hatte die Möglichkeit, ihre Erfah- 
rungen im Spiel darzustellen. Aus dem Spiel entwickelte sich ein an- 
geregtes Gespräch darüber, wie man die Situation ändern kann. Die 
Teilnehmerinnen ermutigten sich gegenseitig zur Berufsschule zu ge- 
hen bzw. in der Abendschule den Hauptschulabschluß nachzumachen. 

Es kam zu konkreten Terminvereinbarungen,um die Sache in Angriff zu 
nehmen. Die Berufswünsche der Teilnehmerinnen bewegten sich haupt- 
sächlich in der Kategorie der Frauenberufe (Floristin, Friseuse, 
Verkäuferin, Schneiderin, Erzieherin, Hausangestellte und Sekretä- 
rin) und waren sehr realistisch. Eine Teilnehmerin hatte das Berufs- 
grundbildungsjahr absolviert und entgegen den Voraussagen sind ihre 
Chancen auf eine Arbeitsstelle dadurch nicht gestiegen. 


Im Verlauf des Seminars zeigte sich, daß die geplanten Themen zu 
sehr vom Anspruch der Teamerin ausgingen und zu differenziert waren. 
Themen wie beispielsweise Sexualität oder Verhältnis zum eigenen 
Körper wurden von den Teilnehmerinnen nicht aufgegriffen. 





Freizeit 





Von der Vorbereitung her standen den Mädchen nur drei Abende zur 
freien Verfügung. Für die Abende waren ein Film,Spiele, Disco mit 
Verkleiden, eine Nachtwanderung und eine Abschlußfete geplant, zu- 
sätzlich ein ganztägiger Ausflug. 

Der Film war nicht rechtzeitig bestellt worden und deshalb nicht 
verfügbar. Während des Seminars nahmen die Mädchen die Gestaltung 

der Freizeit selbst in die Hand. Sie organisierten eine Federbetten- 
Punsch-Party, eine Nachtwanderung, eine Abschlußfete, zwei Spielaben- 


-68- 


de, eine Fahrt zur Disco und die Fahrt zu einer Fete nach Bleckede, 
Während des Ausflugs trafen wir uns mit einer Gruppe arbeitsloser 
Jugendlicher, die in Bleckede ein Seminar machten . Es entwickelten 
sich schnell Kontakte, die zu einer gemeinsamen Fete führten. 

Je stärker der Gruppenzusammenhang wurde, desto wichtiger wurde es 
den Mädchen auch, daß die Freizeit gemeinsam verbracht wurde. 
Bemerkenswert war der spontane und gute Kontakt zur Dorfjugend, die 
die Mädchen zu unserer Abschlußfete eingeladen hatte. Die sonst übli- 
chen Vorbehalte der Dorfbewohner gegenüber den Teilnehmern an Semi- 
naren traten nicht auf. Die Dorfbewohner zeigten Interesse und Ver- 
ständnis für die Situation der arbeitslosen Mädchen. 

Bei der allein verbrachten Freizeit konnten die Teamerinnen sich 
auf die Einhaltung der Abmachungen verlassen. 





Teamer-Teilnehmerverhalten 





Einige der Teilnehmerinnen kannten sich aus der Schule oder aus dem 
arbeitsmotivierenden Programm in Uelzen. Trotzdem wurden die Mäd- 
chen, die neu in die Gruppe kamen, sofort integriert. Das geläufige 
Konkurrenzverhalten spielte kaum eine Rolle. Die üblichen Maßstäbe, 
nach denen Mädchen in gemischten Gruppen beurteilt werden, traten in 
den Hintergrund. Stattdessen brachten sie Verständnis auf für die 
spezifischen Schwierigkeiten der einzelnen. Sie hörten einander zu, 
diskutierten Lösungsmöglichkeiten und konnten ihre Kritik offen 
äußern. Auch Außenseiter wurden immer wieder einbezogen. 


Die Organisation des Seminars klappte erstaunlich gut. Die Mädchen 
sorgten eigenständig für den regelmäßigen Tagesablauf. 


In der Beziehung zwischen den Teilnehmerinnen und uns wurden Diskre- 
panzen deutlich. Es war zunächst schwierig, den Mädchen zu vermitteln, 
was wir mit dem Mädchenseminar wollten. Außerdem wurde ihnen kaum 
einsichtig, wie unser Verhältnis zu Männern aussieht. Sie waren häufig 
irritiert durch unsere Stellungnahmen. Das ging soweit, daß sie uns 
für "Jungen-scheu" hielten und eine Teilnehmerin meinte, wir woll- 
ten ihnen das Heiraten ausreden. Zu Ende des Seminars stellte ein 
Mädchen fest, daß wir uns oft über ganz andere Dinge amüsiert hatten 
als die Mädchen und für das, was ihnen Spaß machte, wenig Verständ- 
nis zeigten. Sie ließen sich jedoch nicht davon beeindrucken oder 

in ihren Aktivitäten stören. Für uns ist es schwierig einzuschätzen, 
wie die Mädchen uns erlebt haben, inwieweit wir für sie eine Auto- 
rität darstellten, oder ob das Verhältnis freundschaftlich war. Uns 
ist aufgefallen, daß sie häufig sehr vernünftig und einsichtig wa- 
ren und wenig in Frage stellten. Es ist außerdem sehr zweifelhaft, 
ob sie in uns die Möglichkeit einer Alternative erlebt haben. Ganz 
abgesehen davon, daß sie in ihren Lebensbedingungen kaum eine Chance 
haben, Alternativen zu entwickeln. 

Von den Mädchen kam der Vorschlag, sich über das Seminar hinaus auch 
weiterhin zu treffen und sich mit den Eltern in einer Runde zusam- 
menzusetzen, um über die im Seminar angeschnittenen Probleme zu re- 
den. 


-69- 


4. EINSCHÄTZUNGEN/ERFAHRUNGEN 


Am Ende des Seminars setzten wir uns mit den Mädchen zusammen und 
besprachen anhand der von den Teamerinnen angefertigten Protokolle 
was positiv und negativ gelaufen war. Alle Teilnehmerinnen wünschten 
ein weiteres Mädchenseminar mit Begründungen wie: Frau lernt sich 
besser kennen, es war gut, selbständig arbeiten zu können, nicht Nur 
im Haushalt, frau könnte offener über Probleme reden, es war ruhiger, 
Für uns wurde deutlich, daß ein Mädchenseminar nicht ausreicht. Um 
die Ansätze weiter zu vertiefen, ist es wichtig, die Arbeit fortzu- 
führen, wozu weitere Treffen eine Möglichkeit darstellen. Gemeinsaye 
praktische Arbeit, die eine ganz entscheidende Erfahrung war, ist įm 
Rahmen von einem Treffen wöchentlich nicht möglich, sondern erfor- 
dert eine Seminarsituation oder entsprechende Einrichtungen am Ort 
(z.B. eine Werkstatt) und Sozialarbeiterinnen, die mit den Mädchen 


gemeinsam handwerkliche Arbeiten machen. 


Das Verhältnis zwischen praktischer Arbeit und Gruppengesprächen 
zeigte sich als gut ausgewogen. Es wurde von allen als positiv 
empfunden, daß die praktische Arbeit vormittags angesetzt war. Der 
Zeitraum von 10 Tagen war günstig, da einige Tage Anlaufzeit notwen- 
dig sind, bis die Sache richtig läuft. Das Seminar bot Anreize für 
weitere gemeinsame Aktivitäten. 

Die Selbstversorgung machte den Mädchen sehr viel Spaß, weil sie 

den Speiseplan selbständig zusammenstellen konnten und die Essens- 
zeiten flexibel zu handhaben waren. 

Was die Art der Arbeit anging, so hat sich die handwerkliche Arbeit 
als sehr gut bewährt. Um jedoch , wie ursprünglich beabsichtigt, 

eine realistische Arbeitssituation zu schaffen, wäre es notwendig, 
daß die Teilnehmer kein für sich selbst verwertbares Produkt herstel- 
len, sondern Auftragsarbeit und, wie oben angeführt, eine angemessene- 
re Form der Bezahlung erhalten. Für eine feministische Jugendarbeit 
erscheint es uns wichtiger, das Selbstbewußtsein der Mädchen über 

die Erfolge bei der handwerklichen Arbeit zu stärken, als eine Ar- 
beitssituation zu simulieren, die sie durch Jobben, Erzählungen von 
Freunden, Eltern etc. bereits hinlänglich kennen. 


Wir haben die Erfahrung gemacht, daß die Mädchen zu Hause sehr viel 
leisten. Sie sind für die jüngeren Geschwister verantwortlich und 
versorgen den Haushalt, während ihre Mütter dazuverdienen. Sie 
selbst empfinden es kaum als Arbeit und leisten sie somit unentgelt- 
lich. Es erscheint uns wichtig, ihnen diese Leistung bewußt zu ma- 
chen, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken. 

Da Mädchen die oben geschilderte Funktion erfüllen, werden sie von 
den Eltern auch kaum ermutigt, ernsthaft Arbeit zu suchen und wer- 
den auf ein Hausfrauendasein festgelegt, das sie in Abhängigkeit 
hält. Es ist den Eltern wichtiger, daß die Mädchen ordentlich sind, 
als daß sie etwas Ordentliches lernen. 


Für uns schließlich war die Erfahrung während des Seminars neu, daß 
wir die von uns in die Gespräche eingebrachten persönlichen und ge- 
meinsamen Probleme mit den Mädchen aufarbeiten konnten. Das sonst 
übliche Teamer-Teilnehmerverhalten, gekennzeichnet durch ungleich- 
gewichtige Verteilung und Vermittlung von Wissen und Erfahrungen und 
daraus resultierenden Autoritätsproblemen, konnte ein Stück weit 
über die gemeinsame geschlechterspezifische Betroffenheit aufgehoben 


werden. 


Wir möchten Frauen, die bereits ähnliche Arbeit mit Mädchen machen/ 


gemacht haben, zu einem Erfahrungsaustausch auffordern, und wir hof- 
fen, daß unser Bericht einen Anstoß dazu gibt. 


Unsere Kontaktadresse: Lioba Mölbert: Vor dem neuen Tore 2, 


3111 Lüneburg 


Lehrerkalender 


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Die Ausgabe 1979/80 erscheint Anfang Mai. Sie reicht von August '79 
bis Juli '80. 352 S. DIN A 6 flexibler Umschlag, gebunden, DM 8,50 
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Ilse Hans 


ERFAHRUNGEN IN DER ARBEIT MIT MÄDCHEN 
AUS ARBEITERFAMILIEN 


In den letzten Jahren ist - bedingt durch die Frauenbewegung, ihr 
"Praktischwerden' und durch engagierte Frauen in der Sozialarbeit - 
das Bewußtsein über die Vernachlässigung von Mädchen im Freizeitbe- 
reich relativ stark geworden. Im Unterschied zum Bereich des Bil- 
dungs- und Ausbildungssystems hat im Freizeitsektor die Ignoranz ge- 
genüber der Benachteiligung von Mädchen wohl auch deshalb so lange 
angehalten, weil hier - im Freizeitbereich - kein direkter "output" 
fabriziert wird: die Mädchen fallen nicht weiter auf, sie sind 
nicht "aggressiv", also werden sie auch nicht weiter berücksichtigt. 


Ich habe in einem Jugendclub mit Jugendlichen, die aus Arbeiterfami- 
lien kommen, mit einer feministischen Mädchenarbeit begonnen und 
möchte im Folgenden meine Erfahrungen schildern. Dabei finde ich es 
besonders wichtig, auf die Frage: Warum eigentlich autonome Mädchen- 
gruppen? einzugehen und diese Frage im Zusammenhang der Freizeitar- 
beit überhaupt zu reflektieren. 


1. DIE SITUATION DER MÄDCHEN IM JUGENDCLUB UND IN DER FAMILIE 


Im Club werden die Mädchen von den Jungen als Objekte gesehen und 
entsprechend behandelt: Sie werden "angemacht", bei "Männerunterhal- 
tungen" an der Theke zum Tanzen geschickt, zum Bierholen gerufen, 
und beim Skat oder Billard dürfen sie den Jungen zusehen. Die Jungen 
haben ein Frauenbild im Kopf (das Mädchen muß eine gute Figur haben, 
modern angezogen und gut im Bett sein, ihm nicht zuviel Freiheit neh- 
men), und die Mädchen verhalten sich so, wie es von ihnen erwartet 
wird und worauf hin sie erzogen worden sind. A R 

Die Mädchen gehen nach der neuesten Mode gekleidet, weil sie stän- 
dig erfahren, daß Aussehen, Kleidung etc. entscheidend dafür sind, 
um von den Jungen beachtet zu werden. Wer aus diesem Rahmen heraus- 
fällt, wird nicht anerkannt - weder von den Jungen noch von den Mäd- 
chen. 


Das Interesse der Mädchen am Club ist, eine Möglichkeit zum Tanzen 
zu haben und einen Jungen kennenzulernen . Das Interesse, einen Freund 
zu kriegen, ist gleichzeitig eine Notwendigkeit: Denn ihr Status 
im Club steigt, wenn sie längere Zeit einen festen Freund oder über- 
haupt schon mal einen Freund hatten. Auf der anderen Seite werden 
Mädchen, die häufig wechselnde Freundschaften haben, schnell als H 
"leichte" Mädchen abgewertet, mit denen "man es immer machen kann . 
Die Mädchen kommen in Cliquen und haben auch sehr intensive Freund- 
schaften untereinander, aber in der Werbung um einen Freund stehen 
sie in harter Konkurrenz untereinander. Sie spielen sich dann gegen- 
einander aus, oftmals gehen Mädchenfreundschaften wegen einem Jungen 
auseinander. 

-7 3- 


Das Reagieren der Familien der Mädchen auf deren Freizeitinteressen 
ist folgendermaßen gekennzeichnet: Die Mädchen werden wesentlich styan— 
ger als Jungen behandelt: z.B. bekommen sıe sehr schnell Ärger mit 
den Eltern wegen des Nachhausekommens, eine Viertelstunde über der 
Zeit kann eine Woche Hausarrest nach sich ziehen. Auch müssen die 
Mädchen ihren Müttern sehr viel Hausarbeit abnehmen, die Beaufsich- 
tigung der kleineren Geschwister übernehmen, und so schränkt sich 

die Zeit für den Club stark ein. Die Mädchen fühlen sich von den El- 
tern konsequenterweise oft nicht verstanden, eingeschränkt, permaneyt 
kontrolliert. Diese permanente Kontrolle verstärkt sich noch durch 
die engen Wohnverhältnisse. 

So ist also der Wunsch der Mädchen auf diesem Hintergrund zu sehen, 
durch einen Mann und Heirat/Familiegründen aus dieser Familiensitua- 
tion herauszukommen. Obwohl die Mädchen die oft trostlose und unter- 
drückte Situation ihrer Mütter genau sehen und auch zu beschreiben 

in der Lage sind, meinen sie, daß ein solches Schicksal ja nicht auf 
sie zutreffen brauche, sie persönlich hätten die Möglichkeit, es 
"anders", besser zu machen. 

Hier zeigt sich, daß es den Mädchen offensichtlich nicht möglich 

ist, in anderen Bahnen als denen der erfahrenen Realität zu denken 
und zu wünschen: Das negativ Erfahrene wird zum psitiv zu Erfahren- 


den umgewünscht. 


2. SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR EINE FEMINISTISCHE MÄDCHENARBEIT 


Eine feministische Mädchenarbeit muß nach meinen Erfahrungen auf 
mehreren Ebenen ansetzen: 

Da ist zuallererst einmal die Ebene des ganz normalen Jugendhausall- 
tages, dort spielen sich die Konflikte ab, dort zeigt sich die oben 
beschriebene Unterdrückung der Mädchen. Und genau in diesem Alltag 
müssen sich die Sozialarbeiter/innen für die Mädchen einsetzen, an 
konkreten Situationen diskutieren und kritisieren (z.B. wenn Mäd- 
chen, die Billard spielen wollen, nicht "rangelassen" werden, man 
ihnen nicht zutraut, die Diskoanlage zu bedienen etc. etc.) 

Es ist auch wichtig und möglich (!), die Mädchen aufzufordern, sich 
gemeinsam zu wehren und durchzusetzen, ihren Freundinnen zu helfen,- 
wenn sie angemacht werden usw. 

Ziel dieses Alltagskampfes (der übrigens von allen pädagogischen 
Mitarbeitern zu führen ist) ist es also, die Position der Mädchen 
zu stärken oder nur einfach, sie vor ständiger täglicher Unterdrük- 
kung etwas zu schützen; mit den Jungen in Auseinandersetzung über 
ihre Praktiken zu treten, schließlich: den Mädchen durch eine deut- 
liche Parteinahme die Möglichkeit zu geben, Selbstvertrauen zu ge- 
winnen. 


Die nächste Ebene wäre die Bildung einer autonomen Mädchengruppe, 
die aus dem offenen Bereich entsteht und in ihn integriert ist. 

Das heißt, sie hat Einflüsse und Rückwirkungen auf den gesamten Ju- 
gendhausalltag insofern, als sie nicht isoliert neben den sonstigen 
Aktivitäten steht, sondern ihren festen Platz im Gesamtkonzept für 
die Freizeitarbeit findet. 

An diesem Punkt wird spätestens deutlich, daß noch eine dritte Ebe- 
ne beachtet werden muß, die quer zu den beiden genannten liegt, näm- 
lich die der Auseinandersetzungen im Team: 

Sowohl der Alltagskampf als auch die Existenz und Notwendigkeit 


-74- 


Das Jugendzentrum Hammerschlag in 
Schorndorf/Württ. 
sucht zum baldmöglichen Termin (1.9.) 


zwei Sozialarbeiter(innen) 


Schorndorf ist eine Stadt mit 33.000 Einwohner 30 km östlich von 
Stuttgart. Das Jugendzentrum existiert seit ca. lo Jahren in Selbst- 
verwaltung. Seit 1977 gibt es eine städtische Satzung, die die Selbst- 
verwaltung garantiert. Die Einstellung von Personal erfolgt auf Vor- 
schlag von uns (den Jugendlichen) durch die Stadtverwaltung. 
Bezahlung: BAT IVb oder Vb je nach Qualifikation. 

Probezeit: 6 Monate 


Aufgabenbereiche(z.T. übergreifend): 

* Betreuung von Kindern und Jugendlichen am Nachmittag in 
Zusammenarbeit mit älteren Jugendlichen 

* Randgruppenarbeit in Problembereichen, die nicht von uns selbst 
gelöst werden können. 

Erfahrungen in diesen Bereichen sind wichtig. 

Wir erwarten Kooperationsbereitschaft mit uns. 

Schreibkram, Verwaltungsarbeiten, Hausmeistertätigkeiten,Kontakte 

mit der Stadtverwaltung und anderen Behörden, Planung und Durch- 

führung der Veranstaltungen am Abend und Wochenende bleibt 

weiterhin unsere Aufgabe. Euere Tätigkeit beschränkt sich also aus- 

schließlich auf den pädagogischen Bereich. 


Festlegung der Arbeitszeit, des Urlaubs, der Freitage erfolgt in Zu- 
sammenarbeit zwischen den Sozialarbeitern/innen und in Absprache 
mit uns und dem städtischen Sozial- und Personalamt. 


Bewerbungen 

bitte an Jugendzentrum Hammerschlag, Hammerschlag 6,Postfach 
1565, 706 Schorndorf 

I 


Das Ev. Jugendzentrum in Hannover-Kleefeld Bewerbungen an: 

sucht zum Kirchenvorstand 

1. Juli 1979 ev.-luth.Petri-Ge- 
meinde, 


einen Sozialarbeiter(in)/Sozialpädagoge(in) Hölderlinstr. 1, 
oder Diakon(in) 3 Hannover 61 
oder Dipl.Pädagoge(in) für offene Jugendarbeit. Rücksprache mit 
Selbständigkeit ist möglich und erwünscht. den zukünftigen 
Bezahlung nach Qualifikation, höchstens jedoch Kollegen(innen) 


BATIVb. 0511/550978 





einer autonomen Mädchengruppe müssen inhaltlich voll vom Team ge- 
wollt und (auch nach außen) vertreten werden (wenngleich die Mäd- 
chengruppe selbst nur von einer Frau aufgebaut werden kann). Es 
reicht also nicht, wenn die Parteinahme für die Mädchen und das akti- 
ve Angehen gegen ihre Unterdrückung stillschweigend oder auch wohl- 
wollend gebilligt werden, sondern es muß inhaltlich gemeinsam der 
Aufbau einer Mädchengruppe als integrierter Bestandteil der Konzep- 
tion getragen werden. 

Dieser Anspruch ist u.U. schwer zu realisieren, werden doch bei 

der Diskussion um eine parteiliche Mädchenarbeit allzuviele Punkte 
benannt, die auch dem einen oder anderen Mitarbeiter subjektiv zu 
schaffen machen. Deshalb sind die inhaltlich/konzeptionellen Diskus- 
sionen auch häufig emotional recht aufgeheizt. 


Die Mädchen brauchen einen Raum, wo nicht wieder die Jungen dominie- 
rend sind und wo sie ihr Verhalten und ihre Einstellungen nicht, wie 
sonst, von den Jungen in Abhängigkeit zu definieren brauchen. Sie 
haben in einer Mädchengruppe die Voraussetzungen und Möglichkeiten, 
ihre Interessen und Bedürfnisse eindeutig (nicht ambivalent) zu 
äussern, denn sie brauchen erstmal keine Angst vor der Reaktion der 
Jungen zu haben. 

In der Mädchengruppe haben die Mädchen durch den Austausch von Er- 
fahrungen die Möglichkeit zu erkennen, daß sie gemeinsam benach- 
teiligt sind, und über diese Erkenntnis lassen sich solidarische Ge- 
fühle entwickeln, z.B. gegenseitige Hilfe, Unterstützung, Trost, 
Sich-Stark-Fühlen, Sich-Selbstbewußt-Fühlen. Ziel ist es auch, eige- 
ne Verhaltensweisen und die der Jungen zu hinterfragen und Konkur- 
renzen zu den anderen Mädchen abzubauen. 

Wichtig ist schließlich auch die Erfahrung, daß Unternehmungen und 
Aktivitäten "nur" mit Mädchen Spaß machen. 


3. WIE KANN FRAU EINE MÄDCHENGRUPPE AUFBAUEN? 


Die Sozialarbeiterin, die (hoffentlich aktiv unterstützt vom gesam- 
ten Team!) eine Mädchengruppe aufbauen möchte, muß längere Zeit in 
dem Freizeittreff bekannt sein. Die Mädchen müssen sie in Situatio- 
nen kennengelernt haben, wo sie sich für ihre Interessen eingesetzt 
hat, so daß sie (die Mädchen) Vertrauen zu ihr haben. 

Eine Mädchengruppe kommt nicht über Plakat-Wandzeitungswerbung zu- 
stande, auch nicht über eine Flugblattaktion. Über solche Form der 
Öffentlichkeitsarbeit werden die Mädchen von ihren Freunden daran 
gehindert, zur Mädchengruppe zu gehen. Der Weg muß über persönliche 
Ansprache laufen, zu einzelnen Mädchen und zu verschiedenen Mädchen- 
cliquen. Solche Gespräche dauern eine ganze Zeit, es ist sehr wich- 
tig, die Mädchen immer wieder an den ersten Termin zu erinnern, und 
sie zu ermutigen, Freundinnen mitzubringen. Der erste Treff kann 
auch gut von einem "persönlichen" Flugblatt (Brief) begleitet wer- 
den. 





Am besten ist es, mit den Mädchen von Anfang an einen eigenen Raum zu 


haben, um sich mit ihnen in einer ungestörten Atmosphäre treffen, 
bewegen, unterhalten zu können. Der eigene Raum und seine Gestal- 
tung durch die Mädchen kann auch zur Identifizierung mit dieser 
neuen Gruppe positiv beitragen. 


-76- 


4. WIE ENTWICKELT SICH DIE MÄDCHENGRUPPE ? 


Themen für die Mädchengruppe ergeben sich ganz natürlich aus ihrer 
Problemlage, es wird das geäußert, wovon sie gerade am meisten be- 
troffen sind! 

© Probleme im Elternhaus 

© Freundschaft und Sexualität 

Über die brennend wichtigen Themen: Beruf, Arbeitswelt zu reden, ist 
äußerst schwierig: die Mädchen wollen darüber nicht sprechen. 


Zu den Problemen im Elternhaus ergaben sich, bei meinen Erfahrungen, 
oftmals spontan Rollenspiele, in denen die Mädchen ihre Eltern spiel- 
ten. Wir diskutierten über die Einstellung der Eltern und versuch- 
ten auch zu klären, warum sie so sind, und wie die Mädchen wohl bes- 
ser mit ihnen reden könnten. 

Als die Mädchen untereinander Vertrauen gewonnen hatten, wurden ihre 
Sexualität, ihre Ängste und Unsicherheiten in diesem Bereich, ihre 
beschissenen Erfahrungen mit Jungen zum wichtigsten Thema. Gemeinsame 
Besuche beim Frauenarzt und "pro familia", Informationen und Kennt- 
nisse (samt Ansehen) über Verhütungsmittel, standen im Mittelpunkt 
unserer Aktivitäten. 

Neben den oben beschriebenen Gesprächen und Aktivitäten haben die 
Mädchen die Erwartung, "daß was passiert". Beim nur Reden verlieren 
sie bald die Lust an der Gruppe. Deswegen haben gemeinsame Aktionen 
wie Ausflüge, etwas für sich oder das Jugendzentrum zu organisieren 
(Fest), Kochen, Feiern, Spielen, Basteln, wo die Mädchen sich noch 
besser kennenlernen und Spaß haben können, einen ebenso wichtigen 
Stellenwert. 


5. MIT WELCHEN PROBLEMEN WIRD FRAU KONFRONTIERT, 
WENN SIE EINE MÄDCHENGRUPPE MACHT ? 


Ein Problem kann sich aus der Konfrontation zwischen den geäußerten 
Bedürfnissen der Mädchen und den eigenen "emanzipierten" Ansprüchen 
ergeben: z.B. wenn die Mädchen immer wieder nähen oder kochen wollen, 
Frau selber aber diese als"weiblich" definierten Fähigkeiten nicht 
noch verstärken will, statt dessen im Kopf hat, einen Elektrokurs 

mit den Mädchen zu machen. Während ich zu Beginn meiner Arbeit noch 
den Anspruch hatte, die Mädchen dahingehend zu beeinflussen, ihre 
"weiblichen" Interessen zugunsten von eher "männlichen" abzubauen, 
habe ich heute eine andere Einstellung: Es ist nicht nötig und sinn- 
voll, daß die Mädchen typisch "männliche" Fähigkeiten lernen, um zei- 
gen zu können: "Ich bin ganuso viel wert wie Du" 

Denn damit würde ich wiederum den Mädchen aufzeigen, was sie alles 
nicht können, nicht haben, sie wären damit nicht in der Lage, sich 
so, wie sie sind, akzeptieren zu lernen. Sie sind mit dem, was sie 
können, gut; und was sie lernen wollen (sei es auch ein Elektrokurs), 
wird akzeptiert und unterstützt. 


Ein weiteres Problem entsteht durch die Reaktion der Jungen auf die 
Mädchengruppe: Sie sind verunsichert und reagieren meist aggressiv, 
indem sie die Treffen stören und versuchen, den Raum zu demolieren. 
Gerade in diesen Auseinandersetzungen haben viele Mädchengruppen er 
fahren, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten und sich das Recht, sich 


-77- 


zu treffen, nicht nehmen zu lassen. Auf der anderen Seite muß mit 
den Jungen diskutiert werden, damit sie lernen, die Mädchengruppe zu 
akzeptieren. Diese Forderung ist für die Jungen schwer einsehbar, 
richtet sich die Mädchengruppe doch erstmal auch gegen sie; die Jun- 
gen schaffen das Akzeptieren zum Beispiel durch eine eigene Jungen- 
gruppe oder dadurch, daß die Mädchengruppe sich mit Aktivitäten im 
oder fürs Jugendzentrum dargestellt hat. 


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Susanne Maurer, Tübingen 


“MÄDCHEN — ZWISCHEN ANPASSUNG UND WIDERSTAND” 


Ein Buch "...für die, die Interesse haben, mehr über Mädchen zu er- 
fahren und für die, die sich in ihrer beruflichen Praxis gemeinsam 
mit Mädchen neue, adäquate Wege in der Jugendarbeit erkämpfen wollen." 


Carola Wildt, die seit mehreren Jahren schwerpunktmäßig mit Frauen- 
und Mädchengruppen arbeitet, inzwischen innerhalb des Teams zur wis- 
senschaftlichen Begleitung des "Modellprojekts Frauenhaus Berlin" 
(Verein zur Förderung des Schutzes mißhandelter Frauen), und Monika 
Savier, mittlerweile Sozialpädagogin im Rahmen des Modellprogramms 
"Soziales Training" mit dem Schwerpunkt "Mädchengruppen" (auch Ber- 
lin), haben die Erfahrungen aus ihrer mehrjährigen gemeinsamen theo- 
retischen und praktischen Arbeit mit Mädchen zu diesem Buch verarbei- 
tet: 

Monika Savier u. Carola Wildt, 

"Mädchen - zwischen Anpassung und Widerstand". 

Neue Ansätze zur feministischen Jugendarbeit. 

1. Auflage, 1978. Verlag Frauenoffensive, Minchen. 

201 Seiten mit 25 ganzseitigen Fotos. 14.- DM. 


WOVON DIE AUTORINNEN AUSGEHEN 


© Die Lebensrealität von Mädchen ist in erster Linie durch ihre Ge- 
schlechtszugehörigkeit bestimmt, denn ihre lebensbestimmenden Kon- 
flikte sind ursächlich mit ihrem Mädchen-sein bzw. Frau-sein ver- 
knüpft. 

© Als Auswirkung der geschlechtsspezifischen Erziehung (die v.a. da- 
rauf abzielt, daß Mädchen mit dem Erwachsenwerden gleichzeitig 
die weiblichen sexuellen Normen übernehmen, um als Frau in dieser 
Gesellschaft ihre Rolle erfüllen zu können) ist die Tatsache zu 
sehen, daß Mädchen im Alter der Pubertät weitgehend angepaßte, 
typische weibliche Einstellungen und Verhaltensweisen haben. 

© Ihre Lebensgeschichte ist weniger eine kontinuierlich verlaufende 
Entwicklung als vielmehr eine permanente (sexuelle) Konditionierung, 
die mehr verhindert und unterdrückt, als fördert und unterstützt. 

© Alle Mädchen sind - unabhängig von ihrer Herkunftfamilie - als 
Mädchen unterdrückt und diskriminiert.Die sozialen und ökonomi- 
schen Lebensbedingungen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. 
Sie werden in der Realität als weibliche Wesen beachtet und beur- 
teilt. 


Wie verläuft der Prozeß der sogenannten "sexuellen Konditionierung"? 
Welchen Einfluß haben dabei die verschiedenen Sozialisationsinstan- 
zen (Familie, Schule, peer-groups)? 

Wie verbringen Mädchen ihre Freizeit (Freundinnen, Jugendfreizeit- 
heime, Discotheken, Treber- und Fixerscene)? 


-79- 


Entlang dieser Fragen machen Carola Wildt und Monika Savier den Ver- 
such, den Alltag der Mädchen aus feministischer Sicht darzustellen 
und zu interpretieren. Dabei geht es ihnen nicht darum, zu beweisen, 
daß Mädchen "so gut sind wie Jungen", sondern darum, sie für ihre 
Stärken und Schwächen zu sensibilisieren, die&ben mit männlichen 
Stärken und Schwächen weder vergleichbar sind, noch mit ihnen kon- 
kurrieren sollen. 


Konsequenz aus der Reflexion ihrer Beobachtungen ist ein didaktisches 
Konzept für eine feministische Mädchenarbeit und reicht von einer all- 
gemeinen Darstellung eines Praxisansatzes über Vorschläge zum Ein- 
satz von Medien bis hin zur Problematik der Interaktion von Pädago- 
ginnen und Mädchen. 
Die Autorinnen schreiben: 
"Die Begründung für eine feministische Pädagogik liefern die Mädchen 
selbst, die in zunehmendem Maße anfangen, sich gegen ihre unterge- 
ordnete Rolle und ihre Alibifunktion zu wehren, die sie bislang in 
der Jugendarbeit zugewiesen bekamen. 
Mädchen und Pädagoginnen gemeinsam sind in der Lage, die jahrelange 
Nicht-Beachtung in der Jugendarbeit - und nicht nur da - aufzuheben. 
Autonomes Handeln zur Durchsetzung der eigenen Interessen und Bedürf- 
nisse ist notwendig, um nicht in die patriarchalische Mühle zu gera- 
ten, die alles daransetzt, die Widerstandsformen und die Selbstver- 
wirklichung von Mädchen/Frauen zu verhindern" ... und 
..."Dabei berücksichtigen wir, daß unangepaßtes, nicht typisch weib- 
liches Verhalten von der Umwelt nicht widerspruchslos akzeptiert wird 
und für die Mädchen eine erneute Verunsicherung bedeuten kann. Des- 
wegen müssen wir ihnen gleichzeitig vermitteln, daß die Ablehnung 
ihres nicht-rollenkonformen Verhaltens sich zwar gegen sie als Ein- 
ne richtet, aber Ausdruck der gesellschaftlichen Frauenfeindlich- 
eit ist." 


WARUM ICH DIESES BUCH SO WICHTIG FINDE 


Meine erste wirkliche "Begegnung" mit feministischer Mädchenarbeit 
ereignete sich (war für mich echt ein Ereignis!) auf dem Kongreß 
"Feministische Theorie und Praxis in sozialen und pädagogischen Be- 
rufsfeldern", der im November 1978 in Köln stattfand. 


Eine Gruppe Berliner Pädagoginnen hatte eine Arbeitsgruppe zu "Mäd- 
chenarbeit'"' vorbereitet und ich ging hin, obwohl ich nicht über die 
gewünschten "praktischen Erfahrungen mit Hauptschülerinnen'" verfüg- 
te. Ich hatte zwar 'mal 'was von Mädchengruppen in Jugendfreizeithei- 
men gehört, aber das war auch alles. 

Die Berliner Frauen erklärten, warum sie es wichtig finden, mit Mäd- 
chen zu arbeiten, welche Erfahrungen sie mit dieser Arbeit gemacht 
haben und mit welchen Schwierigkeiten sie sich dabei konfrontiert 
sehen. 

Andere Frauen berichteten ihrerseits von ihren Erfahrungen - um's 
kurz zu machen: eine so spannende Diskussion hab' ich nur selten er- 
lebt. Dabei wurde deutlich, daß auch neue Ansätze, wie sie Ende der 
60er Jahre als "progressive", "emanzipatorische" oder "antikapita- 
listische" Jugendarbeit entwickelt wurden, kaum eine Veränderung für 
die Mädchen brachten. 


-80- 


Mädchen spielten weiterhin die untergeordnete Rolle, wurden nicht 
beachtet, waren immer noch in erster Linie "Sexualobjekt". 

"An den jeweiligen Bedürfnissen der Jugendlichen ansetzen" - aber 
über die speziellen Probleme der Mädchen machte sich keiner Gedanken, 
die sollten sich durch den Kampf der Jugendlichen wohl 'von allein' 
lösen! 

Diese Sätze fand ich bei Monika Savier und Carola Wildt dann wieder. 
Ihr Buch wurde für mich zur Grundlage dafür, mir klar zu machen, 
durch welche Mechanismen die Sozialisation/Entwicklung der meisten 
Mädchen einschließlich meiner eigenen bestimmt wird: wurde auch Grund- 
lage für Überlegungen, die mit meiner Berufsperspektive zu tun haben 
(ich studiere Sozialpädagogik und kann mir inzwischen vorstellen, 
später mit Frauen oder Mädchen zu arbeiten). 

Nicht zuletzt erscheint mir dieses Buch deshalb wichtig, weil es eine 
der wenigen Veröffentlichungen zum Thema "Mädchen in der Jugendar- 
beit" überhaupt ist. 





32 


37 


Faschismus heute? 

Neuer Faschismus?: Fragen, Diskussionsbeitröge, Positionen 
Zur Charakterisierung faschistischer Herrschaft; Berufsverbote 
Faschismus - Adenauer-Ara 
Rechte; Neonazistische Tendenzen in der Schule; Neue Repression 
in der BRD: Berichte, Glossen; Sozialismus-Diskussion: Bahros 
Kritik am realen Sozialismus; Nichtkommerzielle Rundfunkpraxis 
in Italien. 


Geschichte schreiben/SPD-Kultur 


Geschichte als kollektive Proxis, Gesellschafts- oder Sozial 
go hichte? Alternative Geschichtsschreibung: der 

P.Thompson — Untersuchungen, Interviews und Diskussion 
Kapitalismus ak Kultur Versioon; 


Neue Lebensformen 

Wunsch und Proxis 

Zeitgeschichte der gegenkulturellen Bewegung; Zwangs 
alternativen: Dialektik von Subkultur und Hinterwelt, 
Diskussion über Landkommunen; Ästhetik der Alternativszene, 
Dos Beispiel Longo Mai; Provinzarbeit; Analysen: Christianio, Tvind. 


Kulturarbeit — Kultur selber machen 
März 1979 

Industrielle Kulturerfahrung; Theaterarbeit auf dem Lande. 
Freie Rockgruppen; Was ist Straßenkultur? Schreiben lernen, 
Neue Kulturzentren — Kulturhäuser; Animationsbewegung in 
Frankreich; Stadtsanierung als Kulturzerstörung. 


Linker Konservatismus? (uni 1979) 

Unser konservativer Alltag; Aufklärung im Nebel; Neuer 
Konservatismus von links? Besonderheiten des deutschen 
Konservatismus - konservative Revolution; Das Konservative in 
unseren Wünschen und Bildern; Rechte Unterwanderung der 
Alternativscene; Konservatives vom Neuen Soziolisationstyp; 
Dos Linke und das Rechte. 


Frauenbewegung und Linke (sep. 1979 
Autonomie der Fravenbewegung; Frauen und Linke in anderen 
Ländern; Weibliche Identität; Schwierigkeiten linker Frauen mit 
der Frauenbewegung; Was hat die Linke von der Frauen 
bewegung gelernt? Rechter Feminismus - Frauen im Faschismus; 
Weibliche Mythen 


Kinderalltag Dez 1979) 
Kinderöffentlichkeit - Kindertheater 

Politik im Kindertheater; Wie grausam sind Kinder? 
Geschichte des Kinderalltags; Folgen der neuen 
Erziehung; Zeiterfahrung: Langeweile, Kinder 
tröume, Spontaneität; Kinderfilme; Wozu 
Märchen? Kinderöffentlichkeit: Straßen, 

Plätze, Zimmer, Feste 


heute; Die neve und die alte 


Beitrag von 


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Politische Kultur in Deutschland 
Hrsg.Knödler-Bunte, Preuss-Lausitz, Siebel 

Beitröge u.a. von J, Beck, S.Cobler, F. Dröge, K. Eschen, 

O. Flechtheim, H. Hartwig, Y. Karsunke, D. Richter, G. Seyfried, 
Vogelgesang, L Wawrzyn, R Wollt, P.P. Zahl 

320 Seiten + zahlr. Abb., 16,80 DM 





Frauengruppe Kinderhaus 


MÄNNER UND FRAUEN IM KINDERHAUS 
— ANSPRÜCHE, VERHALTEN, ZUSAMMENARBEIT 


Drei Frauen haben das zu diesem Thema Erfahrene diskutiert. (Zwei 
arbeiten im Kinderhaus, die dritte hat hier ein einjähriges Prakti- 
kum gemacht). Versucht werden soll, die geschlechtstypischen Unter- 
schiede der Arbeit von Männern und Frauen im Kinderhaus zu beschrei- 
ben. Dem Vorwurf, alles durch die feministische Brille zu sehen, 
wollen wir vorbeugen, indem wir bewußt als Frauen unsere Sichtweise 
und unsere speziellen Probleme beschreiben. 

Wir leben nicht als Pädagoginnen, sondern als Frauen im Kinderhaus 
und sind als solche von bestimmten Verhaltensmustern der Männer wie 
auch der Kinder betroffen. 


Ein Alternativprojekt ist für uns keine Alternative mehr, wenn wir 

im 24-Stunden-Engagement nur Verhaltensmuster und Klischeevorstellun- 
gen der Kinder reproduzieren. Mit anderen Worten, wir können und wol- 
len nicht in einem Projekt engagiert arbeiten und leben in dem Wissen, 
daß die Kinder, die wir hier betreuen, sich entgegen unseren Ansprü- 
chen und Interessen verhalten. (Die Jungen uns auf der Straße anma- 
chen, die Mädchen weibliche Klischees leben). Unsere Erfahrungen als 
Frauen, unsere Arbeit in der Frauengruppe können und wollen wir nicht 
von unserem Leben im Kinderhaus trennen. 


Sicher kann man hier problematisieren, daß wir den mütterlichen An- 
spruch der Dankbarkeit in den Anspruch: Entwicklung gemäß unserer 
Vorstellungen gewandelt haben. Wir finden diesen Anspruch jedoch le- 
gitim und richtig, denn Zusammenleben mit Kindern bedeutet für uns, 
die Pädagogenrolle zu verlassen und damit auch die Rolle derjenigen, 
die abstrakt von Mittelschicht- und Unterschichtwerten redet und 
Kinder nicht manipulieren will. Im Kinderhaus sind die Kinder für 
uns Lebenspartner, auf deren oft frauenfeindlich oder "faschistisch" 
gefärbten Sprüche wir emotional reagieren, weil sie uns betroffen 
machen. Aus dieser Betroffenheit und dem Interesse an den Kindern 
heraus versuchen wir,bewußt Einfluß zu nehmen, denn die Kinder le- 
ben mit uns in einer Gesellschaft, die wir nicht reproduzieren wol- 
len, sondern mit ihnen verändern müssen. 


1. ENTWICKLUNG/GESCHICHTE DES KINDERHAUSES 


Das Kinderhaus ist nicht, wie z.B. das bekannte Kinderhaus Hamburg, 

eine Kindertagesstätte, sondern eine Einrichtung im Rahmen der Heim- 
erziehung. Für das Landesjugendamt sind wir ein "Kleinstkinderheim". 
Unser Ziel ist es, über die gemeinsame Wohn- und Lebenssituation mit 
den Kindern die an der Heimerziehung kritisierten Symptome (mangeln- 
de Identifikationsmöglichkeiten, große unflexible Institution, Fluk- 
tuation der Erzieher, Schichtdienst, keine Beteiligung an der Haus- 


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wirtschaft, Unselbständigkeit, Isolierung von Freunden und Nachbar- 
schaft! "ufzuheben und hier eine Alternative zu versuchen. 


Die Geschichte des Kinderhauses begann vor ca. zweieinhalb Jahren. 
Wir (hier: mein Freund und ich), beide Sozialarbeiter, wollten das 
Jugendamt hinter uns lassen und wieder praktisch mit Kindern arbei- 
ten. In einem Verein, der Träger eines Kinderhauses ist, waren wir 
bereits länger organisiert. Wir haben weder lange nach einem Haus 
noch nach Mitarbeitern gesucht, noch viel über unsere Vorstellungen 
des Zusammenlebens mit Kindern diskutiert. Recht spontan haben wir 
ein von der Raumaufteilung wie auch von der Lage her günstiges Haus 
gekauft, und uns zu zweit mit ca. 200 000 DM Schulden auf dieses Pro- 
jekt eingelassen. Verhandlungen mit dem Landesjugendamt, Renovie- 
rung des Hauses, Weiterarbeit im Jugendamt, Diskussionen über unse- 
re Zielsetzungen liefen in den nächsten Monaten parallel und waren 
ein einziger Streß. Da wir glaubten, 4 Planstellen bewilligt zu be- 
kommen, wollten wir mit einem Sozialarbeiterehepaar (mit Kleinkind) 
im Kinderhaus arbeiten. Bewilligt wurde uns schließlich: 1 Sozialar- 
beiterstelle, 2 Erzieherstellen, eine 25-Stunden Wirtschaftskraft. 
Da die Hypotheken für unsere Schulden bezahlt werden mußten, waren 
wir gezwungen, das Haus möglichst schnell zu renovieren und unserem 
Trägerverein zu vermieten. Im Mai 76 bezogen wir unsere Wohnungen, 
wenig später kamen die ersten drei Kinder. Da wir die Gruppe nur all- 
mählich auf acht Kinder aufstocken wollten, konnten wir auch nicht 
alle gleichzeitig kündigen und von unserem Trägerverein eingestellt 
werden. So arbeitete ich bis zum Sommer, mein Freund bis zum Herbst 


im Jugendant. 


2. LAGE UND RÄUMLICHE AUSSTATTUNG 


Das Kinderhaus liegt in einer zentralen Wohn-/Industriesiedlung. 

Das Haus verfügt über 500 qm Wohnfläche, die sich auf 4 Etagen auf- 
teilen und 1/2-geschossig versetzt sind. Wir Betreuer bewohnen von 
den Räumen die oberen Etagen mit ca. 160 qm. Die übrige Wohnfläche 
unterteilt sich in 6 Schlafräume für die Kinder, 3 Bäder, Toiletten, 
Küche, Eßzimmer, Wohn-, Bastelraum, Waschküche, Werkkeller, Tisch- 
tennisraum, Büro. Das Stadtzentrum, Sport- und Freizeiteinrichtun- 
gen sind vom Haus aus in kurzer Zeit zu erreichen. Alle Kinder be- 
suchen öffentliche Schulen und haben die Möglichkeit, am Nachmittag 
Freunde zu besuchen oder ins Kinderhaus einzuladen. Für die Kinder 
der Nachbarschaft erfüllt das Kinderhaus teilweise die Funktion eines 
Jugendzentrums, da sie hier Spiel- und Bastelmöglichkeiten haben, 
die zu Hause von den Räumen her zumeist nicht gegeben sind. Äußer- 
lich unterscheidet sich unser Haus nicht von den Nachbarhäusern. 


3. DIE KINDERGRUPPE 


Die Kindergruppe setzt sich aus 6 Jungen und 2 Mädchen zusammen. 
Die Jungen sind alt: 14, 14, 13, 12, 12, 9, die Mädchen 11 und 12 
Jahre. Sowohl von der Anzahl als auch vom Alter her bestimmen die 
Jungen das gesamte Gruppenleben. Es dominieren lautstarke Auseinan- 
dersetzungen und besonders im ersten Jahr ein dauernder Kampf um 
die Führungsposition in der Gruppe. Dieser Kampf läuft vor allem 


B4- 


zwischen den ältesten Jungen der Gruppe ab. Der Jüngste der Gruppe 
und die Mädchen werden hier kaum einbezogen. Gerade die Fähigkeiten 
der Mädchen, sich selbst zu beschäftigen (Blockflöte spielen, lesen 
..) werden von den Jungen nicht anerkannt. Hinzu kommt noch, daß das 
aggressive Verhalten der Jungen, das oft auch gegen andere gerichte- 
te Handlungen mit einschließt, für die jüngeren und auch die stille- 
ren Kinder der Gruppe einen ungeheuren Lern- und Vorbildeffekt hat. 


Von einer Gruppe in dem Sinne, daß sich die Kinder füreinander ver- 
antwortlich fühlen, ein positives "wir-Gefühl" entwickelt haben, 
kann leider nur in wenigen Situationen (z.B. bei Bedrohung von 
außen...) gesprochen werden. Feste Rollen und Freundschaften gibt 

es in der Gruppe, mit Ausnahme der Beziehung zwischen den beiden Mäd- 
chen, nicht. 

Die Gruppensituation wechselt täglich, da sie entscheidend von eini- 
gen sehr aggressiven Jungen geprägt wird, die durch ihr Verhalten 
viele positive Prozesse und Aktivitäten behindern. Wir Erwachsenen 
mußten die Erfahrung machen, daß wir viele Werte und Normen und die 
damit verbundenen Prozesse, die in der Gruppe zwischen den Kindern 
laufen, kaum beeinflussen können, der "Gruppenboss" nicht von uns, 
sondern nur von den Kindern selbst "entthront" werden kann. 


4. WIR ERWACHSENEN 


Begonnen haben wir die Arbeit mit 4 Sozialarbeiter(n)innen ("Paar' 
und Ehepaar mit Kleinkind). Unsere Voraussetzungen für eine Kinder- 
hausarbeit waren denkbar ungünstig, denn wie sich in der Arbeit zeig- 
te, kannten wir einander viel zu wenig, als daß ein Zusammenleben 
und -arbeiten möglich gewesen wäre. Als Entschuldigung können wir 
anführen, daß in der Vorbereitungszeit der Streß für alle so groß 
war, daß keine Möglichkeit zu ausführlichen Diskussionen über unse- 
re Ansprüche und Perspektiven gegeben war. Wir glauben jedoch nicht, 
daß keine Möglichkeit zu ausführlichen Diskussionen über unsere An- 
sprüche und Perspektiven gegeben war. Wir glauben jedoch nicht, daß 
durch Diskussionen die unbefriedigende Lösung: wir haben uns nach 

1 1/2 Jahren getrennt, das Ehepaar mit Kind ist ausgezogen, hätte 
vermieden werden können. 


Von Anfang an war klar, daß die Pärchen auch als solche im Haus woh- 
nen und zumeist auch arbeiten würden. In der Endphase der dauernden 
schwelenden Konflikte war es dann so, daß in 2 Wohnungen je 2 Leute 
vielleicht das gleiche Fernsehprogramm ansahen. Eine unmögliche Sa- 
che, wenn man den Anspruch hat, in einer Alternative mit Kindern 
gemeinsam zu leben! Gerade dieser Anspruch des "Zusammenlebens" war 
unser Hauptkonflikt. Jede Wohngemeinschaft weiß um die Konflikte, 
die schon beim Zusammenwohnen entstehen. Wir wohnten aber nicht nur 
zusammen (wenn auch ohne WG-Anspruch), sondern mußten auch zusammen 
arbeiten. Da wir keinen Schichtdienst machten und jeder jeden bei 
der Arbeit beobachten konnte, ergab sich für uns eine totale Situa- 
tion. 


Konflikte entstanden vor allem dadurch, daß wir sehr genau den Wi- 
derspruch von propagiertem Anspruch, und dem, was der/die andere 
tatsächlich in die Praxis umsetzte, mitbekamen. Aussprachen und 


-85- 


Kritik wurden so immer umfassender und stellten dann bald die Per- 
son als ganze in Frage. Zu diesem Zeitpunkt strukturierten sich die 
Konflikte dann wieder paarweise, sicher deshalb, weil eine solche 
Kritik die Zweierbeziehung, in der man sich ja seit Jahren in den 
gerade kritisierten Rollen und Verhaltensweisen gegenseitig stabili- 
siert, in Frage stellt und damit Angst mobilisiert. 


Ursachen für die Trennung waren die unterschiedlichen Einstellungen der 
Erwachsenen zu den Kindern, unterschiedliche Lebensschwerpunkte, Kon- 
sumverhalten, Trennung von Arbeit und Freizeit, große Widersprüche 
zwischen nach außen propagiertem Anspruch, den Kindern gesetzten 
Regeln - und seinem eigenen "privaten" Verhalten, daß eben unserer 
Meinung nach nicht mehr privat war!! 

Eine gemeinsame Basis war so nicht vorhanden, und über Absprachen 

auf unseren "Team''-Besprechungen konnte auch keine gemeinsame Pra- 
xis erreicht werden. Mit dieser unserer Meinung werden die ausge- 
schiedenen Mitarbeiter vermutlich nicht übereinstimmen. Dazu ist 

noch zu bemerken, daß eine Diskussion über alles, was verkehrt gelau- 
fen ist, nicht mehr möglich war und der Auszug auch ein Abbruch un- 
serer Beziehungen ist. Eine Konfliktlösung, die keine ist, und weit 
hinter dem Anspruch, den wir alle hatten, zurückbleibt! 


Gelernt haben wir aus diesem Prozeß, daß für eine gemeinsame Zusam- 
menarbeit eine Übereinstimmung in vielen Bereichen notwendig ist, die 
über formale Absprachen hinausgeht. Mit neuen Leuten haben wir jetzt 
im Oktober einen neuen Anfang gemacht. Wir kannten uns noch weniger, 
haben jedoch den Willen, es zusammen zu probieren und auch als WG 
zusammenzuleben. Die Konflikte werden durch eine gemeinsame Wohnsi- 
tuation nicht weniger, müssen aber zwingend gelöst werden und das 
eben nicht zwischen den Paaren. Klar geworden ist uns auch, daß wir 
von einer Alternative nicht reden können, wenn wir den Kindern ihre 
"Familienidylle" in unseren Zweierbeziehungen vorleben, und damit 
ihre Klischees noch manifestieren. 


5. ORGANISATION DER ARBEIT 


Die zur Verfügung stehenden Gehälter teilten wir so auf, daß jedem 
Paar in etwa der gleiche Betrag ausgezahlt wurde. Eine Wirtschafts- 
kraft stellten wir nicht ein, da wir auf das Geld angewiesen waren, 
aber auch deshalb nicht, weil wir den Kindern nicht vermitteln woll- 
ten, daß es eine "Frau für das Gröbste" gibt. Vielmehr versuchten wir, 
die Kinder an allen anfallenden Arbeiten (putzen, kochen, waschen) 
zu beteiligen. Von Beginn der Arbeit im Kinderhaus an haben wir ver- 
sucht, alle anfallenden Arbeiten im Rotationsverfahren wechseln zu 
lassen, um eine Rollenfestschreibung auf bestimmte Arbeiten zu ver- 
meiden. Aufgaben wie: Kochen, Saubermachen wechseln wöchentlich. 
Kassenführung, Wäsche und Badezimmer reinigen monatlich. Für die 
Kinder ist das, was wir im Haus machen, nicht arbeiten. Besonders 
deutlich wurde das, als sie sich Sorgen machten, wer denn die Schul- 
den für das Haus zahlen sollte, wenn wir auch nicht mehr (im Jugend- 
amt) arbeiten würden. 


Mein Anspruch, daß alle Arbeiten von allen gemacht werden sollen und 
auch können, wenn man den Anspruch hat, dazuzulernen, wurde nicht 


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von allen geteilt. Als wir unsere Arbeit in einem noch nicht fertig 
renovierten Haus begannen, wurde kaum über solche Ansprüche disku- 
tiert, vielmehr übernahm jede/r die Sachen, die ihr/ihm schnell von 
der Hand gingen. 

Einfügen will ich hier noch, daß die unterschiedliche Verantwortlich- 
keit für die Arbeit im’ Kinderhaus und damit das Engagement recht bald 
einen großen Konflikt darstellten. Es stellte sich auch heraus, daß 
wir nicht zu viert, sondern nur zu dritt im Kinderhaus arbeiteten, 

da Anne oder Bruno sich jeweils mit ihrem Kind beschäftigen mußten, 
die Arbeitsbelastung für uns dadurch wuchs. Im ersten Halbjahr waren 
wir durchgehend 10 bis 12 Stunden für die Kinder da, und leisteten 
uns alle 2 Wochen ein freies Wochenende. 

Seit Oktober wohnen wir nicht nur zusammen, sondern engagieren uns 
auch gleich in der Arbeit, teilen unsere Gehälter durch vier und ar- 
beiten auch an den Wochenenden nicht immer als Paare zusammen. 


6. UNSERE ROLLEN UND KLISCHEES 


Als 2 Paare, die auch als solche in 2 Wohnungen einzogen, stabili- 
sierten wir für die Kinder das Paar- und Kleinfamilienklischee. Die 
Kinder redeten dann zumeist von Anne und Bruno sowie von Christa 
und Dieter. Die Praktikantin Elke war für sie, da ohne Freund, "un- 
vollständig". 

Jetzt, da wir zu viert ein Wohnzimmer Küche etc. haben und für die 
Kinder deutlich wird, daß jede/r mit jeder/jedem zusammenarbeitet 
oder auch in der Freizeit etwas gemeinsames unternimmt, reden sie 
zumeist von "den Erwachsenen im Kinderhaus". 


7. KLISCHEES DER KINDER 


Die Klischeewelt der Kinder ist geprägt von den Werten, die sie in 
Film und Fernsehen und im Elternhaus mitbekommen haben. 

Unsere Mädchen spielen so: Blockflöte, mit Barbiepuppen, Hochzeit, 
Modenschau, Verkleiden, spielen und basteln relativ ruhig. Sie ge- 
hen davon aus, daß sie heiraten und Kinder haben und fragen oft, 
warum ich nicht heirate. Da zur Gruppe nur zwei Mädchen gehören, 
stehen sie oft in Konkurrenz zueinander, um die Gunst der Jungen. 
Besonders ein Mädchen kann aus ihren Fähigkeiten keine Bestätigung 
ziehen und ist mit 11 Jahren bereits stark auf die Anerkennung der 
Jungen angewiesen. Obgleich die Mädchen im Vergleich zu den Jungen 
bedeutend kreativer sind, gelten ihre Fähigkeiten in der Gruppe we- 
nig, werden oft als "typischer Mädchenkram" abgetan. 

Bei den Jungen dominiert das Bild des "starken Mannes", der tolle 
Kisten fährt, zuschlägt, sich von Frauen umschwärmen läßt, angibt... 
Dieses Klischee beinhaltet den Zwang, sich durchzusetzen, dauernd 
um seine Position kämpfen zu müssen, sich nicht ruhig zurückziehen 
zu können, keine Zeit zu haben, um z.B. Bastelaktivitäten zu Ende 
zu führen. Fast alle Jungen der Gruppe sind im Pubertätsalter, die 
meisten hatten große Schwierigkeiten mit ihren Müttern, oft zusätz- 
lich verstärkt durch eine Scheidung der Eltern. 

Erschreckend war für uns die "Doppelmoral" der Kinder, die Jungen 
und Mädchen bei gleichem Verhalten völlig unterschiedlich beurteil- 
ten. So wurde ein Mädchen der Gruppe, das in einer Woche 2 "Freunde" 


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hatte, von den Jungen als Hure beschimpft, während die Jungen sich 
damit groß tun, viele Freundinnen zu haben, und hübsche Freundinnen 
schon hier ein Prestigeobjekt sind. 


8. UNSERE BEZIEHUNGEN ZU DEN MÄNNERN 


Da unsere Beziehungen zu den Männern sicher wesentlich die Kritik 

an ihnen beeinflußt, sollen sie hier kurz geschildert werden. 

Über Bruno, der jetzt nicht mehr im Kinderhaus arbeitet, können nur 
Elke (die Praktikantin) und ich etwas sagen. Bruno gegenüber hatten 
wir anfangs beide starke Unterlegenheitsgefühle. Die Sicherheit, mit 
der er vom Kinderhaus als Alternativprojekt redete, der Zeitspanne, 
die er hier arbeiten wollte, ängstigte uns. Wir fragten uns, ob wir 
diesen Anforderungen genügen würden, konnten uns die Arbeit, das 
tägliche konkrete Zusammensein mit den Kindern zu wenig vorstellen, 
um solche Aussagen treffen zu können. Auf politischen Veranstaltun- 
gen wirkte Bruno immer sehr sicher, vertrat politische Ansprüche, 
die wir vergeblich in sein Verhalten umgesetzt suchten. Wir glauben, 
daß wir gerade aus den anfänglichen Minderwertigkeitsgefühlen gegen- 
über Bruno sein tatsächliches Verhalten später umso enttäuschender 
und schlimmer empfanden und auch stark kritisierten. 


Da in die Kritik an meinem Freund Dieter auch wesentlich unsere Be- 
ziehungskonflikte hineinspielen, will ich diese kurz beschreiben. 
Wir kennen uns seit 4 Jahren, wohnen so lange zusammen und arbeiten 
auch zusammen. Im Jugendamt fühlte ich mich Dieter oft unterlegen, 
da ich die Verwaltungspraktiken nie so gut beherrschte, sie vielleicht 
auch nicht lernen wollte. Im Kinderhaus fühle ich mich wohler, stehe 
aber dennoch oft in einer Konkurrenzsituation, da Dieter oft ein be- 
deutend positiveres feed back von den Kindern bekommt. Für Außen- 
stehende bin ich im verbalen Bereich sicher dominant. Da ich immer 
bemüht bin, Konflikte zu bereden und das auch vor den Kindern, kam 
von denen schon der Satz: "Wenn Christa und Dieter sich streiten, 
hat immer Christa recht". 


9. VERHALTEN DER MÄNNER IM KINDERHAUS 


Dazu muß gesagt werden, daß diemännlichen Betreuer Bruno und Dieter 
im Kinderhaus sehr unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag le- 
gen/ legten. Unser Ziel ist es nicht, einen "Prototyp des Sozialmak- 
kers" zu finden, sondern konkrete Verhaltensweisen zu beschreiben 
mit ihren Auswirkungen auf uns und die Kinder. 

Kritisiert haben wir an Bruno seine ironisch gefärbten Sprüche, mit 
denen er sehr von oben herab auf Fragen der Kinder reagierte, seine 
Unfähigkeit, auf Kinder emotional einzugehen, sich in die Kinder 
reinzuversetzen, ein Imponiergehabe, mit dem er einerseits Kinder 
schnell abkanzelte und vor den anderen bloßstellte, auf der anderen 
Seite aber selbst versuchte, über bestimmtes Verhalten Anerkennung 
zu erhalten. 


Wir hatten oft das Gefühl, daß Bruno sich in den Prestigekampf der 


Kinder untereinander miteinbezog und vielleicht unbewußt die Rolle 
des "Chefs" anstrebte. So argumentierte er zumeist ähnlich aggres- 


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siv, wie die Kinder und spielte in langen Streitgesprächen über 
Fußball-Auf- und Abstieg eine führende Rolle. Versuchten wir bei 
Tisch auf einzelne Kinder ruhig einzugehen, den Berichten aus der 
Schule zuzuhören und nachzufragen, so provozierte Bruno oft, unter- 
brach die Kinder mit ironischen Bemerkungen. Die Kinder waren dieser 
Ironie ausgeliefert und reagierten zumeist mit Aggressionen, da sie 
sich zu Recht verarscht fühlten. Ergebnis solcher Situationen: der 
Lärm- und Aggressionspegel bei Tisch stieg, immer weniger Kinder 
wandten sich mit Problemen und Fragen an Bruno, was ihn nicht daran 
hinderte, seine Meinung vom Nebentisch herüberzurufen. 

Anne, die Frau von Bruno, die sicherlich mit den von Bruno an den 
Tag gelegten Verhaltensweisen nicht immer einverstanden war, bezog 
kaum Stellung oder sagte nichts zu diesem Verhalten. Anne selbst 
war selten in der Gruppe und in ihrem Verhalten den Kindern gegen- 
über sehr unsicher, da sie nur sporadisch und unkontinuierlich auf- 
tauchte und von den Kindern kaum akzeptiert wurde. 

Für die Kinder und uns reduzierte sich Anne auf Brunos Frau. Bruno 
selbst hatte bei den Kindern die "anerkannte" Stelle des starken 
Mannes, dessen Verbote und Regeln kaum hinterfragt werden. Er ver- 
suchte, aus Unsicherheit auf Verhaltengweisen der Kinder, oft mit 
Strafen zu reagieren (Hausarrest...) und diese dann konsequent gegen- 
über allen Kindern unabhängig von der Situation durchzuhalten. Ver- 
hielten wir uns anders, so kam nicht selten von den Kindern die Auf- 
forderung: "Bei Bruno müssen wir aber..." Erst nach etwa einem Jahr 
waren die Kinder in der Lage, sich auch gegen Bruno wehren zu kön- 
nen, 


War Brunos Verhalten offensichtlich und leicht zu kritisieren, da 
oft geradezu klischeehaft "männlich", so fällt eine Kritik an Dieter 
wesentlich schwerer, da er kaum offensiv auftritt, sehr ruhig und 
geduldig wirkt und im Gegensatz zu Bruno auch ein emotionales und 
zärtliches Verhältnis zu den Kindern hat. y 

Wir haben selten Situationen erlebt, in denen Dieter uns emotional 
betroffen oder genervt erschien. Dieter ist für die Kinder fast immer 
ansprechbar, auch wenn er "frei" hat oder z.B. gerade einen noch nicht 
gelösten Konflikt mit einem Kind. Konflikte, in denen die Kinder ih- 
re Aggressionen an uns abreagieren, kann Dieter zumeist geduldig 
über sich ergehen lassen. Wir kritisieren an ihm dieses "Nicht-be- 
troffen-sein" und sehen darin auch eine gewisse Gleichgültigkeit ge- 
genüber den Kindern, die auch in einem Satz von Dieter: "Jedes Kind 
entwickelt sich nun mal .... und wir sind halt auch dazu da, die Ag- 
gressionen der Kinder auszuhalten..." unserer Meinung nach zum Aus- 
druck kommt. 

Akzeptiert wird auch Dieter von den Kindern als richtiger Mann. Wo- 
bei wir als eine Ursache sehen, daß Dieter bedeutend schneller sel- 
ber Entscheidungen trifft, bei denen wir erst mit den anderen Be- 
treuern, aber auch mit den Kindern diskutiert hätten. Bei Wünschen 
wenden sich die Kinder sehr oft an Dieter, weil sie die Erfahrung 
gemacht haben, daß sie hier schnell etwas "abkummeln" können. Wäh- 
rend wir immer mit ihnen reden und versuchen, sie zu einer eigenen 
Entscheidung kommen zu lassen, reagiert Dieter oft mit "ja" oder 
"nein", was für die Kinder wie auch für Dieter bedeutend einfacher 
und bequemer ist. Wichtig ist für die Kinder nicht, wie oft Dieter 
sich wirklich hat "breitschlagen" lassen und den Wünschen der Kin- 
der ohne Erklärung nachgekommen ist, sondern das Gefühl der Kinder, 


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daß sie von ihm immer eine definitive Entscheidung bekommen. Wir kri- 
tisieren an Dieter hier ein "Vaterverhalten", das die Kinder nicht 
selbständig macht, vielmehr in Abhängigkeit hält. Unterstützt wird 
dieses Vaterbild noch dadurch, daß er gegenüber den Kindern nie 
eigene Bedürfnisse äußert, fast immer ansprechbar ist und auch 

einen Dienst um die Uhr gut verkraftet. 


Wir glauben, daß Dieters distanzierteres Verhältnis zu den Kindern, 
seine geringe persönliche Betroffenheit, gerade eine Voraussetzung 
für eine längere Arbeit im Kinderhaus ist, die wir unter diesen Um- 
ständen jedoch ablehnen. 

Im Freizeitbereich war er bisher derjenige, der mit den Kindern am 
meisten rumtobte, Fußball spielte, schwimmen ging, Fahrräder repa- 
rierte und über diese Aktionen recht viel Zuwendung bezog. Solche 
Aktivitäten haben für die Kinder zumeist ein anderes Prestige als 

die Sachen, die wir angeboten haben. Das heißt nun nicht, daß wir 
z.B. nicht mit den Kindern schwimmen gehen oder Dieter nicht bastelt, 
diese Klischeebilder haben die Kinder noch stark verinnerlicht. Oft 
ist es jedoch so, daß wir diese Klischees nähren. Dieter geht z.B. 
gern mit Kindern zum Schwimmen und läßt sich von den Großen hier 
stundenlang tauchen, oder bei Tobespielen boxen und schlagen, ohne 
eine Reaktion zu zeigen. Wir kommen bei solchen Spielen sehr schnell 
an unsere körperlichen Grenzen, lehnen es aber auch ab, Schlag- oder 
Boxobjekt der Kinder zu sein. Auffallend ist, daß sich die Kinder 
den männlichen Betreuern gegenüber oft körperlich aggressiv nähern 
und auch versuchen, Konflikte so auszutragen. Unserer Meinung nach 
handelt es sich hier um ein erlerntes Verhalten, die Kinder haben die 
Erfahrung gemacht, daß die Männer auf körperliche Auseinandersetzun- 
gen eingehen. 

Die Möglichkeit der Männer, ihre Körperkraft im Kinderhaus einzu- 
setzen, wird von uns stark kritisiert. Gerade bei kleinen Konflikten 
mit den Kindern setzen die Männer bewußt oder unbewußt ihre körperli- 
che Autorität ein. Da wird ein Kind zum waschen gezerrt, einem gros- 
sen Jungen der Arm umgedreht, ein Kind die Treppe hinaufgetragen... 
Diese Verhaltensweisen haben wir bei allen Männern , die im Kinder- 
haus arbeiteten (auch kurzfristigen Praktikanten) feststellen kön- 
nen. Wir - Frauen - können uns auf einen solchen Machtkampf nicht 
einlassen, lehnen eine Erziehung mit körperlicher Gewalt bewußt ab. 
Für die Kinder sind wir so die Frauen, die reden, erklären, diskutie- 
ren, bitten, zetern... aber wenig Möglichkeiten haben, sich durch- 
zusetzen, also schwach sind. 


Im folgenden wollen wir versuchen, unterschiedliches Verhalten und 
Empfinden von Männern und Frauen im Kinderhaus an einigen Situationen, 
die für uns große Konflikte darstellen, die wir aber für typisch hal- 
ten, zu beschreiben. 


Fußballkonflikt 





Ein großer Konflikt während unseres Urlaubs war in diesem Jahr der 
Fußballkonflikt. Dieter spielte in den ersten Tagen mehrere Stunden 
mit den großen Jungen Fußball. Ein Spiel, das nach unseren Beobach- 
tungen Aggressionen fördert, zum "Holzen" herausfordert. Wichtig 
für die Jungen war immer, wer gewinnt, klar war, daß die Seite, auf 
der Dieter spielte, die Siegerseite war, die andere Seite war der 


-90- 


"Schrott", und nach einem solchen Spiel war für den Rest des Tages 
die Gruppenhierarchie wieder neu bestimmt. Die Kinder waren kaum 
noch bereit, etwas anderes zu spielen oder sich allein zu beschäfti- 
gen. Wichtig war, wann Dieter wieder mit ihnen Fußball spielen würde. 


Dieter konnte unsere Kritik an dem Spiel nicht einsehen, hatte die 
meisten Reaktionen der Kinder nicht wahrgenommen, spielte selber 
gerne Fußball... Wir waren sauer, weil wir die Fußballaggressionen 
mit ausbaden mußten, Streitereien schlichten, beruhigen mußten, aber 
auch weil Vorschläge von uns für die Jungen vollkommen uninteressant 
waren. Wir fühlten uns "out", kein Kind bezog sich mehr auf uns. In 
solchen Situationen ist es schwer, eine richtige Kritik am Verhalten 
von Dieter auseinanderzuhalten von einem Unwohlsein, daß die Kinder 
einen selber im Moment nicht brauchen und den leicht damit verbunde- 
nen Eifersuchtsgefühlen. (Konkurrenz der Betreuer) 


Um einmal aus der dauernden Quatsch - und Zeterrolle herauszukommen, 
hatten wir besprochen, daß die Männer versuchen sollten, auf der 
Kinderbesprechung die politische Realität und die Ereignisse um die 
Fußball-Weltmeisterschaft etwas zu problematisieren. Da wir uns gar 
nicht für Fußball interessieren, wäre unsere Ablehnung der Fußball- 
WM für die Kinder nicht überzeugend gewesen und hätte einen Verbots- 
charakter gehabt. Überrascht waren wir natürlich, daß die Männer für 
sich selbst sehr wenig problematisierten und jede Möglichkeit, ein 
Spiel zu sehen, nutzten. Bruno reagierte dann beim Spiel seine Aggres- 
sionen ab, was für die Jungen wieder einen unheimlichen Vorbild- 
charakter hatte. Klar war auf jeden Fall, daß Fußball einige Wochen 
im Kinderhaus dominierte. Jedes Kind stand unter dem Zwang mitreden 
zu müssen, die Aggressionen stiegen wenn Deutschland verlor oder wir 
Frauen das ganze als Mist bezeichneten. Wir haben oft das Gefühl 
gegen einen Berg von Gewalt und Kraft und Macht anzureden, den Kin- 
dern andere Werte vermitteln zu wollen aber bei solchen Situationen 
einen Rückschlag zu erhalten. 





Der Autokonflikt 


Zwei Tage vor unserer Ferienfahrt fuhren wir Frauen mit unserem Bulli 
die Fahrräder in unser Ferienquartier. Unterwegs bleiben wir mit 
einem Kolbenfresser liegen. Eingeschüchtert blickten wir auf den 
qualmenden Motor und waren froh als der ADAC-Mann kam. Typisch war 
sicherlich auch, daß wir eine Entscheidung der Männer im Kinderhaus 
abwarteten, ob der Bulli im Ort repariert oder nach Hause zurückge- 
schleppt werden sollte. Nach diesem Streßtag hörten wir am nächsten 
Tag von den Kindern ganz typische Sprüche: "Klar, daß die Frauen 
den Wagen kaputt fahren müssen", "den Männern wäre sowas nicht pas- 
siert", "Bruno fährt immer so toll Rallye mit dem Bulli auf der 
Autobahn...". Wir waren sauer und betroffen, fühlten uns angegrif- 
fen und mußten uns auch noch selbst verteidigen, was unsere Stellung 
natürlich noch mehr schwächte. Dieter machte die Reaktion der Kin- 
der kaum betroffen, er äußerte nur, daß er Rallyfahren mit einem W 
Bus voller Kinder auf der Autobahn auch ganz schön bescheuert fände, 
engagierte sich sonst aber wie immer nicht in der Diskussion. Wie 
oft nun Bruno wirklich Rally gefahren ist, wissen wir nicht, ist 
auch nicht wichtig, da sich hier viele männliche Verhaltensweisen 
wieder zu dem Schema verdichten, daß Männer eben toll und schnell 


= 


und gewagt fahren, die Autopanne aber typisch für die Frauen ist. 
Oft ist unsere Kritik für die Jungen und die Männer in gleicher Wei- 
se unbequem. Sie verlangt von den Männern doch ihren politischen An- 
spruch auch in der Arbeit mit den Kindern einzubringen und nicht nur 
für Fußball, schnelle Autos usw. zu schwärmen, sondern diese Sachen 
auch einmal für sich zu problematisieren und daraus Konsequenzen zu 
ziehen. Den Jungen werden damit ihre beliebten großen Identifika- 
tionsmodelle genommen. 

RERE 

Konflikt Kinderbesprechung 


Viel Kraft gekostet hat uns der "Kinderbesprechungskonflikt". Norma- 
lerweise findet im Kinderhaus wöchentlich eine Kinderbesprechung 
statt, an der alle Erwachsenen und Kinder teilnehmen, Konflikte und 
Probleme angesprochen werden sollen, Unternehmungen geplant werden. 


Wir hatten abgesprochen, den Kindern im Urlaub vom Auszug von Anne 
und Bruno zu erzählen. Während des Frühstücks wollten wir dieses 
Problem während einer Kinderbesprechung ansprechen. Elke, die ihr 
Praktikum bald beendet hatte, wollte sich nicht mehr so stark enga- 
gieren. Dieter gegenüber hegte ich keine großen Erwartungen, daß er 
diesen Punkt ansprechen würde. 
Ich saß also beim Frühstück, hatte Mühe, meine Tasse ruhig zu halten 
und wartete einen ruhigen Moment ab. Versuchte - Ziemlich unsicher 
und ängstlich ob der Reaktion der Kinder - zu erklären, warum wir uns 
trennen, Anne und Bruno ausziehen würden. Die Reaktion der Kinder 
war ganz anders als erwartet. Der Auszug war viel zu wenig konkret, 
als daß sie betroffen hätten sein können. Die Frage der Kinder war: 
Wer wird jetzt Heimleiter? Bruno war bisher offiziell der Heimleiter 
gewesen, hatte aber eigentlich nie solche Funktionen wahrgenommen, 
und wir konnten uns auch nicht erinnern, mit den Kindern einmal über 
die "Heimleitung" gesprochen zu haben. 
Ich versuchte, den Kindern zu erklären, daß doch egal sei, wer Heim- 
leiter ist, da bei uns im Kinderhaus doch alle Erwachsenen das glei- 
che tun. Diese Antwort befriedigte sie jedoch nicht. Da die großen 
Jungen zu dieser Zeit sich über den Fußball nur noch auf Dieter 
bezogen, hatten wir plötzlich einen Sprechchor am Frühstückstisch, 
der Dieter als Heimleiter wählen wollte. 
Elke merkte meine Unsicherheit und versuchte, klar zu machen, wie 
unnötig ein Heimleiter sei und daß alles nur ein formaler Akt sei, 
der vom Landesjugendamt so verlangt würde. 
Ich erzählte dann, daß Bruno Heimleiter gewesen sei, weil er die 
längste Erfahrung im Heimbereich gehabt habe. Die Kinder waren über- 
zeugt, daß nun Dieter am erfahrensten sei. Dieter hatte sich bisher 
nicht eingeschaltet. Ich versuchte zu erklären, daß ich länger mit 
Kindern zusammengearbeitet hätte als Dieter, was Sprüche der Jungen 
hervorrief wie: "das stimmt nicht"... "Frauen sind immer doofer"... 
Dieter ist viel besser"... Ich war unheimlich betroffen, weil ich 
fühlte, daß die Jungen mich direkt haßten, weil ich ihnen ihr star- 
kes Männerbild kaputtmachte und es zu behaupten wagte, daß ich mehr 
Erfahrung hätte. Betroffen war ich auch, weil Dieter die ganze Zeit 
kaum etwas sagte, auf unsere Frage antwortete, es sei unsinnig, sich 
mit Kindern auf eine solche Diskussion einzulassen. Beendet wurde 
das Gespräch dadurch, daß ich sagte, ich wollte gar nicht Heimlei- 
ter werden und die Kinder sich erleichtert Dieter zuwandten. Dieter 


agis 


hatte in der Diskussion einmal bestätigt, daß er nicht so viel Erfah- 
rung habe wie ich, dieser Einwand war aber von den Kindern nicht wahr- 
genommen worden. 


Am Nachmittag dieses Tages machten wir eine Schnitzeljagd. Ich ging 
mit den kleineren und schwächeren Kindern vor. Wir strengten uns an, 
ein gutes Versteck zu finden. Die älteren kamen mit Dieter und Elke 
nach. Wir hörten sie im Wald rumbrüllen, sie brauchten aber fast noch 
eine Stunde und hätten uns fast in der vereinbarten Zeit nicht ge- 
funden. Elke entdeckte uns schließlich. 

Die Reaktion der Jungen, die diese lange Suche als ihre und Dieters 
Niederlage empfanden, zeigte mir, in welcher Zwickmühle ich als Frau 
steckte. Sie verschworen sich sofort untereinander, versuchten, alle 
Körperkontakt zu Dieter zu bekommen und planten für den nächsten Tag 
ein Gegenspiel, bei dem wir sie gewiß nicht finden würden. Der Erfolg 
"unserer Partei", bei der ja nur eine Frau dabeigewesen war, kränk- 
te sie, ein Erfolg von Dieters Partei hätte ihm und den anderen Kin- 
dern Anerkennung eingebracht. 

Zugespitzt formuliert heißt das, daß wir den Kindern mit unserem Ver- 
such, uns nicht als typische Frauen zu verhalten, ihre Klischees neh- 
men und damit, da wir das starke Mann-Bild der Jungen in Frage stellen, 
auch wahre Haßreaktionen herausfordern, die uns persönlich sehr be- 
treffen, weil wir halt auch auf eine psotive Rückmeldung von seiten 
der Kinder angewiesen sind. 

Dieter reagierte in all diesen Situationen kaum auf die gegen uns 

als Frauen gerichteten Äußerungen, was wir als sehr schlimm empfan- 
den. Seine geringe Bereitschaft, hier Stellung zu beziehen, mußte 
unserer Meinung nach die Kinder in ihrem Verhalten, daß die Frauen 
zwar reden, die Männer aber stärker und besser sind, noch bestärken. 
Kritisiert haben wir in solchen Situationen auch die Einstellung, 

daß man mit Kindern halt solche Sachen nicht diskutieren kann und 
sich von ihrer Meinung und Reaktion auch nicht so betroffen machen 
lassen darf. 


lo. UNSERE ANSPRÜCHE, GEFÜHLE, BEDÜRFNISSE ALS FRAUEN 


Zu Beginn der Kinderhausarbeit hatte ich nur wenig Ansprüche und Be- 
dürfnisse formulieren können, die für mich in einem Zusammenleben mit 
Erwachsenen und Kindern wichtig sind. Was wir wollen ist uns viel- 
fach klar geworden an dem Unwohlsein über das, was die Männer mach- 
ten. 

Wir können und wollen unsere politischen und feministischen Ansprüche 
nicht von der Arbeit im Kinderhaus trennen. Die Kinder wissen, daß 
wir uns in Frauengruppen engagieren und haben durch uns hoffentlich 
einen Bezug dazu. Wichtig finden wir, im täglichen Kleinkram nicht 

zu vergessen, daß wir die Kinder zur Selbständigkeit und Kritik er- 
ziehen wollen, und von daher lieber Diskussionen anregen als bequeme 
Entscheidungen zu treffen. In Entscheidungen sollten nach Möglich- 
keit alle Erwachsenen und auch Kinder einbezogen werden, zumindest 
sollte immer versucht werden, Entscheidungen für die Kinder durch- 
sichtig zu machen. 


Durch das Zusammenleben mit den Kindern sind die Kinder für mich 
nicht einfach Objekte, sondern Partner, deren Reaktionen mich oft 


-9 3- 


sehr kränken können. Wir Frauen finden es richtig, auch zu zeigen, 
wenn wir sauer sind oder uns von einem Kind beleidigt fühlen, und 
nicht alle Betroffenheit zu überspielen. Eine Forderung von uns ist, 
daß typische Rollenklischee: Männer reparieren das Auto, sind im 
Werkkeller...Frauen sitzen an der Nähmaschine, backen Kuchen, abzu- 
bauen, auch wenn man sich dabei oft selber mal einen Tritt geben 
muß. Da von den Männern diese Forderung oft als übertrieben ("man 
kann nicht in einem Jahr alles ändern") abgetan wird, führen wir 
hier einen Kampf an drei Fronten: 

-Wir müssen unsere eigene Trägheit überwinden und uns auf ein Ge- 
biet begeben, was neu ist und uns zunächst wenig Erfolgserlebnisse 
verspricht. 

-Wir müssen mit Hilfe der Männer Fähigkeiten erwerben, die uns fremd 
sind. 

-Es gilt zu erreichen, daß uns die Kinder auf diesem"'neuen" Gebiet 
akzeptieren und z.B. unsere Hilfe beim Fahrradreparieren nicht zu- 
rückweisen. 

-Wir können eben nicht nur über Rollenstrukturen jammern und schim- 
pfen, sondern müssen auch wissen, wo das Reserverad, der Wagenhe- 
ber sitzen, wie die Bohrmaschine im Bohrständer befestigt werden muß 
usw. 

Wichtig erscheint es mir, daß wir uns hier selber mal mehr zutrauen 
und mutiger sind, uns vom ersten Mißerfolg nicht gleich abschrecken 
lassen. Vielleicht ist es auch notwendig, daß wir aus dem Wissen 
heraus, daß wir z.B. Regale bauen, Lampen anschließen können, ähn- 
lich wie die Männer Bestätigung und Selbstvertrauen zu ziehen lernen. 


An vielen Reaktionen unserer 11/12 jährigen Mädchen wird mir klar, 
warum ich noch jetzt mit meiner Unsicherheit und Ängstlichkeit mit 
dem mir nicht zutrauen soviel zu kämpfen habe. Überschätzen sich 

die Jungen eigentlich in allen Situationen, "die Strecke schaff ich 
in 2 Stunden, die putzen wir aber..., aus dem Rad bau ich eine tol- 
le Maschine...", so trauen sich die Mädchen an viele Sachen gar 

nicht heran, auch wenn es deutlich ist, daß sie wie z.B. beim Rudern 
bedeutend besser sind als die Jungen. Ähnlichwie die Mädchen, die 
sich auf Grund der Sprüche der Jungen und ihrer bisherigen Sozialisa- 
tion nicht trauen, reagieren auch wir. Die Selbstverständlichkeit, 
mit der die Männer davon ausgehen, daß man ... selbst reparieren kann, 
entmutigt uns zumeist noch mehr. Wir missen also nicht nur die Mäd- 
chen ermutigen und stärken, sondern auch uns selbst. An mir selber 
kritisiere ich hier auch, daß ich als wir unter uns diskutiert haben, 
daß ich die "Heimleiterstelle" besetzten soll, mich mit Händen und 
Füßen dagegen gesträubt habe. Meine Argumente dabei waren: ich kann 
und will das nicht, Dieter hat sich da schon besser eingearbeitet, 
ich will keine "Aushängefrau" sein. Argumente, die keine sind, die 
mich aber davor bewahrten, mich mit der geschmähten Verwaltung näher 
auseinanderzusetzen und die Rückzugsmöglichkeit, "Unsicherheit! auf- 
zugeben. 


Schwierig ist es für uns zu unterscheiden zwischen Rollen, die es 
sich lohnt aufzubrechen und Sachen, die zu einem "Krampf" werden 
würden. So konnte ich mich bisher nicht aufraffen, auf dem Fußball- 
feld mitzumachen und möchte das jetzt auch nicht mehr lernen, da 
ich das Spiel nicht mag und die Sache für mich wirklich "krampfig" 
geworden wäre. Daß ich meine Kenntnisse beim Fahrradreparieren auch 


-94- 


noch nicht vorangetrieben habe, muß ich gestehen. Es stimmt schon, 
man stabilisiert sich in seinen Rollen gegenseitig! 

Der Anspruch, typische Rollen aufzuheben, beinhaltet aber nicht nur 
die Tätigkeiten im Haushalt und Freizeitbereich zu wechseln, sondern 
auch im Verhalten gegenüber den Kindern ähnlich zu reagieren. Es 
geht nicht an, daß wir betroffen reagieren, die Männer sich mehr ge- 
fallen lassen, wir uns bei frauenfeindlichen Sprüchen der Kinder auch 
noch immer selbst verteidigen müssen. Aus diesen Erfahrungen her- 
aus unsere Forderung an die Männer: sensibler zu werden, sich nicht 
als Pädagogen zu verhalten, sondern den Kindern auch zu zeigen, 

daß sie traurig...sind.... Unsere Forderung, auch mal traurig zu 
sein!!!! 

Mit einem Spruch: weniger Mann - mehr Mensch!!!! 

Ein wichtiger Anspruch ist für uns die Forderung, die Kinder ohne 
Gewalt zu erziehen, und auch nicht über das Gefühl , daß sie halt 
wissen, wir sitzen am längeren Hebel, zu irgendetwas zu zwingen. 
Diese Forderung beinhaltet: weniger Entschlüsse und schnelle Ent- 
scheidungen, kein Einsatz körperlicher Stärke, mehr reden, argumen- 
tieren (oft ermüdend und unbequemer) und auf Einsicht warten!! 


Dazu gehört auch, den Kindern unsere Einstellungen und Anschauungen 
nicht zu erzählen, sondern vorzuleben. Also zu versuchen, in einer 
Wohngemeinschaft zu wohnen, zu erklären, warum man bestimmte Sachen 
kauft oder nicht kauft, Konflikte zwischen einzelnen Erwachsenen 
nicht krampfhaft vor den Kindern zu verheimlichen. 


11. WAS HABEN WIR FRAUEN GEMACHT 


Bedingt durch unsere Sozialisation, durch unsere Fähigkeiten und In- 
teressen, haben wir Frauen im Kinderhaus vor allem die Bereiche: 
Basteln, Handarbeiten, (teilweise Küche) abgedeckt. Die Kinder se- 
hen, daß wir uns auf diesen Gebieten betätigen und fragen dann auch 
uns, wenn sie etwas zu nähen haben oder Klebstoff suchen. (Nach einem 
Schraubenzieher bin ich noch nie gefragt worden). An Aktivitäten, die 
wir mit den Kindern gemeinsam gemacht haben, sind zu nennen: malen, 
töpfern, batiken, emaillieren, Kerzen gießen, Mobiles basteln, ...- 
Für die Kinder strukturiert sich recht bald: Frauen/Bastelraum, Män- 
ner/Werkraum. Nach Absprache haben über einen Zeitraum von einigen 
Wochen nur die Frauen Angebote im Werkkeller gemacht. Die Vorstellun- 
gen sind durch solche Aktionen jedoch nicht revidierbar, da im All- 
tag wir Frauen halt mit dem Strickzeug rumlaufen, in der Küche Brot 
backen, versuchen, die Kinder zum Beerensuchen und Marmeladekochen 

zu motivieren, auf Spaziergängen Blumen pflücken und trocknen...- 

Wir haben die Erfahrung gemacht, daß die Kinder sich viele unserer 
Freizeitaktivitäten abgucken und über einen gewissen Zeitraum auch 
interessiert sind mitzumachen. Als wir 2 Frauen z.B. einen Webkurs 
bei der VHS machten, wurden die Kinder von unserern Aktivitäten mo- 
tiviert, es auch einmal zu versuchen. Über einen Zeitraum von einigen 
Wochen hat dann jedes Kind auf einem Webrahmen ein mehr oder weni- 
ger gelungenes Stück selbst produziert. 


Um meinen Anspruch durchzusetzen, geschlechtstypische Verhaltensmu- 
ster im Kinderhaus abzubauen, stand ich oft unter dem Zwang, mich 
frauenuntypisch zu verhalten und damit von Anne abzusetzen, die in 
unseren Augen und denen der Kinder sehr stark die weiblichen Ver- 


-95- 


haltensmuster lebte. Grundsätzlich beziehen sich meine Aktivitäten 
aber nur auf Sachen, die mir Spaß machen, hinter denen ich stehe und 
in die ich die Kinder dann auch einbeziehen kann. Viele Außenaktivi- 
täten werden von mir angeregt: Besuche bei Freunden, Wanderungen, 
Besuche von Jugendzentren, Beteiligung am Flohmarkt, Bootsfahrten, 
Museumsbesuche.... 


Allgemein ist es so, daß wir Frauen im Kinderhaus sehr viel mit den 
Kindern reden, ihnen etwas erklären, ihnen zuhören, auf sie einge- 
hen, versuchen sie von etwas zu überzeugen... Ironisch verhalten wir 
uns gegenüber den Kindern eigentlich nie. Ich glaube, daß wir Frauen 
zu den Kindern einen direkteren Kontakt und auch einen qualitativ 
anderen haben als die Männer. Als Beispiel dafür kann ich nur nen- 
nen: daß es mir immer ein Bedürfnis ist, eine Karte oder einen Brief 
aus dem Urlaub an die Kinder zu schreiben, umgekehrt kann ich mich 
aber auch sehr gut in die Situation der Kinder versetzen, die auf 
einem Schullandheimaufenthalt sind und sich über eine Karte freuen 
würden. Nach meinen Beobachtungen kommen Männer nicht auf eine sol- 
che Idee. 

Wir glauben, daß wir auf den oben umrissenen Gebieten sensibler rea- 
gieren als die Männer und in diese "Gefühlsarbeit", die sich aus den 
Kleinigkeiten: An Kleinigkeiten denken, Kinder noch einmal auf einen 
Konflikt ansprechen, etwas schenken,über das man sich auch freuen 
würde, Briefe an Kinder schreiben... zusammensetzt sehr viel Energie 
und Gefühle investieren. 


Problematisch ist für uns, wie wenig das, was wir machen, oft von 
den Kindern anerkannt wird. Die Männer haben zumeist ein bedeutend 
positiveres Feed back, dies dann zumeist auch noch durch Sachen,die 
wir ziemlich stark kritisieren (Fußball, Einsatz von Körperkraft). 
Schwierig auch das Gefühl, daß wir uns sehr viel mehr Gedanken über 
die Kinder machen, meist stärker betroffen sind, abends noch lange 
über das, was am Tag gewesen ist, reden müssen, das einzelne Kind 
für uns wichtiger ist. 

Sicherlich sind diese Gefühle typisch weiblich, wir können sie an 
uns selber nicht kritisieren, da wir meinen, daß man Zusammenleben 
mit Kindern schon mit einem Anspruch und emotionalem Engagement rea- 
lisieren sollte. 

Es bleibt jedoch unser Bedürfnis nach Anerkennung der Sachen, die 
wir machen, eine positive Rückmeldung, die über das Gefühl hinaus- 
geht, daß das, was wir machen,ein wichtiger "emotionaler Hintergrund" 
für das Kinderhaus ist (die "Mutter", die im Verborgenen wirkt). 
Emotionaler Hintergrund für das Kinderhaus insofern, als wir unsere 
"Gefühlsarbeit" nicht nur in der Beziehung zu den Kindern leisten, 
sondern auch in unseren Zweierbeziehungen und jetzt auch in unserer 
Wohngemeinschaft. Überwiegend sind es in den meisten Fällen wir 
Frauen, die Konflikte hier verbalisieren und den Anspruch haben, sie 
zu diskutieren. 


12. UNSERE BEZIEHUNG ZU DEN JUNGEN IM KINDERHAUS 


Gerade bei den großen Jungen stehen wir oft unter dem Zwang, bedeu- 
tend konsequenter sein zu müssen als die Männer, um anerkannt zu 
werden. Bis wir einen Jungen von der Notwendigkeit des Duschens über- 


sg: 


zugt haben, vergeht oft 1 Stunde. Einige machen daraus dann ein 
Spielchen und genießen die Extrazuwendung, die sie dadurch erhalten. 
Auch bei Spielen und sportlichen Aktivitäten stehen wir oft unter 
einem Leistungsdruck, z.B. spiele auch ich Tischtennis viel bewußter 
auf Sieg, weil eine Niederlage von mir für die Jungen ein weiterer 
Beweis ist, daß die Frauen eben nichts können, während Dieter so 
etwas zugestanden wird. Bedrückend war für uns auch die Erfahrung, 
daß die älteren Jungen, die sonst oft einen emotionalen Körperkontakt 
zu uns suchen, auf einen kleinen Anstubser oder die etwas energische 
Forderung, sich jetzt endlich auf den Schulweg zu machen, unerwartet 
aggressiv reagierten. Von einem Mann einmal hart angefaßt zu werden, 
akzeptieren sie, nicht jedoch von einer Frau, dies würde für sie eine 
Demütigung bedeuten. 


Die Jungen würden uns sicherlich viel mehr akzeptieren, wenn wir uns 
entsprechend ihrer Vorstellungen von Frauen verhalten würden. Ihr 
Idealbild ist das der jungen, hübschen, schlanken Frau. So sagt ein 
Junge zu mir: "Jetzt bist du ja noch jung und schön, aber in einigen 
Jahren bist du auch eine alte Oma". Da er mein Aussehen zur Zeit noch 
als respektabel ansieht, geht er stolz mit mir auf Schulveranstal- 
tungen, oder Hand in Hand durch die Stadt. Für die Jungen sind wir 
besonders dafür da, ihre emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen: 
Schmusen, gute-Nacht-Kuss. Unsere Position wird hier zunehmend schwie- 
riger, da wir das Gefühl haben, teils Mutterersatz, teils aber auch 
Freundinnenersatz oder einfach Sexualobjekt zu sein. Elke, die ohne 
Freund für sie offener wirkt, mußte sich schon gegen Klapse auf den 
Hintern wehren. Daß auch die Männer, z.B. Dieter, zärtlich mit ihnen 
umgehen, akzeptieren die Jungen, haben dann aber eine plausible Er- 
klärung dafür: "Dieter hat mich gestern ganz schön gestreichelt, 

das hat er sicher von dir gelernt". Fragen, die die Sexualität be- 
treffen, stellen die Jungen an uns genauso häufig wie an die Männer. 


13. UNSERE BEZIEHUNG ZU DEN MÄDCHEN IM KINDERHAUS 


Wie bereits beschrieben unterscheiden sich die Klischeevorstellungen 
der Mädchen in Bezug auf ihr Frauenbild und ihre Zukunftsträume 
nicht wesentlich von denen der Jungen. Die Mädchen beobachten uns 
stark und haben anfangs oft unser Aussehen, unsere Kleidung als zu 
lässig kritisiert (geflickte Jeans, keine schicken Stiefel). Nach 
einem Saunabesuch, an dem auch ältere Frauen teilnahmen, haben sich 
die beiden Mädchen lange über deren Körper lustig gemacht (Hängebusen, 
Wabbelbauch...). Schlimm empfinden wir es, daß die Mädchen Schimpf- 
wörter der Jungen für ihre Geschlechtsorgane übernehmen, oder sich 
bei den Jungen gegenseitig austricksen. Wir glauben, daß wir auf 
dieses Verhalten der Mädchen sehr viel betroffener reagieren als die 
Männer. 


Anders als für die Jungen sind wir für die Mädchen in letzter Zeit 
mehr Bezugspersonen und Identifikationsfiguren geworden. So kaufen 

die Mädchen oft die gleichen Schuhe wie wir, leihen sich Kleidungs- 
stücke von uns aus, reden von "wir Frauen", singen Texte von unse- 

rer Frauenplatte, wobei die letzteren Verhaltensweisen vermutlich mehr 
eine Anpassung an unsere Erwartungen sind, mit denen sie hoffen, un- 
sere Zuwendung zu bekommen. Relativ offen sprechen uns die Mädchen 
auf Sexualität an. 


-97- 


er sind, daß die Mädchen uns als Frauen und nicht 
Freundin akzeptieren, kommen Fragen wie: Ob wir 
sind, warum wir nicht heiraten.... 


Obgleich wir sich 
als die Frau oder 
stolz auf unseren »+- 


Nach der Beobachtung von Klassenkameradinnen unserer Mädchen bei 
einem Kindergeburtstag, und deren Verhalten gegenüber unseren Jungen, 
haben wir überlegt, in nächster Zeit eine Mädchengruppe für unsere 
Mädchen, deren Freundinnen und Mädchen aus der Nachbarschaft zu bil- 
den. Wir hoffen, daß hier das Gefühl "wir Frauen/wir Mädchen" eine 


echte Basis bekommen könnte. 


14. BEZIEHUNGEN VON UNS FRAUEN UNTEREINANDER 


Mit Elke und Erika hatte ich nach recht kurzer Zeit eine gute Be- 
ziehung. Gute Beziehung insofern, als ich das Gefühl habe, meine 
Probleme ansprechen zu können, verstanden zu werden, aber auch, was 
ganz wichtig ist, kritisiert zu werden. Die Beziehungen zwischen 

uns Frauen laufen über die gemeinsame Arbeit mit den Kindern, wo wir 
feststellen können, daß wir in vielen Fällen ähnlich reagieren und 
oft die Erfahrung machen, daß wenn wir das Problem nicht ansprechen, 
es von der anderen Frau angesprochen wird. Diese Erfahrung hat uns 
eine Sicherheit gegeben,die uns oft ermöglicht hat, auch heikle Sa- 
chen bei unseren Teambesprechungen vorzubringen. Die Erfahrungen der 
Übereinstimmung im Verhalten gegenüber den Kindern hat mich sehr 
überrascht, kannte ich doch in beiden Fällen die Frauen vorher nicht, 
bin aber schon 4 Jahre mit Dieter zusammen, ohne daß sich bei uns 
solche gleichen Reaktionen, die nicht auf Absprachen beruhen, ein- 
Stellen. Außer über die Kinder und unsere eigenen Gefühle nach einem 
Tag im Kinderhaus, haben wir auch sehr schnell recht intensive, lan- 
ge Gespräche über uns geführt. Dabei liefen die Gespräche immer zwi- 
schen zwei oder drei Frauen und wurden von dazukommenden Männern 

oft unterbrochen, bzw. wir haben selbst abgebrochen, das Thema ge- 
wechselt und sind auf eine leicht ironische Spruch- und Plauderebene 


umgestiegen. 


15. PROBLEMATIK DER KINDERHAUSARBEIT 


Hiermit meinen wir zunächst die Probleme, die wir als Erwachsene im 
Kinderhaus haben, die wir zumeist geschlechtsspezifisch sehr unter- 
schiedlich empfinden und zu lösen versuchen. 

Zunächst einmal muß gesagt werden, daß die "Arbeit im Kinderhaus", 
also das Zusammenleben mit Kindern, zumeist von den Alltagserfor- 
dernissen strukturiert wird. Mit Kindern "Wäschedienst'" machen, Ko- 
chen, zeigen, wie Klos geputzt werden, Kleidung einkaufen, Wäsche 
ausbessern, Hosen flicken, Schulaufgaben machen, Zimmer aufräumen, 
zum x-ten Mal ansprechen, wieso wieder alle Schuhe auf dem Flur rum- 
fliegen und nicht im Regal stehen, Haare waschen, Taschengeld aus- 
zahlen, Spiele aufräumen, Fingernägel schneiden.........Hinzu komt 
noch eine Menge Verwaltungsarbeit, Kassenführung und Abrechnung. 
(wir müssen jede Ausgabe belegen), Krankenscheine anfordern, Berichte 
über die Kinder, Anträge...Situationen, in denen man wirklich mal 
das Gefühl hat "pädagogisch" gearbeitet zu haben, sind selten. Man 
kann halt nicht jeden Tag einen VW Bus anmalen oder alle Kinder zum 


-98- 


Keksebacken motivieren. 

Uns ist zwar allen klar, daß Zusammenleben mit Kindern mehr heißt 
als ein paar nette Freizeitbeschäftigungen anzubieten, und daß un- 
ser Ziel, die Kinder an allen anfallenden Arbeiten zu beteiligen, 
wichtig ist und für die Kinder auch mehr bringt - schwierig ist es 
nur, aus den oben skizzierten, immer wiederkehrenden Tätigkeiten, 
eine Befriedigung zu ziehen. Abends ist man oft völlig ausgelaugt 
und hat das Gefühl, doch den ganzen Tag nichts vernünftiges gemacht 
zu machen, nichts, was morgen noch da ist, nichts, was man sofort 
imVerhalten der Kinder als positive Veränderung merken könnte, 

Habe ich mich selber gegen eigene Kinder entschieden und gegen die 
gefürchteten Hausarbeiten und die damit verbundene Isolation, so 
komme ich mir jetzt manchmal schon als die Super-Mutter und -Haus- 
frau vor, die den ganzen täglichen Klüngel eben nicht für 2 Kinder, 
sondern für 8 Kinder macht. Sicher teilen sich die Arbeiten bei uns 
4 Leute , es fällt aber bei unserem Haushalt auch einfach bedeutend 
mehr an. Der größte Teil des Tages wird wirklich von Hausarbeiten: 
Putzen, Wäsche, Einkaufen, Kochen bestimmt. 


Die Schwierigkeit ist,daß diese Arbeit sicher notwendig und auch 
richtig ist, wir aber selten Sachen planen können und noch seltener 
positive Ergebnisse sehen können, also kurzfristig wenig Erfolgs- 
erlebnisse haben, es sei denn, wir lernen es, aus den Notwendigkeiten 
auch eine Befriedigung für uns zu ziehen. 


Einer Isolierung zu entgehen ist für alle im Kinderhaus lebenden Er- 
wachsenen schwer. Wir haben zwar intensiven Kontakt zueinander, sit- 
zen täglich ca. 2-3 Stunden zusammen, um über die Kinder und am Tag 
Vorgefallenes zu reden (zumeist abends von 10 Uhr bis...), finden so 
aber kaum noch Zeit, uns in Gruppen zu engagieren, Kontakte zu 
Freunden aufrecht zu erhalten oder aufzubauen. Gerade weil man im 
Kinderhaus immer mit Kindern oder Erwachsenen konfrontiert ist, per- 
manent auf jemand reagieren muß, ist auch oft nicht das Bedürfnis 
nach Gesprächen in der Freizeit groß, sondern das Bedürfnis, unge- 
stört in Ruhe etwas für sich zu tun. Genau dieses Bedürfnis, in der 
Gewißtheit in den nächsten 2 Stunden in meinem Zimmer nicht gestört 
zu werden, zu lesen, kann ich im Kinderhaus nicht befriedigen, da 
die Bedürfnisse der Kinder einfach andere sind. Aus unseren bisheri- 
gen Erfahrungen können wir alle sagen, daß wir in dem Zusammenleben 
mit den Kindern sicherlich viele unserer Bedürfnisse befriedigen, 
die Kinder bei vielen unserer "Hobbys" mitmachen, Arbeit und Frei- 
zeit sich kaum trennen lassen, ein Restbedürfnis nach "Ruhe", mal 
wieder Fachliteratur lesen, Zeit haben, Leute zu besuchen... aber 
bleibt. Unser Ziel ist es, den Kindern auch klar zu machen, daß wir 
Bedürfnisse haben, die mit ihren nicht immer übereinstimmen. Zur 
Zeit ist es aber noch so, daß, wenn wir an einem "freien" Tag wirk- 
lich allein sein möchten, uns nur die "Flucht" aus dem Kinderhaus 
bleibt. Die "Flucht" geht dann natürlich durch das Treppenhaus, vor- 
bei an Kindern, die fragen: Wo gehst du hin, kann ich mitkommen, 
wann kommst du wieder, bringst du mir was mit??? Das schlechte Ge- 
wissen, aber auch der Anspruch, an meinem freien Tag möglichst alles 
das zu schaffen, was ich sonst nicht "in den Griff kriege", ver- 
folgt mich . 

Nach unseren bisherigen Beobachtungen kompensieren wir die "Begrenzt- 
heit" unserer "Kinderhausarbeit' sehr unterschiedlich. Bei den Män- 


-99- 


nern ist auffällig, daß sie auf dem Gebiet von Werken, Renovieren, 
Sachen reparieren, im Haus etwas erneuern, vielleicht ihr Bedürf- 
nis nach konkreten Aufgaben, die auch ein "sichtbares" Ergebnis ha- 
ben, ausleben. Bei Dieter kommt noch hinzu, daß er seine Leiden- 
schaft" für die Verwaltung auch im Kinderhaus ausleben kann und in 
seiner Freizeit oft Anträge für andere Kinderhäuser macht, oder de- 
ren Abrechnungen übernimmt. 

Wir Frauen sind im Frauenzentrum und machen Volkshochschulkurse. Im 
Gegensatz zu den Männern, kann ich aus einer reparierten Lampe 
kaum Bestätigung ziehen. 


Wichtig wäre für uns, unser Verhalten im Kinderhaus auch einmal in 
Frage zu stellen und vielleicht mit anderen Initiativen darüber zu 
diskutieren. Wichtig wäre auch, sich außerhalb des Kinderhauses 
noch zu engagieren. Gerade in den letzten Monaten ist mir klar- , 
geworden, daß durch unser WG-Zusarmenleben bedingt, ich noch weni- 
ger Zeit und Kraft für Kontakte und Freundschaften außerhalb habe. 
Unsere abendlichen Gespräche sind wichtig, unser Zusammensitzen t 
ist auch zumeist recht entspannend, dennoch ist die Gefahr, daß wir 
uns isolieren, recht groß, und zumindest ich empfinde es oft als 
einen mir selbst auferlegten Zwang, nach 10 Stunden Kindern abends 
noch etwas mit anderen Leuten zu machen. Der Vergleich mit der Mut- 
ter, die abends auch nicht ausgehen kann, keine eigenen Interessen 
hat, für ihre Kinder viel aufgibt, dafür dann Dankbarkeit erwartet, 
trifft sicher auf uns nicht zu, die Grenze dorthin ist aber wohl 
mehr in unserem Bewußtsein, als in unseren Gefühlen vorhanden. 


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Janni Hentrich/Elke Schmid 


FAMILIENPOLITIK — 
FRAUEN ZWISCHEN HERD UND FLIESSBAND 


1. EINLEITUNG 


Es geht uns im folgenden darum, einen Beitrag zur ökonomischen und 
geschlechtsspezifischen Analyse des Reproduktionsbereichs zu liefern. 
Konkret wollen wir aufzeigen, daß Familienpolitik primär auf die 
private Tätigkeit der Frau in Haushalt und Familie zielt. Je nach- 
dem sollen familienpolitische Maßnahmen diese private Reproduktions- 
tätigkeit fördern bzw. teilweise ersetzen. 

Davon ausgehend wollen wir herausarbeiten, wie sich Familienpolitik 
als Teil staatlicher Sozialpolitik auf die sich historisch verän- 
dernden Bedingungen der Frauenerwerbstätigkeit bezieht. 

Es geht uns also um die Darstellung allgemeiner Zusammenhänge, die 
wir anhand historischer Fakten (von 1900 bis heute) belegen wollen. 
Der Ausführung unserer Thesen haben wir jeweils einen Teil histori- 
scher Konkretisierungen angefügt. 

Natürlich wird an vielen Stellen Interesse an mehr Details und Argu- 
mentationsmustern aufkommen wie auch das Problem anderer histori- 
scher Interpretationsmöglichkeiten. Wir erheben jedoch keinen An- 
spruch auf Vollständigkeit und wollen ebensowenig unseren Standpunkt 
hinter scheinbarer wissenschaftlicher Neutralität verbergen. Viel- 
mehr soll unser Artikel eine Anregung zur Weiterarbeit sein. 


2. KURZER ABRISS ÜBER DEN CHARAKTER VON SOZIALPOLITIK 


Wir gehen zunächst allgemein davon aus, daß im Kapitalismus der Ar- 
beiter bzw. die Arbeiterin und deren Familie von Produktionsmitteln 
und den Mitteln zum Lebensunterhalt getrennt, damit ausschließlich 

auf den Verkauf der Arbeitskraft angewiesen sind. 

Gelingt es nicht, die Arbeitskraft zu verkaufen (Arbeitslosigkeit, 
Arbeitsunfähigkeit), ist die Existenz des Arbeiters bzw. der Arbei- 
terin und der Familie bedroht. Diese Bedrohung ist mit dem Lohnar- 
beiterdasein ständig als strukturelle Möglichkeit für die gesamte 
Arbeiterklasse gegeben. 

Die Existenzbedrohung der Arbeiterklasse bedeutet aber gleichzeitig 
die Infragestellung des Kapitals und der gesellschaftlichen Grund- 
lagen selbst. Dies läßt sich insbesondere in den Zeiten des begin- 
nenden und aufstrebenden Kapitalismus immer wieder zeigen, wo unmensch- 
liche Arbeitsbedingungen und bis zum Exzeß betriebene usbeutung d 
Arbeiterklasse auch physisch zu ruinieren begannen (12-18 stündige 
Arbeitstage, Hungerlöhne, Kinderarbeit usw.). 

Sozialpolitische Maßnahmen waren daher erforderlich zur Aufrechterhal- 
tung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital, sie waren aber 
auch Ergebnis von Klassenkämpfen einer sich mit dem Kapitalismus 
entwickelnden Arbeiterklasse. 


-101- 


Sozialpolitik hat demnach einen Doppelcharakter: MS 
sie trägt zur Absicherung und Verbesserung der materiellen, politi- 
schen und rechtlichen Lage der Arbeiterklasse bei und erhält damit 
gleichzeitig die gesellschaftlichen Bedingungen der Lohnarbeit. 


3. FAMILIENPOLITIK ALS TEIL STAATLICHER SOZIALPOLITIK 


Familienpolitik spiegelt prototypisch das Dilemma staatlicher So- 
zialpolitik wider: sie soll die vom Wirtschaftssystem und der Wirt- 
schaftspolitik hervorgerufenen Mängel mittels ausgleichender und 
korrigierender Sozialmaßnahmen beheben, andererseits kann sie diese 
Mängel jedoch nicht in ihrer Entstehung verhindern. 

Die Aufgabe insbesondere der staatlichen Familienpolitik besteht 
darin, die vom Kapital nicht berücksichtigte, aber notwendige pri- 
vate Reproduktion der Arbeitskraft in der Familie, und das heißt 

von der Frau unentgeltlich geleistet, zu sichern. Dies geschieht 
durch rechtliche Regelungen der "Pflichten" der Ehefrau und Mutter, 
der Erwerbstätigkeit der Frauen, sowie durch materielle Unterstützung 
in Form von Beihilfen, Zuschüssen, Vergünstigungen und sozialen Ein- 
richtungen. 


Der Inhalt der Familienpolitik bewegt sich im wesentlichen zwischen 
zwei Polen; 

© Sie soll die Familie in ihrer ideologischen und ökonomischen Funk- 
tion als "Keimzelle des Staates" erhalten; insofern ist Familien- 
politik auch indirektes Instrument der Wirtschaftspolitik, da die 
Charaktereigenschaften, die die bürgerliche Kleinfamilie hervor- 
bringt, funktional und konstituierend für die kapitalistische Pro- 
duktionsweise sein müssen. 

© Sie muß sich an arbeitsmarktpolitischen Interessen orientieren, am 
Stand und Bedarf von erwerbstätigen Frauen. Das bedeutet, daß durch 
die jeweilige Familienpolitik Frauen entweder verstärkt in die Pro- 
duktion einbezogen werden (begünstigende Maßnahmen) oder an ihre 
Aufgaben als Haus-Frauen erinnert werden. (Zurück-an-den-Herd-Kam- 
pagnen; Abbau sozialer Leistungen, welche die Frauenerwerbstätigkeit 
begünstigen; ideologische und finanzielle Stärkung der Familie, um 
den Anreiz zur Erwerbstätigkeit von Frauen zu verringern). 


Die prinzipielle Widersprüchlichkeit der Familienpolitik liegt also 
darin, sowohl Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu sein, auf Impul- 
se des Produktionsbereichs reagieren zu müssen, als auch die Aufga- 


be der Stabilisierung der Familie und damit des Systems bewältigen 


zu müssen. 





Historische Beispiele 





© Bis zum 1. Weltkrieg stieg die Zahl der in der Industrie und in 

der Landwirtschaft arbeitenden Frauen; sie nahm während des Krieges 
noch weiter zu (Einbeziehung auch in traditionell nur von Männern 
besetzte Arbeitsbereiche). Zu Kriegsmitte wurde fast die ganze Pro- 
duktion von Frauen aufrechterhalten, auch in der Schwerindustrie und 
im Bergbau. Männer- und Frauenlöhne näherten sich einander an. Gleich- 
zeitig wurden Arbeitsschutzmaßnahmen und andere sozialpolitische 
Errungenschaften der Arbeiterklasse (8 Std. Tag) für die Dauer des 


-102- 


Arbeitsfeldmaterialien zum Sozialbereich, Heft 2 


ARBEITERMÄDCHEN IM JUGENDZENTRUM 


Diese Arbeit versucht, die Erfahrungen aus der Praxis im Jugend- 
zentrum Mettmann mit Arbeitermädchen darzustellen und zu beurtei- 
len. Im ersten Teil wird die Entwicklung des Jugendzentrums in 
Mettmann erläutert und die Jugendzentrumsbewegung eingeordnet. 
Der zweite Teil der Arbeit (Hauptteil) berichtet über die Frauen- 
Interessengruppe (Arbeitermädchen) und reflektiert die Arbeit 
mit dieser Gruppe. U.a. werden dargestellt: Entstehungszusammen- 
hang der Gruppe - Struktur der Gruppe - Der Lebenszusammenhang 
der Mädchen (Familie, Schule und Freizeit, Jugendzentrum, die 
Gruppe) - Die Entwicklung und die Aktivitäten der Gruppe (Bedeu- 
tung der Sexualität, Aktivitäten für das Jugendzentrum, Fotogra- 
fieren, Rollenspiel, Collagen, Interviews, Gruppenfahrten). 


56 Seiten, broschiert, DM 4.-- 





Krieges außer Kraft gesetzt, darunter insbesondere auch Bestimmungen, 
die die Frauenarbeit einschränkten (Nachtarbeitsverbot, Mutterschutz). 
In dieser Zeit lag die stärkste Organisierung der Frauen, in Gewerk- 
schaften und Parteien (SPD und USPD) und es kam auch zu starken Ar- 
beitskämpfen der Frauen. 

Der proletarischen Frauenbewegung schien damals das Ziel der voll- 
ständigen Integration der Frau ins Berufsleben (Recht der Frau auf 
Arbeit) erreicht. Nach Kriegsende wurde jedoch mit sogenannten Demo- 
bilmachungsverordnungen ein Rückgang erwerbstätiger Frauen erzwun- 
gen, unter denen besonders die verheirateten (seit 1900 waren ver- 
stärkt verheiratete Frauen und Mütter berufstätig) und die Beamtin- 
nen betroffen waren. Damit sollten Arbeitsplätze für die Kriegsheim- 
kehrer freigemacht werden. Dieser Effekt trat jedoch gar nicht in 
der gewünschten Form ein, da gleichzeitig die ersten großen Rationa- 
lisierungen stattfanden und viele der freigemachten Arbeitsplätze 
nicht neu besetzt wurden. 

Trotz der Zwangsverordnungen bleib der Anteil erwerbstätiger Frauen 
aber höher als vor dem Krieg (ca. 30 %). 

Das führte zum Konflikt mit dem nun wieder mehr betonten Bild der 
häuslichen Frau, die an der (Industrie-)Arbeit nur Schaden nehmen 
kann. Andererseits ließ sich die Notwendigkeit von Frauenarbeit 
nicht leugnen, der Anteil von Industriearbeiterinnen, weiblichen 
Angestellten und Beamtinnen nahm gegenüber den traditionellen Dienst- 
botinnenberufen auch immer mehr zu. Es bildeten sich spezielle 
Frauenindustriezweige und Frauenberufe im öffentlichen Dienst (So- 
zialarbeit). 


© In der Weimarer Zeit, die die Auswirkungen von zwei Krisen zu tra- 
gen hat, (Krisenmerkmale waren: Inflation, Rationalisierung, Mono- 
polisierung, Arbeitslosigkeit, Veränderung der Arbeitskräftestruktur) 
wird die Lückenbüßer-Funktion der Frau und das Dilemma einer zwi- 
schen arbeitsmarktpolitischen und familienstabilisierenden Maßnahmen 
jonglierenden Familienpolitik besonders deutlich: 


Die Nachkriegsverhältnisse bewirken eine Problematisierung der Funk- 
tion der Familie und damit verbunden der Frauenerwerbstätigkeit durch 
den Staat (Geburtenrückgang, Rückbesinnung auf die gesunde, kinder- 
reiche Familie als Wiege für den Staat und das Volk). Daraus resul- 
tiert, komplementär zu Arbeitsmarkterfordernissen, der Versuch 

einer zeitweiligen Ausschaltung des Motivs der Frauenerwerbstätigkeit 
und zwar mittels folgender Maßnahmen: 

Kinderbeihilfen; Eheschließungsbegünstigungen; steuerliche Vergünsti- 
gungen; direkte Familienzulagen, die auch Frauenzulagen (!) genannt 
werden, bei Wegfallen der Erwerbstätigkeit der Frau; Zurück- an-den- 
Herd-Kampagnen;sowie auch bevölkerungspolitische Maßnahmen wie Ab- 
treibungsverbot, Verhinderung der Empfängnisverhütung und von Schei- 
dungen. 





Der VorRszänler : Sus las Jer Nma ben aet 
Die Nat barm : Eene Osan LM, Harn ' 
Rumma tat, Mh Kommt morh emer Su. 


Nach wie vor besteht aber ein bestimmter Bedarf an billigen weibli- 
chen Arbeitskräften (speziell für Teilzeit- und Heimarbeit) und ver- 
langt einen familienpolitischen Kompromiß zwischen der Erwerbstätigen- 
und der Ehefrau/Mutterrolle. 

Dieses Dilemma wird "klassisch" gelöst: 

es erfolgen Regelungen zur Erleichterung der Doppelbelastung 

durch verbesserte Sozialgesetzgebung (Arbeitsschutzmaßnahmen für 
Mütter und Schwangere, Tarifverträge, Verbesserung der Arbeitslosen- 
versicherungen für Frauen, Verbesserung der Bedingungen der Heimar- 


beiterinnen, Errichten von Kindergärten und Kantinen). 
Daneben bleibt die erwerbstätige Frau jedoch weiterhin diskriminiert 
als Doppelverdienerin. 


© In der Weltwirtschaftskrise 1929-33, auf die der Staat mit Notver- 
ordnungen reagierte, wurden die (verheirateten) Frauen in großer Zahl 
aus der Produktion verdrängt. (Frauen brauchten nicht mehr als Lohn- 
drückerinnen zu fungieren, denn der Druck der Arbeitslosigkeit zwang 
auch Männer, sinkende Löhne und Ausdehnung des Arbeitstages hinzuneh- 
men). 

Das nachlassende wirtschaftliche Interesse an Frauenarbeit kann mit 
familienpolitischen Interessen in Deckung gebracht werden: 
Familienstabilisierung durch Maßnahmen wie Ledigensteuer, Familien- 
ausgleichskassen, Abwesenheitsprämien für Frauen, "Auskämmen" der 
Betriebe, Vermehrung von Halbtags- und Heimarbeit, Kampf gegen das 
Doppelverdienertum, ideologische Stärkung des ländlichen Familien- 
lebens. 


© Der Faschismus stellt keine Ausnahme, sondern eher eine Zuspitzung 
und Verschärfung dieser Form von Krisenbewältigung dar, wo Frauen 
lediglich als Gebärmaschinen und Arbeitstiere dienen. 





Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Frauenrolle und Familien- 
politik 





Wesentlich für den Kapitalismus ist die Trennung von Produktions- und 
Reproduktionssphäre, und zwar in der Form, daß der Produktionsbereich 
als gesellschaftlich-öffentlicher den Funktionsbereich des Mannes 
darstellt, wogegen der privat organisierte Reproduktionsbereich das 
"Reich" der Frauen ist. 

Diese herrschende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bewirkt die 

vorrangige Bestimmung der Frauenrolle als Hausfrau, Ehefrau und Mut- 

ter. Die Familie als Ort der physischen wie psychischen Stabilisie- 
rung, als "Freiraum" und Sozialisationsinstanz, funktioniert nur als 
private, unentgeltliche Dienstleistung der Frau! Dies spielt auch dann 
eine Rolle, wenn die Frau auf den Arbeitsmarkt tritt; die Nachfrage 
nach ihrer Arbeitskraft ist charakterisiert durch 

- ein allgemeines Interesse an ihrem Arbeitsvermögen, 

- Interesse an der spezifischen Qualifikation als weibliche Arbeits- 
kraft (Fertigkeiten, Einstellungen, Verhaltensmuster aufgrund ihrer 
weiblichen Sozialisation, für die die Arbeitgeber so gut wie keine 
Ausbildungskosten investieren müssen). 

Dies macht die Frau speziell disponibel und einsatzfähig als billige 

Arbeitskraft und als sogenannte Reservearmee, denn ihr Lohn wird 

bloß als Zusatzverdienst definiert. Dieser spezifische Charakter 

der weiblichen Arbeitskraft wird in den Frauenindustrien ausgenutzt 

(Textil-, Bekleidung-, Tabak-, Nahrungsmittelindustrie und feinme- 

chanischen Industriezweigen). 


Familienpolitik zielt also nicht auf die Familie an sich, sondern auf 
die spezifische Rolle der Frau in der Familie. Von daher interessie- 
ren den Staat die Frauen in ihrer primären Funktion als Ehefrauen, 
Hausfrauen und Mütter und je nach arbeitsmarktpolitischen Erforder- 
nissen in ihrer Funktionalität als Arbeitskraft mit der beschriebenen 


-105- 


doppelten Bestimmung. Bei letzterem kommt der Familienpolitik die 
Funktion zu, die "Freizeit" der Frau zur Lohnarbeit partiell herzustel- 
len, nämlich für die Dauer der Anwendung der weiblichen Arbeitskraft 
im Produktionsbereich. Durch die Entlastung der Frau von ihren re- 
produktiven Tätigkeiten soll Familienpolitik die notwendige Basis für 
die formal gleiche Einbeziehung der Frauen in das Lohnarbeitsverhält- 
nis herstellen. 

Wichtig ist dabei festzuhalten, daß die Frau auch als Erwerbstätige 
an ihre Reproduktionsaufgaben gebunden bleibt, trotz juristischer 
Verankerung von Gleichberechtigung etc. Die Frau betritt also den Ar- 
beitsmarkt unter anderen ungünstigeren Bedingungen als der Mann. 
Familienpolitik setzt damit an der geschlechtsspezifischen Arbeits- 
teilung an und erhält diese aufrecht. Das "Recht" der Frauen auf Er- 
werbstätigkeit war und ist daher nie ein generell abgesichertes. 


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Reservearmeefunktion der Frauen und darauf abgestimmte staatliche 
Politik 

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In der Familienpolitik wird deutlich, wie problematisch die Verquik- 
kung von Produktions- und Reproduktionsbereich ist. Dies sei im fol- 
genden zunächst analytisch, dann historisch aufgezeigt. 


Um einerseits einen flexiblen Arbeitskräfteeinsatz möglich zu machen, 
andererseits ein Disziplinierungsinstrument in der Hand zu haben, 

ist das Kapital auf das Vorhandensein einer industriellen Reserve- 
armee (Frauen, Ausländer, Randgruppen) angewiesen. 

Frauen erfüllen diese Funktion einer stillen Reserve in hervorragen- 

der Art, da sie je nach Arbeitsmarkt-Erfordernissen entweder auf 

ihre primäre Aufgabe im Heim und Familie zurückgeschoben oder zusätz- 
lich zu industrieller Arbeit herangezogen werden können; dies ist 

eın rechtlich, ideologisch und sozialpolitisch abgesicherter Vor- 
gang. 

Der Sozialpolitik kommt die Aufgabe zu, die Flexibilität dieser Re- 
Servearmee zu sichern, z.B. durch Maßnahmen wie: Ausländerrückkehr- 
hilfen", arbeitsrechtliche Einschränkungen, Zurücknahmen von Ar- 
beitsschutz- und Arbeitsförderungsbestimmungen. Geht es vorrangig um 

das Interesse der Einbeziehung in die Produktion, so erfolgen Maß- 
nahmen wie: materielle, rechtliche, ideologische Unterstützungen. 

Hier gilt natürlich wie auch in den anderen Zusammenhängen, daß die 
Durchsetzungsbedingungen immer von der Kampfkraft der Arbeiterklasse 
und der Politik ihrer Organisationen abhängen. 


Die beschriebenen Entwicklungen setzen sich jedoch nicht immer grad- 
linig in direkter Logik durch. Die anfangs skizzierte Widersprüch- 
lichkeit sozialpolitischer Maßnahmen bedingt ja gerade auch latente 
Durchsetzungsformen, zeitliches Nachhinken oder Vorauslaufen. 


Im Zusammenhang mit dem ökonomischen Interesse an Frauenerwerbstätig- 
keit bzw. Nichterwerbstätigkeit läßt sich unserer Meinung nach die 
gängige "Reservearmee-These" - Frauen werden als letzte geheuert 

und als erste gefeuert - in ihrer bloß quantitativen Aussagen nicht 
aufrechterhalten. 

Folgende Punkte müssen dabei ergänzend betrachtet werden: 

- Die erwerbstätige Frau ist (Schmutz-)Konkurrentin und Lohndrücke- 


-106- 





rin; dies kann das Kapital zur Bremsung von Lohnsteigerungen und 
als Disziplinierungsinstrument (für Männer) zur Arbeit nutzen. 
(vgl. dazu die Zeit während des |. Weltkrieges und die 67/68 Kri- 
se, auf die wir später nochmal zurückkomen). 

Gleichzeitig sind Frauen als spezifisch qualifizierte Arbeitskräf- 
te mit extrafunktionalen Fähigkeiten unentbehrlich für bestimmte 
Industriezweige geworden. Frauenarbeit ist Bestandteil kapitalisti- 
scher Produktion (Statistiken weisen erst eine stetig zunehmende 
Zahl erwerbstätiger Frauen besonders bei verheirateten Frauen und 
Frauen mit Kindern auf, die sich dann in relativer Konstanz hält). 
In Krisenzeiten mit einem Überangebot an Arbeitskräften geht es folg- 
lich nie darum, Frauen vollkommen aus der Produktion auszugliedern. 
Es hat sich ein 30 % Level an weiblichen Erwerbstätigen seit dem 1. 
Weltkrieg eingependelt. (Familienbericht 1976: 37 % Frauen unter 
den Erwerbstätigen, davon sind 60 % verheiratet, 40 % haben Kinder 
unter 15 Jahren; und 35 % aller Auszubildenden sind Frauen). 


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“KINDHEIT UND LERNEN” 
vom 22.—24. Juni 1979 in Hannover 


Wir wollen Gelegenheit bieten, Fragen auf einem Wochenend-Kongreß 
differenziert zu diskutieren, durch Vorstellen der jeweiligen Projekte 
einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Mitarbeiter solcher Projekte, 
aber natürlich auch andere Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, Wissenschaft- 

ler und Eltern sowie Journalisten sind zur Teilnahme eingeladen. Wer nähere 


Informationen zur Fragestellung des Kongresses, zu den Themen geplanter 
Arbeitsgruppen und zum sonstigen vergnüglichen Ablauf erhalten möchte, 
schreibe bitte an: 

Glocksee-Schule — Stichwort: Kongreß 

Hölderlinstr. 6, 3000 Hannover 61 


Bitte einen mit 80 Pfg. frankierten, adressierten Rückantwortumschlag 
(Din C 4) beilegen! 





Frauenerwerbstätigkeit wird deshalb dann zum politischen und wissen- 
schaftlichen Problem, wenn es um die Zu- oder Abnahme dieser 1/3 Quo- 
te geht. Kennzeichnend dafür ist z.B., daß in der Zeit von 1923 bis 
1925 zahlreiche Literatur über Frauenerwerbstätigkeit, Untersuchungen 
über die Relevanz der biologischen Unterschiede für Erwerbstätigkeit, 
aufkam. 


Die Arbeitslosenstruktur in der Krise läßt sich prototypisch in zwei 
Phasen beschreiben: 


© In der Anfangsphase halten z.T. steigern des Frauenanteils unter 
den Erwerbstätigen, da sie die billigeren und oft gefügigeren Ar- 
beitskräfte sind, steigende Kurzarbeit für Frauen. Männer sind zu- 
nächst oft stärker von Arbeitslosigkeit betroffen (besonders, wenn 
es um Arbeitslosigkeit bestimmter Facharbeitergruppen geht), ein 
Sinken des allgemeinen Lohnniveaus ist zu beobachten. 


© In der zweiten Phase erfolgt die Reaktion auf die Arbeitslosigkeit 
der Männer. Männer ersetzen besonders die verheirateten Frauen; Frau- 
en müssen zurück in die Familie, bzw. bleiben dort. (1973: Frauen- 
arbeitslosigkeit seit September 1972 um 22,3 % gestiegen, die der 
Männer nur um 3,8 %; im September 1973 waren 51,5 % der Arbeitslo- 
sen Frauen, Im September 1966 waren es nur 31,1 Z). 
Dies erklärt sich zum einen aus der berufsfachlichen Konzentration 
der Frauenarbeitslosigkeit (z.B. Rationalisierung in der Textilin- 
dustrie und Bekleidungsindustrie, wie auch in Verwaltungs- und 
Dienstleistungsberufen, also Bereichen, die einen hohen Anteil an 
Frauen beschäftigen), der geringer gewordenen Lohndifferenz von 
Frauen- und Männerlöhnen, bzw. der Disziplinierung der Arbeiter und 
ihrer Organisationen. 
Zum anderen erklärt sich dies aus der Notwendigkeit der Wiederher- 
stellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, deren Zerfall 
und Auflösung dem patriarchalen Wertsystem seine reale Basis ent- 
zieht. Außerdem nehmen Männer nicht ohne weiteres den Platz der f 
Frauen in der familiären Reproduktion ein, reagieren viel eher mit 
Desorientierung, die Familie bricht moralisch und faktisch zusam- 
en. 2 
Tn dieser Situation addieren sich ökonomischer/gesellschaftlicher 
Druck und Druck der Männer (als Träger des Patriarchats) innerhalb 
der Arbeiterklasse selbst. 


Dies wirkt sich in der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre wie 
auch in den persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen innerhalb der 
Familie aus. 


An diesem Punkt setzen auch familienpolitische Maßnahmen ein, die 30 

drastische Formen annehmen können wie die Demobilmachungsverordnungen 

und die Kampagnen gegen das Doppelverdienertum. Davon wird später noch- 

mal die Rede sein. 

Die Gefährdung der Familie durch Frauenerwerbstätigkeit wird proble- 

matisiert und kritisiert (Scheels Neujahrsrede, das neue JHG, Publi- 

kationen der letzten Zeit, besonders der CDU, zum Zusammenhang von 

Jugendkriminalität, jugendlicher Desorientiertheit und der Stabilität 

des Familienlebens). Häufig folgt daraus die Wiedererweckung alter 

Wertvorstellungen von der "Keimzelle Familie". Damit verbunden ist 

ein Wandel des Frauenbildes von der erwerbstätigen, "ihren-Mann-steh- 

enden", volkswirtschaftlich unentbehrlichen Frau und Partnerin hin 

zur Gattin, Heimchen am Herd. 

Damit wollten wir aufzeigen, vor welches unlösbare Dilemma staatli- 

che Sozial- und Familienpolitik in Reaktion auf ökonomische Anforde- 

rungen gestellt ist: 

© Ideologisch muß sie flexibel reagieren: Propagierung der Ideologie 
von "Heim und Herd" und dem Ideal der vielköpfigen Familie, wenn 
sich die Frauen aus der Produktion rausziehen sollen; Propagierung der 
Partnerschafts- und Gleichbereichtigungsideologie, wenn Erwerbstä- 
tigkeit von Belang ist. 

© Auf der Planungs- und Finanzierungsebene drückt sich das Dilemma 
so aus, daß in Krisenzeiten, die materiell schlechter gestellten Ar- 
beiterfamilien um den wegfallenden Zuverdienst der Frau "entschä- 
digt" werden müßten, um den "Anreiz" zur Berufstätigkeit der Frau 
auszuschalten (man/frau denke an die Vorschläge zum Erziehungsgeld 
und die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs, Familienlastenaus- 
gleiche, Heiratsdarlehen, wie Geburtsdarlehen ab Februar 1979.) 
Die mit der wirtschaftlichen Krise einhergehende Finanzkrise des 
Staates läßt allerdings sehr geringe Spielräume für staatliches 
Handeln. 

© In prosperierenden Zeiten muß der Staat, wenn die Frauen für die 
Produktion gefordert sind, Einrichtungen und Leistungen bereits- 
stellen, die die Doppelfunktion der Frauen, nämlich Erwerbstätig- 
keit zusätzlich zur Reproduktionsaufgabe, erst möglich machen: 
Mutterschutz, Tagesmütterprojekte, Vorschulerziehung, Ganztags- 
schulen, Weiterbildungsmöglichkeiten für Hausfrauen, Urlaub bei 
Krankheit der Kinder für Mütter und Väter. 


Der ca. 2o Jahre anhaltende Aufschwung der kapitalistischen Wirtschaft 
nach 1950, mit der langfristigen Tendenz eines steigenden Arbeitskräf- 
tebedarfs, bewirkte die zunehmende Berufstätigkeit verheirateter 
Frauen. 

Dies machte die Institutionalisierung und Legitimierung der Doppel- 
rolle-juristisch in der grundgesetzlichen Verankerung der Gleich- 
berechtigung - notwendig. Ein Ausdruck dafür ist auch die Neurege- 
lung des Scheidungsrechtes und des $ 218, wie Regelungen des Sorge- 
rechts für Kinder und des Adoptionsrechts und der (Renten)-Versiche- 
rungen für Hausfrauen. Vorherrschend wird das Bild der Frau als Selb- 
ständige und Partnerin, so daß eine Aufweichung der starren, tradi- 
tionellen Rollenschemata zu beobachtenist. Diese Entwicklung läßt 


-109- 


sich nun heutzutage nicht ohne weiteres zurückdrehen. 

Dem noch vorhandenen Bild der "emanzipationsfreudigen'" Frau, die sich 
selbst versorgen kann, muß zumindest übergangsweise Rechnung getragen 
werden, sozusagen in einer Doppelstrategie: einerseits Entzug der 
materiellen Möglichkeiten für eine Tätigkeit außer Haus, andererseits 
eine Umbesetzung der Werte. Galt längere Zeit die erwerbstätige selb- 
ständige Frau als "progressiv", so wird heute der "Mut zur Hausfrau" 
als "emanzipiert" hingestellt. Beispielhaft für die Kanalisierung mög- 
licher Unzufriedenheitspotentiale ist die vom Familienministerium an- 
geleierte Kampagne "Aktivierung von Frauen", Broschüre: "Mitmachen 
macht Mut - Frauen können mehr". Nur-Hausfrauen, die eventuell früher 
erwerbstätig waren, und sich jetzt unausgelastet, isoliert, wenig an- 
erkannt, uninformiert, abgeschoben fühlen, werden angesprochen. In 
dem traditionell weiblichen "Beruf", dem ehrenamtlichen, nachbar- 
schaftlich-caritativem Engagement sollen sie diese fehlende Bestäti- 
gung finden. 

Damit werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die Unzufrie- 
denheit der Frauen, die in der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage keinen 
angemessenen Job finden können, und gleichzeitig die durch den Abbau 
sozialer Leistungen verschlechterte Situation des Reporduktionsbe- 
reichs; 

Kinderarbeit, Behinderte-, Alten-, Ausländer-, Bewährungshilfen, Frau- 
engruppen und sonstige Eigeninitiativen werden in dieser Kampagne zur 
"Aktivierung" angegeben. 





Beispiele: 


Um unsere Thesen nochmals historisch zu erläutern, wollen wir nun auf 
die Zeit der Gründung der BRD bis heute eingehen, insbesondere auf die 
CDU-Periode und die SPD-Reformphase. 


© Die Anfänge der BRD waren gekennzeichnet durch die Rekonstruktion des 
Kapitalismus, forcierte wissenschaftliche und technische Entwick- 
lung, einem langfristig absehbaren hohen Bedarf an qualifizierten 
und unqualifizierten Arbeitskräften, starker Nachfrage nach Frauen- 
arbeitskräften. 
Auf Seiten der Familienpolitik (Würmeling ) entsprach dem zunächst 
die Wiederherstellung der Kleinfamilie, die durch den Krieg arg zer- 
rüttet war und die den Frauen aufgrund der Abwesenheit der Männer 
eine zentrale Rolle zugewiesen hatte. Die Stärkung der Familie be- 
zog sich vor allem auf die Stärkung als Gefühlsinstitution, als Pri- 
vatbereich, und auf die Wiederherstellung der väterlichen Autorität. 
Ein gewisser Widerspruch zwischen Ökonomie und familienpolitischer 
Orientierung ist erkennbar, sodaß sich die Familienpolitik diesem 
Dilemma mit der Propagierung der Geburtenerhöhung zur Stabilisierung 
der Familie und des Systems entzieht. Unterstützungsmaßnahmen sind 
Familienlastenausgleiche (Kinderlose und Kinderarme zahlen per Um- 
lage für kinderreiche Familien), Kindergeld, Heiratsdarlehen, stren- 
ges Scheidungsrecht, Behinderung der Geburtenkontrolle und Abtrei- 
bungsverbot, Familienermäßigungen z.B. bei der Bundesbahn. 
Zur Unterstützung der Frauenerwerbstätigkeit wurden keine direkten 
Maßnahmen ergriffen. Es gab lediglich Müttererholungsurlaub für 
"überbeanspruchte" Mütter, denn es wurde betont, die Unzufrieden- 
heit der Frau könne sich negativ aufs Eheleben und Familienleben 
auswirken. Durch die partielle Widersprüchlichkeit zwischen Arbeits- 


=110r 


markt und Familienpolitik wurde die Ambivalenz der Frauenerwerbs- 
tätigkeit allerdings aufrechterhalten, und damit die Reservearmee- 
funktion der Frauen. 


Unter Familienminister HECK (1962-68) zeichneten sich eine Wandlung 
des Familienbildes und eine Verschiebung des Schwerpunktes von Fa- 
milienpolitik ab, die sich nun funktional mit der notwendigen Frau- 
enerwerbstätigkeit arrangierten: Institutionalisierung der Doppel- 
rolle und deren arbeitsrechtlicher Regelung, Ausbildung für Mäd- 
chen, zum Bild der Ehefrau/Mutter tritt die berufstätige Frau hin- 
zu. Die Bedeutung des Kinderreichtums wird geringer geschätzt, Trend 
zur Zwei-Kinder-Familie; vermehrter Bau von Kindergärten, deren Er- 
ziehungsleistung positiv betont wird neben der unzureichenden Erzie- 
hungskompetenz der Eltern. Erziehung rückt als öffentliche Aufgabe 
ins Bewußtsein. 


Die SPD-FDP-Reformphase: 

Die Familienpolitik ist abgestimmt auf die Müttererwerbstätigkeit 
und geht einher mit der "Entideologisierung" und "Entemotionali- 
sierung" der Familie und zunehmender staatlicher Wahrnehmung von 
Sozialisationsaufgaben im Kinder- und Jugendbereich. 

Eine Reihe längst fälliger Reformen wird getätigt, wie Vorschuler- 
ziehung, Kindertagesstätten, Ganztagsschulen, Horte, Tagesmütter- 
projekte etc., die im wesentlichen die Doppelfunktion der Frau er- 
möglichen sollen. 

Das Bild der Frau wird durch die Ideologie gleichberechtigter Part- 
nerschaft bestimmt, das Rollendilemma verlagert sich vom Widerspruch 
Hausfrau-Berufstätige zu dem von Mutter-Berufstätige. Zu lösen ver- 
sucht man diesen Konflikt durch vermehrte Teilzeitarbeitsplätze und 
die Propagierung eines 3-Phasen-Modells: Ausbildung und kurze Be- 
rufstätigkeit - Heirat und Kinderaufzucht - dann wieder Berufstätig- 
keit, eventuell verbunden mit Umschulung, Weiterbildung oder Dequa- 
lifizierung (!). Die Problematik vor allem der letzten Phasen dürf- 
te deutlich sein. 

In dieser Zeit konnten sich Familienpolitik und Sozialpolitik auf- 
grund prosperierender Wirtschaft progressiv und reformfreudig ge- 
ben und die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes als Element 
der langfristigen Sicherung eines flexiblen Arbeitskräftepotentials 
angehen. 


Die Krise ab 72/73 
Es handelt sich um eine strukturelle und weltweite Krise mit nicht 
absehbarer Arbeitslosigkeit, die vor allem Frauen und Jugendliche 
betrifft. Verwaltungsrationalisierung und Wegfall von Teilzeitar- 
beitsplätzen besonders in der lohnintensiven, Verbrauchersgüter 
produzierenden Industrie gehen auf Kosten vieler Frauenarbeitsplätze. 
Familien- und Sozialpolitik stehen nun ganz deutlich im Dienste der 
"Krisenlösung": 
- Drastische Streichung von reformpolitischen Sozialmaßnahmen und 
-einrichtungen. 
- Arbeitsrechtliche Einschränkungen der Frauenerwerbstätigkeit neben 
"Erleichterung" des Rückzugs in die Familie: 
die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs wurde ganz deutlich 
mit der Hoffnung begründet, daß die Frauen dann ganz zuhause blei- 
ben. (Dies wird auch damit erreicht, daß die Arbeitgeber so ungern 


-111- 


Frauen im gebärfähigen Alter einstellen wollen.) 

Ideologische "Bearbeitung": nach dem Jahr der Frau (1975) sollen 
nun im Jahr des Kindes die Frauen an ihre Mutterpflichten erin- 
nert werden. Ihre Bedeutung für die Sozialisation des Kindes und 
die Gefahr abweichenden Verhaltens von Jugendlichen bei Berufstä- 
tigkeit der Mutter wird verstärkt hervorgehoben. 

Mit der Problematisierung der sinkenden Geburtenrate werden Frau- 
en wieder mal an ihre Gebäraufgabe erinnert! 


Alle Parteien sprechen sich 
für mehr Mutterschutz aus 


Prioritäten der Familienpolitik umstritten 


BONN (dpa). Die von der Regie- 
rung vorgeschlagene Verlängerung 
der Mutterschutzfrist erwerbstäti- 
ger Frauen von acht Wochen auf 
ein halbes Jahr durch einen be- 
zahlten Mutterschaftsurlaub wird 
von allen Parteien des Bundestages 
als erster Schritt zu einer umfas- 
senderen Hilfe für alle Familien 
betrachtet. 


Dies wurde gestern bei einer 
mehrstündigen familienpolitischen 
Aussprache des Bundestages über 
den Gesetzentwurr der Regierung 
und eine Initiative der CDU zur 
Einführung eines allgemeinen Fa- 
miliengeldes von monatlich 400 
Mark und in besonderen Fällen 
auch mehr deutlich. 

Weit gingen allerdings die Mei- 
nungen auseinander, ob man nicht 
schon zum gegenwärtigen Zeit- 
punkt über den Mutterschaftsur- 
laub hinaus allen Müttern eine Fi- 
nanzhilfe nach der Geburt eines 
Kindes geben könne, damit sich 
Mütter besser dem Neugeborenen 
widmen können. Die Sprecher der 
Koalition — an ihrer Spitze Bun- 
desarbeitsminister Ehrenberg und 
Bundesfamilienministerin Antje 
Huber (beide SPD) — erklärten, es 
gebe zur Zeit keinen finanziellen 
Spielraum über die rund 900 Mil- 


(Südwest-Presse 16.März 1979) 


lionen Mark jährlich hinaus, die 
der aus Bundesmitteln finanzierte 
Mutterschaftsurlaub kostet. 


Obwohl die CSU die Initiative 
der CDU ebenfalls aus finanziellen 
Gründen derzeit nicht mitträgt, 
hielten die Sprecher der Opposition 
dem geschlossen entgegen, daß 
bessere Hilfe für die Familie auf 
die Dauer Folgekosten für den 
Staat spare, die durch eine ständig 
sinkende Geburtenrate und unzu- 
reichende Erziehungskraft der Fa- 
milie ausgelöst werden. 

Durch die gesamte Debatte zog 
sich eine Auseinandersetzung über 
Prioritäten der Familienpolitik. 
Heinrich Franke (CDU) erklärte, 
nur ein Familiengeld könne den 
alarmierenden Rückgang der Ge- 
burtenrate in der Bundesrepublik 
aufhalten. Alle Mütter und wahl- 
weise auch Väter müßten sich frei 
für Kindererziehung und Haushalt 
durch das für 18 Monate nach der 
Geburt geplante Familiengeld ent- 
scheiden können, ohne zur Er- 
werbstätigkeit gezwungen zu sein. 


Renate Lepsius (SPD) hielt der 
CDU vor, mit ihrem „Milliarden- 
ding“ familienpolitischen Utopien 
nachzuhängen. Sie wolle wieder 
mit der Gießkanne arbeiten. 


- Die Bestimmungen des neuen Arbeitsförderungsgesetzes beinhalten 
für die Situation der Frauen eine besondere Verschärfung: Frauen 
ohne aufsichtsbedüftige Kinder, die wegen häuslicher Bindungen 
nur Teilzeitarbeit wünschen oder an die Lage des Arbeitsplatzes 
bestimmte Bedingungen knüpfen (daß er z.B. täglich vom Wohnort 
aus erreichbar ist oder keine längere Anfahrtszeit erfordert) 
sollen künftig nicht mehr vermittelt werden. Sie sollen auch kein 
Arbeitslosengeld mehr erhalten. "Es muß erwartet werden, daß der 
betreffende Personenkreis seine Haushaltsführung den Erfordernis- 
sen des Arbeitsmarktes anpaßt". (Begründung des Ministeriums für 
Arbeit und Soziales, zit. nach FR vom 16.11.78). 


Wie sich zeigt, wiederholen sich in ökonomischen Krisenzeiten mit Ar- 
beitslosigkeit die staatlichen Maßnahmen zur "Bewältigung" des Pro- 
blems. 

Die neuen Verschärfungen stehen denen früherer Zeiten in ihrer Tendenz 
nicht nach. Mit dem von uns dargestellten Interpretationshintergrund 
gibt die Lektüre der jüngsten Berichte und Publikationen von Ministe- 
rien, Verbänden, Presse ein recht eindeutiges Bild von der Funktion 
der Frauen als Reservearmee, die alle Partnerschafts- und Gleichbe- 
rechtigungsreden rasch als ideologisches Instrument ausweisen. 

Wir wollen damit nicht in Abrede stellen, daß sich die rechtliche und 
soziale Situation der Frau in den letzten 70 Jahren verändert und ver- 
bessert hat, sehen dies aber als keinen grundlegenden, garantierten 
sozialen und politischen Wandel an, sondern eher als Modifikationen 
in den Ausprägungen der patriarchalen Klassengesellschaft. 

In den erreichten Verbesserungen stecken Lücken und Widersprüche, von 
denen wir hoffen, daß sie sichtbar geworden sind und die relevante 
Ansatzpunkte für die Emanzipationskämpfe der Frauen sein können. 

Ein solcher notwendig kritischer Bezug auf das Erreichte zeigt u.E. 
die ablehnende Stellungnahme des DGB Landesbezirks, Abt. Frauen, zur 
weiteren Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen für arbeitslose Frauen. 
Es erfolgte die Begründung, die Schaffung mehrerer Teilzeitarbeitsplät- 
ze sei eine Rollenfestschreibung und Pufferfunktion für die Frauen 
samt Verschlechterung von deren Rentensituation. 


Für uns Sozialarbeiterinnen halten wir die Analyse dieser Zusammen- 
hänge für wichtig, um die ökonomische aber gerade auch die geschlechts- 
spezifische Zielbestimmung der Familienpolitik zu erkennen und daraus 
Einschätzungen für unser pädagogisches und politisches Handeln zu ge- 
winnen. Denn die Widersprüchlichkeiten bieten Bruchstellen, die An- 
satzpunkte für eine emanzipatorische Sozialarbeit sein können. 


4. LITERATUR 


Petra Müller, Daten zur politökonomischen Situation der Frau: von der 
französischen Revolution bis zur Gegenwart; In: Beiträge zur femini- 
stischen Theorie und Praxis, hrsg.: Sozialwissenschaftliche Forschung 
und Praxis für Frauen e.V., München 78 3 
Karin Jurczyk, Frauenarbeit und Frauenrolle, Sonderforschungsbereich 
des DJI, München 77 x 

Monika Fuhrke, Staatliche Sozialpolitik; Arbeitsfeldmaterialien zum 
Sozialbereich, Offenbach 76 

Herta Däubler-Gmelin, Frauenarbeitslosigkeit, Reinbek b. Hamburg 77 


D. Haensch, repressive Familienpolitik, Reinbek bei Hamburg, 1969 


Prokla 19/20/21 

Familienbericht 1976 des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Ge- 
sundheit, dasselbe Ministerium: Broschüre Aktivierung von Frauen: 
Mitmachen macht Mut - Frauen können mehr; kostenlose Anforderung 
ebd. 53 Bonn 2, Postfach 20 04 90 


Haftentlassene 
Frauen- vom Regen 
in die Traufe ? 


Die praktische Straffälligenhilfe sieht sich vor das Problem ge- 
stellt, daß Haftentlassene häufig ohne Unterkunft, ohne Arbeit, 
mit hohen Schulden und ohne Bezugsperson in ein unvorberei- 
tetes Umfeld entlassen werden und die daraus resultierenden 
Probleme nicht zuletzt aufgrund erlittener Haftschäden 
nicht bewältigt werden können. Die Zielsetzung der 
"Beratungsstelle für straffällige Frauen" konzentriert 
sich auf die Sozialintegration von straffällig geworde- 
nen Frauen. Der Band berichtet von ihren Schierig- 
keiten und ihren Erfolgen. 







Einsele u.a. a 
ANLAUFSTELLE FÜR STRAFFÄLLIG 
GEWORDENE FRAUEN 

"Beiträge zur Praxis der Arbeiter - 
x wohlfahrt"' 
Band 3, 112 Seiten, DM 8, -- 


Hamburger Allee 49 
6000 Frankfurt /9o 





Horst Bossong 


ÄRGER MIT DER JUGENDBÜROKRATIE 
— ZUM STREIT UM DAS SUBSIDARITÄTSPRINZIP — 


Daß die Aktivitäten freier Initiativen in der Sozialarbeit in zuneh- 
mendem Maße von der staatlichen Bürokratie be- und verhindert werden 
und daß diese staatlichen Willkürakte, die jeder gesetzlichen Grund- 
lage entbehren, nicht pädagogisch begründbar sind, sondern daß sie 
vielmehr ein Symptom des allgemeinen staatlichen Kontroll- und Dis- 
ziplinierungsinteresses gegenüber Bürgeraktivitäten und -initiati- 
ven darstellen und gleichzeitig auch das Desinteresse der Bürokra- 
tie an der Lösung sozialer Probleme deutlich machen, dies kann auf 
Dauer nicht verborgen bleiben. 


Die Weigerung öffentlicher Jugendverwaltungen, Selbsthilfegruppen 
finanziell zu unterstützen, sie stattdessen in ihrer Arbeit zu be- 
hindern und finanziell auszutrocknen, stellt sich für die Betroffe- 
nen als ungeheuerliche Mißachtung des im Jugendwohlfahrtsgesetz fest- 
geschriebenen Subsidiaritätsprinzips dar. (1) 

Ein Teil der betroffenen Initiativen will sich aber mit der Willkür 
und Rechtsmißachtung durch die Bürokratie nicht abfinden und kämpft 
um die Durchsetzung ihrer Ansprüche. (2) 

Am Beispiel der Bremer Initiative "Kinderhaus Ostertor e.V." soll 

im folgenden der Standpunkt solcher Basisinitiativen und die Anwen- 
dung des Rechts durch die öffentliche Verwaltung aufgezeigt werden. 


1. PRAXISERFAHRUNGEN: KINDERHAUS OSTERTOR 


Im Bremer Stadtteil Ostertor hat sich im vergangenen Jahr eine Grup- 
pe von Eltern zusammengefunden, um für ihre Kinder im Alter von unter 
drei Jahren eine pädagogisch vertretbare Möglichkeit der halbtägigen 
Unterbringung zu schaffen. Die Notwendigkeit hierfür war durch die 
Berufstätigkeit bzw. Ausbildungssituation der Eltern gegeben. 

Das Angebot des städtischen Jugendamts: "Unterbringung der Kinder in 
einzelne Tagespflegestellen' war einerseits aus pädagogischen Grün- 
den für die Eltern nicht akzeptabel, zum anderen gab und gibt es 

nur äußerst wenige wirklich gute Tagespflegestellen. In der Regel 
liegen weite Wege zwischen Elternhaus und Pflegestelle; es mehren 
sich in letzter Zeit auch Berichte, denen zufolge Sozialhilfeempfän- 
ger aufgefordert bzw. genötigt werden, zur Ergänzung ihrer Sozial- 
hilfe Kleinkinder zu betreuen, so daß mindestens in solchen Fällen 
oft die Motivation sehr zweifelhaft ist. 


Die Gruppe entschloß sich deshalb, die Kinder nicht in Tagespflege- 
stellen, sondern in zwei Kleingruppen (ä 4 Kinder) unterzubringen. 
Seit Dezember 1977 unterhält die Gruppe deshalb einen Kinderladen, 
in dem die acht Kinder von zwei festen Bezugspersonen jeden Vormit- 
tag betreut werden. 


-115- 


Da die Kosten für diese Einrichtung sehr hoch sind (für jedes Kind 
müssen die Eltern 12,5 % ihres Nettoeinkommens ausgeben), hat sich 
die Gruppe als Verein an den Jugendsenat in Bremen gewandt und finan- 
zielle Unterstützung beantragt. 

Die Jugendbehörde hat zwar mehrere Kontrollbesuche inzwischen in dem 
Kinderhaus gemacht, finanzielle Unterstützung jedoch wurde dem Ver- 
ein hartnäckig verweigert. 


In der Begründung des Ablehnungsbescheids der Behörde wird verwiesen 
auf angeblich ausreichend vorhandene Tagespflegestellen und einem 
dementsprechend nicht bestehenden Bedarf an Kleinstkindergruppen. 
Darüberhinaus vertritt die Behörde die Auffassung, "daß eine Reihe 
von Argumenten, insbesondere das einer möglichen Hospitalisierung, 
aber auch das der Unmöglichkeit, Kleinstkinder wirklich in Gruppen 
zu erziehen, gegen eine Institutionalisierung der Kleinstkinderer- 
ziehung spricht." (Bescheid des Senators für Soziales, Jugend und 
Sport vom 23.12.77) Schließlich macht die Behörde geltend, daß die 
Kosten für das Kinderhaus zu hoch seien, denn sie selbst zahle für 
eine Tagespflegestellt monatlich nur DM 354.-- bei ganztägiger (!!) 
Unterbringung, während ein Teil der Eltern diesen Betrag bereits für 
eine halbtägige Unterbringung der Kinder im Kinderhaus zahlen müsse. 


Der Verein hat gegen diesen Bescheid Widerspruch eingelegt, der eben- 
falls abgelehnt wurde. 

Er stellte in dem Widerspruch fest, daß es in Bremen zum einen durch- 
aus nicht genügend Tagespflegestellen gibt, daß die vorhandenen Pfle- 
gestellen mehrheitlich weit teurer als 354.-- DM sind und daß im übri- 
gen es eine ganze Reihe von Eltern gibt, die ihre Kinder gern in Grup- 
pen erziehen möchten, und daß diese Gruppenerziehung keineswegs ent- 
wicklungsstörend oder -henmend ist, sondern daß sie vielmehr soziales 
Lernen und die Fähigkeit der Kommunikation mit anderen Kindern förde- 
re. 

Der Auffassung des Senats, die Gruppenerziehung von Kleinstkindern 
führe zu Hospitalismuserscheinungen und sei auch gänzlich unmöglich, 
tritt der Verein entschieden entgegen und begründet seinen Wider- 
spruch in diesem Punkt mit einem Gutachten der Universität Bremen, 

in dem betont wird, "daß die von der Elterninitiative angestrebte 

Form der Kleinstkindererziehung dem Kind optimale Entwicklungschan- 
cen bietet." Denn: "Es liegt auf der Hand, daß im Fall der Eltern- 
initiative auch nicht ein Faktor von Hospitalisierung auszumachen 

ist: Die Kinder verfügen über stabile Bezugspersonen, die die Mög- 
lichkeit haben, sich dem Kinde zuzuwenden, und sie verfügen über 

ein ausreichendes soziales und dingliches Anregungsmilieu." 
Schließlich verweist der Verein in seinem Widerspruch auf das im 
Jugendwohlfahrtsgesetz verankerte SUBSIDIARITÄTSPRINZIP, das im fol- 
genden näher erläutert werden soll. 


Die Behörde hat inzwischen den Widerspruch abgelehnt, und zwar nun- 
mehr nicht mehr mit der Begründung der "Schädlichkeit" der Gruppen- 
erziehung, sondern mit Hinweis auf ihr "freies Ermessen" darüber, 

ob sie zur Förderung nach dem JWG bereit ist oder ob sie eine För- 
derung nicht für notwendig hält. Die Behörde stellt sich auf den 
Standpunkt, daß "die Einrichtung von Elterm-Kleinstkinderinitiativen 
in Hinblick auf die Möglichkeit der Unterbringung in einer Tages- 
pflegestelle nicht...erforderlich" ist. 


-116- 


Darüberhinaus bestreitet die Behörde weiterhin, daß das Interesse an 
Kleinstkindergruppen ein von vielen Eltern getragenes ist, sondern be- 
hauptet, daß nur wenige Eltern ein momentanes, jedoch wenn die Kin- 
der erst 'kindergartenfähig' sind (also über drei Jahre) nachlassen- 
des Interesse an solchen Einrichtungen, wie dem Kinderhaus haben und 
insofern "durch eine Veränderung in den Verhältnissen ihrer Mitglie- 
der gleichzeitig die Kontinuität der Arbeit gefährdet wird." (Wider- 
spruchsbescheid vom 6.7.78) 


Die Gruppe des Kinderhauses, wie sehr viele andere betroffene Eltern, 
sind hier ganz anderer Meinung. Ihnen ist klar, daß das Interesse 

an Kleinstkindergruppen sehr groß ist und vielfach nur aus Gründen 
der unzumutbar hohen Kosten nicht realisiert werden kann. 
Andererseits wissen sie aber auch, daß das Recht auf Unterstützung, 
das ihnen durch das Subsidiaritätsprinzip zusteht, nicht für sie, 
sondern für die etablierten freien Träger gemacht wurde. 


Dem Verein ist klar, daß in einem gerichtlichen Streit der Staat, 
d.h. die öffentliche Jugendbürokratie, alle möglichen Auswege und 
Ausreden heranziehen würde, um das Kinderhaus von der finanziellen 
Unterstützung fernzuhalten. Dies ist nicht ein Einzelfall, sondern 
seit einigen Jahren die Regel im Umgang des Staates mit freien Ini- 
tiativen. 

Dennoch ist es nützlich, sich den im Subsidiaritätsprinzip zum Aus- 
druck kommenden Standort von freien Initiativen deutlich zu machen, 
denn auch daran läßt sich die Glaubwürdigkeit von "Rechtsstaatlich- 
keit" ablesen. 


2. DER RECHTLICHE STANDORT VON SELBSTHILFEGRUPPEN 


© Der Verein Kinderhaus Ostertor hat in seinem Antrag auf staatliche 
Unterstützung zunächst auf einen allgemeinen verfassungsrechtlichen 
Punkt hingewiesen, nämlich die Sozialstaatsverpflichtung des Staates 
gemäß Art. 20 GG. 

Danach ist es die Aufgabe der staatlichen Organe, für das Wohlerge- 
hen aller Bürger im Rahmen des jeweils ökonomisch Möglichen Sorge 

zu tragen. 


Im JWG findet das Sozialstaatsprinzip seine konkrete Ausgestaltung 
vor allem in den $$ 1 und 3. 

Dort heißt es: "Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur 
leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit." ($ 1,1 
JWG) und weiter: "Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung 
von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit 
freiwilliger Tätigkeit, öffentliche Jugendhilfe ein." ($ 1,3 JWG) 
Der Staat, konkret die Jugendbehörde, hat also, wie auch das Bun- 
desverfassungsgericht hervorhebt, "die für die Wohlfahrt der Jugend 
erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu för- 
dern und gegebenenfalls zu schaffen." (3) 

Nun wird bereits in diesem Satz des BVerfG auf einen zweiten in die- 
sem Zusammenhang wichtigen Punkt hingewiesen, nämlich, daß die 
Jugendbehörde zuerst einmal die freien Initiativen in der sozialen 
Arbeit "anregen und fördern" soll. Die öffentliche Jugendbehörde 
selbst soll nur "gegebenenfalls" Einrichtungen schaffen, nur dann 


=117= 


nämlich, wenn die Anregung und Förderung der freien Initiativen von 
diesen nicht aufgegriffen wird, sich also keine freie Initiative 
bereitfindet, tätig zu werden. 

Im Fall des Kinderhauses Ostertor hat die Jugendbehörde jedoch weder 
die Maßnahme angeregt, noch ist sie bereit, die Initiative zu för- 
dern. Mit diesem Verhalten mißachtet die Behörde das in den §§ 5, 7 
und 9 JWG verankerte Subsidiaritätsprinzip. 


® Dieses gegen den Widerstand von SPD und FDP 1961 durch die damali- 
ge CDU/CSU-Regierung sowohl im JWG als auch im BSHG ($$ 10 u. 93) 
festgeschriebene Prinzip gilt allgemein als reaktionär, ist aber 
dennoch für Selbsthilfegruppen in der Sozialarbeit brauchbar. 

Es besagt, daß der Staat nur dann eigene Einrichtungen und Maßnahmen 
betreiben bzw. durchführen darf und soll, wenn sich nicht ein freier 
Träger (d.h. alle Vereine, Jugendorganisationen, konfessionelle Trä- 
ger usw.) zur Durchführung der jeweiligen Aufgabe bereitfindet. (4) 
Findet sich ein freier Träger bereit, tätig zu werden, dann ist es 
Aufgabe der öffentlichen Träger, den freien Träger in seiner Arbeit 
hinreichend zu unterstützen, wobei "in erster Linie...an finanzielle 
Zuweisungen gedacht ist". (5) 


Seine "klassische Formulierung" (6) fand das Subsidiaritätsprinzip 
in der katholischen Soziallehre, was übrigens auch ein wichtiger 
Grund war, weshalb die SPD und FDP gegen die gesetzliche Verankerung 
votierten. (7) 

Der ideologische Hintergrund des Prinzips geht, wenn es auch erst 
1931 in dem Sozialrundschreiben des Papstes Pius' XI erstmalig for- 
muliert wurde (8), zurück auf den klassischen Liberalismus des 

19. Jahrhunderts. 

Der als 'Gravissimum principium', als "oberster Grundsatz! hervorge- 
hobene Passus des päpstlichen Rundschreibens besagt, daß diejenigen 
Aufgaben, die der einzelne oder kleine Gruppen in der Gesellschaft 
selbst aus eigener Kraft durchführen können, der Staat oder überhaupt 
übergeordnete größere Gruppen in der Gesellschaft nicht an sich reißen, 
den kleinen Gruppen bzw. dem einzelnen wegnehmen sollen. Der einzel- 
ne bzw. die kleinen Basisgruppen in der Gesellschaft sollen "nicht 
behindert, sondern unterstützt, gefördert und nur notfalls ersetzt" 
werden (9), denn ein sofortiges Einsetzen staatlicher Maßnahmen 

im sozialen Bereich würde "die Selbsthilfe der einzelnen und der 
'kleineren'Lebenskreise beeinträchtigen, wenn nicht gar verunmögli- 
chen, und dadurch der Entfaltung der eigenen Kräfte den Weg ver- 
sperren. Solche Hilfe ist nicht die rechte Hilfe, ja überhaupt keine 
echte Hilfe." (10) 


Es geht also um zweierlei: einmal um das Vorzugsrecht der kleinen 
Basisgruppen gegenüber größeren Organisationen und dem Staat. Zum 
anderen geht es um den Rechtsanspruch der "kleinen überschaubaren 
Lebenskreise" (11) auf Subsiduum, auf Hilfeleistung und Unterstützung 
durch den Staat, freilich nur in dem Umfang, daß die kleinen Gruppen 
dadurch nicht absorbiert werden. 


Der Verein Kinderhaus Ostertor hat denn auch in seinem Widerspruch 


zur behördlichen Ablehnung der Unterstützung dieses Recht geltend 
gemacht, indem er an die Behörde schrieb: "Nach einhelliger Auffas- 


-118- 


sung haben die freien Initiativen in der sozialen Arbeit also ... 

a) ein Recht zur Betätigung; 

sie haben 

b) dieses Recht vorrangig gegenüber dem Staat; 

sie haben 

c) ein Recht auf Subsiduum, auf Hilfeleistung durch den Staat. 

In unserem konkreten Fall finden also die im JWG vorgeschriebenen 
Maßnahmen der öffentlichen Jugendbehörden, die sich auf die Ergän- 
zung und Unterstützung der in der Familie begonnenen und dort durch- 
geführten Erziehung richten, ihre konkrete Ausgestaltung in der finan- 
ziellen Unterstützung der zu Recht vorrangig tätig werdenden Initia- 
tive: Kinderhaus Ostertor." 


© Mit einer solchen Argumentation trennen sich Selbsthilfegruppen wie 
das Kinderhaus zunächst einmal von der klassischen Forderung der 
Arbeiterbewegung nach Verstaatlichung des Fürsorgewesens. (12) 

Sie scheinen stattdessen auf Seiten der Reaktion zu stehen. 
Tatsächlich weist beispielsweise die Argumentation eines A.-F.Utz, 
eines sehr heftigen Befürworters des Subsidiaritätsprinzips, auf 

den reaktionären ideologischen Hintergrund des Prinzips hin, den die 
Selbsthilfegruppen ganz gewiß nicht teilen: "In der Abwehr gegen 

den Kollektivisimus, wie überhaupt gegen jeden Übergriff des Staates 
in Bereiche, die ihn nichts mehr angehen, hatte man eine glückliche 
Formel im Subsidiaritätsprinzip gefunden." (13) 

Dieser reaktionär liberalen Forderung nach reduziert sich die Funk- 
tion des Staates auf eine "Nachtwächteridee'" (Lassalle), auf einen 
Staat also, dessen einzige Aufgabe darin besteht, in einer Wächter- 
funktion das Privateigentum und die individuelle Freiheit der Bür- 
ger zu schützen, wobei freilich unterschlagen wird, daß die überwie- 
gende Mehrheit der formal gleichgestellten Bürger eben gar nicht 
über nennenswertes Privateigentum verfügt und sich ihre formale Frei- 
heit ausweist als reale Unfreiheit, als "die völlige Aufhebung al- 
ler individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Indivi- 
dualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sach- 
lichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen - von den sich beziehenden 
Menschen unabhängigen Sachen - annehmen". (14) 

Jeder muß für sich selbst sorgen, so die liberale Ideologie, der 'Wett- 
bewerb der freien Kräfte' garantiert von selbst die gesellschaftliche 
Ordnung im Produktions- wie im Reproduktionsbereich. 

Der Staat hat sich aus den Privatangelegenheiten der Bürger heraus- 
zuhalten, wobei mit "Privatangelegenheit' sowohl Unternehmerfreiheit 
wie psychische und physische Not und Elend gemeint sind. (15) 

Die Linderung von Not und Elend gehört folgerichtig natürlich auch 

in den privaten Bereich. "Die Kräfte des Glaubens, des Liebens, des 
Hoffens" (16) sind aufgefordert, sich um die Notleidenden zu kümmern; 
ihnen ist es überlassen, sich der sozialen Probleme anzunehnen. 


Die Geschichte hat jedoch insbesondere um die Jahrhundertwende sehr 
deutlich gemacht, daß, je krasser die Widersprüche des Kapitalismus 
zu Tage traten, je größer die psychischen und physischen Opfer die- 
ses Systems formaler Gleichheit und Freiheit wurden, desto unhalt- 
barer wurde die liberale Ideologie, desto nötiger und massiver wurden 
die Eingriffe des Staats in Produktions- und Reproduktionsbereich. 

Zu Recht bemerkt Marx: "Was könnte die kapitalistische Produktions- 


-119- 


weise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch 
Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Ge- 
sundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?'" (17) 

Ganz besonders erwiesen sich ja auch mit zunehmender Massenverelen- 
dung die Bemühungen der Privaten Wohltätigkeitsverbände, die sich seit 
Ende des vergangenen Jahrhunderts mehr und mehr zu wenigen großen 
Vereinen konzentrierten (18), als völlig unzureichend, die Massenar- 
mut einigermaßen zu lindern, so daß auch von ihnen die Forderung nach 
finanzieller Unterstützung durch den Staat erhoben wurde, wenngleich 
sie sich andererseits jede Form inhaltlicher Einmischung in ihre teil- 
weise verhehrende pädagogische Arbeit durch den Staat energisch ver- 
baten. (19) 

Gleichzeitig wehrten sich diese Verbände auch heftigst dagegen, daß 
der Staat etwa den Notleidenden direkt Hilfe - materielle Hilfe z.B. 

= zuteil werden ließ. Nicht der Staat sollte den Armen helfen, son- 
dern er sollte den Verbänden helfen, ihre Arbeit an den Armen ver- 
richten zu können. (20) 


Das Subsidiaritätsprinzip sollte also durchaus auch den Staat 
zwingen, die letztendliche Verantwortung für die Linderung von Not 
und Elend zu tragen, da die privaten Wohltätigkeitsverbände das Mas- 
senelend allein nicht einmal mehr halbwegs kaschieren konnten. Inso- 
fern ist die Verantwortung des Staats im sozialen Bereich, die sich 
konkret 1922 bei der Verabschiedung des Reichsjugendwohl fahrtsge- 
setzes niederschlug, nicht allein Resultat der Forderungen der Orga- 
nisationen der Arbeiterklasse und der offensichtlich gewordenen 
katastrophalen Lage des Proletariats, es kam zugleich auch den 
(insbesondere nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg) finanz- 
schwachen Verbänden entgegen, die sich auf diese Weise eine weitge- 
hende Finanzierung ihrer Arbeit durch den Staat sichern konnten. 
Gleichzeitig aber - und dies zeigt die Doppelseitigkeit der politi- 
schen Forderung der Arbeiterklasse nach Verstaatlichung des Fürsor- 
gewesens - ermöglichte die primäre Verantwortlichkeit des Staates 

im sozialen Bereich und sein Entscheidungsprivileg in sozialen Fra- 
gen ihm auch, die in den 20er Jahren an Einfluß und Zulauf gewinnen- 
den Vereine und Hilfsorganisationen der Arbeiterklasse zu reglemen- 
tieren, zu be- und verhindern. (20a-vgl. Autorenkollektiv, Geschich- 
te der Deutschen Arbeiterjugendbewegung; S. 302 ff.; Dortmund 1973) 
Gerade dieser Aspekt staatlichen Aktivwerdens und Verantwortungsüber- 
nahme in der Sozialarbeit erscheint auch heute von zunehmender Be- 
deutung: durch eine Verstärkung staatlicher Aktivitäten und Verant- 
wortung in der sozialen Arbeit läßt sich der Einfluß und die Aktivi- 
täten unbequemer fortschrittlicher freier Initiativen relativ wir- 
kungsvoll und - was die breite Öffentlichkeit angeht - widerspruchs- 
los verhindern und einschränken. Teile der Linken bieten dem bür- 
gerlichen Staat hierbei sogar die Schützenhilfe. 


Das Subsidiaritätsprinzip freilich ermöglichte damals und sichert 
auch heute noch den großen etablierten Verbänden eine relativ un- 
kontrollierte (jedenfalls bezogen auf die inhaltliche Gestaltung, 
Verrichtung ihrer Arbeit. (21) 


® Wenn sich heute Basisinitiativen dieses Prinzip nutzbar machen, 
dann stehen sie freilich nicht auf dem Boden des Liberalismus, sie 


-120- 


füllen vielmehr dieses reaktionäre Prinzip mit neuem Inhalt. 

Es geht ihnen durchaus nicht um eine Privatisierung gesellschaftli- 
cher Probleme, sondern es geht ihnen darum, anstatt die sozialen Pro- 
bleme durch die staatliche Bürokratie in Aktenschränken verwalten zu 
lassen, selbst Lösungsstrategien zu entwickeln, die den Bedürfnissen 
und Interessen der jeweils Betroffenen entsprechen, statt zu wider- 
sprechen. 


Damit rücken die Basisinitiativen aber ab von der traditionellen For- 
derung der Arbeiterbewegung nach Verstaatlichung des Fürsorgewesens, 
die aber auch nicht losgelöst vom historischen Kontext, in dem sie 
erhoben wurde, gesehen werden darf. 

Denn auch die Kommunisten waren skeptisch gegenüber staatlicher 
Haupt- und Alleinverantwortung in der sozialen Arbeit. In der Reichs- 
tagsdebatte 1922 um die Verabschiedeung des RJWG drückten sie ihre 
Bedenken deutlich aus: "Wir Kommunisten stehen prinzipiell auf dem 
Standpunkt..., daß die Erziehung des Nachwuchses, der Schutz der Ju- 
gend in ihrer Gesamtheit, Pflicht allein der Gesellschaft und des 
Staates ist. Solange dies aber nicht durchgeführt ist - und im kapi- 
talistischen Staat läßt es sich nicht durchführen -, müssen wir uns 
bei jeder Kontrolltätigkeit fragen: von wem und wie wird diese Kon- 
trolle durchgeführt? Da können wir erklären, daß wir eben kein Ver- 
trauen zu den Organen haben..." (22) 

Aber trotz dieses Mißtrauens war die Forderung der Arbeiterbewegung 
klar: '"Erziehungsverpflichtet ist in erster Linie der Staat als Ver- 
treter der Gesellschaft" (23), und dementsprechend sind "alle pri- 
vaten Anstalten und Einrichtungen der Jugendfürsorge", so die KPD- 
Forderung 1931 im Weimarer Reichstag, "aufzuheben oder... in öffent- 
liche umzuwandeln." (24) 


Auch heute fordern Teile der Linken die Verstaatlichung aller priva- 
ten Einrichtungen in der Sozialarbeit. 

Sie begründen ihre Forderung im wesentlichen mit drei Argumenten: 

l. Die Hauptnutznießer des Subsidiariatsprinzips sind die traditio- 
nellen konfessionellen und bürgerlichen Verbände, deren Arbeit im 
Dienste des Erhalts der Klassenstruktur der Gesellschaft stehe und 
die deshalb zerschlagen werden müssen. 

2. Der Kampf um strukturelle und inhaltliche Veränderungen der So- 
zialarbeit kann nicht in Basisinitiativen ausgetragen werden, sondern 
in den staatlichen Institutionen selbst. 

3. Es sei notwendig, darum zu kämpfen daß die Arbeiterklasse und 
seine Organisation die Kontrolle über die jeweiligen Maßnahmen und 
Einrichtungen der Sozialarbeit selbst übernehme. Dies sei jedoch in 
privaten Einrichtungen nicht realisierbar. 


Bei einer solchen Argumentation wird freilich übersehen, daß unter 
den heutigen Bedingungen erstens keinerlei Chance besteht, die Macht 
der traditionellen freien Verbände zu brechen, denn sie entlasten 
nicht nur in finanzieller Hinsicht den Staat (etwa dadurch, daß sie 
billigere Arbeitskräfte - Nonnen, Mönche usw. - in ihren Einrichtun- 
gen einsetzen können als der Staat), sondern sie sind auch "in ihrer 
Eigenschaft als Ideologieträger... äußerst nützlich für die Aufrecht- 
erhaltung der Klassengesellschaft". (25) Der bürgerliche Staat hat 
heute überhaupt kein Interesse, diesen Verbänden ihre Machtstellung 
zu nehmen. Er ist auf ihre Arbeit angewiesen, und das wissen die Ver- 


-121- 


bände. (26) Die Forderung nach "mehr Staat" wird, bei realistischer 
Einschätzung nicht zur Entmachtung der traditionellen freien Träger 
führen, sondern sie wird die bereits eingesetzte finanzielle Aus- 
trocknung und Verhinderung von Basisselbsthilfen weiter verstärken. 
(27) 


Auch die Forderung nach einem Kampf um Veränderung innerhalb der 
Bürokratie erscheint angesichts der massiven politischen Disziplinie- 
rungen und Bespitzelungen, sowie auf der Basis der Erfahrungen, die 
in der Zeit gemacht wurden, als die sozial-liberale Koalition 

von Reformen sprach, nicht sehr vielversprechend zu sein. Die Res- 
sourcen für Reformen sind, dies hat sich seit Anfang der 70er Jahre 
deutlich gezeigt, eng begrenzt. Und eine Reform der Sozialarbeit 

wird von der Bürokratie eben nicht unter dem Gesichtspunkt einer 

mehr den Bedürfnissen der Klienten entsprechenden Arbeit durchgeführt, 
sondern unter dem einer weiteren Rationalisierung und Effektivierung 
sozialer Kontrolle und politischer Indoktrination zugunsten des Er- 
halts der Klassenstruktur. Und auch unter diesem Aspekt dient die 
Forderung nach "mehr Staat" dazu, anstelle der etablierten Verbände 
die Basisinitiativen zu zerschlagen. 


Es soll hier durchaus nicht bestritten werden, daß es richtig und 
wichtig ist, in den öffentlichen Bürokratien den Kampf um Veränderun- 
gen zu führen, aber als einzige Alternative zu den derzeitigen Be- 
dingungen im Bereich der Sozialarbeit erscheint dies nicht ausrei- 
chend, vielmehr ist es ebenso notwendig, neue - alternative - Formen 
sozialer Arbeit heute zu erproben. Damit kann nicht gewartet werden 
bis der Stand des Kampfs in den Behörden eine den Interessen von So- 
zialarbeit Betroffenen entsprechendere Sozialarbeit ermöglicht. 
Weiterhin erscheint es notwendig, sich die Ausgangssituation für die 
Arbeit von Selbsthilfegruppen vor Augen zu führen. Es ist einer- 
seits das Nichtvorhandensein von ausreichenden und geeigneten Ein- 
richtungen und Angeboten seitens der staatlichen Jugend- und Sozial- 
verwaltung, und andererseits sind es die den Bedürfnissen und Inter- 
essen der Klienten widersprechenden Zustände in den etablierten staat- 
lichen und kirchlichen Einrichtungen, mit denen sich die Betroffenen 
nicht abfinden wollen. Sie wollen sich nicht (länger) von Bürokraten 
verwalten, vertrösten und bevormunden lassen, vielmehr wollen sie 
selbst Einfluß nehmen auf die jeweiligen Maßnahmen der Sozialarbeit, 
deren sie bedürfen. 

Und diese Kontrolle, ob in Kinderläden oder Jugendzentren, ob für 
Arbeitslose oder Obdachlose u.a., wollen die Betroffenen nicht 
(länger) aus der Hand geben, denn die Erfahrung in den staatlichen 
Institutionen zeigt ihnen, daß dort heute keine den Interessen der 
Betroffenen adäquate soziale Arbeit geleistet wird und werden kann, 
und daß die Kontrolle nicht von ihnen selbst, sondern von Ausschüs- 
sen wahrgenommen wird, die ihre Interessen zer- und stattdessen die 
Interessen des bürgerlichen Staats und des Kapitals vertreten. (28) 


Die schlechten Erfahrungen haben sie mißtrauisch gemacht gegenüber 
staatlicher Sozialarbeit, und: erfinderisch, was die Selbstorgani- 
sation alternativer Hilfe angeht. Und gerade hiermit sind sie auch 
mehr als nur spontane sich heute bildende und übermorgen, nach ge- 
taner Arbeit, wieder auflösende Selbsthilfegruppen. Sie sind Signal 
und Pionier für eine neue Form des Angehens von Mißständen und Lösens 


-122= 


von Problemen: es geht heute nicht mehr an, daß man nach den sog. 
verantwortlichen politischen Instanzen schreit , nach dem Staat 

ruft, sondern es ist höchste Zeit, selbst etwas zu tun, selbst aktiv 
zu werden; denn gerade dies hatte der Sozialstaat den 
Bürgern ja ausgeredet, in dem er für alle Probleme und Mißstände 
sich selbst und allein zuständig erklärte, die Bürger gerade hier- 
durch auch entmündigte. Gewiß ist es richtig, die erkämpften REchts- 
ansprüche gegenüber dem Staat durchzusetzen, falsch ist es aber, sich 
stets auf den Staat, auf sein Aktivwerden zu verlassen. Gerade auch 
in Hinblick auf eine gesellschaftliche Perspektive, in der die Indi- 
viduen mehr ihren eigenen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend le- 
ben, und die noch erst erkämpft werden muß, ist es notwendig, in 

der Praxis die Bedingungen zu studieren d.h. auch die Probleme und 
Schwierigkeiten, die auftreten, wenn die Menschen ihr Schicksal, d.h. 
zunächst die Lösung ihrer aktuellen Probleme selbst in die Hand neh- 
men und dafür nicht den staatlichen Gewalt- und Kontrollapparat be- 
mühen. Auch dies muß gelernt sein und wird bereits gelernt. 


© Die Abhilfe eines Mangels und die Entwicklung von Lösungsstrate- 
gien sozialer Probleme ist auch die Intention der Gruppe des Kinder- 
hauses. 

Es geht der Gruppe um die Entwicklung und Erprobung alternativer 
Kleinstkindpädagogik. 

Nicht dagegen geht es ihr darum, ein "Modellversuch" einer künftig 
staatlich organisierten Kleinstkindererziehung zu sein, wie sie 
vergleichsweise als staatlich betriebene Vorschulerziehung aus der 
Kinderladenbewegung hervorgegangen ist. 


Denn gerade in der Geschichte der Kinderladenbewegung (ebenso wie 

z.B. auch in der Release-Geschichte im Drogensektor) wird das Inter- 

esse und die Zielrichtung der staatlichen Bürokratie an solchen "Mo- 

dellversuchen" deutlich: 

- Unterordnung der fortschrittlichen pädagogischen Ansätze unter 
staatliche Rationalisierungs- und Effektivierungsinteressen in 
der Sozialarbeit; (29) 

- Entpolitisierung der Arbeit; 

- Vereinzelung der Initiativen und Reduktion "auf ihre weitere Rolle 
als "beachtenswertes familienpolitisches Modell! im Rahmen der 
Senatspolitik'" (30); 

- Erhalt des Sozialstaatsglaubens in der Öffentlichkeit durch schein- 
bar großzügige, jedoch zeitlich eng begrenzte und mit zunehmender 
inhaltlicher Kontrolle verbundene finanzielle Unterstützung sol- 
cher Modelle durch die öffentliche Verwaltung; 

- bewußtseinsmäßige Einpassung der Sozialarbeiter in die Denk- und 
Handlungsweisen der Amtshierarchien durch langatmiges Taktieren 
um Formalien u.ä. (so nach dem Motto: "Die sollen sich erst ein- 
mal die Hörner abstoßen".) 


3. SCHLUSSFOLGERUNGEN 


© Es erscheint heute wenig klug, angesichts der Praxis öffentlicher 
Sozialarbeit, angesichts der massiven politischen Disziplinierungen 
und Kontrollen der im Bereich der Sozialarbeit Tätigen durch die 


-123- 


Hierarchie und politischen Gesinnungsüberwacher die weiter fortschrei- 
tende Verstaatlichung der Sozialarbeit zu fordern oder zu begrüßen. 


© Es wird deutlich, daß die staatliche Verwaltung in Bedrängnis ist: 
einerseits ist das Subsidiaritätsprinzip nützlich für den Staat, weil 
es jene etablierten bürgerlichen und konfessionellen Verbände schützt 
und bevorrechtet, die als willige und eifrige Helfer der ideologi- 
schen Indoktrination dazubeitragen, die herrschende Ideologie aufrecht- 
zuerhalten, andererseits ist die wörtliche Anwendung des Subsidiari- 
tätsprinzips, wie sie den Organen des Staats mehr und mehr von den 
tatsächlich "kleinen überschaubaren Lebenskreisen' entgegengehalten 
wird, dem Staat mehr als unangenehm. So hatte er sich das mit dem 
Subsidiaritätsprinzip nicht vorgestellt, so war das nicht gemeint 
gewesen mit der "freiwilligen Tätigkeit", die angeregt und gefördert 
werden sollte, sowas hatte man nicht beabsichtigt, daß jetzt wirk- 
lich kleine Gruppen an der Basis die Lösung sozialer Probleme selbst 
in die Hand nehmen und in ihrem Interesse angehen. 

Der bürgerliche Staat ist gezwungen, sich Gegenstrategien zu überle- 
gen. Es bieten sich zwei Möglichkeiten an, wie die Geschichte der 
Kinderläden und auch die der Release- Gruppen zeigt: entweder Inte- 
gration der Initiativen (etwa über die Förderung und Reglementierung 
als Modellversuch) in das staatliche Konzept von Sozialverwaltung, 
oder aber finanzielle Austrocknung bis hin zur Kriminalisierung der 
Selbsthilfegruppen. 

Bei wirklich fortschrittlicher - alternativer - Sozialarbeit sieht 
die öffentliche Verwaltung seit jeher rot. 


© Es ist angesichts der vorherrschenden Praxis in der Kleinkindpäda- 
gogik dringend notwendig, Alternativen zu erproben und dafür Ein- 
richtungen zu schaffen. Diese Aufgabe sollte aber nicht aus den Hän- 
den gegeben werden, sie sollte im Interesse einer wirklichen Alter- 
native selbst durchgeführt werden. 


© Es ist richtig und gerechtfertigt, wenn sich Selbsthilfegruppen 
mit der Forderung nach Unterstützung an die öffentlichen Verwaltun- 
gen wenden, denn die Argumente, die sie vorzutragen haben, sind zu- 
treffender als die der traditionellen Spitzenverbände, denn sie 

sind die tatsächlich dem jeweils konkreten Problem nahestehenden Ba- 
sisgruppen, denen nach dem Subsidiaritätsprinzip der Vortritt ge- 
bührt, die ein REcht auf Unterstützung und Respekt haben. 


® Die Erfahrungen in der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gegen- 
über Selbsthilfegruppen machen allerdings deutlich, daß sich die Ba- 
sisgruppen nicht verlassen können auf die Durchsetzbarkeit ihres 
Rechtsanspruchs. 

Stattdessen müssen sie sich auf ihre eigenen Kräfte verlassen. Sie 
laufen damit aber vielleicht auch weniger Gefahr, mit der staatli- 
chen Unterstützung gleich auch das Ende von Alternative eingekauft 
zu haben. 

Letzteres ist ein Lernprozeß, den die Selbsthilfegruppen machen 
(müssen). 


-124- 


4. ANMERKUNGEN 


(1) Ein Kernpunkt des im GG Art. 20 verankerten Rechtsstaatsprin- 
zip ist die Bindung der Legislative und Exekutive (also der 

Rechtssprechung und öffentlichen Verwaltungen) an das bestehen- 
de Recht. Eine Änderung des Art. 20 GG ist gemäß Art. 79 GG 
unzulässig. Indem öffentliche Jugendverwaltungen Grundsätze des 
JWG mißachten, wie im Fall Kinderhaus Ostertor Bremen das in 
$$ 5, 7, 9 JWG festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip, verletzen 
sie die Verfassung. 

(2) Z.B. Kinderhaus Heinrichstaße Hamburg ; vgl. päd.extra-sozialar- 
beit 2/78, S. 10 
z.B. SSK Köln; vgl. päd.extra-sozialarbeit, 3/77, S. 15 
z.B. Initiativgruppe von Sozialhilfeempfängern in Scharnhorst; 
vgl. päd.extra-sozialarbeit 4/77, S. 32 
z.B. die Frankfurter Selbsthilfegruppe '"Sozialtherapie'; vgl. 
päd.extra-sozialarbeit 8/77, S. 10 u.a.m. 

(3) Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht, 22 Bd.; S. 200; 
Tübingen 1968 

(4) Gegen den Vorrang der freien gegenüber den öffentlichen Trägern 
haben verschiedene Bundesländer Verfassungsbeschwerde eingelegt. 
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch am Subsidiaritätsprinzip 
festgehalten und die Verfassungsmäßigkeit betont. In der Begrün- 
dung der Entscheidung des BVerfG heißt es: Das Jugendamt soll 
"dort, wo geeignete Einrichtungen der Träger der freien Jugend- 
hilde bereits vorhanden sind, die schon allein gewährleisten, daß 
die für die Wohlfahrt der Jugend erforderlichen Einrichtungen aus- 
reichend zur Verfügung stehen, keine Mittel für die Schaffung 
eigener Einrichtungen einsetzen, sondern vielmehr seine Mittel 
für die Förderung der freien Einrichtungen verwenden" und weiter: 
"Das Jugendamt soll aber nur dann selbst Einrichtungen schaffen 
und Veranstaltungen vorsehen, wenn seine Anregungen und Förde- 
rungsmaßnahmen bei den Trägern der freien Jugendhilfe nicht zum 
Ziel führen"! (BVerfGE, a.a.0. S. 200f.) 

(5) F. Harrer, Jugendwohlfahrtskunde; S. 37; Darmstadt 1973 

(6) J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht; S. 18 
Berlin 1968 

(7) In der Debatte um die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips ins 
BSHG sagte der SPD-Abgeordnete Metzger im Bundestag: "Sie (die 
CDU/CSU, d.V.) wollen mit diesem Gesetzentwurf ein bestimmtes 
Ordnungsbild, das in der katholischen Kirche entwickelt worden 
ist, für alle verbindlich machen... Im Grunde genommen geht es 
doch darum, daß gewisse Verbände das gern möchten, was sie dem 
Staat und den Gemeinden vorwerfen: sie möchten möglichst viel Macht 
bekommen und von dieser Macht möglichst viel Gebrauch machen." 
(Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Bd. 49; 
157. Sitzung; S. 9027ff, Bonn 1961 

(8) In der Sozialenzyklika“*Quadragesimo anno"’wird in Passus 79 f. 
der Grundsatz der Subsidiarität am deutlichsten formuliert. Wört- 
lich heißt es dort: Es muß doch allzeit unverrückbar jener oberste 
sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht 
zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzel- 
mensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften lei- 
sten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zu- 
gewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, 


=125= 


was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und 

zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete 
Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nach- 
teilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Ge- 
sellschaftstätigkeit ist ja ihren Wesen und Begriff nach subsi- 
diär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf 
sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." (zitiert nach: 
0O.v.Nell-Breuning, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 

Bd. 7, S. 826; Freiburg 1962) 

(9) E. Welty, Die Sozialenzyklika Johannes! XXIII; S. 36; Freiburg 
1961 

(10)0.v.Nell-Breuning, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 

Bd. 7; Spalte 827; Freiburg 1962 (6. Aufl.) 

(11)0.v.Nell-Breuning, Zur sozialen Frage; S. 30; Freiburg 1949 

(12)Beispielsweise forderte Clara Zetkin 1922 im Weimarer Reichstag: 
"Erziehungsverpflichtet ist in erster Linie der Staat als Vertre- 
ter der Gesellschaft" (Zetkin, Die Schulforderungen der kommuni- 
stischen Partei Deutschlands; in: Das proletarische Kind; S. 135; 
Westberlin 1974). Ein Autorenkollektiv stellte 1971 bezogen auf 
die großen freien Verbände, den tatsächlichen Hauptnutznießern 
des Subsidiaritätsprinzips, fest: sie seine "Instrumente der Unter- 
drückung der Arbeiterklasse" (Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend. 
Fürsorgeerziehung im Kapitalismus; S. 218; Frankfurt/M. 1974) 

(13)A.F. Utz, Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips; 

S. 126; Heidelberg 1956 

(14)K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie; S. 545; 
Berlin (Ost) 1974 

(15) entfällt 

(16)Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 157- Sitzung; Rede des 
CDU-Abgeordneten von Bodelschwingh; S. 9026; Bonn 1961 

(17)K. Marx, Kapital I, MEW 23; S. 505; Berlin (Ost) 1972 

(18)vgl. Ahlheim u.a., Gefesselte Jugend, a.a.0.; S. 49 

(19)ebd. S. 48 

(20)vgl. ebd. S. 48, sowie A.F. Utz, Formen und Grenzen..., a.a.0., 
S. 28 f. Utz meint: "Dabei ist wichtig, daß sie (die freien Ver- 
bände, d.V.) ihren Anspruch nicht etwa nur mit dem Hinweis auf 
den Armen begründen, dem sie helfen wollen, sondern vielmehr auf 
ihr freies Recht, sozial tätig zu sein. Wenn also der Staat diesem 
Begehren nachkommt, so mag er selbst vielleicht an die vielen 
Armen denekn,die ihm sonst zur Last fallen würden. Das aber ist, 
so beton en die freien Wohlfahrtsverbände, ... nicht der nächste 
und eigentliche Grund, warum der Staat ihre Tätigkeit zu unter- 
stützen habe. Unterstützt werde zunächst und in erster Absicht 
die soziale Tätigkeit der freien Verbände." (ebd. S. 28) 

(21)In der Debatte um die Verabschiedung des RJWG 1922 im Weimarer 
Reichstag sagte der KPD-Abgeordnete Heydemann: "Ich will Sie nur 
an die furchtbare Schreckensherrschaft der Fürsorgegewaltigen ge- 
genüber den ihnen anvertrauten Wehrlosen und Schutzlosen erinnern, 
die in Bayern buchstäblich zu Tode gequält worden sind, unter 
der christlichen Fürsorge". (Reichstagsprotokolle, 226. Sitzung, 
1l. Juni 1922; S. 7814) Tatsächlich hatte sich der Staat lange Zeit 
aus der inhaltlichen Arbeit der privaten Wohltätigkeitsvereine 
herausgehalten, und erst eingegriffen, als die Staatssicherheit 
gefährdet wurde. Es ist insofern allein schon kein Wunder, daß 
die Kommunisten sich aufs Heftigste für die Entprivatisierung sol- 
cher Anstalten einsetzten. 


-126- 


Prokla 


Zeitschrift für politische Ökonomie 
und sozialistische Politik 


Neue Phase 
der Gewerkschaftspolitik? 


Einzelheft 
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Rotbuch 
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(22)ebd. Reichstagsprotokolle, a.a.0. S. 7814 

(23)Clara Zetkin, Die Schulforderungen der Kommunistischen Partei 
Deutschlands, 24. Januar 1922, Rede im Reichstag; in: Das Prole- 
tarische Kind; S. 135; Berlin (West) 1974 

(24)Ahlheim u.a., a.a.0. S. 318 

(25)ebd. S. 208 

(26)aus dem Informationsmaterial der Bundesarbeitsgemeinschaft der 
freien Wohlfahrtspflege wird anhand von Zahlen die große Bedeu- 
tung der freien Wohlfahrtsverbände deutlich: 

z.B. 60 % aller Alten- und Pflegeheime, 
75 % aller Heime für Kinder und Jugendliche werden von 
diesen Verbänden getragen; in allen Einrichtungen der freien 
Wohlfahrtsverbände sind insgesamt 395.000 Menschen beschäf- 
tigt. 

(27)immer häufiger versucht die staatliche Bürokratie die Förderung 
von Initiativen mit dem Hinweis zu verweigern, es bestehe kein 
Bedarf. So z.B. gegenüber dem Kinderhaus Heinrichstr. in Hamburg, 
und so ja auch gegenüber dem Kinderhaus Ostertor. 

(28)Beispielsweise setzt sich in Bremen der Jugendwohlfahrtsausschuß 
zusammen aus: Vertretern der freien Vereinigungen für Jugend- 
wohlfahrt, dem Senator für Soziales, Jugend und Sport, Vertretern 
der in Bremen wirkenden Jugendverbände, Vertretern der evangeli- 
schen Kirche, Vertretern der kath. Kirche, Vertretern der jüdi- 
schen Kultusgemeinde und 11 "in der Jugendwohlfahrt erfahrene 
Männer und Frauen aller Bevölkerungskreise", Vertreter des Landes- 
jugendamtes, des Gesundheitsamtes, der Vormundschafts- und Jugend- 
richter, und einem Lehrer. (vgl. Gesetz zur Ausführung des Ge- 
setzes für Jugendwohlfahrt; Brem. GBL. S. 184) 

(29) entfällt 

(30)Harns u.a., Alternative Pädagogik oder Reformbürokratie? 
in: Sozialmagazin 3/78; S.19, 








Hole SAGEN, SIE SIND SECHZIG JAHRE 


z ALT UMD HATTEN FÜNFUNDSECHZIG JAHRE 
IN DER ARBEITERWOHLFAHRT GEARBE ITET, 
-5 4 s 
jE +) DAS IST DOCH GAR NICHT MÖGLICH. DOCH, 
IR 





u DOCH, SIE MÜSSEN DIE ÜBERSTUNDEN 
SI a] MP miTRechwen” 


ÖTV Kreisverband Stuttgart/ Betriebsgruppe Arbeiterwohlfahrt 


KOLLEGEN KÄMPFEN UM DIE 40 - STD.-WOCHE 
AWO WILL LEHRLINGSHEIM SCHLIESSEN 


Am 1.3.79 teilte die Geschäftsführung der Arbeiterwohlfahrt, Kreis- 
verband Stuttgart, dem Betriebsrat den Beschluß des Geschäftsführen- 
den Vorstands der Arbeiterwohlfahrt mit, das Jugendwohnheim "Andreas- 
Dreher-Heim" (ADH) Ende Juni zu schliessen. Dies, obwohl Heimplätze 
für Lehrlinge in Stuttgart dringend benötigt werden und obwohl durch 
eine Schließung die Arbeitsplätze von 14 Kollegen akut gefährdet 
sind! 

Der vorliegende Beschluß stellt den bisherigen Höhepunkt einer Aus- 
einandersetzung dar, die im Herbst 1978 damit begonnen hatte, daß 
Kollegen und Betriebsrat nicht länger den seit Jahren regelmäßig 
anfallenden Überstunden zustimmten. 

Die Forderung nach Einhaltung der 40-Std.-Woche und der Einstellung 
von mehr Personal wurde aufgestellt. 


Mit der Veröffentlichung des Konflikts wollen wir in erster Linie 
die Kollegen im ADH unterstützen. Darüber hinaus finden solche Aus- 
einandersetzungen aber nicht nur bei uns statt. 

Zumindest hier in Stuttgart ist bekannt, daß das Personal in den 
Krankenhäusern den Kampf aufgenommen hat gegen katastrophale Arbeits- 
bedingungen. Ähnliche Auseinandersetzungen wird es sicher - ob verein- 
zelt oder von ganzen Belegschaften - in kirchlichen und städtischen 
Wohnheimen, in Kinderheimen usw. geben. Eben dort, wo von dem Perso- 
nal nach wie vor verlangt wird, weit über 40 Stunden zu arbeiten und 
das meist unter verheerenden Bedingungen und oft ohne Bezahlung. Be- 
sonders betroffen sind die Einrichtungen, wo die gesamte Woche über 
und auch nachts in verschiedenen Schichten gearbeitet werden muß. 


Diese Bewegung hat inzwischen einzelne Einrichtungen aus allen Be- 
reichen der Sozialen Arbeit ergriffen. Dies ist nur zu verstehen, 
wenn sie eingeordnet wird in die weiterreichenden gewerkschaftli- 
chen Kämpfe gegen die Ausdehnung und Intensivierung der Arbeit. 

Die Streiks der Stahl- und Druckarbeiter und die gewerkschaftlich 
verankerte Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnaus- 
gleich stehen dabei im Mittelpunkt. 

Für den gesamten sozialen Bereich kommt hinzu, daß viele Illusionen 
über den "Ausbau des Sozialstaats" schwinden. Die Zeit der "großen 
Reformen" ist dahin und damit auch die Illusion, durch Sozialarbeit 
"gesellschaftliche Veränderungen bewirken zu können". Für Gottes 
Lohn ist inzwischen kaum mehr jemand bereit, seine Arbeitskraft zu 
verkaufen. Aber auch für den "demokratischen Sozialismus" der Ar- 
beiterwohlfahrt sind zunehmend weniger Kollegen bereit, ihre Arbeits- 
kraft übermäßig und unbezahlt zu verausgaben. 

Zwar gibt es das Argument, man müßte seinen Arbeitseinsatz doch an 
den Klienten orientieren und soziale Arbeit erfordere eben ein sehr 
hohes persönliches Engagement. Sinnvolle soziale Arbeit, was immer 


-129- 


auch darunter verstanden wird, setzt aber doch gerade voraus, daß 
erträgliche Arbeitsbedingungen erkämpft werden. 

Der Kampf um Lohn und Arbeitsbedingungen gewinnt größere Kraft und 
Bedeutung, weil die Beschäftigten im sozialen Bereich sich mehr und 
mehr darüber bewußt werden, daß sie in einem Lohnverhältnis stehen, 
in dem der Dienstherr einen bestimmten Preis zahlt, für den die Ar- 
beitskraft verausgabt werden muß. 

Wir haben diese Dokumentation erstellt, um einen Beitrag zur Aufhe- 
bung der augenblicklich existierenden Zersplitterung und Vereinze- 
lung dieser Auseinandersetzung zu leisten. Um längerfristig ein ge- 
meinsames Vorgehen zu ermöglichen, müssen Kontakte und ein Austausch 
geschaffen werden, sowohl zwischen verschiedenen Einrichtungen und 
Verbänden, als auch besonders innerhalb der Arbeiterwohlfahrt in 

der BRD. 

Im folgenden dokumentieren wir den Verlauf der Auseinandersetzungen 
um das Adreas-Dreher-Heim in Stuttgart. 


DER AWO-KREISVERBAND STUTTGART 


Die Verbände der Arbeiterwohlfahrt sind eingetragene Vereine auf 
Kreis-, Bezirks- oder Bundesebene. In allen Teilen der Bundesrepu- 
blik ist die AWO auf diesen drei Ebenen Träger verschiedenster Ein- 
richtungen für Jugend- und Sozialhilfe. Die Arbeit wird von ehren- 
und hauptamtlichen Mitarbeitern ausgeführt. 

Der Kreisverband (KV) der AWO in Stuttgart ist folgendermaßen struk- 
turiert: 

Neben ehrenamtlich betriebener Arbeit mit Mitgliedern in Stadttei- 
len, führt der KV eine ganze Reihe professioneller Einrichtungen 
(Kindergärten/Horte,Kinder- und Jugendarbeit, Betreuung und Kurse für 
ausländische Jugendliche, Heimunterbringung für Zuwanderer und Lehr- 
linge, Altenarbeit, Familien- und Kindererholung etc.), deren Ver- 
waltung zentral geleistet wird. In diesen Einrichtungen sind z.Zt. 
insgesamt ca. 160 Mitarbeiter beschäftigt - der Stuttgarter KV der 
AWO ist relativ groß. 


Vor etwa fünf Jahren haben gewerkschaftlich organisierte Kollegen/ 
innen angefangen, eine gesetzliche und gewerkschaftliche Interessen- 
vertretung aufzubauen, die jetzt intensiv und kontinuierlich arbei- 
tet: 

© Wir haben einen Betriebsrat (7 Mitglieder, die meisten gewerkschaft- 
lich organisiert), der sich konsequent einsetzt für die Belange der 
Beschäftigten. 

© Teile der gewerkschaftlich organisierten Kollegen/innen arbeiten 

in einer ÖTV-Betriebsgruppe, die sich 14-tägig trifft, zusammen mit 
Teilen des Betriebsrats. Dort werden gewerkschaftliche und betrieb- 
liche Probleme besprochen (z.B. Lohntarifverhandlungen, Disziplinie- 
rungsmaßnahmen des Arbeitgebers, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Pro- 
bleme aus den Einrichtungen etc.). Der Vertrauensleutekörper (7 VL 
aus verschiedenen Einrichtungen) ermöglicht es, die Probleme der zer- 
splitterten Betriebsteile in der Betriebsgruppe zusammenzufassen und 
gemeinsam vorzugehen. Über die Vertrauensleute und eine Kreisdele- 
gierte beteiligen wir uns betriebsübergreifend an der Gewerkschafts- 
politik der ÖTV-KV Stuttgart und haben so auch Kontakt zu Kollegen 

in anderen Einrichtungen. 


-130- 


WER WOHNT IM LEHRLINGSWOHNHEIM DER AWO ? 


Es sind 70 männliche Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, die eine 
Lehre machen: z.B. 
© Jugendliche aus Familien mit sozialen Schwierigkeiten, aus der 
Heimerziehung, Halb- oder Vollwaisen. 
© Jugendliche, die in Stuttgart eine Lehrstelle gefunden haben, de- 
ren Familien aber irgendwo anders wohnen. 
© Der größte Teil sind Auszubildende, die nach Stuttgart kommen müs- 
sen, um die Berufsschule im Block (Kursdauer früher 6, jetzt 
4 Wochen) zu besuchen. Sie lernen Berufe, für die es in ihrer Ge- 
gend keine entsprechenden Berufsschulen gibt. Im ADH wohnen z.B. 
Zimmerleute, Former, Vermessungstechniker, Modellbauer und Azubis 
aus Bauberufen. Teilweise kommen sie aus ganz Baden-Württemberg. 
Alle diese Jugendlichen sind auf eine Unterbringung im Heim ange- 
wiesen. 
Im Zuge der Lehrstellenverknappung bei gleichzeitiger Zunahme der 
Schulabgänger sind immer mehr Jugendliche gezwungen, Berufe zu erler- 
nen, in denen es noch vor ein paar Jahren wenig Nachfragen gab, z.B. 
Zimmerer oder Former. Die Zahl dieser Auszubildenden ist gewachsen 
und damit auch die Nachfrage nach Wohnheimplätzen für die Zeit des 
Blockschulunterrichts in Stuttgart. So ist das Heim bis auf kurze 
Ausnahmen, gerade in letzter Zeit voll belegt. Einige der Lehrlinge 
haben schon Schwierigkeiten, im Juni/Juli, wenn sie wieder nach Stutt- 
gart kommen müssen, eine Wohnmöglichkeit zu finden, weil das Heim 
jetzt schon vollkommen ausgebucht ist. 


WAS BIETET DAS HEIM ? 


Die Tagessätze für die Unterbringung und Verpflegung werden von der 
Pflegesatzkommission des Landes festgelegt und betragen z.Zt. 24.70 DM. 
Für die Berufsblockschüler bezahlt davon 50 % das Oberschulant, 

den Rest müssen sie selbst tragen oder ihr Betrieb; für die anderen 
zahlt das Jugend- oder Sozialamt oder sie bezahlten selbst, dann 
einen niedrigeren Tagessatz, der von der AWO festgelegt wurde. 

Die Heimbewohner erhalten Vollverpflegung. In der heimeigenen Küche 
sind zwei Mitarbeiterinnen und ein ZdL beschäftigt. Die Doppelzim- 
mer und sämtliche Gemeinschafträume werden vom Wirtschaftspersonal 
(4 Putzfrauen) gereinigt, das auch die Betten bezieht. Im Haus ist 
noch eine Wäscherei untergebracht (3 Mitarbeiterinnen), in der für 
alle AWO-Einrichtungen des KV gewaschen und gebügelt wird. 


ARBEITSBEDINGUNGEN DER PÄDAGOGISCHEN MITARBEITER 


Wie in den meisten anderen Heimen auch, muß die Heimleitung (z.Zt. 

4 Pädagogen und 1 ZdL) in Schichten, an Samstagen, Sonn- und Feier- 
tagen, incl. Nachtbereitschaften, sprich: rund um die Uhr arbeiten. 
Außerdem fallen immer eine ganze Anzahl Überstunden an, weil sonst 
immer etliche Aufgaben unerledigt blieben. Obwohl uns nach dem Man- 
teltarifvertrag ÖTV/AWO Zeitzuschläge für Arbeit an Wochenenden, 

für Nachtarbeit und Überstunden zustehen, wurden diese erst auf un- 
ser Drängen hin ausbezahlt, nachdem wir schon ein bis zwei Jahre ge- 
arbeitet hatten. 

Feiert einer Überstunden ab,ist krank oder im Urlaub, müssen die an- 
deren gleich mehr arbeiten, so daß die Überstunden immer nur im 


-131- 


Kreis herumgeschoben werden, Überschneidungen von Früh- und Spät- 
schichten - die einzige Zeit, in der alle Mitarbeiter zusammen sind 

- sind erforderlich, um sich über Vorgefallenes zu informieren, 

sich abzusprechen und die Arbeit zu planen. Schichtdienst ergibt sich 
daraus, daß die Heimleitung Verwaltungsaufgaben zu erledigen hat und 
durch die pädagogische Arbeit, die abends stattfindet wie z.B. Frei- 
zeitangebote in- und außerhalb des Hauses, Gespräche mit einzelnen 
oder Gruppen, Schlichtung von Auseinandersetzungen, Beratung und 
Unterstützung von Jugendlichen in schwierigen Lagen. 


Der Personalstand reicht nicht aus, um die vielfältigen Aufgaben zu 
erledigen und die erforderlichen Dienstzeiten abzudecken. Personal- 
abbau und Arbeitsintensivierung verschärften das Problem in den letz- 
ten drei Jahren: 

Gab es für Kleinreparaturen und Hausinstandhaltung vor einigen Jah- 
ren noch einen Handwerker, bzw. dann einen ZdL, oder für die Anlei- 
tung des Wirtschaftspersonals und die ganze Organisation der Raum- 
pflege eine Mitarbeiterin, so hat inzwischen die Heimleitung diese 
Aufgabengebiete voll übernommen, ohne daß sie personell aufgestockt 
worden wäre. Im Gegenteil: Im selben Zeitraum wurde nach und nach 
Personal abgebaut, so daß von 3 Sozialpädagogen und 4 ZdL heute 
noch 4 Pädagogen und 1 ZdL übrig Im vergangenen Jahr kam dann 
noch eine weitere Arbeitsintensivierung dazu, weil die Kurse der 
Berufsschüler von 6 auf 4 Wochen verkürzt wurden, was 1/3 mehr Ver- 
waltungsarbeit bedeutet und noch größere Schwierigkeiten, einen Kon- 
takt zu den Jugendlichen herzustellen. Immer wieder wurde mehr Per- 
sonal gefordert. Auch die Geschäftsführung selbst stellte im Novem- 
ber 1977 fest, daß allein zur Abedeckung der erforderlichen Dienst- 
zeiten 5 1/2 Fachkräfte notwendig wären. Dennoch dauerte es genau 
11 Monate, also bis Oktober 78, bis der vierte Pädagoge schließlich 
eingestellt wurde. 

Richtlinien für Lehrlingswohnheime unserer Größe schreiben minde- 
stens vier Fachkräfte (einschl. Heimleiter) vor zur Wahrnehmung pä- 
dagogischer Aufgaben. Die übrigen Arbeitsbereiche sollen von ent- 
sprechenden anderen Fachkräften besetzt werden. 


DER VERLAUF DER AUSEINANDERSETZUNGEN 


Im Herbst 1978 diskutierte der Betriebsrat und die Betriebsgruppe 
der ÖTV über den Abbau von Überstunden in der Arbeiterwohlfahrt. Es 
wird erkannt, daß ein Abbau von Überstunden nur dann sinnvoll Ist, 
wenn gleichzeitig eine Intensivierung der Arbeit verhindert werden 
kann und mehr Personal eingestellt wird. Am 6. Dezember 1978 findet 
eine Betriebsversammlung statt, in der der Betriebsrat die Kolle- 
gen auffordert Überstunden abzulehnen und die Dienstpläne von der 
Geschäftsleitung erstellen zu lassen. 

Daraufhin schreiben am 7. Dezember 1978 die pädagogischen Mitarbei- 
ter des Andreas Dreher Heims einen Brief an die Geschäftsleitung. 
Darin steht, daß in Zukunft jede Woche der Dienstplan zur Genehmi- 
gung eingereicht wird; daß die Dienstpläne Überstunden enthalten, 
weil es nicht möglich ist, alle notwendigen Dienstzeiten ohne Über- 
stunden abzudecken. Es würden also regelmäßige Überstunden anfallen 
trotz der Aufforderung der Geschäftsleitung,die 40-Stunden- Woche 
einzuhalten. Die Mitarbeiter wiesen darauf hin, daß nach $ 87 Be- 


=132= 


triebsverfassungsgesetz die Anordnung von Überstunden mitbestimmungs- 
pflichtig ist. 


Vor diesem Zeitpunkt waren die Dienstpläne von den Mitarbeitern selbst 
erstellt worden. Das hatte Vor- und Nachteile. Der Vorteil war, daß 
man die Arbeitszeiten der Mitarbeiter flexibler planen kann. Dies 
wiegt allerdings die Nachteile nicht auf. Es kann praktisch nur eine 
Verwaltung des Mangels stattfinden. Die Mitarbeiter ordnen sich un- 
tereinander die betriebsnotwendigen Überstunden an. Eine Änderung der 
Personallage und damit der Abbau von Überstunden kann so nicht er- 
reicht werden, denn solange die Pläne selbergemacht werden, wird das 
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats umgangen. Er kann erst eingrei- 
fen, wenn die Dienstpläne von der Geschäftsleitung angeordnet wer- 
den. Wenn man Überstunden abbauen will, ist die Eigenerstellung von 
Dienstplänen ein Fehler. 

Die Mitarbeiter reichten folglich ihren Dienstplan zur Genehmigung 
ein. Dieser Dienstplan vom 11.-17.12.78 enthielt, wie alle vorherge- 
henden Pläne, regelmäßige Überstunden, die aus den Nachtbereitschaf- 
ten und den Samstags- und Sonntagsdiensten entstanden. 

Dər Betriebsrat gibt zu diesem Dienstplan am 18.12.78 gegenüber der 
Geschäftsleitung eine Stellungnahme ab. Er stimmt den Überstunden 
nachträglich zu. Gleichzeitig sagt er, daß die Überstunden der Kol- 
legen regelmäßige Überstunden sind, die aus einem Personalfehlbestand 
erwachsen. Er kündigt an, in Zukunft diese Überstunden nicht mehr zu 
genehmigen. Um das Problem zu lösen schlägt er ein gemeinsames Ge- 
spräch zwischen Geschäftsleitung, Mtiarbeitern und Betriebsrat in 
der Woche vom 15.-21. Januar 1979 vor. 


Das gemeinsame Gespräch fand am 18. Januar statt. Die Mitarbeiter 
erhofften sich davon eine Lösung des Problems. Aber die Geschäfts- 
leitung schickte lediglich zwei Referenten, die nicht befugt waren, 
Verhandlungen mit dem Betriebsrat zu führen. Die Vorschläge der Ge- 
schäftsleitung zum Überstundenabbau: 
- Es wären keine Überstunden mehr nötig, da man keinen Wochenend- 
dienst mehr machen müßte. 
- Es gäbe ja einen Praktikanten, den man als 5. Kraft zählen könnte. 
Die Mitarbeiter lehnten beide Vorschläge ab. Der erste entsprach 
nicht den Tatsachen, es waren auch weiterhin Wochenenddienste not- 
wendig. Zum zweiten ersetzt ein Praktikant keine Planstelle. Beide 
Vorschläge wurden vom Betriebsrat als Manöver zur Zeitverzögerung 
eingeschätzt. Deshalb genehmigt der Betriebsrat am 19.1. die Über- 
stunden der laufenden Woche nicht mehr. 


Erst jetzt fängt die Geschäftsleitung an, sich intensiv Gedanken 
über unsere Lage zu machen. Sie schaltet sofort ihren Rechtsanwalt 
ein. Die Mitarbeiter werden angewiesen, Überstunden zu machen. Dies 
wird verweigert, da sie nicht vom Betriebsrat genehmigt worden sind. 
Daraufhin macht der Geschäftsführer an diesem Wochenende Dienst. Er 
tut das auf eine sehr dubiose Weise. So gibt er einem ihm unbekannten 
Heimbewohner den Generalschlüssel, damit er in alle Zimmer Essens- 
marken verteilen kann. Er selbst geht abends aus dem Haus und läßt 
einen geistig behinderten Heimbewohner Telefondienst im Büro machen, 
mit dem Versprechen, ihm mal ein Bier zu zahlen. 


Der Konflikt hatte sich also zugespitzt. Mitarbeiter und Betriebsrat 


=133- 


setzten sich mit einem juristisch ausgebildeten Gewerkschaftsmit- 

glied zusammen, um das weitere Vorgehen grundsätzlich zu diskutie- 

ren. 

Sie kamen zu folgendem Ergebnis: 

© Keine individuelle Verweigerung von Überstunden. Kein individuel- 
les Vorgehen, da dies für die einzelnen Kollegen zu gefährlich 
werden könnte. 

© Alles muß über den Betriebsrat laufen. Der Betriebsrat hat Mitbe- 
stimmungsrechte beim gesamten Dienstplan und muß die Einhaltung 
von Arbeitszeitordnung und Tarifvertrag überprüfen. 

© Sollte die Geschäftsleitung den Betriebsrat weiterhin umgehen, 
kann durch eine Klage nach $ 23 BVG (Pflichtverletzung) beim Ar- 
beitsgericht die Vorlage aller Pläne erzwungen werden. 

Gleichzeitig nahmen wir Kontakt mit der ÖTV-Kreisverwaltung auf. Der 

Kreissekretär sagte uns Unterstützung und Rechtsschutz zu. Er sag- 

te, die ÖTV werde eingreifen, wenn der Konflikt sich weiter ver- 

schärft. Zur ÖTV wurden in jeder Phase der Auseinandersetzung Kon- 

takte gehalten. 

Anschließend beschäftigten wir uns intensiver mit Arbeitszeitordnung 

und Manteltarif. Daraus ergaben sich folgende Punkte, die in den 

Dienstplänen berücksichtigt sein müssen: 

= Höchstarbeitszeit (BMT/AWII $ 11 Zusatz-TV $ 1) 

= Tagesarbeitszeit (AZO $ 3) 

= Ununterbrochene Ruhezeit zwischen den Diensten (AZO $ 12 (1)) 

- Die Bereitschaftsdienste sind als Arbeitsbereitschaft anzusehen 
und zählen damit voll als Arbeitszeit (AZO $ 7) 


Ab jetzt weist die Geschäftsführung die Dienstpläne unter Umgehung 
des Betriebsrates an. 

Die Kollegen reagieren auf die Dienstanweisungen wiederum mit einem 
Brief an die Geschäftsführung, in dem die einzelnen Verstöße gegen 
die Arbeitszeitordnung (AZO) und den Bundesmanteltarifvertrag (BMT) 
aufgezählt werden und informieren den Betriebsrat (BR). Da der BR 
zum wiederholten Male beim Aufstellen des Dienstplanes übergangen 
wurde, demgegenüber er aber nach $ 87 Betriebsverfassungsgesetz 
(BetrVG) ein volles Mitbestimmungsrecht hat, beschließt er am 
25.1.79 eine Klage nach $ 23 BetrVG beim Arbeitsgericht einzuleiten, 
um sein Mitbestimmungsrecht zu erzwingen. 

Gegenüber der Geschäftsführung lehnt er die Dienstanweisungen mit 
Verweis auf die gesetzlichen Verstöße ab. 

Die Geschäftsführung nimmt am nächsten Tag ihre schriftlich vorge- 
legten Anweisungen wieder zurück. 


Die folgende Zeit ist bestimmt von kurzfristigen Dienstanweisungen 
an einzelne Kollegen, nach wie vor unter Umgehung des Betriebsrates, 
Teilweise werden die Kollegen erst am Abend angewiesen, wie sie am 
nächsten Tag zu arbeiten haben. Die Freizeit ist nicht mehr vorher- 
planbar. Jedesmal wird die Geschäftsführung schriftlich auf die Ver- 
stöße aufmerksam gemacht. Von einer Anzeige gegen die Geschäftsfüh- 
rung wegen Verletzung der AZO und des BMT wird abgesehen, da sich 
sonst die Auseinandersetzung auf einzelne Kollegen verlagern würde, 
die Einzelklagen zu führen hätten. Man soll, um sich abzusichern, 
alles über den Betriebsrat laufen lassen. Erstmals am 1.2.79 legt 
die Geschäftsführung dem Betriebsrat ein Dienstplanschema zur Mit- 
bestimmung vor und bietet Verhandlungen am 5.2.79 darüber an. 


-134- 


Das vorgelgte Schema ist so dreist, daß es an jedem Tag gegen die 
AZO bzw. den BMT verstößt. Es muß hier eingefügt werden, daß die 
Geschäftsführung längst zu allen Fragen ihren Rechtsanwalt hinzu- 
zieht, und der auch dieses neue Schema mit ausgearbeitet hat. 

Zu den Verhandlungen am 5.2.79 kommt die Geschäftsführung selbst 
nicht, sie schickt den Rechtsanwalt und den verantwortlichen Referen- 
ten. Aufgrund der massiven Verstöße lehnt der Betriebsrat das Dienst- 
planschema ab und zeigt auch keine Bereitschaft, über Gesetzesver- 
stöße zu verhandeln. Der Rechtsanwalt beteuert, daß er sonst ja 
immer auf Arbeitnehmerseite stünde, verteidigt aber das vorgelegte 
Dienstplanschema. Er widerspricht der Argumentation des Betriebsra- 
tes und bezieht grundlegend andere Rechtspositionen. 

Kern dieser rechtlichen Auseinandersetzung ist der Bereitschafts- 
dienst. Während der Betriebsrat argumentiert, daß dieser als Ar- 
beitsbereitschaft zu sehen und damit arbeitszeitlich voll zu rech- 
nen sei, beharrt die Geschäftsführung darauf, daß der Bereitschafts- 
dienst nur zu 25 % als Arbeitszeit gerechnet werden kann. 

Vom "arbeitnehmerfreundlichen" Rechtsanwalt wird den Kollegen und 
dem Betriebsrat vorgeworfen, sie wollten nur erreichen, ihr Geld im 
Schlaf zu verdienen, da man während der Bereitschaft ja ausschließ- 
lich schlafen würde. Es wird offensichtlich, daß keine Einigung über 
den vorgelegten Dienstplan erzielt werden kann. Der Betriebsrat 
schlägt die Bildung einer Einigungsstelle nach $ 76 BetrVG vor, der 
Rechtsanwalt stimmt zu. 

Um den Konflikt zu einem Problem aller Kollegen des Kreisverbandes 
zu machen und eine breite Solidarität zu schaffen, führt der Be- 
triebsrat am 6.2.79 eine Betriebsversammlung durch. Die Auseinander- 
setzung soll auf keinenFall zu einem reinen Rechtsstreit werden. 
Nach ausführlicher Schilderung der Arbeitsbedingungen der Kollegen 
im ADH und Diskussion über den Stand und Verlauf der Auseinander- 


setzung wird ohne Gegenstimme bei ca. 80 Anwesenden folgende Resolu- 
tion beschlossen: 


"Die Betriebsversanmlung ist über die Lage im Andreas-Dreher-Heim 
informiert worden. Sie hält die Forderung der Kollegen nach mehr 
Personal für berechtigt. Sie unterstützt das Vorgehen des Betriebs- 
rates, der Arbeitszeitordnung und dem Bundesmanteltarifvertrag 
widersprechende Dienstpläne sowie beabsichtigte Intensivierung der 
Arbeit abzulehnen. 

Sollte sich die Lage zuspitzen, halten wir die Durchführung einer 
außerordentlichen Betriebsversammlung für notwendig. 

Wir verurteilen das Verhalten der Geschäftsführung, nicht zu der 
Betriebsversammlung erschienen zu sein. 

Wir fordern die Geschäftsführung auf, als Verband Finanzierungspro- 
bleme durch Forderungen nach mehr Mitteln und nicht durch Abstriche 
bei den Kollegen und den Einrichtungen zu lösen. 

Wenn die Geschäftsführung meint, daß die Mittel nicht ausreichen, 
sollte sie dies gegenüber der Belegschaft belegen. Wir werden sie 
dann bei der Forderung nach mehr Mitteln unterstützen." 


Für die Einigungsstelle schlägt der Betriebsrat als unabhängigen 
Vorsitzenden den Gesamtpersonalratsvorsitzenden der Stadt Stuttgart 
vor und benennt die Beisitzer (PR-Vorsitzender Katharinenhospital, 
Jurist u. Vorstandsmitglied der ÖTV, BR-Vors. AWO). Die Geschäfts- 
führung versucht die Bildung der Einigungsstelle zu verzögern. Am 


-135- 


liebsten hätte sie, einer der Kollegen des ADH würde Anzeige wegen 
Verletzung der AZO gegen sie erstatten. Dadurch könnte sie den Jah- 
re dauernden Instanzenweg durch die Arbeitsgerichte beschreiten. 

Die Geschäftsführung hat erkannt, daß der Konflikt weit über den 
AWO-Kreisverband Stuttgart hinausgeht und Bedeutung für die gesamte 
AWO gewinnt, vor allem in Bezug auf die Anrechnung der Bereitschaft 
als volle Arbeitszeit. Sie setzt sich mit dem Bundesverband der 

AWO in Verbindung. 

Der vom Betriebsrat vorgeschlagene unabhängige Vorsitzende der Eini- 
gungsstelle wird von der Geschäftsführung abgelehnt. Erst am 28.2.79 
erkennt sie einen Arbeitsrichter als Vorsitzenden der Einigungsstel- 
le an. 

Hinsichtlich der Dienstpläne fährt die Geschäftsführung den Kurs der 
einseitigen Anordnung ohne die Beteiligung des Betriebsrates weiter. 
Zudem beginnt sie über die Dienstpläne zu disziplinieren, indem z.B. 
einem Kollegen in einer Woche 4 Spätdienste aufgebrummt werden. 


Das vom Betriebsrat eingeleitete Verfahren liegt inzwischen dem Ar- 
beitsgericht vor. Verhandlungstermin am 30.5.79!! 


Inzwischen war auf Initiative der Kollegen des ADH ein Treffen mit 
dem Vorsitzenden der AWO Stuttgart zustande gekommen. Ergebnis: Er 
erklärt die Forderung nach mehr Personal für nicht finanzierbar. 

Am 19.2.79 spitzt sich die Auseinandersetzung weiter zu. Die Ge- 
schäftsführung verschickt an alle Kollegen des ADH einen Brief nach 
Hause. (einschl. Putz- u. Küchenpersonal). 

Auf die Forderungen der Kollegen wird nicht eingegangen, stattdessen 
wird versucht, den Kollegen ein schuldhaftes Herunterwirtschaften des 
Heimes vorzuwerfen, 

Schuld an den kurzfristigen Dienstplänen sowie an dem Konflikt über- 
haupt seien alleine die 4 pädagogischen Kollegen, weil sie die Aus- 
einandersetzung überhaupt eingeleitet und quasi völlig überhöhte For- 
derungen stellen würden. Zitat: "Wir behalten uns auch deshalb Ihnen 
gegenüber alle Ansprüche, die sich künftig arbeitsrechtlich ergeben 
könnten, vor." 

Hauptsächlich wird aber mit dem Verlust der Arbeitsplätze gedroht: 
"Selbst Sozialpädagogen ohne kaufmännische Ausbildung sollte der 
Zusammenhang zwischen den Einnahmen einer Einrichtung und der Sicher- 
heit ihrer Arbeitsplätze verständlich sein."... "Wir möchten in die- 
sem Zusammenhang mit allem Ernst und mit Nachdruck noch einmal 
darauf hinweisen, daß Sie durch eine nachlässige Wahrnehmung Ihrer 
Dienstobliegenheiten die Einnahmenseite des Andreas-Dreher-Heimes 
negativ beeinflußt haben und durch den Versuch, ständig weitere 
Investitions- und personelle Belastungen der Einrichtung aufzubür- 
den, Ihre eigenen Arbeitsplätze und die der übrigen Mitarbeiter des 
Heimes gefährden." 


Die bisher gerüchteweise umlaufende Schließungsdrohung des Heimes 
wird durch diesen Brief jetzt ganz offen aufgeworfen zusammen mit 
Vorwürfen der "Verletzung von Dienstobliegenheiten". In erster Li- 
nie soll jedoch das hauswirtschaftliche Personal gegegen die 4 Päda- 
gogen aufgehetzt werden. 

Am 28.2.79 führt der Betriebsrat eine Abteilungsversammlung im ADH 
durch. Mit nur einer Ausnahme stellt sich das hauswirtschaftliche 
Personal hinter die 4 Pädagogen. Die Kollegen und der Betriebsrat 


-136- 


weisen den Brief der Geschäftsführung vom 19.2.79 zurück und leiten 
ein Beschwerdeverfahren ein. 

Am 29.2.79 erhält der Betriebsrat einen Brief von der Geschäftsführung, 
daß das ADH zum 30. Juni 79 als Jugendwohnheim geschlossen werden 
soll. Dies sei ein Beschluß des Kreisvorstandes der AWO. Über eine 
etwaige Zweckänderung solle in den nächsten Wochen diskutiert wer- 
den. 

Der Betriebsrat plant kurzfristig eine a.o. Betriebsversammlung und 
informiert die Kollegen. Er weitet den Konflikt auf den gesamten 
Kreisverband aus und fordert die Dienstpläne von allen Einrichtungen 
des Kreisverbandes zur Überprüfung von der Geschäftsführung an. 


RESUMEE 


Das Angebot der Diskussion über eine Zweckänderung des Heimes hal- 
ten wir für eine Beschwichtigungsformel. Mindestens die 4 Pädagogen 
sollen über die Klinge springen, wobei aufgrund der seitherigen Er- 
fahrungen auch bei dem teilweise schon über 10 Jahren beschäftigten 
Hauswirtschaftspersonal nicht unbedingt Halt gemacht wird. Besonders 
Teile derer haben sich durch mieseste Arbeitsbedingungen kaputt ge- 
schunden und stehen jetzt vor der Existenzfrage ihres Arbeitsplatzes. 
Ganz offensichtlich will die Arbeiterwohlfahrt die aufgeworfene 
Auseinandersetzung regional auslöschen. Es soll ein Exempel statu- 
iert werden: Wer soweit gegen uns vorgeht, dem wird es schlecht er- 
gehen! 

Die AWO hat erkannt, daß ihr eine Niederlage in dieser Auseinander- 
setzung droht, zumindest teilweise. Dazu soll es nicht kommen, des- 
halb die beabsichtigte Schließung. 

Die Kollegen des Andreas-Dreher-Heimes haben mit Unterstützung gros- 
ser Teile der Belegschaft des ganzen Kreisverbandes der AWO den 
Kampf um die Erhaltung und den Schutz ihrer Arbeitskraft aufgenom- 
men, indem sie gegen die Bedingungen der Nacht-, Schicht-, Wochen- 
end- und Feiertagsarbeit vorgehen. 

Besonders die Berechnung des Bereitschaftsdienstes ist dabei von 
zentraler Bedeutung. Die Belastung durch die langen Blockarbeitszei- 
ten nimmt erheblich ab, wenn wir eine volle Anrechnung auf die Ar- 
beitszeit von wöchentlich 40 Stud. erreichen. 

Sollte uns dies gelingen, so ist es nicht nur ein Erfolg für uns. 

Er hätte Auswirkungen auf die AWO in der gesamten BRD als auch auf 
viele der anderen karitativen und städtischen Einrichtungen. Diese 
Auseinandersetzun gnur auf uns begrenzt zu gewinnen, ist sehr schwie- 
rig. Wir brauchen die Unterstützung anderer Bereiche und Kreisver- 
bände der AWO. Der Einschüchterungsversuch mit der Drohung des Ver- 
lustes von 14 Arbeitsplätzen muß zurückgeschlagen werden. 


Unterstützt uns in den Forderungen: 

© KEINE ENTLASSUNGEN IM ANDREAS DREHER HEIM! 

© DAS ANDREAS DREHER HEIM MUSS ALS JUGENDWOHNHEIM FÜR BLOCKSCHÜLER 
WEITERBESTEHEN! 

© VOLLE ANRECHNUNG DES BEREITSCHAFTSDIENSTES AUF DIE ARBEITSZEIT! 

© EINSTELLUNG VON 2 WEITEREN KOLLEGEN! 


Solidaritätsadressen an: 

- Frieder Bohlmann, Geschäftsführer der AWO Kreisverband Stuttgart, 
Olgastraße 63, 7000 Stuttgart 1 

- Betriebsrat der AWO, Kreisverband Stuttgart, Olgastraße 63, 
7000 Stuttgart 


“ ES BLÜHT DIE SELBSTVERWALTUNG IN QUAREGNON” 
— FRAUEN IM KAMPF UM IHRE ARBEITSPLÄTZE — 


Quaregnon liegt im belgischen Bergbaugebiet Borinage. In den 60er 

Jahren ist die Borinage wirtschaftliches Notstandsgebiet. Zechen 

schliessen, die Arbeitslosigkeit steigt. Der Staat fördert neue In- 

dustrieansiedlungen. Die Brüsseler Firma Salik schläft nicht. Mit 

fetter staatlicher Hilfe baut sie in Quaregnon 1966 eine Jeans-Fa- 

brik und verspricht 1.000 Arbeitsplätze, - billig bezahlte typische 

Frauenarbeit am Band. Salik versteht sich weiterhin auf sein Ge- 

schäft: 

© 1973 macht er aus der Zweigstelle eine Tochterfirma: 250 Frauen von 
800 fliegen raus. Die Mutterfirma verpachtet zu überhöhten Mieten 
die Anlagen an die Tochter, nimmt aber die Hosen zu Niedrigpreisen 
ab. Die Tochter muß in die roten Zahlen kommen 

© 1976: ein (geplanter) Konkurs, wiederum bleiben 250 Frauen auf der 
Strecke. Auf wundersame Weise entsteht aus den Resten der bankrot- 
ten Firma eine neue Tochter. 

® Sommer 1978: die Tochter steuert mit 300 Arbeiterinnen auf einen 
neuen Konkurs zu 


Am 17.8.78 besetzen 150 Arbeiterinnen aus Protest die Fabrik. 

Die Frauen fordern von den Gewerkschaften Unterstützung. Die CSS 
(christl. Gewerkschaft, deren wallonischer Teil für Selbstverwaltung 
ist und noch andere selbstverwaltete Betriebe unterstützt,) ist auf 
der Seite der Besetzerinnen und zahlt Streikgelder. Die FGTB (sozia- 
list. Gewerkschaft) ist gegen die Besetzung. Der Bischof von Tournai 
unterstützt die Arbeiterinnen mit einer öffentlichen Erklärung, - sie 
hätten mit ihrer Aktion vergessene Werte neu entdeckt, sie seien 
metzt mit Initiative, Liebe und Herz am Werk, sie erlebten das Teilen 
von Verantwortung, die gegenseitige Hilfe und die Sehnsucht nach Ent- 
faltung in einer besseren ausgeglicheneren Arbeitswelt, in der die 
Arbeiter nicht mehr einfach Rädchen seien. 

Die Solidarität aus der Bevölkerung und aus anderen Fabriken ist 
groß. Die Näherinnen organisieren Solidaritätsreisen, Veranstaltun- 
gen, Tage der offenen Tür in der Fabrik, wo sie auch ihre selbst ver- 
faßtes Theaterstück spielen. Sie richten eine Kinderkrippe und ein 
Restaurant ein. Im Dezember 1978 lassen sie sich als Kooperative 
SANSEMPLOI (wörtl.: ohne Arbeit) offiziell eintragen. 


Die Arbeiterinnen: 

"Zu Anfang haben wir nicht besetzt, um eine Kooperative zu machen, 
sondern weil die Fabrik geschlossen und der Konkurs eingeleitet wer- 
den sollte. Wir haben besetzt, um die Öffentlichkeit auf unsere Lage 
aufmerksam zu machen und die Leistungen noch zu bekommen, die uns 
zustanden. Die Idee, eine Kooperative zu machen, kam später. Als die 
Treuhänder in der Fabrik eine Bestandsaufnahme machten, meinten sie 
zu 400 zugeschnittenen Hosen, das seinen nur Lappen, die könne man 


= 138 = 


r 
DIE NHHERINNEN DER COOPERATIVE BRAUCHEN 
UNSERE SOUDMAITÄT UND UNTERSTÜTZUNG 


rar 








unglaublich’... 
aber wahr!... 


Wiù HABEN BESCHLOSSEN : 
WIR PRODUZIEREN sergst 
OMNE UNTERN UHER 


WIO PRODUZIEREN... 
Wik VERURUFEN ... 
WIA ZAHLEN UNS SELBST LOUN 


















Nach 9 Monaten Fabrikbesetzung entsteht die Kooperative SANSEMPLOI 
und, wie es in unserem Lied heisst: 


"es blüht die Selbstverwältung in Quaregnon" 


wegwerfen. Da haben wir gedacht, daß man die doch zusammennähen und 
verkaufen könnte und daß das ein neuer Anfang wäre. Und so entstand 
die Idee, eine Kooperative zu machen". "Um andere selbstverwaltete 
Betriebe kömmerten wir uns früher nicht. Wir hatten ja Arbeit, - dann 
wurden wir arbeitslos; wir besetzten, um unser Recht zu bekommen. An- 
dere Fabriken, in denen es SChwierigkeiten gab, - das sagte uns 
ncihts. Das ist jetzt anders! Jetzt interessieren uns die Erfahrungen 
in den selbstverwalteten Fabriken sehr. Wir haben die besucht, die 
Bausand herstellt und die, die Teppichfäden macht. Aber vorher, 

das existierte alles nicht für uns. 


EE) i A l ' G 
‚ei Pu 





"Der Kampf war schon sehr hart und er wird noch härter werden. Die 
Frauen, die geblieben sind, müssen noch schwere Aufgaben bewältigen,- 
das wird immerhin eine Fabrik sein, die laufen wird. Aber wenn alle 
das verstehen und die Aufgabe sehen, die auf sie zukommt, dann geht 
das auch, das wird keine so große Belastung sein. Wir vom Verwaltungs- 
komitee haben das ja auch geschafft und wir haben es auch gewollt, 

um die Dinge vorwärtszubringen. Wenn man die Arbeit verteilt, wird 

sie nicht so belastend sein. Denn die sind bei der Stange geblieben, 
die sich die meiste Arbeit aufgeladen haben. Auch wenn es hart ist und 
noch härter wird, wir bewältigen jetzt alles besser als vorher. Jetzt 
sind wir gerade dabei, die Aufgaben auf mehrere Frauen zu verteilen, 
damit alle sich beteiligen können. Wir werden zusammen alles versuchen, 
um vorwärts zu kommen." 


"Da waren Mädchen, die sich nie von ihrer Maschine wegrührten, die 
sehr schwerfällig waren. Jetzt machen sie hier mit, übernehmen Ver- 
antwortung. .." 

"Du interessierst dich für Dinge, die du früher nicht machen konntest. 
Jetzt hast due die Möglichkeit dazu, also machst du sie. Ich meine, 
wenn du einer Arbeiterin die Möglichkeit gibst, etwas anderes zu 
machen, dann hat sie auch dieFähigkeit dazu." 


"Wir müssen 500 Hosen pro Tag produzieren, das haben wir versucht, 
das geht. Damit die Hosen nicht im Lager schmoren und um bares Geld 
zu haben, damit die Kooperative jetzt die Frauen einstellen kann, 
müssen wir vor allem den Verkauf schaffen. Wir haben Schwierigkeiten 


- 140 - 


mit den Stofflieferanten. Sie wollen keinen Vertrag mit uns machen 
weil wir uns nicht in einer "normalen" Sitaution befinden. Wir šol- 
len vorher bezahlen. Jetzt müssen wir unsere ganze Energie auf den 
Verkauf der 5000 Hosen richten, die auf Lager sind, also alle mobili- 
sieren und soviel wie möglich verkaufen." 

"Meine Verwandten fragen mich oft, wollen Informationen. Sie mögen 
das, was wir machen nciht. Sie sagen "Revolution", ... für sie ist 
das, was wir machen, eine Revolution." 


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LES ” 100” EMPLOIS 


140, Coron 
des Sans 
EMPLOIS 


Quaregnon 


[ERNS SIND NICHT NUR JERNSF 
DIESE KOOPERATIVE SoLL LEBENY 
DESHALB: MACHT MIT 
BEIN MIUTANTEN HOSEN - 

VERKAUF UND-LRUF 
(ca. % billiger als andeve 


Morkenjeans 
WIR HABEN Schon ANGEFANGEN 
Kordoktadvesse: 
ASH (ARRBEITERSELBITHILFE) 
Adv.: KNEBSMÜHLE 


O3} OBERURSELS (Wake Tankfuf) 
Ted. OVAA (73494 


(EX-SALIK) 


100" 
EMPLOIS 
(Ex-Salik) 
Tél.: 065/ 
7759 21 


NONDaUVND 
E: 


A 
SOLIDARITE LA LA 


MATERIALIEN, HINWEISE,STELLENANGEBOTE/-SUCHE 


aaa 


BITTE UM MITARBEIT - 
VERZEICHNIS ALTERNATIVER JUGENDHILFEEINRICHTUNGEN 





Die gängigen Heimverzeichnisse verzeichnen gängige Heime. Bei kleinen 
alternativen Einrichtungen besteht ein bemerkenswertes Informations- 
defizit. Dies wird noch gesteigert durch die amtsübliche Praxis, er- 
fahrungsbezogen eigene interne Listen anzulegen, die nur einen be- 
schränkten fachlichen und regionalen Sektor offenlassen - in dem dann 
oft umso mechanischer verfahren wird. Demgegenüber existieren "in- 
sider-Listen", oft gar nur zufällig gehandelte Tips unter Fachkolleg- 
en über experimentelle Formen von Fremdplacierung. 

Über den fachlichen Informationswert hinaus gewönne ein bundesweites 
Verzeichnis politischen Stellenwert durch eine Art "Leistungsbilanz'. 
Empirisch abgesichert läßt sich der behaupteten Unvermeidbarkeit 

von Geschlossener Unterbringung gegenübertreten mit dem Argument 
einer Vielzahl funktionierender Alternativen. Abgewiesen wäre der 
Bluff von: es bleibt uns ja nichts anderes übrig! 


Bei dieser Sammeltätigkeit sind wir auf Euere Mithilfe angewiesen. 
Jeder der eine alternative Einrichtung kennt, schreibe an: 
Projektgruppe Fremdplacierung im Fachbereich Sozialarbeit an der 
FHS Fulda, c/o K.H. Herr/P.Krahulec, Marquardstr. 35, 64 Fulda 





SEMINARE /TAGUNGEN 


21.Juli - 4. August in Melle 
Thema: Alternative Ökonomie 
Anmeldung: AG SPAK-Geschäftsstelle, Belfortstr. 8, 8 München 


2. - 5. August in Ahrdorf (Eifel) 

Thema: Standhalten - Flüchten - Gründe der Resignation und Möglich- 
keiten der Überwindung 

Anmeldung: AG SPAK-Geschäftsstelle 


6. - 8. Juli in Frankfurt 

Redaktionssitzung Info Sozialarbeit zum Thema "Behinderte - Nicht- 
behinderte" und Vorbereitungsdiskussion für die Nachfolgetagung 
vom 9. - Il. November (voraussichtlich) zum gleichen Thema. 
Protokoll und Bericht der Arbeitsfeldtagung "Behinderte - Nichtbe- 
hinderte" kann gegen Voreinsendung von DM 2,-- beim Arbeitsfeld 
Sozialarbeit, Postfach 591, 605 Offenbach 4 bezogen werden. 


28. - 30. September (Ort steht noch nicht fest) 
Arbeitsfeldtagung Sozialarbeit 
Thema:Aussteigen - Weitermachen - Wie 


- 142 - 


Zur politischen Strategie im Sozialbereich 
Nähere Informationen: Arbeitsfeld Sozialarbeit im SB, Postfach 591, 
605 Offenbach 4 


———————— nn 


STELLENANGEBOTE/-SUCHE 





© Berufspraktikant/Sozialarbeiter sucht ab 1.Oktober 1979 Stelle 

in Hamburg im Bereich Jugendarbeit, Gemeinwesenarbeit 

Angebote unter Chiffre 1/1979 an Verlag 2000,Postfach 591,605 
Offenbach 4 

SJD-Die Falken - OV Ulm/Neu-Ulm sucht ab 1.8. oder 1.9. eine(n) 
Praktikanten(in) für die verbandliche außerschulische Jugendarbeit 
Bewerbungen an: Bruno Bakalovic, Augsburgerstr. 51, 79 Neu-Ulm 
ZDL-Stelle ab Oktober 1979 frei. Viel Organisationstalent und 
sozialpolitische Kenntnisse erwünscht. Vorkenntnisse in Verwal- 
tungsarbeit wären gut. Interessenten melden sich bei: AG SPAK, 
Belfortstr. 8, 8 München 40 

SJD-Die Falken Kreisverband Köln sucht hauptamtlichen Mitarbeiter. 
Er/Sie soll für den Aufgabenbereich der kommunalen Jugendförderung, 
Buchführung, Geschäftsführung und die Betreuung der Gruppenarbeit 
eingestellt werden. 

Voraussetzung: abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium als 
Sozialarbeiter, Lehrer usw. und Falken-Mitglied. Bewerbung an: 
SJID-Die Falken, Kreisverband Köln, Severinswall 32, 5 Köln 1 
Verein Jugendhaus Herrenberg sucht zwei hauptamtliche Mitarbeiter 
für die Jugendarbeit. 

Bewerbungen an: Jugendhaus-Verein, Schulstr.11, 7033 Herrenberg 


| || L.— 
WANDERAUSSTELLUNG "KINDER DES ELENDS - LATEINAMERIKA" 
eaaa 


Zum Internationalen Jahr des Kindes wurde eine Ausstellung erstellt 
mit dem Titel: 

"Kinder des Elends - Der Kampf der Armen für die Zukunft ihrer Kinder: 
Lateinamerika im Internationalen Jahr des Kindes", 


Diese Ausstellung kann als Wanderausstellung nach Westdeutschland, 
Österreich und in die Schweiz verliehen werden (ab August 1979). 


Ausgehend von der Situation der Kinder der Ärmsten - der Kinder der 
Elendsviertel werden die Ursachen der Land-Stadt-Wanderung und des 
Anwachsens der Elendsviertel gezeigt: Ungleiche Besitzverhältnisse 
und Marktchancen auf dem Lande, fehlende Arbeitsmöglichkeiten udn 
Wohnungsdefizite. in den Städten. € 

Die Leidtragenden dieser Verhältnisse sind hauptsächlich die Kinder. 
Inhumane Wohnungsbedingungen, mangelhafte Gesundheitsversorgung und 
ungleiche Bildungschancen sind deren Folgen. Kinderarbeit, Kinder- 
banden und Kinderprostitution sind dann weitere Stichwörter. 


Aber es gibt auch eine Fülle positiver Ansätze dieser Menschen, ihr 
Elend grundlegend aufzuheben. Demokratische Selbsthilfeorganisatio- 
nen im Wohnungs-, Erziehungs-, Gesundheits- und Versorgungsbereich 
aus der Zeit der Unidad Popular in Chile oder des Peronismus in Ar- 
gentinien 1973/74 stehen exemplarisch für ähnliche Erfahrungen in 
fast allen Ländern Lateinamerikas. Viele dieser Selbsthilfe-Ansätze 


= 103, = 


wurden durch die Repression der Militärdiktaturen erstickt. Doch 

ist damit der Kampf um eine bessere Zukunft nicht abgebrochen wor. 
den. In vielfältiger Weise organisieren sich die Elendsviertelbewoh- 
ner unter erschwerten Bedingungen neu und führen den Kampf gegen die 
Diktaturen für demokratische Selbstverwaltung der Basis. 

Ein Weg dahin sind zwei Projekte in Elendsvierteln zugunsten von 
Kindern, die in der Ausstellung vorgestellt werden Eine selbstver- 
waltete Kindergartenkooperative in Santiago de Chile und ein Gesund- 
heitszentrum in Bogotä/Kolumbien. 


Didaktisches Ziel:Über das Medium Ausstellung wird aufgeklärt über 
Zusammenhänge von Verarmung in der Dritten Welt, konkretisiert an 

Elendsvierteln, dem sichtbarsten Zeichen der Verarmung, an den Ur- 
sachen ihrer Entstehung und an Wegen zur Überwindung der Verarmung 


durch konkrete Beispiele der Basisorganisation auf dem Lande und in 
der Stadt. 


Zielgruppen: Die Ausstellung wendet sich vor allem an Personen, die 
politische Bildungsarbeit mit Jugendarbeit im weitesten Sinne ver- 
binden, also: Jugendleiter, Lehrer, ERzieher, Eltern. Aber sie wen- 
det sich vor allem an Jugendliche selbst, an Schulklassen und Jugend- 
gruppen. 

Zusätzliche didaktische Mittel: 4 Dia-Ton-Serien über Chile, Brasili- 
en, Kolumbien und Argentienien; ein großformatiger 100 seitiger Foto- 
Text-Band. Weitere didaktische Zugänge, die in der Ausstellung inte- 
griert sind, sind Gedichte und Lieder, Interviews mit den Betroffe- 
nen (Kindern und Erwachsenen), Bildern von Kindern aus Elendsvier- 
teln gemalt und Stoffbilder aus Chile, die jeweils bestimmte Situa- 
tionen des Elends kennzeichnen. 


Die Ausstellung, die uns über 8.000,- DM kostete, kann für 350,-DM 

pro Woche beim F.D.C.L., Savignyplatz 5, 1000 Berlin 12 bestellt 
werden. Die Transprotkosten müssen die Gruppen selbst tragen. Die 
Dia-Ton-Serien kosten zusätzlcih jeweils 30,-DM pro Woche. 

Schon verliehen ist die Ausstellung in den ersten zwei Wochen des Sep- 
tember nach Stuttgart. Interessenten werden gebeten, ihre zeitlichen 
Ausleih-Wünsche an die geographischen Gegebenheiten anzupassen, um die 
Transprotkosten auf ein Minimum zu beschränken (eta: Süddeutscher Raum 
möglichst August-Oktober, norddeutscher Raum November-Dezember und 
danach). 

Die Erfahrungen mit der mangelhaften und unsolidarischen Zahlungs- 
moral mancher Gruppen, die wir aus der Fußball und Folter-Ausstel- 
lung gewonnen haben, lassen es notwendig erscheinen, die Verleihge- 
bühr vor den Verleihterminen zu verlangen, Ausnahmen sind möglich! 

Es sei auch hier noch einmal daruf hingewiesen, daß wir keinerlei 


Gewinn machen. Der finanzielle Überschuß gehtvoll auf die in der Aus” 
Stellung propagierten Solidaritätskonten! 


- 144 





EATEN aS 











links 


Sozialistische Zeitung 


bringt monatlich auf etwa 28 Seiten Informationen und Anregun- 
gen für die politische Arbeit, Beiträge zur sozialistischen Theo- 
rie und Strategie, Berichte aus der Linken international. „links“ 
-ist illusionslos, undogmatisch — eine Zeitung für Theorie der 
Praxis und für Praxis der Theorie. 

Einzelpreis DM 2,—. 

Bezugspreis, jährlich, DM 22,— + DM 6,— Versandkosten 


CXDICS 





Zeitung für BOZIGESUSTN 
Betriebs- und i 
Gewerkschaftsarbeit 


Sprachrohr der Kollegen und Genossen, die sozialistische Be- 
triebs- und Gewerkschaftsarbeit machen. Informationen über 
die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Beitrāge, 
die man nicht in den Gewerkschaftszeitungen findet. 
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