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Full text of "Informationsdienst Sozialarbeit (1972 - 1980)"

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•  Dipl.Sozialpadagogin  mlt  therapeutischen  Kenntnissen(l  Jahr  Berufs- 
praxis)  sucht  eine  Stelle  moglichst  in  einer  Beratungseinrichtung  im 
Rhein-Neckar-Gebiet.   Jutta  Steen,  Elisabethstr.il,   68  Mannheim 

•  2  Diplom-Padagogik  Studentinnen  mit  gerade  bestandenem  Vordiplom 
suchen  "lieber  gemeinsam,  oder  auch  getrennt  ab  Mitte  Oktober  1977 
eine  halbjahrige  oder  ganzjahrige  Praktikantinnenstelle  im  Raum 
Su'ddeutschland.   Bisherige  Praxis:   1  Jahr  Kinderarbeit  in  einer  Ob- 
dachlosensiedlung.  Wir  ha'tten  gerne  eine  Arbeit  in  Jugendzentren, 
Stadtteilarbeit,   Resozialisierungsbereich  oder  alternative  Projekte. 
Zuschriften  an:   Ellen  Krauser,  Hauptwachstr.   4,  86  Bamberg. 

ARBEITS-/WOHN-  UND  FREIZEITKONTAKTE 

t  Wir  haben  auch  am  langerfristigen  Zusammenl eben  Interesse.   Wir 
sind  bisher  4-5  Leute,  die  nach  Abschlu(3  des  Studiums  vorhaben, 
auSerinstitutionelle  Kinder-,  Ougend-  und  Sozialarbeit  mit  Land- 
wirtschaft  in  Verbindung  zu  bringen.   In  unserer  Al  tbauwohniing  sind 
noch  zwei   Zimmer  frei.   Kontakt  Christoph  nach  19.00  Uhr  05309/5500. 

I  Hollander  sucht  fur  das  Stdudienjahr  1977/78  ein  Zimmer  in  Dlissel- 
dorf,  vorzugsweise  in  einer  Wohngemeinschaft.   Harrie  Mazeland, 
St.  Annastr.   79,  Nimwegen/Holland,  Tel.   080"-  220483. 

I  Student,  23  J.  sucht  zum  Spatsommer  Platz  in  einer  Wohngemeinschaft 
in  Westberlin.   G.    Stanitzek,  Herthastr.   17,    5  Koln  "51 . 

•  In  einer  Wohngemeinschaft  (4  Erw./2  Ki)  werden  zum  1.8. /I. 9. 

2  einhalbzimmer  frei,   Haus   in  Schwalbach  bei   Frankfurt,  Nahe  S-Bahn. 
Tel.:   06196/3840. 
I  Wer  kann  Strafgefangenen  bei  der  Finanzierung  einer  Ausbildung 

liber  Fernkurse  beni  It'll ch  sein?  H.   Adolf  Hammer,  Limburger  Str.   122, 
6252  Diez. 

•  Wir,  Soz.pad.    (22w)  und  Stud.  Germ/Phil.    (24m)   suchen  Paar,  welches 
mit  un's  im  Raum  Dortmund  Wohngemeinschaft  aufbauen  mochte.   R.   Oshege, 
Oespeler  Dorfstr.   3,  46  Dortmund  76. 

•  Wir,  2  Dipl.-Pads(26),  suchen  Leute  im  Raum  MA/HD-auch  mit  Kindern-, 
die  mit  uns  eine  Wohngemeinschaft  grlinden  wollen.  Jutta/Rainer  Steen 
Elisabethstr.il,  68  Mannheim.   Telf.  o621/4o  24  92 

MATERIALIEN  GESUCHT 

•  Thema:  Wehrdienst  und  Kriegsdienstverweigerung.  Unkosten  werden 
erstattet.   Klaus  Kucharski,  Wredestr.   2,  3  Hannover  0511/808578. 

I  Thema:   Theorie-   und  Praxisberichte  zur  Obdachlosenarbeit 
Kindercentrum  Riemekepark,  Schulstr.   35,  479  Paderborn. 

I  Thema:   Frauenwohnheime/Frauenhauser 
Betinna  Hinz-Dietrich,  Rheinstr.   117,  62  Wiesbaden. 

I  Thema:  Alternative  Projekte  im  Bereich  der  psycho-sozialen  Versor- 
gung  -  Anne  Sensmeyer,  Babenend  5,  29  Oldenburg,  Tel.  0441/681948. 

•  Repression  an  Schwule  in  der  BRD  und  Material   Liber  die  ehem. 
Rotzschwul   -  Rote  Schwule  Fraktion,  Postfach  10  05  43, 

42  Oberhausen  1 . 

•  Kursbuch  Nr.   22  und  25 

Wolfgang  Radtke,  Schefflerstr.  23,  33  Braunschweig,  Tel.  0531/692526. 

•  Thema:   Frauenwohngemeinschaften. 

•  Thema:   Einflihrung  in  die  Arbeitsweise  des  Schu'lerreferats  in  einer 
10.   Klasse  des  Gymnasiums  im  Fach  Englisch. 

Rolf  Lappenbusch,  Lemgoerstr.   77,  4937  Lage-Lippe,  Tel . :05232/61 708. 
I  Berichte,  Dokumentationen,  Flugblatter  etc.   zu  Schlilerstreiks 
Sigrid  Meurer,   Braker  Str.   55,  48  Bielefeld  16. 


INFORMATIONSDIENST 


J/ 


SOZIALARBEIT 


v      ^/    — ^~y  y 

^  V                      ^B      if  ,      W    X         WIDERSTAND 

Jf         /^S^Wr          \    GEGEN 

^GESCHLOSSENE 

^v                           ja^  ]^^  /-  ^\h^^        ~3^flE, 

HEIME      Jf^ 

HEIMERZIEHUNCN^^/A^ 
KIUTIK  UNDALTERNATIVEN 

Ausserdem:  Selbstbestimmung  und  der  Weg  dorthin  * 
Arbeit  im  Jugendzentrum  *  Der  Fall  Hans  Roth  * 


18 


Offenbach  im  November  1977 
Doppclnummer  -  Preis  DM  8,-- 


*?n 


yf^^ 


Dieser  Informationsdienst  Sozialarbeit  wird  im  Sozialistischen  Biiro 
von  Gruppen,  die  im  Sozialisationsbereich  arbeilen,  herausgegeben. 
Der  Info  dient  der  Kommunikation  und  Kooperation  von  Genossen,  die  mit 
sozialistischem  Anspruch  im  Feld  der  sozialen  Arbeit  tatig  sind.  Der  Info  enthalt 
neben  einem  Schwerpunktthema  Darstellungen  iiber  die  Organisationsmodelle 
und  Basisaktivitaten  sozialistischer  Sozialarbeiter/-padagogen,  Erzieher  etc., 
Kurzberichte,  Informationen  und  Analysen  aus  dem  Sozial-  und  Gewerkschafts- 
bereich  sowie  Materialien,  Hinweise,  Stellenangebote  und  Kleinanzeigen. 
Folgende  Hefte  sind  noch  Iieferbar: 

HEFT  5:  ZUR  ORGANISIERUNG  IM  SOZIALBEREICH  (lo4  Seiten,  DM  5,--) 

HEFT  7:  JUGENDHILFETAG-SOZIALISTISCHE  AKT10N  (So  S.,  DM  4, -) 

HEFT  8:  REFORM  UND  REFORMISMUS  ALS  PROBLEM  PRAKTISCHER 
POLITIK  IN  DER  SOZIALARBEIT  (72  Seiten,  DM  4,-) 

HEFT  9:  SOZIALARBEIT  IN JUGENDZENTREN  (  96  Seiten,  DM  5, -) 

HEFT  lo:  KNAST  UND  SOZIALARBEIT  (64  Seiten,  DM  3,5o) 

HEFT  11:  INSTITUTIONELLE  PROBLEME  STADTTEILBEZOGENER 
SOZIALARBEIT  (  64  Seiten,  DM  3,5o) 

HEFT  12:  INSTITUTIONELLE  PROBLEME  STADTTEILBEZOGENER 
SOZIALARBEIT  -  TEIL  II   (8o  Seiten,  DM  4,~) 

HEFT  13:  JUGENDARBEIT  -  JUGENDARBEITSLOSIGKEIT  (96  Seiten.DM  5,-) 

HEFT  14:  ALTERNATIVE  PSYCHIATRIE  (8o  Seiten,  DM  4,-) 

HEFT  15:  STUDIUM  UND  BERUFSPRAKTIKUM  (88  Seiten,  DM  5,--) 

HEFT  16:  GEWERKSCHAFTSARBEIT  IN  DER  OTV  (  88  Seiten,  DM  5,-) 

HEFT  17:  KINDERGARTENARBEIT  (96  Seiten,  DM  5,~) 

Herausgeber:  Sozialistisches  Biiro 

Postfach  591,  6o5  Offenbach  4 

Verleger:         Verlag  2ooo  GmbH  Offenbach 

Erste  Auflage:  November  1977,  5ooo  Exemplare 

Alle  Rechte  bei  dem  Herausgeber 

Vertrieb:  Verlag  2ooo  GmbH,  Postfach  591,  6o5  Offenbach  4 
Postscheck  Frankfurt  Nr.  61o41  ■  6o4 

Preis:  Doppelnummer  DM  8,-- 

bei  Abnahme  von  mind,  lo  Stiick  2o%  Rabatt 

Weiterverkaufer  (Buchladen.Buchhandel)  4o%  Rabatt 

jeweils  zuziiglich  Versandkosten 
Das  Info  kann  auch  im  Abonnemcnt  bezogen  werden.  Bezugsgebiihren  fiir 
das  Jahr  1977  (  Heft  16  -  18  )  DM  15,--  und  DM  2,8o  Versandkosten 

Verantwortlich:  Redaktionskollektiv  Info  Sozialarbeit 
Presserechtlich  verantwortlich:  Giinter  Pabst  Offenbach 

Karikaturen:  S.5o  von  Bernd  Kruerke  und  S.78/84/85/87  aus  Betrifft  Sozialarbeit    I 
Beilage:  Biicherhste  Willi  Miinzenberg  Versand 
Druck:  hbo-Druck  Einhausen 


INFO  SOZIALARBEIT,  HEFT  18 


I   N  H  A  L  T 

Vorbemerkung  zu  dieser  Ausgabe 

SCHWERPUNKTTHEMA:   HEIMERZIEHUNG 

Aufruf  zum  2.    Heimerziehertreffen 

Protokoll   vom  AbschluBplenum  des  1. Heimerziehertreffen 

Autorenkollektiv 

Gedanken  iiber  unser  Leber)  im  Heim 

-  von  Kindern  und  Erziehern 

Erhard  Wedekind,  Kbln 
Heimstruktur  und  Erziehersituation 

-  Eine  Problemskizze  verwalteter  Zwischenmenschlichkei t 

Erfahrungen  mit  einer  Betriebsgruppe  im  Heim 

Berichte  aus  totalen  Institutionen 

-  Heim 

-  Psychiatrie 

-  Jugendgefangnis 

Erklarung 

Kanipf  gegen  geschlossene  Heime 

Alternativen  zur  totalen  Institution 

Jugendliche  vom  Klever  Hof 
Der  Kampf  gent  weiter 

Elisabeth  Glucks,  Munster 
Koordination  der  Wohngemeinschaften 

Autorengruppe 

Berliner  Gesellschaft  fiir  Heimerziehung  -  Eine  Heraus- 

forderung  fiir  die  institutionalisierte  Sozialarbeit 

Ki  nderschutz-Zentrum .Westberl i  n 
Bevblkerungsnahe  Familienhilfe 


Seite  3 

Seite  6 

Seite  7 

Seite  17 

Seite  35 

Seite  51 

Seite  55 

Seite  55 

Seite  57 

Seite  58 

Seite  61 

Seite  65 

Seite  65 

Seite  73 

Seite  79 

Seite  91 


Werkschule  Westberlin 

Konzept  einer  berufsorientierten  padagogischen  Werkschule     Seite  lo3 

Manfred  Rabatsch,  Westberlin 

Jugendfiirsorge-  Kontroll-  und  Eingriffsinstrument 

des  blirgerlichen  Staates  in  Arbeiterfamilien  Seite  lo9 

1.  Von  der  Heimkampagne  zur  Reformdiskussion 

des  Jugendhilferechts  Seite  112 

2.  Aufbau  des  Gesetzentwurfs  und  vorgesehene  jugend- 
flirsorgerische  MaBnahmen  Seite  114 

3.  Zur  Funktion  der  Spaltung  in  "normale",  gefahrdete 
und  entwicklungsgestorte  Jugend  durch  das  Jugendhilfe- 

system  Seite  115 

4.  Zur  Kritik  am  Referentenentwurf  als  Kritik  an  der 
herrschenden  Funktion  von  Jugendfiirsorge  Seite  117 

5.  Stmkturelle  Barrieren  gegen  die  Zusammenarbeit  der 

Kollegen  im  Jugendpflege-  und  Jugendflirsorgesektor  Seite  121 

6.  Rechtliche,   politische  und  organisatorische  Handlungs- 
bedingungen  innerhalb  der  Jugendfiirsorge  Seite  124 


THEMA:   OFFENE  JUGENDARBEIT 

Ulrike  Radhbfer,  Bochum/Westberlin 

Arbeit  im  Jugendzentrum  -  Was  ist  drin?  Seite   142 

Gunther  Soukup,  Westberlin 

Selbstbestimmung  und  der  Weg  dorthin  Seite   15o 


THEMA:    REPRESSION  UND  WIDERSTAND 

Tendenz  Ausbildungsverbot  Seite    158 

Klaus  Traube 

Von  einem,  der  die  burgerlichen  Freiheitsrechte  ernst  nimmt  16o 

AUSSERDEM: 

Kleinanzeigen  Seite  16/166 

Redaktionsmitteilung  Seite  167 

Info-  und  Telefondienst  zur  Tarifrunde  im  Offentl .Dienst      Seite  169 

Fromme  Wunsche  flir  1978  Seite     84 


VORBEMERKUNG  ZU  DIESER  AUSGABE 


Die  Herausgabe  dieses  Infos,  das  sich  schwerpunktmaBig  mit  der  "bf- 
fentlichen  Erziehung"   in  stationaren  Einrichtungen  auseinandersetzt, 
steht  in  direktem  Zusammenhang  mit  praktisch-pol  i  tischen  Anstren- 
ungen  im  Arbeitsfeld  Sozialarbeit.   Die  bffentliche  Diskussion  uber 
die  Heimerziehung  muB  dringend  in  diesem  Lande  wieder  aufgenom- 
men  werden.   Von  den  Kampagnen  Ende  der  Sechziger  Jahre  sind  nur  noch 
halbherzige  oberflachliche  Reformen  geblieben,  die  diesen  Namen  nicht 
verdienen.   Einschneidende  strukturelle  Vera'nderungen  der  "bffent- 
lichen  Erziehung"  sind  aber  nicht  isoliert  in  einzelnen  Heimen  mbg- 
lich,   sondern  m'u'ssen  den  gesamten  Jugendhilfebereich  mitumfassen. 
Von  solchen  Entwicklungen  scheinen  wir  zur  Zeit  mehr  denn  je  ent- 
fernt  zu  sein. 

Der  grundlegende  Klassenkonflikt,  der  sich  in  der  anhaltenden  tief- 
greifenden  Krise  als  existenziel le  Bedrohung  des  sozialen  und  bko- 
nomischen  Besitzstandes  der  Lohnabha'ngigen  darstellt,  wird  ideolo- 
gisch  verleugnet  durch  die  Propagierung  einer  umfassenden  "Krisen- 
gemeinschaft".   Das  bruchig  gewordene  "Netz  der  sozialen  Sicherheit" 
soil  mit  dem  "Ausbau  der  inneren  Sicherheit"  geflickt  werden.   Diese 
repressive  Antwort  auf  die  politische  Legi  timationskrise  macht  auch 
vor  dem  Jugendhilfesektor  nicht  halt.   Was  der  "Jugendbulle"  in  den 
Jugendzentren  bewirken  soil,  wird  im  Bereich  der  Jugendfiirsorge  mit 
neuen  Varianten  geschlossener  Heime  angepeilt. 

Die  vom  Redaktionskol lektiv  und  dem  AKS  Kbln  organisierte  uberregio- 
nale  Heimerziehertagung  am  25-/26.  Juni   in  Kbln  (siehe  Protokoll   S.   7 
und  "links"  Oktober  1977)  stent,  einen  Versuch  dar,   in  dem  der- 
zeitigen  Klima  von  Einschuchterung  und  Vereinzelung  als  Erzieher  und 
Sozialarbeiter  zusammenzuf inden  und  gemeinsam  an  einern  Weg  zu  arbei- 
ten,  der  aus  der  Defensive  herausfuhrt.   Statt  mit  dem  Rlicken  an  der 
Wand  nur  noch  vorsichtige  Bedenken  gegen  die  Wiedereinfuhrung  ge- 
schlossener Heime  anzumelden,  geht  es  darum,  liber  die  Bekampfung  der 
repressiven  Spitze  des  Jugendhi lfeeisberges  hinaus  den  taglichen 
Skandal    der  "normalen"  Heime  bffentlich  zu  diskutieren  und  die  in 
institutionellen  Strukturen  eingezwangten  elementaren  Bedlirfnisse 
der  Kinder  und  Jugendlichen,  aber  auch  der  Erzieher  offensiv  einzu- 
klagen.   Die  anwesenden  Kollegen  haben  ihren  Alltag  im  Heim  zum 
Gegenstand  der  Diskussion  gemacht  -  die  autoritar  hierachischen  Ar- 
bei tsbedingungen  genau-so  wie  den  kUnstl ichen  isolierten  Rahmen  der 
Institution,   der  keine  Ansatze  zu  einer  gemeinsamen  Lebenspraxis  mit 
den  Betroffenen  zula'Bt.    An  diesen  solidarisch  gefu'hrten  Gesprachen 
beteiligten  sich  nicht  zuletzt  ehemalige  "Fiirsorgezbglinge"   und  Ver- 
treter  selbstorganisierter  Wohnkollektive.   Gegenwehr  in  den  Insti- 
tutionen  aufzubauen  und  an  Alternativen  auBerhalb  der  Heime  zu  ar- 
beiten  -  das  sind  zwei  notwendige  Wege,  die  vermittelt  werden  mlissen. 


Die  Kblner  Tagung  war  keine  einmalige  Veranstaltung.  Lokale  Gruppen 
wurden  gebildet  und  ein  nachstes  uberregionales  Treffen  flir  das 
Wochenende  lo./ll.   Dezember  in  Berlin  verabredet.   Damit  ist  ein  Pro- 
zeB  eingeleitet,  in  dem  die  Heimerzieher  ihre  Interessen  selber  zu 
arganisieren  beginnen.   In  der  Fbrderung  und  Unterstutzung  solcher 
Arbeitszusammenhange  sehen  das  Redaktionskollektiv  und  die  am  Sozial- 
istischen  Bliro  orientierten  und  in  ihm  organisierten  AKS-Gruppen  eine 
ihrer  wichtigsten  Aufgaben.   Das  vorliegende  Info  ist  ein  Ergebnis 
der  Kblner  Tagung  und  versteht  sich  als  Vorbereitungsmaterial   fur 
das  Berliner  AnschluBtreffen. 

Bei  der  Fertigstellung  dieses  Heftes  sind  allerdings  auch  einige 
Schwierigkeiten  aufgetaucht,  die  wir  nicht  verschweigen  wollen. 
So  ist  vor  allem  das  Tagungsprotokoll ,  das  den  Teilnehmern  mbglichst 
rasch  zu  gehen  sollte,  erst  jetzt  fertiggeworden. 
Ebenfalls  sind  zugesagte  Beitrage  zu  zentralen  Problemen  wie  Erzie- 
herselbstverstandnis  oder  Kritik  an  Neukonzeptionen  geschlossener 
Heime  nicht  erstellt  worden.  Gerade  weil  der  Info-Zusammenhang  aus- 
schlieBlich  von  Praktikern  getragen  wird,  sind  wir  auf  eine  funktio- 
nierende  Arbeitsteilung  in  hohem  MaBe  angewiesen,  mussen  Absprachen 
wirklich  eingehalten  werden. 

Wir  hoffen  aber,  daf3  mit  Hilfe  von  Kolleg(inn)en,  die  kurzfristig 
bereit  waren,  Beitrage  zu  schreiben,  eine  brauchbare  Material saram- 
lung  zustande  gekommen  ist. 

Den  Auftakt  bilden  das  Protokoll   der  Kblner  AbschluBdiskussion  und 
der  von  Kindern,  Jugendl ichen  und  Erziehern  zusamraengestellte  Beitrag 
"Gedanken  iiber  unser  Leben  im  Heim",   der  den  Heimalltag  einer  ver- 
gleichsweise  fortschrittl ichen  Einrichtung  sehr  hautnah  an  den  auch 
dort  erfahrbaren  Grenzen  beschreibt.   In  einer  eher  analytischen  Pro- 
blemskizze  "Heimstruktur  und  Erziehersituation"  werden  grundlegende 
institutionelle  und  strukturelle  Probleme  herausgearbeitet,  die  den 
Rahmen  fur  Erziehungsarbeit  definieren.  Zugleich  diskutiert  dieser 
Beitrag  strategische  Oberlegungen  flir  eine  Handlungsperspektive  der 
Erzieher.   Er  stellt  damit  die  theoretische  Klammer  zu  dem  Bericht 
"Gewerkschaftliche  Arbeit  in  einer  Betriebsgruppe"  dar.  Der  ver- 
gleichsweise  unterentwickel ten  gewerkschaftl ichen  Organisierung 
von  Heimerziehern  in  der  OTV  kommt  eine  zentrale  Bedeutung  fur  Ver- 
anderungsversuche  an  der  Heimbasis  zu.   Das  war  Konsens  der  Kblner 
Tagung.   Allerdings  erfordern  die  besonderen  Bedingungen  von  Lohn- 
erziehung  im  Heim  eine  entsprechend  quali tativ-inhal tlich  entwickelte 
Gewerkschaftsarbeit,  deren  Umrisse  bisher  nur  vage  deutlich  werden. 

Die  sich  anschlieBenden  "Berichte  aus  totalen  Institutionen"  -  Heim, 
Psychiatrie  und  Gefangnis  -  zeigen,  wie  sich  grundlegende     Struktur- 
prinzipien  der  Heimerziehung,  die  im  ersten  Teil   thematisiert  wurden, 
unter  Bedingungen  totaler  Abschottung  verhangnisvoll   zu-spitzen. 
Das  Verhalten  wird  hier  radikal   von  gesellschaftlichen  Verh'a'ltnissen 
abgetrennt  und  einer  perfiden  Manipulation  ausgesetzt.  Mit  der  pro- 
pagierten  fachlich-psychologischen  Ausstattung  diirften  die  neu  kon- 
zipierten  geschlossenen  Heime  diesen  gewaltsamen  Zugriff  auf  die 
"innere  Natur"  der  Insassen  nur  noch  subtiler  ausweiten.   Darauf  weist 
die  Stellungnahme  einer  Arbeitsgruppe  hin,  die  anla'Blich  einer  Fach- 
tagung  der  Internationalen  Gesellschaft  flir  Heimerziehung  im  Mai 
dieses  Jahres  zustande  gekommen  ist     und  die  wir  noch  einmal  ab- 
drucken. 


Im  dritten  Teil  des  Schwerpunktthemas  stellen  wir  "Alternativen  zur 
totalen   Institution"  vor,   die  direkt  an  den  Lebenszusammenhangen 
der  Betroffenen  ansetzen  und  versuchen,  die  Selbsthilfepotentiale  von 
Familien,  Kindern  und  Jugendlichen  zu  mobilisieren  und  zu  unterstlitzen. 
Der  Bogen,  der  sich  vom  Konzept  des  "Famil ienhelfers",  wie  es  die 
Berliner  Gesellschaft  fur  Heimerziehung  entwickelt  hat  und  prakti- 
ziert,  iiber  das  "Kinderschutzzentrum"  mit  seinem  mehrdimensionalen 
Hi  lfsangeboten  fiir  Familien,  uber  die  "Werkschule"   bis  zum  selbst- 
organisierten  Jugendhof  "Kollektiv"   in  Odenthal-Klev  erstreckt, 
skizziert  eine  vorstellbare  integrierte  Familien-  und  Gemeinwesen- 
arbeit,  die  das  fur  unser  Jugendhilfesystem  charakteristische  Merk- 
mal   des  repressiven  Eingriffs  endgultig  aufgibt. 
Der  Beitrag  "Jugendfiirsorge  -  Kontroll-  und  Eingriffinstrument  des 
burgerlichen  Staates  in  Arbeiterfamil ien"  setzt  sich  mit  dem  Recht 
der  Heimeinweisungsbehbrden.dem  Jugendhilferecht  und  der  Jugend- 
hi lferechtsreform, auseinander. 

Beitrage  zur  offenen  Jugendarbeit;  "Selbstbestimmung  und  der  Weg  dort- 
hin  -  zum  Aktionsradius  von  Berufspadagogen  im  Vorfeld  von  Selbstbe- 
stimmung und  Selbstorganisation"   und  "Was  ist  los  im  Jugendzentrum" 
sowie  Beitrage  zu  Repression  und  Widerstand  schlieBen  das  Heft  ab. 

Dieses  Heft  des  Info  Sozialarbeit  mit  seinem  Schwerpunktthema"Heim- 
erziehung  -  Kritik  und  Alternativen"  ist  Ergebnis  der  Diskussionen 
auf  der  Kblner  Heimerziehertagung  und  der  sich  daraus  entwickelnden 
Zusammenarbeit. 

Die  Zusammenstellung,  Auswahl   und  die  redaktionelle  Bearbeitung  der 

vorliegenden  Beitrage  haben  vorgenommen: 

Elisabeth  Gliicks,  Mlinster 

Glinter  Pabst,  Offenbach 

Jochen  Schaffer,  Westberlin 

Barbara  Wolf-Kunze,  Westberlin 

Erhard  Wedekind,   Kbln 


Redaktionskollektiv   Info  Sozialarbeit 
Kbln,  Oktober  1977 


-  5  - 


AUFRUF  ZUM  2.  HEIMERZIEHERTREFFEN 
lo./  11.  DEZEMBER  IN  WESTBERLIN 


Zur  ersten  Arbeitstagung  am  25./26.Juni   1977  (siehe  Protokoll   S.7) 
versammelten  sich  etwa  12o  Heimerzieher,  Sozialarbeiter  und  Studenten, 
urn  liber  die  Situation  in  der  Heimerziehung  zu  diskutieren  und  gemein- 
same  Ansatzpunkte  zu  finden,  den  Repressionen  von  auBen  und  den  resig- 
nativen  Haltungen  innerhalb  der  Heime  entgegenzutreten. 

Es  bildeten  sich  vier  Arbeitsgruppen,  die  sich  mit  verschiedenen  Pro- 
blemkreisen  aus  der  Praxis  der  Heimerziehung  befassen: 

-  Heimerziehung  im  System  der  Jugendhilfe 

-  Arbeitsbedingungen  im  Heim  (gewerkschaftl iche  Organisierung  etc.) 

-  Padagogik  im  Heim 

-  Alternative  Einrichtungen, Arbeitssuche, Situation  der  Betroffenen 

Neben  der  Fortfiihrung  dieser  Diskussionen  schlagt  der  Arbeitskreis 
"Heimerziehung",  der  die  Tagung  vorbereitet,  vor,  den  Schwerpunkt 
auf  die  bevorstehende  Einfiihrung  geschlossener  Heime  zu  legen,  urn  in 
der  Diskussion  eine  gemeinsame  Strategie  des  Handelns  gegeniiber  ge- 
schlossenen  Einrichtungen  zu  finden. 

Folgende  Fragestellungen  sollten  u.a.   diskutiert  werden: 

-  Wie  kommt  es  zu  dem  Ruf  nach  geschlossenen  Heimen,  was  veranlaBt 
z.B.   die  Erzieher,  die  geschlossene  Unterbringung  als  letzte  wirk- 
same  MaBnahme  zur  Bewaltigung  der  Probleme  mit  "besonders  schwier- 
igen"  Kindern  und  Jugendlichen  zu  erwagen? 

-  Was  veranlaBt  die  ftmter,  geschlossene  Unterbringung  als  Erziehungs- 
maBnahme  zu  beflirworten? 

-  Wie  kb'nnen  wir  gegen  die  Wiedereinflihrung  von  geschlossenen  Heimen 
vorgehen?  Welche  Alternativen  gibt  es,  um  Heimeinweisungen  zu  ver- 
hindern? 

-  Welche  Rolle  spielt  das  Jugendamt  nach  der  Heimeinweisung  fur  die 
Kinder,  Jugendlichen  und  Erzieher? 

-  Kbnnte  eine  intensivere  Zusammenarbeit  zwischen  den  Heimen  und 
ftmtern  bzw.   Heimerziehern  und  Sozialarbeitern  falsche  Entschei- 
dungen  liber  Heimeinweisungen  und  Verlegungen  verhindern? 

-  Welche  Folgen  wi  rd  die  erneute  Klirzung  des  Heimetats  fur  die  pa'da- 
gogische  Praxis  der  Erzieher  in  den  Heimen  haben? 

Zu  der  Arbeitstagung  sind  natiirlich  auch  diejenigen  herzlich  einge- 
laden,  die  von  der  Kblner  Tagung  nicht  informiert  waren  oder  nicht 
teilnehmen  konnten.     Anmeldungen  und  Informationen  bei : 

Jutta  Schone,   Beusselstr.   65,   looo  Berlin  21     Telf.  o3o/  393  68  35 


Manfred  Rabatsch,  Westberlin 

PROTOKOLL  VOM  ABSCHLUSSPLENUM  - 
HEIMERZIEHERTREFFEN  25/26.  JUNI  1977  IN  KDLN 


Das  folgende  Protokoll    ist  nach  Tonbandaufnahmen  angefertigt  worden. 
Die  Diskussion  erfolgte  an  Schwerpunktthemen,  die  einen  Einstieg 
in  die  zuklinftige  Wiederaufnahme  der  bffentlichen  Auseinandersetzung 
iiber  den  Zustand  und  die  Forderungen  zur  Veranderung  der  Lage  von 
Kindern,  Jugendlichen  und  Erziehern  in  Heimen  ermoglichen  sollten. 

Bedingung  fiir  die  Diskussion  war  ein  erhebliches  Gefalle  zwischen 
den  formalen  Arbeitsbedingungen:  Angefangen  von  Einrichtungen,  in 
denen  12  Sozialarbeiter  und  Erzieher  20  Kinder  betreuen  bis  zu  Ein- 
richtungen, in  denen  die  Kollegen  gezwungen  sind,  jede  zweite  Nacht 
Nachtdienst  zu  machen. 

Diese  Spannweite  zwischen  den  Belastungsfaktoren  im  Arbeitsal ltag 
ist  fiir  die  Frage  unserer  Mbglichkeiten,  liber  den  VerschleiB  der 
Arbeitskraft  hinaus  an  auBerberuf lichen  politischen  Aktivitaten  - 
im  Zusammenhang  mit  unseren  Berufsvollzligen  -  tatig  zu  sein,  von 
erheblicher  Bedeutung. 

Diese  Problematik  ist  ein  zentraler  Faktor  fiir  die  gewerkschaftl  iche 
Arbeit,  mit  der  wir  auch  darauf  hinwirken  mlissen,   daB  wir  als  Kolle- 
gen mehr  Mbglichkeiten  entwickeln,  um  zu  einer  vernlinftigen  Ko- 
operation  am  Arbeitsplatz  zu  kommen. 

Ein  weiterer  Schwerpunkt  befaBte  sich  mit  der  Schwierigkei t,     unter 
den  vorhandenen  Strukturen  und  Machtverhaltnissen  zwischen  den  Heim- 
tragern/Tragern  der  Jugendhilfe  und  den  Erziehern  einen  inhaltlich- 
padagogisch-persbnlichen  Bezug     zu  den  Interessen  der  Kinder  und  Ju- 
gendlichen herzustellen.  Wahrend  der  Arbeitsgruppendiskussion  am 
Vortag  war  durch  Berichte  von  betroffenen  und  erfahrenen  Kollegen  ein 
ErrtichterungsprozeB  eingetreten.  Man  kam  sehr  deutlich  davon  weg, 
idealistische  Vorstellungen  und  Konzepte  eines  ausschlieSl ichen  So- 
lidarisierungsansatzes  in  der  Praxis  zu  vertreten.ohne  unsere  Inter- 
essen als  Erzieher  und  Sozialarbeiter  miteinzubeziehen.   WirmuBten 
feststellen,  daB  es  nur  wenige  konkrete  Ansatzpunkte  gibt,  an  denen 
so  etwas  wie  Interessengemeinsamkeiten,  spontanes  Sich-Wohlfuhlen 
mit  den  Kindern  und  Jugendlichen  in  der  heutigen  Praxis  ohne  groBe 
Hindernisse  erfahrbar  sind.   Hier  muB  es  fiir  uns  in  der  Zukunft  auch 
um  die  Oberlegung  gehen,  wie  das  Bediirfnis  der  Kinder  und  Jugendli- 
chen nach  Autonomie  im  Alltagsleben  des  Heimes,  das  bereits  durch 
die  Liberal  1    splirbare  Abhangigkeit  von  Zuwendungs-  und  Entscheidungs- 
formen  der  heimoffiziellen  Seite  gebrochen  wird,   durch  eine  reali- 
stische  Strategie  von  Erziehung  zu  unterstiitzen  ist. 

Ein  dritter  Schwerounkt  befaBte  sich  mit  der  heimlibergreifenden 
Strategie.   Welche  Mbglichkeiten  haben  wir  nach  den  bisherigen  Erfah- 
rungen  alternativer  Ansatze,  die  Heimerziehung  Liberhaupt  zu  pro- 
blematisieren.   Welche  anderen  Wege  der  Zusammenarbeit  mit  den  Stadt- 


teilgruppen,  mit  den  Familien  und  den  Kollegen  in  den  Jugend- 
a'mtern  sind  mbglich?  Gerade  diese  letzte  Gruppe  von  Kollegen,  die 
Heiraeinweisungen  vornehmen,  vornehmen  mlissen  (?)  aber  nicht  wollen, 
muB  sich  fragen,  wie  eine  Jugendflirsorge-,  Famil ienfursorgearbeit 
aussieht,   die  ausschlieBlich  an  den  Lebensumstanden  von  Arbeiterle- 
bensverhaltnissen  ansetzt.  Wie  sieht  die  Alternative,  die  Verbin- 
dunq  einer  Strategie  im  Heim  mit  einer  Strategie  offener  Hilfen-evtl. 
im  Stadtteil   -  aus? 

Diese  Zusammenfassung  von  Themen  aus  den  Arbeitsgruppen  des  Vortages 
war  der  Plenumsdiskussion  vorangestel It.   Sie  ging  auch  auf  den  Ein- 
druck  zurlick,   daB  wir  uns  starker  in  einer  Defensive  befinden  und 
es  erst  einmal   darauf  ankommt,  eine  Oberlebensstrategie  im  Erzieher- 
alltag  zu  finden.   Wie  ist  es  mbglich  zu  verhindern,  daB  wir  physisch 
von  unseren  Kraften  her  und  psychisch  von  unserer  Identitat  her 
vor  die  "Hunde"  gehen,  ohne  daB  wir  uns  aufopfern  und  Illusionen 
nachjagen.    In  dieser  Klemme  befinden  sich  viele  und  erst,  wenn 
wir  auch  auf  diese  Lage  eingehen,  werden  wir  parallel   dazu  den  nach- 
sten  Schritt  der  Entwicklung  von  Lernzielen  in  Richtung  "Strategie 
nach  auBen"  angehen  kbnnen. 

Urn  die  Widerspruchlichkeit  und  die  Schwierigkeit  nicht  zu  unterschla- 
gen.in  der  jetzigen  Phase     eine  systematische  Diskussion  vor  dem 
Hintergrund  so  weit  auseinanderklaffender  Arbeitsbedingungen  und 
unterschiedl ichster  inhaltlicher  Interessen  in  der  Zusammensetzuno 
des  Heimerziehertreffens  liberhaupt  fiihren  zu  kbnnen,  werden 

im  folgenden  Text  Beitra'ge  nach  dem  Ablauf  der  Diskussion  wiederge- 
geben. 


ARBEITSBEDINGUNGEN 

Ich  bin  Honorarkraft  im  Rahmen  von  Famil ienhilfe  und  beim  Bezirks- 
amt  in  Berlin  ohne  Arbeitsvertraa  "angestellt".  Irgendwelche  Absi- 
cherungen  wie  Krankenversicherung,  Urlaubsanspruch,  Arbeitslosen- 
unterstiitzung  bestehen  nicht. 

Honorarkrafte  wie  die  Famil ienhelfer  gibt  es   in  den  meisten  Berei- 
chen  der  Jugendhilfe  in  groBer  Zahl,  so  daB  es  notwendig  ist,  daB 
sich  diese  Kollegen  urn  einen  sta'rkeren  ZusammenschluB  -  auch  in 
der  Gewerkschaft     -  bemiihen.    Das   ist  auch  deshalb  notwendig,  weil 
eine  groBer  werdende  Gruppe  von  Sozialarbeitern,  Erziehern  und  So- 
zialpa'dagogen  bei  Arbei tslosigkeit  darauf  anqewiesen  sind,  als  Hono- 
rarkrafte unter  den  ungesicherten  arbeitsrechtlichen  Bedingungen  zu 
arbeiten.  Viele  dieser  Kollegen  arbeiten  4  bis  10  Stunden  in  der  Wo- 
che,  weil   sie  in  der  Mehrheit  fur  eine  bestimmte  Tatigkeit  nicht 
mehr  Stunden  zugebilligt  erhalten.   Daneben  qibt  es   in  den  meisten 
Bundeslandern  eine  Honorarordnung,  in  der  ein  Hbchstbetrag  an  Hono- 
raren  pro  Monat  und  Person  festgelegt  ist.   Diese  Festlegung  soil 
verhindern,  daB  Honorarkrafte  aus  diesem  Einkommen  uberwiegend  ih- 
ren  Lebensunterhal t  bestreiten.   Dagegen  vorzugehen  ist  eine  dringen- 
de  gewerkschaftliche  Aufgabe. 

Andererseits  stellt  sich  fur  die  Kooperation  zwischen  Honorarkraf- 
ten  in  der  Praxis  die  Fraqe,  mit  welchen  Forderungen  im  gewerkschaft- 
lichen  Bereich  gemeinsam  vorgegangen  wird.   Stellen  wir  uns  4  Honorar- 


krafte mit  je  10  Stunden  in  einem  Heim  vor,  die  in  der  dort  beste- 
henden  Betriebsgruppe  mit  den  Kollegen  Angestellten  zusammenarbei- 
ten.  Fordern  sie  gemeinsam  die  Abschaffung  von  4  Honorarkra'ften     und 
dafu'r  1   Stelle  fiir  einen  Erzieher  Oder  Sozial arbei ter? 

Zu  fordern  ist  ein  Arbei tsvertrag  fiir  jede  Honorarkraft  mit  alien 
arbeitsrechtlichen  und  sozialversicherungsrechtlichen  Ansprlichen. 
Denn  sie  werden  von  den  Arbeitgebern  irrmer  wieder  eingesetzt,  weil 
sie  billigere  Arbeitskrafte  sind  als  die  Angestellten,  da  die  Ar- 
bei tgeberanteile  fiir  die  Sozialversicherung  nicht  gezahlt  werden 
mlissen  und  diese  Gruppe  leicht  gegen  die  Angestellten  in  Konflikt- 
situationen  ausgespielt  werden  kann. 

Diese  Problematik  ist  in  engem  Zusammenhang  mit  der  Situation  von 
Praktikanten  wa'hrend  der  Ausbildung  und  der  Berufspraktikanten  nach 
dem  Examen  zu  sehen.   Denn  viele  dieser  Praktikanten  werden  nicht 
nur  als  billige  Arbeitskrafte  eingesetzt,  wenn  sie  mit  der  Arbeit 
einer  vollen  Erzieher-  oder  Sozialarbeiterstelle  belastet  werden, 
dafiir  aber  nur  1/5  oder  die  Ha'lfte  des  BAT-Tarifs  erhalten.  Sie  wer- 
den auch  durch  die  Abha'ngigkei  t  von  einem  Tatigkeitsbericht  (Zeug- 
nis)  friihzeitig  in  die  Anpassung  an  herrschende  konservative  bzw. 
ru'ckschrittliche  Arbei tsvollziige  gepreBt  ,um  auf  diese  Weise  eine 
politische  Enthal tsamkeit zu  erzeugen. 

Es   ist  also  notwendig,  den  Status  der  Berufspraktikanten  in  zwei   Rich- 
tungen  abzusichern.   Zum  einen,   daB  sie  voll    bezahlt  werden  -   insbe- 
sondere  die  "soziale  Demontage",  die  Ruckstufung  der  Berufsprakti- 
kantenlbhne  von  75  %  auf  66  2/3  %  des  BAT-Tarifs  muB  rlickgangig  ge- 
macht  werden  -  und     zum  zweiten,  daB  sie  in  keinem  Fall   die  alleini- 
ge  Verantwortung  fiir  eine  Gruppe  im  Erzieherbereich  oder  eine  Stel- 
le in  der  Sozialarbeit  ubernehmen. 

Wie  schwierig  es  ist,  die  rechtlichen  Rahmenbedinqunoen  abzuklaren, 
unter  denen  wir  arbeiteten,  zeigten  3  Beitrage: 

•  Es  fehlen  Informationen,  mit  denen  zu'giq  und  zuverlassig  eine 
Diskussion  hinsichtlich  der  Problemstellungen  fundiert  werden  kann. 
Z  B     existieren  mehrere  Formen  von  Praktikantenstatus  in  den     ver- 
schledenen  Arbeitsbereichen.  Unterschiedlich  sind  sie  vom  Schulbereich 
bis  zum  Jugendhilfebereich  ebenso,  wie  innerhalb  der  Jugendhilfe  von 
der  geschlossenen  iiber  die  halboffene  bis  zur  offenen  Jugendhilfe. 
Oft  werden  unterschiedl iche  Praktika  mit  unterschiedl ichen 
rechtlichen  Voraussetzungen  gleichgesetzt,  die  so  gar  nicht  existie- 
ren    Hier  ist  es  notwendig,  daB  sich  die  Fachoberschulen,  Fachhoch- 
schulen  und  Universitaten  bereits  mit  dieser  rechtlichen  Seite  aus- 
einandersetzen,  um  muhsame  Informationsarbeit  in  spaterer  Praxis 
gar  nicht  erst  leisten  zu  mlissen. 

t  Nicht  nur  wegen  der  fehlenden  Informationen,  sondern  auch  wegen 
der  fehlenden  Erfahrung  mit  Auseinandersetzungen  und  Forderungw  zu 
den  Arbeitsbedingungen  von  Honorarkra'ften  und  Praktikanten  gegenuber 
Arbeitqebern  auBerhalb  und  innerhalb  der  Gewerkschaften  kann  die 
Konsequenz  fiir  eine  Strategie  noch  nicht  gezogen  werden.  Notwendig 
ist  eine  Entwicklung  des   kontinuierlichen  Erfahrungsaustausches  von 
Stadt  zu  Stadt  und  Gruppe  zu  Gruppe.   Hier  muB  unbedingt  berucksich- 


tigt  werden,  daB  insbesondere  Honorarkrafte  wegen  ihrer  begrenzten 
Zeit  und  Kompetenz  auch  von  ihren  objektiven  Arbeitsbedingunen  her  nur 
schwer  in  der  Lage  sind,  Arbeitskontinui  tat  Uber  ihre  bezahlte  Arbeit 
hinaus  aufzubringen.   Es  muS  sicher  Kollegen  geben,  die  hier  eine 
Initiativfunktion  mit  Koordinierungsaufgaben  iibernehmen.   Hier  muB 
wahrscheinlich  die  Gewerkschaftsgruppe  Prioritat  haben. 

•  Heimerzieher  gehoren  zu  der  Berufsgruppe  im  Jugendhilfebereich.die 
den  qeringsten  gewerkschaftlichen  Organisationsgrad  haben. 
Er  liegt  bei  ca.   8%.   Da  die  Mehrheit  der  anwesenden  Kollegen  in  Kbl n 
jedoch  gewerkschaftlich  -  meist  DTV  -  organisiert  waren,  wurde  die 
Wirkung  gerade  der  Gewerkschaftsdiskussion  wahrend  der  Tagung  als 
positiv  beurteilt.   Konkret  a'uBerte  ein  Teilnehmer,  daB  er  mit  anderen 
zusammen  durchaus  eine  Orientierung  fur  die  Weiterarbeit  erhalten 
hatte.   Dagegen  weist  der  geringe  Organisierungsgrad  von  Heimerziehern 
insgesamt  auf  ein  Problem  hin,  mit  dem  wir  uns   in  der  Al ltagsarbeit 
auseinandersetzen  mlissen.   Der  VermutLing  namlich,  daB  viele  Kollegen 
den  erfahrenen  physischen  und  psychischen  StreB  gar  nicht  so  sehr  auf 
die  bkonomischen  Arbeitsbedingungen  beziehen  sondern  in  erster  Linie 
an  der  Beziehungsebene  mit  den  Kindern  festmachen.   Sie  sagen,   da 
komme  ich  m'cht  klar,  ich  pack'  das  nicht.   Deshalb  wird  es  darauf  an- 
kommen>die  Gewerkschaftsarbeit  nicht  nur  auf  die  Lohnfrage  auszu- 
richten  sondern  auch  die  Bereiche  der  Arbeitsbedingungen,  wo     die  In- 
teressen  der  Kollegen  und  der  Kinder  und  Jugendlichen  gleichermaBen 
betroffen  sind,   einzubeziehen.  Wenn  das  nicht  gelingt,  droht 

die  Gewerkschaftsarbeit  borniert  standisch  zu  werden  und  bringt  auch 
keine  neuen  Kollegen  in  die  Gewerkschaft.  Gerade  weil  wir  die  Erfah- 
rung  machen  muSten,  daB  das  Verstandnis  der  OTV-Fuhrung  fur  die  Ver- 
schrankung  von  okonomischen  mit  padagogischen  Problemen  unterent- 
wickelt  ist, und  ein  politisches  Interesse  von  der  Fuhrung  daflir  auch 
nicht  vorhanden  ist,  miissen  wir  dieses  BewuBtsein  daflir  vdllig  allein 
von  unten  entwickeln. 

Wir  sollten  auch  starker  auf  Erfahrungen  aus  der  Geschichte  von  ge- 
werkschaftl ichen  und  anderen  politischen  Auseinandersetzungen  in  die- 
sem  Bereich  lernen.    Die  Erfahrungen  des   1-tagigen  Warnstreiks  der 
Kinderqartnerinnen  aus  Berlin-Kreuzberg  vom  September  1969  und  die 
Streikbewegung  in  Frankfurt  197o  mit  ihren  differenzierten  Einschat- 
zungen  der  Forderungen  zur  Verbesserung  der  Arbeits-  und  Ausbildungs- 
bedingungen  sollten  hier  berucksichtigt  werden.   Insbesondere  der  Fak- 
tor  des  Einflusses  eines  Drucks  von  der  Basis  auf  die  Gewerkschafts- 
fuhrung     macht     es  mdglich,  bkonomische  und  padagogische  Probleme 

unter  politischen  Gesichtspunkten  des  Zustandas  der  Gesellschaft  zu 
sehen  und  zu  behandeln. 

Dabei  ist  zur  Vermeidung  von  Fehleinschatzungen  und  zur  Entwicklung 
einer  richtigen  Handlungsstrategie  notwendig  und  auch  mdglich, im 
Bereich  der  Erziehung  in  Kindertagesstatten,  Krippen  und  Horten.mit 
den  Eltern  zusammenzuarbeiten.  Das  ist  in  Berlin  und  Frankfurt  z.B. 
auch  geschehen.   Der  dadurch  fur  die  Politiker  in  Regierungs- 
verantwortung  entstehende  Druck  wird  auch  von  der  Offentlichkei t(Pres- 
se.Rundfunk.Fernsehen)  aufgegriffen  und  politisch  brisanter  einge- 
scnatzt.    Dagegen  kann  diese  Strategie  in  den  Heimen  kaum  verfolgt 
werden,  denn  eine  Elternarbeit  wird  weder  von  den  Heimen  noch  von  den 
Jugendamtern  durchgefu'nrt  Oder  nach  unseren  Erfahrungen  auch  nur  ge- 
wLinscht  oder  unterstutzt.    Daher  ist  das  Problem  mdglicher  KampfmaB- 
nahmen  wesentlich  schwieriger  zu   Ibsen.   Denn  wahrend  die  Eltern  in 

-   10  - 


den  Kindertagesstatten  durch  eine  gute  Informations-  und  Dffentlich- 
keitsarbeit  durchaus  ein  inhaltliches  Verstandnis  und  Interesse  flir 
die  Forderungen  der  Erzieherinnen  entwickeln,   in  deren  Folge  sie  die 
Kinder  fur  einen  oder  mehrere  Tage  wahrend  des  Streiks  nicht  in  die 
Kita  bringen,  ist  das  flir  die  Heimerzieher  ausgeschlossen. 


An  dieser  Stelle  der  Diskussion  wurde  darauf  hingew 
nur  ein  erheblicher  Unterschied  in  den  Erfahrungen 
verschiedener  Arbeits bereiche  und  -anforderungen  vo 
Es  bestand  auch  ein  starkes  Gefalle  im  Informations 
politische  Entwicklung  der  vergangenen  lo  Jahre  und 
Einschatzung.    Daher  wurde  auch  dagegen  gesprochen 
Liber  Organisationsformen  -  ob  innerhalb  oder  auBerh 
schaft  -  zurlickgestellt  wird.  Wichtig  ist,  daB  wir 
wie  die  Isolierung  der  Kollegen  bereits   in  den  einz 
tereinander  aufgehoben  werden  kann,  urn  dann  Uberhau 
finden  zu  kbnnen,  wie  die  Diskussion  lanqfristig  zu 

INTERESSEN  DER  KINDER  UND  JUGEND- 
LICHEN  -  LOHNERZIEHERINTERESSEN 


iesen,  daB  nicht 
aufgrund  oft  sehr 
rhanden  ist. 
stand  Liber  die 

die  theoretische 
daB  die  Diskussion 
alb  der  Gewerk- 
darauf  eingehen, 
elnen  Heimen  un- 
pt  erst  Formen 

fiihren  ist. 


Wenn  wir  nur  eine  Gewerkschaftsstrategie  verfolgen,  urn  unsere  Arbeits- 
bedingungen isoliert  von  den  BedLirfnissen  der  Kinder  und  Jugendlichen 
in  den  Heimen  zu  verbessern,  dann  heiBt  das  flir  die  Kinder  und  Jugend- 
lichen zunachst  noch  gar  nichts.   Dann  geht  es  uns  vielleicht  besser, 
man  kann  auch  mit  den  Kollegen  ein  besseren  Verhaltnis  haben,  aber 
fur  die  Kinder  und  Jugendlichen  hat  sich  noch  nichts  verbessert. 
Andererseits  reicht  es  auch  nicht  aus,  nur  zu  sagen:      wir  mlissen  doch 
etwas  tun  und  uns      flir  die  Kinder  und  Jugendlichen  einsetzen     ,bevor 
unser  Verhaltnis  zu  ihnen  abgeklart  ist.   Diesen  Bruch  und  Widerspruch 
zwischen  unseren  und  deren  Interessen  mlissen  wir  genauer  diskutieren. 

Es  ist  deshalb  die  Frage,  ob  unsere  Identita't  mit  den  Interessen  der 
Kinder  und  Jugendlichen  allein  der  Orientierungspunkt  ist.   Denn  wir 
haben  auch  massiv*  Schwierigkeiten  mit  unserer  Funktion  umzugehen  als 
jemand,  der  flir  Lohn  Kinder  erzieht.  Weiter  stehen  wir  vor  den  All- 
tagskonflikten,  daB  uns  Kinder  Schwierigkeiten  bereiten,   "auf  die 
Nerven  gehen".    Diese  Erfahrungen  finden  in  einem  System  statt,  das 
sich  Institutionen  und  eigene  Gesetzma'Bigkeiten  geschaffen  hat,  das 
uns  in  Abhangigkeiten  bringt,  Arbeitsleistungen  fordert.  Dieses  Sys- 
tem konfrontiert  uns  z.B.    taglich  mit der    Forderung,   daB  der  ein  gu- 
ter  Erzieher  ist,  der  immer  eine  ruhige,  saubere,  aufgeraumte  Gruppe 
hat.   Dagegen  stehen  unsere  eigenen  Forderungen  und  Vorstellungen, 
wip'wir  Kinder  erziehen  wollen.   Viele  Kollegen  befinden  sich  bereits 
auf  einem  "Verweigerungstrip".   Sie  sagen:    lassen  wir  die  Kinder  lau- 
fen,   es  wird  schon  irgendwie  gehen  ;sie  werden  damit  aber  nicht  mehr 
fertig. 

Hier  Ziele  zu   finden,  an  denen  eine  Orientierung  fur  Kollegen  mdglich 
ist  -  sie  kbnnen  in  der  Gewerkschaft,   in  der  Identif ikation  mit  den 
Betroffenen  liegen  aber  auch  darin,  Heimerziehung  tendenziell   aufzu- 
heben     unseren  eigenen  Arbeitsplatz  wegzurationalisneren,   bedeutet 
auch, 'mit  den  in  unserer  Arbeit  und  unseren  Kbpfen  vorhandenen  Wider- 
spriichen  bewuBt  umzugehen. 


11   - 


Erst  wenn  wir  uns  ein  Stlick  selbst  einbringen  kbnnen  in  unsere  Ar- 
beit, wenn  wir  ein  Stuck  produktiv  sein  kbnnen  mit  den  Kindern(diese 
Situation  besteht  aber  nicht  flir  die  meisten,    sondern  die  Arbeitsver- 
ha'ltnisse  sind  so  geartet,  daB  die  meiste     Energie  fur  Oberlebensstra- 
tegien  draufgehen)  werden  wir  auch  Widerstand  entwickeln  kbnnen, 
weil  wir  eine  Perspektive  in  der  Erziehung  erkennen. 
Wir  mlissen  daher  einen  Rahmen,   einen  Inhalt  von  Erziehungsarbeit  dis- 
kutieren,  der  unseren  allgemeinen  Einschatzungen  von  Interessen  und 
Bedlirfnissen  der  Kinder  und  Vorstel lungen  von  Organisierung  und  Wider- 
stand  der  Kollegen  ein  perspektivisches  Fundament  gibt. 


Um  da  hi n  zu   kommen,  mlissen  wir  auch  unsere  eigene 
rlicksichtigen,  denn  die  Art  und  der  Inhalt  unserer 
zesse     bestimmt  das,  was  wir  in  der  Erziehung  mit  d 
Jugendlichen   im  Heim  machen.   Wir  verhalten  uns  desh 
konkreten  Erziehungssituation  nach  dem  eigenen  mora 
tischen  Wertsystem.    Wenn  wir  die  Kinder  und  Jugendl 
setzen,   ihre  eigenen   Interessen  und  Bedlirfnisse  anz 
werden  wir  erst  mal   geschockt  sein,   da  sie  sich  auc 
ten.    Die  Kinder  und  Jugendlichen  haben  oft  erst  mal 
auf  unsere  Vorschlage  oder  Vorstellungen     einzustei 
ziemliche  Kluft  zwischen  deren   {  auch  durch  kaputt 
entstandenes)Verhal ten  und  unseren   Interessen  zum  A 


Sozialisation  be- 
eigenen  Lernpro- 
en  Kindern  und 
alb  auch  in  der 
lischen  und  pol i- 
ichen  instand- 
upacken,  dann 
h  gegen  uns  rich- 
gar  keine  Lust 
gen.   Es  kommt  eine 
gemachte  Bedlirfnisse 
usdruck. 


Der  Beitrag  eines  Genossen  vom  Kleverhof  bei   Kbln(Jugendwohnkollek- 
tiv,   siehe  S.  65  )    lieferte  nun  eine  neue  Ebene  der  Diskussion  zum 
Thema  der  Interessen  von  Jugendlichen  in  Heimen: 

"Ich  weiB,  daB  es  wahnsinnig  viele  Jugendliche  gibt  in  der  Heimerzie- 
hung,   die  in  Heimen  selber  arbeiten  und  fast  uberhaupt  kein  Geld  da- 
flir  bekommen.   Die  Gewerkschaft  klimmert  sich  nicht  um  diese  Jugend- 
lichen, weil   diese  Jugendlichen  halt  "AusschuB"   sind.   Da  ware  ein  An- 
satzpunkt,   gleiche  Interessen  zu  haben  mit  den  Jugendlichen.   Das 
fangt  an  bei   der  Rentenversicherung.  Wenn  man  17  Jahre  im  Heim  ist 
Oder  noch  langer  und  eine  Rentenversicherung  m'e  abgeschlossen  hat 
und  nie  Lohn  gezahlt  wurde,   dann  sind  das  flir  uns   sehr  wichtige  Pun- 
kte.   Ein  anderes  Problem  ist  die  Ausbildung.  Die  meisten  Jugendlichen 
kbnnen  einen  HauptschulabschluB  oder  eine  Berufsausbi ldung  in  den 
Heimen  nicht  machen,  weil   das  Heim  eine  Erfolgsmeldung  haben  will. 
Wenn  ich  jetzt  zum  Heimleiter  gehe  und  sage,  o.k.,   ich  mbchte  jetzt 
eine  Lehre  als  Anstreicher  oder  so  machen,  dann  verpflichte  ich  mich 
(als  Jugendl icher)   gleichzeitig,  3  Jahre  im  Heim  zu  bleiben.   Von  da- 
her weigern  sich  die  Jugendlichen,  die  meinetwegen  auch  was  drauf 
haben,   das  also  auch  packen  kbnnten,  die  Lehre  zu  machen." 

In  dem  Augenblick,   in  dem  ich  mich  mit  Jugendlichen  solidarisiere, 
deren  Probleme  plbtzlich  verstehe  und  sie  interpretiere,   bin  ich  der 
Einzelkampfer  in  der  Institution.  Ganz  gezielt  werde  ich  verleumdet 
und  schlecht  gemacht,  daB  meine  Stellung,  meine  Position  schwankend 
wird.   Man  muB  daher  eine  Basis  haben,  man  muB  sagen  kbnnen,   der  Ruk- 
ken  wird  mir  gestarkt  durch  Gewerkschaft,  durch  Fachverband,  durch 
Kollegen  in  der  Institution.   Das  erleben  wir  ja  andauernd,  daB  ein 
Hohenflug  einsetzt  mit  einer  Konzeption,    die  der  Heimleiter  in  sein- 
er Machtposition  auch  akzeptiert.  Nur  wenn  die  Praxis  dann  anlauft, 
wenn  das  Konzept  jetzt  durchgesetzt  werden  soil,  und  plbtzlich  Pro- 
bleme mit  den  Jugendlichen,   die  ich  bearbeiten  soil,   sichtbar  werden 
-  und  die  Probleme  werden  sichtbar  -  dann  ist  das  schlecht. 


CHILE 
DER  MUT  ZU  UBERLEBEN 


Vierfarbiger  Kalender  mit  Stoffbildern  aus  den  Elendsvierteln 

von  Santiago,  die  vom  alltaglichen  Kampf  des  chilenischen 

Volkes  gegen  Elend  und  Unterdriickung  erzahlen. 

Sen  dem  Militarputsch  von  1973  haben  Hunderttausende  von  Chilenen  ihren  Arbeitsplau  verloren.  In  den  Arbei- 
tersiedlungen  beherrscht  der  lagliche  Kampf  um  Nahrung,  Kleidung  und  Behausung,  gegen  Krankheit  und  gegen 
die  uberall  gegenwartige  Repression  das  Leben  der  Menschen.  Gegense.tige  Hilfe  wifd  hier  zur  Ubeilebens  Not 

endiqkeit    So  haben  sich  in  einigen  diesei  Siedlungen  Gruppen  von  Frauen  zusammengefunden,  die  ihren  Alltag 

f  Slotfbildern  (..Applikationen")  darstellan.  Durch  den  Verkauf  dieser  Bilder  konnen  sich  die  Frauen  emige 

Pesos  verdienen.  Uber  die  gemeinsame  Nah-  und  Stickarbeit  gew.nnen  sie  Einsicht  in  die  Ursachen  ihrer  Situation 

nd  entwickeln  Formen  von  solidarischem  Zusammenhalt  Und  schlieRlich  gehen  ihnen  diese  Bilder  auch  die 
Moglichken.  der  Auilenwell  ihr  Elend,  ihren  Kampf  und  ihre  Hoffnungen  mitzuteilen  Die  zumerst  mdirekte 
Form  in  der  die  Frauen  das  Leiden  des  chilenischen  Volkes  ahbilden,  ist  erne  notwendige  VorS'Cht  angesichts  del 
Repression.  Dabei  kommt  in  der  fast  heiteren  Farbigken  diesei  Stotfbilder  etwas  von  dem  Mul  und  der  Zuversichl 
;um  Ausdruck,  diese  Zeit  der  Unterdruckung  !u  uberwirrden. 

Der  Kalender  hat  das  Format  30  X  45  cm 
Endverkaufspreis:  DM  14,- 
Auslieferung:  ab  10.  November  1977 

Vorbestellungen  an:  Chile-Komitee,  c/o  FDCL,  Savignyplatz  5,  1000  Berlin  12 

Der  Erlbs  aus  dem  Verkauf  der  Kalender  wird  zur  Unterstutzung  der  Familien 
von  politischen  Gefangenen  und  Verschwundenen  verwandt. 


12 


Man  wird  abgeschoben  Oder  soil   abgeschoben  werden.   Deshalb  meine  ich, 
daB  Solidarisierung  der  erste  Punkt  ist. 

Ein  weiterer  Faktor,  ist  die  Notwendigkeit  zu  sehen,  daB  Kinder  und 
Jugendliche  von  den  Erwachsenen,  von  den  Erzieherkollegen  und  Sozial- 
arbeitern  nicht  wie  Zbglinge,  sondern  als  Menschen  rait  eigenen   Inter- 
essen  behandelt  werden  mussen.   Eine  Tendenz  wird  standig  verbreitert 
und  forciert,  rait  der  durch  Therapie  und  Psychologie  alle  mbglichen 
Leute  mit  einer  "Macke"  beredet  werden.  Man  sieht  uberhaupt  nicht 
mehr  normale  Menschen,  sondern  will   alle  in  eine  Therapie  bringen. 
Da  gibt  es  in  der  Zwischenzeit  den  Begriff  "einen  ausboxen". 
Es  existieren  daf'ur  Isolierzellen,  wo  jemand  vbllig  aus  dem  Verkehr 
rauskommt  und  fur  eine  bestimmte  Zeit  isoliert  wird  und  dann  wieder 
auf  dem  Teppich  ist. 

So  wird  systematisch  in  den  Kb'pfen  der  Erzieher  und  auch  in  der  Aus- 
bildung  eine  bestinmte  Sichtweise  iiber  das  erzeugt,  was  man  spater 
in  der  Berufsarbeit  "behandelt". 

Dieses  Prinzip  wird  verfolgt,  damit  die  Kollegen  die  Probleme  gar 
nicht  mehr  erkennen  konnen. 

Ein  anderes  Beispiel  aus  einem  Berliner  Heim,  wo  von  Erzieherkollegen, 
die  wegen  standig  vorkommender  Diebstahle  eines  Oungen,  die  Forderung 
nach  einer  geschlossenen  Gruppe  erhoben  wurde.   Die  Polizeidebatte 
habe  ich  auch  schon  mal  gefuhrt  -  was  macht  man  denn,  wenn  im  Heim 
mal    "Alarm"   ist,  ob  der  Nachtdienst  dann  die  Polizei    hoi  en  soil    etc. 
Warum  kommen  denn  solche  Diskussionen  auf? 

Das  Selbstverst'a'ndnis  der  Kollegen  in  Heimen  ist  Uberhaupt  nicht  aus- 
gepragt.  Man  trifft  teilweise  auf  Kollegen,  die  sagen, man  kbnnte  ge- 
nauso  in  irgendeiner  Fabrik  arbeiten.   Es  ware  deshalb  mal   notwendig 
liber  einen  langeren  Zeitraum  in  einer  Zeitschrift  die  Selbstverstand- 
nisdiskussion  zu  fiihren.  Wenn  Kollegen  ihr  Selbstverstandnis  darstel- 
len,  kbnnten  wir  auch  etwas  voneinander  lernen.  Wir  kbnnten  sonst 
beispielsweise  nicht  den  nachsten  Schritt  machen  zu  fragen,  wie  re- 
formieren  wir  das  Jugendhilfesystem,  wie  bekampfen  wir  das  Jugend- 
hilfesystem,  wie  ka'mpfen  wir  uberhaupt  gegen  Heimerziehung 

Es  gibt  aber  noch  einen  weiteren  wichtigen  Faktor.   Es  gibt  auch  noch 
den  Ansatz,  daB  die  Heimerzieher  von  den  Fahigkeiten  der  Kinder  und 
Jugendlichen  lernen  konnen.    Ich     hab  in  dem  einen  Jahr  im  Heim     viel 
von  denen  gelernt,   so  daB  ich  jetzt  sagen  kann,  da  sind  Fahigkeiten, 
Mbglichkeiten  da,  die  ich  bisher  nicht  kennengelernt  habe.   Diese 
Sichtweise  steht  auch  gegen  die  Auffassung  von  Defiziten  bei   den 
Kindern  und  Jugendlichen,  die  nur  noch  therapiert  werden  konnen. 

Zur  Erklarung  fiir  diese  Auffassung  bei   Erziehern,  die  derartige  De- 
fizittheorien  aufgreifen  ,ist  wichtig  zu  sehen,  wie  sie  im  BewuBtsein 
entstehen.  Wenn  ich  jetzt  abstrakt  weiB,  die  Gesellschaft  verursacht 
Verhal tensweisen  und  "Stbrungen",  die  die  Kinder  und  Jugendlichen 
in  Heime  bringen,  steht  dem  die  tagliche  Erfahrung  mit  Kindern  da- 
gegen,   die   ausflippen  und  eine  Bedrohung  flir  denjenigen  darstellen, 
der  im  Heim  arbeitet.   Dann  ist  es  ganz  logisch,  daS  der  erste  Schritt 


uc        ■"■    i4v  tin    uiusiwIn     w  ii'     iji.    c-3    yai  [z.      luy  ijviii     uwu    uci      ci  •>  •**.    ■  - 

ist, zu  sagen,  der  ist  dran  schuld,  mit  dem  miissen  wir  was  machen. 
tVenn  man  dann  noch  3  Jahre  im  Heim  arbeitet  und  dazu  noch  isoliert  > 


1 
We 


kommt  man  notwendigerweise  dahin.zu  sagen,  daB  die  Kinder  therapiert 
werden,   damit  ich  Uberlebe. 

Ich  komme  bei   der  Diskussion  urn  die  Arbeitsbedingungen  immer  in  einen 
Konflikt,  weil   ich  in  einem  Heim  arbeite,  das  relativ  liberal   ist. 
Wir  haben  inzwischen  einen  Erzieherschlussel   von  1:1,  haben  Freiraume 
zur  Diskussion  von  Konzepten,  Problemen  der  Heilpadagogi k  und  uns 
stehen  finanzielle  Mbglichkeiten  zur  VerfUgung.  Wir  haben  damit  Ver- 
anderungsmbgl ichkeiten  im  Alltag  fur  die  Kinder,  so  z.B.,  daB  wir 
Wi  rtschaftsgeld  an  die  Kinder  aus-zahlen  und  sie  dann  selbst  ein- 
kaufen.    Einmal  wbchentlich  gibt  es  eine  Dienstbesprechung,  wo  Ab- 
sprachen  und  Abstintnungen  erfolgen. 

Wenn  wir  das  hbren,  stellt  sich  doch  die  Frage,  ob  die  Widerspruche 
in  der  traditionel len  Heimerziehung  zwischen  den  Erziehern  und  den 
Jugendlichen  und  auch  den  eigenen  persbnlichen  Anspruchen  Uberhaupt 
losbar  sind.    Ich  glaube,daB  sie  dort  nicht  lbsbar  sind,  sondern  wir 
daran  gehen  mUssen, alternative  Projekte  zu  entwickeln,  sie  finanziell 
absichern  und  mit  Kollegen  in  den  Heimen  diskutieren,  welche  Mbglich- 
keiten, welche  KampfmaBnahmen  ihnen  zur  VerfUgung  stehen,  urn  die 
Situation  dort  zu  verandern. 

Wenn  auf  der  einen  Seite  gesagt  wird,  daB  es  gemeinsame  Interessen 
zwischen  den  Jugendlichen  und  uns  gibt,   den  "Laden"   (Heim)  weiter- 
1  auf en  zu  lassen,  dann  wurde  ich  sagen,  es  gibt  auch  das  gemeinsame 
Interesse,   daB  der  "Laden"   nicht  weiter  lauft.   Wenn  es  gemeinsame 
Interessen  gibt,  wird  es  sicher  darauf  ankommen,   daB  der  "Laden" 
anders  weiterlauft.    Ich  hab  die  Erfahrung  gemacht,  daB  Kollegen  ihre 
Institution,  in  der  sie  arbeiten,  uberhaupt  nicht  kennen.   Dadurch  sind 
sie  ihr  auch  erheblich  ausgeliefert.   Dadurch  sind  auch  kaum  Ideen 
zu  entwickeln,  wo  man  ansetzen  kbnnte,  Veranderungen  in  Gang  zu  set- 
zen.    Ich  mbchte  auf  das  Problem  der  Versorgungshaltung  von  Jugend- 
lichen eingehen,  Erfahrungen,  di e  ich  in  Frankfurter  Jugendheitnen 
gemacht  habe.    Ich  kann  ja  nicht  eine  Versorgungshaltung  so  einfach 
andern,   sondern  die  Frage  ist,  wie  kann  ich  Raume  schaffen,  daB  die 
Jugendlichen  ein  Nutzen  davon  haben  und  selbst  tatig  werden,  gestal- 
tend  tatig  werden.    In  einem  Heim  ist  folgendes  passiert:   die  haben 
den  Heimleiter  davon-gejagt,  weil    er  versuchte,   Kollegen,  die  sich 
mit  ihnen  sol idarisiert  haben,     rauszuschmeiBen,und  dann  das  Heim 
in  Selbstverwaltung  Ubernommen. 

Die  Verwaltungs-  und  Wirtschaftsabteilung  ist  jedoch  geblieben,   so 
daB  ein  Kernbereich  der  Versorgung  in  Heimen  unverandert  intakt 

blieb.   Die  Veranderungen  lagen  nun  darin,  daB  das  Essen  selbst  ausge- 
teilt  werden  konnte  und  die  Jugendlichen  selbst  abwaschen  "durften". 
Es  wurden  also  Teile  in  die  Selbstverwaltung  der  Jugendlichen  uber- 
geben,  die  sie  erst  einmal   belasten.Nach  wie  vor  hatten  sie  aber 
keinen  EinfluB  darauf,  was  sie  essen  wollten,  welche  Wurst  es  zum 
Abendbrot  gab  usw. . 

Es  kam  nun  noch  ein  weiterer  Faktor  hinzu,  der  die  Situation  er- 
schwerte.   Die  Jugendlichen  haben  die  Vorratsra'ume  aufgebrochen,  um 
sich  abends  nach  22  oder  23  Uhr  noch  was  zu  essen  zu  machen. 
Man  reagierte  dann  damit,  daB  den  Jugendlichen  gesagt  wurde,  das  geht 
doch  nicht,   ihr  kbnnt  doch  da  nicht  einfach  einbrechen.   Die  Moglich- 
keit  der  Jugendlichen  zu  sagen,  wie  sieht  denn  das  zu  Hause  bei  euch 

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aus(den  Kollegen),  wer  schlieBt  denn  eueren  Kuhlschrank  ab,  wurde 
nicht  aufgegn'ffen.  Die  Funktion  der  Wirtschaftsleiterin  z.B.   hat  in 
einer  Selbstverwaltung  ebenso  wie  das  Wirtschaftspersonal   keine  Funk- 
tion  mehr  oder  muB  die  Inhalte  mit  der  Jugendlichen  neu  bestimmen. 
In  dieser  Phase  des  Kampfes  urn  die  Selbstverwaltung  des  Frankfurter 
Jugendwohnheimes  wurde  namlich  nicht  genau  geklart,  wie  die  Jugend- 
lichen selbstandig  werden,  sich  selbst  einbringen,  wo  sie  kreativ 
sein  konnen,  wo  wir  dann  auch  eine  ganze  Menge  von  ihnen  lernen  kbn- 
nen. 

Was  ich  vorhin  sagte,  daS  die  Kollegen  ihre  Institution  gar  nicht 
kannten;  es  war  flir  mich  erschreckend,  wie  wenig  die  wuBten,  in  wel- 
chem  Rahmen  sie  arbeiten,  was  das  Landesjugendamt  ist,  was  ein  Ju- 
gendwohlfahrtsausschuB,  der  Landeswohlfahrtsverband,  das  Jugendamt 
ist,  schon  gar  nicht  daran  zu  denken,  wer  der  Trager  des  Vereins  ist, 
wo  die  Finanzen  herkommen.   Diese  Unkenntm's  flihrt  zu  einer  vollkom- 
menen  Abhangigkeit  -  insbesondere  in  Konfl iktsituationen.   Hier  In- 
formationen  zu  haben  und  dadurch  beurteilen  konnen,  in  welchen  or- 
ganisatorisch-padagogisch-pol  i  tischen  Verhaltnissen  man  arbeitet.,  ist 
flir  die  Entwicklung  einer Strategie  des  Oberlebens  und  gezielten 
Handel ns  auBerst  wichtig. 


KLEINANZEIGEN 

•  Suchen  Haus  ohne  groBe  formal e  Auflagen  fur  Sommerfreizeit  1978 
mit  Kindern  aus  sozialen  Brennpurkten.  Anregungen  und  Tips  an 
AW-Bielefeld  Kreisverband-Abt.soz.Reh.-,Arndtstr.   8,  48  Bielefeld  1 

I  Jugendliche  des  Aktionsrates  eines  Jugendzentrums  mbchten  gern 
Kontakt  zu  Sozialpadagogin/gen  aufnehmen.  Arbeitsmbgl ichkeit  ab 
Januar  1978  (Raum  Niedersachsen) .    Kontakt  uber  Chiffre  18/1  uber 
die  Redaktionsadresse 

•  Wir  sind  eine  Projektgruppe,  die  sich  mit  obdachlosen  Jugendlichen, 
solche  die  zu  Hause  rausgeschmissen  wurden  oder  es  nicht  mehr  aus- 
gehalten  haben,  beschaftigt.  Fur  diese  soil  eine  Obernachtungsmbg- 
lichkeitmit  kurzfristiger( ! )  sozialpadagogischer  Betreuung  einge- 
richtet  werden.  Welche  Gruppen  oder  Einzelne  haben  Erfahrungen  oder 
wissen,  wo  ahnliche  Projekte  laufen.  Informationen  werden  dringend 
benbtigt,   samtliche  Kosten  werden  ubernommen. 

Georg  Detlinger,  Weidenhauserstr.    37;Telf .o6421/23629(Bernhard) 
I  In  Westberlin  findet  an  mind.   3  Orten  vom  15.  -  29.  Januar  1978 
eine  groBe  Ausstellung  uber  alternative  Energie  statt.  Wer  in  Ber- 
lin Bus  oder  Lastwagen  zum  Transport  freigibt  -  Bitte  melden  bei 
Jochen  Schaffer,   Herbertstr.6,  1  Berlin  62,  o3o/7841247 

•  Wo  befindet  sich  ein  Alternativprojekt(Kleinstheim) ,  das  noch  eine 
Mitarbeiterin  sucht.    Ich  bin  Sozialarbeiterin  (28  J)  und  mbchte 
endlich  in  einem  kontinuierlichen  Projekt  arbeiten  und  befriedig- 
ende  Wohn-  und  Arbeitsformen  verwirklichen. 

Gisela  Wessel ,  Hoffschultestr.19,  44  Munster 
I  Dokumentation  zur  Entwicklung  der  staatlichen  Behindertenponti  k 
in  Deutschland  (Entwicklungslinien  und  gesellschaftliche  Bedin- 
gungen);  351  Seiten,  DM  17,—  ;  Bezug:  A.   Haaser,  Gerstenweg  5 
6229  Schlangenbad  5 

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Autorenkollektiv 

GEDANKEN  UBER  UNSER  LEBEN  IM  HEIM 
VON  KINDERN  UND  ERZIEHERN 


WIR  STELLEN  UNSER  HEIM  VOR 


Kinderhaus  am  Fuchsstein,   1   Berlin-Frohnau,  Fuchssteiner  Weg  13/19. 
Zwei    Kindergruppen  mit  jeweils  10  Jungen  und  Madchen  im  Alter  von 
6  bis  16  Jahren. 

Zwei  Wohngemeinschaften  mit  jeweils  6  Jugendlichen  beiderlei  Ge- 
schlechts  sind  auBerhalb  des  Heimes,  im  Stadtkern,  angesiedelt.  Die 
Berichte  beschranken  sich  auf  die  Situation  im  Heim.  Geschrieben  und 
zusammengestellt  wurden  sie  von:   Birgit  Krliger,  Christin  Kru'ger, 
Manuela  Kriiger,  Andreas  Siebert,  Marion  Siebert,  Barbara  Wolf-Kunze, 
Marwik  Franz. 

Aufnahniekriterien: 

1.  Beschulbarkeit  in  einer  bffentlichen  Schule 

2.  Heimaufenthalt  nicht  unter  einem  Jahr 

3.  Geschwister  werden  vorrangig  aufgenomraen 

4.  Die  jeweilige  Zusamnensetzung  der  Gruppe  muB  beachtet  werden. 

Erziehunqsziel  sehr  qrob  definiert: 

1.  Die  Fahigkeit  innerhalb  der  bestehenden  Gesellschaft  einen  festen 
Platz  einnehmen  zu  konnen  und  zu  behaupten. 

2.  Durch  Entwickelung  von  Selbstwertgefuhl   und  Fbrderung  individuel- 
ler  Fahigkeiten  in  alien  Lebensbereichen  das  unter  1.  genannte 
Ziel   zu  erreichen. 

3.  Zu  lernen  in  einer  Gruppe  zu  leben  und  die  Mbgl ichkeiten  gemein- 
samen  Handel ns  zu  erfahren. 


In  der  Gruppe  leben: 

Madchenhausqruppe:  (die  keine  ist,  Name  ist  Uberliefer 

Klaus 

15  Jahre 

Marion 

13  Jahre 

Hassan 

11  Jahre 

Birgit 

13  Jahre 

Christin 

12  Jahre 

Erik 

11  Jahre 

Jenny 

8  Jahre 

Peggy 

8  Jahre 

Kerstin 

6  Jahre 

Blockhausgruppe: 

:  (das  keines  ist,  Name  ist  Uberliefert) 

Wolfgang 

15  Jahre 

Rainer 

15  Jahre 

Manuela 

14  Jahre 

-  17 


Adreas 

Marwik 

Carola 

Barbel 

Sabine 

Klaus-Dieter 

Martin 


12  Jahre 

13  Jahre 
9  Jahre 

11  Jahre 

9  Jahre 

9  Jahre 

7  Jahre 


Mit  den  Kindern  leben  und  arbeiten: 


Erzieher  im  Gruppendienst 

Sozialarbeiterin 

Erzieherin 

Erzieherin 


Karin 

Adelheid 

Lilo 

Wolfgang 

Ralf 

Dorothea 

Marion 

Hanna 

Martin 

Rolf 

Erzieher  mit  anderen  Funktionen: 

Psvchologischer  Dienst 


Erzieher  (20  Wochenstunden) 

Erzieher 

Erzieherin 

Erzieherin 

Soziologin   (20  Wochenstunden) 

Sozialarbei  ter 

Erzieher 


Olivia 

Antje 

Heimleitung 

Barbara 

Karl-Heinz 

Kunstpadagoge: 

Pius 

Haus  und  Wirtschaftspersonal : 


Dipl.  Psych.  (20  Wochenstunden) 
Dipl.  Psych.  (20  Wochenstunden) 

Sozialarbeiterin 
Erzieher 


(20  Wochenstunden) 


Nahfrau 

Kochfrau 

Kochfrau 

Reinigungsfrau 

Reinigungsfrau 

Reinigungsfrau 

Wirtschaftsleiterin  und  Kassierein 

Schreibkraft  (20  Wochenstunden) 

Hausmeister 


alle  im  Anerkennungsjahr 


Frau  M. 
Frau  M. 
Frau  N. 
Frau  R. 
Frau  M. 
Frau  B. 
Frau  L. 
Frau  K. 
Herr  H. 

Praktikanten: 

Jbrg 
Moni  ka 
Norbert 
Michael 

Man  beachte:  Maximal   20  Kindern  stehen  24  Erwachsene     gegeniiber. 

Die  Gruppenerzieher  arbeiten  im  24  Stundenturnus  rund  urn  die  Uhr 
mit  Nachtbereitschaftsdienst.   D.h.,   in  jeder  Gruppe  ist  ein  Gruppen- 
erzieher von  12  Uhr  mittags  bis  12  Uhr  mittags  anwesend.   Er  kann 


U 


wahrend  der  Nachtstunden  schlafen  (wenn  er  schlafen  kann).  Die  Schlaf- 
zeit  wird  zusatzlich  bezahlt. 


BERICHTE  DER  KINDER 


MANUELA 

Also,  erst  mal  muB  ich  mir  uberlegen,  was  ich  in  diesem  Bericht 
schreibe.  Meine  Schwester  wollte  dazu  auch  etwas  schreiben,  aber  mog- 
] ichst  unabhangig  . . . 

Also  erstmal  bin  ich  1*1  und  nennen  tut  man  mich  Manuela.  Im  Fuchs- 
stein,  wo  ich  nun  vier  Jahre  drin  bin,  sind  schon  viele  Erzieher  ge- 
gangen.  Und  Kinder  auch. 

Ich  mochte  erst  mal  schreiben,  was  mir  an  dem  Heim  gefallt  und  was 
ich  nicht  gut  finde: 

Das  Haus  iiegt  im  grijnen,  wir  sind  auch  nur  2o  Kinder.  In  jeder  Grup- 
pe sind  lo.  Also  2  Gruppen.  Die  Kinder  bzw.  Jugendlichen  sind  von 
7  b i  5  15  Jahren.  In  der  anderen  Gruppe  ist  es  ungefahr  auch  so. 
Wenn  jetzt  mal  ein  Thema  ist,  in  der  Gruppe,  dann  wird  es  von  den 
Kindern  besprochen.  Die  Erzieher  machen  dann  aber  auch  eine  Hausbe- 
sprechung.  Die  Erzieher  dfirfen  wir  "Duzen".  Also  nicht  "durfen", 
sondern  wir  finden  es  alle  besser,  glaub  ich  jedenfalls. 
Ich  finde  man  kann  auch  Erzieher  besser  kennenlernen,  wenn  man  auch 
"Du"  sagt.  Also  bei  "Sie"  kann  man  schon  sagen,  wenn  das  ein  Fremder 
ist  und  man  noch  nicht  weiB,  ob  er  uberhaupt  will,  daS  man  ihn  duzt. 

Unsere  Gruppenbesprechungen  klappen  aber  nicht  immer,  wei 1  die  Kin- 
der dann  fernsehen  wollen  oder  sauer  sind.  Kommt  drauf  an. 
Wir  versuchen  auch  zu  diskutieren,  wenn  jetzt  manche  mal  wieder  ge- 
schwanzt  oder  geklaut  haben  (was  auch  vo r kommt ) ,  also  das  Problem 
versuchen  irgendwie  anzupacken.  Warum  derjenige  schwanzt? 
Vielleicht  wei 1  er  von  seinen  Mitschulern  nicht  anerkannt  wird  oder 
we i 1  es  mal  wieder  ein  Heimkind  ist  usw.  Manchmal  traut  derjenige 
oder  diejenige  nicht  zu  kommen  oder  nichts  zu  sagen  und  manche 
machen  dann  Q_uatsch.  Dannwi  rd  es  unruhig,  daG  wir  manchmal  aufhoren 
mussen. 

Wenn  manche  von  uns  schwanzen,  werden  sie  zur  Schule  gefahren  oder 
bekommen  eine  Belohnung,  wenn  sie  es  "geschafft"  haben.  Ich  finde 
soetwas  auch  gut,  weil  ihnen  dadurch  Mut  gemacht  wird. 
Aber  es  klappt  nicht  immer.  Es  g i bt  auch  so  richtige  Perioden,  wenn 
es  jetzt  besonders  oft  und  schwer  auswirkend  passiert. 


Wenn  mi 
wohne, 
was  im 
"rumspr 
Ich  bin 
so  mude 
gressiv 
wieder 
Von  dem 
horen 


ch  d 
ist 

Fuch 

icht 

auf 

und 

itat 

urn  1 

Str 

Auge: 


er  Arzt,  die  neue  Schule  oder  sonst  wer  fragt,  wo  ich 
es  mir  auch  peinlich,  das  zu  sagen.  Weil  sich  das  dann, 
sstein  manchmal  passiert,  auch  in  Frohnau (Stadt tei 1 ) 
; 

einer  Ganztagsschule  und  ehrlich  gesagt,  bin  ich  dann 
fertig,  von  dem  Gebrulle,  vor  alien  Dingen  von  der  Ag- 
durch  die  lo  Stunden  und  die  grauen  Wande.  Wenn  ich  dann 
7  Uhr  zu  Hause  bin,  geht  genau  das  gleiche  da  los. 
ess  und  immer  den  Gedanken  und  Druck:  Si tzenbleiben.zu- 
n  offen,  naja  so  ungefahr. 


19 


Das  las 
ich  dan 
So  geht 
land  ge 
Hoffent 

Ich  wol 
rumspin 
zieher 
so  ne' 
si nd  d 


sen  sie  dann  im  Fuchsstein  aus  an  den  Kleinen.  Deshalb  werde 
n  auch  sauer  und  fange  dann  auch  an  zu  meckern. 
das  weiter.  Zwei  Kinder  von  uns  sind  schon  nach  Westdeutsch- 
kommen,  wei I  sie  zuviel  S  c  h  e  i  s  s  e  gebaut  haben. 
lich  sind  dann  die  Heime  in  Westdeutschland  dafiir  besser. 
It  auch  noch  etwas  dazu. sagen,  wenn  die  Kinder  bei  uns  so 
nen,  ausflippen  Oder  so,  dann  werden  auch  automatisch  die  Er- 
so  gereizt  und  dann  (puuh)  werden  die  Kinder,  die  noch  nicht 
"Fl ippermei se"  haben,  von  den  Erziehern  angemeckert .  Also  da 
e  Ferien  wirklich  schon  das  beste. 


Die  Erzieher  allerdings  verhalten  sich  auch  moglichst  gelassen  und 
frei,  wenn  jetzt  einer  mit  rer  sexuellen  Frage  ankommt.  Ich  finde 
sowas  gut,  uberhaupt  damit  die  Kinder  lernen,  daB  sowas  normal  ist. 
Manche  kommen  auch  mal  zu  mir.  So'n  15  j.  Junge  und  meine  Schwester. 
Dann  bin  ich  auch  naturlich  stolz.  Haha. 

Wenn  ich  das  Heidi  verandern  wijrde,  miiBte  die  Schule  dort  sein  und 
noch  weniger  Personal,  weniger  Erzieher  und  aus  der  Umgebung  raus, 
wo  die  Leute  so  miBtraurisch  sind.  Ich  wollte  auch  noch  sagen,  daB 
manche  Jungen  oder  Madchen  bei  uns  auch  mit  Schimpfworter  umgehen, 
wo  sie  selber  nicht  wissen,  was  daB  ist.  Vor  alien  Dinger  schauen 
sie  es  von  den  groBeren  ab.  Ich  mach'  mal  'n  Beispiel  ja? 

Er:   Nas   Du  Nutte,   wo  worst  Du  derm  heute  Ifacht? 

Sie:  Aah  halt  die  Fresse,   Du  alter  Saak. 

Er:   Ey,  pass  mal  uff,   nooh  so'n  Ding  und  die  mile  h&ngti 

Sie:  BVdde  Votze,   hau  bloB  ab  Du  Frames! " 

Naja,  so  hb'r  ich  es  in  der  Schule  und  manchmal  bei  uns.  Und  wenn  ich 

sie  mal  frag,  also  die  mich  so  angesprochen  haben:  "Du  sag  mal,  wat 

is  denn  'n  Frommes  oder  ne  Votze?"  Dann  wissen  sie  nicht  weiter  oder 

sie  wissen  es  uberhaupt  nicht.  Bei  den  Kleineren  frag1  ich  sowat  und 

bei  die  gleichaltrigen  (neistens  Jungs)  vorsichtig,  warum  sie  sowas 

sagen  und  immer  nur  sowas,  nie  was  anderes. 

Zu  den  Beo-bbgen  wollt  ich  sagen,  daB  wir  sie  gemeinsam  mit  dem  Er- 
zieher durchlesen.  Wegen  den  Meinungen  von  uns  und  denen.  Find  ich 
besser  und  dufte.  Nur  eins  ist  blbde:  Weil  man  sich  da  vorkommt,  wie 
so  'ne  Art  "  Versuchskaninchen".  Also,  sie  haben  was  an  uns  entdeckt 
oder  so  ahnlich  und  schreiben  es  dann  auf. 

Hoffentlich  hat  Euch  mein  ein  bisschen  langgezogener  Bericht  gefallen. 
Manuel  a 


CHRISTIN 

Ich  heiBe  Christin  Kruger  und  bin  12  Jahre  alt.  Ic 
als  ich  ins  Hauptkinderheim  kam,  war  drei  Monate  d 
auch  gereicht.  Weil  ich  da  kein  Zimmer  alleine  ode 
ster  hatte.  Auch,  weil  da  die  Schule  drin  war,  und 
immer  so  genau  war.  Und  weil  einige  Erzieher  stren 
Eines  Taqes  kam  die  Heimleiterin  aus  dem  Fuchsstei 
abzuholen.  Da  hat  sie  nachgefragt,  wegen  uns  fiinf 
einem  Tag  sind  wir,  das  heiBt  meine  Geschwister  un 
VW-Bus  aus  dem  HKH  zum  FU  gefahren.  Das  Heim  hatte 
fallen,  und  wir  wollten  gleich  dableiben.  Da  hat  e 
dem  HKH  gemeint,  da3  es  hier  so  schmutzig  ist.  Dan 
doch  hineingekommen,  in  den  FU.  Die  Erzieher  waren 
netter.  Und  hier  waren  auch  weniger  Kinder.  In  dem 
auch  viel  mehr  Ausgang.  Das  Heim  liegt  auch  im  Gru 
konnte  ich  auch  jedes  Wochenende  besuchen. 


h  war  8  Jahre  alt, 
a,  und  das  hat  mi  r 
r  mit  meiner  Schwe- 

wei 1  der  Pfortner 
g  waren. 
n ,  um  Wolfgang  N. 

Kindern.  An 
d  ich,  mit  einem 

uns  sehr  gut  ge- 
in  Erzieher  aus 
n  sind  wi  r  aber 

hier  auch  viel 

FU   hatten  wi  r 
nen.   Meine  Eltern 


MARION 

Bevor  ich  in  den  Fuchsstein  kam,  war  ich  im  HKH,  einem  Durchgangs- 
heim.  Dort  war  die  Atmosphare  zwischen  Erziehern  und  Kindern  recht 
beschissen.  Das  lag  natiirlich  nicht  nur  an  den  Erziehern,  sondern 
auch  an  uns,  aber  so,  wie  die  z.B.  die  Dienste  aufteilten,  konnte 
kein  Kind  oder  Jugendlicher  Vertrauen  zu  denen  fassen.  Da  waren 
namlich  zwei  bis  drei  Erzieher  pro  Tag  da,  und  am  Abend  kam  noch 
1 ne  Nachtschwester ,  die  andauernd  rummotzte,  wenn  man  im  Bett  auch 
nur  einen  Pieps  sagte.  AuBerdem  konnte  das  Kind  dort  gar  kein  Selbst- 
vertrauen  aufbauen,  da  man  im  HKH  andauernd  gefilzt  wurde,  ob  man 
nicht  noch  'ne  "Lulle"  hatte.  Aber  als  ich  dann  in  den  FU  kam,  na 
ja,  da  war  halt  alles  ganz  anders.  Da  wurde  und  wird  man  immer  noch 
viel  freier  erzogen.  Erstmal  durfte  ich  da  alle  duzen,  was  im  HKH 
gar  nicht  der  Fall  war.  Dann  durfte  ich  Kleidung  und  Mobel  selbst 
aussuchen,  fur  mein  Zimmer,  das  ich  mit  Jenni,  meinem  Schwesterherz 
bewohnte.  In  der  ersten  Zeit  war  ich  also  sozusagen  im  siebten  Him- 
mel.  Aber  das  anderte  sich  sehr  schnell.  Namlich  da,  als  die  Oster- 
ferien  im  Marz  '75  langsam  aber  sicher  zu  Ende  waren.  Das  hieB  dann 
fur  mich  "Penne".  Und  die  war  damals  fiir  mich  das  reinste  Greuel  . 
Die  erste  Zeit  waren  die  Kinder  aus  der  Klasse  ^c  noch  ganz  nett, 
aber  als  sie  dann  erfuhren,  daB  ich  ein  Heimkind  bin,  da  waren  sie 
auf  einmal  gar  nicht  mehr  so  freundlich.  So  glaubte  ich  jedenfalls, 
aber  das  stimmte  gar  nicht, wie  sich  spater  herausstel 1 te,  damals 
glaubte  ich,  daB  das  doofe  und  eingebildete  Kinder  waren,  sie  aber 
mieden  mich,  weil  ich  anfing  zu  schwanzen.  So  kam  es  also,  daB  ich 
mich  nicht  mehr  zum  "Greuel"  traute.  Die  Erzieher  versuchten,  mir 
helfen   in  dieser  Zeit,  aber  damals  tscheckte  ich  dasnoch  nicht 
richtiq  Tja,  und  so  schwanzte  ich  naturlich  unaufhorlich  weiter, 
bis  zum  Sommer  '75,  als  ich  mit  groBer  Hilfe  von  den  Erziehern  die 
"   doch  noch  bekam.  Also  wenn  ihr  mich  fragt,  im  HKH  hatte  ich 


-  21 


ruck.  Das  mi  t  d 
deren. . .?  Denen 
nun  begann  eine 
mit  ScheiBe  bau 
noch  wol ] te  ich 
aber  das  gelang 
hatten  viele  Er 
das  a] les  ander 
Zwa  r  g  i  b  t ' 5  w  i  e 
ich  nicht  immer 
haben  das  im  FU 
auch  einmal  wie 
Und  dann  werden 
Erzieher  und  di 
Ich  hoffe,  daB 
an  ein  biBchen 
stellungen  uber 


er  Penne  war  ja  nun  fur  mi 

machte  das  Schwanzen  naml 

schwere  Zeit  fur  mich,  de 

te,  sahen  mich  die  anderen 

nicht  aufgeben.  Ich  versu 

mir  nur  zum  Teil  und  sehr 

zieher  Verstandni s  und  sta 

,  denn  im  FU  habe  ich  mei 

heute  z.B.  noch  oft  Strei 

gleich  einen  Bericht,  wie 

noch    immer  nicht  getschek 

ich  und    noch  andere   Kinde 

sie  begreifen,    daB  es    im 

e    1  iebe   Babs    in   Ordnung    si 

der   Bericht  einigermaBen  g 

anders    iiber  uns   denkt,    fal 

ein  Heim  gemacht  habt. 


ch  geschafft,  aber  die  an- 
ich  immer  noch  SpaB.  Und 
nn  obwohl  ich  ofters  noch 

ats  Streberin  an.  Doch 
chte,  mich  durchzusetzen, 

schwerlich.  Aber  auch  hier 
mden  mir  oft  bei .  Heute  ist 
n  Selbstvertrauen  gefunden. 
t,  aber  deswegen  zerreiB 

heute  z.B.  Viele  Kinder 
t,  aber  bestimmt  werden  sie 
r  im  FU  die  Kurve  kriegen. 
FU  dufte  ist,  und  daB  die 
nd. 
ut  ist,  und  daB  ihr  von  nun 

s  ihr  euch  falsche  Vor- 


MARWIK 

Ich   heiBe  Marwik  und    bin   2    1/2   Jahre 
Katze,    Hund   und   Schwestern    in  Fuchsst 
sc^wister   s i  nd  jetzt  weg,   meine  klein 
tern, und  meine  groBe   Schwester    ist    in 
Ein   Tag    in   Fuchsstein   verlauft  filr  mi 
morgens   urn  6   klingelt   der  Wecker,    dan 
angezogen   am   Fruhstiickti  sch,    dann   ess 
sam  zur   Bushal  testel  le.    Urn   l*t.oo  Uhr 
fahre    ich  eine  Stunde  nach  Hause,   da 
ich  etwas   z.B.    FuBball.    Urn    16  Uhr  ode 
Schulaufgaben,   wenn    ich   fertig   bin  sp 
was   kaufen.   Wenn   ich  wiederkomme  gibt 
lig   Donnerstag   dann  muB    ich   den   Tisch 
und  morgens  machen   die  Erzieher  das. 
habe,    gehe    ich  meistens    Fernsehen   und 
dem   Erzieher,    der    im  Dienst    ist.    Wenn 
miide   bin,    gehe   ich    ins   Bett,   Oder  wen 
hat,   dann  gehe   ich   schlafen  oder  wenn 
ich   noch    irgendetwas    in   meinem  Zimmer 
mir   SpaB  macht,   das  werde   ich  dann   sc 

Was  mir    in    Fuchsstein  gefallt 

f  Das   Selbstbestimmen   konnen,   wenn    ich   ins   Bett  gehe    (auBer   die   Mei- 
nen) 

•  DaB  wir  uns   selbst  wecken   konnen  wenn  wir  wollen. 

•  DaB  wir  mal    eingeladen  werden   zur    irgendeiner   Unternehmung. 

•  DaB   die    Erzieher  auch  mal    Verstandni s   zeigen 

•  DaB  wir  allein    ins   Kino  gehen   konnen,   je  nachdem. 

•  Es   sind  noch  mehr   Sachen,   bloB  mir  fallen  keine  mehr  ein. 

Was  mir    in  Fuchsstein   nicht  gefallt 

t  DaB  die   Kleinen   von   uns   so  friih  aufstehen   und    immer   so   laut   sind. 

•  DaB  es  erst  ab   16  Taschengeld   gibt. 


in    Fuchsstein.    Ich   bin  mit 
ein  gekommen,   Meine   bei den  Ge- 
e  Schwester   ist   bei    Pflegeel- 

einer   Wohngemei nschaf t. 
ch  folgendermaBen: 
n   bin   ich  urn  6. ^5  gewaschen  und 
e   ich  bis  urn   7.o5  und   gehe   lang- 
ist  die  Schule  zuende,   dann 
esse    ich  Mittag   und    dann   spiele 
r  ein   biBchen   spa'ter  mache    ich 
iele    ich  weiter  oder  gehe  mir 
es   Abendbrot,   oder   wenn   zufal- 
decken   und      abdecken.    Mittags 
Wenn   ich  den  Tisch  abgedeckt 
danach  unterhalte    ich  mich  mit 
ich   keine  Luste  mehr   habe  oder 
n  der   Erzieher  keine  Zeit  mehr 
ich  noch  nicht  mude   bin,   mache 
spielen  oder    lesen  oder  was 
hon   sehen. 


22 


BIRGIT 

Ich  heiBe  Birgit  und  bin  13  Jahre  alt  und  erza'hle  euch  aus  meinem 
Heim.  Ich  bin  schon  2  Jahre  im  Heim.  Das  Heim  gefallt  mir  sehr,  weil 
die  Erzieher  nicht  so  streng  sind  wie  in  anderen  Heimen.  Die  Kinder 
und  die  Erzieher  machen  jeden  Motag  eine  Kinderbesprechung.  Hier 
wurde   in  letzter  Zeit  vieles  kaputt  gemacht,  und  die  anderen  muBten 
darunter  leiden.  Die  Erzieher  haben  auch  mit  den  Kinder  gequatscht, 
aber  das  hat  meistens  auch  nicht  geholfen.  Wir  haben  hier  auch 
einen  Hund,  der  heiBt  Cora.  Das  ist  ein  dickes  Vieh.  Ich  habe  ein 
Zimmer  fiir  mich  allein,  die  anderen  auch.  Wenn  ich  das  Heim  veran- 
dern  konnte,  wtirdeich  es  auch  tun.  Die  Schule  zum  Beispiel  ,hier 
schwanzen  sie  ofter  und  die  Erzieher  mussen  die  dann  zur  Schule  brin- 
gen,  Das  finde  ich  dann  ganz  schon  blode  und  dann  haben  die  Erzie- 
her keine  Zeit  fur  uns.  Wir  haben  hier  einen  groBen  Garten  mit 
Buden  die  wir  selber  gebaut  haben.  Manche  Erzieher  gehen  und  neue 
kommen  wieder,  das  ist  blode,  weil  man  sich  an  denen  gewohnt  und 
dann  kommt  wieder  neue  an,  an  die  man  sich  wieder  gewohnen  muB. 
Das  finde  ich  nicht  gut.  Wir  haben  hier  zwei  Kochinnen,  die  teil- 
weise  ganz  nett  sind,  teilweise  auch  blode,  weil  man  fast  immer  ru- 
hia  sein  muB.  Wir  haben  einen  neuen  Erzieher  bekommen,  an  den 
haben  wir  uns  aber  schnell  gewohnt.  Wir  haben  hier  eine  Frau,  die 
mit  uns  jeden  Mittwoch  Theater  spielt,  da  konnen  wir  tanzen  und  alles 
sowas.  Jetzt  mache  ich  SchluB,  weil  ich  keine  Zeit  mehr  habe.  Ich 
hoffe  euch  hat  es  SpaB  gemacht,  diesen  Bericht  zu  lesen. 
Hit  freundlichem  GruB  Birgit. 


ANDREAS:  UNTERSCHIED  ZWISCHEN  HEIM  UND  WOHNGEMEINSCHAFT 

Ich  Andreas  bin  17  Jahre  alt.  Mit  11*  Jahren  kam  ich  ins  Hauptkinder- 
heim  weil  es  zu  Hause  sehr  schl imm  war.  Zum  Anfang  gefiel  es  mir 
dort  sehr  gut,  viel  besser  als  zu  Hause.  Wenig  spa'ter  gefiel  es  mir 
nicht  mehr  so  gut,  denn  ich  hatte  nicht  so  viel  Freizeit,  ich  durfte 
nur  im  Heimgelande  sein.  Manchmal  durfte  ich  auch  rausgehen,  urn  mir 
was  zu  holen.  Die  Erzieher  dort  im  Heim  waren  gerade  nicht  so  nett, 
sie  waren  ganz  schon  streng.  Punktlich  muBte  ich  ins  Bett,  auch  ande- 
re Kinder.  Wir  waren  dort  unterschiedl i ch  alt,  muBten  aber  a  I le  zur 
qleichen  Zeit  ins  Bett.  Sonnabends  durften  wir  lange  Fernsehen,  das 
war  toll.  In  der  Woche  naturl ich,  aber  nicht  so  viel.  Wir  gingen 
manchmal  ins  Theater,  oder  machten  Unternehmungen.  Spater  mit  15 
Jahren  kam  ich  in  ein  anderes  Heim,  wo  auch  meine  beiden  Schwestern 
Jenny  (8)  und  Marion  (13)  waren.  Ich  hatte  Gluck,  denn  Altere  nahm 
das  Heim  eigentlich  nicht  auf,  da  aber  meine  beiden  Schwestern  dort 
waren  kam  ich  nun  dort  rein.  Es  war  ganz  anders  als  im  Hauptki nder- 
hPim  *Nur  20  Kinder  waren  dort  im  Heim,  ich  bekam  em  Zimmer  fur 
mich'oanz  alleine.  Das  war  ein  schones  Gefiihl  fur  mich,  denn  ,ch 
hatte  noch  nie  in  meinem  Leben  ein  eigenes  Zimmer  zur  Verfugung 
Die  Erzieher  waren  viel  freundlicher  und  netter  als  m  Hauptkinder- 
heim   Ich  hatte  auch  sehr  viel  Freizeit,  und  ich  wurde  auch  nicht 
nezwunqen,  irgendetwas  zu  machen,  was  ich  nicht  wollte.   Zum  Bei- 
sniel •  Im  Hauptkinderheim  muBte  ich  das  Mittagessen  essen,  was  mir 
P  I'        „*r  nicht  schmeckte.  Im  Kinderhaus  am  Fuchsstein,  so  hieB 
»:"C:    «r  eine  a  z  andere  Atmosphare.  Ich  bekam  sehr  vie,  Frei- 
zeitangebote   Ich  konte  auch  mal  langer  weg  bleiben  mit  Freunden, 

-  23  - 


die  ich  im  Heim  kennengelernt  habe.  Wi r  gingen  auch  meistens  weg , 
viel  mehr  als  im  Hauptkinderheim.  Wi r  durften  auch  rausgehen,  um 
zu  spielen  oder  i rgendetwas  einzukaufen  wann  wi r  wollten,  wir  muGten 
naturlich  Bescheid  sagen.  Wenn  wir  etwas  angestellt  haben,  dann  ha- 
ben  die  Erzieher  mit  uns  daruber  geredet  und  haben  uns  gesagt,  da3 
es  nicht  gerade  gut  ist,  was  wir  gemacht  haben.  Sie  haben  sehr  viel 
Versta'ndni  s  fllr  uns  gehabt,  wir  bekamen  auch  keine  Strafen.  Im 
Hauptkinderheim  redeten  die  Erzieher  nicht  mit  uns,  wir  bekamen  eine 
Strafe.  Wir  durften  kein  Fernsehen  sehen  Oder  muBten  fru'her  ins  Bett. 
In  diesem  Heim  bl ieb  ich  zwei  Jahre,  und  es  gefiel  mir  immer  noch 
sehr  gut.  Ich  bin  inzwischen  fast  17  gewesen  und  kam  mit  noch  einem 
Madchen  und  einem  Jungen  in  die  angeschlossene  Wohngemeinschaf t ,  da 
wir  schon  sehr  viel  gelernt  haben  dort  im  Heim.  Mit  Geld  umzugehen, 
sein  Zimmer  ordentlich  zu  halten  und  noch  andere  wichtige  Sachen. 
Die  Wohngemeinschaft  liegt  in  der  Stadt  im  Bezirk  Wedding.  DrauGen 
in  Frohnau,  so  hieG  der  Bezirk,  wo  das  Heim  war,  war  es  ruhiger  und 
schoner,  viel  Griines.  In  der  Wohngemeinschaft  ist  es  auch  sehr  schon, 
ich  habe  auch  ein  Zimmer  fur  mich  alleine.  Im  Gegensatz  zum  Heim 
hat  man  hier  noch  mehr  Freizeit,  dort  sind  zwar  auch  Erzieher,  aber 
die  kommen  nur  am  Tag.  Nachts  und  morgens  sind  wir  alleine.  Das  scho- 
ne  Leben  ist  nun  zu  Ende,  wie  man  so  sagt.  Das  Essen  miissen  wir  uns 
allein  kochen,  selbst  waschen,  selbst  einkaufen.  Wir  stehen  nun  auf 
eigenen  Fuflen.  Jeden  Honat  bekommen  wir  einen  Satz  Geld  auf  unsere 
Konten  iiberwiesen,  wir  miissen  jetzt  mit  dem  Geld  selbst  umgehen  und 
selbst  entscheiden,  was  wir  uns  kaufen.  Zum  Anfang  war  es  sehr  schwer 
fur  uns,  denn  im  Heim  brauchten  wir  nicht  kochen  und  nicht  putzen, 
aber  bald  hatten  wir  es  uberwunden  und  schafften  alles  gut.  Wir  sind 
jetzt  selbstandig  und  konnen  selbst  entscheiden.  Auch  morgens  zur^ 
Schule  mCissen  wir  uns  selbst  wecken  oder  wir  wecken  uns  gegenseitig. 
Im  Heim  haben  uns  die  Erzieher  geweckt,  daB  war  sehr  schon.  Hier  in 
der  Wohngemeinschaft  sind  wir  6  Leute,  3  Madchen  und  3  Jungen.  Manch- 
mal  verstehen  wir  uns  nicht,  es  ist  sehr  schwer,  miteinander  auszu- 
kommen.  Die  Gemeinschaft  manchmal  ist  auch  ganz  anders  als  im  Fuchs- 
stein,  hier  hat  jeder  andere  Interessen,  im  Fuchsstein  hatten  wir 
fast  die  gleichen  Interessen.  Im  groBen  und  ganzen  verstehen  wir  uns 
auch,  und  wir  versuchen,  miteinander  auszukommen. 
Was  mir  nicht  so  gut  im  Heim  gefiel: 

Das  Wechseln  von  Erziehern.  Im  Hauptkinderheim  kam  ein  Erzieher 
morgens, um  uns  zu  wecken,  mittags  vor  D ienstubergabe  da  kam  der  nach- 
ste  Erzieher,  der  ging  abends  weg  und  eine  Nachtwache  war  denn  da. 
Im  Fuchsstein  war  es  ein  biGchen  anders.  Die  Erzieher  kamen  mittags 
und  blieben  die  Nacht  dort  und  gingen  erst  wieder  den  nachsten  Tag 
mittags  wieder  weg.  Das  fand  ich  nicht  so  gut,  denn  man  wuGte  nicht, 
wer  am  nachsten  Tag  kommt.  Man  hat  auf  einen  bestimmten  Erzieher 
gewartet  und  dann  kam  ein  ganz  anderer,  mit  dem  man  viel  1 ieber  zu- 
sammen  ist,  als  mit  einem  anderen  Erzieher.  Fur  uns  Kinder  war  dies 
nicht  so  gut,  denn  wenn  man  einen  Tag  lang  mit  einem  Erzieher  zusam- 
men  war  und  man  hat  sich  an  ihn  gewohnt,  oder  den  Erzieher  mochte 
man,  dann  kam  plotzlich  ein  anderer. 

Auch  mit  dem  Essen  ist  es  hier  in  der  Wohngemeinschaft  anders,  hier 
konnen  wir  selbst  entscheiden,  was  wir  kochen,  im  Heim  haben^wir  das 
Essen  vorgesetzt  bekommen.  Mit  diesem  Bericht  will  ich  ausdrucken , 
wie  es  in  einem  Heim  ist,  was  man  dort  nicht  entscheiden  kann  im 
Gegensatz  zur  Wohngemeinschaft,  dort  kann  man  selbst  entscheiden. 


-  24  - 


MARGIT 

Margit,  so  heiGe  ich  und  bin  20  Jahre  alt.  Ich  bin  noch  in  Schulaus- 
bildung  und  mochte  nachstes  Jahr  mein  Abitur  machen. 
Ich  war  gerade  ein  halbes  Jahr  alt,  als  man  mich  ins  Heim  steckte. 
Mit  16  Jahren  verlieG  ich  das  Heim  und  suchte  mir  eine  Wohngemein- 
schaft. In  meiner  Heimzeit  hatte  ich  nie  Kontakt  zu  meinen  leiblichen 
El  tern. 

Seitdem  ich  in  der  Wohngemeinschaft  wohne,  habe  ich  f estgestel I t , 
daB  es  Unterschiede  zwischen  Heim  und  Wohngemeinschaft  gibt.  Solange 
ich  im  Heim  war,  bestand  fur  uns  die  totale  Versorgungssi tuat ion. 
Entscheidungen  wurden  uns  abgenommen.  Das  einzigste,  woruber  wir 
selbst  entscheiden  durften,  war  das  Taschengeld.  Dagegen  in  der 
Wohngemeinschaft  lernen  wir,  wie  man  sich  verpflegt,  wie  man  mit 
Geld  umgeht.  Auch  die  Entscheidung ,  wann  ich  zu  Bett  gehen  muB,  wurde 
mir  hier  nicht  abgenommen.  Also  ich  muB  sagen,  daB  ich  in  der  Wohn- 
gemeinschaft einen  Bezug  zur  Realita't  bekommen  habe.  Im  Heim  habe 
ich  den  Erzieher  manchmal  als  etwas  uber  mir  Stehendes  empfunden. 
In  der  Wohngemeinschaft  hingegen  habe  ich  zu  den  Beratern  ein  part- 
nerschaf tl i ches  Vernal tnis.  Die  Berater  kommen  mehr  oder  weniger 
nach  Bedurf ni ssen  von  uns  in  die  Wohngemeinschaft.  Man  braucht  sich 
nicht  so  kontrolliert  fuhlen.  Im  groBen  und  ganzen  finde  ich,  daB 
Wohngemei nschaf ten,  egal  welcher  Art,  eine  Alternative  zum  Heim  sind. 
Ich  lebe  zwar  hier  in  einer  Wohngemeinschaft,  die  ich  als  Zwangsge- 
meinschaft  bezeichne,  habe  aber  schon  einige  Vorteile  drausgezogen . 
Nur  was  mir  an  der  Zwangsgemeinschaf t  nicht  gefallt  ist,  daB  eine 
Tendenz  da  ist,  wo  jeder  mehr  oder  weniger  fiir  sich  lebt.  Daher 
ziehe  ich  fiir  mich  die  Konsequenz,  daB  ich  i  rgendwann  mit  Freunden 
zusammenziehen  werde,  mit  denen  ich  meine  personlichen  Probleme  be- 
sprechen  kann.  AuBerdem  bin  ich  der  Meinung,  daG  ich  keine  Berater 
mehr  brauche. 


ENTW1CKLUNG  DES  HEMES  UND  HEIMALLTAG 


Bevor     ich  kurz  die  bewegte  Geschichte  des  Heimes  und  unseres  All- 
tags  beschreibe,  mbchte  ich  mi ch  vorstellen.    Ich  heiBe  Barbara  und 
bin  55  Jahre  alt.  Meine  persbnlichen  Verhaltnisse.   Ich  bin  in  2.Ehe 
verheiratet.   Aus  erster  Ehe  habe  ich  zwei    Kinder,  die  nicht  mehr  in 
meinem  Haushalt  leben,  zwei    Enkel  kinder,  auf  die  ich  sehr  stolz 
bin. 

Ich  wohne  in  einer  Mini-Wohngemeinschaft  im  Bezirk  Kreuzberg  mit 
einem  Freund  meines  Sohnes,  der  Musiker  ist  und  mit  dem  ich  viele 
gemeinsame  Interessen  habe.   Ich  habe  viele  Freunde,  mit  denen  ich 
mich  gerne  treffe,   um  mit  ihnen  an  Problemen  aus  meiner  Arbeit  Oder 
allgemeiner  Art  zu  arbeiten.  Mit  einem  Wort:  Mit  geht  es  gut  und  ich 
fuhle  mich  wohl   in  meiner  Haut.  Meine  politische  Einstellung  ist 
klar:    Ich  stehe  auf  der  Seite  der  Menschen,   die  das  Leben  und  die 
Menschen  lieben  und  sich  dafiir  einsetzen,fur  Alle     die  Voraussetzung 
fur  ein  menschenwlirdiges  Dasein  zu  schaffen. 

Ich  stehe  nicht  auf  der  Seite  der  Leute,   die  nur  ihre  eigenen  Inter- 
essen vertreten,   Kernkraftwerke  bauen,  Polizei terror  fur  richtig 
halten  gegen  Menschen,  die  sich  gegen  menschenverachtenden  Stadte- 
bau  oder  andere  menschenfeindl iche  oder  vernichtende  Politik  richten. 
Ich  stehe  nicht  auf  der  Seite  von  Leuten,  die  mit  dem  Wort  Freiheit 
im  Mund  nach  alien  Seiten  schieBen. 

Ich  arbeite  seit  12  Jahren  im  Kinderhaus  am  Fuchsstein.    Ich  bin 
Sozialarbeiterin  und  im  Heim  mit  der  Funktion  der  Heimleiterin  be- ^ 
traut.   Vor  12  Jahren,     als   ich  da  anfing.war   ich  noch     eine  "richti- 
ge  Heimleiterin",   heute  vertrete  ich  diese  Funktion  nur  noch  nach 
auBen. 

In  den  Jahren  1970/71   fegte  u'ber  unser  Heim  eine  Welle  von  Bambulen. 
Fensterscheiben  klirrten,  Dachziegel   flogen,  das  Mobiliar  ging  etli- 
che  Male  zu  Bruch.   Diebstahle  und  Einbruche  innerhalb  des  Heimes 
waren  an  der  Tagesordnung.    Im  Berliner  Abgeordnetenhaus  rotierte  der 
AusschuB  flir  Familie,  Jugend  und  Sport,  die  Opposition  forderte 
wiedereinmal   den  Rlicktritt  der  Senatorin. 
Was  war  geschehen: 

Die  Emanzipation  der  Erzieher  nahm  ihren  Anfang.   Fortschritti lcne 
Erzieher,  Praktikanten,  Studenten  rebellierten  gegen  den  veralteten 
Erziehungsstil.   Dieser  sah  stark  vergrbbert,  etwa  so  aus: 

1.  Der  Heimleiter   (in)  weiB  am  besten,  was  fur  die  Kinder  gut  ist 
und  sagt  es  den  Erziehern.  .        . 

2.  Der  Erzieher  weiB,  was  flir  die  Kinder  gut  ist,  denn  der  Heimlei- 
ter und  die  Psychologen  sagen  es  ihm. 

Sind  die  Kinder  so  gut  und  edel  wie  der  Heimleiter  und  die  Erzieher, 
ist  alles  in  Ordnung,   sind  sie  es  nicht,  mu'ssen  sie  bestraft  werden. 
Der  Katalog  von  Sanktionen  war  unendlich  und  subtil,  endete  im 
schlimmsten  Fall  mit  Verlegung. 

Die  rebellierenden  Erzieher  weigerten  sich  mit  Recht  gegen  diese 

Methode. 

Ergebnis:  Die  Erzieherschaft  spaltete  sich  in  zwei  feindliche  Lager 

und  bekampfte  sich  erbittert.  Dieser  Streit,  der  unausweichlich  war, 

schlug  sich  in  der  vorab  beschriebenen  Situation  nieder. 

-  26  - 


In  einem  langen  EntwicklungsprozeB  gelang  es  uns,  einen  neuen  Mit- 
arbeiterstamm  zu  bilden  und  zu  einer  Mannschaft  zu  formen.   Der  grbB- 
te  Teil   der  Kollegen  verlieB  nach  und  nach  das  Heim,  unter  den  neu- 
en Bewerbern  konnten  wir  uns  damals  noch  die  qualifiziertesten  aus- 
suchen,   die  gewillt  waren,  mit  uns  den  EmanzipationsprozeB  gemein- 
sam  fortzufiihren.  Gleichzeitig  begannen  wir  mit  Gruppensupervision, 
die  dazu  diente,  eine  gemeinsame  padagogische  Grundhaltung  zu  ent- 
wickeln.    Heute  gibt  es  im  Fuchsstein  nur  noch  formal   eine  Heimlei- 
terin.  Die  Blirokratenhierarchie  will   es  so. 

Unser  Heimalltag  sieht  so  aus: 

In  jeder  Gruppe  findet  wbchentlich  eine  Erzieherbesprechung  statt. 

Die  Erzieher  beraten  liber  padagogische  Probleme,  diskutieren  Bericht- 

entwurfe,   Eintragung  in  die  Beobachtungsbbgen,  organisatorische  Fra- 

gen  und  dergleichen  mehr.   In  diesen  Sitzungen  auftretende  Fragen 

grundsatzlicher  Art  werden  notiert  und  fur  die  Hauskonferenz  vorge- 

merkt. 

Das   Koordinationsteam,  das  wechselweise  aus  drei    Erziehern  gebildet 
wird,  sammelt  die  grundsatzl ichen  Probleme  und  bringt  sie  in  die  Haus- 
konferenz ein.    (Psychologen  und  Heimleiterin  werden  immer  als  Erzie- 
her bezeichnet,   sie  sind  in  alle  Vorgange  mit  einbezogen).    Die  Su- 
pervision, die  von  den  Erziehern  freiwillig  wbchentlich  einmal   1   1/2 
Stunden  durchgefiihrt  wird,   dient  dazu,  eben  diese  padagogischen 
Grundsatzfragen  flir  die  Hauskonferenz  vorzudiskutieren.    Reicht  die 
Supervision  nicht  aus,  um  anstehende  Probleme  hinreichend  zu  disku- 
tieren,  und  Lbsungen  zu   entwickeln,  hinter  denen  alle  Kollegen  wirk- 
lich  stehen  konnen,  wird  ein  Wochenendseminar  eingeschoben.    Im  Ab- 
stand  von  3-4  Monaten  sind  wir  mit  dieser  zusatzlichen  Arbeitsform 
sehr  gut  gefahren. 

Wochenendseminar  im  Fuchsstein  heiBt:   harte,  heiBe  Diskussion  im 
fachlichen  Bereich  und  Freude  und  SpaB  am  Zusammensein  der  Kollegen. 

Das  wichtigste  Instrument  zur  Demokratisierung  in  unserem  Heim  ist 
die  Hauskonferenz.  An  dieser  Institution  sind  alle  Kollegen  aller 
Sparten  beteiligt.   Jeder  ist  gleich  stimmberechtigt.    Hier  wird  die 
Heimpolitik  des  Hauses  endgultig  verpflichtend  festgelegt. 

Unser  kleines  Heim  macht  es  mbglich,  mit  den  Kindern  stets  sehr 
persbnlich  im  Kontakt  zu  sein.  Alles  was  unseren  taglichen  Heimall- 
taq  betrifft,  wird  am  EBtisch  beim  gemutlichen  Teestundchen  mit  den 
Kindern  besprochen.   Das  jedoch  allein  genligt  nicht.    Deshalb  gibt  es 
hei   uns  die  Institution  "Kinderbesprechung".   Auf  diesem  wichtigen 
Forun  werden  Probleme  besprochen,   Konflikte  ausgetragen,  gemeinsame 
Veranstaltungen  geplant.   Die  Kinderbesprechung  kann  von  Kindern  oder 
Erziehern  einberufen  werden.   Es  gibt  keinen  festen  Termin  dafur, 
sondern  sie  wird  nach  den  jweiligen  Bedurfnissen  einberufen.   Sie 
kann  auch  von  Kindern  ohne  Erzieher  stattfinden.    So  kann  es  vorkom- 
men,  daB  wochenlang  keine  Kinderbesprechung  stattfindet,  dann  wieder 
dreimal   in  einer  Woche. 

Wir  haben  eine  starke  Gewerkschaf tsgruppe  im  Heim.  Alle  pad    Mitar- 
heiter  sind  in  der  07V  organisiert.   Wir  wissen  genau,  daB  aktive^ 
Arbeit  in  der  Gewerkschaft  unerlaBlich  ist,  wenn  unsere  Arbeitssi- 
tuation  sich  jemals  bessern  soil.   Oft  verzweifeln  wir  an  der  Starre 

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des  Gewerkschaftsapparates.  Alles  geht  so  langsam  und  zahf 1 ussig 
voran,  aber  es  geht  eben  nur  mit  uns. 


EIN  TAG  IM  FUCHSSTEIN 


Ich  bin  kein  Gruppenerzieher,  aber  einmal   in  der  Woche  von  Donners- 
tag  auf  Freitag  mach  ich  in  einer  Gruppe  abwechslungsweise  mit  einem 
Erzieher  zusammen  Nachtdienst.   Das  hi  1  ft  mir  die  Kinder  besser  zu 
kennen  und  die  Arbeitsweise  der  Erzieher  direkt  zu  erleben.  Vor  al- 
lem  aber  erfahre  ich  mich  selbst  in  den  verschiedensten  Situationen. 
Wie  reagiere  ich,  was  bleibt  von  meinen  schbnen  Theorien,  wie  ist 
das  eigentlich  mit  dem  einheitlichen  Erzieherverhal ten,  vor  allem 
aber  wie  fiihle  ich  mich  wahrend  und  nach  einem  solchen  Nachtdienst. 

Donnerstag,  20.10.-21.10.1977 

Ich  mache  mit  Ralf  zusammen  Nachtdienst. 

Ralf  ist  erst  seit  ca.   14  Tagen  in  unserem  Heim  und  macht  heute 
seinen  ersten  Nachtdienst. 

Um  12  Uhr  mittags  beginnt  unser  Dienst.    Ich  wappne  mich  also  mit  viel 
guter  Laune,  denn  ich  weiB  wie  wichtig  es  fur  den  Ablauf  des  ganzen 
Tages  ist,  ob  ich  gut  ausgeschlafen  und  frbhlich  ankomme,  oder  ob 
mir  aus  was  fiir  Grunden  auch  immer,  die  gute  Laune  vergangen  ist. 
Schon  an  dieser  Stelle  wird  mir  klar,  wie  unnormal  mein  Erzieherda- 
sein  ist.   Ich  bin  kein  Mensch  mit  Sorgen  und  Nbten,   ich  habe  kein 
Privatleben,  das  mich  einmal  gllicklich  und  einmal   ungliicklich  macht. 
Fiir  die  Kinder  bin  ich  ein  Erzieher,  der  kommt  und  geht  und  der  fiir 
sie  nur  als  Erzieher  im  Dienst  erlebbar  ist.    Ich  bin  ein  Erzieher, 
der  zur  Arbeit  geht,  seinen  Dienst  ordentlich>zu  machen  hat, bis  der 
Nachste  kommt.   Eben  in  diesem  Moment  geht  mir  auf,  daB  der  Titel 
dieses  Berichtes  falser  ist.   Ich  lebe  ja  gar  nicht  in  diesem  Heim, 
nur  die  Kinder  konnen  das  mit  Recht  von  sich  behaupten. 

Ich  komme  im  Heim  an.   Ein  paar  Kinder  sind  schon  aus  der  Schule  zu- 
rii'ek,  rasen  mir  entgegen,  wir  begru'Ben  uns  zartlich.   Fragen  prasseln 
auf  mich  herein:   "Babsi,  wer  hat  heute  bei   uns  Dienst,  bist  Du  heute 
bei   uns  im  Nachtdienst,  schlafst  Du  heute  bei  uns,  bringst  Du  mich 
heute  Abend  ins  Bett,  kommt  Karin  heute,  warum  kommt  Karin  heute 
nicht?  usw.   usw. 

Ich  erklare,  daB  ich  heute  mit  Ralf  zusammen  Nachtdienst  mache  und 
daB  ich  nicht  weiB,  wann  Karin  wiederkommt.  Dann  schiebe  ich  die 
Kinder  von  mir,  weil  jetzt  erst  einmal   eine  halbe  Stunde  lang  Dienst- 
Ubergabe  ist.    Ich  treffe  Lilo  und  Ralf  im  Erzieherzimmer.   Ralf  ist 
vor  zwei  Tagen  Vater  geworden,  und  ich  mbchte  ihm  jetzt  erst  einmal 
herzlich  gratulieren  und  an  seiner  Freude  teilnehmen.  Aber  das  geht 
nicht,  denn  Lilo  hat  einen  dringenden  Termin  fiir  ein  Kind  in  der 
Schule  und  muB  ganz  schnell  weg.  Wir  machen  also  Dienstiibergabe. 
Lilo  berichtet  uns  was  gestern  los  war,  worauf  wir  achten  mussen, 
welche  Termine  wahrgenommen  werden  mlissen,  und  was  mit  den  einzelnen 
Kindern  los  war. 

Wahrenddessen  kommt  Jenny  zwei  bis  dreimal  herein,  weil  sie  gern 


gleich  mit  mir  Schularbei ten  machen  mbchte.   Die  ersten  beiden  Male 
sage  ich  ihr  geduldig,  daB  wir  noch  nicht  fertig  sind,   in  ein  paar 
Minuten  kann  sie  kommen.  Als  sie  beim  drittenmal  die  Tu'r  aufreiBt 
und  uns  anbrlillt  merke  ich,  wie  ich  gereizt  werde  und  fauche  sie  an, 
daB  sie  gefalligst  warten  soil    bis  wir  fertig  sind  und  ich  jetzt 
keine  Zeit  fiir  sie  habe.  Jenny  knallt  die  Tur  zu  und  zieht  heulend 
und  schimpfend  ab.    Ich  argere  mich  bereits  liber  mich  selbst.  Warum 
habe  ich  sie  denn  fiir  die  paar  Minuten  nicht  auf  den  SchoB  genommen, 
was  hatten  wir  denn  so  Wichtiges  zu  besprechen?  Sie  sieht  drei   Er- 
zieher zusammen  sitzen  und  keiner  hat  Zeit  fiir  sie.  Wie  oft  am  Tag 
hort  sie  den  Satz:    "Ich  habe  keine  Zeit!" 

Lilo  geht  jetzt  ganz  schnell   zu  ihrem  Termin.    Endlich  mbchte  ich 
mich  mit  Ralf  beschaftigen,   aber  schon  ist  das  Zimmer  voller  Kinder. 
Jeder  mbchte  etwas  anderes  von  uns.   Ralf  sagt,   daB  er  am  Nachmittag 
zur  Feier  des  Tages  Kaffee  und  Kuchen  spendieren  will. 

Mittagessen: 

13  Uhr  etwa  sind  fast  alle  Kinder  aus  der  Schule  da,  wir  essen  Mit- 
tag.   Eine  gemutliche  Atmosphare  bei  Tisch  ist  nicht  herzustellen. 
Zunachst  gibt  es  Streit  um  die  Pla'tze.   Die  Kleinen  geraten  sich  in 
die  Haare,  Kerstin  fangt  an  zu  weinen.  Wenn  sie  nicht  neben  Ralf  sit- 
zen darf,  will   sie  gar  nicht  essen.  Marion  kommt  herein  und  schreit 
lauthals,  daB  man  bei   diesem  Krach  nicht  essen  kann,   sondern  Magen- 
geschwiire  bekommt.    Hassan  kommt  aus  der  Schule.   Er  verteilt  ein 
paar  Kung  Fu  Schlage,   nicht  schlimm,  aber  es  entsteht  wieder  Krach. 
Erik  kommt  mit  Andreas.   Sie  gucken  mit  Abscheu  auf  das  Mittagessen, 
erklaren,  daB  sie  so  einen  SaufraB  bestimmt  nicht  essen  und  ver- 
schwinden  wieder.   Ich  laufe  ihnen  nach,  frage  schon  auf  der  StraBe 
wo  sie  denn  hinwollen,  bekomme  aber  keine  Antwort,   sie  verschwin- 
den  Richtung  Zeltinger  Platz.   Ich  weiB,  daB  dort  ein  ImbiBstand  ist, 
und  daB  sie  dort  bestimmt  von  mitleidigen  BUrgern  etwas  spendiert 
bekommen.    "Die  armen  Heimkinder  kriegen  bestimmt  nichts  Ordentliches 
zu  essen."  Ich  kbnne  jetzt  hinterherlaufen,  aber  ich  mache  es  nicht, 
weil   ich  Angst  habe  mich;la'cherlich  zu  machen. 

Inzwischen  ist  das  Mittagessen  vorbei .  Jenny  und  ich  machen  Schular- 
beiten.   Sie  geht  in  die  erste  Klasse  und  ist  noch  mit  Feuereifer  da- 
bei .    Beim  Lesen  merke  ich,  daB  sie  nur  lesen  kann, was  sie  auswendig 
weiB.   Wir  lesen  2-3  ma  1,  dann  kann  sie  alles  auswendig.   Ich  denke 
o.k.,   irgendwann  wird  sie  schon  richtig  lesen  lernen  und  bin  froh, 
daB  wir  fertig  sind. 

Pegqy     die  die  gleiche  Klasse  besucht,  behauptet  steif  und  fest,  sie 
hat  nichts  auf.   Na  gut,  denke  ich,  um  15  Uhr  kommt  die  Erzieherm 
Frau  L.,  vielleicht  gelingt  es  ihr, mit  Peggy  Schularbeiten  zu  machen. 
Ich  sortiere  erst  einmal   das  Geschirr  in  die  Spulmaschine,  mache  den 
Tisch  sauber  und  fiihle  mich  5  Minuten  lang  nutzlich.   Dann  ziehe  ich 
mit  den  drei   Kleinen  zum  nachsten  Aldi-Markt,  um  Kuchen  fUr  Ralfs 
Fete  einzukaufen.  Ralf  kummert  sich  derweil   um  die  GrbBeren  und  de- 
ren  Schularbeiten. 

Rpi  Aldi  suchen  wir  Kuchen  aus.  Die  Kleinen  wollen  sich  SuBigkeiten 
^ufen  und  fangen  an,  die  Regale  abzugrasen,  grabschen  alles  an  und 
<ind  aanz  schon  laut.  Die  Leute  im  Geschaft  sehen  mich  vorwurfsvoll 
In  und  erwarten,  daB  ich  eingreife.   Ich  will  aber  nicht,  weil   ich 


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es  gut  finde,  daB  sich  die  Kinder  alles  genau  ansehen,  Preise  ver- 
gleichen  und  nicht  das  erste  Beste  kaufen.   Ich  panzere  mich  gegen 
die  feindlichen  Blicke  und  spitzen  Bemerkungen  und  ziehe  schlieB- 
lich  ab. 

Im  Heim  angekommen  decken  wir  den  Tisch  und  laden  alle  Leute,   die 
im  Haus  sind,   zum  Kaffeklatsch  ein.   Ein  Schwall   von  Kindern  bricht 
ins  Zimmer.   Jeder  will   von  jedem  Kuchen  zugleich  haben,  Tassen  kip- 
pen  urn,  ohrenbetaubender  Larm.   Ralf  sagt  in  diesem  Moment  glucklicn 
und  zufrieden:   "Kinder  kb'nnen  wenigstens  noch  richtig  feiern.     ich 
entspanne  mich  sofort,  bin  ihm  dankbar  fur  diese  Bemerkung  und  weiB 
daB  er  recht  hat.   Erik,  den  ich  seit  Mittag  nicht  mehr  gesehen  habe, 
kommt  rein.    Ich  atme  erleichtert  auf,  hoffe,  daB  sich  jetzt  eine  Ge- 
legenheit  ergibt,  mit  ihm  zu  reden.  Aber  schon  taucht  Andreas  am 
Fenster  auf  und  ruft  eindringlich,  daB  er  sofort  kommen  soil,  sie 
haben  eine  dringende  Verabredung.   Erik,  eben  noch  ganz  frbhlich, 
bekommt  wieder  den  verkrampften,  gehetzten  Blick,  den  ich  seit  Wo- 
chen  immer  haufiger  an  ihm  wahrnehme.  Er  verschwindet  sofort.   icn 
habe  keine  Gelegenheit,   ihn  anzusprechen,  denn  gerade  jetzt  fangt 
Martin  sich  an,  mit  Kerstin  urn  die  letzten  Kuchenkrumel   zu  prugeln. 
Ich  muB  hin,  wenn  ich  nicht  will,  daB  das  schbne,  neue  Kaffeege- 
schirr  zu  Bruch  gehen  soil.   Schnell   schlage  ich  vor,  daB  wir  al  e  im 
Garten  Versteck  spielen  wollen,  urn  uns  auszutoben.  Mem  Trick  k  appt 
heute,  wir  stlirmen  alle  in  den  Garten.   Ich  ziehe  mich  so  schnell   ich 
kann  aus  dem  Spiel    raus,  weil   ich  eigentlich  von  den  Erlebnissen 
des  Tages  schon  ganz  schbn  geschafft  bin. 

Inzwischen  ist  Frau  L.   gekommen.  Wir  sind  jetzt  drei    Erzieher  in  der 
Gruppe.   Frau  L.  will  mit  Peggy  spazierengehen.   Ich  finde  das  gut, 
vielleicht,  wenn  Peggy  jetzt  die  Einzelsituation  genieSen  kann, 
macht  sie  doch  noch  Schularbeiten. 

Ralf  fahrt  mit  Hassan  zum  Arzt,  anschlieBend  seine  Frau  und  das  Baby 
im  Krankenhaus  besuchen.  .  .     TH.rh. 

Carola,  aus  der  anderen  Gruppe,  war  schon  dreimal   da     i«i»it  '"« 

tennis  zu  spielen.    Ich  erklare  ihr  jedesmal,  daB  ich  keine  Zeit  tur 
sie  habe    weil   ich  heute  im  Madchenhaus  Dienst  habe    Sie  konrnt  inner 
wieder,  weil   sie  mich  Liberhaupt  nicht  versteht.  SchlieBlich  geht 
sie  traurig  und  enttauscht  davon,  sie  hat  nur  verstanden,  daB  ich 

SfSl'^S^BirtJJSi-  ich  das  Schlachtfeld  vom  Kaffeetrin- 
ken  auf  und  fuhle  mich  wi  edema!   nutzlich.   Ich  suche  En     und  Andreas, 
<ie  sind  noch  nicht  wieder  da,   es  wird  schon  langsam  dunkel. 
Die  Kinder  gucken  jetzt  im  Fernsehen  Pinochio,  ich  kann  einen  Moment 

DannTrd  es  Zeit  furs  Abendessen.   Erik  und  Hassan  haben  Tischdienst, 
aber  sie  sind  nicht  da,  und  ich  muB  es  selber  machen.  Marion  hilft 
mir    Sie  will   heute  Abend  die  Kleinen  mit  mir  baden  und  ins  Bett 
bringen.   Wir  freuen  uns  auf  eine  gemiitliche  Stunde. 

Wir  fangen  gleich  nach  dem  Essen  an.   Frau  L.   ist  inzwischen  mit 
Peqqy  zuruckgekommen,  sie  ku'mmert  sich  jetzt  urn  die  Wasche. 
Gerade  als  wir  die  Kleinen  baden  wollen, kommt  ein  groBer  Junge  aus 
der  anderen  Gruppe.   Er  hat  Streit  mit  Peggy  gehabt  und  will   sie 
jetzt  verhauen.  Wir  bitten  ihn  freundlich,  doch  wieder  in  seine  Grup- 
pe zu  gehen  und  uns  nicht  zu  stbren.  Er  ist  sauer  und  laBt  uns  mcht 


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in  Ruhe.  Wir  Ziehen  uns  ins  Bad  zurlick,  Peggy  steht  verstdrt  in  einer 
Ecke.    Sie  traut  sich  nicht  auszuziehen.   R.    schlagt  gegen  die  Tiir, 
schreit  laut,  bedroht  Peggy.   Ich  merke,  wie  ich  immer  aggressiver 
werde.  SchlieBlich  halte  ich  die  Situation  nicht  mehr  aus  und  gehe 
raus,   urn  mit  ihm  zu  reden.   Wir  brlillen  uns  an.    Ich  sage  ihm.   wie  be- 
schissen  ich  es  finde,  daB  er  uns  nicht  in  Ruhe  la'Bt,  er  sagt  mir, 
wie  beschissen  er  mich  findet.    Die  Situation  wird  nicht  besser.   R. 
geht  nicht,  er  setzt  sich  jetzt  mitten  in  den  Weg.    Ich  zittere  vor 
Wut,  am  liebsten  wurde  ich  ihn  die  Treppe  runterschmeiBen  .  R.   zit- 
tert  vor  Wut  und  wlirde  mich  am  liebsten  die  Treppe  runterschmeiBen. 
Wir  tun's  beide  nicht,  aber  wir  belegen  uns  noch  eine  ganze  Weile 
mit  Schimpfworten.    Ich  weiB,  daB  die  Situation  verfahren  ist.   R. 
kann  jetzt  gar  nicht  mehr  weggehen,  ohne  sein  Gesicht  zu  verlieren. 
So  motzt  er  noch  eine  Weile  weiter,   steht  aber  SchlieBlich  unvermit- 
telt  auf  und  verschwindet. 

Marion  hat  inzwischen  die  Kleinen  fertig  gebadet.   Alle  sind  ganz 
still   und  eingeschuchtert.  Marion  will  den  Kleinen  noch  vorlesen, 
ich  bin  ihr  so  dankbar  daflir,  denn  ich  bin  noch  so  erregt  von  der 
Auseinandersetzung  mit  R.,  daB  ich  mich  einfach  nicht  ruhig  und  lie- 
bevoll   verhalten  kann.    Ich  bin  so  unzufrieden  mit  mir.   Warum  kann 
ich  nicht  den  Kindern  eine  warme,    ruhige  Atmosphare  schaffen,  warum 
kann  ich  nicht  auf  R.   eingehen,  wenn  er  Sorgen  hat  und  sie  aggressiv 
an  den  Kleinen  auslebt.   Wiedereinmal   habe  ich  alles  falsch  gemacht. 
Oder  vielleicht  liegt  es  gar  nicht  an  mir,  sondern  an  der  Situation 
im  Heim? 

Ralf  ist  inzwischen  mit  Hassan  zuruckgekommen.   Wir  treffen  uns  im 
Tagesraum  und  machen  uns  einen  Tee.  Marion,   Birgit  und  Christin 
kommen  dazu,und  die  Stimmung  ist  plbtzlich  ganz  locker.    Einer  stimrnt 
ein  Lied  an,  Hassan  bringt  plbtzlich  eine  Kerze  an,  Christin     holt 
ein  Liederbuch.   Bei   Kerzenschimmer  und  Tee  verbringen  wir  eine  gemu't- 
liche  Stunde.    Keiner  stbrt  uns  -  Erik  und  Andreas  sind  immer  noch 
nicht  da. 

Ralf  hbrt  plbtzlich  in  Eriks  Zimmer  Stimmen  wispern.   Sie  sind  ganz 
heimlich   ins  Haus  geschlichen  und  gleich  im  Zimmer  verschwunden. 
Ralf  klopft  an,  das  Zimmer  ist  von  innen  verschlossen.   Sie  machen 
nicht  auf.   Ich  bin  unglucklich.  Wie  weit  sind  uns  die  beiden  Kinder 
schon  entglitten,   daB  sie  nicht  mehr  mit  uns  reden  wollen.   Wie  tief 
ist  ihr  MiBtrauen  gegen  uns?  Wie  kbnnen  wir  sie  wieder  erreichen? 

Urn  zehn  Uhr  sind  fast  alle  Kinder  im  Bett,  es  ist  Ruhe  im  Haus.    Ich 
qehe  in  die  andere  Gruppe,  urn  mit  den  Erziehern  ein  wenig  uber  die 
Tagesereignisse  zu  reden.  Nach  kurzer  Zeit  kommt  Ralf  und  erzahlt 
uns,   daB  Erik  und  Andreas  doch  noch  aus   ihrem  Zimmer  gekommen  sind, 
urn  sich  etwas  zu  essen  zu  machen.   Urn  Ralf  und  sich  selbst  ihre  Star- 
ke zu  beweisen,   haben  sie  angefangen,  Rabatz  zu  machen,  d.h.    Stuhle 
mit  lautem  Knall   umgekippt,   laut  geschrien  usw.   Doro  geht  gleich  in 
die  Gruppe  und  holt  Andreas  raus.   Er  ist  hochrot  im  Gesicht,  weiB 
nicht     was  er  machen  soil,   SchlieBlich  trollt  er  sich  in  sein  Zim- 
mer.   Ich  weiB,   ihm  ist  in  dieser  Minute  genauso  mies  wie  mir  zumute. 

Mm  12  Uhr  sind  Ralf  und   ich  endlich  mit  unserem  Kram  fertig.   Wir  kbnn- 
1  schiafen  gehen,  aber  wir  sind  von  unseren  Tageserlebmssen  noch 
so  aufgedreht,  daB  an  schiafen  nicht  zu  denken  ist.   Wir  machen  aus 

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der  Not  eine  Tugend  und  schwatzen  noch  eine  Stunde  zusammen.  Wir 
kennen  uns  ja  noch  gar  nicht  und  haben  uns  eine  Menge  zu  erzahlen. 
Es  ist  eins  als  ich  in  mein  Zimmer  gehe.    Dort  finde  ich  Birgit  vor, 
sie  hat  sich  bei  mir  einquartiert.    Ich  finde  es  schon,  mit  einem 
freundlichen  Wesen  mein  Zimmer  zu  teilen. 

Freitag  fru'h: 

Ab  sechs  Uhr  wecken  Ralf  und  ich  die  Kinder  und  machen  Fruhstuck. 
Wieder  heiSt  es,  gute  Laune  zu  verspriihen,  urn  den  Kindern  den  Tages- 
beginn  so  angenehm  wie  mbglich  zu  machen.   Wir  sind  beide  hundemude 
nach  der  kurzen  Nacht.   Ich  merke,  wie  ich  immer  angespannter  werde. 
Was  wird  mit  Erik  heute  morgen  seinf  Werden  wir  es  schaffen,  ihn 
zur  Schule  zu  bewegen?  Wie  soil   ich  ihm  heute  morgen  entgegentreten? 
Soil   ich  ganz  freundlich  sein,  als  ware  nichts,  ich  bin  ganz  unsi- 
cher  und  hoffe,  daS  Ralf  als  neuer  Erzieher  ihm  unbefangener  gegen- 
iibertreten  kann.  Ganz  mitmeinen  Sorgen  beschaftigt,   kiimmere  ich 
mich  kaum  urn  die  anderen  Kinder.  Christin  und  Birgit  wollen  mit  mir 
zusammen  Kaffee  trinken,  Kerstin,  Jenny  und  Peggy  sind  schon  auf  und 
wollen  mit  mir  reden.   Plbtzlich  sehe  ich  Erik  noch  vor  dem  Fruhstuck 
im  Parker  auf  die  StraBe  gehen.   Er  ist  ganz  blaB,   sieht  mich  nicht 
an,  hetzt  an  mir  vorbei .    Ich  gehe  ihm  nach  und  treffe  ihn  mit  Andreas 
zusammen  gerade  noch  an  der  StraBenecke.    Ich  frage  sie  freundlich, 
wo  sie  hinwollen  und  ob  wir  nicht  erst  einmal   zusammen  Kaffee  trin- 
ken wollen.   Erik  kann  mich  immer  noch  nicht  ansehen,  er  sagt,  sie 
m'u'Bten  weg,   ha'tten  keine  Zeit.  Andreas  tanzt  mit  hochrotem  Kopf  auf 
der  StraSe  herum  und  ruft  immer:   "Fang  mich  doch,  fang  mich  doch". 
Ich  weiB  nicht,  was  ich  sagen  und  was  ich  machen  soil.   Klar  ist, 
daB  sie  heute  wieder  nicht  zur  Schule  gehen  und  ihr  endgiil tiger 
RausschmiB  aus  der  Schule  nur  noch  eine  Frage  der  Zeit  ist.  Was  soil 
dann  werden?  Alle     bisherigen  MaBnahmen  haben  nicht  genutzt.   Erst  ha- 
ben wir  mit  positiven  Unterstlitzern  gearbeitet,  immer  nur  mit  kurz- 
fristigem  Erfolg.   Dann  wurden  sie  taglich  zur  Schule  gebracht,  in 
den  Pausen  noch  zusatzlich  besucht.  Viele  Schritte  wurden  gemacht, 
viele  Plane  ausgedacht  und  jetzt  stehe  ich  hier.   Nichts  geht  mehr. 
Ich  merke,  wie  ich  aus  Hilflosigkeit  und  Mudigkeit  ganz  wutend  wer- 
de.  Ich  sage  entschieden  und  energisch,  daB  sie  jetzt  sofort  ins 
Haus  kommen  sollen,  damit  wir  miteinander  reden  kbnnen.   Drehe  mich 
urn,  gehe  weg  und  sage  noch  mit  markiger  Stimme  Sinnspriiche  wie  Z.B.: 
Teh  rnUBt  selber  entscheiden,  was  ihr  macht.   Ihr  wi'Bt,  daB  Torsten 
erst  vor  kurzem  nach  Westdeutschland  verlegt  wurde,  wie  soil  es  mit 
euch  weitergehen? 

Ich  weiB  genau,  daB  das  alles  verkehrt  ist.   Erik  und  Andreas  schwan- 
zen  nicht  die  Schule,  weil  sie  faul  sind,  oder  weil  sie  nur  einfach 
keine  Lust  haben,  oder  weil  sie  uns  Erzieher  argern  wollen.   Ihre  gan- 
ze  Lebenssituation  ist  jetzt  so  verfahren,  daB  sie  nicht  mehr  raus 
kbnnen.  Meine  Aufgabe  ware  es,  sie  rauszuholen.  Das  geht  aber  nur, 
wenn  ich  sie  nicht  dauernd  bedrohe.   Wieso  sollen  sie  denn  Vertrauen 
zu  mir  haben,  wenn  ich  ihnen  immer  nur  erzahle,  was  alles  noch  fur 
schlimme  Sachen  mit  ihnen  passieren  kbnnen.  Warum  a'ndere  ich  ment 
ihre  Lebenssituation  von  Grund  auf,  lasse  sie  erst  mal  Vertrauen  fas- 
sen,  fordere  nicht  dauernd  Sachen,  die  sie  nicht  bringen  kbnnen,  stos- 
se  sie  immer  wetter  fort  von  mir?  Ist  es  die  Heimstruktur,an  deren 
Grenzen  ich  wieder  einmal  gestoBen  bin,  oder  ist  es  meine  Unzulang- 
lichkeit? 


32  - 


Juirenta 


Neuerscheinungen  Herbst  77 


Angelika  Burger/ Gerlinde 
Seidenspinner 

Jugend  unter  dem 
Druck  der 
Arbeitslosigkeit 

Reihe  DJI-aktuell 
176  Seiten,  DM  16- 
Diese  Untersuchung  do- 
kumentiert,  wie  gravierend 
sich  Lehrstellenmangel 
und  Arbeitslosigkeit  auf 
die  Jugendlichen  auswir- 
ken,  laBt  sie  selbst  mit 
ihren  Sorgen  und  Proble- 
men  zu  Wort  kommen  und 
zeigt,  wie  sich  fehlende 
berufliche  Perspektiven 
auf  die  konkrete  Lebens- 
situation der  Jugendlichen 
auswirken. 

Arbeitsgruppe  Tages- 
m  utter 

Das  Modellprojekt 
Tagesmutter 

Erfahrungen  und  Per- 
spektiven 
Reihe  DJI-aktuell 
236  Seiten,  DM  20,- 
Der  Band  gibt  einen  Ein- 
blick  in  die  Praxis  dieser 
neuen  Betreuungsform  fur 
Kleinkinder.  Es  wird  iiber 
Erfahrungen  in  den  11 
Schwerpunkten  des  Mo- 
dellprojektes  berichtet, 
uber  Beratung  und  Hilfen 
fur  die  beteiligten  Eltern 
und  Tagesmutter,  Qber  die 
Entwicklung  der  Kinder. 


Albrecht  Briihl 

Rechtliche  Hilfen 
ftir  Obdachlose 

168  Seiten,  DM  14,- 
Dieser  praktische  Rat- 
geber  informiert  iiber  alle 
rechtlichen  Fragen  der 
Randgruppenarbeit.  Er 
zeigt,  wie  man  seine 
Rechte  gegeniiber  Behor- 
den  durchsetzen  kann  und 
bringt  Musterbeispiele  fur 
Einspriiche,  Beschwerden 
und  Antrage.  Ein  detaillie- 
tes  Register  ermbglicht 
einen  raschen  Zugriff  zu 
den  im  Einzelfall  benotig- 
ten  Informationen. 

Jiirgen  Fritz 

Methoden  des 
sozialen  Lernens 

Juventa  Paperback 
288  Seiten,  DM  18,- 
Ober  250  Spiele  und 
Obungen,  dazu  viele  in 
der  Praxis  erprobte  Bei- 
spiele  und  Anregungen 
machen  diesen  Band  zu 
einer  Fundgrube  fur  den 
Praktiker.  Hier  findet  er 
eine  Fulle  von  Methoden 
zu  den  verschiedensten 
Situationen  und  Aufgaben 
sozialen  Lernens:  zum 
Kennenlernen  des  ande- 
ren, zur  Verbesserung 
von  Kommunikationspro- 
zessen,  zum  Umgang  mit 
sozialen  Rollen,  zur  Zu- 
sammenarbeit  in  Qruppen. 


Projektgruppe  Jugendbiiro 

Subkultur  und 
Familie  als 
Orientierungs- 
muster 

Zur  Lebenswelt  von 
Hauptschulern 
Juventa  Materialien, 
Band  31 

208  Seiten,  DM  18,- 
Detaillierte  Befunde  der 
Lebenswelt-Analyse  geben 
einen  vertieften  Einblick 
in  die  Identitatsprobleme 
und  die  gesellschaftspoli- 
tische  Orientierung  der 
Jugendlichen. 

Gerhard  Schulze 

Politisches 
Lernen  in  der 
Alltagserfahrung 

Reihe  DJI-Analysen 
228  Seiten,  DM  22,- 
Auf  der  Basis  einer  empi- 
rischen  Untersuchung  bei 
Lehrlingen  und  Gymnasia- 
sten  wird  uberpruft,  welche 
Faktoren  die  Entwicklung 
politiscner  Interessen  be- 
einflussen. 


Bitte  Prospekt  „Neu- 
erscheinungen  Herbst  77'' 
anfordern  bei: 
Juventa  Verlag,  Tizian- 
str.  115,  8  Munchen  19 


Marion,   die  heute  noch  krank  ist,  hat  inzwischen  Schrippen  gekauft, 
wir  decken  einen  gemlitlichen  Friihstlickstisch  fur  alle  Kinder  und 
Erzieher,  die  noch  im  Haus  sind.  Ralf  ist  gerade  gekommen,  er  wollte 
Jenny  und  Peggy  zur  Schule  bringen.  Mit  Peggy  hat  es  nicht  geklappt, 
an  der  Ecke  ist  sie  ihm  fortgelaufen  und  hat  sich  jetzt  im  Badezim- 
mer  eingeschlossen.  Sie  will  mit  niemandem  sprechen  und  kommt  nicht 
heraus.   Ralf  meint  schon  nach  seinem  ersten  Eindruck,  sie  gehbrte 
noch  gar  nicht  in  die  Schule,  Vorschule  sei   fur  sie  besser. 
Nach  dem  Frlihstiick  geht  Ralf  in  die  Gruppenbesprechung,   ich  nehme 
heute  nicht  mehr  daran  teil.  Marion  und  ich  sind  allein.   Wir  beschlies- 
sen,  jetzt  eine  Frauenstunde  abzuhalten.   Wir  duschen  ausgiebig,  wa- 
schen  uns  die  Haare,  fbhnen  uns  gegenseitig,  unterhalten  uns.  Wie 
ich  diese  Stunde  jetzt  genieBe.  Marion  sagt:   "WeiSt  du  Babsi,  was 
schon  ware?  Die  Erzieher  sollten  nicht  immer  nach  Hause  gehen.  Wir 
m'JSten  alle  in  einem  groBen  Haus  zusammen  wohnen.   Ich  finde  euch 
alle  so  nett,  aber  ich  finde  es  schrecklich,  daB  ihr  immer  wieder 
fort  geht.   Na  ja,   ich  sehe  ja  ein,  ihr  konnt  nicht  Tag  und  Nacht  mit 
uns  zusammen  sein,  das  ist  zu  anstrengend,  ach,  ich  weiB  auch  nicht, 
es  mu'Ste  alles  ganz  anders  sein." 
Sie  spricht  mir  aus  der  Seele. 


Erhard  Wedekind,  Koln 

HEIMSTRUKTUR  UND  ERZIEHERSITUATION 

-  Eine  Problemskizze  verwalteter  Zwischenmenschlichkeit 


Ober  die  pathogenen  Auswirkungen  der  Institution  "Heim"  auf  die 
psycho-soziale  Entwicklung  der  dort  lebenden  Kinder  und  Jugendlichen 
gibt  es  bereits  eine  umfangreiche  Literatur.   Die  Erzieher  tauchen 
allerdings  in  den  meisten  Untersuchungen  lediglich  als  Statisten 
auf,   als  Funktionare  einer  Einrichtung,   die  die  strukturellen  Merk- 
male  in  Handeln  Iibersetzen.    Aber  wie  geht  es   ihnen  selber  dabei, 
was  bewegt  sie,  wie  verarbeiten  sie  die  enormen  Belastungen  ihres 
Berufes?  Und  vor  allem:   wo  sind  die  Bruchstellen,  an  denen  sich  Er- 
zieher nicht  nahtlos   in  eine  insti tutionelle  Maschinerie  einspannen 
lassen?  Und  es  gibt  kritische  Erzieher  und  Sozialarbeiter  in  Heimen, 
die  liber  Ansatzpunkte  zu  einer  Veranderung  ihrer  Arbeitsbedi  ngungen 
und  der  gesamten  sozialen  Situation  in  der  Einrichtung  gemeinsam 
nachdenken.  Dabei   bleibt  man  aber  oft  an  Einzelheiten  hangen  und 
droht  den  Oberblick  zu  verlieren. 

Angesichts  der  hohen  Dichte  der  Probleme  und  der  umfassenden  Kom- 
plexitat  der  einzelnen  Aspekte  ist  es  sehr  schwer,   so  etwas  wie  eine 
Orientierung  zu  entwickeln,  die  den  jeweiligen  Auseinandersetzungen 
eine  langerfristige  Richtung  gibt.   Bezogen  auf  dieses  Bedlirfnis 
mbchte  ich  mit  meinem  Beitrag  einige  grundlegende  Probleme  der  Er- 
ziehersituation  umreiBen,  wie  sie  sich  aus  der  sozialen  Struktur 
stationarer  Erziehungseinrichtungen  ergeben.  Meine  uberlegungen  sind 
freilich  bewuSt  unfertig,  nicht  systematisch  umfassend,   bedurfen  der 
Prazisierung,  Differenzierung  und  Infragestel lung  anhand  der  Erfah- 
rungen  anderer  Kollegen. 


DIE  TOT  ALE  INSTITUTION  HEIM 

Kennzeichnend  fur  das  gesamte  Jugendhilfesystem  in  der  BRD  ist  sein 
eindeutiger  Interventionscharakter.   Die  MaBnahmen  stoBen  von  auBen 
in  ein  sehr  vielschichtig  gestricktes  Netz  von  bkonomischen,  sozia- 
len und  psychischen  Schwierigkeiten,   in  denen  sich  eine  Familie  be- 
findet.   Sie  versuchen,  diese  Problemlage  zu  reduzieren  und  sie  fur 
eine  sozialtechnische  Einordnung  handhabbar  zu  machen.   Ein  besonders 
einschneidendes  Mittel   ist  die  empfohlene  Oder  angeordnete  Heimer- 
ziehung.   Symptomtrager  ist  dann  einfach  das  Kind,  das  aggressiv  und 
trotzig  ist  oder  der  Jugendliche,  der  geklaut,  gekifft  hat,  nicht 
mehr  zur  Sc'hule  geht.   G'efragt  wird  nicht:  wie  sieht  der  Lebenszusam- 
menhang  der  Familie  aus;  was  ist  mit  der  Arbeitsbelastung  der  Eltern; 
wie  kbnnen  nachbarschaftliche  Kontakte  fruchtbar  gemacht  werden; 
aibt  es  Mbglichkeiten  von  Selbsthilfe,  die  gefbrdert  werden  kbnnten; 
wie  sind  die  Chancen  fur  eine  intensive  Familienarbeit,  usw.    . 
Stattdessen  geht  es  urn  die  effektive  Verwaltung  eines  abweichenden 
Elements;  effektiv  heiBt,  daB  es  erst  mal   verschwindet  und  dannt 
nicht  mehr  stbrt. 

-  35  - 


"Die  Unterbringung  von  Jugendlichen  zur  Resozialisierung  in  einem 
Heim  setzt  nach  geltendem  Recht  deren  Verwahrlosung  voraus,  also 
ein  von  der  Norm  abweichendes  Verhalten,  das  von  der  Familie  nicht 
mehr  behoben  werden  kann.   Die  Heimerziehung  ist  damit  repressiv  und 
diskriminierend  zugleich.   Repressiv,  indem  sie  erst  einsetzt,  nach- 
dem  eine  ernste  soziale  Schadigung  bereits  eingetreten  ist,  und  die- 
se  gleichsam  bestraft;  diskriminierend,  indem  sie  das  Versagen  der 
betroffenen  Familie  feststellt."    (1) 

Wer  versagt?  Die  Familie,  die  ihre  materiellen  Belastungen  nicht 
mehr  aushalt  Oder  sich  beim  krampfhaften  Versuch,  sozial   aufzustei- 
gen,  auf  Kosten  der  Kinder  verhoben  hat,  die  Eltern,  deren  gelernte 
Normen  und  Orientierungen  nichts  mehr  hergeben  angesichts  immer  un- 
durchschaubarer  gesellschaftlicher  Ablaufe  und  die  sich  in  ihrer  Un- 
sicherheit  an  das  Kind  klammern  und  es  ungewollt  psychisch  verkrup- 
peln  -  Oder  die  Form  asozialer  Ansammlung  vereinzelter  Lohnarbeiter 
in  menschenfeindlichen  Betonburgen,  in  denen  sie  sich  nach  der  ano- 
denden  und  stumpfsinnigen  Routine  des  Jobs  als  kauflustige  Konsumen- 
teneinheit  ein  gefalliges  Familienleben  inszenieren  sollen? 

Die  Unterbringung  des  ausgesonderten  Symptomtragers  erfolgt  "bffent- 
lich".   "Offentliche  Erziehung"  heiBt  praktisch  institutionelle  Er- 
fassung  und  soziale  Abschottung.   Herausgerissen  aus  dem  bisherigen 
Lebenszusammenhang  soil   das  Kind  oder  der  Jugendliche  lernen,  mit 
den  Schwierigkeiten  fertig  zu  werden,  die  in  diesem  Kontext  entstan- 
den  sind;   befriedigendere  soziale  Verhal tensweisen,  die  den  Umgang 
mit  der  gesellschaftlichen  Realitat  erleichtern,  sollen  im  Heim  er- 
worben  werden,  dessen  innere  Struktur  eine  vol  1 ig  anders  gelagerte 
Eigengesetzlichkeit  aufweist  als  diese  Realitat.   Die  institutionelle 
Eigengesetzlichkeit  des  Heimes  wird  bestimmt  durch  die  Merkmale 
einer  "totalen  Institution",  wie  sie  Erving  Goffman  beschrieben  hat: 
"In  der  modernen  Gesellschaft  besteht  eine  grundlegende  soziale  Ord- 
nung,  nach  der  der  einzelne  an  verschiedenen  Orten  schlaft,  spiel t, 
arbeitet  -  und  dies  mit  wechselnden  Partnern,  unter  verschiedenen 
Autorita'ten  und  ohne  einen  umfassenden  rationalen  Plan.   Das  zentrale 
Moment  totaler  Institutionen  besteht  darin,  daB  die  Schranken,  die 
normalerweise  diese  drei   Lebensbereiche  voneinander  trennen,  aufge- 
hoben  sind: 

1.  Alle  Angelegenheiten  des  Lebens  finden  an  ein     und  derselben 
Stelle,  unter  ein     und  derselben  Autoritat  statt. 

2.  Die  Mitglieder  der  Institution  fuhren  alle  Phasen  ihrer  taglichen 
Arbeit  in  unmittelbarer  Gesellschaft  einer  groBen  Gruppe  von  Schick- 
salsgenossen  aus,  wobei  alien  die  gleiche  Behandlung  zuteil  wird  und 
alle  die  gleiche  Tatigkeit  geineinsam  verrichten  mussen. 

3.  Alle  Phasen  des  Arbeitstages  sind  exakt  geplant,  eine  geht  zu 
einem  vorher  bestimmten  Zeitpunkt  in  die  nachste  liber,  und  die  gan- 
ze  Folge  der  Ta'tigkeiten  wird  von  oben  durch  ein  System  expliziter 
formaler  Regeln  und  durch  einen  Stab  von  Funktiona'ren  vorgeschrie- 
ben. 

4.  Die  verschiedenen  erzwungenen  Ta'tigkeiten  werden  in  einem  einzi- 
gen  rationalen  Plan  vereinigt,  der  angeblich  dazu  dient,  die  offi- 
ziellen  Ziele  der  Institution  zu  erreichen."    (2) 

GegenLiber  Goffman  ist  allerdings  darauf  hinzuweisen,  daB  sich  die 
fatale  Logik  der  totalen  Institution  nicht  bereits  aus  der  Aufhe- 
bung  der  flir  die  burgerliche  Gesellschaft  typischen  Trennung  der 

-  36  - 


Lebensbereiche  Arbeit,  Offentlichkeit  und  private  Reproduktion  er- 
gibt,  sondern  aus  der  Organisierung  dieser  Aufhebung  als  soziales 
Ab  seits,  in  dem  gesellschaftliche  Realitat  nicht  produktiv  ange- 
eignet  wird.   Das  Heim  als  soziales  Abseits  stellt  ein  umfassendes 
Versorgungssystem  dar,  das  den  Anspruch  erhebt,  alle  Bediirfnisse 
der  Insassen  entmlindigend  flir  diese  zu  regulieren.   Die  dabei   struk- 
turell   produzierte  Passivitat  und  Unselbstandigkeit  bef'ahigt  die  Be- 
troffenen noch  nicht  einmal    zur  Erlernung  der  wesentlichsten  Kultur- 
techniken,  die  ein  Lohnabhangiger  benb'tigt,  urn  seine  Arbeitskraft 
entsprechend  zu  verkaufen,  von  einer  interessenbezogenen  Auseinander- 
setzung  mit  den  sozialen  Widersprlichen  ganz  zu  schweigen.   Alle  sozial- 
padagogischen  und  therapeutischen  Lernzielbestimmungen  denunzieren 
sich  von  selber    angesichts  der  in  Heimen  liblichen  Versorgungsstra- 
tegie,  die  den  Betroffenen  aller  Notwendigkeiten  enthebt,  seine  un- 
mittelbaren  lebenspraktischen  Angelegenheiten,  die  sonst  den  Alltag 
der  Menschen  nachhaltig  bestimmen,  selber  in  die  Hand  zu  nehmen. 
Einfache  Ablaufe  wie  Einkaufen,   Kochen,  Putzen,  Reparaturen,  Frei- 
zeitgestaltung    sind  den  Heitninsassen  entzogen.  Erfahrungen  im  Um- 
gang mit  Behdrden,  Sffentlichen  Einrichtungen  und  Kulturinsti tutio- 
nen  konnen  nicht  Stuck  flir  Stuck  selbstta'tig  gemacht  werden.  Wie 
soil   dabei   ein  Kind  oder  ein  Jugendlicher  spielerisch  in  die  Lage 
versetzt  werden,  sich  im  Umgang  mit  Kontakten  zu  anderen  Menschen 
selber  zu  erfahren,  sich  zu  identif izieren  und  abzugrenzen?  Die  Ra- 
tionalitat  der  effektiven  Abflitterung  im  organisierten  Heimrahmen 
stent  quer  zu  den  notwendigen  Bedingungen  sozialer  Lernprozesse. 

DAS  DILEMMA  "  BLOSSER  "  PADAGOGIK 

Wie  strukturieren  nun  diese  objektiven  Bedingungen  des   Heimes  als 
.totale  Institution  das  Verhaltnis  der  Erzieher  zu  den  Kindern  und 
Jugendlichen?  Die  Versorgungssituation  und  die  absolute  Verkummerung 
lebenspraktischer  Al 1 tagsvorgange  schafft  tendenziell   eine  Gegenstands- 
losigkeit  der  Erziehungsprozesse.   Der  vorprogrammierte  Ablauf  la'Bt 
kaum  noch  gemeinsatne  Aufgaben,  -  ein  sinnlich  erfahrbares  gemeinsames 
Drittes  -,  auf  die  sich  die  Interaktion  Erzieher/Jugendlicher  bezie- 
hen  kbnnte,  ubrig.   Fur  den  Erzieher  existiert  keine  Tatigkeit,  die 
von  den  Kindern  und  Jugendlichen  losgelbst  ware.  Unter  dem  Aspekt 
dieser  strukturellen  Klinstlichkeit  der  Verhaltensablaufe  wird  das 
Heim  zum  Ort  "bloBer  Padagogik".   Das,  was  Heinsohn/Knieper  in  ihrer 
Kritik  des  Kindergartens  herausgefunden  haben,  gilt  in  noch  weit 
existentiellerem  MaBe  fur  das  Heim.    Die  Erzieher  "existieren  Uber- 
haupt  nur  in  Beziehung  auf  die  Kinder.   Dadurch  wird  aber  die  ent- 
scheidende  Komponente  der  Wertschatzung,   namlich  die  Herstellung 
einer  gleichberechtigten  (sozii-reversiblen)   Partnerschaft  fast  un- 
mbalich  gemacht.  Bei  welchen  seiner  Verrichtungen  soil   der  Erzieher 
das  wertgeschatzte  Kind  teilhaben  lassen,  wenn  in  der    padagogischen 
Situation  der  Institution  das  Kind  doch  gerade  Gegenstand  seiner 
Verrichtung  ist?"   (3) 

na  die  Heimerzieher  in  der  Regel   auch  von  den  Bereichen  der  schuli- 
=rhen  Ausbildung  und  der  Berufsvorberei tung  ferngehalten  werden, 
hleibt  ihnen  in.  Prinzip  nichts  als  die  KonzentratTon  auf  das  Sozial- 
uirhalten  als  solches     und  auf  eine  irgendwie  abgetrennt  emtieren- 
de  Sotionalitat.   Dieser  zu  bearbeitende  konmunikatTve  Rest  redu- 

-  37  - 


ziert  die  Vielfalt  von  Lebenspraxis  auf  die  Vermittlung  von  Normen 
und  die  Kontrolle  ihrer  Einhaltung.   "Die  Eindrucksmonotonie  flihrt 
im  Extrem  dazu,  daB  den  Kindern  nichts  vermittelt  werden  kann,  sie 
aber  doch   'irgendwie'   Liber  den  Tag  kommen  mLissen  und  dabei  aller- 
lei  Unbequemes  anstellen  kbnnen.  Diese  Mb'glichkeit  erscheint  als 
Ungehorsam  und  Stbrung  und  sorgt  flir  die  spezifische  Qualitat  des 
Erzieher-Kind-Verhaltnisses,  das  als  eine  des   ' Ruhig-und-auf-Distanz- 
haltens'   der  Kinder  bezeichnet  werden  kann."   (4) 

MaBstabe  und  Anhaltspunkte  auBerhalb  der  Beziehung  zum  Erzieher,  an 
denen  sinnvolle  Verhaltensstrategien  im  Hinblick  auf  ein  zu  errei- 
chendes  Ziel  liberprlift  werden  kbnnten,  stehen  dem  Kind  oder  dem  Ju- 
gendlichen  nur  auBerst  begrenzt  zur  VerfUgung.    Die  Bestatigung  Oder 
die  Verwerfung  eigenen  Tuns  wi  rd  fast  ausschl  ieSl  ich  Liber  die  Reak- 
tion  des  Erziehers  rLickgekoppelt.   Die  allmachtig  erscheinende  Stel- 
lung  des  Erwachsenen  kann  so  nicht  Stuck  fur  StUck  abgebaut  werden. 
Bei  welchem  AnlaB  kdnnten  denn  Schwachen,  Unfertigkeiten  und  noch 
nicht  ausreichende  Erfahrungen  auf  Seiten  des  Erziehers  beobachtet 
werden?  "Interesse  fLir  sich  und  seine  Wertschatzung  nimmt  das   Kind 
wahr,  wenn  es  den  Erzieher  zeitweise  selbst  wie  ein  kleines  Kind  er- 
fahrt,  das  auch  nicht  alles  kann,  sondern  noch  zu  arbeiten  und  zu 
lernen  hat."   (5)  Wenn  dies  strukturell   nahezu  verunmbglicht  wird, 
kbnnen  Autonomie  und  Selbstsicherheit  nicht  entwickelt  werden,  ver- 
festigt  sich  stattdessen  die  neurotische  Fixierung  auf  die  Bezugs- 
person  und  fbrdert  all   die  hilflosen  Versuche,  Aufmerksamkeit  zu 
erzielen,  ein  Qua'ntchen  Liebe  abzubekomnen  und  dabei   in  der  Konkur- 
renz  zu  den  anderen  Mi tbetroffenen  Tricks  und  entsprechende  oppor- 
tunistische  Strategien  anzuwenden. 

Dieses Strukturmuster  hat  sich  kein  Erzieher  ausgedacht.    Es   ist  in 
Bezug  auf  die  jeweils  besonderen  Bedingungen  einer  Einrichtung  in 
unterschiedlicher  Intensitat  wirksam  und  wird  als  solches  vom  Er- 
zieher vorgefunden     -  freilich  als  eine  strukturelle  Gewalt,der  man 
sich  nicht  entziehen  kann.   Sie  erfaBt  auch  den  Kollegen  mit  ganz 
anders  gelagerten  Absichten  mit  einer  Eigendynamik,  die  nur  den  Me- 
chanismen  des   Institutionserhaltes  verpflichtet  zu  sein  scheint. 

Verscharft  wird  der  skizzierte  Zusammenhang  durch  die  soziale  und 
bkonomische  Eingangsvoraussetzung,  die  die  Lage  der  Erzieher  be- 
stimmt.   Sie  sind  zunachst  wie  jeder  Arbeiter  und  Angestellte  im  in- 
dustriellen  Sektor  Lohnabhangige,  die  ihre  Arbeitskraft  individuell 
und  in  Konkurrenz  zu  anderen  Bewerbern  zu  mbglichst  gLinstigen  Bedin- 
gungen verkaufen  mLissen  und  darauf  zu  achten  haben,  daB  sie  sich  nicht 
fruhzeitig  verschleiBen.   Die  so  objektiv  gegebene  "Gl eichg'u'l tigkei t" 
pragt  ihre  Kooperation     zu  den  Kollegen  und  ihr  Verhaltnis  zu  ihrem 
Arbeitsgegenstand,  den  Kindern  und  Jugendlichen.   Dieser  Umstand  ist 
erst  zu  einem  Zeitpunkt  in  das  Blickfeld  der  padagogischen  Forschung 
geruckt,  als  traditionelle  vorkapitalistische  Erziehungsleitbilder 
christlich-cari tativer  Art  sich  zunehmend  aufzulbsen  und  ihre  ver- 
haltensnormierende  Kraft  einzubuBen  begannen.  Auch  wenn  bei  alien 
Beteiligten  nach  wie  vor  groBe  Hemmungen  und  emotionale  Barrieren 
bestehen,  diesen  einfachen  aber  fur  die  erzieherische  Motivation 
grundlegenden  Sachverhalt  zu  akzeptieren,  muB  von  dem  fehlenden  Zu- 
sammenhang des  Schicksals  der  padagogischen  Arbei tsgegenstande  mit 
der  Zukunftsperspektive  der  Erzieher  ausgegangen  werden.   "Sie   (die 


38  - 


Kinder,   E.W.)    kbnnen  -  solange  die  Erziehung  nicht  bewuBt  politisch 
betrieben  wird  -  nicht  als  mbgliche  spatere  Kooperationspartner 
beim  gemeinsamen  Aufbau  verbesserter  Lebensbedingungen  und  einer 
sinnvollen  Gesellschaft  wahrgenommen  werden;  nicht  als  Subjekte,  die 
ich  fur  die  Durchsetzung  und  Erhaltung  meiner  materiellen  Lebensinter- 
essen  brauche, ebenso  wie  sie  mien  brauchen,  sondern  primar  nur  als 
kleine  Nervensagen,  die  mit  ihren  AnsprLichen  meine  Arbeitskraft  und 
seelische  Gesundheit  zu  zerriitten  drohen."   (6) 

Keine  padagogische  Institution  wirkt  sich  psychisch  so  belastend  aus 
wie  das  Heim.   Okkupierende  Arbeitszeiten  (Schichtdienst,  Nachtbereit- 
schaft,   Dienst  an  Sonn-   und  Feiertagen)   und  die  Libergreifenden  so- 
zialen  Isolationsmechanismen  der  totalen  Institution   (kaum  Mbg- 
lichkeiten  fLir  intensive  AuBenkontakte  und  fLir  ein  regelma'Biges 
politisches,  kulturelles  und  soziales  Engagement  auBerhalb  des  Hei- 
mes)   lassen  ein  geregeltes  "Privatleben"   kaum  zu.  Andererseits  er- 
zwingt  die  Heimstruktur  als  Ort  bloBer  Pa'dagogik  eine  ausschl  ieBli- 
che  Ausrichtung  des  Erziehers  auf  die  Kinder  und  Jugendlichen.   Seine 
eigenen  Interessen  und  BedLirfnisse  finden  hier  keinen  bffentlich 
sanktionierten  und  legitimen  Zugang  zu  seiner  Erziehungsarbeit. 

Allerdings  ist  die  objektiv  angelegte  LohnerziehergleichgLiltigkeit 
keineswegs  eine  fur  den  Padagogen  durchga'ngig  zu  praktizierende  Ver- 
haltensorientierung.    Die  Lebendigkeit  menschlicher  Beziehungen  sel- 
ber  verhindert  ihre  totale  Wirksamkeit  innerhalb  des  Verhaltnisses 
zu  den  Kindern  und  Kollegen.   Die  Dichte  der  Interaktion  macht  auch 
zwangslaufig  die  Perspektive  des  anderen  fLir  mich  erfahrbar,   der  ich 
mich  in  meinem  Verhalten  nicht  vbllig  entziehen  kann.    In  ihr  sind 
verschLittete  BedLirfnisse  nach  sinnvoller  Vergegenstandlichung  und 
Ansa'tzen  solidarisch-ehrlicher  Kooperation  spLirbar,   die  ahnliche  Im- 
pulse bei  mir  mobilisieren.   Diese  Impulse  kbnnen  selbst  durch  die 
repressive  Struktur  des   Heimes  nicht  ganzlich  unterdrLickt  werden. 
Sie  liegen  freilich  auBerhalb  der  professionellen  Erzieherrolle  und 
werden  im  Alltag  oftmals  eher  beila'ufig  -  bei   einem  FuBballspiel , 
beim  selber  Musik  machen  etc.-  freigesetzt.  Der  Liberalisierungs- 
qrad  in  den  konkreten  Arbeitsbedingungen  der  jeweiligen  Einrichtung 
entscheidet  letztlich  daruber,  wie  schnell   diese  produktiven  Abfall- 
produkte  des  Erzieheralltags  wieder  unter  den  Wust  von  Trott  und 
Routine  untergepflugt  werden.   Gerade  die  permanente  Diskrepanz  zwi- 
schen  solchen  Situationen  und  den  objektiven  Bedingungen,  der  Zwie- 
SDalt     dem  der  Erzieher  so  schnell   nicht  entgehen  kann,  macht  die 
eiqentliche  Arbeitsbelastung  in  hohem  MaBe  aus.   "Der  ArbeitsstreB, 
unter  dem  Lohnerzieher  stehen,  wirkt  wahrscheinlich  gar  mcht  so 
sehr  direkt  liber  die  physische  und  sozusagen  meBbare  nervliche  Be- 
lastunq  am  Arbeitsplatz,  Uber  die  Arbeitsdauer,  den  Larmpegel .son- 
dern er  wirkt  vielmehr     i   n  d  i   r  e  k  t.  Liber  die  Wahrnehmung  der 
PersDektive  und  Bedurfnisse  der  Erziehungsobjekte,  denen  ich  mich 
irgendwie  verpflichtet  flihle,  die  ich  aber  notgedrungen  und  sehen- 
den  Auges  vernachlassigen  muB."   (7) 

nie  individuelle  Verarbeitung  dieser  Arbeitsbelastung,  der  Urngang 
rait  dieser  spezi.ellen  Form  eines  strukturell   produzierten  schlechten 
Gewis  ens     ist  nicht  unabhangig  von  dan  gesellschaftlichen  Problan- 
h^.RKein  des  einzelnen  Erziehers.  Aufgrund  einer  empinschen  Un- 
SsSchunJ  Slstberlfner  Erziehungsheime  kornnt  Schmidt-Traub  zu  den, 

-  39  - 


Ergebnis:   "Namentlich  von  Erziehern,  die  ihren  Beruf  aus  padagogischen 
und  politischen  Motiven  heraus  gewahlt  hab  en,  werden  nicht-padagogi- 
sche  Sachzwange  in  der  tag  "lichen  Erziehungsarbeit  besonders  kriti- 
siert.   Erzieher,  die  nur  geringfugig  pa'dagogisches  Engagement  erken- 
nen  lassen,  scheinen  demgegenliber  ha'ufiger  in  derartige  administra- 
tive und  technokratische  Ta'tigkeiten  auszuweichen."   (8) 

HILFE  DURCH  "  REFORMEN  "  VON  OBEN  ? 

Aber  wo  findet  die  padagogisch-politische  Motivation  kritischer  So- 
zialarbeiter  und  Erzieher  Unterstutzung?  Die  vielfach  angepriesenen 
reformerischen  Veranderungen  hbren  oftmals  mit  einigen  neuen  Baulich- 
keiten,  personellen  Veranderungen     bzw.   der  Einstellung  eines  Psy- 
chologen  auch  schon  wieder  auf.   Ernsthafte  Veranderungen  der  Heim- 
struktur  sind  davon  nicht  zu  erwarten.  Gerade  psychologische  Fach- 
krafte  dienen  als  therapeutische  Beilage  eher  der  Legitimation,  der 
offiziellen  Bezeichnung  der  Einrichtung  das  Wbrtchen     "heilpadago- 
gisch"  voranzusetzen  und  damit  die  Pflegesatze  zu  erhbhen.    Isolier- 
te  Therapieversuche  mit  einzelnen  Kindern  und  Jugendlichen  bleiben  aber 
weitgehend  uneffektiv,  wenn  sie  nicht  in  ein  sozialtherapeutisches 
Milieu  eingebettet  sind. 

Mhnlich  verhalt  es  sich  mit  den  zahlreichen  Fortbildungsangeboten, 
von  deren  Besuch  sich  der  Trager  ein  progressives  Image,  der  inter- 
essierte  Erzieher  konkrete  Hilfestellungen  fiir  die  Praxis  erhofft. 
DaB  es  sich  dabei   zumeist  um  Etikettenschwindel   handelt,  merkt  der 
Kollege  spatestens  dann,  wenn  er  mit  dem  einen  Oder  anderen  neuen 
Vorschlag  nach  der  Fortbildung  versucht,  gegen  die  Starrheit  der 
Institution  anzugehen.  Mittlerweile  kritisiert  denn  auch  ein  renom- 
mierter  Vertreter  des  offiziellen  Refortnflligels  wie  Bauerle  die  Inef- 
fizienz  solcher  MaBnahmen.   "Die  institutionellen  Zwa'nge  der  Sffent- 
lichen  und  privaten  Institutionen  und  Dienste  der  Sozialarbeit 
(von  burokratischen  Traditionen,  Mangel  an  personellen  und  materiel- 
len  Ressourcen  bis  zu  rechtspolitisch  unumwerfbaren  Positionen)  las- 
sen  es  in  der  Regel   nicht  zu,  daS  Entwicklungen  im  BewuBtsein  der 
Teilnehmer  und  in  ihrer  methodischen  Geschicklichkeit  sich  in  der 
taglichen  Praxis  nach  einem  Fortbildungskurs  anders  niederschlagen 
als  in  Enttauschung,  Resignation  und  Verzweiflung  der  Beteiligten. 
Ihr  Anpassungsdruck  ist  -  von  der  Fortbildungsstatte  zuru'ckgekehrt  - 
noch  akuter...Er  (der  fortgebildete  Padagoge,  E.W.)   ist  tief  beunru- 
higt,  daB  alles  so  lauft,  wie  es  lauft,  und  daB  weder  er  noch  die 
Kollegen  aus  ihren  Handlungszwangen  herausfinden  .  Alle  guten  Vor- 
satze,  alle  aktivierten  Impulse  weichen  alsbald  dem  beklemmenden  Ge- 
flihl  der  Unabhanderlichkeit  der  institutionellen  Verha'ltnisse.  Ein 
resignatives  Sich-Abfinden  tritt  an  die  Stelle  des  eben  noch  neu  ge- 
starkten  Mutes,  es  einmal  anders  zu  versuchen.  Alle  Logik  der  Ver- 
nunft  bricht  vor  den  Fakten  der  Institution."   (9) 

Bauerle  schlagt  ein  Konzept  der  Institutionsberatung     vor,  nach  dem 
die  Fortbildung  in  der  Einrichtung  selber  unter  EinschluB  aller  Be- 
teiligten von  unabhangigen  "Moderatoren"  durchgefu'hrt  und  die  Erwei- 
terung  der  padagogischen  Kompetenz  mit  der  Veranderung  institutionel- 
ler  Strukturen  verbunden  werden  soil.  Versuche  in  diese  Richtung 
kbnnten  sicherlich  nicht  schaden,  aber  neben  vorsichtigen  Zweifeln 

-  40  - 


an  der  Unabhangigkeit  und  Konfliktfreudigkeit  der  "Moderatoren"  ist 
die  grundsatzl iche  Frage  zu  stellen,  woher  die  Gelder  und  das  Inter- 
esse  der  Verbande  herkommen  sollen  und     wieviele  Einrichtungen  dann 
von  der  Institutionenberatung  profitieren  kbnnen? 

Die  vage  Hoffnung  auf  die  Realisierung  derartiger  Konzepte  gibt  den 
Erziehern  noch  keine  realistische  Handlungsorientierung,  vermag  die 
verbreitete  Resignation  noch  nicht  aufzubrechen.  Resignation  ist  ne- 
ben direkten  Rausschmissen  die  Hauptursache  flir  die  hohe  Fluktuation 
gerade  unter  den  jlingeren  und  den  kritischen  Erziehern.    Dazu  heiBt 
es   in  der  bereits  zitierten  Westberliner  Untersuchung:   "40  %  der 
Befragten  sind  erst  1-2  Jahre  lang  in  dem  jetzigen  Heim  beschaftigt 
und  nur  23  %  der  Erzieher  haben  keinerlei   Personalwechsel  wahrend 
der  letzten  beiden  Jahre  in  ihrer  Erziehergruppe  erlebt.   Diese  ho- 
he Fluktuation  unter  den  Erziehern  stellt  eine  weitere  ungiinstige  Be- 
dingung  flir  eine  kollektive  Erziehungsplanung  dar.  Mehr  wie  schie- 
re  Versorgungsprozesse  sind  von  den  Erziehern  bei  den  GruppengrbSen 
von  10-12  Kindern  nicht  zu  erwarten."   (10) 


Wenn  befriedigende  Lbsungen  von  "oben"  kaum  zu 
als  Alternative  zur  individuellen  Resignation 
gien  von  "unten"  in  Frage  kommen.  Denn:  kurzfr 
erziehung  nicht  abschaffbar.  "Jedes  20.  Kind  1 
Zei t  Oder  fur  viele  Jahre  im  Heim.  Das  ist  ein 
se."  (11)  Tausende  von  Kollegen  sind  dort  besc 
letzten  Jahren  leicht  fallende  Tendenz  in  der 
bei  Jugendlichen  nach  FEH  (Freiwillige  Erziehu 
geordnete  Fursorgeerziehung)  steigt  aufgrund  d 
keit  und  der  bkonomischen  Krise  in  der  letzten 


erwarten  sind,  kbnnen 
nur  kollektive  Strate- 
istig  ist  die  Heim- 
ebt  etwa  fur  klirzere 
es  aus  jeder  Schulklas- 
haftigt.   Die  in  den 
Belegung  vor  all  em 
ngshilfe)   und  FE  (an- 
er  Jugendarbeitslosig- 

Zeit  wieder  an. 


LOHNERZIEHERINTERESSEN  OFFENSIV  ORGANISIEF£N  ! 

Zuna'chst  ist  es  erforderlich,  daB  die  Erzieher  offen  zu  ihren  Repro- 
duktionsbedlirfnissen  als  Lohnerzieher  stehen  und  nicht  langer  versu- 
chen, die  Paradoxien  der  herkbmmlichen  Heimstruktur  durch  indivi- 
duelles  Oberengagement(sprich:unbezahlte  Mehrarbeit,  zu  kompensieren. 
Ein  solcher  Umgang  mit  dem  schlechten  Gewissen  flihrt  namlich  nur  da- 
zu    daB  sich  die  Padagogen  verschleiBen  und  fruhzeitig  kaputtmachen. 
Das  nLitzt  letztlich  auch  den  Betroffenen  wenig;  produziert  wird  eine 
uberzogene  Erwartungshaltung,  die  Kinder  und  Jugendlichen  mbgen  den 
Mehreinsatz  durch  Dankbarkeit  honorieren.   Das   Ergebnis  sind  vermehr- 
te  Unsicherheiten  und  Schuldgefuhle  bei   den  Betroffenen  sowie  Ent- 
tauschung und  Frustration  auf  Seiten  der  Erzieher.   Die  Anspruche  aus 
der  eigenen  Lohnabhangigkeit  offensiv  einklagen,  kann  fur  kritische 
Kollegen  nur  bedeuten,   sich  gewerkschaftlich  in  der  DTV  zu  organi- 
sieren     Damit  sieht  es  gerade  bei    den  Heimerziehern  schlecht  aus: 
"Aus  einer  Statistik  des  DGB  von  1970  gent  hervor,  daB  nur  ca.   8  % 
aller  Erzieher  gewerkschaftlich  organisiert  sind.  Dagegen  sind  knapp 
80  %  der  Lehrer  und  fast  95  %  aller  Metallarbeiter  Gewerkschaftsmit- 
alieder"    (12)   Hier  liegt  eine  Quelle  fur  die  starre  Unveranderlich- 
kPit  der'objektiven  Arbeitsbedingungen  im  Heim.  Genauso  wenig  wie 
die  Industriearbeiter  ohne  eine  gewerkschaftliche  Organisierung  ihre 
Arbeitskraft  vor  dem  kapitalistischen  Raubbau  schutzen  konnten    wer- 
den auch  die  Heimerzieher  ihre  Situation  ohne  eine  adaquate  Interes- 

-  41   - 


senvertretung  nicht  verbessern  kbnnen. 

Dabei   kbnnen  die  Forderungen  nicht  bei  rein  quantitation  Anhebun- 
gen  des  Monatslohnes  und  des  Freizeitausgleich.es  stehenbleiben. 
Vielmehr  kommt  es  darauf  an,  "bkonomische  Forderungen  starker  an 
fortschrittlichen  padagogischen  Inhalten  zu  orientieren."   (13) 
Das  heiSt,z.B.   die  hierarchische  Strukturierung  des  Mitarbeiterkol- 
legiums  zu  bekampfen.   "Befbrderungen  wirken  sich  nachteilig  auf  So- 
lidarisierungsprozesse  unter  den  Erziehern  aus  und  schranken  die 
Flexibility  der  funktionalen  Arbeitsteilung  in  der  Erziehergruppe 
ein,  da  sie  rivalisierende  Einstellungen,  sowie  statusorientierte 
Ambitionen  unter  den  Erziehern  beglinstigen.   Die  Beforderungskrite- 
rien  sind  nach  Ansicht  vieler  Erzieher  Liberdies  irrational.  Viele 
Erzieher  betrachten  das  Befbrderungssystem  mit  gemischten  Gefuhlen: 
Zum  einen  sind  Aufstiegsaspirationen  unverkennbar,  andererseits  wird 
mit  Nachdruck  die  Forderung  gestellt,  hierarchische  Strukturen  im 
Heim  abzubauen,  u.a.   durch  eine  paritatische  Besoldung  zu  ersetzen." 
(14)  Neben  der  Abschaffung  des  l.,2.und  3.   Erziehers  etc.   la'uft  eine 
verschra'nkung  okonomischer  und  sozialpadagogischer  Forderungen  auch 
darauf  hinaus,  Anordnungen  der  Heimleitung  durch  Teamentscheidungen 
zu  ersetzen  und  auf  die  Installation  einer  kollektiven  Heimleitung 
hinzuarbeiten,   verstarkte  Mitsprache  bei   der  Einstellung  neuer  Kol- 
legen  und  der  Festlegung  der  Indikation  bzw.   der  Aufnahmekriterien 
zu  verlangen.   In  diesen  Zusammenhang  gehbrt  ebenfalls  eine  grb(5ere 
Autonomie  der  einzelnen  Gruppen. 

Praktisch  erfordert  diese  Strategie  zuniichst  die  Bildung  einer  D7V- 
Betriebsgruppe  und  die  Wahl   eines  Betriebsrates.   Dies  sindnotwen- 
dige  Mittel,  urn  BewulBtwerdungsprozesse  unter  den  Kollegen  in  Gang 
zu  bringen  und  Artikulationsmbglichkeiten  fur  das  Erkennen  und  Wahr- 
nehmen  der  eigenen   Interessen  zu  schaffen.   Solche  Initiativen  werden 
vor  allem  bei   kirchlichen  Tragern  auf  starken  Widerstand  stoBen, 
die  bisher  unter  Berufung  auf  den  besonderen  Status  von  Religions- 
gemeinschaften  ihren  Mitarbeitern  legitime  Rechte  als  Lohnabhangige 
vorenthielten.   Das  jungste  Grundsatzurteil   des  Landesarbeitsgerich- 
tes  Hamm  (Aktenzeichen  3  Sa.   941/76)    (15)  im  Rechtsstreit  zwischen 
0TV  und  Evangelischer  Kirche  dlirfte  allerdings  die  formalen  Bedin- 
gungen  fiir  gewerkschaftliche  Aktivitaten  erheblich  verbessert  haben. 
Danach  werden  Mitarbeitern  kirchlicher  Einrichtungen  die    Schutz- 
normen  des  staatlichen  Arbeitsrechtes"  in  vollem  Umfang  zugestanden. 


Weitaus  hemnender  wirkt  sich  aber  die  Beschrankung  der 
auf  allein  quantitative  Forderungen  aus,  die  bislang  di 
nellen  Strukturen  und  damit  ebenfalls  den  konzeptionell 
Erziehungsprozesse  ausblendeten.  Daran"wird  der  Apparat 
wohl  nichts  andern.  Fortschrittliche  Heimerzieher  werde 
nicht  umhin  kbnnen,  informelle  Gruppen  in  einzelnen  Hei 
lokaler  Ebene  nach  dem  Vorbild  der  AKS-Gruppen  zu  bilde 
krete  Handlungsperspektiven  im  Hinblick  auf  den  Arbeits 
die  Gewerkschaft  entwickeln.  (16)  Wahrscheinlich  kbnnen 
Gruppen  Liber  einen  regelmalBigen  uberregionalen  Erfahrun 
wie  er  mit  der  ersten  Heimerziehertagung  im  Juni  77  in 
de  gekonmen  ist,  besser  stabilisieren. 


OTV  selber 
e  institutio- 
en  Rahmen  der 

freiwillig 
n  deshalb 
men  und  auf 
n,  die  kon- 
platz  und 

sich  solche 
gsaustausch, 
Kbln  zustan- 


-  42 


GEGEN  EINE  MORALISIERENDE  AUSBEUTUNG  DES  "  SCHLECHTEN 
GEWISSENS  "  DER  ERZIEHER 

Ich  wollte  mit  dem  bisher  Gesagten  keinesfalls  den  illusionaren  An- 
spruch     verbreiten,   lediglich  eine  im  obigen  Sinne  angelegte  Gewerk- 
schaftsarbeit  konne  bereits  die  strukturellen  Widerspru'che  im  Ver- 
haltnis  der  Erzieher  zu  ihren  Arbeitsgegenstanden,  den  Kindern  und 
Jugendlichen ,  aufheben.   Ganz  im  Gegenteil:    ein  offensiver  Kampf  fur 
bessere  Arbeits bedingungen  der  Lohnerzieher  unter  den  gegebenen  Sy- 
stembedingungen  der  Heimerziehung  wird  notwendigerweise  mit  den  Be- 
dlirfnissen  der  betroffenen  Heiminsassen  kollidieren  und  diesen  Inter- 
essenkonflikt  sogar  weiter  zuspitzen.   Denn:   "Arbeitsorganisatori- 
sche  Reformen,  wie  die  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  (...)   und  die 
Erhbhung  der  Erzieherzahl  pro  Gruppe,  fiihren  zu  einer  noch  starkeren 
ihkonsistenz  der  padagogischen  Vorgehensweisen,  sowie  einer  komplexe- 
ren  Organisationsstruktur  im  Heim!"   (17)  Niemand,  der  praktische  Er- 
fahrungen  in  der  Heimerziehung  gesammelt  hat,  wird  diesen  Zusammen- 
hang ernsthaft  bestreiten  konnen.  Aber  es  ware  fatal,  wenn  hiermit 
der  AnlaS  gegeben  ware,    hinter  den  erreichten  Problematisierungsgrad 
zuriickzufallen,  die  eigenen  Reproduktionsbedlirfnisse  wieder  hinten- 
an  zu  stellen  und  damit  der  moralisierenden  Argumentation  flihrender 
Theoretiker  der  Heimerziehung  aufzusitzen,  die  da  z.B.    lautet:    "Von 
den  Bediirfnissen  des   Kindes  ausgehend,   la'Bt  sich  eine  40-Stunden- 
Woche  mit  einem  noch  so  ausgeklligel ten  Dienstplan  und  mit  noch  so 
vielen  Mitarbeitern  in  der  Heimerziehung  nicht  rechtfertigen.   Wer 
anders  behauptet,  argumentiert  unpadagogisch.   Wer  eine  40-Stunden- 
Woche  in  der  Heimerziehung  durchflihrt,   handelt  unpadagogisch!   Heim- 
erziehung mit  derart  geregelter  Arbeitszeit  geht  immer  zu  Lasten 
der  Kinder!"    (18) 


ner  solchen  Argumentation?  Ober  die  Mobilisie- 

begrlindeten  schlechten  Gewissens  sollen  die 
LuckenbliSer  zur  Aufrechterhaltung  einer  in  sich 
ischen  Veranstaltung  im  sozialen  Abseits  her- 
hnen  die  freiwillige  Ubernahme  der  sozialen  Iso- 
rlindig  schmackhaft  gemacht.    "Der  Kompromil5  kbnn- 
her  leben  allein  oder  mit  ihren  Lebenspartnern 

wie  die  Kinder  in  einer  organisierten  Gemein- 
d  sie  leben  dabei   bestimmte  Zeiten  in  einer  Grup- 
eren  Bereich  des  Heimes.   Das  Heim  als  organisier- 
lebens  von  Kindern  und  Erwachsenen  halt  nicht  nur 

fur  die  Befriedigung  der  Bedurfnisse  der  Kin- 
flir  die  der  Erwachsenen.   Der  Erzieher  arbeitet 

sondern  er  lebt  in  der  Gruppe."    (19) 


Was  steckt  hinter  ei 
rung  des  strukturen 
Erzieher  erneut  als 
fragwlirdigen  padagog 
halten.  Dabei  wird  i 
lation  allzu  vorderg 
te  lauten:  Die  Erzie 
bzw.  Familien  ebenso 
schaft,  dem  Heim.  Un 
pe  oder  in  einem  and 
te  Form  des  Zusammen 
Mbglichkeiten  bereit 
der,  sondern  ebenso 
nicht  in  der  Gruppe, 

Was   ist  das  fur  ein  KompromiB?  Weil  es  den  Kindern  in  den  Heimen 
nicht  gut  geht,  sind  die  Erzieher  am  besten  rund  urn  die  Uhr  da,  urn 
die  schlimmsten  Beschadigungen  abzumildern.  Wenn  man  wirklich  die 
Interessen  der  in  Heimen  untergebrachten  Kinder  und  Jugendlichen  im 
Auge  hat,   kann  man  keine  Scheinlbsung  auf  Kosten  der  Erzieher  an- 
streben     Aufgrund  der  eingangs  skizzierten  Analyse  des  Heimes  als 
totaler  Institution  im  Kontext  eines   repressiv  angelegten  Jugendhil- 
ferechtes,  mul3  die  Ausgangsbasis  der  moralisierenden  Argumentation 
verworfen  werden,  daB  namlich  die  Installation  von  Heimen  als  sozia- 
lem  Abseits  Liberhaupt  etwas  mit  padagogischen  Notwendigkei ten  aufgrund 


43  - 


bestimmter  psycho-sozialer  Problemlagen  der  Betroffenen  zu  tun  hat. 
Kein  Kind  und  kein  Jugendlicher  hat  ein  Interesse  daran,   in  einem 
realitatsfremden  Versorgungssystem  Dinge  zu   lernen,  die  fur  das  Ober- 
leben     in  der  Institution  niitzlich,  fiir  die  Bewaltigung  gesellschaft- 
licher  Real  i  tat  aber  verhangnisvoll   sind.  DaB  dies  in  Heimen  mit 
einer  gewissen  Zwangslaufigkeit  geschieht,  wird  auch  der  wohlmeinen- 
de  und  engagierte  Erzieher  mit  noch  so  viel   Einsatz  nicht  grundle- 
gend  verhindern  kdnnen. 

Aus  diesem  Grund  ist  jede  Strategie  zu  verwerfen,   die  dazu  beitra'gt, 
die  Gleichung  "OTfentliche  Erziehung"  =  totale  Institution  zu  zemen- 
tieren.   Urn  aber  uberhaupt  die  Voraussetzungen  fur  eine  wirkliche   In- 
fragestellung  der  grundlegenden  Heimstruktur  zu  schaffen,  urn     gleich- 
sam  den  gesellschaftl  ichen  Nahrboden  daflir  zu  bereiten,  brauchen 
die  Padagogen  Kooperationsbedingungen,  die  ihnen  eine  solche  Ausein- 
andersetzung  erst  ermdglichen.    Bedingungen,  die  ihre  Konkurrenz  als 
Lohnerzieher  untereinander  tendenziell   aufheben  und    mit  dem  Kampf 
fur  adaquate  Reproduktionsmoglichkeiten  (Arbeitszeit,  Urlaub,  Frei- 
zeit)   die  Uffentl ichkeit  und  den  Staat  zwingen,  die  Effizienz  der 
Aufrechterhaltung  herkommlicher  Heime  zu  uberprufen.' Vor  diesem 
Hintergrund  hat  die  oben  angerissene  Gewerkschaftsstrategie  ihren 
Sinn,  eben  nicht  als  reiner  Selbstzweck.   Die  in  diesem  Zusammenhang 
genannten  Forderungen     nach  Abschaffung  der  heiminternen  Hierarchie 
und  nach  mehr  Mitsprachembglichkei ten  miiBten  nunmehr  durch  Forde- 
rungen erganzt  werden,  die  als  la'ngerf  ristige  Richtschnur  gelten 
kbnnen: 
I  Gleiche  Bezahlung  von  Erziehern  und  anderem  staatlichen  Lehrper- 

sonal ,   um  mit  der  unsinnigen  Unterbewertung  von  Sozialisations- 

arbeit  gegenliber  intel  lektuel  ler  Vermi  ttlungsarbeit  SchluB  zu 

inachen 
I  Hochschulstudium  der  Erzieher,   das  ihnen  eine  selbstandige  wissen- 

schaftliche  Kompetenz  fur  ihre  padagogischen  Aufgaben  vermittelt 
I  Einflihrung  des  Einheitserzi  ehers  mit  gleicher  Ausbildungsstufe 

und  gleicher  Lohnhbhe 
I  Abschaffung  der  Hierarchie,  Delegation  spezieller  Aufgaben  durch 

Wahl. 

Diese  Forderungen  decken  sich  zum  Teil  mit  denen,  die  Heinsohn/ 
Knieper  fiir  das  soziale  Personal    im  Kindergarten  erhoben  haben.    (20) 
Dieser  Umstand  verdeutlicht,  daB  es  hier  nicht  nur  um  heiminterne^ 
Probleme  all ein  geht,  sondern  um  Grundfragen  des  gesamten  profess io- 
nellen  Sozialisationsbereiches. 


KOOPERATIONSPROBLEME  DER  "  HILFLOSEN     HELFER  '* 

Der  Kampf  fiir  eine  Veranderung  der  objektiven  Kooperationsbedingun- 
gen der  Erzieher  muB,  wenn  er  nicht  an  den  inneren  Widerstanden  der 
Kollegen  selber  scheitern  will,  auch  die  Arbeit  an  den  psychischen 
Einstellungen  zueinander  und  dem  sozialen  Umgang  miteinander  ein- 
schlieBen.   Das  hierarchische  und  geflihlsblinde  Konkurrenzsystem 
in  den  Erziehungsinstitutionen  findet  ja  in  der  sozialisationsbe- _ 
dingten  Vorpragung  der  Erzieher  gunstige  Voraussetzungen  fiir  subtile 
Verinnerlichungsformen.   Diese  erschweren  einen  offenen  und  gef'uhls- 
betonten  sol idarischen  Umgang  unter  den  Kollegen,  ohne  den  aber  die 


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44 


pol iti sch-padagogischen  Auseinandersetzungen  von  vornherein  zum 
Scheitern  verurteilt  sind.   Die  eigene  Vorpragung  wird  im  Zuge  der 
Ausbildung  liberlagert  durch  die  Obernahme  der  professi oriel  1  en 
"Helferrolle".   Diese  la'St  Hilflosigkei  t  nur  bei   den  Klienten  gelten 
und  veranlaBt  den  professionellen  Padagogen,  sich  als  unmittelbar 
betroffenen    M  e  n  s  c  h  e  n     aus  der  Arbeitssi tuation  herauszuneh- 
men.   Der  Erfolg  in  der  beruflichen  Tatigkeit  wird  in  hohem  MaBe  von 
der  Beherrschung  einzelner  Methoden  abhangig  gemacht,  nicht  von  der 
durch  den  "Klienten"   sinnlich  erfahrbaren  eigenen  emotionalen  Stimnig- 
keit.   Die  Verfestigung  dieser  Rolle  kann  zu  klinisch  feststellbaren 
psychogenen  Niederschlagen  in  Form  von  Depressionen,   Phobien,  Nerven- 
zusammenbruchen  und  sogar  Suizidversuchen  fiihren,  deren  Auftreten 
bei  sozialen  Berufen  als  significant  holier  festgestellt  wurde.    (21) 


Es  ist  durchaus  zu  vermuten,  daB  d 
chischen  Mechanismen  einen  wesentl 
erstaunliche  Reserve  von  Erziehern 
chen  Organisierung.  In  jedem  Fall 
sionellen  Helferselbstverstandniss 
unter  den  Kollegen,  weil  sie  die  V 
rungen  und  Veranderungsstrategien 
ten  fingsten  und  Bedlirfnissen  verhi 


iese  unterschwellig  wirksamen  psy- 
ichen  Grund  mit  abgeben  fur  die 
gegenliber  einer  gewerkschaftli- 
blockiert  die  Fassade  des  profes- 
es  echte  Solidarisierungsprozesse 
erankerung  von  gemeinsamen  Forde- 
in  den  nur  zu  Unrecht  ganz  priva- 
ndert. 


Es  klingt  paradox,  aber  das  professionelle  Helferversta'ndms  bezieht 
seine  Ldsungsstrategien  fur  eine  Verbesserung  zwischenmenschlicher 
Ablaufe  aus  einer  Quelle  von  Fachlichkeit,  die  sich  gegenuber  einer 
echten  dialoghaften  Menschlichkeit  hermetisch  abgeriegelt  hat.  Zuge- 
geben,  gerade  kritische  Padagogen  sind  nicht  total  durch  die  perver- 
tierte  Helferrolle  definiert  (vgl.   die  Aussagen  uber  die  Perspektiven- 
wahrnehmung),  aber  vollig  kann  sich  niemand  von  uns  davon  frei   spre- 
chen.  Mir  scheint,  daB  es  sich  bei  dieser  Strategie,  das  Leiden  des 
Gegenuber  letztlich  nicht  an  die  eigene  emotionale  Betroffenhei t 
herankoramen  zu  lassen,  urn  die  psychische  Entsprechung  der  objektiv 
angelegten  Lohnerziehergleichgultigkeit  handelt,  die  zudem  noch  mit 
Resten  des  liberkommenen  caritativen  Leitbildes  verwoben  wird.   Und 
in  der  Tat,  unter  den  Bedingungen  von  Lohnerziehung  in  entfremdeten 
Institutionen  stellt  das  sogenannte  "Helfersyndrom"   (Schmidtbauer) 
eine  Art  individueller  Schutz  dar,  der  freilich  schon  angesichts 
seines  krankmachenden  Preises  nicht  viel  taugt.   Padagogen,  die  eine 
offensive  Strategie  zur  grundlegenden  Veranderung  total  er  Inst  tu- 
?ionen  im  Sinn  haben,  mussen  auf  diesen  "Schutz"  vollends  verzichten 
lernen. 

Eiqene  Betroffenhei t,  Unsicherheit  und  Sngste  im  Kollegenkreis  offen 
anzusprechen,  setzt  ein  hohes  MaB  an  Vertrauen  und  aufeinander  Ein- 
gehen  voraus.  Meine  eigenen  Erfahrungen  in  einer  der  wemgen  Retorm- 
einrichtungen,  die  versuchen,  diese  psycho-soziale  Dimension  in  der 
Arbeit  mit  den  Jugendlichen  und  in  der  Kooperation  unter  den  Kolle- 
gen in  Erfahrungsgruppen  aufzugreifen  und  bewuBt  zu  machen,  haben 
mir  verdeutlicht,  wie  schwer  es  ist,  diese  Offenheit  untereinander 
herzustellen.   Oftmals  sind  kleinere  Gruppen,  die  sich  spontan  aus 
eigener  Initiative  bilden,  notwendig,  urn  hier  weiter  zu  kommen.    (ZZ) 


46 


OBERLEBEN  IM  HEIMALLTAG  UND  PERSPEKTIVEN  AUSSERHALB 


Erfahrungen  mit  dem  Bemuhen,  die  eigene  Betroffenhei t  in  die  Heim- 
arbeit  einzubeziehen,  wirken  sich  einschneidend  auf  das  Verhaltnis 
zu  den  Jugendlichen  aus.  Wenn  ich  verstehen  lerne,  warum  sich  ein 
Junge  in  Drogen,  Alkohol,  in  eine  kriminelle  Karriere  oder  in  eine 
totale  Selbstisolation  fllichtet  (oder  fllichten  muB),  dann  provo- 
ziert  die  Frage,  wie  er  einen  befriedigenderen  Weg,  der  eine  soziale 
Entwicklung  erlaubt,  finden  kann,  zugleich  eine  Problematisierung 
meiner  eigenen  Lebensorientierung.  Denn  das  normierte  kleinblirger- 
liche  Gllick  bietet  fur  den  Jungen  keinerlei   Reiz  mehr,   ist  vielmehr 
Ursache  seines  verzweifel ten  Protestes. 

Welche  Alternative  kann  ich  durch  den  Lebenszusammenhang,  in  dem  ich 
stehe,  vorleben  und  vermitteln?  Welche  gemeinsam  leitenden  Oberzeu- 
gungen  existieren  im  Mitarbeiterkreis,   die  uber  ein  reduziertes  Job- 
verstandnis  hinaus  gesellschaftl  iche  Perspektiven  beinhalten? 
In  den  meisten  herkbmmlichen  Heimen  kommt  diese  Problematik  erst 
garnicht  auf  den  Tisch. 

Das  therapeutische  Reformheim  sensibilisiert  fur  diese  Fragen,  eine 
Antwort  stellt  es  aber  noch  nicht  da.   Die  objektive  Kluft  zwischen 
der  sozialen  Lebenslage  der  Mitarbeiter  auBerhalb  des  Heimes  und 
der  Situation  der  Jugendlichen  bleibt  bestehen. 

Trotzdem  ermbglichen  Veranderungen  der  "inneren"   Kooperationsbedin- 
gungen     unter  den   Kollegen,   die  mit  der  Verbesserung  der  objektiven 
Arbei tsbedingungen  im  Heim  einhergehen  mlissen,  eine  weitgehende  Pro- 
blematisierung des  eigenen  padagogischen  Selbstverstandnisses ,  die 
Infragestellung  der  professionellen  Helferrolle.    Der  grundlegende 
Widerspruch  von  Lohnerziehung,  der  immanent  nicht  aufzuheben  ist, 
wird  bewuBter:  Als  professionelle  Padagogen  bewirken  wir  nur  dann 
etwas,  wenn  wir  uns  unprofessionell   verhalten,   in  realen  Lebenssitua- 
tionen  und  nicht  in  sozial-therapeutischen  Settings.   Diese  Situatio- 
nen  sind  aber  vor  dem  Hintergrund  des  strukturellen  Fehlens  gemeinsa- 
mer  wichtiger  Aufgaben  mit  den  Kindern  und  Jugendlichen  die  Ausnah- 
me,  die  bloBe  Padagogik  dagegen  die  Regel. 

Vom  Padagogisieren  wegzukommen  heiBt,  sich  starker  auf  natlirliche 
Alltagsbezlige  zu   konzentrieren,  diese  im  Versorgungssystem  des  Hei- 
mes wieder  zu  entdecken  und  sie  sich  mit  den  Jugendlichen  zuruckzu- 
erobern,  schrankt  die  Mechanismen  der  totalen  Institution  eher  ein 
als  ein  versierter  Psychologe.   Zusammen  Einkaufen,  Kochen,  das  Haus 
sauber  halten  und  selbstandig  renovieren     -  das  sind  ein  paar  der 
wenigen  sozial   relevanten  Situationen,  an  denen  sich  mehr  an  wirk- 
licher  Beziehung  und  Auseinandersetzung  zwischen  Erziehern  und  Ju- 
gendlichen entwickelt  als   in  den  Besprechungen  und  "Falldiskussio- 

Frei'lich  kann  diese  Vorgehensweise  nicht  mehr,  als  den  Jugendlichen 
und  den  Erziehern  das  tagliche  Oberleben  im  sozialen  Abseits  etwas 
zu  erleichtern.    Wenn  aber  Erzieher  und  Jugendliche  versuchen,  jede 
soziale  Situation  auszunutzen,   die  Kontakte  nach  drauBen  schafft 
und  ein  Stuck  weit  die  Isolation  des  Heimes  aufbricht,  liegt  das  im 
Interesse  beider. 

Besonders  krass  zeigt  sich  die  isolierende  Wirkungsweise  der  Heim- 
erziehung  auf  dem  Gebiet  der  Berufsausbildung.   Eine  Erhebung,  die 
in  54  Heimen  der  Bundeslander  Baden-wurttemberg,  Hamburg,  Hessen, 

-  47  - 


Nordrhein-Westfalen  und  Rheinland-Pfalz  im  Jahre  1976  vorgenommen 
wurde,  ergab,   "daB  nur  131   =  4,3  %  aller  Jugendlicher  in  einer  qua- 
lifizierten  betriebl ichen  Ausbildung  auBerhalb  des  Heimes  stehen." 
(23)  Ober  zwei   Drittel   der  Jugendlichen  mussen  mit  einer  unqualifi- 
zierten  "Ausbildung"   im  Heim  vorlieb  nehmen.  Hier  ist  z.B.   zu  for- 
dern,  daB  die  im  Zusammenhang  mit  der  Jugendarbei tslosigkeit  geplan- 
ten  liberbetriebl ichen  Lehrwerkstatten  Jugendliche  aus  Heimen  ver- 
starkt  integrieren.    (24) 

Diese  Versuche,  den  Mantel  der  sozialen  Isolation  liber  den  Heimen 
punktuell  zu  durchlbchern,  stehen  nicht  im  Gegensatz  zu  dem  lang- 
fristigen  Ziel,  Heime  als  padagogische  Institutionen  abzuschaffen. 
Wenn  sich  die  Erzieher  im  Sinne  der  skizzierten  gewerkschaftl ichen 
Strategie  nicht  darauf  einlassen,  die  Realisierung  von  Offnungsversu- 
chen  der  Heime  nur  durch  eigenen  Mehreinsatz  zu  gewahrleisten,  tra- 
gen  sie  dazu  bei,  die  padagogische  Irrational! tat  totaler  Institutio- 
nen zu  verdeutl ichen.   Das  offensive  Einklagen  der  eigenen  Lohner- 
zieherinteressen  ist  der  Kunstlichkeit  des  Heimrahmens  vollauf  ange- 
messen.    Indirekt  wird  dadurch  zwangslaufig  die  Aufmerksankeit  auf 
Projekte  gelenkt,  die  in  den  Lebenszusammenhangen  der  Betroffenen 
ansetzen.   Hier  liegt  die  Nahtstelle  zu  den  alternativen  Versuchen 
von  integrierter  Familien-  und  Gemeinwesenarbei t,  in  deren  Rahmen 
Moglichkeiten  kollektiver  Lebensformen  von  Erziehern,   Kindern,  Ju- 
gendlichen und  alteren  Leuten  zu  diskutieren  sind.  Der  Unsinn  blos- 
ser  Padagogik  laBt  sich  letztlich  wohl   nur  in  Projekten  aufheben, 
in  denen  die  Padagogen  selber  Betroffene  sind  und  mit  alien  anderen 
qemeinsam  produktiv  an  einer  Lebenspraxis  arbeiten,  die  mchts  mehr 
mit  der  kalkulierten  Zuwendung  des  Lohnerziehers  zu  tun  hat,  sondern 
mit  zwischenmenschlicher  Erfahrung  bei  der  Aneignung  gesellscnattli- 
cher  Zusammenhange.    (25) 


ANMERKUNGEN 

Barabas,  Blanke,  Stascheit,  SachBe,   "Exkurs:   Zur  politischen 
Okonomie  der  Heimerziehung:  Fiirsorgeerziehung  oder  Sozialisa- 
tionshilfe?",  in:   dies.,  dahrbuch  der  Sozialarbeit  1976, 
S.    235,   Reinbeck  1975  ...... 

Goffman,  Erving,  "Asyle  -  Ober  die  soziale  Situation  psychiatn- 
scher  Patienten  und  anderer  Insassen   ,  Frankfurt  l9/<:,  s.    i' 
Heinsohn,  Gunnar,   Knieper,  Barbara  M.C.,   "Das  Desinteresse 
lohnabhangiger  Padagogen  als  zentrales  Problem  der  Erziehung  , 
in:   Bruder,  Klaus-Jurgen  u.a.,  Kritik  der  padagognschen  Psycho- 
logie,  Reinbeck  1976,  S.   28 

Heinsohn,  G. /Knieper,  B.M.C.,   "Wie  Gleichgul tigkei t  und  Inter- 
esse  der  Erzieher  sich  auf  Erwerb  von  theoretischem  Wissen  und 
seinem  Gebrauch  gegenuber  den  Kindern  auswirken",  in:   pad. extra 
Nr.   19/20,  Frankfurt  1975,  S.   38 

Heinsohn/Knieper,  "Das  Desinteresse  lohnabhangiger  Padagogen. . .( 
a.a.O.,  S.  29 

(6)  Ottomeyer,  Klaus,  "Dkonomische  Zwange  und  menschliche  Beziehungen 

-  soziales  Verhalten  im  Kapitalismus" ,  Reinbeck  1977,  S.   203 

(7)  Ottomeyer,  a.a.O.,  S.  204/205 

(8)  Schmidt-Traub,  Sigrun,  "Rollenkonflikte  der  Heimerzieher  , 
Weinheim  1975,  S.    145 


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(21) 
(22) 


(23) 
(24) 

(25) 


Bauerle,  Wolfgang,  "Fortbildung  von  Sozialarbeitern  ohne  Fort- 
bildung  ihrer  Institutionen?",  in:  Materialien  zur  Heimerziehung, 
Nr.    3/76,   Hg.    Internationale  Gesellschaft  fur  Heimerziehung, 
Frankfurt  1976,   S.  7  u.   8 
Schmidt-Traub,  a.a.O.,  S.    145 

Bonhoeffer,  Martin   ,  "Heimerziehung  la'Bt  sich  nicht  mit  Zahlen 
beschreiben. . .",  in:   betrifft:erziehung  Nr.   11/76,  Weinheim 
1976,  S.    37 

Martin,   Klaus-Rainer,   "Der  Erzieherberuf" ,  in:    Kupffer,  Hein- 
rich,  Einflihrung  in  Theorie  und  Praxis  der  Heimerziehung, 
Heidelberg  1977,  S.    116 

Wedekind,   Erhard,  "Gewerkschaftsarbei t  und  politische  Organi- 
sierung  von  Sozialarbeitern",  in:   Informationsdienst  Sozialar- 
beit, Nr.    16,  Offenbach  1977,   S.   60 
Schmidt-Traub,  a.a.O.,  S.   147 

"Schiff  betreten",  in:   Der  Spiegel   Nr.   40/77,  Hamburg  1977, 
S.   70-74 

Vgl.   Wedekind,  a.a.O.,  S.   58-60 
Schmidt-Traub,  a.a.O.,  S.   144 
Martin,  a.a.O.,  S.    104 
Martin,  a.a.O. ,  S.   105 

Vgl.    Heinsohn,  Gunnar/Knieper,   Rolf,  "Theorie  des  Familien- 
rechts.   Geschlechtsrollenaufhebung,   Kindesvernachlassigung,  Ge- 
burtenruckgang",  Frankfurt  1974,  S.   235-236 
Vgl.    Schmidtbauer,  Wolfgang,   "Die  hilflosen  Heifer  -  Liber  die 
seelische  Problematik  der  helfenden  Berufe",  Reinbeck  1977 
Vgl.    Klliwer,  Karl,  "Die  psychoanalytische  Kleingruppe  als 
Agentur  der  Klarung  zwischen  Persbnlichkeit  und  Gesellschaft", 
in:   Theorie  und  Praxis  der  Sozialen  Arbeit,  Nr.    2/74,   Hg. 
Arbeiterwohlfahrt  Bonn,  1974 

Landschaftsverband  Rheinland,   Rundschreiben  42/8,  24. 8. 77, S. 4 
Vgl.    Happle,  Paul/Wedekind,   Erhard,    "Heimjugendliche  und  Ar- 
beitslosigkeit",   in:   pad. extra  Nr.   17/18  1975,  Frankfurt 
Als  ein   Beispiel    kann  man  die  Tvind-Schulen  in  Danemark  er- 
wahnen,   die  mittlerweile  viele  Sozial padagogen  in  der  BRD 
motiviert  haben,  ahnliche  Projekte  aufzubauen   (z.B.   die  Werk- 
schule  in  Berlin) 


Inforj 


ERFAHRUNGEN  MIT  EINER  BETRIEBSGRUPPE  IM  HEIM 


Seit  nunmehr  fast  ein 
richtung  sich  zusamme 
Rahmen  flir  das  Formul 
setzen  gewerkschaftli 
ich  diesen  sehr  besch 
len,  um  mbglicherweis 
lich  zu  zeigen,  daB  i 
sondern  durchaus  eine 
sicht  ware  dann  vie 
Kollegen/innen  zu  ver 


em  Oahr  habe 
ngetan,  um  i 
ieren  eigene 
cher  Forderu 
eidenen  Vers 
e  anderen  Ko 
hre  Probleme 
n  strukturel 
eicht  eine  s 
suchen. 


n  einige  Kolleg 
n  einer  OTV-Bet 
r  berechtigter 
ngen  zu  haben. 
Lich  in  seiner  E 
llegen  in  der  H 
nicht  auf  sie 
len  Hintergrund 
innvolle  Hilfe, 


en  in  unserer  Ein- 
riebsgruppe  einen 
Interessen  zum  Durch- 
Im  folgenden  wi  1 1 
ntwicklung  darstel- 
eimerziehung   deut- 
beschrankt  sind, 
haben,  Diese  Ein- 
etwas  fthnliches  mit 


DAS  SCHLECHTE  GEWISSEN,  WENN  MAN  BEGINNT,  SICH  AUF  EIGENE 
BEDDRFNISSE  ZTJ  BESINNEN 

Wir  alle  sind  schon  mal  mit  der  Frage  eines  Jugendlichen  konfron- 
tiert  worden;  "Wofu'r  wirst  Du  eigentlich  bezahlt,  Du  sitzt  hier   'rum, 
quatschst  ab  und  zu  mit  uns  und  dann,Punkt  22.00  Uhr  haust  Du  ab 
und  la'Bt  uns  hier."   Wir  kennen  das  Gefuhl ,  das  sich  dann  einstellt. 
Es  wird  dadurch  bestimmt,  daB  wir  einerseits  wissen,  wieviel   Zeit 
und  Energie  fur  diese  Arbeit  aufgebracht  werden  muB.   Uir  wissen  und 
sp'u'ren  es  taglich,  daB  wir  mit  unseren  privaten  Bezligen  ins  Schleu- 
dern  kommen.   Wir  haben  den  Eindruck,  fast  alle  physische  und  psychi- 
sche  Kraft  fur  eine  solche  sehr  intensive  Arbeit  investieren  zu  mu's- 
sen,  um  auch  nur  ein  wenig  das  Gefuhl   zu  haben,   sinnvoll   zu  arbeiten. 
Und  dann  die  Frage  "Wofu'r  wirst  Du  eigentlich  bezahlt?"  Mit  ihr  wird 
klar,   wie  wenig  solche  Jugendlichen   von  Dir  als   Person  haben,   wo  sie 
doch'angewiesen  sind     auf  eine  einigennaBen  tragfahige  Beziehung  zu 
jemandem.auf  den  sie  sich  flir  die  Zeit  im  Heim  verlassen  kbnnen. 
Dies  Bedurfnis  der  Jugendlichen  scheint  zunachst  dem  Bedurfnis  der 
Institution  und  deren  Vertretern  zu  entsprechen.    Kurz  gesagt: 
Du  sol  1 st  moglichst  viel  an  Zeit  und  Arbeit  aufwenden,  um  eine  hohe 
Erfolgsquote  bei   den  Jugendlichen  zu  erreichen  und  ein  geringes  MaB 
an  zusatzlich  notwendig  werdenden  Personalkosten  zu  erzielen.   Die 
Belohnungsskala  sieht  dann  ahnlich  aus.   Ich  meine  nicht  etwa ,  daB 
diese  Skala  offiziell   bestunde,   nein,  wie  und  in  welcher  Weise  in- 
formell   auf  ein  hones  zeitliches  und  emotionales  Engagement  unter 
den  Kollegen/innen  und  "den  Vertretern  des  Heimes  reagiert  wird,  macht 
bei    vielen  Kollegen/innen  das  Gefuhl .sinnvolle  oder  weniger  sinnvol- 
le  Arbeit  zu  leisten. 

Und  dann  plotzlich  wird  ein  Kollege/in  aus  deinem  Team  krank,  oder 
ein  anderes  Teammi tgl ied  fahrt  in  Urlaub,  zur  Kur  oder  will   zu  einer 
Fortbildung  ,zieht  um  oder  sonst  irgendwas  und  du  schaust  auf  deinen 
Dienstplan  und  stellst  fest,  daB  du  diese  Woche  mal  wieder  mehr  als 


51 


50  Stunden  in  der  Gruppe  warst.  Und  dann  gehst  du  zur  Heimleitung 
und  sagst,  lieber  Heimleiter,  die  zehn  bis  zwanzig  Stunden  mochte 
ich  entweder  bezahlt  haben  oder  mir  als  freie  Tage  aufschreiben.   Der 
sagt  dir  aber,   das  kbnnen  wir  nicht,  das  gibt  ein  FaS  ohne  Boden, 
Liberal  1   ist  das  Hemd  zu  kurz,  die  kriegen  wir  niemals  vom  Trager  be- 
zahlt und  auBerdem  diese  Stunden  hast  du  ja  freiwillig  gemacht.   Sie 
waren  von  mir  nicht  angeordnet.  Und  dann  flihlt  man  sich  verarscht 
und  denkt  sich,  niemals  werde  ich  nochmals  mehr  als  40  Stunden  arbei- 
ten  und  beginnt  seinen  Dienstplan  zu  durchforsten,  urn  uberfViissige 
Stunden  zu  streichen.   Doch  man  findet  keine,  weil  man  genau  weiB, 
wenn  ich  die  und  die  Stunde  streiche,  kommt  die  Gruppe  zu  kurz.  Und 
gerade  hat  doch  so  ein  bi'Bchen  Selbstregulation  unter  den  Ougendli- 
chen  angefangen.   Die  muB  ich  doch  unterstutzen,  sonst  fange  ich  nach- 
her  wieder  ganz  von  vorne  an,  oder  einer  von  denen  landet  im  Knast 
oder  nimmt  Drogen  oder  sonst  was.  Und  man  macht  weiter  seine  50  bis 
60  Stunden  ohne  zusatzliche  Bezahlung,  weil  man  auch  keinen  Ort  hat, 
wo  dies  alles  besprochen  und  mbglicherweise  in  Forderungen  einmiin- 
den  kann.   Das  schlechte  Gewissen  dem  Jugendlichen  und  der  Institu- 
tion gegen'uber  scheint  erst  einmal  gesiegt  zu  haben. 


WIE  EINE  BETRIEBSGRUPPE  ENTSTAND 

In  unserem  Heim  haben  wir  iirmer  schon  ein  ausgefeiltes  Besprechungs- 
system  gehabt.   Selbst  gruppendynamische  Mitarbeiterbesprechungen 
sind  eingebunden  in  ein  sechsstlindiges  wbchentliches  Besprechungssy- 
stem.   Diese  Besprechungen  bieten  viele  Mbglichkeiten,  fachliche, 
narzistische  und  strukturelle  Probleme  einer  solchen  Einrichtung  zu 
thematisieren.   Doch  schaffen  sie  nicht  die  Konkurrenz,  den  Neid  und 
die  unterschiedlich  bewerteten  Funktionen  ab.   Sie  schaffen  auch  nicht 
die  Tatsache  aus  der  Welt,  daB  die  Bezahlung  desto  hbher  ausfa'llt, 
je  weniger  man  mit  den  Betroffenen  zu  tun  hat.    Im  Gegenteil,  ten- 
denziell   schaffen  solche  Besprechungen  das  GefUhl,"wir"  sind  alle 
zusammen  an  einer  Sache  beschaftigt,  wir  sitzen  in  einem  Boot  und 
miissen  uns  nur  immer  wieder  entscheiden,  wohin  es  geht,  wer  rudern 
und  wer  steuern  soil . 

Ich  meine  damit,  daB  solche  Besprechungen  Illusionen  na'hren,  Entla- 
stung  fur  widerspruchliche  Spannungen  schaffen  und  scheinbar  Unter- 
schiede  nivellieren.  Es  ware  aber  falsch,  wenn  aus  dieser  Aussage 
gefolgert  wurde,  daB  Mitarbeiterbesprechungen  abgeschafft  werden 
so11ten.  Man  sollte  nur  auch  die  Gefahren  solcher  Besprechungen  er- 
kennen  und  mit  ihnen  umgehen. 

Auch  wir  sind  lange  Zeit  davon  ausgegangen,  daB  wir  in  solchen  Be- 
sprechungen all  unsere  Probleme  diskutieren  und  Ibsen  kbnnten  und 
daB  das  Formulieren  bestinmter  eigener  Bediirfnisse  in  der  Arbeit 
schon  eine  wirksame  Veranderung  bringen  kbnnte.  Wir  haben  mcnt  ge- 
merkt,  daB  viele  Besprechungen  uns  eher  beschwichtigt  haben  und  uns 
in  eine  Verantwortlichkeit  fur  die  Gesamteinrichtung  hineingedriickt 
haben,  deren  Struktur  wir  erst  einmal   nicht  zu  verantworten  haben. 
Wir  haben  nicht  gemerkt,  wie  wenig  auf  unsere  eigenen  Schwierigkei- 
ten  eingegangen  werden  konnte  und  wie  sehr  uns  ein  "schlechtes  Ge- 
wissen" beim  Formulieren  eigener  berechtigter  Interessen  behindert 
hat. 


52  - 


Durch  informellen  Kontakt  und  durch  die  anstehende  Wahl   eines  neuen 
Betriebsrates  wurden  uns  diese  Strukturen  deutlicher.   Wir  sahen  mehr 
und  mehr  die  dringende  Notwendigkei t  einer  eigenen  OTV-Betriebsgrup- 
pe,  zu  der  alle  Kollegen/innen,  die  mit  ihrer  widersprlichl  ichen  Si- 
tuation nicht  so  leicht  fertig  werden,   kommen  kbnnen.   Gleichzeitig 
fand  auch  die  Wahl  von  Vertrauensleuten  statt,  die  sich  vor  allem 
urn  die  vbllige  Abspaltung  des  Wirtschafts-  und  Verwal tungspersonals 
klimmern  sollten.   So  formulierten  wir  folgende  Aufgabengebiete  fur 
die  Gruppe: 

-  tarifliche  und  arbeitsrechtliche  Selbstqual if i kation, 

-  regelmaBiger  Kontakt  zur  Gewerkschaft, 

-  regelmaBiger  Kontakt  zum  Betriebsrat  und  umgekehrt, 

-  Diskussion  bestimmter  betriebsinterner  Probleme  auf  gewerkschaft- 
lichem  Hintergrund  (z.B.    fordere  ich  fur  dienstplanma'Bige  uber- 
stunden  finanziellen  oder  Freizeitausgleich) , 

-  alle  Fragen,  die  mit  Hbhergruppierungen  im  Verwaltungs-  und  Wirt- 
schaftsbereich  zu  tun  haben, 

-  konzeptionelle  Probleme,  die  sich  auf  Kollegen  auswirken, 

-  Dienstplanprobleme, 

-  regelma'Biges  Info  Liber  Arbeitgeber. 

Wir  waren  und  sind  uns  dariiber  klar,  daB  ein  solcher  Katalog  kaum 
in  einer  Wochenstunde  zu  schaffen  ist.   Trotzdem  bietet  er  eine  gute 
Orientierung  fur  unsere  Arbeit. 

Anfang  des  Jahres  haben  wir  dann     in  Zusammenarbeit  und  Abstimmung 
mit  unserem  engagierter  Betriebsrat  festgestel 1 t,  daB  uns  seit  Jahren 
fur  dienstplanma'Bige  Oberstunden  die  tarifvertragl  ich     zustehenden 
Zuschlage  nicht  bezahlt  wurden. 

Wir  setzten  uns  zusanmen  und  formulierten  ein  Papier,   in  dem  auf 
diesen  Zustand  hingewiesen  wurde.  Gleichzeitig  wurde  die  Heimleitung 
vom  Betriebsrat  informiert.    Reaktion  des  Tragers:  wir  bekommen  zwar 
jetzt  die  Zuschlage,  doch  findet  jetzt  eine  rigidere  Form  der  Ober- 
stundenbeurteilung  statt.   Es  wird  nicht  mehr  jede  Oberstunde  bewil- 
ligt,  die  sich  aus  der  Notwendigkeit  der  Praxis  ergibt,  sondern  es 
wird  ein  starkerer  Druck  auf  die  Kollegen  ausgelibt,  das  Aufschrei- 
ben von  Oberstunden  doch  lieber  zu  vergessen. 

AusfluB  dieses  Papiers  der  OTV-Betriebsgruppe  war  dann  weiter  die 
Einrichtung  einer  Arbeitsgruppe  im  Heim,  die  einmal  die  rotwendig 
anfallenden  Dienstzeiten  addieren  sollte,  feststellen  sollte,  wie- 
Viel    Kollegen/innen  fur  diese  notwendig  anfallenden  Dienstzeiten  zur 
Verfiigung  stehen  m'uBten.  Auf  das  Ergebnis  dieser  Gruppe  werde  ich  im 
weiteren  noch  zu ruck kommen. 

Beeindruckend  war  die  Reaktion,  die  das  Papier  der  DTV-Betriebsgrup- 
pe  unter  den  Kollegen/innen  und  der  Heimleitung  auslbste.   Der  Heim- 
leiter wurde  sich  an  dieser  Stelle  exemplarisch  seiner  widerspruch- 
1 ichen  Pufferfunktior  bewuBt  und  antizipierte  in  seiner  betroffenen 
Reaktion  die  Gefahrlichkeit  der  Konsequenzen  eines  solchen  Papiers 
fur  die  Heimerziehung.  Denn:     Uns  wurde  klar,  wenn  wir  konsequent 
diegewerkschaftlich  erkampften  Fortschritte  (z.B.  40-Stunden-Woche) 
fordern  und  leben  wollten,  wurde  diese  Forderung  Heimerziehung  ten- 
denziell   unmbglich  machen.  Als  Beleg  das  von  mir  erwiihnte  Ergebnis 
unserer  Dienstplan-Arbeitsgruppe. 

Es  zeigte,  daB  zum  kontinuierlichen  Abdecken  von  alien  Zeiten,  die 

-  53  - 


fur  Jugendliche  im  Wohnbereich  anfallen   (unter  Berlicksichtigung  von 
durchschnittlich  30  Tagen  Urlaub  und  14  Tagen  Krankheit  pro  Jahr/ 
Kollege/in)   genau   5,8  Stellen  pro  Gruppe  anfallen   (Doppelbesetzung 
am  Abend  und  Doppelbesetzung  am  Wochenende).   D.h.,  es  sind  immer 
drei   Kollegen  im  Dienst  und  2,8  Kollegen/innen  machen  Urlaub,  sind 
krank  oder  haben  frei .   Diese  5,8  Kollegen/innen  wlirden  bei   einer  Be- 
zahlung  von  BAT  4b   (graduierte  Sozialpadagogen/innen)  jeder  einzeln 
durchschnittlich  2.400.--  DM  brutto   (ca.    1.500.--  DM  netto)   verdie- 
nen.   Das  hieSe  pro  Jahr  fur  5,8  Kollegen/innen  180.000.--  DM.   Bei 
einer  Gruppe  von  12  Jugendlichen  ware  der  Personalaufwand  nur  allein 
fiir  den  Wohnbereich  pro  Tag  und  Junge  von  knapp  45.--  DM,  also  mehr 
als  das  Doppelte  wie  bisher.   Diese  Kalkulation  verdeutlicht  einen 
nicht  mehr  zu  leugnenden  EngpaB  in  den  Arbeitsmbglichkeiten  der 
Heime. 

In  diesem  Zusammenhang  kbnnen  wir  uns  als  Sozialarbeiter/innen  nicht 
den  Schuh  anziehen,  urn  solche  strukturellen  Probleme  von  Heimerzie- 
hung  durch  Mehrarbeit  zu  kompensieren.   Es  ware  namlich  denkbar,  wie- 
der  eine  50-Stunden-Woche  flir  Heimerzieher  bei     entsprechender  Be- 
zahlung  einzuflihren.   Wlirden  wir  uns  darauf  einlassen,  waren  wir  mit- 
verantwortlich  flir  die  Erhaltung  eines  Heimerziehungstnodells,  das 
weder  Jugendliche  genligend  selbstverantwortlich  auf  gesel  lschaftli- 
che  Realitat  vorbereitet,  noch  berechtigte  soziale,   kulturelle  und 
politische  Reproduktionsinteressen  von  Sozialarbeitern/innen  beriick- 
sichtigt.    In  diesem  Zusammenhang  verweise  ich  auf  den  Artikel   von 
E.   Wedekind  "Heimstruktur  und  Erziehersituation"   in  diesem  Info. 

AbschlieBend  fasse  ich  das  bisherige  Ergebnis  unserer  Arbeit  zusam- 
men: 

I  wir  haben  gelernt,   daB  individuelle  Arbeitsuberlastungen  notwendig 
einen  strukturellen  Hintergrund  haben; 

•  daB  es  falsch  1st,   innerhalb  eines  Heimes  den  Heimleiter  als  Ver- 
ursacher  solcher  struktureller  Probleme  zu  betrachten  und  zu  be- 
kampfen,  sondern  daB  es  darum  gent,  alternative  Modelle  bffentli- 
cher  Erziehung  zu  entwickeln,  zu  fordern  und  durchzusetzen; 

I  unsere  Arbeit  in  der  OTV-Betriebsgruppe  soil   Widerspriiche  erst  ein- 
mal   transparent  machen.  Wir  haben  nicht  den  Anspruch,  sie  sofort 
aufzulbsen. 

I  wir  kbnnen  uns  nur  zusammen  immer  wieder  darin  bestarken,   daB 

nicht  unser  "schlechtes  Gewissen"  zum  tragen  kommt,  sondern  gemein- 
sam  so  viel   Kraft  aufwenden,  urn  eine  langerfristige  Lbsung  durch- 
zusetzen. 


54 


BERICHTE  AUS  TOTALEN  INSTITUTIONEN 


Die  Frage,  ob  schwerpunktma'Big  offene  Hilfen  in  den  Lebenszusammen- 
hangen  der  Betroffenen  gefbrdert  und  ausgebaut  werden  oder  aber  eine 
Zementierung  der  stationaren  Unterbringung  in  totalen  Institutionen 
erfolgt,   ist  keine  therapeutisch-padagogische,   sondern  eine  politi- 
sche.  Statt  verstarkt  darliber  nachzudenken,  wie  Heime  schrittweise 
in  eine  Gemeinwesenarbeit  integriert  werden  konnen,  wie  die  internen 
Ablaufe  transparenter,  durchlassiger  und  reali tatsnaher  zu  gestalten 
sind,  werden  zur  Zeit  in  alien  Bundeslandern  Millionenbetrage  fiir 
die  Neueinrichtung  geschlossener  Heime  zur  Verfugung  gestellt,  wird 
in  Erziehungsheimen  wieder  offen  auf  geschlossene  Abteilungen  zuru'ck- 
qegriffen.   Das  ist  die  "padagogische"  Strategie,  die  der  Sozialbiiro- 
kratie  angesichts  von  Krise,  Jugendarbeitslosigkeit  und  verstarktem 
Leistungsdruck  in  Schule  und  Betrieb  angemessen  erscheint. 

Durch  die  Verbramung  der  geschlossenen  Heime  als   "heilpadagogische 
Intensi vbetreuung"  sollte  sich  niemand  tauschen  lassen:   die  Abschot- 
tung  von  der  Gesel lschaft,  die  in  der  Heimstruktur  angelegt  ist,  fin- 
det  in  vol  1 ig  geschlossenen  Einrichtungen  ihre  hbchste  Verdichtung. 
Die  Dffentlichkeit  ist  von  jeglichen  Informationen  liber  interne  Vor- 
gange  ausgeschlossen.   Unbehelligt  von  jeglicher  externer  Kritik  wird 
Phantasie, Individuali tat  und  Lebensfreude  in  der  totalen  Institution 
erstickt.   Nur  einzelnen  engagierten  Kollegen  ist  es  zu  verdanken, 
wenn  der  skandalbse  All  tag  liberhaupt  einmal   der  Offentl  ichkeit  zu- 
qanglich  gemacht  wird.   Zwischen  den  nachfolgenden  Beriehten  aus  einem 
qeschlossenen  Madchenheim,  einem  psychiatrischen  Krankenhaus  und 
einem  Gefangnis  ergeben  sich  Verschrankungen.   Die  Obergange  zwischen 
diesen  Spielarten  der  totalen  Institution  sind  flieBend. 
Das  erdruckende  Leiden,  das  sich  hier  abspielt,  verpflichtet     uns, 
den  Kampf  gegen  den  weiteren  Ausbau  geschlossener  Heime  verstarkt 
zu  fu'hren. 


DREI  TOTE  IM  MADCHENHEIM 

GroBeri  Wirbel   haben  die  massiven  VorwUrfe  des  Sozialarbeiters  Peter 
Brosch  gegen  das   Isenbergheim,  ein  Haus  fur  "schwer  erziehbare    Mad- 
chen     ausgelost.    Schwerwiegendster  Vorwurf  des  Sozialarbeiters,   der 
selbst  ein  Jahr  in  den,  Heim  gearbeitet  hatte:   Ungeheure  Schlamperei 
und  mangel nde  arztliche  Versorgung  seien  Schuld  am  Tod  einer  17-jah- 
riqen  und  Ursache     zweier  Totgeburten.    "Unterstellung     Ehrabschnei- 
dung?  R  fmord"  nennen  die  Verantwortlichen  in  dan  von  der     nneren 
Mission  geleiteten  Madchenwohnheim  die  Vorwurf e     Die  ^aatsanwalt 
schaft  dagegen,  die  den  Fall  zur  Zeit  pruft,  schlieBt  nicht  aus     daB 
die  Ermittlungen  uber  unterlassene  Hilfeleistung  auch  auf  andere 
Straftatbestande  ausgeweitet  werden  konnten. 


-  55 


Inzwischen  hat  sich  die  zusta'ndige  Heimaufsicht,  das  Landesjugendamt 
Bremen,  mit  Vertretern  der  Inneren  Mission  zusammengesetzt,  urn  die 
VorwLirfe  zu  klaren.   Nach  dem  Gesprach  sah  sich  die  Aufsichtsbehorde 
nicht  veranlaBt,  das  Heim  zu  schlieBen,  dazu  seien  zu  viele  Fragen 
ungelost  und  eine  umfassende  Prufung  notwendig.   Bei  der  Sitzung  wur- 
den  freilich  nicht  diejenigen  gehort,  die  die  schweren  Vorwiirfe  er- 
heben. 

Beispielsweise  Claudia  Gonsch,  die  Strafanzeige  wegen  Korperverlet- 
zung  und  unterlassener  Hilfeleistung  gestellt  hat.   Ihr  war  zuna'chst 
trotz  starker  Unterleibsschmerzen  wa'hrend  der  Schwangerschaft  der 
Besuch  bei  einem  Arzt  verweigert  worden.  Tage  spater  konnte  in  einem 
Krankenhaus  nur  noch  die  Geburt  eines  nicht  lebensfa'higen  Kindes 
eingeleitet  werden,  das  bei   fruhzei tiger  Behandlung  ha'tte  evt.   geret- 
tet  werden  kdnnen. 

Die  Heimleitung  lieB  sich  nach  ihrer  RUckkehr  eine  Erklarung  unter- 
zeichnen,  daB  sie  am  Tod  des  Kindes  keinerlei  Schuld  treffen  wiirde. 

Ganzlich  mysteribs  erscheint  der  Tod  der  1 7-jahrigen  Susanne  Blanke,- 
die  wenige  Tage  nach  einer  Totgeburt  starb.  Von  ihr  sind  MutterpaB 
und  der  Durchschlag  der  Meldung  Liber  den  Tod  des  Madchens  an  die 
Heimaufsicht  in  Bremen  verschwunden.   Laut  Peter  Brosch  wurde  auch 
Susanne  Blanke  trotz  starker  Unterleibsschmerzen  nicht  zum  Arzt  ge- 
schickt.   Vielmehr  habe  sie  weiterhin  in  einem  Altenheim  auf  der 
Pflegestation  arbeiten  mu'ssen. 

Ober  die  eklatanten  Fa'lle  hinaus  hat  Peter  Brosch  dem  Heim  eine  gan- 
ze  Latte  von  Verstb'Ben  vorgehalten,  wie  z.B.    Postkontrolle,  unangemes- 
sen  none  Strafen,  Ausbeutung  der  Madchen  als  kostenlose  Arbeitskraf- 
te,  Schla'ge,   Schikanen  usw. 

AuBerdem  sollen  im  Heim  eine  Reihe  von  Madchen  Suizidversuche  unter- 
nonmen  haben.   Eine  Erzieherin  stritt  die  Selbstmordversuche  zwar 
nicht  ab,   nahm  sie  dafUr  aber  auf  die  leichte  Schulter:   "Ein  biBchen 
(hierbei   zeigte  sie  auf  ihr  Handgelenk)   schnippeln,   das   kann  man 
nicht  ernsthaft  Selbstmordversuch  nennen.  Damit  soil  doch  nur  ein 
Signal   gegeben  werden,   das  bei  uns  gewiB  nicht  liberhort  wird."  DaB 
so  ein  Signal   Liberhort  wird,  hat  auch  Peter  Brosch  nicht  behauptet. 
Im  Gegenteil:   Solchen  Versuchen  soil  man  teilweise  padagogisch  per 
mehrwbchiger  Ausgangssperre  beigekommen  sein. 

Auch  der  Vorwurf,   im  Heim  seien  zu  wenig  ausgebildete  Kra'fte  bescha'f- 
tigt,  wird  von  Pastor  Aderkas  bestritten.  Selbst  der  Hausmeister  sei 
gelernter  Ba'ckermeister  und  damit  erfahren  in  Menschenfuhrung  und 
nicht  irgendein  "von  der  StraBe  eingefargener,  ungelernter  Arbeits- 
scheuer."  Pastor  Aderkas   kann  sich  Brosch  VorwLirfe  nur  mit  dessen 
Persb'nlichkeit  erkla'ren:   Der  Sozialarbeiter  hat  18  Jahre  lang  am 
eigenen  Leib  Heimerziehung  erfahren  und  ist  Autor  eines  Buches  u'ber 
Fursorgeerziehung.  AuBerdem  vermutet  Aderkas  politische  Ambitionen 
und  wittert  "merkwlirdige  Parallelen  zur  russischen  Revolution".  Auch 
heute  gehbre  es  "zur  politischen  Kampffiihrung,   nur  ma'Big  bestehende 
Autoritaten  zu  untergraben.  Mit  dankbaren  und  zufriedenen  Menschen 
kann  man  keine  Revolution  machen,  man  muB  ihnen  erst  die  Augen  dafiir 
bffnen,  daB  sie  unter  ungerechten  Verbal tnissen  leben." 

Der  Bericht  von  Peter  Brosch  jedenfalls  hat  fieberhafte  Recherchen 


56 


ausgelbst.  Alle  betroffenen  Stellen  beteuern,sie  seien  an  einer  rest- 
losen  Aufklarung  interessiert.   Der  erste  Schritt  zur  Wahrheitsfindung 
war  schnell   getan:  Am  Tage  nach  der  Verbffentlichung  erschien  bei 
Peter  Brosch  der  Gerichtsvollzieher  mit  der  fristlosen  Kundigung  der 
Inneren  Mission,  die  auch  eine  einstweilige  VerfLigung  gegen  den  So- 
zialarbeiter beantragt  hat,  die  ihm  verbieten  soil,  weiterhin  b'ffent- 
lich  VorwLirfe  gegen  das  Heim  zu  erheben. 

(gekLirzte  Fassung  aus  Bremer  Blatt  Nr.   9,   1977) 


BETRIFFT:  BRAUWEILER 

ES  WAR  NICHT  MEHR  AUSZUHALTEN 

Ich  heiBe:   W.M.,  wohne  im  Kolner  Landbezirk  in  einer  Dreizimmerwoh- 
nung,  habe  5  Kinder,  habe  frLih  geheiratet  und  bin  von  Beruf  kaufm. 
Angestellter. 

Ich  heiBe:   E.O.,  wohne  in  einem  Kolner  Vorort  in  einer  Dreizimmer-- 
wohnung,   keine  Kinder,  seit  Dezember  1976  verheiratet,  ich  bin  seit 
April   1977  krankgeschrieben. 


Ich  kam  im  Jul i    1977  nach 
einen  Selbstmordversuch  hi 
Brauweiler  mit  der  offizie 
brauch   (Sucht)",  was  aber 
Landeskrankenhaus  Brauweil 
waren  zwischen  3  und  6  Woe 
hat  sich  erst  2  Tage  nach 
Arztin  vorgestellt,   vorher 
wurde  aber  direkt  nach  der 
urn  1/2  6  Uhr  aufzustehen 


beruflichen  Schwierigkeiten,  nachdem  ich 
nter  mir  hatte,   in  das   Landeskrankenhaus 
lien  Diagnose  "Verdacht  auf  TablettenmiB- 
eine  Fehldiagnose  war.  Wi r  lernten  uns  im 
er  auf  der  Station  M  1    und  2  kennen.   Wir 
hen  auf  dieser  Station.   Bei    einem  von  uns 
der  Aufnahme  bei   einer  normalen  Visite  eine 
war  keine  a'rztliche  Versorgung  da.    Ich 
Aufnahme  aufgefordert,   am  nachsten  Morgen 
um  in  der  Ku'che  zu  arbeiten. 


Im  anderen  Fall  war  am  Tag  d 
bei  der  Arztin  von  einigen  M 
mal  die  offizielle  Einweisun 
in  der  Ku'che  mitarbeiten,  wo 
haben.  Die  KUche  war  zustand 
Bevor  wir  aufgefordert  worde 
wir  nicht  gefragt,  ob  wir  kb 
ten  hatten.  Auch  wurden  wir 
weise  vom  Gesundheitsamt  vor 


er  Einlieferung  eine   kurze  Vorstellung 
i nuten  Dauer  -  sie  kannte  noch  nicht  ein- 
gsdiagnose.    Kurz  darauf  muSte  auch  er 
wir  dann  zusammen  die  Ku'che  geleitet 
ig  fur  ca.    7D  Personen  bei    3  Mahlzeiten. 
n  sind,    in   der  Ku'che   zu   arbeiten,   wurden 
rperlich  gesund  sind  und  keine  Krankhei- 
vorher  nicht  untersucht,  was  normaler- 
geschrieben  ist. 


Wir  bekamen  fur  unsere  Kuchenarbeit  pro  Tag  2.-  DM     und  arbeiteten 
dafiir  ca.    14  Stunden  ta'glich.   Wir  muBten  samstags  und  sonntags  put- 
zen  und  die  Pfleger  und  Putzfrauen  mitverpflegen,  damit  sie  das  Geld 
fLir  die  Kantine  sparen  konnten.  Manche  nahmen  sich  auch  Essen  mit 
nach  Hause.   Es  gab  nur  sonntags   Butter,  ansonsten  gab  es  nur  wasse- 
rige  Margarine,  wo  12  Personen  mit  500  g  auskommen  muBten.   Kaffee 
qab  es  nur  einmal    in  der  Woche,   und  zwar  sonntags,  und  dann  nur  5  g. 
Sonst  gab  es  morgens  und  abends  4  Loffel   Kaffee-Ersatz  auf  10  1 
Wasser  fur  alle  Patienten.   Nachts  stellteiwir  eine  Kanne  von  diesem 
Gesbff  in  den  Aufenthaltsraum,  damit  die  Mitgefangenen  nebenbei  auch 
etwas  zu  trinken  hatten.    In  diesem  Behalter  war  manchmal  mehr  Urin 
als  andere  Flussigkei t. 


57 


Wir  haben  festgestell 
Anstalt  Kranke,  die  i 
haben  und  auch  m'cht 
Auf  unserer  Station  h 
phi  1 i s   im  Endstadium 
wahr  wurden,  was  mit 
schirr  griindlich  gere 
wortung  m'cht  mehr  in 
der  KUche  nicht  mehr 


t,   daB  in  samtlichen  Ha'usern  der  sogenannten 
n  der  KUche  arbeiten,   kein  Gesundhei tszeugnis 
auf  ansteckende  Krankheiten  untersucht  wurden. 
alf  einer  mit  das  Geschirr  zu  spu'len,  der  Sy- 
und  kbrperlichen  Ausschlag  hatte.  Als  wir  ge- 
ihm  los  war,   haben  wir  sofort  das  komplette  Ge- 
inigt     und  haben  diesen  Mann  auf  eigene  Verant- 
die  KUche  gelassen.  Ansonsten  ha'tten  wir  in 
gearbeitet  und  auch  kein  Essen  gekocht. 


Es  waren  jederzeit  alle  AuBentu'ren  und  Fenster  verschlossen  bzw.  mit 
ausbruchsicherem  Glas  versehen.   Eine  Klimaanlage  1st  in  diesem  Haus 
nicht  vorhanden.   Wir  kbnnen  besta'tigen,  daB  die  Toiletten  vom  Reini- 
gungspersonal   m'cht  gereinigt  wurden. 

Der  Landschaftsverband  kassiert  von  den  Krankenkassen,  Sozialamtern 
usw.   pro  Patient  zwischen  1.950.-  DM  und  2.350.-  DM  im  Monat,  und 
das  bei  diesen  Zustanden.   Wir  sind  nach  guten  Rechnereien  dazu  gekom- 
men,  daB  die  Halfte  davon  zuviel   bezahlt  ist.   Von  dieser  monatlichen 
Summe  kbnnte  man  getrost  in  Mallorca  in  einem  Hotel   leben. 

Einige  Handtlicher  im  Krankenhaus  Brauweiler  sind  mit  der  Aufschrift 
"Arbeitsanstalt  Brauweiler"  versehen.    (Unter  den  Nazis  war  Brauwei- 
ler eine  "Arbeitsanstalt".)   Das  sogenannte  Pf legepersonal   besteht 
teilweise  aus  denselben  Leuten,   die  damals  im  Arbeitslager  Brauweiler 
als  Aufseher  beschaftigt  waren.   Diese  wurden  nur  durch  einen  Schnell- 
kurs  zum  Pflegehilfspersonal  ausgebildet.   Teilweise  tragen  diese  Leu- 
te  noch  heute  ihre  Schlagstbcke  von  damals  und  ihre  Arroganz  und 
Hochnasigkeit  den  Patienten  gegenliber  mit  sich.   Das  haben  wir  selbst 
festgestellt:    Wir  wurden  von  dem  Pflegepersonal   und  der  Arztin  fast 
immer  in  der  dritten  Person  angesprochen,  aber  nur  notigenfalls.   Un- 
tereinander  sprachen  sie  sich  nur  mit  Du  an  und  machten  dumme  Witze 
Uber  uns.    Kaffeetrinken  war  ihnen  wichtiger  -  besonders  der  Arztin 
und  der  Psychologin  -  als   die  Anhbrung  eines  Patienten. 

Falls  man  der  Arztin  oder  Psychologin  etwas  mitteilen  wollte,  wurde 
einem  gesagt,  entweder  ganz  kurz  oder  gar  nicht,  so  daB  einem  von 
vorneherein  die  Lust  verging,  mit  diesen  Gefa'ngnisaufsehern  zu  spre- 
chen.    Die  einzige  vernunftige  Person  in  Brauweiler  ist  eine  Sozial- 
arbeiterin  (Frau  Wirtz),  die  sich  aber  auch  wirklichder  personlicnen 
Probleme  der  Betroffenen  annimmt    und  auch  manchmal  etwas  bei  den 
Oberaufsehern  erreicht,  aber  leider  nicht  soviel,  daB  diese  Zustande 
aufhbren. 

(aus  Kblner  Volksblatt  10/77) 

ESSENSBOYKOTT  IN  DER  JUGENDSTRAFANSTALT  -  RAUSSCHMISS 
DER  SOZIALPADAGOGEN 

Im  April    1977  boykottierten  in  der  Jugendanstalt  Vierlande  Gefangene 
das  Mittagessen.   Der  Protest  richtete  sich  ausschlieBlich  gegen  die 
unzureichende  Verpflegungssituation  der  Anstalt.  Obwohl  die  Berech- 
tigung  des  Protests  bald  von  der  Justizbehbrde  und  der  Anstaltslei- 
tung  anerkannt  werden  muBte,   klindigte  das  Strafvollzugsamt  alien 
Sozialpa'dagogen  der  Anstalt  am  1.7.   zum  30.9.1977.   Vorgeworfen  wird 


-  58  - 


ihnen  im  wesentlichen  das  Unterlassen  "enger  und  loyaler  Zusammenar- 
beit"  mit  der  Anstaltslei tung  zur  Niederhaltung  des  Protestes  der 
jugendlichen  Strafgefangenen. 

In  dem  mittlerweile  7-ja'hrigen  Bestehen  der  Anstalt  sind  wir  die 
vierte  Generation  von  Sozialarbeitern,  die  die  Arbeit  mit  den  Jugend- 
lichen aufgeben  muB.    Der  in  Vierlande  sta'ndig  auftretende  Konflikt 
ist  der  Widerspruch  zwischen  dem  vom  Strafvollzugsamt  deklarierten 
Anspruch  eines  Erziehungsvollzuges  und  den  materiellen  Mbgl ichkei ten 
und  Bedingungen,  die  zu  seiner  Verwirklichung  erforderlich  sind.    Die 
unzureichenden  Voraussetzungen  flir  die  Realisierung  dieses  Anspru- 
ches  zeigen  sich  z.B.   in  der  personellen  Besetzung  der  Anstalt: 
1    Sozialarbeiter  auf  25  Gefangene,  wahrend  selbst  die  Anstaltsleitung 
die  doppelte  Zahl   von  Sozialarbeitern  fordert. 

Parallel    zu  der  materiellen  Ebene  hat  es  immer  Auseinandersetzungen 
urn  die  Inhalte  der  Sozialarbeit  gegeben,  so  besonders  und  lange  da- 
rum,  der  Sozialarbeit  institutionell   den  Stellenwert  zu  verschaffen, 
der  dem  Anspruch  "Erziehungsvollzug"  gerecht  wlirde.    Ein  sog.    Erzie- 
hungsgruppenleiterpapier  als  Rechtsgrundlage  ist  von  unseren  Vorgan- 
gern  durchgesetzt  worden.   Die  Fruchte  ihres  Einsatzes  haben  sie  je- 
doch  nicht  mehr  ernten  kbnnen,  da  das  Strafvollzugsamt  die  positive 
Entscheidung  liber  dieses  Papier  lange  Zeit  verschleppt  hat.  Aus 
diesem  Grund  und  wegen  der  Streichung  der  5.   Sozialarbeiterplanstelle 
in  Vierlande  haben  sie  im  Fruhjahr  1975  samtlich  gekundigt. 

Ausgangspunkt  des   Konflikts   in  Vierlande  im  April    1977  war  die  Ver- 
pflegungssituation der  Gefangenen,  seit  Bestehen  der  Anstalt  ein  we- 
sentliches  Problem  (Anstal tsleiterin  Eva-Maria  Rlihmkorf  gegenliber 
der  "Bergedorfer  Zeitung":    "...es  stimmt  auch,  daB  die  Verpflegung 
bisweilen  in  verschiedener  Hinsicht  unzureichend  war.    Das  mit  dem 
Stuck  Fell   und  anderen  Gegensta'nden  ist  naturlich  libel ...").  Ausloser 
des  Protestes  der  Gefangenen  war  eben  dieses  Stuck  Fell  mit  langen 
schwarzen  Haaren,   das  die  Gefangenen  als  Mausehintern  betitelten. 
Auf  Stationsversammlungen  besprachen  die  jugendlichen  Gefangenen 
das  gemeinsame  Vorgehen  und  stimmten  darliber  ab.    Es  wurden  Briefe  an 
die  zusta'ndigen  Stellen  und  die  Presse  geschickt  und  das  Mittagessen 
an  10  Tagen  verweigert. 

Dieses  von  der  Form  her  unter  padagogisch  wie  unter  gesellschaftspo- 
litischen  Aspekten  erwlinschte  und  geforderte  Venal  ten  der  Jugendli- 
chen stand  im  Widerspruch  zu  den  Auffassungen,  die  im  herkbmmlichen 
Strafvollzug  vorherrschend  sind.   Die  normale  Reaktion  im  Vollzug 
auf  schlechtes  Essen  ist  die  individuelle  Vernichtung  des  angebote- 
nen  Essens,   indem  es  z.B.   vom  Gefangenen  aus  dem  Fenster  gekippt  wird. 
Dieses  individuelle  und  letztlich  resignative  Reagieren  war  auch  in 
Vierlande  Liblich  und  viel    zu  alltaglich.    Im  April    1977  jedoch  haben 
die  Jugendlichen  aus  begrundetem  AnlaB  vol  1 i g  selbstandig  m  Ansatz 
das  realisiert,  wozu  die  sozialpa'dagogische  Arbeit  sne  befahngen  sol  1- 
te:    Kooperationsfa'higkeit,   planma'Bige  Wahrnehmung  und  Vertretung 
eigener  Interessen. 

Der  qemeinschaftliche  Protest  der  Jugendlichen  stieB  innerhalb  der 
Anstalt  und  im  Strafvollzugsamt  allerdings  auf  heftigen  Widerstand. 
Er  wurde  zu  einer  Aktion  weniger  umgedichtet,  die  nur  durch  die  Un- 

-  59  - 


terdruckung  der  Mi tgefangenen  moglich  gewesen  sei.   Als  sich  die  Si- 
tuation durch  die  gegen  uns  angekiindigte  Entlassung  und  durch  den 
zur  Abwendung  der  Kiindigungen  angesagten  Hungerstreik  der  Jugendli- 
chen  verscharfte,  ging  die  Anstalt  auBerst  repressiv  gegen  die  Gefan- 
genen  vor: 

-  einer  der  sogenannten  vermeintl  ichen  Radelsfuhrer  wurde  psychiatrisch 
begutachtet,  andere  wurden  von  den  librigen  Gefangenen  durch  Ein- 
schluB  isoliert  und  in  andere  Anstalten  verlegt; 

-  alien  Jugendlichen  wurde  Verlust  von  Begiinstigungen  wie  Urlaub  fur 
den  Fall    ihrer  Teilnahme  am  Protest  angedroht; 

-  zeitweise  bestand  die  Anordnung,  Telefongesprache  zwischen  Gefan- 
genen und  Verteidigern  abzuhb'ren. 

Unsere  Kundigung  durch  das  Strafvollzugsamt  reiht  sich  in  die  repres- 
siven  MaBnahmen,  die  sich  gegen  die  jugendlichen  Gefangenen  richten, 
ein.    In  der  Kundigung  wird  uns  vorgeworfen,  daB  wir  uns  nicht  aktiv 
an  dem  Vorgehen  gegen  den  Protest  beteiligt  haben.   Dieser  Forderung, 
den  Protest  rait  niederzuhalten,  durften  wir  jedoch  auch  innerhalb  un- 
serer  arbei tsvertragl ichen  Stellung  nicht  nachkommen.   Das   ha'tte  be- 
deutet,  daB  wir  selbst  sozial   erwiinschte  Verhaltensweisen  hatten  ab- 
lehnen  und  verurteilen  mu'ssen.    Das  von  uns   erwartete  Vernal  ten  war 
daher  die  Aufforderung  zur  eigenha'ndigen  Liquidierung  der  in  Vier- 
lande  praktizierten  Sozialarbeit.    Konsequenterweise  schlug  man  uns 
schlieBlich  vor,   selbst  zu  kundigen.    Unsere  Weigerung  wurde  mit  den 
Kiindigungen  durch  das  Strafvollzugsamt  beantwortet.   Das  Vorgehen  ge- 
gen die  jugendlichen  Strafgefangene.n  fand  seine  fast  vollstandige 
Parallele  in  der  Behandlung  des  Widerspruchs  zu  den  Sozialarbeitern. 
Die  Konflikte  sollten  nicht  praktisch  ausgetragen,  sondern  in  beiden 
Fallen  restriktiv  gelbst  werden. 

Erziehungsvollzug.d.h.   Sozialarbeit  als  integraler  Bestandteil  des 
Strafvollzugs,  bedeutet,  mit  Konflikten  zu  leben  und  zu  arbeiten. 
Das  ist  die  Voraussetzung,  unter  der  alle  Mitarbeiter  in  Vierlande 
arbeiten  sol lten. 

Fur  diesen  Anspruch  haben  wir  uns  eingesetzt  und  treten  fur  seine 
Realisierung  auch  jetzt  mit  unserer  Klage  gegen  die  Kiindigungen  ein. 
Dabei   sind  wir  uns  bewu6t,  daS  wir  im  Widerspruch  zum  Strafvollzugs- 
amt stehen.    Es  ist  aber  derselbe  Widerspruch,  der  zwischen  den  Wor- 
ten  und  Taten  des  Vollzugsamtes  liegt.   Immer  wenn  die  Sozialarbeiter 
den  vom  Strafvollzugsamt  abstrakt  formulierten  Erziehungsgedanken 
inhaltlich  auszufullen  suchten,  wurde  der  Grundkonfl ikt  zwischen 
Verwahrvollzug  und  Sozialarbeit  offensichtlich. 

(aus  der  Presseerklarung  der  Sozialpadagogen) 


NACHTRAG 

Mittlerweile  hat  vor  dem  Arbeitsgericht  Hamburg  die  Verhandlung  liber 
die  "Einstweilige  Verf'u'gung"  stattgefunden.   Dieser  Antrag  der  Sozial- 
padagogen wurde  abgelehnt.    In  der  mlindl  ichen  Begriindung  erklarte  der 
Arbeitsrichter,  daB  im  Moment  Reformen  im  Strafvollzug  nicht  moglich 
seien,  die  Antragsteller  hatten  sich  daher  so  zu  verhalten,  daB  der 
Arbeitsfriede  nicht  gestb'rt  werde.   Die  Hauptverhandlung  findet  im 
Dezember  statt.   Im  nachsten  Info  berichten  wir  dariiber. 


KAMPF  GEGEN  "GESCHLOSSENE  HEIME" 


"Seit  ca.  einem  Jahr  findet  in  Jugendbehorden  unter  wei tgehendem 
AusschiuS  der  Fachoff entl ichkei t  die  Diskussion  liber  ein  Thema  5tatt, 
das  nach  den  Erfahrungen  und  Uberzeugungen  der  letzten  10  Jahre  von 
alien  aufgeklarten  Padagogen  als  uberwunden  gait. 
Die  geschlossene  Unterbr ingung  von  Kindern  und  Jugendlichen. 

Mit  der  Begriindung,  man  mu'sse  sich  mehr  urn  Kinder  und  Jugendliche 
ktlmmern,  die  vom  vorhandenen  Jugendhi  1  fesystem  nicht  erfaBt  werden, 
bzw.  die  sich  offenen  Hi  1 fsangeboten  entzogen,  wird  unter  dem  neuen 
Etikett  "Hei Ipadagogi sche  I ntensivbetreuung"  ein  Mittel  propagiert, 
das  sich  in  der  Vergangenhei t  als  entscheidendes  Hindernis  erfolgrei- 
cher  Padagogik  erwiesen  hat. 


Das  Wiederaufleben  der  D 
Kindern  und  Jugendlichen 
scha'rfenden  gesellschaft 
bruch  der  Sozial pa dagogi 
der  70er  Jahre  ist  die  E 
fig.  bkonomische  Krise, 
Arbei  tslosigkeit  und  das 
teresse  an  neuen  erprobe 
Die  ohnehin  uberwiegend 
Jugendhi Ifesystems  werde 
tiger  Veranderungen  und 
gensatz  zu  anderen  Lande 
setzen  die  MaBnahmen  nic 
gen  der  Betroffenen  an, 
tome. 


iskussion  urn  geschlossene  Unterbri ngung  von 

ist  nur  im  Zusammenhang  mit  den  sich  ver- 
1 ichen  Problemen  zu  verstehen.  Mach  dem  Auf- 
k  in  der  Reformphase  Ende  der  60er,  Anfang 
ntwicklung  seit  einiger  Zeit  wieder  rucklau- 
allgemeine  Einschrankung  liberaler  Tendenzen, 

Bes i nnen"  auf  das  "Machbare"  haben  das  In- 
nswerten  Wegen  schwinden  lassen.... 
reaktiven  Tendenzen  des  gesamten  deutschen 
n  durch  die  Lust  losigkei  t  beziigl  ich  nachhal- 
das  Argument  "Geldmangel"  versta'rkt.  Im  Ge- 
rn  (z.B.  den  skandi nav ischen,  Holland  etc.) 
ht  prophylakt isch  in  den  Lebenszusammenhan- 
sondern  reagieren  diszi pi  in ierend  auf  Symp- 


Lage  das  Schwergewicht  der  MaBnahmen  im  prophylakt ischen  Bereich, 
wurde  das  nicht  nur  dem  Interesse  der  Betroffenen  mehr  entsprechen, 
sondern  auch  weitaus  bill iger  sein.  Denn 

-  die  Kosten  fur  Heime,  Kliniken,  psych i at ri sche  Anstalten,  Gefangnis- 
se,  Sozialhilfe  u.a.  sind  kaum  noch  zu  bremen 

-  die  Losungen  der  Probleme  werden  urn  so  schwieriger,  je  weiter  sie 
in  ihrer  Entwicklung  bereits  fortgeschri tten  sind. 

Wer  hat  ein  Interesse  daran,  Kinder  und  Jugendliche  geschlossen 
unterzubri  ngen? 

1.  Der  Ruf  nach  mehr  innerer  Sicherheit  hat  weite  Kreise  der  Bevol- 
kerung  erfaBt  und  bietet  ordnungspol i tisch  fixierten  Politikern,  Ju- 
stiz  Polizei  und  der  Biirokratie  eine  vorziigl  iche  Gelegenheit,  der 
"sanften  Tour"  soz ial padagogi scher  Jugendarbeit  ein  Ende  zu  bereiten. 
Ordnungsprinzipien,  wie  "Pf 1 icht"  und  "Anstand"  sollen  wieder  starker 

-  61  - 


an  die  Stelle  von  Kritik,  Toleranz  und  der  lei 
sel 1 schaftl ichen  Ursachen  von  Jugendproblemen 
Politiker  erkennen,  dal3  die  Jugend,  die  unter 
verscharftem  Lei stungsdruck  in  der  Schule,  Jug 
und  allgemeiner  Perspekt i velosigkei t  zu  leben 
mehr  Probleme  bereiten  wird,  als  unter  Bedingu 
peritat,  we i !  selbst  die  gesel 1 schaftl ich  konf 
bewaltigung  zum  Teil  verstellt  werden. 
Diese  politischen  Veranderungen  und  die  Knapph 
kassen  uben  einen  immer  starker  werdenden  Drue 
stration  aus,  unbequemen  Jugendl ichen  und  Kind 
St igmat isierung  und  Kr imi nal i si erung  abweichen 
kommen .  Die  geschlossene  Unterbr i ngung  lost  da 
einem  Schlag: 

Sie  schafft  (zunachst)  Ruhe  in  der  Offentlichk 
(scheinbar)  die  Trager  der  ortl ichen  Jugendhi 


digen  Frage  nach  den  ge- 

treten . 
den  Bedingungen  von 
endarbeitslosigkeit 
hat,  der  Gesel 1 schaft 
ngen  okonomi scher  Pros- 
ormen  Wege  zur  Lebens- 

ei  t  in  den  Geme  i  nde- 
k  auf  die  Soz ial admi ni - 
ern  wieder  mit  Drohung, 
den  Vernal  tens  beizu- 
bei  2  Probleme  mit 

eit  und  entlastet 
fe. 


2.  Unter  diesen  Bedingungen  wachst  die  Zahl  der  Padagogen  ,  die  aus 
Hi  1  f  losigkeit  und  Frustration  im  padagog i schen  Atltag  zu  dem  verzwei- 
fel ten  SchluB  kommen,  die  geschlossene  Unterbr ingung  als  "ultima 
ratio"  zu  fordern.  Sie  fiihlen  sich  al leingel assen  von  einer  sich  wie- 
der in  obrigkei tsstaatl ichen  Denken  formierenden  Gesellschaft  und 
mit  einem  nicht  kurzfristig  einzulosenden  sozial -emanzi pat i ven  An- 
spruch  an  sich  selbst.  Sie  erleben  zunehmend,  wie  durch  sich  ver- 
schlechternde  Arbei  tsbed  ingungen  ,  Einsparungen  und  Stel  1  enkiirzungen 
ihr  padagog i scher  Handl ungsspiel raum  immer  enger,  die  Gefahr  der 
personl ichen  Anfeindung  immer  groBer  wird. 

In  dieser  Phase  von  Perspektivlosigkei t  und  Mi ttel verknappung  wird 
von  Politikern  und  Sozial burokrati e  unerwartet  die  Bereitschaft  sig- 
nal isiert,  fur  "heil padagog ische  I ntensi vbetreuung"  immense  Mi  ttel 
bereitzustel len,  werden  Bauplane  und  Stel  lenschliissel  von  verlocken- 
der  GroBzugigkeit  vorgelegt.  Gleichzeitig  ha'ufen  sich  die  Berichte 
iiber  geschlossene  Unterbr  ingung  von  Kindern  und  Jugendl  ichen  in  Psy- 
chiatrie  und  Strafanstal t .  Warnungen  werden  laut,  die  geschlossene 
Unterbringung  auch  ohne  die  Mitsprache  der  Padagogen  zu  verwi rkl ichen. 

Nur  bei  Kenntnis  dieser  Bedingungen  ist  zu  begreifen,  warum  Padago- 
gen von  ihren  Prinzipien  abriicken  und  nach  therapeut ischen  Rechtfer- 
tigungen  fiir  das  scheinbar  Unvermei  dbare  suchen: 

Mit  der  Einrichtung  von  "Hei 1 padagog ischer  I ntensivbetreuung"  verbin- 
den  sie  die  Hoffnung,  dort.auch  "den  Problemfal len"  hel fen  zu  konnen. 
Sie  geben  sich  der  Illusion  hin,  in  der  Abgeschlossenhei t  tragfahige 
Bindungen  herstellen  und  nutzen  zu  konnen,  urn  die  Betreuten  zu  einer 
adaquaten  Handlungsfahigkei t  zu  fiihren. 

Dieser  Konzeption  muB  Nichtachtung  entscheidender  Erkenntnisse  der 

Erziehungswissenschaf t  und  verwandter  Fachdi szipl inen  vorgeworfen 

werden: 

I  Zwang  und  Therapie  sind  miteinander  unvereinbar. 

•  Bindungen  iiber  die  Dauer  des  Heimaufenthal  tes  hinaus  entstehen  nur 
da,  wo  Erzieher  durch  Hilfen  bei  der  Bewaltigung  realer  Lebenssi- 
tuationen  Vertrauen  erwerben  konnen,  wo  sie  in  kritischen  Situatio- 
nen  akzeptierbare  Alternativen  aufzeigen  und  Verstandnis  fiir  Fehler 
unter  Beweis  stel len  konnen.  Das  geschlossene  Heim  bietet  keinen 


62 


Raum  fiir  realistische  Probl  emsi  tuat  ionen  und  adequate  Bediirfn  i  sbe- 
f r  iedigung. 

Soz ial padagog i sche  Erfahrung  lehrt,  daB  Handlungsfahigkei t  nur 
durch  Erleben  und  Handeln  erworben  wird.  Lernen  durch  Handeln  setzt 
ein  real i st i sches  Lernfeld  voraus,  das  schon  die  offene  Heimerzie- 
hung  kaum  zureichend  berei tstel 1  en  kann  ( I nsel padagog i k) .  Die  Be- 
dingungen der  geschlossenen  Unterbringung  reduzieren,  verandern  und 
verzerren  die  Umwelt  der  Kinder  und  Jugendl i chen.  In  geschlosse- 
nen  "totalen"  Inst i tut ionen  kann  kein  Verhalten  gelernt  werden, 
das  brauchbar  fur  das  Leben  von  Erwachsenen,  Jugendl i chen ,  Kindern 
in  unserer  Gesellschaft  ist.  Stattdessen  werden  solche  Uberlebens- 
techniken  erworben,  die  nur  relevant  sind  fur  das  Uberleben  unter 
geschlossenen  Bedingungen  (Vorberei tung  auf  den  Knast). 


Wenn  unter 
Hilfen  fur 
bei  diesen 
sche  Einric 
Kern  nichts 
sich  schl ic 
letztes  Mi  t 
•  wenn  Pada 

ihrer  Mog 
t  wenn  es 

gebl ich  e 
t  wenn  s  i  ch 

laufern  u 

will. 


den  Bedingungen  abg 
die  Betroffenen  zu 
geplanten  Heimen  un 
htungen.  Was  als  In 

mi  t  der  Not  der  Be 
ht  urn  den  Tatbestan 
tel  eingesetzt  werd 
gogen  -  aus  we Ichen 
chkeiten  angelang 
n  Phantasie  fehl t  u 
rschopft   sind, 

die  Of fentl ichkei  t 
nd  kleinen  Dieben  a 


eschlossener  Unterbringung  keine  echten 
erwarten  sind,  dann  handelt  es  sich 
d  Abteilungen  auch  nicht  urn  padagogi- 
tensivhilfe  bezeichnet  wird,  hat  im 
troffenen  zu  tun,  sondern  es  handelt 
d  von  Fre ihei tsberaubung,  der  dann  als 
en  sol  1  , 

Grl'nden  auch  immer  -  an  den  Grenzen 
t  si  nd , 
nd  die  materiel len  Voraussetzungen  an- 

jugendl ichen  Storern,  Schlagern,  Weg- 
uf  relativ  einfache  We i se  entledigen 


Wir  appellieren  an  alle  Erzieher,  Sozia 1 padagogen  und  Erz i ehungswi s- 
senschaftler,  an  die  gesamte  Fachoffentl ichkei t ,  sich  nicht  fiir  eine 
padagogi sch-therapeut i sche  Verbramung  miBbrauchen  zu  lassen;  auch 
nicht  nach  dem  Motto:  "Wenn  wir  die  Einrichtung  geschlossener  Heime 
schon  nicht  verhindern  konnen,  wollen  wir  wenigstens  auf  eine  qua  1 i - 
fizierte  Ausstattung  drangen".  Hier  wird  ein  moral ischer  Druck  er- 
zeugt,  der  mit  der  Verantwortung  fiir  die  betroffenen  Jugendl  ichen  ar- 
gumentiert,  letztlich  aber  den  realen  Sachverhalt  verschleiern  hilft. 

Wir  wollen  nicht  verleugnen,  daB  es  Kinder  und  Jugendl iche  gibt,  die 
die  padagogische  Arbeit  eines  Gruppenerzi ehers  zunichte  machen,  de- 
nen  Padagogen  nicht  gewachsen  sind,  fiir  die  Erzieher  kaum  mehr  die 
Verantwortung  ubernehmen  konnen.  Es  ist  dringend  notwendig,  sich  die- 
ser Probleme  anzunehmen  und  Losungen  zu  finden,  die  jedoch  nicht  nur 
die  Erzieher  von  unertragl ichen  Belastungen  befreien,  sondern  eine 
wirkliche  und  nachweisbare  Hilfe  fiir  die  Betroffenen  sind. 

Sozial padagogi 5 che  Arbeit  muB  starker  als  bisher  praventiv  ansetzen, 
will  sie  sich  nicht  in  einer  ohnmachtigen  Handwerkelei  an  Fehlent- 
wicklungen  erschopfen.  MuB  das  fur  alle  Zeiten  eine  fruchtlose  For- 
derung  der  Fachleute  bleiben?  Und  warum  eigentlich? 

Wer  glaubt,  weglaufende  Jugendl iche  aus  padagogi scher  Verantwortung 
hinter  SchloB  und  Riegel  bringen  zu  mussen,  sollte  priifen,  was  hmter 
dem  steckt,  was  er  "Verantwortung"  nennt. 
Die  Rede  von  der  Verantwortung  wird  zur  bloBen  Rational ( s lerung  eines 


63 


Herrschaf tsanspruches,  der  von  den  Inst 
durchsetzt,  vermittelt  uber  das  Handel  n 
die  in  der  Zwickmuhle  zwischen  schlecht 
kation  mit  den  vorgegebenen  Strukturen 
lische  Verpfl  ichtung  aus  den  Augen  zu  v 
der  kritischen  Aufklarung  der  b'ffentl  ic 
tiefgreifender  Veranderungen  im  gesamte 
stehen. 

Sollen  wi r  unsere  offenbare  Unfahigkei t 
Jugendlichen  padagogisch  umzugehen,  in 
Kinder  umsetzen?  (Wi r  sperren  sie  ein  b 
wir  wirklich  dazu  fahig?  1st  das  alles 
die  das  vorant rei ben,  beschonigen,  bema 

br  i  ngen  

Was  sind  das  fur  Leute?  Sozial padagogen 


tutionen  ausgeht  und  sich 
der  padagogi schen  Akteure, 
em  Gewissen  und  Tei 1 identif i- 
drohen,  ihre  eigent] iche  mora- 
erlieren.  Diese  kann  nur  in 
hkeit  Liber  die  Notwend igkei t 
n  System  der  Jugendhilfe  be- 

mi t  dtesen  Kindern  und 
Aggressi vi tat  gegen  diese 
is  sie  kapi tul ieren!)  Sind 
was  uns  einfallt?  Und  jene, 
nteln,  in  burgernahe  Begriffe 


?" 


Jutta   Anders,    Berlin   •   Wolfgang    Bauerle,    Frankfurt   •    Egon   Halbleib, 
Frankfurt   •    Hanna    Kotowski,    Berlin  •   Barbara    Kubale,    Marburg  • 
Gunter   Menkel ,    Berlin  •   Gerhard   Muller,    Frankfurt   •   Dieter   Neander, 
Dortmund   •    Irmgard    Pi  orkowski-Wilhr ,    Heppenheim   •   Jiirgen   Schmitz, 
Berlin  •   Erhard   Wedekind,    Koln  •   Barbara   Wolf-Kunze,    Berlin 


Heimerziehung  -  Heimplanung 


■Dokumentation  einer  Ausstellung  — 


* 


Herausgeber:  Internationale  Gesellschaft  fur  Heimerziehung  —  IGfH  — 

in  Zusammenarbelt  mil  Benlta  von  Perbandt 
Konzeptlon  und  Inhalt:  P.  Flosdorf,  I.  Joachim,  K.  H.  Marcinlak,  B.  v.  Perbandt 
Format  30  x  31  cm,  134  Selten,  kartonlert  DM  17,— und  2.50  DM  Versandkosten 
zu  bezlehen  uber:  Internationale  Gesellschaft  fur  Heimerziehung,  B  Frankfurt/Main  71,  Heinrlch-Hollmann-btr.3 

Die  Nachfrage  nach  Planungsgrundlagen  fOr  den  Heimbau,  nach  Anregungen  fur  Details  unci  nach  Belsplelen, 
die  nlcht  nur  Grundrlsse  zelgen,  sondern  auch  erkennen  lassen,  ob  und  welche  padagoglschen  Oberlegungen 
vorangegangen  sind,  flihrte  zu  dem  Vorhaben,  den  Themenbereich  .Heimerziehung  —  Heimplanung  emmal 
grundsatzllcher  zu  bearbelten  und  In  einer  Ausstellung  und  Dokumentation  zu  problematisieren. 
Die  Internationale  Gesellschaft  fur  Heimerziehung  (Sektlon  Bundesrepublik  Deutschland  In  der |FICE]  ubemahm 
bel  dlesem  Arbeltsvorhaben  die  Federfuhrung,  Vertreter  der  Spltzenverbande  der  freien  Wohlfahrtsptlege  und 
der  Arbeltsgemelnschaft  fur  Erzlehungshilfe  (AFET)  blldeten  ein  beratendes  Gremium.  der  Bundesmlnister  fur 
Jugend.  Famllie  und  Gesundheit  ffirderte  und  ein  interdlsziplinares  Team  erarbeitete  die  Ausstellung,  die  im 
Herbst  1973  In  Darmstadt  und  Im  Herbst  1974  In  WQrzburg  von  rd. 6000  Personen  —  vorwlegend  Fachleute  aus 
dem  In-  und  Ausland  —  besucht  wurde. 

Der  vorllegande  Band  ist  die  Dokumentation  dleser  Ausstellung.  Das  Buch  profitiert  von  dem  Zwang  zur  Vlsua- 
llslerung,  den  das  Medium  Ausstellung  mit  slch  brachte.  □berslchtliche  Graflken,  kurze  Texte,  Ablautdlagram- 
me,  Fotos,  Zeichnungen  von  Grundrlssen  und  Interpretatlonen  dazu,  Anleltungen  zu  verschiedenen  Planspielen 
und  zur  Planungsmethodlk,  Interpretatlonen  konkreter  Modelle,  z.  B.  des  Bettelhelmschen  Heimes  in  Chicago, 
fuhren  den  Loser  in  dBn  Zusammenhang  von  padagogischer  Konzeptlon  und  Planung  ein  und  geben  uber  Pla- 
nungschancen  Auskunft.  Elne  Kritlk  der  verschiedenen  Planungsverfahren  ermSgllcht  elne  bewulite  Auseinan- 
dersetzung  mit  den  darln  enthaltenen  Rlslken. 

Die  Bedeutung  von  Kommunikationsberelchen,  der  ElnlluB  von  Raumen  und  Sachen  auf  menschliches  Verhal. 
ten,  werden  dlskutlert.  Elnzelne  Erzlehungslnstltutlonen  werden  anslysiert  und  hlerbei  sowohl  padagoglsche 
als  audi  baullche  Konzeptlonen  entfaltet  und  mltelnander  vergllchen.  Dies  ermoglicht  dem  Leser  elne  Dbertra- 
gung  auf  konkrete  Praxlsprobleme,  ganz  glelch  ob  es  slch  hlerbei  urn  groBe  Oder  klelnere  Neubauvorhaben. 
Umbauten,  Veranderungen  oder  urn  die  Nutzung  einer  Moblierung  handelt. 

Das  Buch  Ist  ein  unverzichtbarer  Heifer  fur  alle  verantwortllchen  Trager  und  Mltarbelter  im  Berelch  der  Heim- 
erziehung. 


Jugendliche  vora  Jugendhof  in  Odenthal 
KLEVER  HOF  -  DER  KAMPF  GEHT  WEITER 


18.  MAI  1977:  lo.  RUNDE 

Der  offene  Kampf  mit  gewalttatigen  Mitteln  gegen  den  Jugendhof  des 
Vereins  Kol lektiv  e.V.   in  Odenthal    (bei   Koln)  fand  mit  dem  Polizei- 
uberfall   vom  18.  Mai   1977  vorlaufig  ein  Ende.   Da  sich  diese  Aktion 
als  Bjmerang  erwies,  gingen  Behb'rden,  Parteien  und  Verbande,  die  uns 
bekampfen,  zu     'feinsinnigeren'  Methoden  liber.  Seit  dem  18.  Mai  wird 
aus  dem  Hinterhalt  geschossen. 

Kurz  zur  Erinneriing:   Im  Zuge  der  Fahndung  nach  dem  mutmaBlichen  Buback- 
Attenta'ter     Christian  Klar  wurde  der  Jugendhof  am  Morgen  des  18.  Mai 
von  rund  100  Polizisten  (Sonderkommando,  Kripo  und  Schutzpolizei) 
uberfallen. 

Eine  bei   ahnlichen  Ereignissen  vorher  noch  nie  dagewesene  Empbrung 
in  Presse,  Rundfunk,   Fernsehen  und  Bevblkerung  gegen  das  brutale 
Auftreten  der  Polizei   auf  dem  Jugendhof  verunsicherte  die  in  ver- 
schiedenen Amtern  und  Parteien  sitzenden  Gruppierungen,  die  bis  dahin 
geglaubt  hatten,  sie  kdnnten  unter  dem  Vorwand  der  Terroristenjagd 
mit  der  alten  Kopf-ab-Methode  eine  Einrichtung  beseitigen,  die  ihnen 

miBfallt. 

Da  die  'Keule'  nicht  getroffen  hatte,  ging  es  uber  zur  2.  Runde: 

Die  Baupolizei  und  die  Brandschutzkommission  wurden  eingeschaltet. 

Die  Koiimission  stellte  fest,  daB  die  Elektroanlage  des  Jugendhofes 

insgesamt  erneuert  werden  muB,  Kostenpunkt:  ca.   20  000  Mark.  Auch 

dieser  Schlag  ging  ins  Wasser:   inzwi schen  verpfl ichtete  sich  die 

'Neue  Heimat',  die  Anlage  kostenlos  zu  erneuern. 

Runde  3:Die  Kriminal polizei   gibt  der  brtlichen  Presse  Mi tteilungen, 

in  denen  steht,  daB  auf  dem  Jugendhof  wertvolles  Diebesgut  gefunden 

worden  sei. 

Runde  4:  Von  Innenminister  Dr.  Hirsch  (NRW)  angefangen  behaupten  alle 
offizi'ellen  Stellen,  daB  der  Jugendhof  uber  den  Ablauf  der  Polizei- 
aktion  Lugengeschichten  verbreite;  frei   nach  dem  Motto:   die  haben 
sich  selbst  das  Haus  angeziindet. 

Dies  la'Bt  sich  beliebig  fortsetzen.   Die  systematische  Verunglimpfung 
des  Jugendhofes  ist  eine  Form  der  'Heckenschutzen-Taktik' .   Eine  wei- 
tere  Erscheinungsform  dieses   'politischen'   Mittels  ist  der  Versuch, 
dem  Jugendhof  Gelder  zu  entziehen  oder  vorzuenthalten. 
Eine  Entscha'digung  fur  die  Schaden,  die  die  Polizei   ben   lhrem  Ennsatz 
am  18    Mai  anrichtete,  wurde  dem  Jugendhof  bis  heute  mcht  gezahlt. 
Ein  vom  Jugendhof  beauftragter  Gutachter  stellte  fest,  daB  an  Mobnli- 
ar  und  Haus   (Fenster,  Turen  etc.)   ein  Sachschaden  in  Hone  von 
DM  7  000.--   (siebentausend  Mark)  entstand.   In  dieser  Summe  sind 
Schmerzensgelder,  Arzthonorar  (ein  psychiatrisches  GutachtenmuBte 
erstellt  werden)  und  sonstige  Unkosten,  die  durch  den  Polizeieinsatz 


-  65 


entstanden,   nicht  enthalten.    Insgesamt  schatzt  der  Anwalt  des  Jugend- 
hofes  die  Hbhe  der  Entschadigungssumme,   die  der  Regierungsprasident 
Koln  als  verantwortliche  Stelle  zahlen  muB,  auf  rund  10  000.-  DM  ein, 
unberucksichtigt  der  Tatsache,   daS  der  wirkliche  Schaden  damit  nicht 
voll   gedeckt  ist.   Nur  sind  wir  inzwischen  so  weit,  daB  wir  die  Hoff- 
nung  auf  eine  voile  wirtschaftliche  Entscha'digung  aufgegeben  haben. 

Aufgegeben  haben  wir  auch,  die  b'ffentliche  Rehabilitation  des  Jugend- 
hofes  zu  erreichen.   Hierzu  nur  ein  Satz:   "Ich  sehe  nicht  ein,  daB 
wir  uns  noch  zusatzlich   entschuldigen",sagte  NRW-Minister  Hirsch. 
Obersehen  hat  der  Herr  Minister  dabei,  daB  sich  noch  nie  jemand  ent- 
schuldigt  hat.  Bis  heute  erklarte  auch  noch  keine  offizielle  Stelle, 
daB  Klar  nie  bei   uns  war.  Der  ausgesprochene  Verdacht  steht  immer 
noch  unwidersprochen  im  Raum.   Da  ist  es  m'cht  verwunderlich,  daS  im 
Zusammenhang  mit  der  Schleyer-Entfuhrung  wiederholt  Staatsschutz  und 
Sonderkommando  Schleyer  (Soko)  aus  Koln  den  Jugendhof  belastigten. 
Diesmal   kamen  die  Fahnder  allerdings  Liberaus   'zivil'    -  nach  Marke 
'James  Bond'   oder  bieder  wie  der  Inhaber  eines   'Tante-Emma-Ladens' . 


DAS  CARITATIVE  HANDCHEN  DES  REGIERUNGSPRASIDENTEN 

Im  Jul i   1977  rechneten  wir  den  Abgesandten  des  Regierungsprasidenten 

(RP)  unsere  Kosten  vor.   Die  Antwort  auf  unsere  Rechnung  von 

DM  7  000.  —  :  die  Polizei   sei  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  daB  sie  nur 

einen  Schaden  in  Hbhe  von  DM  700.--  angerichtet  habe.  Also  ein  Zehn- 

tel.   Doch  der  RP,  so  lieBen  die  Behbrdenvertreter  wissen,  wolle  sich 

groBzligig  zeigen.   Der  RP  bffne  sein  caritatives  Handchen  und  lasse 

2  700.-  DM  in  unsere  Kasse  klingeln. 

Der  Jugendhof  lehnte  dieses  Angebot  dankend  ab. 

Die  Verhandlungen  liber  die  Wiedergutmachung  sind  seitdem  kaum  einen 

Schritt  weitergediehen.   Das  bedeutet,  daB  wir  auf  das  Geld,  das  fiir 

die  Beseitigung  der  Schaden  gebraucht  wurde  und  gebraucht  wird,   noch 

heute  warten  und  Monate  warten  werden. 

Ohne  die  ideelle  und  praktische  Hilfe  zahlreicher  Freunde  sa'Ben  wir 

noch  heute  vor  einem  Trummerhaufen. 

(Hinweis:  Als     Lekt'u're  empfehlen  wir  zum  18.  Mai  die  Septemberausga- 

be  der  Zeitschrift   'konkret'.   Auf  Seite  20  dieser  Ausgabe  ist  eine 

Darstellung  des  Kblner  Polizeiprasidenten  Hosse  zu  den  Vorfallen 

sowie  die  entsprechende  Antwort  darauf  von  Dr.   Klaus  Traube  abgedruckt, 

dem  Burger,  der  durch  die  'Wanzenaffare'    bekannt  wurde.) 


POLITIK  AUS  DEM  HINTERHALT:  1.  ART 

Da  das  technisch  perfektionierte  Terroristenkommando  den  Jugendhof 
nicht  schaffen  konnte,  haben  die  CDU  des  Rheinisch-Bergischen  Krei- 
ses  und  ihre  Freundeskreise  ihre  alten  Vorderlader  aus  der  Kommode 
geholt  und  schieBen  aus  dem  Hinterhalt. 

Am  3.  Januar  1975  stellte  der  Verein  Kollektiv  e.V.  erstmals  den  An- 
trag  auf  Anerkennung  nach  Paragraph  9  des  Jugendwohlfahrtsgesetzes 
(JWG).  Eine  Anerkennung  bedeutet,  daB  der  Jugendhof  dann  geniigend 
Geld  erhalt,  um  den  Jugendhof  zum  Wohle  der  dort  lebenden  Jugendli- 
chen  und  jungen  Erwachsenen  zu  fiihren.  Dieser  erste  Antrag  wurde 
schlicht  untergebuttert. 

-  66  - 


Am  26.   November  1976  stellte  der  Verein  de 
nach  §  9  JWG  erneut. 

Mit  wohlfeilen  Tricks  verstand  es  die  CDU, 
schen  Kreis  die  absolute  Mehrheit  innehat, 
ren  Antrag  bis  zum  26.  September  1977  hina 
die  Christdemokraten,  urn  die  Vertagung  Libe 
Antrages  zu  begriinden,  zum  Vorwand,  daB  ei 
des  Jugendhofes  den  Hof  verlassen  habe.  Du 
de  sich  nun  doch  jetzt  alles  in  der  Schweb 
genheit  wurde  unser  Antrag  aufgrund  des  Po 
kurz  nach  dem  18.  Mai)  erst  gar  nicht  auf 
gendwohlfahrtsausschusses  (JWA)  des  Rheini 
setzt. 

Dann,  am  20.  Juni   1977,  traf  den  Jugendhof 
Schlag:   der  erste  Vorsitzende  des  Vereins 
Dbrken,   starb  bei   einem  Autounfall    in  den 
Jetzt,  so  lieBen  uns  die  Herren  der  CDU  wi 
vollkommen  im  Argen.    Der  Vorsitzende  des  V 
halb  sei   der  Verein  nicht  mehr  rechtskraft 


n  Antrag  auf  Anerkennung 

die  im  Rheinisch-Bergi- 
die  Abstimmung  Uber  unse- 
uszuzbgern.   Einmal   nahmen 
r  die  Beratung  unseres 
n  langjahriger  Mitarbeiter 
rch  diesen  Ausfall   befin- 
e.   Bei   der  n'a'chsten  Gele- 
lizeiliberfalles   (es  war 
die  Tagesordnung  des  Ju- 
sch-Bergi schen  Kreises  ge- 

ein  schwerer  person! icher 
Kollektiv  e.V.,  Walter 
Tr'ummern  seines  Wagens. 
ssen,  sei   doch  wohl   alles 
ereines  sei  tot  und  des- 

ig- 


Nun:   trotz  aller  Hemmschuhe  und  Tricks  gelang  es  uns(in  muhseliger 
Kleinarbeit  alle  Vorschriften  zu  erfiillen,   die  verlangt  wurden,  urn 
eine  Beratung  im  JWA  zu  erreichen.   Da   keine  neuen  GrLinde  fur  eine 
weitere  Vertagung  gefunden  werden  konnten,   stand  unser  Antrag  am 
26.9.1977  endlich  auf  der  Tagesordnung  des  JWA,  nichtbffentlicher 
Teil   der  Sitzung.   Abends  rief  der  Leiter  des  Kreisjugendamtes ,  Hans 
van  Geldern,  auf  dem  Jugendhof  an  und  teilte  uns  mit,  daB  unser  An- 
trag abgelehnt  worden  sei.   GrLinde  wollte  er  nicht  nennen. 
Die  offizielle  Begrundun  g  erhiel ten  wir  erst  am  4.   Oktober  1977, 
nachdem  wir  uns  am  3.   Oktober  bei   der  Verwaltungsspi tze  des  Kreises 
beschwert  hatten. 

In  der  Zwischenzeit  hatten  wir  jedoch  in  geheimdienstahnlicher  Klein- 
arbeit aus  verschiedenen  Quellen  einige  Informationen  Liber  den  Ab- 
lauf  der  Sitzung  des  JWA  erfahren.   Denn  obwohl   die  Damen  und  Herren 
des  Ausschusses  zu  strengstem  Stillschweigen  uber  den  Verlauf  der 
nichtbffentlichen  Sitzung  verdonnert  worden  waren,   lieB  mancher 
[ranches  durchblicken. 

Abgelehnt  wurde  unser  Antrag  mit  9  zu  4  Stimmen.  Die  CDU  hat  im 
JWA  5  Stinmen,  die  SPD  3  Stimmen  und  die  freien  Verbande  5.  Die 
FDP  war  zu  der  Sitzung  nicht  erschienen. 

Die  CDU,  das  DRK,   die  Kirche,  die  Caritas  und  die  Sportjugend  stimm- 
ten  gegen  uns.   Fiir  uns  stimmten  die  SPD,  sowie  der  Deutsche  Parita- 
tische  Wohlfahrtsverband  und  die  Arbei terwohlfahrt,  die  sich  im  JWA 
eine  Stimme  teil  en  mu'ssen. 

In  der  CDU  herrschte  Fraktionszwang.   Eine  CDU-Dame  gab  zwar  kund, 
daS  sie  sich  das  Recht  der  freien  Entscheidung  wahren  wolle,  beugte 
sich  dann  aber  doch  dem  Druck  ihrer  Parteikollegen;  nach  "reifli- 
cher  uberlegung",  wie  sie  wissen  lieB.   Diese  Ausrede  fu'hrte  sie  wohl 
an     urn  ihren  Mangel  an  Zivilcourage  und  die  Unmbglichkei t  demokra- 
tischen  Entscheidens  innerhalb  der  CDU  zu  verschleiern. 

Da  formelle  oder  juristische  Grunde  zur  Begrundung  einer  Ablehnung 
nicht  greifbar  sind,  griff  die  CDU  in  ihre  Trickkiste  und  konstru- 
ierte  Ablehnungsgrunde,  die  -  auf  einen  Nenner  gebracht  -  sich  aus- 


67 


schlieBlich  an  der  Person  Heinz  FaBbender,  einem  Mitbegrunder  des 

Jugendhofes,  aufhangen. 

Im  Ablehnungsbescheid  heiBt  es: 

"1.  Unter  den  gegebenen  Umstanden  wird  eine  Anerkennung  des  Vereins 

Kollektiv  e.V.  abgelehnt. 
2.  Eine  erneute  Beratung  und  BeschluBfassung  im  JWA  soil  erfolgen, 
wenn  der  Verein  Kollektiv  e.V.  sich  verbindlich  dazu  erklart, 

daB... 

a)   der  als  "Erzieher"  tatige  Herr  FaBbender  nicht  mehr  im 
Jugendhof-Klev  als  Erzieher  arbeitet..." 

In  einer  achtseitigen  Begrlindung  wird  dann  angefuhrt,  daB  Heinz  FaB- 
bender mehrfach  vorbestraft  sei .  Auch  habe  der  Jugendhof  inclusive 
seiner  Verantwortlichen  Heinz  FaBbender  und  Peter  Halberkann  mehr- 
fach im  Blickpunkt  der  Offentlichkeit  gestanden.  Angefuhrt  werden 
dazu  im  wesentlichen:   Besuch  des  Jugendhofes  beim  Oberkreisdirektor 
des  Rheinisch-Bergischen  Kreises   (siehe  2.  Akt);  Streitigkeiten  mit 
einem  Nachbarn  des  Jugendhofes;  ZusammenstbBe  mit  der  Polizei. 
Die  Streitigkeiten  mit  dem  Nachbarn  wurden  durch  einen  gerichtlichen 
Vergleich  beigelegt.   Bezuglich  der  ZusammenstbBe  mit  der  Polizei   lau- 
fen  noch     zwei  Strafanzeigen  des  Vereins  Kollektiv  e.V.   gegen  Poli- 
zei beamte  wegen  des  Verdachts  der  Kbrperverletzung  im  Ant  pp. 
Die  CDU  schluBfolgert  in  ihrer  Begrlindung  daraus:   Heinz  FaBbender  ha- 
be nicht  verhindert,   daB  sich  Jugendliche  strafrechtlich  relevant 
verhalten.   Weiter  veranlasse  er,  daB  sich  Jugendliche  gegen  die  be- 
stehende  Rechtsordnung  auflehnen. 

Wbrtlich  heiBt  es  dann:  "Die  Bedenken  gegen  die  Anerkennung  des  Kol- 
lektiv e.V.  haben  ihre  Grundlage  in  der  Stellung  dieses  fur  den  Ein- 
satz  im  Bereich  der  Jugendhilfe  ungeeigneten  Mannes  im  Vorstand  die- 
ses Vereins."  (Anmerkung:  Heinz  FaBbender  ist  stellvertretender  Vor- 
sitzender). 

Der  sogenannten  Begrlindung  fehlt  auch  nicht  der  Hinweis,  daB^eine 
Anerkennung  nur  erfolgen  d'u'rfe,  wenn  die  Arbeit  des  Tragers  ver- 
fassungskonformen  Zielen"  diene. 

Das  bedeutet,  daB  die  CDU  zum  schmutzigsten  Trick  uberhaupt  gegrif- 
fen  hat,  um  den  Jugendhof  kaputtzumachen.  Sie  sagt,   daB  der  Hot  we- 
gen dieser  einen  Person  nicht  anerkannt  werden  kbnne.   Dies  in  der 
miesen  Hoffnung,  daB  sich  die  Leute  des  Jugendhofes  s pal  ten  und  den, 
der  gemeint  ist,  zum  Teufel  jagen    oder  daB  dieser  selbst  das  Hand- 
tuch  wirft  und  aufgibt.   Diese  Rechnung  wird  jedoch  nicht  aufgenen. 
Denn  urn  dem  Kalklil  der  CDU  folgen  zu  kbnnen,  miiBten  wir  zunachst 
einmal  das  Intrigantenspiel   lernen;  jenes  Gesellschaftsspiel ,  das 
von  unseren  Damen  und  Herren  Politikern  so  gehegt  und  gepflegt  wird. 

In  der  Praxis  bedeutet  die  Begrlindung  der  Ablehnung  fur  Heinz  FaB- 
bender ein  Berufsverbot  oder  eine  noch  auf  lange  Dauer  anhaltende 
finanzielle  Schleuderpart ie  des  Jugendhofes  nahe  am  Abgrund.  Und 
sollte  es  uns  doch  gelingen,  auf  juristischem  Wege  die  Unhaltbarkeit 
dieser  Begrlindung  zu  beweisen,  hat  die  CDU  eine  neue  gezinkte  Karte 
in  der  Hinterhand:   das  bbse  Gesicht  des  Verfassungsfeindes. 


68 


2.  AKT 

Urn  ihre  Rachegelliste  zu  befriedigen,   scheut  die  CDU  selbst  vor  dem 
hinterhaltigsten  Mittel   nicht  zuruck.  Rachegeliiste  hegt  die  CDU, 
weil  der  Landrat  dieses  Kreises,  Dr.   Konrad  Kraemer  (CDU),   im  von- 
gen  Jahr  vor  dem  Kblner  Verwal tungsgericht  erklaren  muBte,   daB  er 
nicht  mehr  weiter  verbreitet,  daB  der  Jugendhof  ein  'sozialisti- 
sches  Agitationsaktiv' ,  eine  ' Agit-Prop-Gruppe'   sei,  was  auch  irmier 
er  damit  meint.    Weiter  wurde  ihm  untersagt,   zu  behaupteten,  daB  der 
Jugendhof  ' Berge  von  Kampfschriften1   etc.   verbreite.   Dies  zum  Hin- 
tergrund. 

Mit  einer  Ablehnung  unseres  Antrages  gab  sich  die  CDU  in  der  Sitzung 
des  JWA  am  26.9.77  nicht  zufrieden. 

Am  Amtsgericht  Bergisch  Gladbach  hat  der  Richter  Hebborn  einen  BuB- 
geldfonds  geschaffen,   dessen  Gelder  nach  den  eigenen  Worten  des  Rich- 
ters  denen  zukommen  sollen,   die  grbBtenteils  vor  Gericht  stehen: 
sozial  benachteiligten  Gruppen. 

Aus  diesem  Fonds  erhielt  auch  der  Jugendhof  1976  einmal  Geld  fur 
Strom,   Briketts  usw. 

In  der  Sitzung  des  JWA  stand  nun  Dr.   Hugo  Koerth  (SPD)   auf  und  be- 
schwerte  sich  daruber,  daB  ein  Musikverein,  den  er  wohl  mitbetreut, 
vor  langerer  Zeit  einmal    beim  Amtsrichter  Hebborn  einen  ZuschuB  fur 
ein  Cembalo  beantragt  habe.   Hebborn  habe  kein  Geld  gegeben.  Aber 
der  Jugendhof. 

Die  CDU  griff  diesen  Hinweis  des   beleidigten  Musikfreundes  dankbar 
auf    Allen  voran  skandierte  der  Karri ere-Jungling  der  Kreis-CDU, 
Wolfqang  Bosbach   (24),  in  hochsten  Tbnen,  daB  er  einfach  entsetzt 
sei-    "Ich  bin  am  Rande  des   Entsetzens.  Als  der  Klever  Hof  in  Schwie- 
riqkeiten  war  und  auf  Geld  vom  Kreis  wartete,  fiel   das  Wort  BuBgeld. 
Sicher  wurde  da  gezahlt."   (Zitat  entnommen  dem  'Kblner  Standtanzei- 
qer'    (Ausgabe  Bergisches  Land)   vom  28.9.1977).    Die  CDU     stlirzt  nun 
den  Amtsrichter  Hebborn  in  den  bbsen  Verdacht,  ein  Jugendhof-Sympa- 
thisant  zu  sein  -  und  damit  schon  beinane  ein  Anarchisten-Sympathi- 
sant.    Hebborn  wird  dazu  verdonnert,   vor  dem  AusschuB  Bericht  liber 
die  Vergabe  der  Gelder  des  BuBgeldfonds  zu  erstatten. 
Worauf  das  hinauslauft  ist  klar.    Die  CDU  unternimmt  nach  erfolgter 
Ablehnung  des  Antrages  auf  Anerkennung  nach  §  9  JWG  den  Versuch, 
dem  Jugendhof  einen  Geldhahn  nach  dem  anderen  abzudrehen,  damit  der 
Hof  mbglichst  schnell   finanziell   ausblutet. 

Der  Angriff  auf  den  Richter,  der  sich  ' erdreistete' ,  dem  Jugendhof 
Licht-   und  Heizgeld  zu  geben,  muB  weiter  erklart  werden: 
Amtsrichter  Hebborn  hatte  am  16.   September  1977  uber  zwei  Verantwort- 
liche  des  Jugendhofes  zu  Gericht  zu  sitzen:    Heinz  FaBbender  und 
Hans  Stendel,  der  nicht  mehr  auf  dem  Jugendhof  arbeitet,  muBten  sich 
weaen  Hausfriedensbruch  verantworten. 

Was  war  qeschehen:  Genau  ein  Jahr  davor,  am  16.9.1976,  stand  der  Ju- 
aendhof  kurz  vor  seiner  SchlieBung.    Der  Strom  war  abgestellt     das 
Uasser  sollte  innerhalb  der  nachsten  Tage  abgedreht  werden,  Lebens- 
mittel   (Kartoffeln  und  ein  paar  Kohlkbpfe)   reichten  fur  noch  hoch- 
stens  drei  Tage.  AuBer  15  Jugendlichen  muBten  zwei   Babys  versorgt 

In^eser  hochsten  Not  gingen  alle  Bewohner  des  Jugendhofes  am 
16. 9. 76  zum  Oberkreisdirektor  des  Rhein.-Berg.   Kreises,  Dr.  Walter 

-  69  - 


Scholtissek   (CDU),  urn  diesem  Mann  ihre  Notlage  zu  schildern.   Der 
hohe  Mann  war  nicht  in  seinem  BLiro.   Also  setzten  sich  die  Besucher 
in  sein  Zininer,  urn  auf  ihn  zu  warten.   Anstelle  des  Oberkreisdirek- 
tors  erschien  jedoch  plotzlich  Pol i zei    und  warf  die  Jugendlichen  mit 
erheblicher   kbrperlicher  Gewalt   (Atteste  liber  die  Verletzungen  der 
Jugendlichen  liegen  vor)   aus  dem  Kreishaus.    Einige  Tage  spa'ter  erstat- 
tete  Scholtissek  Anzeige  wegen  Hausfriedensbruch. 
Am  Jahrestag  dieser  als   "Pel  lkartoffelaktion"   in  die  Geschichte  des 
Jugendhofes  eingegangenen  Aktion  stellte  das  Gericht  unter  Vorsitz 
des  Richters  Hebborn  mit  sofortiger  Zustimmung  des  Staatsanwal tes 
das  Verfahren  ein. 

Das  bedeutet:  die  fur  den  Kreishausbesuch  verantwortlichen  Jugendhof- 
bewohner  wurden  nicht  bestraft.    Das  schmeckte  der  CDU   nicht.    Der 
Kommentator  der  CDU-Postille  "Bergische  Landeszei tung"    (Ausgabe  der 
"Kolnischen  Rundschau"  fur  den  Rhein.-Berg. Krei s)    lamentierte  darob 
Liber  "wieder  einmal    verheizte"    und  "zur  Drecksarbeit  benutzte"   Poli- 
zisten. 

Da  sich  die  Herren  Politiker  nicht  trauen,  often  gegen  ein  Urteil 
vorzugehen   (vielleicht  mit  einer  schnellen  Anderung  der  Gesetzgebung 
innerhalb  der  Grenzen  des  Rhein.-Berg. Kreises) ,  dass  von  einem  unab- 
hangigen  Gericht  gesprochen  wurde,  wahlen  si e  den  schmierigen  Weg: 
"Urteilsschelte"  betreibt  die  CDU  nicht,   steht  im   ' Stadtanzeiger ' . 
Doch:    "Ich  ahne  Fiirchterl  iches.  Und  ahnen  darf  ich  doch?"  fragt  be- 
kannter  Bosbach  (CDU)  mit  der  Miene  eines   Ehrenmannes.   Kurzum: 
Richter  Hebborn  sei   befangen,  weil   er  dem  Jugendhof  einmal   geholfen 
hat. 

So  wird  ein  Mann,  der  entgegen  dem  bffentlichen  Druck,  der  hauptsach- 
lich  von  der  CDU  betrieben  wird,  ein  Verfahren  eingestellt  hat,an- 
statt  zu  bestrafen,  dffentlich  als   'korrupt'   diffamiert.   Wobei  die 
Frage  erlaubt  sein  darf,  welche  Mittel  wir  haben  kbnnten,   um  jeman- 
den  zu  korrumpieren. 

Bezweckt  wird  mit  einer  derartigen  Hintertreppenpol  i  ti  k,  daB  die 
wenigen,  die  in  unserem  Kreis  noch  den  Mut  haben,   eine  Einrichtung 
wie  den  Jugendhof  zu  unterstlitzen,   klar  wissen:   "Du  wirst  abgeschos- 
sen."  Zumindest  wird  ein  Mann  wie  Richter  Hebborn  bffentlich  in  Mil3- 
kredit  gebracht.   Denn:   dieser  Mann  lebt  in  diesem  kreis,   hat  Nach- 
barn,   Bekannte  und  sicher  auch  seine  Stammkneipe;   seine  Frau  geht 
zum  Einkauf  usw.   usw.  Man  kann  sich  ausmalen,  was  diesen  Mann  und 
seine  Familie  an  Gemeinheiten  erwartet. 


3.  AKT 

Bleibt  noch  anzumerken,  daB  die  Kriminalpolizei  des  Rheinisch-Ber- 
gischen   Kreises  selbst  den  "Ausflipp"   eines  16ja'hrigen  Madchens   zum 
AnlaB  nimmt,   dem  Jugendhof  eins  auszuwischen.  Geschehen  war  Folgen- 
des:   ein  Madchen  aus  unserer  Nachbarschaft ,  das  mit  einem  Jungen  des 
Jugendhofes  befreundet  is t,   ri(3  nach  einem  Krach  mit  ihren  Eltern  aus 
und  kam  zu  uns.    Das  Madchen  war  kaum  zwei   Stunden  bei  uns,  als  die 
Eltern  kamen.Ein  Streitgespra'ch  entstand.    Die  Eltern  zogen  wu'tend 
ab  und  erstatteten  bei   Herrn  Klaus  Rebmann  von  der  Kripo  in  Gladbach 
Anzeige  gegen  den  Jugendhof. 

Im  Laufe  des  Tages  beruhigte  sich  das  Madchen,  so  daB  nach  mehreren 
Telefongesprachen  mit  der  Mutter  noch  am  Abend  des  selben  Tages 
eine  Aussprache  stattfinden  konnte.   Ein  Verantwortlicher  des  Hofes 


70 


Rotbuch 

Potsdamer  Strafie  98     1000  Berlin  30     Telefon  (030)  2  61  11  96 


Rotbucn 178 

96Seiten 

DM  7 


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GotzAfy 
>Wofiir  wirst  du 
eigentlich  bezahlt?<  I 


Das  resignierte  Nichts- 
tun  im  Jugendheim/Das 
Amt  der  Amtmanner/ 
Neuere  Versuche,  sich 
um  Erziehung  zu  driik- 
ken/'DerClubiTrink-Dich 
-Frisch(/Pol.  Btldung  im 
Jugendheim  d.a.m. 
Rotbuch  163,  DM7, - 


Gemeinsam 

sind 

wir 
unertraglich 


Dieser  Band  will  pol.  Re- 
signation und  Illusion 
entgegentreten,  indem 
er  die  Krisenpolitik  von 
Staat,  Unternehmen  und 
Medien  unlersuchl  und 
den  Arbeitskampf  in  den 
Betrieben  beschreibt 
Rotbuch170,  DM  8,- 


Angste  und  Erfahrungen 
eines  Kader-Gymnasia- 
sten/iLeben  fur  die  Par- 
teii  -  und  was  das  kostet 
/Verlust  der  Identitat  als 
FrauimKSV/FurdiePar- 
tei  desProletaiialbdnder 
Uni  u.a.m. 
Rotbuch177,DM7,- 


fuhr  mit  dem  Madchen     zu  dessen  Eltern.   In  einem  langen  gemeinsamen 
Gesprach  Liber  familiare  Probleme  und  besondere  Schwierigkei ten  des 
Madchens  einigten  sich  schlieBlich  die  beteiligten  Parteien  darauf, 
daB  das  Madchen  klinftig  seinen  Freund  an  jedem  Wocherende  tagsliber 
besuchen  darf. 

Einen  Tag  s  pater  rief  nun  ein  Vertreter  der  ortlichen  Presse  an: 
Einer  Information  zufolge  werde  auf  dem  Jugendhof  seit  zwei  Tagen 
ein  minderjahriges  Madchen  gefangen  gehalten.  Was  das  solle?   (Zur 
Verdeutlichung:   diese  Information  kann  nur  von  der  Kripo  kommen, 
da  die  von  den  Eltern  aufgesucht  worden  war.  AuBerdem  ist  Kripo- 
Mann  Rebmann  mit  dem  Vertreter  jener  Zeitung  befreundet).  Mit  MLihe 
und  Not  konnten  wir  den  Journalisten  davon  abhalten,  eine  Rauberpi- 
stole,  die  nie  stattgefunden  hatte,  zu  schreiben. 

Soweit  diese  drei  Akte  aus  der  Umwelt,  in  der  wir  leben. 


WIR  MACHEN  WEITER 

Der  unbefangene  Leser,  der  dies  alles  gelesen  hat,  kb'nnte  nun  mei- 
nen,  wir  sta'nden  nur  noch  mit  Dreschflegeln  bewaffnet  parat,  urn  die 
politischen  Hinterzimner  der  CDU  und  ihrer  Freunde  zu  sturmen.   Die- 
ses Bild  w'urde  der  CDU  und  anderen  rechten  Kraften  des  Kreises  si- 
cher  gut  gefallen.  Nur:  den  Gefallen  bereiten  wir  den  Herren  mcht. 

Die  Arbeit  auf  dem  Hof  lauft  weiter.   Das  Dach  des  Haupthauses  ist 
repariert,  alle  Fensterscheiben  sind  neu  eingesetzt  (s.   18.  Mai), 
neue  Regenrinnen  sind  gesetzt,   eine  weitere  Fassade  des  Hauses   ist 
neu  verputzt,  zwei   Zinmer  sind  vollstandig  renoviert.    In  Kurze  wird 
der  Strom  gemacht,   sieben  Zimmer  mLissen  noch  renoviert  werden,  ein 
ehemaliger  HLihner-  und  Kaninchenstall   wird  zu  einem  Kinderzimmer 
ausgebaut  usw. 

Wegen  der  Renovierungsarbeiten.und  weil  wir  wen ig  Geld  haben,  sind 
wir  zur  Zeit  auf  engstem  Raum  zusammengerlickt.   Teilweise  mlissen 
augenblicklich  drei  Jugendliche  auf  einem  Zimmer  hausen.  Aufgrund 
der  miserablen  wirtschaftlichen  Lage  konnten  wir  leider  auch  kaum 
noch  neue  Jugendliche  aufnehmen.   Die  Pla'tze,  die  durch  den  Wegzug 
einiger  Jugendlicher  frei  wurden,  blieben  grb'Btenteils  unbesetzt. 
Einer,  der  in  eine  eigene  Wohnung  zog,  macht  eine  Dachdeckerlehre; 
ein  Madchen,  das  sich  selbstandig  machte,  holt  in  der  Abendschule 
die  mittlere  Reife  nach.   Ein  Junge,  der  zu  seinen  Eltern  zuruckgehen 
konnte,  arbeitet  nun  regelma'Big.  Und  diese  drei  jungen  Menschen  ka- 
men  ohne  eine  Hoffnung  auf  irgendeine  Zukunft  zu  uns.   Sie  haben  es 
bei  uns  gelernt,  ohne  Kriminalitat  Oder  Prostitution  selbstandig  zu 
leben.   Das  macht  uns  unheimlich  froh  und  gibt  neue  Kraft.   Ein  Junge, 
der  auf  dem  Hof  wohnen  bleiben  mbchte,  beginnt  im  Fruhjahr  1978 
eine  Ausbildung.  Andere  sind  mittlerweile  soweit,  daB  wir  mit  guter 
Hoffnung  sagen  kbnnen,  daB  sie,  wenn  sie  durchhalten,  im  nachsten 
Jahr  ihren  HauptschulabschluB  nachholen  kbnnen. 
Die  Jugendlichen  haben  auf  dem  Jugendhof  ein  Zuhause  gefunden,  in 
dem  sie  sich  wohlfuhlen  und  fur  sich  selbst  etwas  lernen. 

AUFRUF  ZUR  SOLIDARISCHEN  UNTERSTUTZUNG 

Das  SB  hat  den  Jugendlichen  im  Klever  Hof  aus  dem  Solidari tatsfonds 
DM  looo,--  iiberwiesen.  Weitere  Spenden  an  den  JugendhofrVerein  Kol- 
lektiv.Kreissparkasse  Bechen  328/001930  sind  dringend  erforderlich. 


Elisabeth  Gliicks,  Miinster 

KOORDINATION  DER  WOHNGEMEINSCHAFTEN 


HOHER  ANSPRUCH  -  UNZUREICHENDE  REALISIERUNG 

Ober  die  Ziele  und  Vorhaben  der  Koordinierungsstelle  fur  Wohnge- 
meinschaften  im  Bereich  Jugend-  und  Sozialarbeit  (KoSt)  habe  ich 
im  Info  16  berichtet. 

Nach  einem  Jahr  mehr  oder  weniger  intensiver  Koordinierungsarbeit 
la'Bt  sich  eine  erste  Bilanz  Ziehen,  die  gemessen  an  den  Erwartungen 
und  AnsprLichen,  auf  der  Oktober-Tagung  1976  formuliert,  hinter  die- 
sen  zuriickgeblieben  ist.   Die.Frage  nach  der  Ursache  muB  dabei   in 
zwei  Richtungen  gestellt  werden: 

Zum  einen  ist  zu  hinterfragen,  inwieweit  die  auf  der  Tagung  in  eupho 
rischer  Stiimiung  entwickelten  Mbglichkei ten  und  Chancen  fur  die 
WGs  durch  die  KoSt  einer  realen  Einschatzung  entbehrten. 
Zum  anderen  steht  die  Klarung  des  Wechselverhaltnisses  von  KoSt  und 
Wohngemeinschaften   (WGs)  als  Basis  der  Arbeit  an. 

Aus  der  Klarung  des  letzteren  ergibt  sich  schon  die  Antwort  auf  die 
erste  Frage:   Es  ist  nicht  gelungen,  die  WGs  zu  einer  regelma'Bigen 
inhaltlichen  Mitarbeit  zu  bewegen,  d.h.   die  Realisierung  der  inhalt- 
lichen  Ziele  bleib  der  KoSt  uberlassen.   Die  zur  UnterstLitzung  vorge- 
sehene  Arbeitsgruppe  kam  aufgrund  mangelnden  Interesses  nicht  zustan- 
de  und  blieb  auf  die  regelma'Bige  Mitarbeit  einer  weiteren  Person 
beschrankt.   Die  finanzielle  Basis  konnte  nicht  geschaffen  werden,  da 
sich  nur  insgesamt  vier  Einrichtungen  und  einige  Einzelpersonen  zu 
einer  monatlichen  Spende  bereit  erklarten  (dies  zum  Teil  auch  erst 
nach  den  bei den  WGs-Treffen  im  Mai   diesen  Jahres). 
Die  Koordinierungsarbeit  muBte  sich  zwangslaufig  auf  dieser  Basis 
mit  nur  wenigen  Ausnahmen  auf  rein  reaktiver  Ebene  abspielen.  Kon- 
kret  ausgedrlickt:   Beantworten  von  Briefen  und  Materialwunschen  von 
Studenten,  Verschickung  von  Info-Material  und  Protokollen  an  im 
Aufbau  befindliche  Oder  geplante  Einrichtungen,  Nachfragen  von  Adres- 
sen,  Anknupfen  von  Kontakten. 

Eine  wichtige  Moglichkeit,  die  Kommunikation  von  KoSt  und  WGs  zu 
verbessern,  indem  einzelne  WGs  von  mir  aus  besucht  wurden,  wurde 
durch  die  ra'umliche  Lage  der  WGs   (verstreut  Uber  die  gesamte  BRD) 
als  auch  durch  die  dabei  aufflammende(aber  nur  sehr  kurzfristige 
Bereitschaft  zur  Unterstutzung  im  wesentlichen  negativ  beeinfluBt. 

Diese  Einschatzung  tragt  im  groBen  und  ganzen  resignative  Zuge. 
Fs  muB  -  und  dies  ist  fur  die  Einordnung  des  folgenden  wichtig  - 
Habei   berucksichtigt  werden.  daB  ich  diese  Einschatzung  aufgrund  der 
im  Okt     1976  getroffenen  Absprachen  und  Aussagen  der  WGs  entwickelt 
habe,  die  von  der  Bereitschaft  zur  aktiven  Beteiligung  durch  die 

Sl/VognTorn:hereinnals  zu  erwartende  Illusion  mit  einzuplanen  aus 

-   73  - 


jT 


Griinden  wie  Abstraktheit  der  Idee  der  KoSt,  Eingespanntsein  in  den 
taglichen  Kleinkram  der  WG,  Tendenz  zum  Konsumverhal ten  in  dem  Wis- 
sen  urn  die  Existenz  einer  Koordinierungsstelle,  ware  realistisch  ge- 
wesen,  wurde  von  meiner  Seite  aus  allerdings  erst  endgultig  wahrend 
des  Verlaufs  der  beiden  Tagungen  im  Mai    1977  als  auf  die  nachste 
Zeit  unabanderliche  Tatsache  akzeptiert. 

Gemessen  an  diesen  Bedingungen  stellen  sich  die  bisherigen  Aktivita- 
ten  der  KoSt  nicht  so  resignativ  dar,  wie  es  aus  den  ersten  Satzen 
herauszulesen  ist.   Gemessen  auch  an  der  Zeit,   die  ich  flir  die  KoSt 
aufbringen  kann,  erscheint  das  Ergebnis  als  ganz  zufriedenstellend 
und  die  weitere  Arbeit  als  sinnvoll.    Sicherlich  ware  die  Realisierung 
einiger  Punkte  schneller  vor  sich  gegangen,  wenn  die  Koordinierungs- 
arbeit  als  sog.   full-time-job  moglich  gewesen  ware.   Dies  war  aller- 
dings nicht  durchflihrbar,  nachdem  die  finanzielle  Basis  fehlte  und 
noch  immer  fehlt. 


WAS  MACHT  NUN  EIGENTLICH  DIE  ARBEIT  DER  KOST.  AUS  ? 

Ein  erster  Arbeitsschritt  war  mit  dem  Ziel   einer  detaillierten  Be- 

standsaufnahme  der  WG-Landschaft  in  der  BRD  gekoppelt. 

Als  Mittel   dazu  wurden  Info-Schreiben  an  alle,  nicht  durch  die  Tref- 

fen  erfaBten  WGs  verschickt   (schwerpunktartig  im  Dez.    1976  und  Juni 

1977),  deren  Rlicklauf  allerdings  sehr  gering  war. 

So  sieht  die  Situation  heute     aus,  daB  ca.   100  Einrichtungen  und 

zahlreiche  Einzeladressen  von  Sozialarbeitern,  Erziehern  usw.    er- 

faBt  sind,  wobei  noch  nicht  abschlieBend  geklart  werden  konnte,  ob 

alle  erfaBten  Einrichtungen  heute  noch  existieren.  Nur  etwa  1/3  der 

WGs   ist  bisher  durch  Treffen  erfaBt  worden. 

Die  zum  Zwecke  der  Bekanntmachung  der  KoSt  verdffentl ichten  Artikel 
und  Protokolle  in  padagogischen  Zeitschriften  hatten  in  erster  Linie 
den  Effekt,   daB  gehauft  Anfragen  von  Studenten  nach  Erfahrungsbe- 
richten  und  Material   fur  Examensarbeiten       kamen. 

Parallel   zu  diesem  Versuch,  neue  Kontakte  aufzubauen,  sol  1 te  der 
Kontakt  zu  den  bereits  bekanntenWGs  durch  Rundbriefeund  Besuche  si- 
chergestellt  werden.    Die  Rundbriefe,   von  denen  bisher  zwei    erschienen 
sind,  hatten  nicht  die  gewlinschte  Reaktion  zur  Folge,  sondern  ver- 
schwanden  in  den  sonstigen  Papieren  der  WGs,  ohne  ,  was  gleichermaBen 
wesentliches  Anliegen  bei   der  Planung  der  KoSt  war,   von  den  Bewohnern 
der  WGs  aufgenommen  zu  werden.   Letzflich  tat  die  Form  der  RunHbriefe 
ein  ubriges  dazu.   Geplant  ist  flir  die  nachste  Zeit  eine  Wandzeitung, 
die  in  den  WGs  aufgehangt  werden  soil  und  somit  alien  zuganglich 
ist. 

Zur  Aufhebung  der  Isolation  der  WGs  untereinander  tauchte  kurzfri- 
stig  die  Idee  eines  gemeinsamen  Zeltlagers  auf,  dessen  Organisie- 
rung  allerdings  mangels  fehlenden  Kontaktes  zwischen   KoSt  und  WGs 
sowie  der  WGs  untereinander  nicht  zustande  kam  und  das  auf  dem  Bun- 
destreffen  im  Okt.    1977  in  Angriff  genommen  worden  ist.    (Im  AnschluB 
an  die  SLidtagung  im  Mai  war  bereits  ein  Zeltlager  von  mehrerei  WGs 
zustande  gekommen,  das  sehr  zur  Zufriedenheit  der  Beteiligten  ver- 
laufen  war. ) 


Weiterer  Bestandteil   der  Koordinierungsarbeit  stellt  die  Organisie- 
rung  von  WG-Treffen  dar,  wobei  der  inhaltliche  Rahmen  weitgehend 
von  den  WGs  geplant  wird. 

FLir  die  beiden  ersten  Treffen  im  Mai   1977  ist  dies  nicht  realisiert 
worden,   entsprechende  Konsequenzen  flir  die  nachsten  Treffen  konnten 
daraus  als  positive  Ergebnisse  gefaBt  werden:    so  z.B.   hatten  diese 
Treffen  und  auch  die  im  vorigen  Jahr  die  Erfahrung  gebracht,  daB  sich 
bereits  wahrend  der  Treffen  jeweils  fur  das  nachste  Mai   eine  Oder 
zwei   WGs   zur  inhaltlichen  Planung   bereit  erklaren. 

Zur  finanziellen  Fdrderung  als  auch  zur  inhaltlichen  Funktion  der 
KoSt  gehdrt  die  Planung  von  Info-Mappen.    Die  Erstellung  einer  ersten 
Mappe  zu  Finanzierungsmodellen  fur  WGs  wird  Ende  des  Jahres   in  Angriff 
genommen.  AuSerdem  ist  geplant,  eine  Info-Mappe  liber  mehrere  WGs 
verschiedenen  Typs  zusammenzustellen  mit  Erfahrungsberichten  und  Fo- 
tos.   Dies  dient-  darLiber  hinaus  dem  Ziel,  die  Existenz  der  KoSt 
starker  in  die  Offentl ichkeit  zu  riicken. 

Der  zuletzt  angefuhrte  Punkt  machtein  den  letzten  Monaten  einen  GroB- 
teil   der  Aktivitaten  der  KoSt  aus.    Konkret  heiBt  das:   Verfassen  von 
Artikel   und  Teilnahme  an  Tagungen. 

Eine  weitere  wlinschenswerte  Funktion  der  KoSt  besteht  darin,  flir  die 
WGs  konkrete     Unterstlitzungsarbeit  zu  leisten.   Dieses  konnte  zum  er- 
sten Mai   flir  den  Jugendhof  in  Odenthal   durchgeflihrt  werden,  wo  u'ber 
die  KoSt  die  Informationen  liber  die  dortigen  Ereignisse  (s.    Info 
17  und  dieses  Heft)  an  die  WGs  als  auch  an  die  Zeitschriften  gege- 
ben  werden  konnten,  damit  die  WGs  durch  Spenden  und  Unterschriften 
unter  eine  Stellungnahme  ihre  Solidaritat  ausdriicken  konnten.   Auf 
dieser  Ebene  als  auch  auf  der  fachspezifischen  Interessenrealisie- 
rung  kann  sich  der  positive  Stellenwert  der  KoSt  festigen, 


OKTOBER-TREFFEN  1977  -  EIN  SCHRITT  VORWARTS 

Diese  Situation  stellte  sich  so  bis  zum  Bundestreffen  Mitte  Oktober. 
Das  Treffen  brachte  dann  eine  bis  dahin  nicht  erreichte  Beteiligung 
der  WGs.   Die  Teilnehmerzahl  muBte      leider  aus  raumlichen  und  in- 
haltlichen Oberlegungen  heraus  auf  80  Leute  beschrankt  werden. 
Weiter  fortgesetzt  hat  sich  die  erfreuliche  Entwicklung,  daB  sich 
immer  mehr  Bewohner  an  den  Treffen  beteiligen.   Hier  waren  es  ca.   50%. 
Die  zunachst     vorgenommene  Trennung  der  beiden  Gruppen:   Bewohner 
mit  eigener  Tagesordnung  und  Berater  mit  eignem  Progranvn  hat  sich 
als  sehr  erfolgreich  und  von  beiden  Seiten  wlinschenswert  erwiesen. 
Auf  einem  mehrstlindigem  Plenum  als  auch  auf  den  Zwischenplenen  wurde 
dann  entlang  der  einzelnen  Problempunkte  beider  Gruppen  zusammen 
diskutiert,  was  auch  zunehmend  zur  Zufriedenheit  aller  verlauft. 
(Zu  den  im  einzelnen  besprochenen  Punkten  erscheinen  demnachst  Pro- 
tokolle). 

Zur  weiteren  Arbeit  der  KoSt  faBte  das  Plenum  folgende  Beschllisse: 
I  der  Kontakt  der  KoSt  zu  den  WGs  wird  durch  eine  Kontaktperson  aus 
dem  Tragerverein  der  WG  bzw.   der  WG  selbst  bestimmt.   Die  anwesenden 
WGs  haben  dies  bereits  getan. 
I  die  bisher  stattgefundenen  Treffen  werden  Liberregional   weiterge- 


74  - 


75 


fu'hrt.   Die  inhaltliche  Vorbereitung  geschieht  weiterhin  durch  zwei 
WGs.   Zwischen  den  halbjahrlichen  Treffen  wird  ein  Zeltlager  statt- 
finden,  wo  alle  Berater  und  Bewohner,  die  Interesse  und  Zeit  haben, 
sich  treffen  sollen.   Die  halbjahrlichen  Treffen  werden  nach  den 
Erfahrungen  des  letzten  Treffens  auf  80  -  90  Leute  beschrankt  blei- 
ben. 

•  die  WGs  intensivieren  den  Kontakt  zunachst  regional     untereinan- 
der  und  geben  die  Ergebm'sse  solcher  Treffen  bzw.  Arbei tsauftrage  an 
die  KoSt  weiter. 

I  alle  zwei  Monate  erscheint  eine  Wandzeitung  fiir  die  WGs,  die  von 
einer  WG  zusammengestel It  wird. 

•  urn  die  finanzielle  Basis  der  KoSt  sicherzustellen,  werden  verschie- 
denen  Vorschlage  diskutiert:   eine  engere  Zusammenarbeit  mit  der  AG 
SPAK  und  die  Grundung  eines  eingetragenen  Vereins.   Die  Beitrage  der 
WGs  laufen  zuklinftig  liber  ein  gesondertes  Einzugsverfahren. 

I  die  KoSt  wird  durch  eine  regelma'Big  tagende  Arbeitsgruppe  ge- 

stlitzt,   deren  Zusammensetzung  mittlerweile  gesichert  ist. 

I  die  Dffentlichkeitsarbeit  sieht  vor:   Erstellung  der  schon  angespro- 

chenen  Arbei tsmaterialien,  Herausgabe  eines  Buches  Liber  die  Entwick- 

lung  der  Wohngemeinschaftsarbeit  mit  exemplarischem  Projektteil, 

evtl .   Teilnahme  am  Jugendhi lfetag,   regel ma'B  1 9er  Kontakt  zu  sozial- 

padagogischen  Publikationen,   konkrete  Hi Ifeleistungen  fur  einzelne 

WGs. 

I  Aufbau  einer  Erfassungs-  und  Verteilungsstelle,  an  die  sich  WGs 

wenden  sollen,  die  freie  Pla'tze  in  ihren  WGs  zu  belegen  haben,  als 

auch  Sozialarbeiter,  die  Jugendliche,  Strafentlassene,  Kinder  in  WGs 

vermitteln  wollen.  Dazu  soil  es  mbglich  sein,  interessierte  Zivil- 

dienstleistende  und  Jahrespraktikanten  in  WGs  zu  vermitteln,  ebenso 

Sozialarbeitern  die  Mbglichkeit  zu  bieten,  freie  Beraterstellen  zu 

erfragen.  Diese  Stelle  wird  ihren  Sitz  unter  folgender  Adresse  haben: 

Aktion  junge  Menschen  in  Not  e.V. 

Bernd  Bornhoff 

Frankfurter  Str.  48 

6300  GieBen-Lahn,  Tel .:  0641/78660 

Die  hier  formulierten  Aktivitaten  lassen  die  Wechselbeziehung  von 
KoSt  und  WGs  praktizierbarer  erscheinen  und  kbnnten  somit  der  dro- 
herden  Verselbstandigungstendenz  entgegenwi rken. 

STANDORT  UND  STELLENWERT  DER  WOHNGEMEINSCHAFTSARBEIT 

Betrachtet  man  riickwirkend  die  Entwicklung  der  Wohngemeinschaftsbewe- 
gung  innerhalb  der  Sozialarbeit,  so  kann  man  durchgangig  seit  Exi- 
stieren  der  ersten  Jugendwohnkollektive  feststellen,  dal3  dem  Ruf  nach 
Verknlipfung  von  padagogischen  und  politischen  Ambitionen  in  der 
Wohngemeinschaftsarbeit  als  auch  innerhalb  des  Jugendhi Ifesystems 
zu  keiner  Zeit  eine  einheitliche  Handlungsperspektive  folgte.So  ist 
der  in  den  Jahren  1970  -  1973  gefiihrte  Erfahrungsaustausch  nur  fiir 
kurze  Zeit  kontinuierl ich  verlaufen,  letztlich  brachte  er  aber  keine 
einheitliche  Kooperation  bei  der  Lbsung  der  gemeinsamen  AuBen-  und 
Binnenprobleme  zutage.   Die  unterschiedliche  Einschatzung  der  Anspruchs- 
realisation  und  Realitat  -  bestimnt  wurde  die  Diskussion  durch  die 
Entstehung  des  Rauch-Hauses  -  fbrderte  die  Diskrepanz  zwischen  den 
Wohngemeinschaften.   Das  Modell   Jugendwohnkollektiv  -  wachsende  Be- 


76  - 


rufsperspektive  unter  Sozialarbeitern  und  Padagogikstudenten  -  konn- 
te  in  seinem  Stellenwert  fur  das  Jugendhi If esystem  als  auch  fur  die 
auBerinstitutionelle  Bewegung  in  der  Jugendarbeit  noch  nicht  einge- 
ordnet  werden. 

Diese  enttauschende  Entwicklung,   vielleicht  auch  mit  ein  Grund  fiir 
das  Scheitern  vieler  Wohngemeinschaften  an  finanziellen  und  inhalt- 
lichen  Schwierigkeiten,  trifft  gerade  die  Einrichtungen  und  Bera- 
ter,  die  an  ihre  Arbeit  weitergehendere  Ansprliche  und  Erwartungen 
formulieren,  als  sie  in  der  Bestimmung  einer  Wohngemeinschaft  als 
Zwischenschaltung  zwischen  repressiver,   real i tats ferner  Heimerzie- 
hung/Strafanstalt  und  "normalem"  Leben  au&erhalb  dieser  Institutio- 
nen  in  der  Gesellschaft  zum  Ausdruck  kommen. 

Das  Verstandnis  von  Sozialarbeit  als  Feld  politischer  Arbeit  in  Ver- 
bindung  mit  einer  Analyse  von  Sozialarbeit  als  adaquate  Reaktions- 
form  auf  den  gesellschaftlichen  Verhaltnissen  immanenten  Widersprii- 
chen  und  Krisenerscheinungen  ist  zwar  der  theoretisch-abstrakten 
Neu bestimmung  von  Inhalten  und  Zielen  einer  Wohngemeinschaftsarbeit 
unabdingbarer  Hintergrund,   bleibt  jedoch,  was  seine  Umsetzung  be- 
trifft  innerhalb  des  Prozesses  in  der  WG  durch  die  Konfrontation  mit 
den  Regelma'Bigkeiten  des  taglichen  Lebens,  den  Verhal tensgewohnhei- 
ten  von  Bewohnern,  dem  anerzogenen  eigenen  oder  padagogisch  herge- 
leiteten  Reaktionsrepertoir  der  Berater,  mit  der  direkten  und  indi- 
rekten  Prasenz  der  bffentlichen  Institutionen  allzu   leicht  auf  die 
Ebene  eines  Denkmodells  beschrankt.   Seine  Realisierung  bzw.  die  Aus- 
einandersetzung  mit  Mbgl ichkeiten  seiner  Realisierung  werden  zurlick- 
gedrangt  auf  eine  nicht  mehr  permanent  gefiihrte  Reflexion  in  der 
Freizeit,  auf  Vereinssitzungen,  auf  WG-Treffen. 

Aber  auch  dort  bleibt  zunachst  die  Beschaftigung  mit  den  in  der  Pra- 
xis auftretenden  Problemen,  die  liber  den  Kopf  zu  wachsen  drohen:   Ee- 
sorgung  von  Arbei tsstell en,  Sanktionierungsregelungen,     Sicherstel- 
len  der  finanziellen  Basis,  Versuche  der  Gestaltung  eines  Gruppenle- 
bens  im  Vordergrund. 

Die  bei  alien  Wohngemeinschaften  anzutreffende  Eingebundenheit  in 
die  Lbsung  der  Binnenprobleme  la'Bt  von  einem  gewissen  Punkt  an,  an 
dem  die  Verstrickung  und  Kleinarbeit  zum  offenen  Infragestellen  des 
eigenen  Anspruches       und  der  Arbeit  in  der  WG  flihrten,  das  Bedlirfnis 
nach  Austausch  und  Kontakt  zu  ahnlich  "Betroffenen"  entstehen. 
Die  weitergehende  Diskussion  urn  Standort  und  Stellenwert  der  WG- 
Arbeit  ist  dabei  eingeschlossen,  die  Realisierung  von  gemeinsamen  In- 
teressen  und  die  Lbsung  von  durchgangig  den  gleichen  umfassenderen 
Problemen  (u.a.  Belegungsprobleme,  Finanzierungsengpasse,  Diszipli- 
nierungsversuche  durch  Behbrden)  wurde  zwar  immer  wieder  fiir  notwen- 
dig  erachtet,  blieb  aber  eine  schbn  nachzulesende  Forderung  in  Pro- 
tokollen  und  nichts  mehr. 

Sei   es,  daB  der  eigene  Anspruch  nicht  ernst  genug  genommen  wurde 
oder  durch  das  Angespanntsein  in  der  ta'glichen  Arbeit  die  Kraft  da- 
zu nicht  mehr  reicht,  es  gibt  Grlinde  genug,  warum  es  bisher  so  ge- 
laufen  ist  und  nicht  anders. 

Deutlich  sein  muBte  allerdings,  daB  nicht  immer  wieder  neu  mit  Erfah- 
rungsaustausch und  Kontaktaufnahme  begonnen  werden  kann,  ohne  daB 
dieses  weitere  Konsequenzen  fur  die  daran  Beteiligten  k»t.  Die  Tref- 


-  77 


fen  1976  haben  dies  ebenso  deutlich  gezeigt,  wie  die  bisherigen  Ver- 
suche  .   Die     positive  Konsequenz  aus  dem  Oktober  Treffen  1976,  wie 
es  durch  den  Aurbau  der  KoSt  als  ersten  Schritt  mbglich  wurde,  laBt 
hoffen,  daB  der  neuerliche  Versuch     einer  Zusammenfassung  der  WGs 
im  Bereich  der  Sozialarbeit    nicht  nur  flir  die  Arbeit  in  den  WGs, 
sondern  auch  flir  deren  Vermittlung  und  Stellenwert  im  System  der 
Sozialarbeit  Auswirkungen  haben  wird. 

Die  Diskussion  urn  starkere  Realisiemng  der  ursprunglichen  Ziele 
der  WG-Bewegung  auf  dem  Hintergrund  der  Erkenntnisse  einer  fast  to- 
talen  Eingliederung  der  WGs  in  den  Rahmen  der  institutionalisierten 
Sozialarbeit  muB  zum  wichtigsten  Bestandteil  der  Auseinandersetzung 
der  WGs  untereinander  werden.    Die  KoSt  wird  in  diesem  Sinne  eine 
Starkung  der  WG-Bewegung  in  sich  und  an  sich  zu  verfolgen  haben.   Die. 
bisherige  Koordinierungsarbeit  ist  dazu  ein  sehr  kleiner,  aber  zu- 
mindest  bereits  gemachter  Anfangsschri tt. 

Die  auf  dem  Oktober  Treffen  1977  formulierten  Vorstellungen  werden, 
wenn  sie  realisiert  sind,  Kooperation  und  Koordi nation  ein  gutes 
Stuck  weiterbringen. 

Bisher  sind  allerdings  nur  ein  Drittel   der  erfaBten  WGs  an  der  Koor- 
dinierungsarbeit beteiligt.  Es  ist  daher  unbedingt  notwendig,  daB  wei- 
tere  inhaltliche  und  finanzielle  Unterstiitzung  von  WGs  und  von  Ein- 
zelpersonen  eintreffen.. 

Koordinierungsstelle  f.  Jugendwohngemeinschaften  c/o  Elisabeth  Glucks 
Buldernweg  47,   4400  Mlinster,  tel . :   0251/75630. 

Spendenkonto:   Postscheckkonto  1870  66-463,  Postscheckamt  Dortmund 
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"^•"^•witS^ttpritV," 


78  - 


Autorengruppe  Westberlin 

BERLINER  GESELLSCHAFT  FUR  HEIMERZIEHUNG  (BGfH) 

EINE  HERAUSFORDERUNG 

FOR  DIE  INSTITUTIONALISIERTE  SOZIALARBEIT 


Der  folgende  Beitrag  ist  von  den  Mitgliedern     Barbara  Uolf-Kunze/ 
Jiirgen  Gottsahliah/Joehen  Schaffer,    der  BGfH  konzipiert  und  dem 
Delegiertenplenum  vorgelegt  worden,   dabei  wurden  die  in  den  Arbeits- 
gruppen  erarbeiteten  Ergebniese     beriioksiahtigt .    Der  Artikel  ent- 
spriaht  nicht  der  Meinung  alter  Mitglieder  der  BGfH  und  ist  in  einev 
Phase  anhaltender  Diskussionen  geschrieben  worden.   Auf  dies  hinzu- 
weisen  halten  wir  fur  wichtig  und  notwendig. 


ENTSTEHUNG  DER  BGfH 

Als  die  BGfH  1969  in  Berlin  gegrundet  wurde,  war  sie  tatsachlich 
noch  eine  Gesellschaft  fur  Heimerziehung. 

Sehen  wir  uns  die  Heimscenerie  von  1969  ruhig  etwas  genauer  an. 
Es  war  die  Zeit  der  Heimkampagnen  in  der  BRD,  eine  Zeit.in  der 
verkrustete  Strukturen  und  die  "Heimerziehung"  radikal   in  Frage  ge- 
stellt  wurden. Eine  Zeit,   in  der  auch  in  Berliner  Heimen  durch  Studie- 
rende       der  Sozialarbeiter-  und  Erzieherschulen  eine  heilsame  Unru- 
he  entstand. 

Die  zustandigen  Behbrden,  aufgeschreckt  aus   langjahrigem  Schlaf, 
holten  sich  einen  namhaften  Padagogen  aus  der  BRD,  der  die  festge- 
fahrene  Karre  wieder  flott  machen  sollte.  Dieser  jedoch  lieB  sich 
nicht  so  mir  nichts  dir  nichts  vor  die  Senatskarre  spannen,  sondern 
begann,  in  der  verrotteten  Berliner  Heimerziehung  aufzuraumen.   Er 
ging  in  die  Heime,  sprach  zu  jeder  Tag-und  Nachtzeit  mit  Kindern, 
Jugendlichen  und  Erziehern  und  versuchte,'  deren  Interessen  in  der 
Verwaltung  durchzusetzen.   Dieses  Vorgehen  war  ganz  und  gar  nicht  im 
Sinne  der  Senatsoberen,  deren  Devise  lautete  eher:   keine  Skandale 
in  den  Heimen,  die  nach  auBen  dringen,  kein  Gerede  in  der  Presse 
liber  unliebsame  Vorgange  in  den  Heimen,   Ruhe  und  Ordnung  der  Offent- 
lichkeit  gegentiber.  Was  hinter  den  Kulissen  der  Heime  ablief,  war 
nicht  so  wichtig  so  lange  es  hinter  den  Kulissen  blieb. 

Wahrend  dieser  Zeit  begannen  sich  auch  schon  die  ersten  dunklen  Wol- 
ken  der  spateren  Berufsverbotspraxis  am  Horizont  abzuzeichnen.   So 
war  ein  Dozent  einer  senatseigenen  Erzieherschule  standig  vom  Hin- 
auswurf  bedroht,  weil   er  in  seinem  Unterricht  versuchte,  die  Stu- 
Hiprenden  auch  uber  die  wahren  Hintergriinde  der  standigen  Heimnnsere 
aufzuklaren.   Es  kam  damals  zu  einan  Streik  der  Studierenden,  der  die- 
cen  Hinauswurf  verhinderte.   Dieser  politische  Hintergrund  erschien 
Mns     einer  handvoll   Heimerzieher,  Sozialarbeiter,  Psychologen  und 
Akademielehrern,  der  richtige  Zeitpunkt  zu  sein,  einen  Zusammen- 
*t!  1  ler  He  merzieher  und  an  der  Heimerziehung  Interessierten 
IS  versuchen     Der  Verein"  Berliner  Gesellschaft  fur  Heimerziehung 

-  79  - 


genannt,  sollte  ein  Sammelbecken  filr  die  Erzieher  sein,  die  mit  ih- 
rer Arbeitssituation  nicht  zufrieden  waren,  da  sie  erkannt  hatten, 
woran  diese  krankte  .  Urn  nur  einige  Punkte  aufzuzahlen,  so  war  es 
einmal   die  Starke  Hierarchie  in  den  Heimen  von  Heimleiter  bis  zum 
Praktikanten,   die  den  Erzieher  unmbglich  machte,  eigene  Vorstellungen 
von  Padagogik  in  die  tagliche  Praxis  einzubringen,  der  damalig  prak- 
tizierte  Erziehungsstil,  von  Repressalien  diktiert,  und  vor  allem  der 
politische  Stellenwert  der  Heimerziehung  innerhalb  der  Gesellschaft. 
Alles  in  allem  war  klar,   daB  die  Organisationsform,  gepragt  von 
der  totalen  Versorgungsmaschine,  als  Lernfeld  fur  Kinder  und  Jugend- 
liche  vbllig  ungeeignet,  ja  sogar  schadlich  war. 

Gemeinsam  mit  diesem  Potential  an  Heimerziehern  wollten  wir  neue  Vor- 
stellungen entwickeln  und  diese  gemeinsam  durchsetzen.   Sanktionen 
gegen  Kollegen,  wie  z.B.  gegen  den  genannten  Dozenten,  wollten  wir 
geschlossen  zurlickweisen.   Wir  gingen  von  der  Vorstellung  aus,  daB 
wir,  waren  wir  nur  stark  genug,  unseren  Verein  als  Druckmittel   ge- 
gen die  konservative  Senatspolitik  einsetzen  kbnnten.   So  fanden  sich 
zur  Grundung  der  BGfH  ca.   35  Leute  aus  sozialpadagogischen  Berufen 
zusammen,  die  entschlossen  waren,   die  Berliner  "Heimwelt"   zu  veran- 
dern. 

Was  dann  daraus  wurde,  sah  allerdings  ganz  anders  aus.   Die  BGfH 
war  in  den  folgenden  Jahren  in  der     Berliner  Bewegung  der  Heimerzie- 
hung nur  ein  Anhangsel ,   nie  eine  treibende  Kraft. 

Als  1970  vom  Kinderheim  Lindenhof  ein  Erzieherstreik  ausgerufen  wur- 
de, als  die  Kreuzberger  Kinderga'rtnerinnen  ihren  Streik  durchfuhr- 
ten,  als  das  Bethani en -Krankenhaus  besetzt  wurde  und  das  Georg-von- 
Rauch-Haus  entstand,  war  die  BGfH  zwar  immer  dabei,  sandte  Solida- 
ritatsschreiben  in  alle  Welt,  wurde  aber  nie  selbst  initiativ. 

In  der  Riickschau  stellte  sich  uns  ziemlich  klar  dar,  wo  die  Fehler- 
quellen  von  damals  zu  suchen  sind.   Die  BGfH  hatte  eine  Flihrungs- 
spitze,   die  Liber  die  Mitglieder  hinweg  die  Ziele  des  Vereins  fest- 
legte  und  durchzusetzen  versuchte.   Diese  FLihrungsspitze  war  durch 
Liberal! tat  und  Loyal i tat  dem  Senat  gegenu'ber  in  seiner  Handlungs- 
freiheit  eingeschrankt.   Radikale  Handlungen,  wie  z.B.  Teilnahme  an 
der  Besetzung  von  Bethanien.schlossen  sich  dadurch  von  selber  aus. 

Die  BGfH  beraubte  sich  selber  ihrer  politischen  Schlagkraft  und  ver- 
lor  n'icht  nur  an  EinfluB,  sondern  auch  an  Interesse  ihrer  Mitglieder. 
Sie  schmolz  schlieBlich  zu  einem  unbedeutenden  Hauflein  zusammen 
und  stand  vor  der  Frage,  sich  aufzulosen  oder  die  Gesellschaft 
neuen  Zielen  zu  beleben. 

Wir  entschlossen  uns,  der  liberalen  Mehrheit  entsprechend,  unsere 
politischen  Aktivitaten,  bis  auf  wenige  Einzelfalle,  zuruckzustellen 
und  uns  konkreter,  alternativer  Sozialarbeit  zuzuwenden.  So  wurde 
das  Projekt  "Einsatz  von  Familienhelfern",  neben  der  Grundung  mehre- 
rer  Wohngemeinschaften  und  einem  Wohnungsmarkt  flir  Trebeganger  und 
entlassenen  Heimjugendlichen^um  Herzstuck  unserer  Vereinsarbeit. 


80 


DAS  PROJEKT  "FAMILIENHELFER" 

Es  begann  ganz  zufallig  und  war  eine  sportane  Idee  unseres  Mitglie- 
des  Martin  Bonhoeffer,  der  im  Jahre  1968  Referent  der  senatseigenen 
Heimaufsicht  war.   Eine  Sozialarbeiterin  aus  Kreuzberg  rief  an  und 
suchte  Heimplatze  filr  funf  Kinder,  deren  Mutter  ganz  plotzlich  ins 
Krankenhaus  muBte.   Das  Berliner  HKH  (Durchgangsheim)  quoll   Liber, 
auf  den  Fluren  standen  schon  Betten  herum  und  sie  konnten  kein  ein- 
ziges  Kind  mehr  aufnehmen.  Martin  machte  den  Vorschlag,  ein  Freund 
von  ihm,  gerade  ohne  Beschaftigung,   kbnnte  die  Kinder  in  der  Familie 
betreuen.    Die  Sozialarbeiterin  Liberschlug  sich  fast  ob  dieser  ku'h- 
nen  Idee,  erwarmte  sich  dann  aber  dafu'r.   Die  Burokratie  allerdings 
entschied,  wie  konnte  es  anders  sein,  dagegen  und  zog  es  vor,  die 
flinf  Kinder  in  alle  Winde  zu  zerstreuen.   Es  gelang  ihnen,  flir  funf 
Kinder  flinf  verschiedene  Heimplatze  zu  finden.    (Das  glei'che  Bezirks- 
amt  Kreuzberg  stellte  einige  Jahre  spater  eigene  Famil ienhelfer  ein 
und  verkaufte  sie  als  eigene  Idee). 

Obwohl   Kreuzberg  gegen  den  Vorschlag  entschied,  war  eine  neue  Idee 
geboren  und  lieB  uns  nicht  mehr  schlafen.  Mit  "Familienhelfern" 
konnten  wir  alle  Kinder,  deren  Bezugspersonen  kurzfristig  ausfielen, 
vor  einer  Heimunterbringung  bewahren. 
Das  bedeutete: 

1.  Die  Kinder  brauchten  nicht  aus  ihrer  vertrauten  Umgebung  geris- 
sen  werden,  was  wir  besonders  bei   Kleinkindern  grausam  fanden. 

2.  Die  Kinder  konnten  Schulen,  Kindertagesstatten  und  Freizeitein- 
richtungen  im  Stadtteil  weiter  besuchen. 

3.  Freunde,  Nachbarn  etc.   blieben  den  Kindern  erhalten. 

4.  Die  negativen  Erfahrungen  einer  Unterbringung  in  einem  Durch- 
gangsheim blieben  den  Kindern  erspart. 

Wir  wuBten  aus  unserer  Arbeit  in  den  Heimen,  wie  Kinder  die  Einwei- 
sung  ins  Heim  erleben  und  nie  vergessen.   Oft  haben  wir,   von  jetzt 
schon  Erwachsenen,  ihren  ersten  Tag  im  Heim  bis  ins  kleinste  Detail 
erzahlt  bekommen.   Dokumente  der  Lieblosigkeit  und  Einfallslosigkeit 
von  sogenannten  Fachleuten. 

Die  Idee  Famil  ienhelfer  war  jetzt  in  unserem  Kopf,  wie  sollten  wir 
sie  in  die  Praxis  umsetzen.   Folgende  Probleme  stellten  sich  uns: 

-  Wurden  die  Eltern  uns  in  ihre  Wohnungen  lassen? 

-  Wo  nehmen  wir  die  geeigneten  Heifer  her? 

-  Wie  gewinnen  wir  die  Behbrden  flir  unsere  Idee  und  wie  wird  sie 
finanziert? 

Trotz  dieser  ungeklarten  Fragen  fingen  wir  einfach  an.    Im  Bezirk 
Neukblln  ging  es  wieder  urn  die  Unterbringung  von  flinf  Kindern  im 
Alter  von  4-13  Jahren,  deren  Mutter  von  einerMinute  zur  anderen 
ins  Krankenhaus  muBte. 

Die  Sozialarbeiterin  griff  unseren  Vorschlag  begeistert  auf,  konnte 
ihren  Amtsleiter  liberzeugen,  vor  allem  natlirlich  durch  die  Kostenfra- 
ae     (5  Kinder  im  Heim  kosten  ein  Vermbgen)..  Dieser  erste  Familien- 
helfereinsatz  wurde  ein  groBer  Erfolg.    Es  dauerte  nicht  lange  und 
durch  Mund  zu  Mundpropaganda  kamen  die  ersten  Auftrage  ins  Haus. 
Unsere  Heifer  suchten  und  fanden  wir  an  den  Universitaten,  besonders 
aus  den  Fachgebieten  Soziologie,  Psychologie  und  Sozialpadagogik. 
Auch  andere  Bereiche  waren  sporadisch  vertreten.  Wir  gnngen  davon 


81 


aus,  jeder,  der  SpaB  an  der  Betreuung  und  Versorgung  von  Kindern 
hatte,  kann  mitmachen.   Eigentlich  ist  das  auch  heute  noch  unser 
Prinzip.    Damit  soil   m'cht  eine     fachlichen  Qualification  abgesprochen 
werden,  nur,  sie  genligt  nicht  fiir  unser  Vorhaben.  Man  stelle  sich 
einen  gelehrten  Akademiker  vor,  der  den  Kindern  keine  Suppe  kochen, 
oder  das  Wi rtschaftsgeld  nicht  einteilen  kann  -  wir  konnen  inn  nicht 
gebrauchen. 

Das  war  je  gerade  das  Neue  und  Besondere  an  unserer  Form  von  Sozial- 
arbeit,  dal3  sie  sich  nicht  nur  auf  Gesprache  Liber  die  Probleme  der 
Betroffenen  beschrankte,  sondern  in  den  Familien  praktische  Arbeit 
leistete.  An  welcher  Universitat  lernt  man  das? 

Als  wir  unser  Projekt  begannen,  waren  wir  so  wenige,  daB  wir  uns 
sehr  schnell    personlich  gut  kannten.   Vom  ersten  Familienhelferein- 
satz  an  erkannten  wir,   daB  eine  standige  Beratung  des  Familienhel- 
fers  neben  seiner  praktischen  Arbeit  in  der  Familie     gewa'hrleistet 
sein  muB.   Praktisch  sah  das  so  aus,  daB  2-3  Leute  (Psychologen,  So- 
zialarbeiter,  Erzieher)  der  Berliner  Gesellschaft  taglich  telefonisch 
oder  personlich  zur  Verfugung  standen.   Jedes  auftretende  Problem 
wurde  sofort  besprochen,  der  Heifer  war  nie  allein.    Diese  Methode 
bewahrte  sich  sehr  gut,  war  aber  viel   zu  aufwendig.   So  lieB  sich  die- 
se Arbeitsform  nur  so  lange  durch  halten.wie  das  Projekt  noch  sehr 
klein  war.    So  blieb  es  auch  die  ersten  2  bis   3  Jahre.   Fami  lienhel-_ 
fer  kamen  und  gingen,  sie  machten  ihre  Einsa'tze  und  verschwanden  wie- 
der,   neue  wurden  gewonnen.   Die  Arbeit  der  BGfH  bestand  ausschlieBl  ich 
in  der: 

-  Helferwerbung 

-  Vermittlung  von  Familienhelfereinsatzen 

-  Helferberatung 

-  Eintreiben  der  Finanzen  in  den  Bezirksamtern 

-  Werbung  fiir  das  Projekt  in  den  Bezirksamtern. 

Ceht  man  davon  aus,   daB  alle  Mitarbeiter  der  BGfH  am  Projekt  ihren 
Fulltimejob  in  den  Heimen  hatten,  dann  wird  klar,  warum  das  Projekt 
jahrelang  spa'rlich  vor  sich  hin  klimmerte.  Wir  hatten  einfach  keine 
Zeit  und  waren  schon  von  der  beschriebenen  Arbeit  vbllig  aufgefres- 
sen. 

So  hatte  das  Bezirksamt  Kreuzberg  Zeit  und  Gelegenheit,  Liber  unseren 
Kopf  hinweg  ein  eigenes  Familienhelferprojekt  aufzubauen  und  daflir 
eine  Fachkraft  einzustellen. 

Etwa  1973  nahm  die  Arbeit  rapide  zu.   Eine  Gruppe  Familienhelfer  fand 
sich  zusammen,  die  selbst  initiativ  wurde.    Es  wurden  Flugbla'tter 
gedruckt,  die  der  Verbreitung  unserer  Idee  in  den  Bezirksamtern _ 
dienen  und  gleichzeitig  neue  Heifer  anlocken  sollte.    In  den  Bezirks- 
amtern wurden  die  Sozialarbeiter  einzeln  angesprochen,  an  den  Sozial- 
arbeiterakademien  die  Studierenden  davon  unterrichtet.   Diese  Inten- 
siv-Werbung  blieb  nicht  ohne  Erfolg.   Hatten  wir  in  den  vergangenen 
Jahren  etwa   10  -   15  Einsa'tze  durchgef'u'hrt,   so  verdoppelten  und  ver- 
dreifachten  sich  in  den  letzten  Jahren  die  Einsa'tze.   Der  Familien- 
helferstamm  wuchs  bis  auf  ca.   35  Leute  an  und  die  altbewa'hrte  Metho- 
de der  sta'ndigen  Beratung  und  Supervision  der  Fami  lienhel  fer  brach 
hoffnungslos  zusammen. 


82  - 


VERMITTLUNG  DER  FAMILIENHELFER  UND  FINANZIERUNG 

Der  zustandige  Sozialarbeiter  eines  Bezirksamtes  ruft  bei  der  BGfH 
an,  er  braucht  dringend  eine  Betreuung  fLir  eine  "auffal  lige"  Familie. 
(Damit  diese  Anrufe  iiberhaupt  erfolgen,  sind  wir  in  die  Bezirksamter 
gegangen,   haben  mit  den  Sozialarbeitern  gesprochen  und  Broschiiren 
Liber  die  BGfH  verteilt.)  Der  Sozialarbeiter     schildert  kurz  die  Art 
der  "Auffal ligkeit",  und  unser  Vermittlungsdienst  stellt  die  meist 
schon  bekannten  finanziellen  Bedingungen,  d.h.    zur  Zeit  11,91/Std. 
fiir  "Haushaltsfortfiihrung",  17.-  fiir  "sozialpa'dagogischen  Einsatz". 

Dieses  Geld  steht  jedoch  dem  Familienhelfer  nicht  ganz  zu.   Die  Fami- 
lienhelfer  arbeiten  auf  Honorarbasis.   Sie  werden  liber  den  Verein 
von  den  jeweils  zustandigen  fimtern  stundenweise  bezahlt.   Der  Verein 
finanziert  sich  durch  eine  10%ige  Abgabe  der  Familienhelfer-Honorare. 
Diese  Mittel   kommen  zum  einen  in  Form  von  "Handgeldern"  den  betreu- 
ten  Familien  zugute,   zum  anderen  werden  damit  Kosten  fiir  Verwaltungs- 
arbeit  und  einen  im  Aufbau  befindlichen  Beratungsladen  und  alterna- 
tive Projekte  der  Jugendhilfe  finanziell  unterstlitzt. 

Unser  Vermittlungsdienst  sucht  nun  in  der  Wartelistenkartei   nach 
einem  geeigneten  Mitarbeiter.   Im  ersten  Gespra'ch  dieses  Familienhel- 
fers  mit  dem  Sozialarbeiter  wird  kurz  die  Problematik  in  der  Familie, 
in  der  das  Kind  lebt,  umrissen.   Da  der  Sozialarbeiter  oft  sich  auf 
Grund  seiner  Funktion  oder  seiner  Oberlastung  nicht  genligend  mit  der 
Familie  auseinandersetzen  konnte,   sind  diese  Informationen  meist 
oberfla'chlich  und  gehen  Liber  Daten  und  Aktenvermerke  nicht  hinaus. 
Es  gibt  natlirlich  auch  hier  Ausnahmen. 


DER  EINSATZ  IN  DER  FAMILIE 

Es  handelt  sich  in  der  Regel   urn  Familien 
schichten,  und  meistens  ist  nur  noch  ein 
fast  inmer  die  Mutter. 
Schon  der  erste  Kontakt  zeigt  Probleme: 
nend,  sie  wittert  Konkurrenz,  die  entwed 
ben  oder  Zuneigungen  der  Kinder  von  ihr 
(oder  die  Kinder)  hat  Angst,  noch  mehr  Li 
Wohnungssituation  ist  vbllig  unzureichen 
nicht  aus. 

So  gilt  es,  mit  der  Mutter  Antrage  auszu 
ren,  der  Mutter  Mut  zu  machen,  aggressiv 
(wenn  die  dortigen  Beamte  nicht  oder  kau 
gieren),  mit  den  Kindern  und  der  Mutter 
sparender  und  mit  besserer  Arbeitsteilun 

Die  Kinder  haben  meistens  Probleme  in  der  Schule.   Es  ist  nun  unmog- 
lich     hier  aufzuzeigen,  wie  der  Familienhelfer  generell   darauf  rea- 
oiert    denn  das  ist  in  jeder  Familie  verschieden.  Doch  gibt  es  in 
vielen  Fallen  gemeinsame  Erscheinungen,   z.B.   daB  viele  Kinder  trotz 
schlechter  Leistungen  lernwillig     sind.   Die  Situation  in  der  Schul- 
klasse,  der  mangelnde  Bezug  zum  Schulstoff,  die  Beziehung  zum  Lehrer 
und  die  Situation  zu  Hause  gefa'hrden  diese  Lernwilligkeit  jedoch. 
So  arbeiten  wir,  wenn  imner  mbglich,  mit  den  betreffenden  Lehrern 


aus  unteren  Einkommens- 
Elternteil  mit  den  Kindern  - 

die  Mutter  reagiert  ableh- 
er  ihre  Autoritat  untergra- 
abzweigen  konnte.   Das  Kind 
berwacht  zu  werden.  Oder  die 
d  und  der  Verdienst  reicht 

flillen,  Umzlige  zu  organisie- 
er  auf  den  ftmtern  vorzugehen, 
m  merklich  auf  Anfragen  rea- 
die  Haushaltsplanung  kosten- 
g  auszutlifteln. 


-  83 


Nach  5  Jahren  Arbeit  am  Info  Sozialarbeit  hier  unsere  "Frommen  Wiinsche"  fij 
1978  und  die  nachsten  5  Jahre.  Redaktionskollektiv  Info  Sozialarbei 


^JpcV,  vit\  ClucUi 


zusammen.   Wir  versuchen  zu  Hause,  oder  wenn  es  dort  nicht  gent,  in 
unserem.  Laden,  dem  Kind  eine  Atmospha're  zu  bieten,  in  der  es  lernen 
kann.   Wir  wenderi  andere  Lernmethoden  an,  so  daB  es  dem  Kind  auch 
SpaB  macht,   kontinuierl ich  zu  lernen. 

Ein  anderes  Problem  ist  die  aggressive  Umgangsform  in  der  Familie. 
Dafu'r  kann  es  viele  Ursachen  geben.   Eine  davon  kann  sein,  daB  durch 
die  autoritare  Struktur  bedingt,  Anweisungen  ohne  Begrlindungen  ge- 
geben  werden,  so  daB  die  Kinder  ohne  jede  Einsicht  murrend  und  mit 
Widerstand  auch  sinnvolle  Anordnungen  befolgen   (oder  das  Argument 
der  Ohrfeige  tritt  in  Kraft).   Die  Einsicht  kann  erfolgen,  wenn 
bfters  "warum"  gefragt  und  darauf  geantwortet  wird.   Der  Familienhel- 
fer  unterstu'tzt  die  Kinder  in  ihren  Fragen  und  die  Mutter  beim, 
anfangs  nur  zogernd  gegebenen,  Antworten. 

Eine  wichtige  Sache,  die  Reisen  nach  Schweden  oder  in  den  Bayerischen 
Wald,  die  Familienhelfer  mit  "ihren"   Kindern  machten,  werden  bespro- 
chen.   Die  wichtigste  Erfahrung  auf  diesen  Reisen  war  neben  dem 
Zwang  zu  kooperativem  Handel n  (Selbstversorgung)  wohl   die  Erkenntms, 
daB  die  jeweiligen  Kinder  mit  ihren  Problemen  nicht  allein  dastan- 
den,  sondern  daB  es  viele  andere  Kinder  gab,  die  gleiche  oder  ahnli- 
che  Schwierigkeiten  in  ihren  Familien  haben.   Dies  forderte  die  Fahig- 
keit  einzelner,  sich  mit  ihren  Problemen  offener  auseinanderzusetzen. 

Fur  fast  alle  langeren  Einsatze  in  der  Familie  kann  gesagt  werden, 
daB  der  Familienhelfer  wahrend  der  Zusammenarbeit  in  der  Familie 
eine  emotionelle  Distanz  nicht  bewahren  kann.   Diese  ware  insofern 
angebracht,  da  er  kein  Mutter-  oder  Vaterersatz  sein  soil.   Vielmehr 
soil   er  Hilfe  zur  Selbsthilfe  geben,  so  daB  die  Familie  im  Idealfall 
nach  Ende  des  Einsatzes  soweit  stabilisiert  ist,  daB  sie  die  Proble- 
me  allein  bewaltigt.   Da  dem  oft  nicht  so  ist,  stellt  sich  das  Pro- 
blem der  Nachsorge.  .      .  ,.    .,.    .,,.., 
Solange,  wie  wir  noch  nicht  gen'iigend  funktiomerende  Stadttei  1  laden 
haben,  die  eine  Nachsorge  durch  Kindergruppen  und  Elternberatung 
weitergehend  gewahrleisten  kbnnten,  bleiben  dem  Familienhelfer  nur 
noch  Oberstunden,   urn  keinen  plbtzlichen  Abbruch  seiner  Arbeit  und 
damit  oft  die  Gefahr  von  umscnstigen  Bemuhungen  zu  verursachen. 
Deshalb  ist  es  unsere  dringlichste  Aufgabe,   in  der  Stadtteilarbeit 
voranzukommen. 


INNERORGANISATORISCHE  SCHWIERIGKEITEN 

1975  erlebte  die  Familienhilfe  einen  quantiativen  Aufschwung  von  vor- 
her  ungeahnten  AusmaSen. 

Da  sich  beim  Berliner  Senat  und  den  Bezirksa'mtern  allmahlich  die  tr- 
kenntnis  durchsetzte,  daB  Familienhilfe  erheblich  bkonomischer  ist, 
als  es  Heimeinweisungen  sind,  wuchs  die  Zahl   der  Auftra'ge  und  entspre- 
chend  die  Anzahl   der  Familienhelfer  schnell  an,   Daraus  ergaben  sich 
erhebliche  Konsequenzen  sowohl   inhaltlicher  als  auch  organisatori- 
scher  Natur. 


-  86 


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Innerhalb  der  Gruppe  von  Famil  ienhelfern,  die  auf  liber  hundert  Leute 
anwuchs     konnte  die  alte  Kommunikationsstruktur  nicht  mehr  ausgebaut 
werden  Vur  viele  Familienhelfer  nahm  die  BGfH  mehr  und  mehr  den 
rharakter  einer  Jobvermittlung  an.   Der  Versuch,  eine  alternative 
Sozialarbeit  zu  entwickeln,  wurde  in  dieser  Phase  nur  von  einzelnen 
Gruppen  oder  Famil ienhelfern  gemacht. 

Fine  inhaltliche  Diskussion  konnte  auf  dem  Plenum  nicht  mehr  gelei- 
clet  werden  und  die  Atmosphare  verschlechterte  sich  zusehends.  Durch 
dif  Elnrichtung  von  Untergruppen  wurde  der  Versuch      gemacht,  eine 

einzurichten.    Ki   oern  craiuu^  niPSer  vorsicht  ge  Ansatz 

^"terienen  und  Jersonellen  Mi ttel  unterschatzt  wurden.   Trotzdem 

-  87  - 


soil  an  der  Realisierung  dieser  notwendigen  Erganzung  der  Familien- 
hilfe  weitergearbeitet  werden. 

Da  das  Plenum  die  Kommunikation  m'cht  mehr  leisten  konnte,  wurden 
Wochenendseminare  geplant. 

Ein  erster  Schritt,  die  inhaltliche  Diskussion  weiterzutreiben,  war 
die  Selbstverstandnisldiskussion  im  Herbst  1976.   Zwar  konnten  eine 
Reihe  organisatorischer  Probleme  und  Veranderungen  entschieden  wer- 
den, was  nicht  genligend  geklart  wurde,  war  eine  Einschatzung  und 
Standortbestimmung  der  Arbeit  im  Rahmen  gesel lschaf tlicher  Erziehung 
und  ihre  politische  Perspektive.    Ebenfalls  nicht  geklart  wurde  die 
flir  das  Selbstverstandnis  der  Familienhelfer  wichtige  Klarung  der 
Fragen  von  Dauer  und  Kontinuitat  der  Arbeit,  wobei  auch  die  unter- 
schiedlichen  Ausgangspositionen  von  Studenten  und  Leuten  mit  abge- 
schlossenein  Studium  batten  ber'ucksichtigt  werden  mlissen.  Die  Klarung 
dieser  Fragen  wird  auch  ftir  die  Zukunft  des  Vereins  entscheidend  sein. 

Ende  76/Anfang  77  unternahm  die  Ladengruppe  einen  VorstoB, 
die  Vereinsstrukturen  in  den  Griff  zu  bekommen.   Der  von  dieser  Grup- 
pe  formulierte  Antrag  auf  personelle  und  inhaltliche  Veranderungen 
wurde  zwar  abgelehnt,  aber  die  dadurch  ausgelbsten  Diskussionen  hat- 
ten  endlich  zum  Ergebnis,  daB  man  sich  mit  einer  Neustrukturierung 
und  neuen  inhaltlichen  Ausrichtung  des  Vereins  befassen  wollte. 


ERGEBNISSE  DER  DISKUSSIONEN:  EIN  NEUER  ANFANG 

Die  Schwerpunkte  der  Diskussion  lagen  auf  folgenden  Problemkreisen: 

1.  Kann  man  die  Familienhilfe  aus  der  isolierten  Beziehung     ein 
Meinzelner  Familienhelfer  flir  eine  Familie"   herausfuhren. 

Die  dazu  bisher  unternommenen  Versuche  waren  nur  teilweise  er- 
folgreich  und  haben  in  Bezug  auf  die  Eltern  vollig  versagt. 

2.  Die  Situation  der  Frau  in  den  Familien: 

Da  die  Unterdruckung  der  Frau  in  vielen  von  uns  betreuten  Familien 
besonders  exemplarisch  ist,  ist  es  dringend  notwendig,   zu  uberle- 
gen,  wie  diese  Situation  verandert  werden  kann. 

3.  Wie  tritt  der  Verein  nach  auBen  auf? 

Arbeitsrechtliche  Probleme  der  einzelnen  FH's  als  Honorarkrafte. 


Als  Ergebnis  und  Neuorientierung  wurden  festgehalten: 

-  Zusammenarbeit  mit  anderen  Gruppen  ahnlicher  Zielsetzung 

-  verstarkte  Diskussion  urn  Einordnung  der  Familienhilfe  in  ein  Kon- 
zept  "Alternativer  Sozialarbeit" 

Familienhilfe  soil   dazu  beitragen,  einen  emanzipatorischen  Ansatz 
in  der  Sozialarbeit  zu  verwirklichen.    (Hilfe  zur  Selbsthilfe) 
Die  objektiven  Ursachen  der  Situation  der  Familien  sollen  aufgedeckt 
und  die  Familien  befahig  werden,  sich  kritisch  mit  den  Ursachen  ihrer 
Lage  auseinanderzusetzen.   Dazu  gehbrt,  das  SelbstbewuBtsein  innerhalb 
der  eigenen  Schicht  zu  wecken,  da  die  Mittelschichtsorientiertheit 
der  meisten  Familien  verhindert,  adaquate  Problemlbsungsstregien  zu 
entwickeln  und  nur  Anpassungsmechanismen  produziert.  Zu  diesen  Pro- 
blemlbsungsstrategien  gehbrt  ein  starkerer  ZusammenschluB  der  betrof- 


fenen  Familien,  d.h.   die  Isolation  der  Familien  und  der  Familien- 
hilfe soil  aufgebrochen  werden.   Ferner  gehort  dazu  eine  Starkung 
der  Familien  gegenuber  den  Amtern;  die  Ursachen  der  Aggressionen 
sollen  in  Gesprachen  aufgedeckt  werden;  ein  LernprozeB  zur  Artikula- 
tion  von  Gefuhlen  soil   eingeleitet  werden. 

Ausqehend  von  diesem  neu  formulierten  Anspruch  ergeben  sich  fur  die 
methodische  und  organisatorische  Arbeit  des  Vereins  folgende  Konse- 

Grund^age  der  Arbeit  jeden  Familienhelfers  muB  die  Arbeit  in  einer 
kleinen  dezentralen  Gruppe  sein,  welche  sich  moglichst  an  Stadttei- 

IrTdiesen  Gruppen  soil   eine  Theorie-Praxis  Diskussion  gefiihrt  werden, 
durch  welche  letztlich  die  Verbindung  zwischen  konkreter  Arbeit 
und  politischem  Anspruch  hergestellt  werden  kann.   Diese  dezentralen 
Gruppen  bilden  die  Basis  fur  eine  angestrebte  Stadtteilarbeit,  durch 
welche  dann  die  Isolation  der  Familienhilfe  aufgehoben  werden  soil. 
Die  Organisation  und  [Coordination  des  Vereins  geschieht  durch  ein 
14taqig  stattf indendes  Delegiertentref fen  aus  Vertretern  der  einzel- 
nen Arbeitsgruppen.   Diese  Delegierten  wechseln  standig,  urn  zu  ver- 
meiden     daB  sich  eine  abgehobene  Gruppe  konstituiert.  Wichtige  Ent- 
scheidungen  werden  auf  der  Mitgliederversammlung  gefallt. 

Der  letzte  wichtigste  Diskussionspunkt.der  fur  die  Zukunft  des  Ver- 
eins von  entscheidender  Bedeutung  ist,  ist  die  Auseinandersetzung 
mit  dero  Berliner  Senat. 

Nachdem  Kreuzberg  1970  ein  eigenes  Modell  von  Familienhilfe  konzi- 
pie»-t  hatte,  d.h.    sie  beschrankten  sich  im  wesentlichen  auf  eine 
Kopie  der  Berliner  Gesellschaft  nur  daB  weniger  bezahlt  und  mehr 
kontrolliert  wurde,  hat  der  Berliner  Senat  flir  1978  einen  eigenen 
Etat  fjr  Familienhilfe  eingerichtet  und  plant  neue  Ausfuhrungsvor- 
schriften  fur  Familienhilfe.  Weder  zum  einen  noch  zum  anderen  wurde 
die  BGfH  in  die  Diskussion  mit  einbezogen. 

Sollte  sich  diese  Entwicklung  in  den  einzelnen  Bezirksamtern  durch- 
setzen,  ware  der  BGfH  erst  mal  die  bkonomische  Grundlage  entzogen. 

Wir  haben  darauf  in  doppelter  Weise  reagiert.   Erstens  in  Anfragen 
hei  den  entsprechenden  Senatsstellen  unter  Hinweis  der  Unwirtschaft- 
lirhkeit  eines  Ausbaus  der  Verwaltung,  da  bei  uns  ein  Vermnttlungs- 

vstem  schon  besteht.   Zweitens,  und  dies  ist  die  einzig  wirksame 
MPthode     in  Gesprachen  mit  den  einzelnen  Sozialarbeitern  auf  die 
Notwendigkeit  einer  unabhangigen  Organisation  hingewiesen     um  mit 
Unterstutzung  der  Sozialarbeiter  auf  die  Veranderung  der  Senatsplane 
einzuwirken     Dies  hat  in  einigen  Bezirken  schon  erste  Erfolge  ge- 
TPiat  und  wird  von  uns  noch  weiter  intensiviert. 
Ein  weiterer  Auseinandersetzungspunkt  mit  den  Rmtern  ist,  die  Stun- 
denzah     und  Dauer  der  Einsatze  mehr  am  tatsachlichen  Bedarf  aufzu- 

■   II  I     W**  arbeitsrechtliche  Problem  als  Honorarkrafte  soil  d1e 
^!Sn.SlltrSl  S  slcUbel  der  OTV  konsti tutierten  Honorar- 
kraftegruppe  gemeinsam  angegangen  werden. 


89 


KANN  DIE  FAMILIENHILFE 

EINE  ALTERNATIVE  ZUR  HEIMERZIEHUNG  DARSTELLEN? 

Aufgrund  jnserer  bisherigen  Erfahrungen  muB  man  dazu  sagen,  daB  Fa- 
milienhilfe  alleine  kaum  als  Alternative  zur  Heimerziehung  ausreicht. 
Was  Familienhilfe  leisten  kann,   ist,  eine  gewisse  Praventivfunk- 
tion  im  Vorfeld  der  Heimerziehung  zu  Iibernehmen.   Dies  ist  aber  eine 
Funktion,  die  durchaus  nicht  im  Widerspruch  zu  staatlicher  Intention 
liber  die  Aufgabe  von  Familienhilfe  besteht.   Zu  fragen  bleibt  also, 
inwieweit  Familienhilfe  tatsachlich  eine  Alternative  darstellen 
kann,   und  zwar  nicht  nur  im  formalen  Sinn  als  Komplement  zur  Heim- 
erziehung, sondern  im  Kontext  einer  alternativen  Sozialarbeit. 
Was  sind  eigentlich  die  Unterschiede  zur  institutionalisierten  So- 
zialarbeit? 
Wird  der  noch  existierende  Freiraum  uberhaupt  von  uns  genutzt? 

Anhand  dieser  Fragestellungen  wurde  uns  sehr  schnell  deutlich: 

1.  Der  Mangel  an  Reflexion  uber  den  politischen  Anspruch  und  die 
tatsachl  iche  Arbeit. 

2.  Die  Begrenztheit  der  tatsachl ichen  Mbglichkeiten,  wenn  man  Fami- 
lienhilfe isoliertbetrachtet  und  praktiziert. 

Die  beabsichtigte  Institutionalisierung  der  Familienhilfe  maehte  es 
endlich  auch  fur  uns  unumganglich,  uns  rtrit  der  politischen  Perspek- 
tive  unserer  Arbeit  auseinanderzusetzen.   Wir  haben  in  langeren  Dis- 
kussionen  erkannt,  daB  Familienhilfe  fur  uns  nur  wirklich  dann  sinn- 
voll   sein  kann,  wenn  man  sie  als  Teil   eines  umfassenderen  Konzeptes 
von  Stadtteilarbeit  betrachtet,  wobei  sie  gerade  wichtige  Voraus- 
setzungen  der  Kontaktaufnahme  in  den  einzelnen  Stadtteilen  schaffen 
kann.   Nur  so  kann  eine  Arbeit  entstehen,  bei  der  Ansatze  einer  alter- 
nativen Sozialarbeit  verwirklicht  werden  kb'nnen. 

Wir  haben  diesen  Erkenntnissen  Rechnung  getragen,  den  alten  Verein 

aufgelost  und  einen  neuen  gegrlindet.   Dieser  neue  Verein,  Berliner 

Gesellschaft  fiir  Sozialarbeit,   ist  von  seiner  Struktur  her  so  ange- 

legt, 

daB  das  Ziel  einer  dezentralen  Stadtteilarbeit  erreicht  werden  kann, 

daB  die  Mb'glichkeit  zu  guter  Kommunikation  unter  den  Fami  lienhelfern 

gegeben  ist  (verbindliche  Mitgliedschaft  und  verbindliche  Mitarbeit 

in  den  Arbeitsgruppen) , 

daB  die  Organisation  besser  funktioniert  (Zusammenlegung  von  Vermitt- 

lung  und  Geschaftsstelle). 

Wir  haben  uns  damit  von  Anfang  an  bem'u'ht,  dem  Verein  eine  breitere 

Basis  zu  geben,  als  die  ausschl ieBliche  Fixierung  auf  Verhinderung 

von  Heimeinweisungen,  da  dies  noch  keine  alternative  Sozialarbeit 

bedeutet. 


Kinderschutz  -  Zentrum,  VVestberlin 
BEVOLKERUNGSNAHE  FAMILIENHILFE 


Vor  Uber  zwei  Jahren  ist  das  Kindersahuts-Zentrum  der  Offentlichkeit 
■oorgestellt  warden.   Ging  es  anfangs  darum,    seine  Arbeitsweise  und 
Funktion  uberhaupt  zu  begriinden  una  Finanzieiiingsmogliahkeiben  dursh- 
zusetzen,   so  wird  mittlerweile  eine  neue  Phase  eingeleitet. 
Seit  September  dieses  Jahres  wurde  ein  Stadtteil-laden  eingeriahtet, 
urn  die  Arbeit  der  Melde-und  Nothilfestelle  zu  intensivieren. 

Kindersohuts-Zentrum,   das  heilit  auch:  eine  offensive  Antwort  auf 

die  Bestrebungen,    Sozialarbeit  hinter  versohlossenen  Tttren  und  Mauern 

zu  praktizieren. 


DIE  NOTWENDIGKEIT  DES  KJNDERSCHUTZES 

In  den  letzten  Jahren  hat  sich  die  begriindete  Einsicht  verbreitet, 
daB  die  Lage  der  Kinder  in  der  Bundesrepublik  alles  andere  als  zu- 
friedenstellend  ist.   Nicht  von  ungefahr  wird  in  diesem  Zusammenhang 
von  einer  weit  verbreiteten  Kinderfeindlichkei t  gesprochen,  von 
einer  strukturellen  Benachteil igung  und  Gefahrdung  unseres  Nachwuch- 
ses. 

Diese  Diskussion  -  die  auch  zu  parlamentarischen  Initiativen  geflihrt 
hat  (1)  -  macht  deutlich,  daB  nicht  nur  die  Situation  der  Kinder  im 
Bereich  von  Erziehung  und  Ausbildung  grundlegender  Verbesserung  be- 
darf.  Gleichzeitig  ist  ein  Eingreifen  in  die  Wohn-  und  Familienver- 
haltnisse,  die  Umweltbedingungen,  in  das  Gesundheitssystem  geboten, 
wenn  der  grundgesetzlich  verankerte  Anspruch  auf  Entfaltung  und  Fbr- 
derung  des  Kindes  eingelbst  werden  soil. 

Die  Beschneidung  und  Verweigerung  grundlegender  Lebens-  und  Entfal- 
tunqsrechte  der  Kinder  all ein  als  ein  Problem  des  Familienzusammen- 
hanas  zu  sehen,  wurde  zu  kurz  greifen.  Solche  Beeintrachtngungen  zei- 
aen  sich  auf  der  institutionellen  Ebene  (z.B.  in  den  schulischen 
Finrichtungen,  im  Fursorgewesen)  ebenso  wie  auf  der  sozial-struktu- 
rellen  Ebene,  in  den  gesellschaftlichen  Ungleichheitsverhal  tmssen, 
die  unterschiedliche  Entwicklungschancen  setzen.    (2) 

In  diesem  sozialen  Gesamtzusammenhang  ist  auch  die  Problematik  der 
K  ndesmiBhandlung  zu  sehen.  Ausn«B  und  Folgen  der  Gewalt  gegen  Km- 
dlr  beunruhigen  die  Offentlichkeit  in  zunehmendem  MaBe.    (3)   Die 
Sandlung  von  Kindern  umfaBt  aber  mehr,  als  man  bisher  in  An  eh- 
Mibnanaiuny     u  Bestimmungen  darunter  verstanden  hat:   Kindes- 

Z  a     1  s     nicht Imin  die  Llierte  gewaltsame  Beeintracht,- 

miiinanaiuny  MiBhandlung  von  Kindern  umfaBt  vielmehr 

^e^^amthelt  der  LebensbedingungU  der  Handlungen  und  Unterlassun- 

-  91    - 


gen, die  dazu  fiihren,  daB  das  Recht  der  Kinder  auf  Leben,  Erziehung 
und  wirkliche  Fbrderung  beschnitten  wird.   Das  Defizit  zwischen  die- 
sen  den  Kindern  zugesicherten  Rechten  und  ihrer  tatsa'c hi  ichen  Lebens- 
situation  macht  die  Gesamtheit  der  KindesmiBhandlungen  aus.    (4) 

Gegenwa'rtig  wird  nur  ein  kleiner  Ausschm'tt  solcher  Gewalttatigkeit 
gegen  Kinder  bekannt:  ein  Bruchteil   besonders  zugespitzter  Falle 
kdrperlicher    MiBhandlungen.   Die  in  den  polizeilichen  Kriminalstati- 
stiken  ausgewiesencn  Fa'lle  von  Gewalt  gegen  Kinder  belegen  nicht  das 
gesamte  AusmaB  allein  der  kbrperlichen  MiBhandlungen.  Allerdings  han- 
delt  es  sich  bei  den  in  der  Offentlichkeit  beliebten  Hinweisen  auf 
das  AusmaB  der  Dunkelziffer  -  95  %  -  um  pure  Spekulationen. 

Ohne  jeden  Zweifel   haben  wir  es  in  der  Bundesrepublik  mit  einem  weit 
verbreiteten  Problem  zu  tun,  dem  ein  psychischer,  sozialer  und  kul- 
tureller  Ursachenzusammenhang  zugrundeliegt.    Seine  wesentlichen  Ele- 
mente  sind: 

-  gesellschaftl  iche  Verhaltm'sse,  die  eine  gewal tfbrmige  Auspragung 
zwischenmenschl icher  Beziehungen  hervorbringen  und  Erziehungstra- 
ditionen  festigen,  die  auf  die  autoritare  Festlegung  des  Nachwuch- 
ses  zielen, 

-  das  Fehlen  bzw.   die  Knappheit  dessen,  was  man  zum  tagl ichen  Leben 
braucht  -  d.h.   auch  das  weitgehende  Fehlen  von  Kenntnissen  und 
Fahigkeiten,   die  zur  Bewaltigung  des  Lebens  in  den  entwickelten 
Industriestaaten  notwendig  sind  -, 

-  die  durch  lebensgeschichtliche  Erfahrungen  verfestigten  Persbnlich- 
keitsstrukturen,  die  eine  reali tatsgerechte  und  das  heiBt  auch 
kritisch  reflektierte  Verarbeitung  individueller  Bedurfnisse  und 
gesellschaftl icher  Anspruche  nicht  gestatten, 

-  die  Gefahrdung  bzw.   die  Zerruttung  des  familialen  Lebenszusammen- 
hangs,  der  als  isolierte  Privatspahre  dem  gesellschaftl ichen  Druck 
immer  haufiger  nicht  mehr  standhalt.    (5) 

Nan  muB  sich  darliber  hinaus  klarmachen,  daB  Kinder  in  einer  Gesell- 
schaft,  die  zum  Kind  immer  weniger  motiviert  ist,  eher  als  eine  Be- 
lastung  als  etwas  Bef riedigendes  erlebt  werden.    Kinder  machen  Arbeit, 
sie  verlangen  nach  Hilfe  und  Zuwendung,  sie  entsprechen  haufig 
nicht  den  drangenden  Liebeserwartungen  ihrer  El  tern.   Kinder  aufzu- 
ziehen  heiBt  nicht  selten:   auf  die  Befriedigung  eigener  Bedlirfnisse 
zu  verzichten,  eine  Ausbildung  Oder  eine  berufliche  Tatigkeit  zuru'ck- 
zustellen,  eingeengt  zu  sein.   Die  Enttauschung  darliber  und  die  Dauer- 
beanspruchung  durch  kleine  Kinder  fiihren  nicht  selten  zu  gewaltsam 
ausgetragenen     Konflikten  in  der  Familie. 

Diesen  sozialen  Problemzusammenhang  mussen  Bemlihungen  um  einen  kon- 
kreten  Kinderschutz  berucksichtigen,  wenn  sie  einen  real  istischen 
Ausgangspunkt  gewinnen  wollen. 

Obwohl  wir  Kinderschutzbestrebungen  in  Deutschland  nun  schon  seit 
der  Jahrhundertwende  kennen   (6)  und  wir  es  heute  mit  einem  entwickel- 
ten staatl ichen  System  der  Jugendpflege  und  Jugendfu'rsorge  zu  tun 
haben,   ist  die  gegenwartige  Situation  des  Kinderschutzes  in  der  Bun- 
desrepublik Deutschland  doch  in  jeder  Hinsicht  unbefriedigend. 

Die  staatlichen  Einrichtungen,  in  deren  Zustandigkeit  Kinderschutzan- 


-  92  - 


gelegenheiten  fallen,  wie  Familienf'u'rsorge,  Erziehungsberatung, 
Sauglingsfursorge  usw.,  sind  kaum  auf  ein  Eingreifen  in  Mi'Bhandlungs- 
situationen  vorbereitet,  ihnen  fehlen  weitgehend  die  Mittel  und  die 
flir  diese  Aufgabe  qualifizierten  Mitarbeiter.   Arbeitsbelastung  und 
arbeitsteilige  Struktur  der  behordlichen  Sozialarbeit  erschweren 
die  sofortige  und  umfassende  Hilfe  in  Notsituationen  und  die  inten- 
sive Auseinardersetzung  mit  Problemen  einzelner.   Notwendige  Praven- 
tiv-  und  NachsorgemaBnahmen  lassen  sich  aus  ahnlichen  Gr'u'nden  nicht 
verwirklichen.   Die  Beratungs-  und  Hi Ifseinrichtungen  sind  im  Zuge 
einer  zunehmenden  Verrechtlichung  des  Sozialwesens  von  Burokrati- 
sierung  nicht  verschont  geblieben,  mit  der  Folge,  daS  neue  produkti- 
ve  wege  der  Problembewaltigung  eher  versperrt  wurden.   Zudem  gelingt 
es  haufig  nicht,  die  Kluft  zwischen  den  Betroffenen  und  den  Behorden 
bzw.   den  als  Behorden  erscheinenden  Einrichtungen       zu  schlieSen. 
Behdrdliche  Sozialarbeit  wird  immer  noch  als  ein  Sanktionsapparat 
verstanden,  der  mit  gesetzlichen  MaBnahmen  reagiert,  schwer  durch- 
schaubar  und  daher  auch  kaum  zu  beeinflussen  ist. 


KINDERSCHUTZ  -  ZENTRUM  -  EIN  MODELL 

Was  not  tut,   ist  die  Errichtung  ei nes  Kinderschutz-Zentrums.   Es 
tragt  zur  konkreten  Bekampfung  und  Vorbeugung  der  Gewalt  gegen  Kin- 
der in  unserer  Gesellschaft  bei.   Es  stellt  eine  bevbl kerungsnahe 
soziale  Hilfseinrichtung     neuen  Typs  dar.  Es  soil   dort  errichtet 
werden,  wo  die  Belastungen  gegenwartiger  Lebensverhal tnisse  sich  zu 
Konfliktzusammenballungen  verdichten,  die  sich  in  MiBhandlungen  von 
Kindern  explosionsartig  entladen.   Sie  sind  heute  an  der  Tagesordnung 
und  keinesfalls  die  Ausnahme  von  der  Regel . 

Ein  solches  Kinderschutz-Zentrum  in  groSstadtischem  Ballungsgebiet 
soil  ein  wissenschaftlich  uberlegtes  Eingreifen  in  akuten  Notlagen 
ermbgl ichen  und  zugleich  zur  Verhutung  von  MiBhandlungen  beitragen. 
Es  stellt  keine  dem  Gefangnis  vorgelagerte  Ermittlungsbehbrde  dar 
und  ist  kein  familien-  oder  erziehungsideologisches  Belehrungsinsti- 
tut.  Die  Aufgabe  des  Kinderschutz-Zentrums  liegt  nicht  darin,  die 
in  Schwierigkeiten  geratenen  Menschen  -  Erwachsene  und  Kinder  glei  - 
chermaBen  -  als  "Kranke",  "Nicht-Normale",  "Verrlickte"  oder  "halt- 
lose  Verbrecher"  zu  behandeln. 

Es   ist  vielmehr  die  Aufgabe  des  Kinderschutz-Zentrums,   die  Betroffe- 
nen    zu  befahigen,  im  Kontakt  mit  anderen,  nicht  zuletzt  mit  sach- 
verstandigen  und  ernsthaft  engagierten  Mitarbeitern,   ihre  Probleme 
aus  eigener  Kraft  zu  bewaltigen.   Es  soil  Hilfe  dort  geleistet  werden, 
wo  der  einzelne  bzw.   die  einzelne  Familie  Liberfordert  ist.   Ein  sol- 
cher Kinderschutz  ist  gemeinwesen-orientiert,  d.h.   er  lebt  von  der 
Einbeziehung  der  Betroffenen,  ihren  Erfahrungen  und  Kraften,  wie  ver- 
schuttet  auch  immer  sie  sein  mbgen.   Er  baut  nicht  allenn  auf  den  gu- 
ten  Rat     sondern  versucht  dazu  beizutragen,  gegenuber  zerstorten 
und  oroblematisch  gewordenen  Lebenszusammenhangen  neue,  produktivere 
iPbens-  und  Erziehungsmbglichkeiten  ein  Stuck  weit  zu  schaffen.   Die- 
seenge  Verbindung  von  Beratung  und  Hilfe  kann  sich  im  Gegensatz  zu 
ueit  verbreiteten  Parzellierungstendenzen  innerhalb  der  Sozialarbeit 
nicht  auf  wenige  Teilbereiche  beschranken.   Um  eine  eigenstandige 
Fntwicklung  mit  dem  Ziel  der  Selbsthilfe  zu  ermbgl ichen,  muB  viel- 


mehr der  gesamte  Familien- 
berucksichtigt  werden. 


id  Lebenszusamnenhang  des  einzelnen  mit- 


-  93 


Eine  derartige  Einstellung,  die  es  nicht  zula'Bt,   KindesmiShandlun- 
gen  in  blirokratischer  Form  Uber  die  Mbglichkeiten  der     Betroffenen 
hinweg  abzufertigen,   setzt  daher  das  Prinzip  der  Freiwil ligkeit  vor- 
aus.   Denn  erst  auf  dieser  Grundlage  kann  der  Wille  und  das  BewuBt- 
sein  der  Betroffenen  als  ein  wesentliches  Moment  fur  wirksame  Hilfe 
aktiviert  werden.    Dieses  Prinzip  der  Freiwill igkeit  findet  dort  sei- 
ne Grenze,  wo  das  Nicht-helfen-lassen-wollen  von  betroffenen  Erwach- 
senen  das  Leben  der  betroffenen  Kinder  gefahrden  kb'nnte,  d.h.   wenn 
akute  Lebensgefahr  besteht  bzw.  wenn  die  Eltern  absehbar  nicht  in 
der  Lage  sind,  flir  das  Kind  angemessen  zu  sorgen. 
Aus  dem  Prinzip  der  Freiwi 11 igkeit  folgt,  daB  im  Kinderschutz-Zent- 
rum  das  Prinzip  der  Straflosigkeit  gewahrt  bleiben  muB.   KindesmiBhand- 
lung  unterliegt  als  Offizialdelikt  der  Strafverfolgung;  in  zunehmen- 
dem  MaBe  ber'Ucksichtigen  die  urteilenden  Richter  die  dem  MiBhandlungs- 
delikt  zugrunde  liegenden  Lebensumstande  und  den  Gesichtspunkt  der 
Resozialisierung.   Das  Prinzip  der  Straflosigkeit  bedeutet,  daS  das 
Kinderschutz-Zentrum  nicht  als  strafverfolgende  Institution  auftritt; 
die  Beziehungen  zwischen  den  Betroffenen  und  dem  Kinderschutz-Zent- 
rum sind  therapej/tischer  Art.   All e  bisherigen  Erfahrungen  zeigen, 
daB  dem  Problem  der  KindesmiBhandlung  mit  verscharfter  Strafandro- 
hung  nicht  beizukommen  ist. 

Es  ware  verfehlt  zu  versuchen,  mit  einem  Kinderschutz-Zentrum  die 
ganze  mbgliche  Vielfalt  von  Kinderschutzaufgaben  in  unserer  Gesell- 
schaft  abzudecken.    Beim  gegenwartigen  Stand  der  Kinderschutzbemuhun- 
gen  in  der  Bundesrepublik  kann  es  sich  vielmehr  nur  darum  handeln, 
ein  Modell   zu  entwickeln,  

-  das  sich  auf  einen  Ausschnitt  notwendiger  und  vordrmgl  icher  Hil- 
fen  konzentriert  und  gleichzeitig  mit  anderen  Einrichtungen  der 
Sozialarbeit  zusammenarbeitet, 

-  das  eine  Initiativfunktion  fiir  staatliche  wie  private  Bemuhungen 
auf  dem  Gebiet  des  Kinderschutzes  hat, 

-  das  schlieBlich  ein  Beispiel   ist  fur  eine  auf  die  Probleme  der 
Praxis  der  sozialen  Arbeit  gerichteten  Forschung  und  Wei terbildung. 

Neue  Modelle  einer  die  ganze  Familie  umfassenden  Therapie  und  Hilfe 
kbnnten  auch  in  Zusamnenarbeit  mit  der  behbrdlichen  Sozialarbeit 
bzw.  mit  freien  Initiativen  -  wie  z.B.  dem  in  Berlin  bestehenden 
Frauenhaus  -  entwickelt  und  erprobt  werden.  Das  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM 
BERLIN  wird  sich  an  der  Entwicklung  solcher  Modelle,  die  auch  einen 
Beitrag  zur  Umstrukturierung  des  Heimwesens  leisten  kbnnten,  betei- 
ligen. 

AUFGABEN  DES  KINDERSCHUTZ  -  ZENTRUMS 

Die  Hauptaufgabe  des  Kinderschutz-Zentrums  besteht  darin,  den  Fami- 
lien,   in  denen  es  zu  KindesmiBhandlungen  bzw.   -vernachlassigungen 
kommt,   arztliche,   psychologische,  padagogische  und  juristische  Hil- 
fe, das  heiBt,  eine  umfassende  lebenspraktische  und  wissenschaft- 
lich  fundierte  Hilfe  anzubieten.  Der  Verbund  von  jederzeit  zugang- 
lichen  HilfsmaBnahmen  zeichnet  das  Kinderschutz-Zentrum  gegenliber 
den  hocharbeitsteilig  aufgesplitterten  und  burokratisch  strukturier- 
ten  Hilfen  auf  dem  Gebiet  der  Sozialarbeit  aus.  Die  Ratsuchenden 
diirfen  in  der  schwierigen  Situation,  in  der  sie  sich  befinden,  nicht 


94 


mit  dem  Hinweis  auf  anderwartige  Zustandigkei t  abgewiesen  werden. 
Das   KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  umfaBt  vier  Schwerpunktbereiche: 


1.   Melde-  und  Nothilfestellen 


Das  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  errichtet  eine  Tag  und  Nacht  erreichbare 
Melde-  und  Nothilfestelle.   Sie  bildet  den  Zugang  zum  Zentrum.  Als 
"Anlaufstelle"  stellt  sie  den  ersten  Kontakt  zu  den  Ratsuchenden  her 
und  ninmt  Hinweise  aus  der  Nachbarschaft,  den  Schulen  und  Kindergar- 
ten, aber  auch  aus  der  breiteren  dffentlichkeit,  den  Einrichtungen 
der  Sozialarbeit  und  des  Gesundheitswesens  entgegen.   Sie  leistet 
"Erste  Hilfe",  die  alien  anderen  Hilfen  vorausgeht. 
Nothilfe  heiBt  ein  Zweifaches:   den  Hinweisen  auf  MiBhandlungen  oder 
Vernachlassigungen  wird  nachgegangen   (Untersuchungsarbeit)   und  es 
wird  schnell   in  Konfliktsituationen  eingegriffen   (Kriseninterven- 
tion).   Darunter  verstehen  wir  alle  Initiativen  und  Angebote,  die 
dazu  beitragen,  akute  Krisensituationen  in  den  Familien  zu  "ent- 
scharfen",  die  eine  erste  Klarung  ermbglichen  und  eine  Perspektive 
erbffnen,  wie  die  bestehenden  Probleme  bewaltigt  werden  kbnnen   (Be- 
handlungsplan). 

Die  Beratung  in  der  Melde-  und  Nothilfestelle  stellt  eine  "soziale 
Kurzberatung"  dar;  sie  wird  in  der  Regel  mit  Hausbesuchen  verbunden. 
Der  weitere  Kontakt  mit  dem  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  wird  dadurch  ge- 
wahrleistet,  daB  derjenige  Mitarbeiter  der  Nothilfestelle,  der  den 
ersten  Kontakt  zu  einer  Familie  hatte,  in  der  Regel  auch  die  weitere 
Beratung  libernimmt.   Das  bedeutet,  daB  die  Mitarbeiter  im  Schwerpunkt- 
bereich  "Erziehungs-  und  Familienberatung"  gleichzeitig  in  der  Not- 
hilfestelle arbeiten,  und  umgekehrt. 

Das   Eingreifen  in  akuten  Notfallen  setzt  eine  standige  Erreichbar- 
keit  rund  urn  die  Uhr  voraus,  zumal   sich  familiale  Krisensituationen 
erfahrungsgema'B  in  den  Abendstunden,  an  Wochenenden  und  an  Feierta- 
gen  haufen.   In  den  Nachtstunden  wird  eine  Rufbereitschaft  eingerich- 
tet. 


2.   Kinderwohngruppe 


Die  Erfahrungen  zeigen,  daB  es  notwendig  ist,  fiir  Kinder  in  sie  ge- 
fahrdenden  Notlagen  "Fluchtorte"  zu  schaffen.  Eine  solche  kurzfri- 
stige  Aufnahmembglichkeit  bietet  die  Kinderwohngruppe.  Sie  soil  fiir 
mindestens  funf  Kinder  Platz  bieten.  In  sofort  aufzunehmenden  Bera- 
tungen  mit  den  Eltern  bzw.  Erziehungsberechtigten  soil  gepriift  wer- 
den, ob  eine  Wiedereingliederung  des  Kindes  in  die  Familie  mbglich 
und  sinnvoll   erscheint. 

In  der  Kinderwohngruppe  leben  sozialpadagogisch  und  psychologisch 
qualifizierte  Betreuer,  vielleicht  auch  mit  eigenen  Kindern.  Dieses 
Konzept  gewahrleistet,  daB  die  Kinder  in  einen  normalen  familiaren 
Tagesablauf  integriert  sind;  eine  anonyme      Heimatmosphare  wird  ver- 
mieden. 

Die  Aufnahme  eines  Kindes  in  die  Kinderwohngruppe  darf  nicht  darauf 
h  nauslaufen,  es  grundsatzlich  aus  seinem  bisherigen  sozialen  Zusam- 
menhang  zu  reiBen.  sondern  sie  muB  berucksichtigen,  daB  das  Kind  die 
bisherigen  Kontakte  -  soweit  im  Interesse  des  Kindes  sinnvoll   und 

-  95  - 


moglich  -  aufrechterhalten  oder  sogar  stabilisieren  kann.  Das  bedeu- 
tet,  daB  der  Besuch  der  bi slang  besuchten  Schule  oder  des  Kindergar- 
tens mdglichst  nicht  unterbrochen  wird.   Fur  einen  regelma'Bigen  Kon- 
takt  mi t  den  Eltern  wird  in  beiderseitigem  Einverstandnis  gesorgt. 
Die  Kinderwohngruppe  wird  durch  Sonderpflegestellen  erganzt,  die  fur 
jeweils  zwei   Kinder  eine  langerfristige  Alternative  zur  Familie  er- 
bffnen.   In  diesem  Zusammenhang  soil   in  Kooperation  mit  den  fur  das 
Pflegewesen  zusta'ndigen  Behorden  und  freien  Initiativen  ein  Netz  von 
Pflegestellen  geschaffen  werden,  die  in  einem  engen  Kontakt  zum 
KINDERSCHUTZ    -ZENTRUM  stehen. 


3.  Erziehungs-  und  Familienberatung 


KindesmiBhandlungen  stellen  nach  ubereinstimnenden  Forschungsergeb- 
nissen  eine  Zuspitzung  nicht  bewaltigter  Konf liktsituationen  dar, 
die  sich  typischerweise  in  der  Isolation  privater  Lebensverhaltnis- 
se  und  bei  einem  hohen  Grad  zwischenmenschlicher  Gleichgtiltigkeit 
ergeben,  aus  denen  es  keinen  anderen  Ausweg  als  den  der  Gewalt  gegen 
diejenfgen  zu  geben  scheint,  die  doch  zugleich  geliebt  werden  und 
auf  die  man  mit  seinen  Bediirfnissen  und  Anspruchen  so  unimttelbar 
angewiesen  ist.   Haufig  sind  diese  Familien  auch  nach  auBen  hin  vol- 
lig  isoliert.  ... 

Hier  kann  eine  die  bisher  undurchschauten  lebensgeschicht  ncnen 
Verstrickungen  aufhellende  Beratung  eingreifen.  Das   KINDERSCHUTZ- 
ZENTRUM  umfaBt  deshalb  das  Angebot  einer  umfassenden  Lebens-,  the-, 
Familien-  und  Erziehungsberatung.   Sie  vollzieht  sich  sowohl   in  der 
Form  der  Einzelberatung  als  auch  in  der  Form  der  Gruppenberatung. 
Sie  findet  nach  einvernehmlicher  Absprache  entweder  in  den  Raumen 
des  Zentrums  oder  auch  in  der  Familie  selbst  statt. 

Die  Beratungsarbeit,  die  in  jedem  Fall  ohne  langen  Aufschub,  ohne 
Wartezeiten     durchgefuhrt  werden  soil,  muB  sich  zunachst  an  der  ak- 
tuellen  Situation  und  Notlage  der  Familie  orientieren.   In  dan  MaBe, 
wie  die  tieferliegenden  Problemzusammenhange  sichtbar  werden,  kann 
gemeinsam  mit  den  Betroffenen  liber  eine  weitere  Hilfe  entschieden 
werden  (Einzel-  und  Gruppenberatungen). 

Daneben  wird  es  notwendig  sein,  ein  Angebot  an  vielfaltigen   leoens- 
praktischen  Hilfen  zu  machen,  ohne  die  eine  weitere  und  intensiyere 
Bearbeitung  der  vorliegenden  Familienprobleme  in  der  Beratung  hautig 
nicht  gelingt.  Dazu  gehbren:  ;++,.,„„ 

-  die  Entlastung  der  Familie  bei  der  Erziehung  durch  die  Vermittlung 
von  Kindertagesstattenplatzen,  von  Kinderfreizeitmbglichkeiten, 
von  Erholungsaufenthalten,  Schularbeitszirkeln,  Familienhelfern, 

-  Hilfe  bei  Wohnungsproblemen, 

-  Beratung  und  Hilfe  bei   Behbrdenangelegenheiten, 

-  Rechtsberatung  -  vor  all  em  im  Hinblick  auf  Eherechts-  und  Sorge- 
rechtsfragen  -, 

-  arztliche  Hilfe  und  Beratung  bei  Schwangerschaftsproblemen,  Kinaer- 
ernahrungs-  und  -pflegefragen  und  bei   Schwierigkeiten,  den  richti- 
gen  Arzt  zu  finden. 

Die  Form  der  Beratung  wird  einvernehmlich  von  den  Ratsuchenden  und 
dem  Berater  bestimmt  (Einzel-  oder  Gruppenberatung).   Es  kann  der 
Schaffung  eines  fur  die  Beratung  und  Therapie  grundlegenden  Ver- 
trauensverhaltnisses  zugute  kommen,  wenn  die  Ratsuchenden  den  Ort 


96  - 


der  gemeinsamen  Beratung  und  Therapie  selbst  bestiirmen  kbnnen. 
Auch  soil   der  Berater  wahrend  der  Beratungszeit  nicht  wechseln, 
hangt  doch  der  Erfolg  einer  Beratung  bzw.  Therapie  davon  ab,  inwie- 
weit  der  Berater  sich  tatsachlich  auf  die  Probleme  der  Betroffenen 
einlassen  und  inwieweit  er  die  jeden  therapeutischen  ProzeB  gefahr- 
dende  soziale  Distanz  zwischen  ihm  und  dem  Betroffenen  abbauen  kann. 

Was  die  angewandten  therapeutischen  Methoden  betrifft,  so  ist  im 
KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  nicht  beabsichtigt,  daB  sich  die  Mitarbeiter  an 
den  Abgrenzungskampfen  verschiedener  methodischer  Richtungen  und 
"Schulen"   beteiligen.   Vielmehr  geht  es  darum,   bezogen  auf  den  Pro- 
blemzusammenhang  (Familienkrise  und  KindesmiBhandlung)   vorliegende 
Theorien  und  Methoden  kritisch  zu  reflektieren  und  ihre  jeweilige 
Reichweite  praktisch  zu  erproben.    Es  wird  jedoch  notwendig  sein,  ge- 
rade  in  akuten  Familienkrisen,   kurz-  und  mittelfristige  sozialthera- 
peutische  Ansatze  anzuwenden  und  weiterzuentwickeln.   Dabei  soil  nach 
Mbglichkeit  die  gesamte  Familie  in  die  Therapie  einbezogen  werden. 


4.   Forschung,  Dokumentation  und  Weiterbildung 

F'u'r  eine  erfolgversprechende,  an  den  Interessen  und  Problemen  der 
Betroffenen  orientierte  Kinderschutzarbeit  ist  jedoch  Voraussetzung, 
daB  sie  forschungsma'Big  abgesichert  ist  und  standig  wissenschaftlicher 
Oberpriifung  unterliegt. 

In  Zusammenarbeit  mit  dem  Institut  fur  Soziologie  der  Freien  Univer- 
sitat  Berlin  und  mit  der  Fachhochschule  fur  Sozialarbeit  und  Sozial- 
padagogik  sollen  die  folgenden  Untersuchungsvorhaben  in  Angriff  ge- 
nommen  werden: 

I  Intensivuntersuchung  Gewalt  in  der  Familie  (systematische  Auswer- 
tung  dem  Zentrum  bekannt  gewordener  Fa'lle  zur  Herausarbei tung  der 
die  gewaltsam  ausgetragenen  Konflikte  bedingenden  Ursachenzusam- 
menha'nge,  der  Anlasse  und  Folgen  der  MiBhandlungen  und  der  Reich- 
weite sozialpadagogischen     und  sozialtherapeutischen  Eingreifens) ; 
I  KindesmiBhandlung  und  Polizei    (Auswertung  polizeilichen  Materials 
zur  Herausarbeitung  von  Strukturen  und  Problematik  bei   schweren 
Fallen  von  KindesmiBhandlung;  Stichprobenbefragung  beteiligter 
Polizeibeamter  liber  ihre  Erfahrungen  und  Einstellungen  in  Zusam- 
menhang  mit  der  MiBhandlungsproblematik); 
•  Kinderschutz  als  Aufgabe  der  Familienfursorge  -  Mbglichkeiten  und 
Grenzen   (Bestandsaufnahme,  was  die  Familienfursorge  auf  dem  Gebiet 
des  Kinderschutzes  bewirkt,  d.h.,  was  sie  erreicht,  mit  welchem 
Erfolq  sie  eingreift,  wie  die  Arbeit  verbessert  werden  kbnnte). 
Lanqerfristig  ist  geplant,  im  Rahmen  des  KINDERSCHUTZ-ZENTRUMS  die 
Mbqlichkeiten  und  Probleme  kurz-  und  mittelfristiger  therapeutischer 
Interventionen  zu  untersuchen.   Ein  genauerer  Untersuchungsplan  wnrd 
sich  allerdings  erst  im  weiteren  Fortgang  der  Arbeit  entwickeln 
lassen. 

Gleichzeitig  soil   im  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  eine  Dokumentationsstelle 
zur  Situation  der  Kinder  in  der  BundesrepubTik  Deutschland,  uberdie 
Krise  dar  Familie  und  alle  Probleme  der  KindermiBhandlung  eingench- 
£t  werden.  die  alle  bibliographischen  und  matenalmaBigen  Daten 
ijber  diese  Bereiche  erfaBt  und  anderen  Einrichtungen  zur  Verfugung 

,       Die  Dokunentationsstelle  kann  nach  einer  Anl auf phase  mit 
einer  Hochschuleinrichtung  oder  Stiftung  verknupft  werden.   Es  besteht 

-  97  - 


aber  gegenwartig  sowohl   seitens  der  Mitarbeiter  der  Presse  und  der 
Rundfunkanstalten  als  auch  seitens  einer  groSen  Anzahl  von  Studie- 
renden  das  dringende  Bedurfnis,  aktuelles  und  problembezogenes  Ma- 
terial liber  neueste  Forschungen  und  Entwicklungen  in  der  Praxis   in 
die  Hand  zu  bekommen.   Es  ist  auch  an  die  Aufnahme      von  Ton-  und 
Filmmaterial   gedacht.   Die  Dokumentationsstelle  wlirde  mit  der  Ver- 
mittlung  solchen  Materials  zugleich  einen  Beitrag  zu  einer  kritischen 
Uffentlichkeitsarbeit  leisten. 


Die  Mitarbeiter  des  KINDERSCHUTZ-ZENTRUMS  s 
be  in  der  Weitergabe  der  im  Zentrum  gemacht 
der  Vermittlung  der  einschlagigen  wissensch 
die  Berufsgruppen,  die  vornehmlich  mit  den 
handlung  in  Berlihrung  kommen;  auch  hier  wir 
beit  mit  den  bestehenden  Einrichtungen  der 
und  mit  den  Hoch-  und  Fachhochschulen  gesuc 
bote  sind  vordringlich:  Tagungen  mit  Mitarb 
ge  und  Erziehungsberatung,  mit  Lehrern,  mit 
tizierenden  als  auch  Krankenhausarzten) ,  mi 


ehen  eine  wichtige  Aufga- 
en   Erfahrungen  und   in 
aftlichen  Erkenntnisse  an 
Problemen  der  KindesmiB- 
d  eine  enge  Zusammenar- 
Fort-  und  Weiterbildung 
ht.   Die  folgenden  Ange- 
eitern  der  Familienflirsor- 
Arzten  (sowohl  freiprak- 
t  Richtern  und  Anwalten. 


Zeitschrift  fur  politische  Okonomie 
und  soziolistiscke  Politik 


STAND  DES  PROJEKTS  -  UNSERE  ARBEIT  UND  AKTUELLE  PROBLEMS 

Ansatze  zur  praktischen  Arbeit  mit  betroffenen  Familien  wurden  an- 
fangs  nur  sehr  zogernd  betrieben,  was  jedoch  nicht  nur  von  dem  Wol- 
len  der  Mitarbeiter  abhing,   sondern  von  den  Bedingungen, unter  denen 
wir  versucht  haben,  das  Projekt  aufzubauen. 

Vor  uber  zwei  Jahren  wurde  das  Projekt  der  Offentlichkeit  vorge- 
stellt  und  das  Schwergewicht  unserer  Bemlihungen  lag     zunachst  darin, 
inhaltlich  die  Notwendigkeit  eines  solchen  Modells  zu  begrunden. 
Gleichzeitig  hing  davon  unmittelbar  die  Durchsetzung  von  Finanzie- 
rungsmoglichkeiten  ab.   Die  Fachb'ffentlichkeit  bekundete  sofort  leb- 
haftes   Interesse.   Zwei  gro(3e  private  Stiftungen  in  der  BRD  befurwor- 
teten  ihrerseits  eine  finanzielle  Unterstii'tzung  des   KINDERSCHUTZ- 
ZENTRUMS  in  den  ersten  beiden  Model ljahren.   Verhandlungen  mit  der  zu- 
sta'ndigen  Senatsverwaltung  von  Berlin  zur  Klarung  inhal tlicher  Fra- 
gen,  wie  auch  Fragen  der  mittelfristigen  Finanzplanung  sind  seit  Be- 
ginn  angestrebt  und  unter  einigen    Schwierigkeiten  auch  geflihrt  wor- 
den.   Bis  heute  haben  diese  Verhandlungen     zu  folgendem  Ergebnis  ge- 
f'uhrt: 

Der  Senat  hat  schlieBlich  nach  hinhaltenden -Verhandlungen  unserem 
Antrag  an  eine  westdeutsche  Stiftung  zugestimmt.   Diese  Zustimmung 
bedeutet  jedoch  nicht  eine  Zusage  des  Berliner  Senats  zur  Obernahme 
der  Folgekosten,  die  nach  der  Modellphase  1979/80  entstehen  werden, 
wobei   die  zustandige  Senatsverwaltung  deutlich  gemacht  hat,   daB 
langfristig  uberhaupt  nur  die  Finanzierung  eines  Teilbereichs  des 
KINDERSCHUTZ    -ZENTRUMS   (Erziehungs-  und  Fami lienberatung)    in  Frage 
kommt. 

Interessanterweise  steht  dazu  im  Senatsbericht  Uber  die  Situation 
miBhandelter  und  vernachlassigter  Kinder  vom  24.6.76:   "Ob  wohl   die 
Zustand igkei ten,   wie  deutlich  wird,    weitgehend    geregelt    sind   und 
die  zustandigen   Bereiche   sich  urn  eine  gute  Zusammenarbei t   bemuhen, 
kann  nicht  davon  ausgegangen  werden,    daB   unter   den  gegebenen   Bedin- 
gungen   die   Problematik  der    KindesmiBhandl ung   schon   befriedigend   be- 


Wolfram  Looser 
Fiskalpolirik  in  derKrise  74/75 

GeorgiosStamatis 
Staatsausgaben  und  KapHalreprodukrion 

Heimonn/  Mortens/  Miiller 
DielinkeinderSPD 

KariLausdike  *  ZurKritik 
gewerkschohlkherBildungsarbeit 

Diskussion: 

Krabbe  *  KrifikdesGEW-Artikels 

Ebenhans*  Antwortauf  Massarrat 

StamalisundKrause  *  Diskussion 

desMonopol-Artikels 


LinkeinderSPD 
Gewerksdi.  Bildungsarbeit  I 


imAbo 


.Rotbuch 
IVerlug 


98 


waltigt  wurde."   (S.    4)    Dazu  weiter  in  der  Stellungnahme  des  Senats 
zum  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM:    "Insoweit    ist   es   geboten,    alle  Vorschiage 
und  Anregungen   zu    einer  Verbesserung   des    Kinderschutzes   sorgfaltig 
zu  priifen."  Und  weiter,   daB  "der  Bedarf    im  Bereich  von   Erziehungs- 
und   Fami 1 ienberatung  eine  Ausdehnung  der  Angebote  als   notwendig   er- 
scheinen    laSt.    Daru'berhinaus   konnen  auch  aus   anderen   Schwerpunktbe- 
reichen   Erfahrungen   und   Erkenntnisse  gesammelt  und   hergeleitet  wer- 
den,    die  eine  optimaiere  und    intensivere  Aufgabenwahrnehmung    im   Be- 
reich des    Kinderschutzes   aufzeigen,    ohne  daB  die    ...    Einr ichtungen 
unbedingt  erhalten   bleiben  mussen   und  offentlich  finanziert  werden 
miiBten." 

Die  Verwirkli chung  eines  alternativen  Projekts  wie  dem  unserem 
setzt  eine  verantwortungsvolle  Obernahme  aller  Arbeiten  durch  die 
Mitarbeiter  voraus,  was  letztlich  heiBt,  daB  Mitarbeiter  voll  einge- 
stellt  und  finanziert  werden.   Bisher  ist  das  bei   uns  nicht  der  Fall. 
Zwar  verfugt  das  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM     Liber  verantwortungsvolle  Mit- 
arbeiter, nicht  aber  liber  genugend  finanzielle  Mittel,  diese  auch 
anzustellen.   Bisher  arbeiten  alle  ehrenamtlich  und  sind  gezwungen, 
ihren  Lebensunterhal t  durch  andere  Tatigkeiten  sicherzustellen.  Ge- 
meinwesenarbeit    zum  Null-Tarif  la'Bt  sich  bei  der  GroBe  unseres 
Projekts  kaum  durchhalten.  Aber  gerade  die  Arbeit  mit  Familien,  in 
denen  schwere  gewaltsame  Auseinandersetzungen  an  der  Tagesordnung 
sind,  macht  eine  intensive  Betreuung  notwendig.   Wer  kann  das  neben 
Beruf  und  eigenen  Kindern  noch  leisten?  Die  Grenzen  einer  solchen 
Mitarbeit  sind  schon  gesetzt. 

Trotz  der  schwierigen  Situation  haben  wir  dennoch  versucht,  das  Mo- 
dell   in  die  Praxis  umzusetzen.   Standen  im  ersten  Jahr  vor  all  em  Ver- 
handlungen  mit  dem  Senat  von  Berlin  und  eine  gezielte  Offentlich- 
keitsarbeit  im  Vordergrund,  so  hat  sich  die  Arbeit  im  zweiten  Jahr 
zugunsten  von  Beratungsarbeit  gewandelt.   Inzwischen  waren  wir  durch 
Rundfunk-  und  Fernsehsendungen,  Vortragen  vor  Anwalten,  Rrzten  und 
Sozialarbeitern  so  bekannt  geworden,  daB  immer  mehr  Anfragen  urn  Rat 
und  Hilfe  von  alien  Seiten  an  uns  herangetragen  wurden,  obwohl   stets 
auf  den  vorbereitenden  Charakter  unserer  Arbeit  hingewiesen  wurde. 
Seit  ca.   1  Jahr  flihren  nach  und  nach  die  Mitarbeiter  neben  lhrer 
hauptberuflichen  Tatigkeit    fur  das  Zentrum  Notfalleinsatze  bei   pro- 
blematisch  gewordenen  Familienzusammenha'ngen  durch,  gleicnzeitig 
libernehmen  sie  auch  die  weiterfuhrenden  Beratungen  mit  den  Familien. 
Ihre  Arbeit  wird  durch  regelmaBige  Fall-Diskussionen  und  Supervision 
begleitet. 

"Und  wer  schutzt  uns?"  Diese  Frage  haben  uns  in  der  Vergangenheit 
viele  Eltern  gestellt  und  das  nicht  nur  wegen  unseres  Namens.   Kin- 
desmiBhandlungen  gehen  einerseits  mit  Schuldgefiihlen,  andererseits 
aber  auch  mit  dem  Gef'Jhl  der  Eltern  einher,  standi g  mit  Problemen 
allein  gelassen  zu  werden,  von  der  Gesellschaft  dafiir  aber  verur- 
teilt  zu  werden.   Dadurch  entstanden  anfangs  haufig  Probleme,  die  sich 
in  Konkurrenz  zwischen  Eltern  und  Kindern  ausdrlickten  (wessen  Pro- 
bleme sind  schwerer).  Ratsuchende  Eltern  mit  Erziehungsschwierigkei- 
ten  bei   den  Kindern  versuchen  auch  oft,  den  Berater  auf  ihre  Seite 
zu  Ziehen.  Als  Konsequenz  fur  unsere  Arbeit  bedeutet  das,  eine  Ver- 
anderung  in  der  Beratungssituation     zu  erreichen.   Erstgesprache  wer- 
den zwar  nach  wie  vor  von  einem  Mitarbeiter  gefiihrt,   in  der  weiteren 


-  loo 


Beratung  werden  jedoch  zwei  Berater  eingesetzt 
der,  einer  fiir  die  Eltern.   Damit  soil   versucht  w 
nannten  Schwierigkeiten  entgegenzutreten.   Gemein 
gen  mit  der  ganzen  Fami  lie  und  Beratungen  mit  Ei 
wechselnd,  je  nach  Bedlirfnis,   Bestandteil   einer 
die  zur  Problembewaltigung  beitragen  soil. 
Die  Beratungen  finden  in  der  Anfangsphase  stets 
zuhause  statt,  was  zum  Vorteil    hat,  daB  nicht  di 
auf  eine  andere  Umgebung  einstellen  mlissen,  sond 
Betroffenen  bedeutet  das  weniger  Angst  und  keine 


einer  fur  die  Kin- 
'erden,  den  oben  ge- 
same  Therapiesitzun- 
nzelnen  sind  ab- 
Farm'l  ienberatung, 

bei  den  Familien 
e  Ratsuchenden  sich 
ern  wir.   Fiir  die 
anonyme  Atmosphare. 


Das  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  in  seinem  voll en  Ausbau  konnte  unter  den 
Bedingungen,  unter  denen  wir  zu  arbeiten  gezwungen  sind,  bisher  nicht 
realisiert  werden. Bisher  waren  wir  zwar  liber  ein  Euro  telefonisch 
und  schriftlich  erreichbar,  aber  auch  das  nur  wahrend  der  sonst  lib- 
lichen  Blirozeiten  (dies  gilt  allerdings  nicht  fiir  die  Familien,  die 
wir  schon  betreuen).   Zum  Teil   lag  das  daran,  daB  wir  nicht  liber 
eigene  Raume  verfiigten  (fehlende  finanzielle  Mittel),  zum  Teil  an 
der  fehlenden  Zeit  der  Mitarbeiter.   Seit  September  d.J.    versuchen  wir 
mit  einem  erneuten  Kraftaufwand,   in  einem  Laden  in  Berlin-Neukb'lln 
unsere  Arbeit  mit  der  Einrichtung  der  Melde-  und  Nothilfestelle  fort- 
zusetzen.    Es  kann  sich  in  der  momentanen  Situation  dabei   nicht  urn 
eine  Rund-um-die-Uhr  besetzte  Stelle  handeln.   Es  muS  sich  zeigen, 
ob  eine  Besetzung  der  Stelle  zwischen  9-22  Uhr  ausreicht,  oder  ob 
zeitliche  Verschiebungen  notwendig  werden.  Mit  Hilfe  eines  Telefon- 
anrufbeantworters  soil   dies  geklart  werden  . 

Die  Durchsetzung  der  Kinderwohngruppe  stellt  sich  vorlaufig  am 
schwierigsten  dar.   Dafiir  sind  einerseits  sta'ndige  finanzielle  Mittel 
notwendig,  andererseits  sind  mit  den  Behbrden  die  rechtlichen  Grund- 
lagen  und  Bedingungen  noch  nicht  abgeschlossen.   Darunter  fallen  vor 
alien  Dingen  auch  Fragen  nach  der  Errichtung  eines  heilpadagogischen 
Kleinstheimes. 

Die  Forschungsstelle  ist  fiir  die  ersten  beiden  Modelljahre  zu  einem 
Teil   von  der  Fachhochschule  fiir  Sozialarbeit     und  Sozialpadagogik 
abgesi chert. Voruntersuchungen  von  KindesmiBhandlungsfallen  in  der 
Familienflirsorge  laufen  derzeit  an. 

Wer  soil  das  bezahlen? 

Bisher  haben  wir  keinen  einzigen  Pfennig  staatlicher  Unterstlitzung 
qesehen.   Gelder  fiir  Telefon,  Bliromaterial ,   Benzinkosten  usw.   haben 
wir  bei   Freunden,  Bekannten,   Kollegen,  die  regelma'Big  ein  Einkommen 
beziehen,  zusarmengebettelt.   In  letzter  Zeit  haben  wir  auch  Geld- 
buBen  liber  die  brtlichen  Gerichte  erhalten.  Das  reicht  natiirlich 
nicht  hinten  und  vorne.  Wir  sind  auch  auf  Eure  Hilfe  angewiesen. 

KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  BERLIN  e.V. 
Sonnenallee  77 
1000  Berlin  44 

Konten-  Berliner  Bank  (BLZ  100  200  00)   52  54  900  300 
Postscheckamt  Berlin-West:   22281-108 


lol  - 


ANMERKUNGEN 

m  Vql    •   GroBe  Anfrage  der  Bundestagsfraktion  der  CDU/CSU  betr. 
Situation  der  Kinder,  BT-Drucksache  7/2414  und  die  Antwort  der 
Bundesregierung  BT-Drucksache  7/3340. 

Antrag  der  FDP-Fraktion  im  Abgeordnetenhaus  von  Berlin,  Druck- 
sache  7/514  und  der  daraufhin  vorgelegte  Bericht  des  Senats  von 
Berlin,  Drucksache  7/866:   "Bericht  Uber  die  Situation  miBhan- 
delter'und  vernachlassigter  Kinder  in  Berlin." 

(2)  Siehe  hierzu  im  weiteren  auch:  Bast,  H.:   Zur  Lage  der  Kinder  in 
der  Bundesrepublik  Deutschland,  in:   Bast/Bernecker/Kastien/ 
Schmitt/Wolff  (Hrsg.):  Gewalt  gegen  Kinder  -  KindesmiBhandlungen 
und  ihre  Ursachen,  Reinbek  1975,  S.   45 ft. 

(3)  In  Berlin  wird  inner  wieder  gefragt,  ob  Berlin  kmderfeindlicn 
sei     Die  Vorlage  des  Berichts  uber  die  Situation  miBhandelter 
Kinder  in  Berlin  wurde  von  der  Zeitung  "Berliner  Morgenpost 

zum  AnlaB  fur  eine  10-tagige  Serie  uber     KindesmiBhandlungen  ge- 
nommen.  Anzumerken  1st  dazu,  daS  diese  Zeitung  mit  keinem  Hin- 
weis  auf  das  KINDERSCHUTZ-ZENTRUM  aufwarten  kann. 

(4)  vgl . :   Gil,  D.G.:  Unraveling  Child  Abuse,  Am.  J.   Orthopsychiatry, 

April    1975 

(5)  Vgl.:  Wolff,  R.:    KindesmiBhandlungen  und  ihre  Ursachen,  in: 
Gewalt  gegen  Kinder,  a.a.O.,  S.   13-45. 

(61   Der  erste  "Verein     zum  Schutz  der  Kinder  vor  MiBhandlung  und 
Ausnutzunq"  wurde  bereits  im  Jahre  1887  gegrundet.   Vgl.: 
Bern™  A.:   Entwicklung  und  Probleme  des  Kinderschutzes  in  der 
BRD.   Unveroff.   Diplomarbeit  an  der  FU  Berlin,  Nov.   197b. 


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DIE  INTERNATIONALE  GESELLSCHAFT  FUR  HEIMERZIEHUNG 

informiert:  •  durch  Mitgliederrundbriefe 

•  Jugendhilfe-lnformationen  (monatlich) 

•  Materialien  zur  Heimerziehung  (vierteljahrlich) 

•  eine  IGfH-Schriftenreihe 

•  in  padagogischen,  organisatorischen  und  bautechnischen  Fragen 

•  einen  internationalen  Heimerziehungsaustausch 

•  Internationale  Ferienlager  Fur  Kinder  und  Jugendliche 


berat: 
organisiert: 

veranstaltet: 


arbeitet  zusammen: 


irstellt: 


•  Fach-  und  Fortbildungstagungen 

•  Begegnungen  mit  auslandischen  Sozialpadagogen  in  der  BRD 

•  Studienreisen  ins  Ausland 

•  mit  Pariamentariern,  Fachorganisationen,  Ministerien  und  Behorden 

•  mit  sozialpadagogischen  Ausbildungsstatten 

•  mit  Presae.  Rundfunk,  Fernsehen 

•  Sachverstandigen-Gutachten 

•  Stellungnahmen  zu  aktueilen  Fragen  der  Heimerziehung 


Anfragen  an :  Internationale  Gesellschaft  fur  Heimerziehung 
Heinrich-Hoffmann-Str.  3,  6ooo  Frankfurt 


Werkschule  Westberlin 

KONZEPT  EINER  BERUFSORIENTIERTEN 
PADAGOGISCHEN  WERKSCHULE 


1.  AUSGANGSSH  UATION  FOR  DIE  EINRICHTUNG  DER  WERKSCHULE 

Seit  einigen  Jahren  hat  sich  die  Situation  im  Ausbildungsbereich 
flir  Jugendliche  verschlechtert.   Das  Angebot  von  Ausbi  ldungsplatzen 
fur  Jugendliche  entspricht  nicht  mehr  der  Nachfrage.   Die  steigenden 
Arbeitslosenzahlen  belegen,  daB  es  besonders  fur  jugendliche  Arbeits- 
nehmer  schwierig  ist,  liberhaupt  eine  Arbeit  zu  finden.   Weder  von 
Seiten  der  Wirtschaft  noch  von  Seiten  der  staatlichen  Institutionen 
ist  bisher  auf  dieses  fur  die  Jugendlichen  existenzielle  Problem  mit 
Erfolg  reagiert  worden. 

Fur  die  betroffenen  Jugendlichen  gibt  es  kaum  Mdglichkeiten.aus  ihrer 
gesellschaftlichen  Situation  eine  Lebensperspektive  im  positiven  Sin- 
ne  zu  entwickeln.    Sie  reagieren  mit  Resignation,  fuhlen  sich  Uber- 
fliissig  und  unnutz.   Sie  wenden  sich  dem  Alkohol   zu  Oder  nehmen  ande- 
re  Drogen  ein.    Ihre  Konsumbedurfnisse  kbnnen  sie  aufgrund  ihrer 
schlechten  materiellen  Situation  nicht  befriedigen.   Eine  Folgeer- 
scheinung  hieraus  ist  zum  Beispiel  das  Ansteigen  der  Jugendkrimina- 
litat. 

Im  Juli   1977  haben  einige  Berliner  Sozialarbei ter  den  Verein  Werk- 
schule Berlin  mit  dem  Ziel,  Jugendliche  dabei  zu  unterstutzen,  ihre 
perspektivlose  Situation  zu  verandern,  gegrlindet. 
Entsprechende  Wohnmogl ichkeiten,  Arbeits-  und  Ausbildungsplatze  wer- 
den  zu  diesem  Zweck  vom  Verein     zur  Verfugung  gestellt. 
Unsere  Erfahrungen  als  Sozialarbeiter  in  der  staatlichen  Jugendar- 
beit  und  der  bffentlichen  Erziehung  zeigen,  daB  zusatzliche  und  an- 
dere  Formen  padagogischer  und  materieller  Unterstutzung  praktiziert 
und  entwickelt  werden  mussen. 


2.  DARSTELLUNG  DER  EINRICHTUNG 


Materieller  Rahmen 

Der  Verein  hat  bisher  folgende  Raume  angemietet 

1  Fabriketage  (400  qm)  als  Wohnung 

1  Fabriketage  (400  qm)  als  Werkstatt 

1  Ladenwohnung  (160  qm)  als  graphische  Werkstatt 

Mit  einem  Elektrobetrieb  wurden  vertragliche  Vereinbarungen  getrof- 

fen  in  Zusammenarbeit  mit  der  Werkschule  eine  Lehrl ingsausbi ldung 

C5  '-   10  Auszubildende)  durchzufuhren. 

iier  zur  Zeit  berufstatige  Sozialarbeiter  werden  mit  den  Jugendli- 

rhen  wohnen,  arbeiten  und  sie  padagogisch  betreuen. 

Spiterhin  werden  Honorarkrafte  mit  fachspezifischer  AusbTldung  im 

Rahmen  des  padagogischen  Gesamtkonzepts  mitwirken. 

-  103 


Vorhandene  Eigenmittel   des  Vereins 

Graphische  Werkstatt: 

Komplettes  fototechnisches  Labor,    komplette  Druckereieinrichtung, 

Tbpferei  -  Wert  10  000  DM 

Fabriketagen: 

Mittel  fiir  Umbauten,   Einrichtung,  Werkzeuge,  Maschinen,   Installa- 

tionen     -  Wert  40  000  DM 


Padagogischer  Rahmen 


Entsprechend  dem  Zweck  und  im  Rahmen  der  Ziele  des  Vereins  beginnt 
am  1.10.1977  dieser  Kurs  mit  insgesamt  14  Jugendlichen  und  4  Sozial- 
arbeitern  und  Lehrern. 

6  Jugendliche  machen  eine  Lehre  als  Elektroinstallateure.   Die  Aus- 
bildung  erfolgt  in  Zusammenarbeit  und  unter  fachlicher  Anleitung 
eines  Elektromeisters.  Die  Gesellenprlifung  wird  nach  den  Libl ichen 
Bestimnungen  und  Fristen  bei   der  Elektroinnung  Berlin  abgelegt. 
8  Jugendliche  bereiten  sich  auf  den  Hauptschul-  bzw.  Realschulab- 
schluB  vor.   Diese  Vorbereitungskurse  werden  in  den  Raumen  der  Werk- 
schule  durchgefuhrt. 

Fur  alle  Jugendlichen  und  Padagogen  besteht  die  Notwendigkeit,  an 
den  praktischen  Grundkursen     der  Werkschule  zu  arbeiten. 

Zunachst  werden  folgende  9  praktische  Grundkurse  eingerichtet: 

Metal  lbearbeitung  und  SchweiBtechnik 

Es  werden  verschiedene  Gebrauchsgegenstande  aus  Metal!   hergestellt 
und  dabei  Methoden  und  Mbglichkeiten  der  Metallbearbeitung  erlernt. 
Einfache  SchweiBverfahren   (ElektroschweiSen  und  AutogenschweiBen) 
werden  hier  einbezogen. 

Elektrotechnik 

ts  werden  Grundbegriffe  und  Funktionszusammenhange  in  der  Elektro- 
technik vermittelt,  wie  Leitungen,  Steckdosen,  Schalter,  Sicherungen, 
Lampen  verlegen  und  installieren,  Reparaturen  von  Haushaltsgeraten 
wie:  Tauchsieder,  Toaster,  Staubsauger, 

Einfuhrung  in  die  Elektronik:   Bau  eines  einfachen  Verstarkers  mit 
elektronischen  Bauelementen. 

Foto  +  Repro  +  Druck 

In  der  graphischen  Werkstatt  der  Werkschule  sollen  von  den  Schiilern 
und  Lehrlingen  Arbei tsergebnisse  und  Berichte  Liber  Untersuchungen 
fototechnisch  und  drucktechnisch  hergestellt  werden.   Hier  kbnnen 
die  sprachliche  Form,  grammatikalische  Unsicherheiten  und  Ausdrucks- 
formen  verbessert  und  korrigiert  werden. 

Textilverarbeitung 

In  der  Werkschule  wird  eine  Schneiderei   eingerichtet,  die  in  einem 
kleineren  Umfang  Kleider,  Hosen,  Jacken  herstellen  soil.  AuBerdem 
wird  ein  Webstuhl  gebaut,  auf  dem  kleine  Teppiche  aus  Wolle  oder 
Stoffresten  gewebt  werden  kbnnen. 

Frisierkunst 

Grundkenntnisse  dieses  Handwerks  wie  Schneiden,  Farben,  Ondolieren 

usw.  werden  erlernt. 


104  - 


Maschinenschreiben  und  Buchhaltung 

Innerhalb  der  Werkschule  werden  sehr  verschiedene  kaufmannische  und 
buchhalterische  Arbeiten  zu  erledigen  sein.    Im  Zusammenhang  mit  die- 
sen  praktischen  Anforderungen  wird  Einblick  in  den  kaufmannischen 
Arbei tsbereich  gegeben    .   Erlernen  von  Maschinenschreiben,  Schreiben 
von  Rechnungen,  Beteiligung  an  der  Buchflihrung  usw.   sind  hier  die 
Arbei tsmoglichkei ten. 

Lebensmitteltechnik 

Aufgabe  dieses  PG  ist  es,  die  Versorgung  der  Werkschule  mit  Lebens- 
mitteln  sicherzustellen.   Die  Schiiler  dieses  PG  kochen  das  Essen  fur 
alle,  besorgen  die  Lebensmittel ,  f'Jhren  die  K'uche,  machen  den  Spei- 
seplan  und  kummern  sich  urn  alles,  was  mit  der  Kliche  und  den  Nahrungs- 
mitteln  zu  tun  hat. 

Ton  +  Steine  +  Topfen 

In  zusammenarbeit  mi t  einem  Werkkunstlehrer  und  Bildhauer  kbnnen  in 
diesan  PG  Arbeiten  mit  Ton,  Formen  aus  Gips,  graphische  Arbeiten  und 
Steinmetzarbeiten  erlernt  werden. 

Instrumentalmusik 

Hier  konnen  je  nach  Interesse  verschiedene  Instrumente  kennengelernt 
und  der  Umgang  im  Spiel  mit  den  Instrumenten  geiibt  werden.   Grund- 
kenntnisse der  verschiedensten  Musikepochen  (Klassik,  Blues,  Rock, 
Beat,   Pop,  Underground,  Jazz  usw.)    kbnnen  anhand  von  sehr  vielen 
praktischen  Bei spiel  en  vermittelt  werden. 

Die  Praktischen  Grundkurse  haben  zunachst  drei   Funktionen: 


I  Betrieb  der  Einrichtung 

Um  die  Arbeit  der  Werkschule  durchfuhren  zu  kbnnen,   sind  besonders 
fiir  die  Lehrli  ngsausbildung  die  PG  I  und  II   und  fLir  den  gesamten  Be- 
reich  die  PG  VI  und  VII  notwendig.   Diese  Bedeutung  soil  alien  Jugend- 
lichen und  Padagogen  dadurch  einsichtig  werden,  daB  sie  verbindlich 
und  eigenverantwortlich  in  diesen  Praktischen  Grundkursen  arbeiten. 

•  Kennenlernen  von  Berufsfeldern 

Alle  Praktischen  Grundkurse  haben  einen  real  en  beruf lichen  Hinter- 
grund.   Sie  geben  Jugendlichen  die  Mbglichkeit,  berufsspezifische  Ar- 
beiten kennenzulernen  und  durchzufiihren.   Damit  sollen  individuelle 
Neigungen  erkennbar  gemacht  und  eine  differenzierte  Einstellung  zu 
verschiedenen  beruflichen  Bereichen  erarbeitet  werden. 
Weiterhin  gehbrt  es     zu  den  Aufgaben  der  Werkschule,  diese  Jugend- 
lichen nach  AbschluB  des  Haupt-  bzw.   Realschul  kurses  in  Lehrstellen 
zu  vermitteln. 

■  Verbindung  von  praktischer  und  theoretischer  Arbeit 
niTLehrhnge  arbeiten  auf  das  Ziel  der  berut  ncnen  gualiti  kation 
(Gesellenprlifung),  die  Schuler  auf  das  Ziel  der  schulischen  Qualifi- 
kation  (externe  Schulprlifung)  hin. 

FUr  die  Schuler  ist  zunachst  nur  ein  theoretisches  Lernangebot  yor- 
handen,  was  in  einer  Prufung  als  abstraktes  Wissen  abverlangt  wird 
Uir  qehen  davon  aus,  daB  Jugendliche,  die  in  der  Werkschule  mitmachen 
warden     fiir  diese  Anforderungen  keine  Motivation  haben  und  auch 
nidrt  auf  eigene  positive  Erfahrungen  zuruckgreifen  konnen. 


-  105  - 


Die  Arbeit  in  den  Praktischen  Grundkursen  ist  entweder  von  der  Not- 

wendigkeit,   das  Leben  in  der  Werkschule  zu  organisieren  oder  von 

einer  konkreten  Produktion  fur  den  eigenen  Bedarf,  bestimmt.    In  die- 

sem  Zusammenhang  miissen  sich  die  Schiller  und  Sozialarbeiter  gemein- 

sam  theoretische  Grundlagen  erarbeiten. 

Die  Faktoren,  Verantwortl ichkeit  in  der  jeweiligen  Arbeit  fur  die 

gesamte  Werkschule  und  Herstellung  verwendbarer  Produkte  bilden  die 

Grundlage  der  Motivation  zum  theoretischen  Lernen. 

In  diesem  Sinne  halten  wir  die  Arbeit  in  den  Praktischen  Grundkursen 

fiir  eine  notwendige  Grundlage  zur  Vorbereitung  auf  den  externen  Schul- 

abschlutS  (Hauptschul-  oder  RealschulabschluB) . 

Jeder  der  8  Schiiler  soil   im  Verlauf  eines  Jahres  an  vier  oder  fiinf 
PG  mitarbeiten.    In  einem  PG  arbeiten  3  oder  4  Schiiler  und  1   Lehrer 
bzw.   Sozialarbeiter,  nach  ca.   50  Tagen  wechselt  die  Gruppe  zu  einem 
anderen  Praktischen  Grundkurs. 


3.  DIE  PADAGOGISCHEN  ZIELE 

Der  besondere  padagogische  Charakter  der  Werkschule  beruht  auch 
darauf,   dal3  die  in  der  Werkschule  lebenden  und  arbeitenden  Sozialar- 
beiter Liber  praktische  Berufserfahrungen  im  handwerklichen  und  kauf- 
manm'schen  Bereich  verfiigen. 

Nicht  zuletzt  aufgrund  dieser  Voraussetzung  sehen  wir  die  erzieheri- 
schen  Aufgaben  in  der  Verbindung  von  praktischem  Lernen  und  gemein- 
samen  Leben.   Die  sich  aus  dem  Ausbildungs-  und  Arbeitsrahmen  erge- 
bende  konkrete  Orientierung  fur  die  Jugendlichen  erstreckt  sich  Liber 
einen  langeren  Zeitraum  und  ermoglicht  eine  langfristige  Planung 
einzelner  Arbeits-  und  Lernschri tte. 

Aus  der  kurzfristigen  Umsetzung  dieser  Arbeitsschri tte  ergeben  sich 
gemeinsame  praktische  Erfahrungen,  die  die  Grundlage  fiir  die  sozia- 
len  Verhaltensweisen  innerhalb  der  gesamten  Gruppe  bilden. 
In  diese     Erfahrungsprozesse  und  zu  erwartenden  Konfliktsi tuationen 
sind  die  Sozialarbeiter  integriert. 

Sb  haben  hier  die  Aufgabe,  auftretende  Probleme  anzusprechen  und  die 
Problembewaltigung  mit  herbeizufuhren. 

Diese  Basis  gemeinsamer  Lern-  und  Erfahrungsprozesse  entwickelt  das 
Verstandnis  fiir  den  anderen.  Jeder  Werkschuler  erkennt  so,  dafl  seine 
individuellen  Fahigkeiten  fiir  die  Bewaltigung  der  sich  aus  der  Ziel- 
setzung     der  Werkschule  ergebenden  Probleme  wichtig  und  von  groBer 
Bedeutung  sind.    Diese  Entwicklung  zu  fbrdern  und  zu  unterstiitzen 
ist  das  padagogische  Ziel  der  Werkschule  Berlin. 

Bei   den  herkbmmlichen  Fbrderungsangeboten  fiir  diesen  Personenkreis 
in  Form  von  Grundkursen,  berufsvorberei tenden  MaBnahmen  oder  sonsti- 
gen  Angeboten,   bei   denen  die  Jugendlichen  lediglich  die  Kurse  besu- 
chen,  ansonsten  aber  in  ihren  familiaren  und  sozialen  Verhaltnissen 
bleiben,   ist  die  Ausfallquote  sehr  hoch.   Oft  brechen  sie  schon  nach 
wenigen  Besuchen  den  Kurs  ab,   da  sie  den  ihnen  gestellten  Anforde- 
rungen  der  vorgegebenen  Lerninhalte  all eine  nicht  gewachsen  sind; 
damit  verstarkt  sich  ihre  Perspektivlosigkeit. 

Durch  die  Verbindung  des  Wohn-  und  Arbeitsbereichs  und  intensiver 


-   106 


VEWAG 


JUGEND  UND  POLITIK 


»SeIber 

ANNELIESE  maas,  ingrid  schwarz,  udo  MAAS 
POLITIK  HEISST  "SELBERMACHBf  -  jugend- 

ARBEIT  IM  ARBEITERVIERTEL  360  S.   DM  16,80 
Die  Verfasser  beschreiben  die  Entwicklung 
jugendlicher  Arbeiter  in.Mannheim-Rheinau 
iiber  mehrere  Jahre  hinweg  bis  zu  ersten 
Ansatzen  eines  bewufit  organisierten  Lebens- 
und  Handlungszusammenhanges.  Dabei  wird 
deutlich,  dafi  sich  politisches  Bewufltsein 
nur  durch  selbstorganisiertes  Handeln  von 
Arbeiteni  und  ohne  die  Programmhuberei 
und  den  Fuhrungsanspruch  selbsternannter 
kommunistischer  Eliten  wirklich  entfalten 
kann. 

*■  j^^b      t^^' ' 

"JjSf      -«PF  ^^^#^W  >  *«., 

W,  HATSCHER,  A.  HERRENKNECHT,  ST,  KOOSPAL 

TRfiUE,  HOFFNUNGEN,  KWFE  -  ein  lesebuch 

ZUR  JUGENDZENTRUMSBEWEGUNG  144  S.   DM  8,- 
"Die  Jugendzentrumsbewegung  lebt  nach  wie 
vor  -  nur  bewegt  sie  sich  heute  anders." 
Das  Lesebuch  -  geschrieben  von  Aktiven  - 
widerlegt  durch  die  Darstellung  prakti- 
scher  Erfahrung  die  gerade  in  der  padago- 
gischen  Fachliteratur  vertretenen  These, 
die  JZ-Bewegung  sei  in  der  Krise  oder  gar 
tot.  Neben  historischen  Dokumenten,  Hinter- 
grundtexten,  konkreten  Aktionsvorschlagen 
findet  sich  eine  reichhaltige  Adressen- 
und  Materialliste. 

ALBERT  HERRENKNECHT 

PROVI.NZLEBEN  -  aufsatze  Ober  ein 

POLITISCHES  NEULAND  232  S.   DM  IS, 80  ,- 
Die  Aufsatze  von  Albert  Herrenknecht ,  der 
20  Jahre  in  einem  500  Seelen-Dorf  gelebt 
hat,  bringen  in  lockerer  Folge  -  eher  be- 
I  schreibend  als  analytisch  -  Alltagsberich- 
|  te  und  Diskussionen  iiber  das  Leben  von 
1  Jugendlichen  auf  dem  Land  und  iiber  die 
I  Schwierigkeiten,  gerade  dort  Politik  zu 
I  machen.  U.a.  ist  das  Buch  eine  Aufforde- 
I  rung,  die  Provinz  als  politisches  Aktions- 
I  feld  ernstzunehmen,  auf  dem  Land  zu  blei- 
I  ben,  gerade  dort  zu  verandem^ 


Bestellungen  und  Prospektanforderungen  bei: 

VERLAG  JUGEND  UND  POLITIK,  HAMBURGER  ALLEE  49,  6  FRANKFURT  % 


padagogischer  Betreuung  soil  gewahrleistet  werden,  daB  die  Jugend- 
lichen  in  gemeinschaftlicher  und  individueller  Beta'tigung  in  den 
verschiedenen  Berufsfeldern  mit  Begleitung  der  Sozial padagogen  zu 
kontinuierlichen  Lern-  und  Stabilisierungsprozessen  gelangen. 
Somit  werden  siclTdie  aus  den  sozialen  Problemen  der  Jugendlichen 
ergebenden  Schwierigkeiten  und  die  aus  den  an  sie  gestellten  Anfor- 
derungen  erwachsenden  praktischen  und  theoretischen  Probleme  auf  der 
Grundlage  gemeinsamer  Erfahrungsprozesse  im  Arbeits-  und  Wohnbereich 
aufarbeiten  lassen. 

Das  Konzept  der  Werkschule  Berlin  beinhaltet,  daB  ab  1.10.1977  die 
Jugendlichen  gemeinsam  mit  den  Padagogen  unter  Anleitung  von  Fach- 
kra'ften  beginnen,  die  der  Werkschule  zur  Verfiigung  stehenden  Fabrik- 
etagen  zu  Wohn-  bzw.  Werkraumen  umzubauen. 

Wir  sehen  diese  gemeinsame  Ausbauphase  als  einen  Bestandteil  des 
Gesamtkonzepts  an,  da  den  Jugendlichen  zum  einen  gleich  bei  Eintritt 
in  die  Werkschule  die  Mbglichkeit  gegeben  wird,  ihre  zukunftige  Um- 
gebung  mitzugestal ten.  Dadurch  werden  sie  motiviert,  sich  aktiv  an 
der  Planung  und  am  Aufbau  ihres  neuen  Lebensraumes  zu  beteiligen. 
Zum  anderen  bietet  die  gemeinsame  Ausbauphase  die  Lernmbglichkeit, 
durch  Austausch  verschiedener  Fertigkeiten  und  gegenseitiger  Hilfe 
bei  der  praktischen  Arbeit  sich  gegenseitig  zu  akzeptieren  und  zu 
unterstutzen  sowie  persbnliche  Beziehungen  zueinander  zu  entwickeln. 


4.  DIE  FINANZIERUNG 

Aus  dem  padagogischen  Konzept  und  den  padagogischen  Zielen  der  Werk- 
schule ergibt  sich,  daB  die  jugendlichen  Madchen  und  Jungen  und  die 
Padagogen  fUr  die  gesamte  Dauer  der  MaBnahmen  zusamnen  leben  und 

Die  Vorbereitungskurse  fur  die  externe  SchulabschluSprufung  sind  zu- 
nachst  fur  die  Dauer  von  18  Monaten  konzipiert.   Fur  den  zweiten 
Durchgang  ab  April   79  wird  eine  Verkurzung  der  Kursdauer  in  Erwa- 
gung  gezogen.   Die  Lehrlinge  wohnen  ebenfalls  fiir  die  gesamte  Aus- 
bildungszeit  in  der  Werkschule. 

Die  Unterbringung  und  Finanzierung  liber  Tagespflegesatze  der  Jugend- 
lichen kbnnte  auf  der  Rechtsgrundlage  der  §§  5,  6  JWG  Oder  als  i-t 
und  FEH  durchgeflihrt  werden.   Fiir  Jugendliche,  die  wahrend  der  MaB- 
nahmen'die  Volljahrigkeit  erreichen,  ware  eine  Weiterfuhrung  de[ 
Unterbringung  als  eine  besondere  Form  der  Jugendhilfe  (zur  Uurcnrun- 
rung  vcn  MaBnahmen  nach  §  6  Abs.   3,  §  75a  Abs.   1  JWG)  moglich. 
Entsprechende  Antrage  fur  eine  "Betriebserlaubnis"  der  Werkschule 
Berlin  sind  beim  Senator  fiir  Familie,  Jugend  und  Sport  gestellt  wor- 
den. 


ANMERKUNG  IN  EIGENER  SACHE 

Liebe(r)  Info-Leser(in), 

wir  bitten  Euch  recht  herzlich  vorlaufig  von  Anfragen  und  Besuchen  abzusehen, 
wir  befinden  uns  in  einer  schwierigen  Aufbauphase,  die  uns  viel  Zeit  ixnd  Kraft 
kosten  wird,  sodafi  wir  zur  Zeit  auf  solche  Anfragen  nicht  reagieren  konnen. 
Im  Friihjahr  1978  werden  wir  eine  ausfiihrliche  Dokumentation  iiber  die  Arbeit 
der  Werkschule  erstellen.  Cber  den  Bezug  erfahrt  Ihr  weiteres  aus  dem  Info. 
Herzliche  Griifie         Werkschule  Berlin  e.V. 


Manfred  Rabatsch,  Westberlin 

JUGENDFURSORGE  - 

KONTROLL-  UND  EINGRIFFSINSTRUMENT  DES 

BCRGERLICHEN  STAATES  IN  ARBEITERFAMILIEN 


"Uber   die  Einweisung    ins   Heim  entschei.det  das  Jugendamt.    Hier  werden 
unsere  Akten,    unser  Fall,    verwaltet;    iiber  unseren   Kopf    hinweg   wer- 
den Entscheidungen  getroffen,   gegen  die  wir  uns  meistens  nicht  weh- 
ren   konnen.    Deswegen   sehen  wir  das   Jugendamt  als   eine   Behorde  an, 
die  uns   zu  Menschen    zweiter   Klasse  abstempelt   und   uns   zu   hilfslosen 
Objekten   der  Verwal  tungsbilrokrat  ie  macht".     (1) 

"Die  Reform  des   Jugendhi 1 ferechts    solle   nur   schrittweise    in   die  Tat 
umgesetzt  werden,    so  wie  es  die  Entwicklung   der  offentlichen   Kassen 
bei    Landern  und  Gemeinden  zula'Bt".   Mit  dieser  Randnotiz  vom  2.1.1977 
berichtete  die  Frankfurter  Rundschau   (FR)  uber  ein  dpa-Interview 
der  Bundesministerin  fur  Jugend,  Familie  und  Gesundheit.Antje  Huber. 
Diese  Aussage  kennzeichnet  die  Lage  im  Jugendhi lfebereich  als  eindeu- 
tig. 

Eine  Jugendhilferechtsreform,  die  eine  strukturelle  Ablb'sung  des 
geltenden  Jugendwohlfahrtsgesetzes    (JWG)    bedeuten  wiirde,  wird  es  auf 
Jahre  hinaus  nicht  geben.  Dagegen  wurde  noch  am  1.4.1974  in  der  re- 
gierungsamtlichen  Begriindung  zum  Referentenentwurf  eines  neuen  Jugend- 
hilfegesetzes  getbnt,  daB  die  beiden  Novel lierungen  zum  JWG  vom 
28.8.1953  und  1.7.1962  nicht  dazu  in  der  Lage  waren,   das  JWG  "in 
ein   modernes    Erziehungsgesetz  umzuwandeln,    auch  wenn   seine  Regelungen 
neue  Arbei tsmethoden  oder   Hi  1 feformen   nicht   ausschl ieBen.    Das   gel- 
tende   Recht  genugte  weder   dem  heutigen  Verstandnis   noch  der  dynami- 
schen    Funktion  der  Jugendhilfe.    Zudem  enthalt    es    noch  manches   obrig- 
kei tsstaat 1 iche   Element.    Zahlreiche   Genera  I klauseln   fuhren   zu    hochst 
unterschiedl  i  chen  Aktivitaten  der  Jugenda'mter    in  Stadt   und   Land.    Es 
basiert    noch  auf   der   iiberholten  Aufgabentrennung    in   Jugendpflege  und 
Jugendfiirsorge".    (2) 

Hinsichtlich  der  strukturellen  Bedingungen  gab  es  jedoch  zwischen 
1977  und  1974  keine  prinzipiel len  Unterschiede.  Als  die  Heimkampagne 
1969  und  der  jugendhi  lfetag  1970  in  Nu'rnberg  die  Tra'ger  der  Jugend- 
hilfe zu  Reformaktivitaten  veranlaSten,  wurde  in  Hessen  vom     zustan- 
digen  Ministerium  ein  "Stufenplan  zur  Reform  der  Heimerziehung"  vor- 
gelegt,  der  bis  1980  weitgehend  realisiert  sein  sollte.   Im  Vorwort 
hieB  es:    "Der  vorgelegte   Stufenplan    la'St    sich    im  Rahmen,    der  die 
Moql ichkei ten   praktischer   Umsetzung  der    Empfehlungen   des   Heimbeira- 
tes    unter   den    immer   und   liberal  1    geltenden   Bedingungen   knapper   und 
personeller  Hittel    berucks ichtigt ."     verwirkl ichen. 

Der  Unterschied  zwischen  1969  und   1977  bezieht  sich  allein  auf  die 
nnlitischen  Auseinandersetzungen  und  in  der  Offentlichkeit  disku- 
tierten  und  von  ihr  beachteten  Konflikte  innerhalb  der  gesamten  Ju- 
nonrihilfe     Heute  sind  Disziplinierungen,   Berufsverbote,  Wirtschafts- 
krise  und'jugendarbeitslosigkeit  All tagsprobleme  und  Gesprachsinhal- 

-  109  - 


te  der  sozialpadagogischen  Basis,  die  in  ihrer  Betroffenheit  von  der 
zunehmenden  Repression  sowohl   auf  der  Ebene  der  al ltaglichen  Hand- 
lungsvollzlige  als  auch  der  politischen  Auseinandersetzung  die  Grund- 
satzfrage  nach  dem  Sinn,  den  Zielen  und  Mitteln  einer  Vera'nderung 
gesellschaftlicher  Verha-ltnisse  stellt. 

Diese  Situation  strukturiert  die  MaBnahmen  der  Jugendflirsorge  in  ver- 
scha'rfter  Weise  und  la'Bt       nach  dem  Ende  der  Reformdiskussion  die 
in  jahrelangen  politischen  K'a'mpfen  angegriffenen  gesellschaftlichen 
Strukturen  in  ihrem  unterdriickenden  und  abschreckenden  Charakter  deut- 
licher  hervortreten. 

Wirtschaftskrise  und  Arbeitslosigkeit  werden  die  bereits  eingetre- 
tene  Verschlechterung  der  materiellen  und  psychischen  Lage  weiter 
Teile  der  Bevbl kerung  so  stark  vorantreiben,  daB  eine  zunehmende  Ver- 
elendung  der  Lebensumstande  in  Arbeiterf ami  lien  und  als  deren  nega- 
tivster  Ausdruck  die  Deklassierung  von  Arbeiterjugendlichen  als 
verscharftere  soziale  Krisensituationen  auf  die  Jugendhilfeinstitu- 
tionen  treffen.  Angesichts  der  Hochrechnungen  der  Bundesanstalt  fur 
Arbeit  in  N'urnberg  nach  denen  die  Jugendarbeitslosigkeit  bis  1984 
auf  1,4  Millionen  ansteigt,  wirkt  eine  Erklarung     des  Bundesmimste- 
riums  fur  Jugend,  Familie  und  Gesundheit  vom  27.12.1976:"es  gelte  die 
Jugendarbeitslosigkeit  noch  einmal   zu  iiberpriifen   (3)   wie  der  Versuch 
eines  Boxers,  den  nachsten  Schlag  mit  gutem  Zureden  abzuwehren. 

Die    Jugendhilfeinstitutionen,insbesondere  die  Trager  der  Jugendfiir- 
sorge  dagegen  sehen  sich  zunehmend  schlechter  in  der  Lage,  den  Kon- 
flikten gegeniiber  angemessen  zu  reagieren.   Haushaltsstrukturgesetz, 
SparmaBnahmen  und  Personalkiirzungen  sind  seit  dem  Ende  der  offi zie- 
len Reformdiskussion  1974  Inhalt  staatlicher  MaBnahmen,  die  das   roll- 
back im  gesamten  Jugendfursorgesektor  kennzeichnen.   Die  Tendenzwende 
zu  einem  Zustand  wie  er  vor  1968  herrschte,  ist  unverkennbar.   tine 
Angemessenheit  des  Reagierens  auf  Konflikte  wiirde  im  Kontext  dieser 
politischen  Situation  bedeuten,  daB  der  in  den  vergangenen  Jahren 
hef tiger  Reformauseinandersetzungen  entwickelte  materiel  le  und  perso- 
nelle  Umfang  der  Jugendf'u'rsorgeangebote  im  Bereich 

•  ambulanter  Beratung  (auf  dem  Gebiet  der  Erziehung,  des  Rechts,  ma 
terieller  Sicherung  einschlieBlich  der  Arbeitsfbrderung ,  Schule-, 
Berufsaus-  und  Elternbildung) 

•  offerer  und  halboffener  Erziehungshilfen  , 

•  alternativer  Erziehungshilfen  zur  Heimerziehung  (Wohngemeinscnatten, 
Familienhelfer,  hauptamtliche  Erziehungsbeistande) 

•  alternativer  Erziehungskonzepte  und  -praktiken  in  den  Heimen,   Kin- 
dertagessta'tten,  Horten  und  Vorschulen,  die  sich  an  Lebensumstanden 
und  Lebensinteressen  der  Kinder  und  Jugendlichen  orientieren 

•  des  Umfangs  materieller  UnterstUtzung  auf  sozial-  und  jugendnilte- 
rechtlicher  Grundlage  (Sicherung  des  Lebensunterhaltes  der  Faminen 
bei  Arbeitslosigkeit-und  Ausbildung,  Schuldenregulierung) 

erhalten  bleibt. 

Die  in  diesem  Katalog  von  MaBnahmen  enthaltenen  Versorgungsanspruche 
der  Familien,  Kinder  und  Jugendlichen  zur  Bereitstellung  von  Erzie- 
hungshilfen ergeben  sich  nach  wie  vor  aus  dem  Jugendwohlfahrtsgesetz, 
dessen  55-jahrige  Tradition  die  Aufrechterhaltung  eines  obrigkeits- 
staatlichen  Kontroll-  und  Eingriffssys terns  sichert,  dessen  organisa- 


torisches  Instrument  das  Jugendamt  und  dessen  grdBter  Erziehungstra- 
ger  nach  wie  vor  die  konfessionellen  Spi  tzenverbande  der  "freien* 
Wohlfahrtspflege  sind.   In  dieser  Tradition  hatten  die  "Angebote" 
und  "MaBnahmen"  der  Jugendflirsorge  gegeniiber  der  Jugendpflege  ein 
deutliches  Obergewicht  im  Haushaltsvolumen  und  damit  der  offen 
disziplinierende  und  abschreckende  Charakter  der  Jugendhilfe  Priori- 
tat. 

Seit  zwei  Jahren  registrieren  wir  eine  erhebliche  Kiirzung  von  Mit- 
teln und  Personal  sowie  eine  sp'u'rbare  Einschrankung  der  Arbeitsbe- 
dingungen.   Zusammen  mit  den  Disziplinierungen,   Entlassungen,  Nicht- 
einstellungen  und  Berufsverboten  bedeuten  diese  MaBnahmen  die  bkono- 
mische  und  politische  Grundlage  einer  Entwicklungstendenz  in  der 
Jugendfiirsorge ^eren  negativer  EinfluB  auf  die  Lage  der  Kinder  und 
Jugendlichen  in  der  Bundesrepublik  sich  bereits  jetzt  abzeichnet. 
Die  kontinuierlichen  Planungen  verschiedener  Landerministerien  (Hes- 
sen,  Berlin,   Bayern)   zur  erneuten  Einrichtung  von  geschlossenen  Hei- 
men und  die  Bereitstellung  von  Forschungsmitteln    zur  Vorbereitung 
der  neuen  JugendfursorgemaBnahme  "Erziehungskurs"  sind  hierfur  eindeu- 
tige  Indizien.  Um  den  Zwangscharakter  und  die  Gewaltfbrmigkeit  der 
geschlossenen  Heime  zu  verschleiern,  wird  in  einigen  Landern  diese 
MaBnahme  als   Einrichtung  einer  "padagogisch-therapeutischen  Inten- 
sivabteilung"    (Bayern)  Oder  als  "heilpadagogische  Intensivbetreuung" 
(Hessen)   verschleiert.   Die  WiedereinfLihrung  der  geschlossenen  Heime 
waren  im  vorgelegten  Referentenentwurf  als   "Sozial -therapeutische 
Jugendzentren"  ebenso  geplant  wie  die  EinfUhrung  der  "Erziehungskur- 
se".   Eine  Einschatzung  dieser  MaBnahmen  sind  im  Rahmen  der  vorerst 
beendeten  Jugendhilferechtsdiskussion  ebenso  notwendig  wie  zur  Kenn- 
zeichnung  der  Entwicklungstendenzen  in  der  Jugendflirsorge. 


Die  Frage  nach  dem  Zustand  des  Jugendfursorgesektors  hinsichtlich 
der  strukturellen  Reaktionsweisen  gegeniiber  sozialen  Konflikten 
und  die  Analyse  der  Funktion  zur  Anwendung  kommender  MaBnahmen  sol  1- 
te  zwei  Faktoren  genauer  benennen: 

•  in  welcher  Weise  werden  die  den  sozialen  Konflikten  zugrunde  lie- 
genden  Lebensumstande  der  betroffenen  Kinder  und  Jugendlichen  aufge- 
noramen.  Mit  welchen  Mitteln  und  Zielen  erfolgt  eine  Entwicklungsfbr- 
derung  unter  Berlicksichtigung  existentieller  Bediirfnisse  und  Inter- 
essen'  als  Ausdruck  herrschender  Handlungsprinzipien  zur  Einlbsung 
des  Postulats  einer  Erziehung  zur  leiblichen,  seelischen  und  gesell- 
schaftlichen Tuchtigkeit. 

t  Welchen  EinfluB  haben  die  gesellschaftlichen  Kampfe  insbesondere 
die  Heimkampagnen,  Schliler-,  Lehrlings-  und  Jugendzentrumsbewegun- 
gen  auf  die  Reformdiskussion  genommen  und  den  Zustand  innerhalb  der 
Skala  von  JugendfiirsorgemaBnahmen  verandert. 

Dabei  erscheint  es  zum  Verstandnis  fur  den  derzeitigen  Zustand  und 
die  Entwicklungstendenzen  in  der  Jugendflirsorge  hilfreich,  die  we- 
sentlichsten  politischen  Auseinandersetzungen  der  letzten  Jahre  zu 
skizzieren. 


110 


-  Ill 


^A. 


1.  VON  DER  HEIMKAMPAGNE  ZUR  REFORMDISKUSSION 

Als   1968  in  Berlin  und  1969  in  Hessen  und  Bayern  die  bffentlichen 
Auseinandersetzungen  liber  die  Zustande  in  den  bundesdeutschen  Heimen 
begannen,  war  noch  nicht  vorauszusehen,  daS  damit  ein  bundesweiter 
DiskussionsprozeB  iiber  die  Funktion  der  bffentlichen  Erziehung,  die 
Rolle  der  staatlichen  und  privaten  Trager  der  Jugendhilfe  in  eine 
bundesweite  Diskussion  iiber  eine  Strukturreform  des  Jugendhilfe- 
rechts  unter  Einbeziehung  des  politisch  bkonomischen  Systems  der  BRD 
einmlinden  wlirde.   Die  anfanglich  vor  allera  von  Studenten  des  sozial- 
padagogischen  Bereichs   initiierte  Kritik  an  den  katastrophalen 
Verhaltnissen  in  den  Erziehungsheimen  erfaBte  bald  auch  die  in  der 
Jugendhilfepraxis  tatigen  Erzieher,  Sozialpadagogen  und  Sozialar- 
beiter.   Sehr  schnell  entwickelte  die  Diskussion  ein  BewuStsein  davon, 
daB  bestehende  gesetzliche  Grundlagen,  Organisations-  und  Entschei- 
dungsprinzipien,   das  Verhaltnis  bffentlicher  und  privater  Trager  der 
Jugendhilfe  und  den  praktizierten  Erziehungsmethoden  nicht  von  den 
politischen  Grundlagen  der  BRD  abzutrennen  sind,  sondern  ihren  un- 
mittelbaren  Ausdruck  in  den  herrschenden  Strukturen  des  Jugendhilfe- 
apparates  finden. 

Nachdem  sich  1969  im  gesamten  Bundesgebiet  eine  Vielzahl   von  Basis- 
aktivitaten  gebildet  hatten  (Arbeitskreise  kritischer  Sozialarbei- 
ter,   Kindergruppen,  Jugendwohnkollektive,  Randgruppenprojekte  usw.), 
war  es  1970  mbglich,   den  4.  Jugendhilfetag  in  Niirnberg  mit  seiner 
Prasenz  etablierter  Jugendhilfefunktionare  als  breites  und  bffentli- 
ches  Forum  zur  organisierten  Anklage  gegen  den  Straf-  und  Diszipli- 
nierungscharakter  bffentlicher  und  privater  Jugendhilfe  zu  nutzen. 
Das  organisierte  Auftreten  der  ausschlieBlich  fur  den  4.  Jugendhil- 
fetag gegrundeten  "Sozialistischen  Aktion"  jagte  dann  auch  den  Funk- 
tionaren  einen  gehbrigen  Schrecken  ein.   Unmittelbar  nach  dem  4.  Ju- 
gendhilfetag berief  am  10.  Jul i   1970  die  damalige  Bundesmim  stern  n 
fur  Jugend,  Familie  und  Gesundheit,   Kathe  Strobe!,  eine  12-kopfige 
Sachverstandigenkommission  ein,  urn  die  offizielle  Reformarbeit 
weiterzuflihren.   Es  ging  der  Bundesregierung  und  den  Tragern  der  Ju- 
gendhilfe darum,  die  offensive  Anklagestrategie  der  Linken  durch 
ein  eigenes  Reformprogramm  zu  stoppen  und  die  gro&e  Gruppe  der  un- 
zufriedenen  Kritiker  auf  die  offiziellen  Reformkonzepte  zu  verpflich- 
ten  und  von  den  radikalen  Gesellschaftsveranderern     zu  isolieren. 

Am  26.  April  1973  legte  die  Sachverstandigenkommission  einen  Dis- 
kussionsentwurf  (DE)  zur  Reform  des  Jugendhi lferechts  vor,  den  das 
Bundesfamilienministerium  in  20  000  Exemplaren  verteilte.    Der  mit 
dieser  OffentlichkeitsmaBnahme  erweckte  Anschein  einer  beabsichtig- 
ten  Einbeziehung  der  von  diesem  Reformgesetz  betroffenen  Sozialar- 
beiter  und  Jugendlichen  erfolgte  jedoch  nicht.  Die  Diskussion  wurde 
allein  auf  der  Ebene  der  freien  und  staatlichen  Spitzenverbande  der 
Wohlfahrtspflege,  Jugendverbande  und  Experten  geflihrt.    Sie  erbrachte 
ca.   150  Anderungsvorschlage. 

Die  Legitimation  einer  breiten  Basisdiskussion  zur  geplanten  Jugend- 
hi If  erechtsrefomi  durch  die  Sozialarbei ter  sollte  der  5.  Jugendhil- 
fetag vom  8.  bis  11.   September  1974  in  Hamburg  erbringen.   Dessen 
Forum  wollte  das  Bundesfamilienministerium  unter  organisatocischer 
Leitung  der  Arbeitsgemeinschaft  Jugendhilfe  (AGJ)   zur  Akklamation 


112 


des  seit  Jahren  notwendigen  Reformwerks  benutzen.   Den  vorliegenden 
AbschluB  der  offiziellen  Arbeiten  bildete  der  Referentenentwurf 
(RE)  des  BMJFG  vom  27.  Ma'rz  1974,  dem  am  1.4.1974  eine  127-seitige 
Begrundung,   herausgegeben  von  der  "Bundesarbeitsgemeinschaft  der 
Landesjugendamter  und  Uberbrtl ichen  Erziehungsbehbrden"  folgte. 

In  seinen  Ansprlichen,  Rechten  und  Leistungen  bedeutete  der  Refe- 
rentenentwurf  (RE)   einen  erheblichen  Ruckschritt  gegenliber  Teilen 
des  Diskussionsentwurfs   (DE).   Bereits  die  General klausel   des  §  1,1 
DE  war  vom  "Recht  auf  Erziehung  und  Bildung"  in  ein  partielles  "Recht 
auf  Erziehung"   zuriickgestutzt  worden.   Der  notwendige  Ausbau  der  Ju- 
gendhilfe zu  einem  integrierten  Bestandteil  des  Bildungssys terns     war 
damit  bereits  auf  der  Ebene  des  Reformanspruchs  an  den  Interessen 
konservati ver  bis  reaktionarer  Vertreter  der  Aufrechterhaltung  einer 
Trennung  von  Jugendhilfe  und  Bildungsbereich  gescheitert. 
Darin  eingehende  Interessen  von  Caritas,  Diakonischem  Werk  und  CDU/ 
CSU  sowie  rechter  Teile  der  SPD  und  FDP  lassen  sich  exemplarisch 
an  der  Stellungnahme  des  bayerischen  Staatsministeriums  flir  Unter- 
richt  und  Kultus  zum  RE  des  JHG  verdeutlichen.    Dabei  muB  beachtet 
werden,  daB  diese  Auffassung  bereits  den  Versuch  des  RE  ablehnt,  die 
seit  1922  bestehende  Trennung  von  Jugendpflege  und  Jugendflirsorge 
dadurch  zu   lockern,   daB  auBerschulische  Erziehungs-  und  Beratungsbe- 
reiche  (Elementarerziehung,  Hilfen  f'Jr  schuipf  1  ichtige  Kinder,  - 
§  28,  29  RE;  Elternbildung,  Familienberatung  -  §  40  RE)  zu  bundes- 
einheitl ichen  Aufgaben  der  Jugendhilfe  erklart  werden,  wie  das   in 
einigen  Bundeslandern   (Berlin  , Hessen)   bereits  der  Fall   ist. 

Das  bayerische  Staatsministerium  stlitzte  sich  auf  das  Urteil  des 
Bundesverfassungsgerichts  vom  18.7.1967  in  dem  sowohl   das  Subsidiari- 
tatsprinzip  den'freienHragern  der  Jugendhilfe  das  Handlungsprimat 
gegenLiber  dem  Staat  sicherte  als  auch  die  Bundesgesetzgebungskompe- 
tenz  im  Bereich  der  Jugendhilfe  auf  die  Jugendpflege  und  Jugendfur- 
sorge beschrankte. 

Urn  MiBverstandnissen  liber  seinen  Standort  vorzubeugen,   interpre- 
tierte  Bayern  den  noch  gu'ltigen  Tenor  des  Urteils  erneut. 

"Jugendpflege  wurde    im  Urteil    ...    im   herkomml ichen   Sinne  verstanden, 
namlich  als   eine  Form  der  vorbeugenden  Fiirsorge.    In   dem   Urteil    wi  rd 
ausdriickl  ich   bemerkt,    da(3  die  Jugendpflege    'Anpassungsschwier  igkei  ten, 
die  mancher  Jugendliche  bei    der   Einordnung    in  die  Gesellschaft   ha- 
be    '    ...    iiberwinden   hi  lft,    dadurch  eine   spatere  Gefahrdung  aus- 
schlieBtund    kiinftige   FursorgemaSnahmen   iiberflussig  macht".     (5) 

Die  in  den  Auseinandersetzungen  mit  den  wirtschaftlichen  und  politi- 
schen Verhaltnissen  der  BRD  der  Studenten-,  Schuler-,   Lehrlings-  und 
Jugendzentrumsbewegung  eingeleiteten  und  erkampften  Snderungen  im 
Selbstverstandnis,   in  den  Kompetenzen  und  Arbeitsschwerpunkten  der 
Jugendpflege  veranlaBten Bayern  zur  Formulierung  folgender  Konsequenz. 
"Aufgrund  der  Wandlung  der  Jugendpflege    in   eine  starker    bildungsbe- 
zogene   Jugendarbeit    ist   sie   nicht  mehr  vorbeugende  offentliche   Fiir- 
sorge.   Die   Bundeskompetenz  zur  Gesetzgebung    im   Bereich  der  Sffentli- 
chen   Fiirsorge  ers,treckt   sich   nicht   auf   sie".     (6) 

Die  Sorge  dieser  Auffassung  von  Jugendhilfe  gilt  zwei  wesentlichen 
Gefahrenmomenten.   Zum  einen  soil   der  EinfluB  einer  "Vielfalt  von 
Gruppierungen  und  Aktivita'ten'also  der  zunehmenden  Poll tisierung  des 

-  113  - 


gesamten  Jugendbildungsbereichs  auf  die  Jugendflirsorgeeinrichtun- 
gen  verhindert  werden.    Die  nach  wie  vor  bestehende  Dominanz  der  gros- 
ser! Spitzenverbande  der  freien  Wohlfahrtspflege  konnte  dadurch  in 
ihrer  Legitimation  als  gesellschaftlich  relevantester  Trager  b'ffent- 
licher  Erziehung  in  Frage  gestellt  und  die  an  christlichen  Erziehungs- 
vorstellungen  gebundene  Praxis  in  den  Einrichtungen  einer  permanenten 
Kritik  unterzogen  werden. 

Zum  anderen  kbnnte  eine  Ausweitung  der  Jugendhilfe  in  Bundeskompe- 
tenz  auf  vor-,  auBerschulische    sowie  Erwachsenenbildung  die  Lander- 
hoheit  auf  gesetzgeberischen  Gebiet  des  Schul-  und  Teilen  des  Bil- 
dungswesens  unterlaufen.   So  beklagte  dann  auch  Bayern  die  angebli- 
chen  Ziele  des  Referentenentwurfs.' 

"Die  Jugendhilfe   soil    kunftig  auch  gegenuber   Schule   und   Beruf   nicht 
bloS  unterstiitzende,    sondern  auch   korr  igierende    Erziehungsauf gaben 
haben...    Die  Jugendhilfe  des   behordlichen  Tragers  wird   so  zu   einer 
beherrschenden  Sozia 1 isations i nstanz".    (7) 

Mit  dieser  Stellungnahme  verdeutlichte  Bayern  jedoch  nur  die  reaktio- 
narste  -  in  der  Jugendhilfepraxis  jedoch  vorherrschende  -  Position. 
Wie  sich  spa'ter  zeigen  wird,  steht  sie  stellvertretend  fur  gesell- 
schaftspolitische  Auffassungen  ,  die  im  Jugendfursorgesektor  dominie- 
ren. 

Die  Offenheit  der  Argumentation  stand  jedoch  den  1974  propagierten 
Reformabsichten  der  Bundesregierung  entgegen.  So     postulierte  das 
BMJFG  in  seiner  Begriindung  zum  RE  die  Anspriiche  des  neuen  JHR  als 
"ein  modernes    Erziehungsgesetz   und   seiner    Form   nach    (als)    ein   Ge- 
setz  der   helfenden   Leistungsverwal tung   fur  junge  Menschen'...   mit 
dem   Erziehungsanspruche  durch   erzieher ische  Hilfen    begriindet,    ge-^ 
sichert   und   durchgesetzt  werden.    Nicht   nur  einzelne  Gruppen  von   Kin- 
dern  oder  Jugendlichen   brauchen  neben   Elternhaus  und   Schule  weitere 
erzieher ische   Hilfen,    vielmehr  mussen  alle  jungen  Menschen  und    El- 
tern  zumindest  die  Chance  erhalten,   bei   den  vielfal t igen  erzieheri- 
schen   Problemen,    die   sich    ihnen   stellen,   beraten  und   unterstiitzt   zu 
werden.    Auf  diese  Ueise  wird  Jugendhilfe   zu   einem   notwendigen  und 
unverzichtbaren   Erzi ehungsfeld  neben   Elternhaus,    Schule  und   Berufs- 
ausbildungsstatte,    Sein   Fundament  mul3  gegenseitige   Erga'nzung   und 
Kooperation,    nicht  aber  Vorrangdenken   sein."    (8) 

2.  AUFBAU  DES  GESETZENTWURFS  UND 

UND  VORGESEHENE  JUGENDFURSORGERISCHE  MASSNAHMEN 

Der  Aufbau  des  Gesetzentwurfs  war  durch  eine  Trennung  in  "allgemeine 
Leistungen  und  besondere  Leistungen"  der  Jugendhilfe  gekennzeichnet. 
Sie  basierten  auf  einem  "Rechtsanspruch  auf  Jugendhilfe",   die  ein- 
setzt,  "sobald  dem  Trager  der  Jugendhilfe...   bekannt  wird,  da(3  die 
Voraussetzungen  daflir  vorliegen".    (9) 

Die  "allgemeinen  Leistungen"  waren  in  drei  Aufgabenschwerpunkte 

untergliedert: 

I  allgemeine  Hilfen  fur  Kinder  (fruhkindl  iche  Erziehung,   Elementar- 
erziehung,  besondere  Hilfen  flir  schulpflichtige  Kinder); 

I  allgemeine  Fbrderung  junger  Menschen  (auBerschulische  Jugendbil- 
dung,  politische  Bildung,  internationale  Begegnungen,  kulturelle 
Bildung,  naturwissenschaftlich-technische  Bildung,  soziales  Enga- 


114  - 


gement,  Geselligkeit,  Spiel,  Sport  und  Erholung,  Ausgleich  sozia- 
ler  Benachteiligung) ; 
I  Fbrderung  der  Erziehung  in  der  Familie  (El ternbildung,  Familien- 
beratung,   Unterstutzung  alleinstehender  Elternteile,  Unterstutzung 
werdender  Mutter,  Hilfe  bei  Auslibung  der  Personensorge,  besondere 
Verpf lichtung,  Beratung,  Unterstutzung  und  Behandlung) 

Die  "besonderen  Leistungen  der  Jugendhilfe"  waren  an  den  Rechtsgrund- 
satz  liber  "gerichtliche  Entscheidungen"  gebunden.der  Ziele  und  Funk- 
tionen  von  JugendhilfemaSnahmen  dieser  Art  unmiBverstandlich  definier- 
te.    "1st   der   Jugendliche  nicht  gewillt   oder   nicht    in   der    Lage,    das 
Angebot  einer  nach  diesem  Abschnitt   angezeigten   Hilfe  anzunehmen 
und  an    ihrer  Ausfuhrung  mitzuwirken,    kann   das  Vormundschaf tsger icht 
anordnen,    daD   die   erforderl iche  Hilfe  gewahrt  wird."    (§   W]    RE) 
Die  folgenden  zwei  Aufgabenschwerpunkte  erfafiten 
I  Hilfen  in  Pflegestel  len  und  Heimen  (Erziehung  in  einer  Pflegestel- 
le;   Vermittlung  von  Pflegestellen;  Aufnahme  in  ein  Kinderheim 
oder  Wohnheim  ) ; 
I  Hilfen  bei  Gefahrdung  oder  Stbrung  der  Entwicklung   (Diagnose  und 
Gesamtplan;  offene  und  halboffene  Hilfen  -  sozialpadagogische 
Einzel-,  Gruppen-  oder  Familienarbei t,  heilpadagogische  Behand- 
lung,  Einzel-,  Gruppen-  oder  Familientherapie-;   Erziehungskurse; 
Erziehungsbeistand;  Hilfe  auBerhalb  der  eigenen  Familie;  Hilfe  in 
einer  anderen  Familie;  Hilfe  in  einer  Einrichtung;  Hilfe  in  einer 
Wohngemeinschaft;  Hilfe  in  einem  sozial-therapeutischen  Jugend- 
heim) . 

3  ZUR  FUNKTION  DER  SPALTUNG  IN  "NORMALE",  GEFAHRDETE  UND 
ENTWICKLUNGSGESTORTE  )UGEND  DURCH  DAS  JUGENDfflLFESYSTEM 

Der  Katalog  jugendfiirsorgerischer  MaBnahmen  sollte  damit  erweitert 
und  in  alien  Teilen  an  die  Mdglichkeit  vormundschaftsgerichtlicher 
Eingriffe  gebunden  werden.   Die  eindeutige  Definition  der  MaBnahmen 
als  "Hilfe  bei  Gefahrdung  oder  Stbrung  der  Entwicklung"  im  Gegen- 
satz  zur  "allgemeinen  Fbrderung  junger  Menschen"  nahm  das  herrschen- 
de  politische  Prinzip  des  Verha'l tnisses  von  Jugendpflege  zur  Jugend- 
fursorge  auf.    Im  Mittelpunkt  steht  die  Auffassung  von  einer  Jugend, 
die  einerseits  als  sogenannte  "normale",  fbrderungswiirdige  Jugend  er- 
faSt  wird,  andererseits  als  "dissoziale"  oder  gefahrdete  und  ent- 
wicklungsgestbrte  Jugend  der  Flirsorge  bedarf.   Die  Verlagerung  der 
Konfliktursachen  in  die  individuelle  Verantvwrtlichkeit  der  Jugend- 
lichen und  die  Manifestation  eines  Verschuldensprinzips  sind  zwei 
bewa'hrte  Instrumente  zur  Legitimation  von  Zwang  und  Gewalt  durch  ju- 
gendflirsorgerische  MaBnahmen. 

Der  dritte  Jugendbericht  der  Bundesregierung  1972  hatte  hier  bereits 
eine  Art  sozialisationstheoreti sche  Systematisierung  von  zwen  Haupt- 
formen  der  Konflikte  von  Jugendlichen  geliefert. 

"Erstens  gehoren  dazu   die  mehr  oder  weniger    in  alien   kompl izierten, 
hochentwickelten  Gesel lschaf ten  auftretenden  Anpassungskonf 1 i kte  Ju- 
aendlicher   beim   Hi neinwachsen    in  diese  Gesel  I  schaf ten.    Sie  sind  eng 
verbunden  mit  dem  Anspruch  Jugendlicher  auf  eigene   Lebensformen; 
Vernal  tenswei  sen   und    Ori  entierungen.    Dies   fiihrt   zumindest   von   einem 
hestimmten   Punkt  an  zu    Konflikten  mit   der   Erwachsenenwel t .    Solche 


115   - 


Konflikte   konnen    latent    bleiben  oder  manifest  werden   und   sich    in 
unterschiedl ichen   Formen  als    'Rebellion1,    als   Drangen  auf  Verande- 
rung,    als   sozialer    Riickzug,   als   Entfremdung   und  Ablehnung   oder  als 
jugendliche  Subkultur  auBern. 

Davon  zu  unterscheiden   sind  zweitens  jene  Konflikte,    die  sich  aus 
Benachtei 1 igungs-   und   Deklassierungsprozessen  ergeben   und    sich    in 
den   verschiedensten   Formen   von   Di  ssozial  i  tat   und   Kr  imi  nal  i  tat   a'us- 
sern.    Sie   stehen   nicht   selten    in   einem  engen  Verursachungszusammen- 
hang  mit   dem  Ausfall    elementarer   Erziehungsleistungen  und    treten    in 
schichtspezif isch  d i f ferenzierten   Formen  auf."    (10) 
Auf  der  einen  Seite  liegt  dieser  Kategorisierung  ein  Jugendbegriff 
zugrunde.der  von  einer  quasi   naturwiichsigen  Anpassungskrise  der  Ju- 
gend  wahrend  der  Phase  des  Hineinwachseris  in  die  Erwachsenengenera- 
tion  ausgeht  und  damit  zu  verhindern  sucht,  da(3  "Konf  I  i  ktverhal  ten 
und    ...    Konf 1 iktverarbei tung   von   Jugendl ichen    ...    als  Ausdruck   pro- 
blematischer  und   historisch  ilberwindbarer  gesamtgesel  1  schaf tl  icher 
Verhal tnisse    (begriffen)    oder   sie  gar    in   Zusammenhang  mit  den  aus 
der  kapi tal isti schen   Produkt ionsweise   resul t ierenden  Antagoni smen, 
Abhangigkeitsverhal tnissen  und  Herrschaf tszwangen    (gebracht  wird)". 
(11) 

Dagegen  wird  ein  anderer  Teil  der  Jugend  mit  Konflikten  identif iziert, 
deren  Form  als  Dissozial itat  und  Kriminalitat  erscheint,  deren  Ursa- 
che  dennoch  auf  Sozialisationsdefizi te  der  Familie  reduziert  bleiben. 
Nach  erfolgter  Abtrennung  dkonomischer,  sozialer  und  politischer 
Bedingungen  von  Lebensumstanden  und  Entwicklungschancen  bleibt  das 
Ziel   der  mit  dieser  Jugend  befaBten  Jugendflirsorge  nur  n'och  der  Aus- 
gleich  von  Defiziten  und  die  Vermeidung  und  Linderung  von  Gefahr- 
dungen  oder  die  Ausgl iederung  von  Stbrungen. 

Diese  Auffassung  deckt  sich  nun  auch  mit  der  bereits  zitierten  Po- 
sition des  bayerischen  Staatsmiriisteriums,  nach  der  "manche  Jugend- 
liche bei  der  Einordnung  in  die  Gesellschaft  Anpassungsschwierig- 
keiten"  haben  und  hier  die  auBerschulische  Jugendarbeit  jugendpfle- 
gerische  Aufgaben  zur  Vermeidung  von  Gefahrdungen  erhalt.   Pflege 
der  Jugend  leitet  sich  aus  einer  Zielvorstellung  ab  zur  Aufrechter- 
haltung  bestehender  Verhal tnisse  und  einer  Absage  an  aufklarerische 
und  interessenorientierte  Konfliktstrategien  von  Jugendarbeit.   In 
der  Erwartung  der  Trager  von  Jugendhilfe,  daB  Jugendliche  die  jugend- 
pflegerischen  Angebote  konsumieren  und  sich  nicht  offensiv  an  den 
eigenen  Interessen,  Bedurfnissen  und  Forderungen  orientiert  mit  ih- 
nen  auseinandersetzen,  drlickt  das  herrschende  Verstandnis  von  Jugend- 
pflege  "als  eine  Form  der  vorbeugenden  Fursorge"   (12)  aus. 
Folgerichtig  kritisierte  Bayern  am  Referentenentwurf."ebensowenig 
gehoren  alle  jene  Gebiete   in  dieses  Gesetz,   die,   wie'die    ' Hi  1  fen  zur 
Unterstutzung  und   Erganzung  der  Schul-   und   Berufsausbi ldung '    (§   I 
Abs.    2  JHG)    Oder  Aufgaben  der    Elementarerziehung    (   §   28)    dem   Er- 
ziehungs-   und   Bi ldungsbereich  zugehoren   und  dadurch  nicht    in   die 
verfassungsrechtl iche -Zustandigkei t  des   Bundes,   die  offentliche   Fur- 
sorge gesetzlich  zu    regeln,   fallen." 


116 


"  DIE  BEHANDELN  UNS,  ABER  WIR  KONNEN  DIE  NICHT  BEHANDELN" 

4.  ZUR  KRITIK  AM  REFERENTENENTWURF  ALS  KRITIK 

AN  DER  HERRSCHENDEN  FUNCTION  VON  JUGENDFURSORGE(14) 

Zur  Vorbereitung  der  sozialpadagogischen  Basis  auf  dem  5.  Jugendhil- 
fetag  in  Hamburg  bildeten  sich  in  mehreren  Stadten  Vorbereitungs- 
gruppen  um  in  einer  inhaltlichen  Auseinandersetzung  mit  der  Grund- 
konzeption  der  geplanten  Reform  und  seiner  einzelnen  Teile  eine  dif- 
ferenzierte  Stell ungnahme  zu  erarbeiten,  an  der  sich  die  Diskussio- 
nen  in  Hamburg  orientieren  sollten.   Erneut  bildete  sich  die'Sozia- 
listische  Aktion  5.  Jugendhilfetag'und  Libernahm  die  organisatori- 
sche  Strukturierung. 

Aber  es  kam  anders. 

"Am  29.5. 1 974  wird  nach  massiver   Hetze  gegen  die  Sozial i s tische  Ak- 
tion und   unter  dem  Vorwand  einer  vermuteten  Strategie  der   Chaotisie- 
rung  des   5.    DJHT  durch  die  Sozial ist i sche  Aktion  der   5.    Deutsche 
Jugendhi lfetag  abgesetzt. 

Mit    dieser   Absage,   die  von   der  AGJ  mit   einer   Dif famierungskampagne 
gegeniiber  der   Sozial  ist  i  schen  Aktion    ...   eingeleitet  wurde,    hatte 
die  AGJ,   als  eine  vom   Bundeshaushal t  abhangige   Institution,   die   ihr 
zur  VerfCgung   stehenden  Mittel    inst i tut ionel ler  Gewalt  angewendet, 
um   die    'Fachbasis'    mundtot   zu  machen.    Dieser  Gewalt   sollte  die  brei- 
te   Solidaritat  der   Betroffenen  entgegengesetzt  werden.    Gemeinsam 
mit   dem  Bund   demokrat ischer   Jugend  und   den   Jungdemokraten    forderte 
die  Sozial isti sche  Aktion  alle  Basi sgruppen,   Jugendverbande,    Sozial- 
arbeiter,   Wi ssenschaf t ler   zur   Teilnahme  an  der   konst i tu tierenden 
Tagung    ' jugendpol i t isches   Forum1    auf".     (15) 

Der  Liber  die  Reformdiskussion  eines  neuen  Jugendhi lferechts  hinaus- 
reichenden  antikapitalistischen  Auseinandersetzung  auf  dem  JupoFo 
uber  Ziele  und  Aufgaben  einer  sozialistischen  Jugendpolitik  war  die 
konzentrierte  Kritik  am  Gesetzentwurf  vorausgegangen.   Die  wichtig- 
sten  Inhalte  stellen  in  einer  Zusammenfassung  die  bisher  konsequen- 
teste  und  von  einer  breiten  fachlichen  und  politischen  Qffentlich- 
keit  beachtete  Kritik  an  der  vorherrschenden  Funktion  der  Jugend- 
hilfe im  blirgerlichen  Staat  dar. 

Wei terer  Ausbau  der  mit  Eingriffen  verbundenen  FursorgemaBnahmen 


"Die  Zerstorung  der 
und  Jugendl ichen,  di 
zuletzt  auch  iiber  in 
zepte  betrieben,  die 
blenden  und  auch  ein 
Stadtteil ,  Schule  un 
Ein  wesentl iches  Str 
Storung  der  Entwickl 
nen  Systemzusammenha 
scha'rfung  zugeordnet 
rakter'nicht  ausreic 
eingreifende  ('wirks 
wei  se  die  'fachl iche 
ihr  emanzipatorische 


sozialen  Ident 
e  ja  in  erster 
dividual  isierei 

deren  spezifi 
e  aktive  Betei 
d  Betrieb  am  ' 
ukturmerkmal  d 
ung1)  ist,  daB 
ng   stehen   und 

sind.  Wenn  'H 
hen1 ,  sind  stS 
amere'!)    'gebo 

Beratung1     (§ 
s    Potential". 


itat   der   proletar ischen    Kinder 
Linie   betroffen   sind,   wird   nicht 
nde  und   gruppendynami sche   Kon- 
sche  Sozial isationserfahrungen  aus- 
ligung    ihrer   Bezugsgruppen    in 
Hi Ife1 -ProzeB  nicht  vorsehen   ... 
er    ( ' Hi  1  fen    bei    Gefahrdung  oder 

sie  in  einem  relativ  geschlosse- 
einander  im  Sinn  zunehmender  Ver- 
ilfen1  mit  geringem  Sanktionscha- 
rker  in  die  Rechte  der  Betroffenen 
ten1.  Dadurch  verlieren  beispiels- 
52  RE)  und  die  ' Wohngemeinschaf t ' 
16) 

-   117  - 


Ausbau  des  "psycho-sozialen"  Diagnose-Systenis  gegen  den  Wil len  und 
die  Entscheidungen  der  betroffenen  Kinder  und  Jugendlichen 


"Eine  Moglichkeit,    den   Betroffenen  die  sie 
dungen  weitgehend  abzun  ehmen  und   sie  als 
MaBnahmen   zu  qual if i zieren    ('die  behandeln 
nicht  die  behandein! ' ) ,    bietet   sich  an    in 
sozial-technokratischen   Diagnose-  und   Zuwe 
lige   Kinder   und   Jugendliche  werden,    um    sie 
zunachst  als    Individuen    identi f iziert  und 
cho-sozialen   Diagnose1    eventuell    auch  eine 
unterworfen.    Diese  entscheidet   uber   die   Zu 
zur    Gruppe  der    ' Entwicklungsgefahrdeten   un 
Festlegungen   hinsichtlich  der    'gebotenen  H 


betreffenden   Entschei- 
Objekte  admini  strati  ver 

uns ,    aber   wi r   kSnnen 
Form  eines   ausgekliigel  ten 
isungsverfahrens.    Auffal- 

in   den    'Griff    zu    bekommen, 
nach   %   55  RE   einer    'psy- 
r   besonderen    ' Begutachtung ' 
ordnung  des   Betroffenen 
d   -gestorten1    und    trifft 
ilfen'".    (17) 


Da  das  System  der  Begutachtung  und  Diagnose  bereits  auf  eine  reiche 
Erfahrung  in  Aufnahme-  und  Durchgangsheimen  sowie  Kinder-  und  Ju- 
gendpsychiatrischen  Anstalten  (sogenannten  Kliniken)   zuriickgreifen 
kann,   seien  die  Berichte  von  zwei   betroffenen  Jugendlichen  exempla- 
risch  zitiert. 

"Ja,    z.B.    bei   meinem  Heimatjugendamt    ist  von  einer   Psychologi n  ei n 
Gutachten  uber  mich  gemacht  worde^  und    zwar   hat   die   nur  mit  meinen 
Eltern  gesprochen,    ich   bin   da   gar   nicht   zu   Worte   gekommen    und   darauf- 
hin    ist   dann  uber  mich   ein   Gutachten  geschrieben  worden.    Und    ich   hab 
daraufhin  mein   Kind  nicht   bekommen,   was  jetzt   noch    im  Heim    ist.    Wir 
werden  selber  wie   Kinder   behandelt,   obwohl    ich  selber  schon  ein 
3ja'hriges   Kind   habe,   ja.   Man   lSBt  mich  gar   nicht   versuchen,   auf   eige- 
nen   FuBen  zu   stehen.     Ich   ha'nge  da    in   so  einer  Abhangigkei  t   drin,    ja, 
und  da   kann    ich  einfach  nichts  dran  andern." 

"Ich  war  mal    drogenabhangig,    und    ich  wollte    in   ein     Therapi ezentrum 
zur  Entziehungskur  und   da  hab'    ich  vom  Jugendamt   das   Einverstandn  i  s 
bekommen,   jedoch  muBte   ich  aufs   Jugendamt  gehen,  und  dort  haben  sie 
mir   gesagt,    daB  sie  mich   fur   zwei-drei    Stunden   fur   ein   arztliches 
Gutachten   in  eine   psychiatr i sche   Klinik   bringen  muGten,   und  da   bin 
ich  mitgegangen  und  da   haben  sie  mir   dann  eroffnet,   daB    ich  aufgrund 
eines  Paragraphen   dort    bleiben  mUBte  und  da    ist  mein  Vertrauen  zum 
Jugendamt  vollig   zerstort   worden."    (l8) 

Wie  notwendig  dieser  Komplex  in  der  zukiinftigen  Auseinandersetzung 
um  die  TeiV'reform"  des  Jugendhilferechts  in  der  Jugendfiirsorge  Be- 
achtung  finden  muB,  darauf  weist  eine  Meldung  in  der  FR  vom  31.7.1975 
hin,   Unter  der  Oberschrift  "Hilfe  bald  fruher  mbglich  -  psycho-so- 
ziales  Langzeitprogramm  fiir  Kinder  und  Jugendliche"  wird  Liber  die 
Plane  der  Bundesregierung  berichtet. 

". . .gefahrdete    Kinder  und   Jugendliche    (sollen)    fruher  ermi ttel t  wer- 
den,   damit   auch  moglichst   friih  mit   einer    Beratung,    oder,    wenn    notig, 
mit  einer  Behandlung      begonnen  werden   kann.    Diesem  Zwecke   solle  das 
von    ihr  angekundigte    '  psycho-sozia  le    Langzeitprogramm'    dienen,    das 
aus  einem  Verbundsystem  von   Ersten  Hilfen  bestehe."   Es  wird  also  mit 
einer  Art  Ermittlungsverfahren  zur  Frliherkennung  psycho-sozialer  Ge- 
fahren  und  Stbrungen  zu  rechnen  sein,  mit  dem  die  schulpsychologi- 
schen  Beratungsdienste,   Kinder-  und  Jugendpsychiatrischen  Einrich- 
tungen  und  die  Erziehungs-,  Jugend-  und  Elternberatungsstellen  be- 


-  118 


auftragt  werden.  Die  Entwicklung  zu  Beratungszentren  mit  einem  mehr- 
dimensionalen  Therapieangebot  ist  bereits  im  Entstehen.  "Zur  Zeit 
sind  zwei  uberregional e  Beratungszentren  ...  in  Regensburg,  Eich- 
statt-Mar ienstein  ...  im  Bau.  Ein  weiteres  ...  ist  in  Memmingen  im 
Entstehen.  Erste  Vorgespracfie  fiir  weitere  Beratungszentren  in  Wurz- 
burg,  Bayreuth  und  Augsburg  wurden  gefuhrt",  lautet  eine  exemplari- 
sche  Meldung  aus  Bayern.  (19) 

DaB  diese  Zentren  in  CDU/CSU  geflihrten  Bundesl andern  gezielt  in  die 
"freien"  Hande  der  konfessionellen  Verbande  gelegt  werden  sollen 
ist  ebenso  klar,  "...das  Ministerium  (Bayern)  verweist  auf  das  vor 
al  lem  in  der  Jugendhilfe  bewahrte  Prinzip,  daB  sich  der  Staat  auf 
eine  anregende  und  unterstutzende  Funktion  beschranke.  Die  Initia- 
tive der  freien  Wohlfahrtsverbande  ...  habe  Vorrang".  (20) 

Wir  wollen  dennoch  nicht  bestreiten,  daB  sich  auf  der  Grundlage  indi- 
viduell  auBernder  psychischer  Verhaltens-  und  Entscheidungskonflikte 
von  Kindern  und  Jugendlichen  sowie  deren  Eltern  als  AnlaB  Oder  Aus- 
loser  einer  Beratung,  eine  Aufklarung  Liber  gesellschaftliche  Zustan- 
de  im  Sinne  bewuBter  Wahrnehmung  von  auBeren  Ursachen  der  erlebten 
Probleme  entwickeln  lieBe,  Diese  Annahme  basiert  auf  der  Erfahrung 
einiger  Beratungsstel len,  daft  die  Betroffenen  das  sonst  erlebte 
GefLihl  der  eigenen  Schuld,  des  Versagens  und  der  Hilflosigkei t  im 
Laufe  des  Beratungsprozesses  verloren,  wenn  der  gesamte  Lebenszusam- 
menhang  in  die  Beratungsarbeit  aufgenommen  wurde.  Die  Leute  erkannten 
vielfach,  daB  die  sonst  bei  ihnen  auftretenden  Schuldgeflihle  erst 
durch  eine  Kette  von  negativen  Erfahrungen  in  den  spezialisierten 
Amtern  und  Stellen  durch  die  entfremdete  Bearbeitung  eines  Teilaspekts 
ihrer  meist  elenden  Lage  produziert  wurden. 

Durch  die  neue  Erfahrung  war  es  ihnen  manchmal  -  wenn  liberhaupt  - 
mbglich,  an  der  notwendigen  Problembewaltigung  mi tzuarbeiten  und  da- 
fur  aktiv  einzutreten.  Ober  die  Grenzen  und  Behinderungen  dieser  Ak- 
tivitaten  durch  eine  Beratungsstelle  mit  sozialstrukturell  orien- 
tiertem  Konzept  gibt  fol gender  Berichtsauszug  Auskunft: 
"Dort,  wo  es  liberhaupt  einige  wenige  Ansatze  gegeben  hat,  daB  die 
Betroffenen  selbst  beginnen,  ihre  Interessen  durchzusetzen,  hat  es 
nicht  nur  Schwi er igkei ten  bei  den  Betroffenen  selbst  gegeben,  sondern 
auch  unverstandl iche  Reaktionen  von  inst i tut ionel ler  Seite  ...  Erstaun- 
ti ch  dabei  ist,  wie  schnell  sich  offensicht 1 ich  die  betreffenden  Be- 
horden  von  einigen  kritischen  HuBerungen  bedroht  fuhlen". 

Ober  die  Ursachen  dieses  Zustandes  und  die  prinzipiel  len  Grenzen  fiir 
Veranderungsmbglichkeiten  im  professionellen  Rahmen  zeigt  eine  ande- 
re  Textstelle: 

"...der  bloBe  Appell,  Ratsuchende,  bzw.  Teile  der  Kreuzberger  Bevol- 
kerting  sollten  aktiviert  werden,  an  der  Beseitigung  strukturel  ler 
Mangel  (Sani erungsf ragen ,  Isolation  von  Familien,  Arbei ts los igkei t 
usw  )  innerhalb  entsprechender  politischer  Gremien  mi tzuwi rken,  (war) 
einseitig  und  illusionar  ...  dies  zunachst  deshalb,  well  sich  vie- 
le  Familien  in  einer  Lebenss i tuat ion  befinden,  die  es  ihnen  weit- 
aehend  unmbglich  macht,  an  gesel 1 schaf tspol i t i schen  Veranderungen 
mitzuwirken.  Fiir  diejenigen,  deren  vorrangige  Schwier  igke  1 1  es  ist, 
ihre  Existenz  zu  sichern  und  zu  erhalten,  stehen  meistens  die  eige- 
nen Probleme  im  Vordergrund.  ...ihre  Erfahrung  besteht  ja  gerade 
riarin  von  politischen  Entscheidungsprozessen  weitgehend  ausgeschlos- 
sen  zu  sein  und  bestehende  Inst i tut ionen  erleben  sie  haufig  als 


119  - 


ihnen    feindlich   gesonnen.    Dieses   Gefiihl    von   Ohnmacht   und   Ausgeschlos- 
senheit    i st   bei   den   Betroffenen  oft   so   bestimmend,    daG  es  nur 
schwerlich   durchbrochen   werden   kann."    (21) 

Je  starker  nun  eine  Beratung  durch  die  Spezialisierung  des  Angebots 
durch  wissenschaftliche  Fachkrafte  (Psychologen,  Therapeuten,  Arzte) 
gekennzeichnet  ist,  je  geringer  werden  die  eigenen  Mbglichkeiten 
beurteilt,  an  der  Bewaltigung  des  Problems  mitzuwirken.  Wenn  zum 
allgemeinen  Anstieg  der  spezialisierten  Qual ifikation  der  Mitarbeiter 
von  Beratungsstellen  eine  weitere  Spezialisierung   (Differenzierung) 
in  der  Methode  erfolgt  und  die  betroffenen  Kinder  und  Jugendlichen 
in  einem  Beratungs-  Oder  BehandlungsprozeB  sogar  verschiedenen  Be- 
gutachtungsverfahren  unterworfen  werden   (im  RE  als  mehrdimensionale 
Diagnose  vorgesehen),  verstarkt  sich  das  Gefiihl   der  totalen  Abhangig- 
keit,  der  Unmundigkeit  und  ein  Identitatsverlust  ist  die  zwangslau- 
fige  Folge. 

Die  Einbeziehung  aller  Lebensbereiche  als  Alternative  zu  isoliert 
betrachteten  Lebensa'uBerungen   (Einzelkonflikten)   in  der  Beratung 
wiirden  jedoch  auf  dem  Gebiet  der  psycho-sozialen  Diagnose  Einrich- 
tungen  erfordern,   die  von  spezialisiert  arbeitenden  Kliniken  und 
psychologischen  Diensten  getrennt  sind  Oder  letztere  in  eine  stadt- 
teilorientierte  Sozialisationsberatungsstelle  integrieren.  Mit  kei- 
ner  dieser  Mbglichkeiten  ist  zu  rechnen. 

wichtigster  Angriffspunkt  des  geplanten  psycho-sozialen  Langzeit- 
programms  ist  deshalb  die  beabsichtigte  Diagnose  einer  psychischen 
Gefa'hrdung  Oder  Stbrung  als  Grundlage  einer  Zuweisung  von  Kindern 
und  Jugendlichen  zu  einem  Krankheitszustand,  der  sie  nebeh  dem  zu- 
nehmenden  Individualisierungsdruck  noch  weitgehender  der  Willkur 
und  den  ZwangsmaBnahmen  der  Jugendfursorge  ausliefern  wiirde. 
Die  bereits  jetzt  von  fortschrittlichen  Kollegen  der  Jugenda'mter 
praktizierte  Methode  des  weitgehenden  Schutzes  der  Kinder  und  Ju- 
gendlichen vor  Einweisungen  in  Kinder-  und  Jugendpsychiatrische 
Kliniken  muB  auf  dieser  Grundlage  einer  Kritik  an  der  Funktion  die- 
ser Beobachtungs-  und  Diagnoseverfahren  ausgebaut  werden. 

•  GEGEN  DIE  REDUZIERUNG  DER  FAMILIENERGANZENDEN  BERATUNGS- 
INHALTE  AUF  INNERFAMILIALE  KONFLIKTE 

ZUR  EFFEKTIVIERUNG  DER  FAMILIENERZIEHUNG 

DiesesKonzept  beinhaltet  deswegen  eine  Verscharfung  der  Kontrolle, 
weil   der  Beginn  "fachlicher  Beratung"  und  die  damit  verbundene 
"therapeutische  Behandlung"  bei   "Verhal tensauf fall igkei ten,  Ent- 
wicklungsstbrungen  und  Erziehungsschwierigkeiten"  einsetzt  und  da- 
durch  allein  das  Problem  des  gestbrten  Erziehungsprozesses  der  die 
Eltern  oder  andere  Erziehungs-  oder  Bildungsinstanzen   (insbesondere 
die  Schulen)  belastet  und  in  den  Mittelpunkt  des  Beratungsin'teres- 
ses  stellt. 

•  GEGEN  DAS  FEHLENDE  VORSCHLAGSRECHT  DER  JUGENDLICHEN 
BEIM  EINSATZ  EINES  ERZIEHUNGSBEISTANDES 

UND 

DIE  VERSCHARFUNG  DER  BERICHTSPFLICHT  GEGENUBER  DEM  TRACER 
DER  JUGENDHILFE  DURCH  DIE  GESETZLICH  VERANKERTE  PFLICHT 
ZUR  MITTEILUNG  UBER  "JEDEN  UMSTAND  ....  DER  ANLAB  GEBEN 
KONNTE,  WEITERE  HILFEN  ZU  GEWAHREN"  (§  58  RE) 


120 


Damit  sollte  an  einem  zentralen  Punkt  des  persbnlichen  Verhaltnis- 
ses  zwischen  dem  betroffenen  Jugendlichen  und  Erziehungsbeistand  die 
Grundlage  fur  die  Entwicklung  einer  solidarischen  Vertrauensbezie- 
hung  verhindert  werden. 

•  GEGEN  DIE  ZUNEHMENDE  REPRESSION  IN  DER  HEIMERZIEHUNG, 

DESSEN  HOCHSTE  STUFE  DAS  "SOZIAL-THERAPEUTISCHE  JUGENDHEIM'" 
SEIN  SOLL  (§  64  RE) 


"Wenn  die  f lankierenden  MaGnahme 
kraft'  der  eigenen  Familie  nicht 
Fijrsorgeerziehung  0 Erzi ehungshi 
zum  Zuge. Ihre  Aufgabe  besteht  da 
gendlichen  soweit  zu  'festigen', 
gegliedert  werden  konnen.  Zu  die 
Bindungen  (nicht  etwa  die  zu  son 
gepflegt.  Urn  die  ' Wi rksamkei t '  d 
werden  wesentliche  Grundre  tspo 
gerichtlich  angeordnete  "Hi  1  fen" 
der  Freiheit  der  Person  (Art.  2, 
der  FreizLigigkeit  (Art.  11,  Abs. 
der  Wohnung   (Art.   13  des  GG).    (§ 


n    zur   Unterstutzung   der    'Erziehungs- 
mehr    'helfen',    koramt  die   klassische 
Ifen   auSerhalb  der  eigenen   Familie') 
rin,die  auffalligen   Kinder   und   Ju- 
daG   sie  wieder   ins   Elternhaus  ein- 
sem   Zweck  werden   auch  die   familiaren 
stigen    Bezugsgruppen! )    besonders 
ieser   'Hilfen'    zu  gewahr leisten, 
sitionen   des    Betroffenen"    (22)    flir 
eingeschrankt.   So  die  Grundrechte 
Abs.   2,  Satz  2  des  Grundgesetzes) , 
1   des  GG)   und  der  Unverletzlichkeit 
47  RE) 


5.  STRUKTURELLE  BARRIEREN  GEGEN  DIE  ZUSAMMENARBEIT 

DER  KOLLEGEN  IM  JUGENDPFLEGE-  UND  JUGENDFURSORGESEKTOR 

Die  in  vielen  Teilen  differenzierte  Kritik  an  der  Jugendhilferechts- 
reform  hatte  einen  Umfang  an  bffentlichen  Stellungnahmen  erbracht 
(23),  wie  er  nach  der  Restauration  burgerlicher  Jugendhilfe  nach 
1949  noch  nicht  vorhanden  war.   Die  im  JupoFo  zusammengeschlossenen 
Initiati vgruppen  und  Jugendverbande  waren  sich  einig  in  der  Ein- 
schatzung  der  politischen  Hintergriinde  der  von  der  Bundesregierung 
geplanten  Reform;   "weil   die  Verschlechterung  der  Lebensverhaltnisse 
fur  die  Arbeiterklasse  den  Nachwuchs  von  gefiigigen  und  arbeitsfahi- 
gen  Lohnarbeitern  gefahrdet."    (24)   "Diese  Bestrebungen  haben  zum 
Ziel,    die   Loyalitat  der    Kinder   und  Jugendlichen   zum   BRD-Kapi ta 1 i smus 
und   zum   Staat    ideologisch  und  d iszi pi inarisch   besser   zu   sichern. 
Konflikte    im  Bereich   der   Sozialarbeit   zu   befrieden   und   damit  der    ra- 
dikaleri   politischen   Kritik  am  Jugendhi 1 fesystem,    die  der   behordli- 
chen  Jugendhilfe  die  Sel bstorgani sat  ion  der  von  Deklass ierung   be- 
drohten   Jugendlichen   entgegensetzte,    die  Spitze  zu   brechen".    (25) 
Auch  in  der  Einschatzung  iiber  die  Auswirkungen  eines  in  Kraft  tre- 
tenden  JHG  bestanden  klare  Vorstellungen.   Es  "sieht  MaGnahmen  vor, 
die  allesamt  auf  die   burokrat i sche  Bevormundung  der  Jugendlichen 
hinauslaufen    ...    (es)    ist   gegen  die    Interessen  der  arbeitenden   Ju- 
gend   gerichtet    (und)    behindert    die  Erkenntnis    und   die  politische 
Durchsetzung  dieser    Interessen.    Es   zielt   darauf  ab,   die  Sozialarbei- 
ter,    Erzieher   und    Lehrer   noch  direkter  als    bisher   zur   Durchsetzung 
der'bUrgerlichen  Erziehung  und   Schikanierung  gegen  die  arbeitende  Ju- 
gend  einzusetzen".    (26) 


121 


Die  Barrieren  bei  der  Oberwindung  der  Trennung  von  Jugendfiirsorge 
und  Jugendpflege  "  " " 

Das  JupoFo  stellte  in  der  Tagung  vom  6.   bis  8.12.1974  in  Frankfurt 
mit  ca.    2  500  Teilnehmern  -  darunter  etwa  500  Jugendlichen   (27)   - 
vier  Arbeitsschwerpunkte  in  den  Mittelpunkt  der  Diskussion: 

-  Arbeitssituation  und  Jugendarbeitslosigkeit 

-  Familienkonflikte  und  -flucht  von  Jugendlichen 

-  Freizeitsi tuation  und  Selbstorganisation  von  Jugendlichen 

-  Jugendhilferecht 

Dabei   zeigte  sich  die  Schwierigkeit,   die  innerhalb  der  Jugendhilfe- 
praxis  bestehende  und  immer  wieder  mit  organisatorischen  und  diszi- 
plinarischen  Mitteln  von  den  verbandlichen  Oder  staatlichen  Biirokra- 
tien  durchgesetzte  Trennung  zwischen  Jugendpflege  und  Jugendfiirsorge 
aufzuheben.   Bezogen  auf  die  massiven  Behinderungen  einer  Jugendar- 
beit  -   insbesondere  in  den  staatlichen  Freizeitheimen  -,deren  histo- 
risch  neu  entwickeltes   Interesse  der  Aufnahme  von  Konflikten  der  Ju- 
gendlichen in  Familie,   Schule,  Ausbildung,  Arbeit,  auf  rechtlichem 
Sektor  und  der  materiellen  Sicherung  der  Existenz  gait,  ha'tte  das 
JupoFo  die  Frage  nach  der  Entwicklung  von  Bedingungen  einer  geziel- 
ten  Zusammenarbeit  zwischen  Kollegen  des  Jugendpflege-  und  Jugend- 
fiirsorgesektors  unter  den  bestehenden  Verhaltnissen  zu  einem  Ar- 
beitsschwerpunkt  machen  mu'ssen. 

FLir  viele  Jugendliche  bedeutete  die  historisch  neue  Mbglichkeit  einer 
offenen  und  solidarischen  Diskussion  in  den  Freizei teinrichtungen 
oft  die  Aktualisierung  ihrer  Konfl^kte  aus  dem  Gesamtfeld  ihrer  Er- 
fahrungen  am  Ort  ihrer  Freizeit.    Insbesondere  die  Jugendzentrumsbe- 
wegung  und  die  neuen  Erfahrungen  mit  Formen  der  Selbstorganisation 
und  Selbstverwaltung  hatte  nach  1972  auch  auf  die  traditionellen  Frei- 
zeiteinrichtungen   (Hauser  der  offenen  Tut)  einen  splirbaren  EinfluB 
hinsichtlich  der  Inhalte  und  Aktivitaten  genommen.  Jugendliche  woll- 
ten  immer  haufiger  als  Notlosung  in  den  Freizeiteinrichtungen  Liber- 
nachten,  weil   sie  es  bei  den  Eltern  nicht  mehr  aushielten  Oder  raus- 
geschmissen  wurden,  auf  keinen  Fall  aber  in  ein  Heim  wollten.  Weiter- 
gehende  Forderungen  richteten  sich  auf  die  gleichzeitige  und  lang- 
fristige  Nutzung  von  Jugendfreizeiteinrichtungen  als  Wohngemein- 
schaft.   Zumindest  spielte  in  der  Diskussion  am  Ort  die  existentnel- 
le  Oberlegung  eine  Rolle,   zwischen  Wohnen  und  Freizeit  eine  enge 
Verbindung  herzustellen  und  die  erlebte  entfremdende  Isolierung  zwi- 
schen zentralen  Bereichen  des  taglichen  Lebens  zu  durchbrechen. 
Ebenso  traten  zunehmend  andere  Probleme  in  den  Mittelpunkt  der  Frei- 
zeitdiskussion.  Jugendgerichtsverfahren  sollten  und  muBten  vorberei- 
tet  und  die  Jugendlichen  in  der  Verhandlung  wenigstens  durch  die  An- 
wesenheit  der  Jugendarbeiter  unterstlitzt  werden.  Arbeitssuche,  An- 
trage  auf  Arbeitslosengeld  oder  -hilfe,  sowie  Sozialhilfe  waren 
ebenso  Gegenstand  der  Aktivitaten  in  den  Freizei tstatten,  wie  die 
Organisierung  von  Veranstal tungen  und  die  Diskussion  liber  den  Zusam- 
menhang  individuel ler  Probleme  mit  den  konkret  erlebten  Verhaltnis- 
sen im  Wohngebiet  als  sinnlich  erfahrbarer  Ausdruck  gesel lschaftli- 
cher  Vernal tnisse. 

Es  handelte  sich  hier  urn  Ansatze  einer  gemeinsamen  L5sung  aktueller 
sozialer  Konflikte  zwischen  Jugendlichen  und  Jugendarbeitern,  die 
auf  beiden  Seiten  subjektive  Formen  eines  ausgeweiteten  und  durch 
Solidarita't  getragenen  Handlungsfeldes  entwickeln  halfen.   Dabei  war 
den  Jugendarbeitern  klar,  daB  die  auftauchenden  Forderungen  der  Ju- 


122 


gendlichen,   traditionelle  Inhalte  der  Freizeitgestaltung  Uberschritten 
und  in  die  Kompetenz  ebenso  traditionel  ler  Form  der  Jugendfiirsorge 
fiel.    Eine  Reihe  von  Erfahrungen  von  Kollegen  der  Freizeitheime  mit 
den  Jugendpflegern  der  Jugendamter  stellte  sie  vor  unliberwindbar 
scheinende  Probleme.   Sie  erhielten  wederdie  Kompetenz  noch  die  er- 
forderlichen  Mittel,  den  Forderungen  der  Jugendlichen  eine  materiel- 
le  Grundlage  zu  verschaffen. 

Die  strukturellen  Hintergrlinde  fur  die  Aufrechterhaltung  der  Tren- 
nung beider  Jugendhilfebereiche  werden  am  Beispiel   dieses  Erfahrungs- 
sektors  exemplarisch  deutlich. 

Insgesamt  war auch  in  den  Freizeitstatten  eine  Dffnung  der  Diskussion 
fur  kollektive  Probleme  mbglich  geworden.   Sie  sensibilisierte  die 
5ozialarbeiter  und  Sozialpadagogen  fur  den  inneren  Zusammenhang  ver- 
schiedener  Probleme  der  Jugendlichen  auBerhalb  der  Freizeit  mit  der 
Freizeit.   Der  Begriff  des  Lebenszusammenhanges  der  Jugendlichen 
druckt  diese  Entwicklung  aus. 

Entscheidende  Bedeutung  in  dieser  Entwicklung  erhalt  die  Erfahrung, 
da(3  die  kunstlich  aufrechterhaltende  Aufspaltung  von  Lebensbereichen 
-  die  die  Jugendlichen  zumindest  in  einer  zeitlichen  Abfolge  als 
zusammenhangend  erleben,  deren  einzelne  Erfahrungsbereiche  indes 
durch  spezialisierte  gesellschaftliche  Einrichtungen  behandelt  wer- 
den und  dadurch  auch  im  BewuBtsein  in  einzelne  Teile  zerfallen 
(hier  Freizeit,  dort  Arbeit,  Schule  oder  Jugendamt  usw. )   -  durch  die 
Aktualisierung  und  gemeinsame  Aktivitaten  zu  lockern  und  punktuell, 
d.h.   zeitlich  begrenzt, aufhebbar  ist.   Da  es  sich  jedoch  nur  urn  erste 
Ansatze  und  Versuche  handelte,  die  strukturellen  Barrieren  zu  unter- 
laufen  und  in  Ei nzelfallen  die  Trennung  beider  Bereiche  zu   lockern, 
war  es  schwer,  daraus  strategische  Forderungen  zu  entwickeln,  zumal 
die  betroffenen  Jugendlichen  in  den  meisten  Fallen  gezwungen  waren, 
trotz  Unterstutzung  durch  Jugendarbeiter,   die  Institutionen  der  Ju- 
gendfiirsorge (Jugendgerichtshilfe,  Jugendamt,  Fami lienfursorge,  So- 
zialamt  usw.)  aufzusuchen  und  sich  damit  der  durch  gesetzliche  Rege- 
lungen  gesicherten  Arbeitsteilung  des  Staates   zu  unterwerfen. 

In  diesem  Verbund  institutioneller  Kompetenzen  auf  arbei tsteiliger 
Grundlage  kommen  zwei  Problemkomplexe  zum  Tragen,  die  eine  politi- 
sche  Diskussion  in  der  gewollten  Richtung  behinderten: 

i   Bei    "vorwiegend    in   der   Jugendarbeit   und    ...    im   Freizei tbereich  an- 
setzenden   Jugend ini t i at i ven    ...    wi rd  meist   die    'Freizeit'    als    beson- 
derer   Lebensbere ich  abgetrennt,    und   die    in   der    Freizeit   unmittelbar 
qeauBerten   Bedurfnisse   und    Interessen   der  Jugendlichen  werden   abso- 
lut   gesetzt    ...    Bei    Organ isat ionen   und    Institutionen  der   Jugendar- 
beit   bzw.    Padagogen  diirfte   dieselbe   Neigung    (die  erlebte  Aufspaltung 
von    Lebensbereichen)    in   der  Arbeitsteilung    begrundet   sein,   die    ihr 
Handlungsfetd   aufspaltet,    sowie    in    inst i tut ionel len  und    politischen 
Schranken,    die    ihre   berufliche  Arbeit   einengen..."    (28) 

|  Fur  die  Sozialarbeiter  der  Jugendfiirsorge  kommt  erschwerend  hinzu, 
daB  die  blirokratischen  Bindungen       ihrer  Handlungsvollzuge  im  Kon- 
text  des  gesetzlich  fixierten  MaBnahmenkatalogs,  sie  daran  hindern 
(sollen)  an  Erfahrungsprozessen  der  Jugendlichen  teilzunehmen.   Ihre 
komDetenz  vermittelt  sich  durch  die  Definition  einer  Konfliktlage 
der  Jugendlichen  als  "Schwierigkeit,  Auffal ligkei t,  Stdrung,  Gefahr- 
dung,  Verwahrlosung,  Kriminalitat",  die  es  mit  vorgeschrnebenen 

-   123  - 


"Hi  1  fen"  und  MaBnahmen  zu  beheben  gilt.    Die  Frage  nach  einer  konkre- 
ten  solidarischen  Unterstu'tzung  von  Jugendlichen  und  Arbeiterfami- 
lien  durch  Sozialarbeiter  der  Jugendflirsorge  darf  daher  nicht  dabei 
verharren,   wie  unter  extensiver  Ausnutzung  bestehender  Gesetze,   zur 
Verfligung  stehender  Informationen  und  Kenntnisse  der  i  nternen  Macht- 
verhaltnisse  in  den  Institutionen,  die  Betroffenen  optimal   beraten, 
materiel  1   unterstiitzt  und  vor  akuter  Gefahr  einer  ZwangsmaBnahme 
geschutzt  werden  konnen.  Vielmehr  sollte  darauf  hingearbei tet  wer- _ 
den,   daB  die  historisch  erka'mpften  Ansatze  einer  Zusamraenarbeit  zwi- 
schen  den  verschiedenen  Bereichen  der  Jugendhilfe  und  des  Bildungs- 
sektors  wiederaufgenommen  und  die  Frage  der  Berlicksichtigung  des 
engen  Bezugs  zwischen  den  einzelnen  Erfahrungssektoren  der  Sozialisa- 
tion  noch  differenzierter  beantwortet  wird. 


6.  RECHTLICHE,  POLITISCHE  UND  ORGANISATORISCHE  HANDLUNGS- 
BEDINGUNGEN  INNERHALB  DER  JUGENDFURSORGE 

"Jedes  deutsche   Kind   hat  ein   Recht  auf   Erziehung  zur   leibl ichen, 
seelischen   und  gesel  1  schaf  1 1  i  chen  Tiicht  igkei  t".    Dieser  Rechtsgrund- 
satz  des  §  1  JWG  ist  seit  mehr  als  50  Jahren  der  Generalanspruch 
staatlicher  Jugendhilfe.  Staatliche  Jugendamter  und  Trager  der 
"freien"  und  privaten  Jugendhilfe  sollen  mit  jugendfiirsorgerischen 
Mitteln  die  Realisierung  des  Rechts  auf  Erziehung  garantieren,  wenn 
der  "Anspruch  des  Kindes  auf  Erziehung  von  der  Familie  nicht  erfullt 
wird" . 

§  4  JWG  weist  der  Jugendflirsorge  eine  Reihe  von  Pflichtaufgaben  zu, 
die  bereits  eine  ebenso  50jahrige  Tradition  seit  Inkrafttreten  des 
Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes  1924(29)haben  und  "das   Kernstiick  des 
Aufgabenbereichs  des  Jugendamtes"  sind.    (30) 


§  4  JWG  "Aufgaben 
1  .    der   Schutz  der 

2.  die  Mi twi rkung 

3.  die  Mi  twi  rkung 
Erziehungshi lfe 

k,   die  Jugendgeric 

gesetz, 
5.  die  Mi  twi  rkung 

chen  Arbei  tern 
6  .  die  Mi  twi  rkung 

Kriegsbeschadig 
7.  die  Mi  twi  rkung 

sondere  bei  der 


(30) 

des   Jugendamtes    sind 
Pflegekinder   gem.    der    §§  27   -   36, 
im  Vormundschaf tswesen  gem.    der  §§  37~5^  a> 
bei    der   Erzi ehungsbei standschaf t ,    der   freiwilligen 
und  der   Fiirsorgeerziehung  gem.   den   §§  55_77, 
htshi lfe  nach  den  Vorschriften  des   Jugendger ichts- 

bei   der   Beaufs icht igung  von   Kindern   und  jugendli- 
nach  naherer   landesrecht 1 icher  Vorschrift, 
bei    der   Fiirsorge  fur    Kr iegerwaisen   und    Kindern  von 
ten, 

in  der   Jugendhilfe   bei    den   Pol izei behorden,    insbe- 
Unterbri ngung   zur  vorbeugenden  Verwahrung,    ..." 


§  5  JWG  formuliert  "weitere  Aufgaben",  die  eine  formale  Verbindung 
der  Jugendpflege  und  Jugendflirsorge  darstellen,  jedoch  die  inhaltli- 
che  und  organisatorische  Trennung  beider  Bereiche  nicht  aufheben. 
Hinsichtlich  der  Auswirkungen  beider  Arbeitsbereiche  der  Jugendhilfe 
auf  die  Lebenssituation  der  Kinder  und  Jugendlichen  besteht  dadurch 
ein  Gegensatz.   Die  innerhalb  der  Jugendflirsorge  im  Mittelpunkt  ste- 
henden  Kontroll-  und  EingriffsmaBnahmen  fuhren  bei   einem  groBen  Teil 
der  Kinder  und  Jugendlichen  zu  Trennungen  von  ihren  Familien,  wahrend 


124 


die  Jugendpflege  darauf  gerichtet  sein  soil,  die  Entwicklung  derJugend 
durch    Freizeitangebote,  Jugenderholungs-  und  Sportprogramme  sowie 
politische  Bildung  zu  fbrdern.   Die  oft  strengen  Kompetenzabgrenzun- 
gen  verhindern  die  zwingende  Notwendigkeit    einer  inneren  Verzahnung 
von  Jugendpflege  und  Jugendflirsorge,  obwohl   "schon  der  Kommentar 
Fiedeberg-Pollichkeit  zum  RJWG  von  1922  betont,  daB  die  Hi  1  fen  flir 
die  gesetzlich  vom  Jugendamt  besonders  zugewiesenen  Kinder  und  Ju- 
gendlichen ...   sinnvoll  gar  nicht  geleistet  werden  konnen,  ohne  daB 
genugend  Einrichtungen  der  allgemeinen  Jugendfbrderung  zur  Verfligung 
stehen.   Darliberhinaus   liegt  es  auf  der  Hand,  daB  ein  Teil  der  Not- 
fa'lle  gar  nicht  einzutreten  brauchte,  wenn  hinreichende  Einrichtun- 
gen und  MaBnahmen  der  allgemeinen  Jugendhilfe  zur  Verfligung  stlin- 
den".    (31)  Es  wird  hier  deutlich,  daB  den  Tragern  der  Jugendhilfe 
ebenso  wie  den  Verfassern  des  3.   Jugendberichtes  klar  ist,  wie  eng 
auf  der  konkreten  Ebene  der  Existenz  sozialer  Probleme  beide  Jugend- 
hilfebereiche  inhaltlich  zusammengehb'ren. 


§  5  JWG  "(1)   Aufgabe  des 
der    Jugend   erforderl ichen 
zu    fordern  und   gegebenenf 

1 .  Beratunq    in   Fraqen   der 

2.  ~~ 
3. 


Hi lfen    fur  Mutter   und 
Pflege   und    Erziehung 
pf 1 ichtigen    Kindern  au 

4.  erzieherische  Betreuun 
Jugendlichen  im  Rahmen 

5.  allgemeine  Kinder-  und 
ung  von  Kindern  und  Ju 

6.  rre izei thi 1  fen,  politi 

7.  Erziehungshi lfen  wahre 
und  Berufsta't  igkei  t  ei 
des  El ternhauses, 

8.  erzieherische  MaBnahme 
derja'hrige  ..." 


Jugendamts  ist  ferner,  di 
Einrichtungen  und  Verans 

alls  zu  schaffen,  insbeso 
Erziehung 


Kind  vor  und  nach  der  Geb 
on  Sauglingen,  Kleinkinde 
Berha I b  der  Schul e, 
g  von  Sauglingen,  Kleinki 
der  Gesundhei tshi 1 fe, 
Jugenderholung,  sowie  er 
gendl ichen  im  Rahmen  der 
sche  Bildung  und  internat 
nd  der  Beruf svorberei tung 
nschlieBlich  der  Unterbri 


e  fiir  die  Wohlfahrt 
taltungen  anzuregen, 
ndere  fur 

urt , 

rn   und    von   schul- 

ndern,    Kindern   und 

zieherische    Betreu- 
Fami 1 ienerholung, 
ionale   Begegnung, 
,    Beruf sausbi 1  dung 
ngung  auGerhalb 


n  des  Jugendschutzes   und   fiir  gefahrdete  Min- 


§  6  JWG  pra'zisiert  und  erweitert  die  §§  4  und  5  urn  den  Grundsatz, 
daB  "Hi  lfen  zur  Erziehung  fur  einzelne  Minderjahrige  dem  erzieheri- 
schen  Bedarf  entsprechend  rechtzeitig  und  ausreichend  zu  gewahren 
sind"  und  Unterbri ngungen  auBerhalb  der  eigenen  Familie  (Heim,  ande- 
re  Familie,   "oder  einer  anderen  Einrichtung")  den  "notwendigen  Le- 
bensunterhalt"  einschlieBt  (Heinikosten,  Pflegegeld,  Sozialhilfe) . 

nip  Funktion  der  ambulanten  Beratung  im  System  Jugendfursorge 

Ein     zentraler  Komplex  jugendfursorgerischer  Ta'tigkeit  ist  in  der 
Beratungspflicht  enthalten.   Durch  das  JWG  werden  den  Jugendamtern 
dennoch  keine  naher  definierten  Inhalte  der  Beratung  vorgeschneben. 
Allein  die  "Beratung  in  Fragen  der  Erziehung"   (§  5,  Abs.   1,  Nr.   1 
1UG1   verpflichtet  die  Jugendamter  allgemein.  Auf  welche  erziehen- 
^rhen  Probleme  diese  Beratung  bezogen  sein     und  mit  welchem  Verstand- 
nis  von  den  Entstehungsursachen  psychischer  Konflikte  der  Kinder, 
i,,Lnd1ichen     die  Sozialarbeit  darauf  reagieren  solL.bleibt  unklar. 
]pde  Verbindung  zwischen  individuell  auftretenden  ErznehungsschwTe- 
^keiten  und  den  sozialstrukturell   vorhandenden  Bedingungen.  die 
Jsychi sche  und  soziale  Konflikte  entstehen  lassen  und  begdnstigen, 

-  125 


wird  in  den  gesetzliche 
Jugendamtsleitungen  an 
stiert  punktuell  in  kon 
jekten  als  Reformansatz 
ist  die  Tatsache,  daB  d 
milienfursorgearbeit  vo 
zung  mit  gesellschaftli 
Verelendungserscheinung 


n  Grundlagen  und  Arbeitsanweisungen  der 
die  Sozialarbeiterbasis  vermieden.   Sie  exi- 
zeptionellen  Aussagen  der  modellhaft  in  Pro- 
e  arbeitenden  Gruppen.   Politisch  entscheidend 
ie  allgemeine  Ebene  der  Jugendamts-  und  Fa- 
-n  offensiven  Prozessen  der  Auseinanderset- 
chen  Hintergriinden  sozialer  und  psychischer 
en  ausgespart  bleibt. 


Ein  weiteres  Element  der  Beratungstatigkeit  ist  die  Trennung  zwi- 
schen  "Beratung  in  Fragen  der  Erziehung"  und  der  sogenannten  "form- 
losen  Betreuung".    In  den  Arbeitsstatistiken  der  Jugendamter  und  Fa- 
mi  lienfiirsorgen  werden  alle  Beratungen  in  erzieheri schen,  schuli- 
schen,  rechtlichen  und  wirtschaftlichen  Bereichen  als  "formlose 
erzieherische  Betreuung"  erfaBt,  die  nicht  durch  eine  gesetzliche 
oder  erzieherische  AufsichtsmaBnahme  begleitet  sind   (Heimunterbrin- 
gung,  Vormundschaft,  Pflegschaft,   Beistandschaft,   Pflegekind).    Fur 
die  formlose  Betreuung  ist  die  "Freiwilligkeit  und  das  Zusammen- 
wirken  mit  den  Erziehungsberechtigten  kennzeichnend" .    (32) 
Diese  Aufgabe  wird  den  "Fachkraften  des  Jugendamtes"  zugeschrieben. 
(33)   Dagegen  wird  die  "Beratung  in  Fragen  der  Erziehung"  qualitativ 
hoher  eingestuft,  weil   "eine  allgemeine  Beratung  von  Eltern  und  an- 
deren  Erziehern  durch  soziale  Fachkrafte  des  Jugendamtes  in  Form 
methodisch  angeleiteter  Einzelfallhilfe  sowie  durch  institutionali- 
sierte  Elternbildung"  erfolgt.    (34) 

Die  hbchste  Stufe  "qualifizierter  Beratung"  wird  nach  diesem  Ver- 
standnis  in  den  Erziehungsberatungsstel  len  und  "erganzend'en  Einrich- 
tungen  (Spieltherapiegruppen,  heilpadagogi schen  Kindergarten,  Hor- 
ten)"   (35)  gesehen. 

Beide  Tatigkeiten  werden  im  3.  Jugendbericht  und  den  Jugendberichten 
der  Lander  als   "eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  dffentlichen  Ju- 
gendhilfe"  eingestuft.    In  dieser  Einschatzung  fehlt  jedoch  ebenso  wie 
im  JWG  und  den  Geschaftsverteilungsplanen,  Arbeitsanweisungen  und 
Ausfuhrungsvorschriften  eine  Aussage  Liber  die  Verlaufsprozesse  und 
Kriterien,  die  in  die  Beratung  und  "formlos,e  Betreuung"  an  die  Beur- 
teilung  des  Zustandes  in  Familien  und  die  erforderl ichen  MaBnahmen 
angelegt  werden  mu'ssen.   Ob  ein  Hausbesuch,  ein  Gesprach  im  Amt,  mit 
der  Lehrerin,  dem  Ausbilder  oder  anderen  Institutionen  nun  der  "all- 
gemeinen  Beratung"  zugerech.net  wird  oder  Teil  der  "formlosen  Be- 
treuung"  ist,  bleibt  fur  die  betroffenen  Eltern,  Mutter,  vater,   Kin- 
der und  Jugendlichen  gleichgul tig.   Fiir  sie  ist  entscheidend,  ob  die 
Aktivitat  des  Jugendamtes  eine  Unterstutzung  zur  Beseitigung  wirt- 
schaftlicher  Not,  beengter  Wohnverhal  tnisse,  Arbeitslosigkei t,  eine 
erzieherische  Entlastung  und  ein  Beitrag  zum  Verstandnis  sozialer 
Belastungssituationen  und  persb'nlicher  Interessen  ist  oder  ihnen 
die  Folgen  unzumutbarer  Existenzbedingungen  auch  noch  vorgeworfen 
werden. 

Auf  dieser  Stufe  der  Berucksichtigung  sozialer  Krisensituationen, 
Interessen  und  Bediirfnisse  der  Betroffenen  wiirde  noch  nicht  einmal 
die  Frage  nach  mb'glichen  Unterstiitzungen  von  Selbstorganisationsan- 
satzen  erfaBt  werden. 

Der  Unterschied  zwi schen  einer  Beratung  und  einer  "formlosen  Betreu- 
ung"  ist  dennoch  nicht  nur  ein  formaler.    Beide  Handlungsformen  der 


126 


JugendfLirsorge  beinhalten  zwar  das  Element  sogenannter  Freiwillig- 
keit der  Betroffenen,  von  den  angebotenen  Hilfen  Gebrauch  zu  machen, 
jedoch  entsteht  oft  aus  der  unverbindlichen  Beratung  ein  Obergang 
zur  "formlosen  Betreuung". 
Dazu  ein  Beispiel: 

Schwanzt  ein  Schiiler  in  der  Schule  und  geht  er  nach  einem  Gesprach 
mit  dem  Sozialarbeiter  im  Amt  oder  seiner  Wohnung  wieder  zur  Schule, 
wird  die  Aktivitat  als  Beratung  eingestuft.   Der  "Fall"  ist  erledigt. 
Kommen  weitere  Meldungen  oder  stellt  sich  bereits   bei   der  ersten  Be- 
sprechung  mit  den  Eltern  oder  dem  Schiiler  heraus,  daB  zusatzliche 
Probleme  bestehen   (im  wirtschaftlichen  Bereich,  bei  der  Erziehungs- 
arbeit,  auf  strafrechtlichem  Gebiet  u.a.)  entwickelt  sich  eine  form- 
lose  Betreuung.   Eine  unbefristete  Aktenfuhrung  wird  eingeleitet    und 
periodische  Kontrollbesuche  sind  anschlieBend  die  Regel .   Nehmen  die 
Schwierigkeiten  zu,  vergrdBern  sich  die  Probleme,  wird  die  Lage  der 
Familie  bedrohlicher  (Mietschulden,  Kreditschulden,  "chronisches 
Schulschwanzen"  oder  "standiges  Stbren  des  Unterrichts" ,  Arbeitsbum- 
melei   usw.)wird  eine  ErziehungsmaBnahme  eingeleitet,  wenn  die  Eltern 
nicht  mehr  kbnnen,  die  Schule  nicht  mehr  will,   der  Arbeitgeber  es 
satt  hat  oder  die  Verwahrlosung  droht. 

Die  MaBnahme  steht  also  nur  scheinbar  im  Gegensatz  zur  Beratung  und 
"formlosen  Betreuung".    Formalisiert  erscheint  sie  in  den  Arbeits- 
statistiken als  Pflichtbetreuung.   Sie  geht  auf  MaBnahmen  zuriick, 
die  das  Jugendamt  auf  der  Grundlage  des  JWG  ergriffen  hat  und  zur 
langfristigen  Betreuung  bis  zum  erfolgreichen  AbschluB   ("Erziehungs- 
erfolg")   verpflichtet. 

Damit  wird  deutlich,   daB  es  einen  inneren  Zusammenhang  zwischen. 
Beratungen,   "formlosen  Betreuungen"   und  MaBnahmen  im  Sinne  zunehmen- 
der  Verscharfung  gibt. 

Der  Zwang  der  JugendfLirsorge,  sich  an  der  "erzieherischen  Grund- 
richtung"  der  hamilie  zu  orientieren 


Die  Grundrichtung  des  Handelns  ergibt  sich  aus  dem  Zusammenwirken 
rechtlicher,  politischer  und  organisatorischer  Faktoren. 
Die  JugendfLirsorge  basiert  ebenso  wie  die  Jugendpflege  auf  dem  po  1  i - 
tischen  Prinzip  der  Orientierung  einer  jeden  Jugendhilfeaktivitat 
an  der  "Erziehung  zur  leiblichen,  seelischen  und  gesellschaftl ichen 
Tiichtigkeit".   Die  herrschende  Definition  gesellschaftlicher  Tiich- 
tigkeit  als  regierungsamtl iches  Ziel   jeder  Erziehung  bezieht  sich 
denn  auch  auf  die  "Hauptaufgabe  der  Familie  ...  den  heranwachsenden 
Menschen  in  die  Lage  zu  versetzen  ,  sich  in  der  gesel lschaftl ichen 
Wirklichkeit  zu  orientieren  und  ihm  die  Fahigkeiten  zu  vermitteln, 
die  er  benbtigt,  urn  ein  inn  selbstbefriedigendes,  auf  die  Gemeinschaft 
hin  orientiertes  Leben  zu  fu'hren."    (36) 

Die  gesellschaftliche  Wirklichkeit  ist  der  status  quo  einer  burger- 
lich  verfaSten  Gesellschaft,  in  die  es  hineinzuerziehen  gilt.ohne 
nach  den  Veranderungsnotwendigkeiten  zu  fragen.   Erziehungspoli tisch 
?st  die  JugendfLirsorge  durch  §  3  JWG   ("Erganzungserziehung   )  dazu 
verDflichtet,   die   "von  den  Personensorgeberechtigten   bestimmte  Grund- 
richtunq   der   Erziehung...    bei   a  1 len  MaBnahmen    . . .    zu  beachten... 
n  e  Grundrichtung  wird  strukturiert  vom  . . .  uberlieferten  und  welt- 
Jin  von  der  Gesellschaft  bejahten  Leitbild  der  im  Grundsatz  lebens- 


127 


langen  ehelichen  Geraeinschaft  einem  neuen,  zunehmend  anerkannten 
auf  Gleichberechtigung  und  Partnerschaft  beruhenden  Rollenverstand- 
nis  von  Mann  und  Frau,   einem  Verstandnis  in  der  El tern-Kind-Bezie- 
hung.das  altersma'Big  hierarchische  Gestaltung  durch  Partnerschaft,. 
durch  Einra'umung  von  Mitsprache  und  Mitbestimmung  und  durch  Aufge- 
schlossenheit  fiir  die  vorhandenen  Spannungen,   Konflikte,   Interessen- 
unterschiede  und  fur  Hilfen  zu  deren  Lbsung  bzw.   Kompromisse  zwi- 
schen  Eltern  und  Kindern  ersetzt".    (37) 

Diese  Position  entha'lt  als  Widerspriichl  i  chkei  t  blirgerlicher  Familien- 
politik  die  ideologische  Verzerrung  einer  historisch  notwendigen, 
in  politischen  Auseinandersetzungen  erkampften  Dffnung  der  Existenz- 
formen  in  der  Kleinfami  lie  fiir  kollektive  Lebensformen  zu  einer  an- 
geblichen  Entwicklungstendenz  in  Selbstverstandnis  und  Entschei dungs- 
praxis  der  Familien. 

Historisch  notwendig  wurde  die  Offnung,  denn  die  sich  seit  Ende     der 
50iger  Jahre  ausweitende  Produktion  hatte  sowohl  den  zusatzlichen 
Einsatz  der  Arbeitskraft  der  Frauen  erfordert  und  zu  einer  zunehmen- 
den  Vergesellschaftung  friihkindlicher  und  Elementarerziehung  gefuhrt 
(Krippen,  Kitas,  Horte)  als  auch  die  Anforderungen  an  die  allgemeine 
Qualifikation  der  Arbeitskraft  durchdas  Bi  ldungssystem  (Vorschule, 
Schule,  Berufsausbildung)   erhbht.   Die  in  diesem  EntwicklungsprozeB 
entstandene  Auseinandersetzung  urn  Erziehungstheorien  und  -praktiken 
brachte  auch  Bedingungen  und  Funktion  der  Kleinfami 1 ie  in  die  Dis- 
kussion. 

Die  starker  aufbrechenden  und  erkennbar  gewordenen  Widerspruche  zwi- 
schen  der  hterarchisch  organisierten  Familie,  deren  Handlungsmuster 
und  -inhalte  durch  die  bkonomischen  Ausbeutungsverhaltm'sse  bestimmt 
sind  (autorita'r  verfaBte  Sozialstruktur  der  Famil ienbeziehungen  als 
Folge  von  bkonomischen  Machtverhaltnissen)   und  den  sich  ausweitenden 
Sozialerfahrungender  Kinder  und  Jugendlichen  auBerhalb  der  Familien, 
fuhrten  zu  starkeren  Erziehungskonflikten.   Die  Entfremdung  zwischen 
den  Famil ienmitgliedern  widersprach  auf  der  einen  Seite  dem  stnkten 
Zwang  zur  Unterordnung  der  Kinder  und  Jugendl  ichen,da  eine  emotio- 
nale  Stabilitat  als  Voraussetzung  zur  Erfullung  gesetzter  Forderun- 
gen  nach  Gehorsam  durch  den  unpersbnlichen,  gehetzten  und  funktio- 
nellen  Charakter  der  Beziehungen  nicht  mehr  in  gleicher  Weise  gege- 
ben  war. 

Auf  allgemeiner  Ebene  gesellschaftlicher  Auseinandersetzungen  ent- 
wickelte  Forderungen  nach  Kollektivierung  der  Lebensbeziehungen  mach- 
te  sich  jedoch  nur  an  personell   begrenzten  und  konkreten  Gruppen 
fest.   Sie  hatten  immer  nur  begrenzten  EinfluB  auf  gesellschaftliche 
Teilbereiche.   Ebensowenig     wie  die  Forderungen  und  Einrichtungen  von 
Jugendwohnkollektiven  fur  gefliichtete  und  spa'ter  legal   entlassene 
oder  verlegte  Heimjugendliche  einen  Urabruch  in  der  Heimerziehung  ver- 
ursachten,  ebensowenig  fiihrte  die  Kritik  an  der  Funktion  der  Klein- 
fami lie  und  die  private  Einrichtung  von  Wohngemeinschaften  zu  einer 
Anderung  der  Familien  -  oder  Jugendpolitik. 

Dazu  ware  Voraussetzung  gewesen,  daB  die  in  gesel  lschaftlichen  Pro- 
zessen  der  Erziehung  durch  Familie,  Schule,  Ausbildung,  Freizeit 
usw.   erreichbaren  Informationen  auf  die  bkonomischen  und  politischen 
Grundlagen  jeder  Art  und  Form  sozialer  Beziehungen  und  psychischer 
Reaktionsweisen  zuru'ckgefuhrt  werden.   Erst  die  Aneignung  dieser  In- 


-  128 


formationen  im  Verlauf  aktiver  Konfrontation  der  Kinder  und  Jugend- 
lichen mit  den  konkreten  Erscheinungen  gesellschaftlicher  Zustande 
kbnnte  eine  Perspektive  zur  Veranderung  erbffnen. 


Eine  Erziehung 
gung  der  erzieh 
tung  fur  Sozial 
in  den  Familien 
in  Einklang  zu 
tat  darauf  geri 
chern  (durch  Ko 
die  Funktionsfa 
nun  zum  Einsatz 
men  kommt,  ergi 
Funktionsablauf 


zu  gesellschaftlicher  TU 
erischen  Grundrichtung  b 
arbeiter  der  Jugendfurso 

mit  den  vorfindbaren  Ve 
bringen.  Damit  ist  die  j 
chtet,  die  Funktionsfahi 
ntrolle,  Beaufsichtigung 
higkeit  der  Gesellschaft 

von  Beratungen,  formlos 
bt  sich  aus  dem  Grad  der 
e. 


chtigkeit  unter  Berlicksichti- 
einhaltetalso  die  Verpflich- 
rge,  die  auftretenden  Konflikte 
rhaltnissen  in  der  Gesellschaft 
ugendfursorgerische  Aktivi- 
gkeit  der  Familien     zu  si- 
und  Eingriffe),  urn  darliber 
aufrechtzuerhalten.  Ob  es 
en  Betreuungen  oder  MaBnah- 
Gefahrdung  gesellschaftlicher 


Jug endfursorqe  als  Hilfsorgan  des  Staates  zur  Durchsetzung  und 
EVhaltunq  der  ^eproduktTonsbedingungen     der  ArbeiterbevblkeruiTg 

Ein  weiteres  Element  zur  Strukturierung  von  Handlungsablaufen  ist 
der  Charakter  von  Kooperationen  zwischen  verschiedenen  Bereichen 
der  Jugendhilfe  und  mit  anderen  Institutionen  des  Erziehungs-, 
Bildungs-  und  Ausbildungssektors.   Formal   wird  die  Kooperation  als 
Amtshilfe  definiert.   Rechtsgrundlage  ist  der  §  10  JWG   ("Beistands- 
leistung"). 

"Die   Behorden   des    Bundes,    der   Lander,    der   Selbstverwa 1 tungskorper , 
die   Organe  der  Vers icherungstrager  und   die  Jugendamter   haben   sich 
qegenseitig    und   die  Jugendamter  einander    zur    Erfullung   der   Aufgaben 
der   Jugendwohl fahrt    Beistand     zu    leisten    ..." 

Im  Kommentar  zum  JWG  von  Riedel  werden  die  wichtigsten  Institutionen 
aufgezahlt,    "es    kormnen    insbesondere    in    betracht    Ersuchen  an  Arbeits- 
amter      Einwohnermeldeamter ,    Finanzamter ,    Trager  von   Sozialhilfe- 
leistungen,    Gerichte,    Gesundhei tsbehorden    ...,    Gewerbeaufs ichtsbehor- 
den,   andere  Amter,    Pol izei behorden,    Schule,   Trager  der   Sozialversi- 
cherung,    Standesamter ,    Straf regi sterbehorden   u.a.    ..."    (38) 

Das  Vernal  tnis  der  Jugendamter  und  Fami  lienflirsorgen  zu  anderen 
Institutionen  bestinmt  sich  somit  aus  dem  Interesse  der  Verwaltung, 
die  Organisationsablaufe  effektiv  zu  gestalten.   Dazu  sind  Informa- 
tionen aus  den  Bereichen  notwendig,  mit  denen  Kinder,  Jugendliche 
und  deren  Erziehungsberechtigte  Kontakt  haben  (s.o.).   Der  Umfang 
der  Informationen  bestimmt  sich  aus  dem  gesetzlichen  Auftrag  der 
JuaendfLirsorge   (Kompetenz  Durchfiihrung  der  Aufgaben)    hinsichtlich 
apt  Aufsicht  und  Kontrolle  erzieherischer  Entwicklung  in  der  Fami- 
lie und  des  reibungslosen  (konfliktarmen)  Ablaufs  von  Lern-  und  Ar- 
hPitsDrozessen  sowie  der  Einhaltung  von  Rechtsnormen  (Legal verhal- 
tln)  auBerhalb  der  Familie.   Der  Umfang  der  Informationen  ist  daruber 
hinaus  von  den  strukturel len  Bedingungen  und  Interessen  der  zur  Amts- 
hilfe verpflichteten  Institutionen  begrenzt.    .,,_,.._ 
Das  Jugendamt  fragt  z.B.   bei  den  Schulen  schnftlich  (z  T.  nit  Vor- 
Hrucken)   nach  Punktlichkeit  des  Schulbesuchs,  dem  sozialen  Verhal- 
™  Zr  Schuler,  der  Mitarbeit  der  Eltern  und  dem  Leistungsstand 
S  schule  ist  zur  Auskunft  verpf lichtet.   Der  Umfang  und  die  Quali- 
?s?  der  Auskunft  wird  jedoch  begrenzt  durch  das  allgemeine  Interes- 
se der  Schulen      an  der  Einhaltung  der  Schulpflicht,  der  Beachtung 


129 


von  Schul-  und  Klassenordnung,  der  Bewail tigung  des  angebotenen  Lehr- 
stoffs,  der  UnterstLitzung  der  Schliler  durch  die  Eltern.   Schul gesetze 
und  Ausfu'hrungsvorschriften  sind  so  aufgebaut,  daB  eine  Intervention 
von  auBen  in  die  strukturel len  Bedingungen  der  Schule  entweder  un- 
mbglich  ist  oder  durch  formal isierte  Delegationen  und  Gremienarbeit 
verhindert  wird.    (39)  Dort,  wo  die  Schulen  ein  Interesse  an  der  Be- 
teiligung  der  Jugendamter  haben,   sind  die  Bereiche  genau  vorge- 
schrieben.   Sie  beziehen  sich  Liberwiegend  auf  Verhaltenskonflikte  der 
Schliler   (40),   dereri  Entstehungsursachen  in  der  Person  des  Schlilers 
oder  den  Familienverhaltnissen  gesehen  werden.FLir  erzieherische 
Schwierigkeiten  ist  das  Jugendamt  zustandig.   Dem  entspricht  die 
Funktion    und  der  Aufbau  des  JWG, 

Die  Sozialarbeiter  der  Jugendfiirsorge  haben  also  nicht  zur  Erfor- 
schung  der  Ursachen  von   Konflikten  beizutragen  und  auf  eine  Rnderung 
des  gesellschaftlichen  Zustandes  hinzuwirken,  sondern  die  entstan- 
denen  Probleme  rait  geeigneten  MaBnahmen  zu  verringern,   zu  lindern, 
zu  beschwichtigen,  zu  ersticken  oder  zu  isolieren.   In  diesem  Sinne 
kommt  der  Jugend-  und  Familienfiirsorge  die  Funktion  eines  Hilfsorgans 
fiir  mehrere  andere  Institutionen  zu.   Auszlige  aus  Richtlinien,  Dienst- 
blattern,  Rundschreiben  und  Berichten  der  vergangenen  Jahrzehnte 
sind  ein  historisches  Spiegelbild  dafur. 

1929 

"Die   Familienfiirsorge    ...    steht    ...      alien   Zweigen  der  Verwaltung 
fiir   soziale  Aufgaben    im    Einzelfall    zur  Verfiigung    ...    (sie)^   wi  rkt    ... 
durch   fursorgerische    Begutachtung   auf  Anforderungen  anderer   Dienst- 
stellen  mit    ...    Die  Fursorge  fur   Schuler  al ler  Schularten  auf  erzie- 
herischem  und  wi rtschaf 1 1 ichem  Gebiet  obliegt   der   Familienfiirsorge... 
sie  steht   den   Schul lei  tern   und   den   Lehrkraften      zu    personl icher   Zu- 
sammenarbeit  zur  Verfiigung.    Schulversaumni sse  von  Schiilern.bei    denen 
die  Gefahr   einer  Verwahr losung  vorzul'egen  scheint,   werden  gem. 
Dienstblatt    ...    vom'  10.10.1925...    an   die   Fafu      gemeldet."    (41) 

1939 

"Die  Abteilung    Fami 1 ienfursorge  soil    ferner  der  orgam sator i sche 
Apparat   sein,   der  dem  Wohlfahrts-   und  Jugendamt   zur   Uberwachung 
der   Durchfuhrung   der   behordlichen  MaBnahmen  jederzeit   zur   \/erfugung 
steht".    (42) 

1950 

"Die  Fami 1 ienfursorge  ...  wird  auch  von  den  ubrigen  Abteilungen  des 
Bezirksamtes  fur  fursorger i sche  Hilfe  in  Anspruch  genommen  oder 
gutachtl ich  gehort."  (43) 

1962 

"In   den    Beziehungen   der   Familienfiirsorge   zu  den  Gesundhei  ts- ,    Schul-, 
Arbeits-,    Justiz-,    Wohn'ungs-   und  Versorgungsbehorden     g  e  n  0   g    t 
die  allgemeine  Verpf 1 ichtung  des   Jugendamtes   zur  Amtshilfe   und   Bei- 
standsleistung  nach  Art.    35  GG  und   §   10  JWG".    (44) 

Die  Bedingungen  der  Zusammenarbeit  zwischen  der  Jugendfiirsorge  und 
anderen  Bereichen  lassen  also  formal isierte  Kooperationen  zu.   Gleich- 
zeitig  soil  durch  strukturelle  Ajpsicherungen  der  jeweiligen  gesell- 
schaftlichen Sektoren  mit  gesetzlichen,  organisatorischen  und  dis- 


-  130 


ziplinarischen  Mitteln  verhindert  werden,  daB  sie  zu  Veranderungen 
des  status  quo  benutzt  werden.   Die  zunehmenden  Disziplinierungen 
und  Berufsverbote  auch  im  Bereich  der  Jugendfiirsorge  sind  ein  poli- 
tischer  Ausdruck  dieser  AbsicherungsmaBnahmen. 

Gescha'ftsverteilungsplan  -  ein  Instrument  zur  Bindung  der  Sozialar- 
beiter an  d       Funktion  des  JWG  und  den  burger! ichen  Staat 

Ein  weiteres  Instrument  zur  Einhaltung  der  gesetzlichen  Aufgaben  und 
erziehungspoli tischen  Grundsatze  in  den  dargestel lten  Grenzen  sind 
der  Gescha'ftsverteilungsplan  und  die  organisatorischen  Arbeitsprin- 
zipien  in  den  Sozialburokratien. 

Der  Gescha'ftsverteilungsplan  (GVP)   ist  auf  unterster  Ebene  des  Hand- 
lungsvollzugs  jedes  Angehbrigen  des  bffentlichen  Dienstes  die  kon- 
krete  und  verbindliche  Umsetzung  allgemeiner  Rechtsgrundsatze  und 
Aufgaben  in  Arbeitsanweisungen.   Die  Aufrechterhaltung  einer  Uber 
50-jahrigen  Tradition  jugendfiirsorgerischer  Kontroll-  und  Eingriffs- 
arbeit  muB  sich  also  auch  in  den  Gescha'ftsverteilungspla'nen  nachwei- 
sen  lassen. 

1929 

"Die  Familienfiirsorge   hat  die  voile   Sachbearbei tung    ...    fiir  dieje- 
nigen   Arbei tsgebiete   des   Wohlfahrts-   und   Jugendamtes,    die  uberwie- 
gend    fursorger i schen   Charakter   tragen    ...    Schutz  der   Pf legekinder , 
Unterbr  i  ngung    in  Anstalts-   und   Fami  1  ienpf  1  ege,    Fursorge   fiir  gewerb- 
1  ich   tatige   Kinder   und  Jugendliche    ...    Kruppel  fiirsorge,    Psychopathen- 
fiirsorge,    Jugendger  i  chtshi  lfe,    Schutzauf  si  cht   -    und    Fursorgeerziehungs- 
sachen   ...    Strafent lassenenfiirsorge,    Pf legeamtsaufgaben".    (45) 

1949 

"Schwererziehbare  mannliche   Jugend 

fursorger ische   Beratung    und    Betreuung    schulentlassener  mannl icher 
Jugendlicher   und  Minderjahr iger .    Einleitung  und  Mitwirkung   bei   der 
Durchfuhrung  von  MaBnahmen,    die  zur  Abwendung   der  Verwahrlosung   und 
zur    Einordnung    bei    bereits    bestehender   Asozialitat   geeignet    sind 
(Erziehungsberatung,    Unterbringung,   Arbei tseinsatz,    freiwillige 
Schutzaufsicht) .    Mitwirkung    bei    vormundschaf tsger i cht 1 ichen   und 
fami 1 ienrechtl ichen  MaBnahmen,    bei    Antragen  auf   Sorgerechtsentzie- 
hungen,  Mitwirkung  bei   Personensorgerechts-  und  Ver ken rsrege lung 
rach   Ehescheidungen.    Fiirsorgeerziehung,    Schutzaufsicht,    freiwillige 
Heimunterbringung    ..."    (46) 

Fur  die  im  "Pflegeamt"  zur  Betreuung  "gefa'hrdeter/'Madchen  einge- 
setzten  Fursorger  hieB  es: 

i'        Durchfuhrung   von   HwG-Priifungen    (HwG    -    ha'ufig  wechselnder   Ge- 
<;chiechtsverkehr,    d.V.)    fiir   das   Landesgesundhei  tsamt .    Einleitung 
Ln  vorbeugenden  MaBnahmen  aufgrund  des  Gesetzes   zur   Bekampfung  von 
r^rhlechtskrankheiten    (gesundhei  tsbehordUche    Kontrol  le)  .vormund- 

rhaftsaerichtliche  MaBnahmen    (Pf legeschaf ts-   und    EntmUndigungsver- 
fahren)      bewahrende  MaBnahmen  und  Asozialen-Betreuung    (Heim-   und 

ffWS*W  K^li'ifflnoeh  eberso  wie  die  Jugendfursor- 

1  fUr  dilmannliche  Jugend  als  selbstandige  Arbei tsbereiche.   Nur 
fie  sjrache  ist  nicht  mehr  so  unverhullt.  Aus  "AsozlalltK"  wurde 

-  131   - 


"Qissozialita't",  aus  der  Schutzaufsicht  die  Erzi ehungsbei stand  - 
schaft  und  der  Arbeitshausunterbringung  die  Verpflichtung  zur  unzu- 
mutbaren  Obernahme  jeder  "zumutbaren  Arbeit". 

So  liest  sich  die  Arbei tsanwei sung  an  die  Sozialarbeiter  der  seit 
Mitte  der  50iger  Jahre  in  West-Berlin  bezeichneten  "FamilienfUr- 
sorge  flir  mannliche  Jugendliche"  von  1973  wie  folgt: 
". .  .Fortfiihrung  der  von  der  Jugendger ichtshi If e  begonnenen  Nachbe- 
treuung  jugendger icht 1 ich  verurtei Iter  MinderjShriger    ...    Pflege 
des    Kontaktes  mit  Minderjahrigen   die    in  einem   Heim  untergebracht 
sind.    Mitwirkung    bei    der   Eingl i ederung   von   Minderjahrigen,    die  aus 
einem   Heim  fur    Schwererzi ehbare  Oder   einer    Haftanstalt    entlassen 
wurden,    insbesondere   der   Sicherstel lung   einer   geeigneten  Unterkunft 
und  einer  geeigneten  Arbei tsstel le.   Ausubung  von   Erzi ehungsbei stand- 
schaften    ...    fursorger i sche  und   padagogische   Einzel-   und  Gruppen- 
beratung    der   Erziehungsberecht igten    ...    Unterstutzung   des   Vormund- 
schaftsgerichts    in  Angelegenhei ten  der   Personensorge   ...    Beaufsichti- 
gung   der  Mu'ndel    und   Pfleglinge,    insbesondere  durch   Hausbesuche  hin- 
sichtlich  der   Unterkunft,   Verpflegung   und    Erziehung.    Beratung   der 
Vormunder,    Pfleger   und    Beistande,    ggf.    Meldung    festgestel I ter  Man- 
gel   und   Pf 1 ichtwidrigkeiten  an   das  Vormundschaf tsger icht .    Bemuhen 
urn  Abstellen  dieser  Mangel    ..."    C«8) 

Umfang  und  Formulierungen  der  in  den  Geschaftsverteilungspla'nen  fur 
den  einzelnen  Sozialarbeiter  genannten  Aufgaben  wird  zwischen  den 
Jugendamtern  unterschiedlich  sein,  "so  zeigt  die  heutige  Reaiitat 

der   Jugendamtsarbeit   ein  auGerordentl ich   heterogenes    BiVd.    Die  ver- 
schiedenartigsten,   einander  z.T.    widerstrei tenden  Elemente   sind 
nebeneinander  wirksam.    Neben  erzi eherischen  Tatigkeiten   Btehen   sol 
che  der  Verwaltung,    neben   Leistungen    und   Angeboten  gibt   es    Eingrif- 
fe        "    C»9) 

Das'heterogene  Bild  bezieht  sich  jedoch  m'cht  auf  unterschiedliche 
Inhalte  der  Aufgaben,  sondern  allein  auf  formale  Differenzen  in 
den  Kompetenzen  zwischen  einzelnen  organisatorischen  Abteilungen 
des  Jugendflirsorgesektors. 

Der  Vergleich  zwischen  1929  und  1973  macht  deutlich,  daB  der  repres- 
sive und  gewaltsame  Charakter  in  der  dugendfursorge  durch  das  Ge- 
setz  angelegt  ist  und  dadurch  die  Erhaltung  der  bereits  erwahnten 
Tradition  gesichert  wurde.  Gegen  diesen  Zustand  in  der  taglichen 
Arbeit  Widerstand  zu  leisten,  bedeutet  erst  einmal ,sich  dessen  be- 
wuBt  zu  sein  und  die  Funktion  und  Wirkung  des  eigenen  Handel ns  und 
dem  anderer  Kollegen  zu  erkennen. 

Das  Prinzip  der  Einzelverantwortung,   hierarchischen  Entscheidungs- 
struktur  und  Diszipl inierung      

Die  Einzelverantwortung  jedes  Sozialarbeiters  flir  seinen  Bezirk 
und  seine  "Falle"  zwingt  ihn  zu  seiner  Stellungnahme  und  Entschei- 
dung.   Die  Bindung  der  Arbeitsvol  Izuge  an  diese  Einzelverantwortung 
auf  der  Grundlage  des  Geschaftsverteilungsplans  und  des  JWG  wird 
durch  die  Zeichnungsbefugnis  und  das  dienstliche  Kontroll-  und  An- 
ordnungsrecht  der  Vorgesetzten  erzwungen.   Die  Zeichnungsbefugnis  be- 
deutet die  individuelle  Zeichnungspflicht  im  Instanzenzug  der  hier- 
archischen Ebenen  liber  die  jeweiligen  Fachvorgesetzten  bis  zum  po- 


-  132  - 


litischen  Wahlbeamten  als  oberstem  Leiter.   Konfli ktsituationen  ent- 
stehen  durch  Kompetenzuberschrei tungen   (Wahrnehmung  von  Aufgaben, 
die  nicht  im  GVP  fur  die  bezeichnete  Stelle  beschrieben  werden), 
Oberschreitung  der  Zeichnungsbefugnis   (Nichteinhal tung  der  Instan- 
zen)  Oder  MiBachtung  von  Weisungen  und  Anordnungen.   In  diesen  Kon- 
fliktsituationen  kommt  als  letzte  Instanz  die  eigenstandige  Gerichts- 
barkeit  des  biirgerlichen  Staatsapparates  -  die  Disziplinarordnung - 
zum  Vorschein  und  Einsatz. 

Diese  "festgefugten"  burokratischen  Strukturen  geben  den  Vorgesetz- 
tenebenen  eine  weitgehende  Mbglichkeit  der  Kontrolle  uber  Arbeits- 
qange  und  -inhalte.   Die  Pflicht  zur  Aktenflihrung  und  die  nur  dadurch 
mSgliche  und  zu  kontroll ierende  Zeichnungsbefugnis     verbunden  mit 
dem  Anordnungsrecht  der  Vorgesetzten  macht  es  mbglich,  die  inhalt- 
lichen  Positionen  der  Sozialarbeiter  gegeniiber  den  sozialen  Konfli  kt- 
situationen der  Betroffenen  zu  beobachten  und  darauf  zu  interve- 
nieren.      Der  Verlauf  eines  Gesprachs  zwischen  einem  Sozialarbeiter 
und  der  Amtsleitung  der  Jugendflirsorge  im  Januar  1977  anhand  eines 
Gedachtnisprotokolls  steht  als  Beispiel   flir  das  Prinzip. 

Der  Sozialarbeiter  hatte  eine  gerichtliche  Anfrage  erst  nach  einer 
Erinnerung  des  Gerichts  beantwortet.   Die  Amtsleitung  forderte  den 
Vorgang  zur  Ei nsichtnahme. 

Die  Amtsleitung  erbffnete  dem  Kollegen,  daB  sie  an  folgender  Erkl'a- 
rung  fur  die  verspatete  Berichterstattung  gegeniiber  dem  Gericht 
AnstoB  nahm:  "Die  verspatete  Beantwortung  der  Anfrage  bitten  wir  zu 
entschuldigen.  Trotz  durchgefuhrter  Gesprache  mi t  der  Fami 1 ie  waren 
wir  aufgrund  der  sich  verschlechternden  materiellen  Lage  der  Bevol- 
kerung  und  dem  sich  daraus  ergebenden  erhohten  Arbei tsanfal 1  nicht 
in   der   Lage,    den   Bericht  frilher   zu   fertigen". 

Die  Amtsleitung  vertrat  den  Standpunkt,  daB  es  sich  hier  urn  eine 
klare  politische  AuBerung  handelt,  die  nur  mit  dem  ideologisch  ver- 
festiqten  Standpunkt  des  Kollegen  zusammenhinge  und  objektiv  falsch 
cpi     Diese  Einschatzung  sei  durch  nichts  zu  belegen.   Man  konne  nicht 
von'der  sich  verschlechternden  Situation  der  Bevblkerung  sprechen. 
Fs   handeltesich  bei   dem  Hintergrund  einer  solchen  Aussage  urn  eine 
vulqar-marxistische  Interpretation  der  Verelendungstheorie.   Diese 
lich  verschlechternde  Situation  der  Bevblkerung  zu  sehen  sei  Wunsch- 
Hpnken     Bei   einer  solchen  ideologisch  verfestigten  Sichtweise  wurde 
^bersehen,  daB  bei  den  Familien  eine  ganze  Reihe  psychologischer  und 
nSdaqogischer  Probleme  bestunden.   Die  Amtsleitung  forderte  den  Kol- 
1«en  auf,  derartige  AuBerungen  in  Zukunft  in  Stellungnahmen  des 
jugendamtes  nach  auBen  zu  unterlassen. 

nie  Kritik  an  einer  verspateten  Bearbeitung  (Erinnerung)  "unvertret- 
haren  BefUrwortungen  von  Sozialhilfe",  einem  zu  spa  ten  Eingnff  in 
Hie  Fami ™erhaltnisse,  einer  zu  einseitigen  Ste    ungnahme  fUr 
2      i  .nlndlichen  und  qegen  die  Eltern,  fur  die  Familie  und  gegen  die 
i^oendfdr  org!  Bnahm  n9und  Beschwerden  aus  der  Bevblkerung  und  an- 
i  instiStionen  sind  die  bekannten  Beispiele  Angst     auslosender 

iZZl  durch  die  hierarchische  Vorgesetzteninstanz  und  wer  en    on 
Hpn  Kollegen  gefurchtet.   Da  die  Kritik  durch  Vorgesetzte  und  Lei- 
Jungsebenen  in  den  wenigsten  Fallen  auf  die  Grunde  eingeht   ,  die  zu 

-   133  - 


einem  "auffalligen  Verhalten"  des  Sozialarbeiters  fiihrten,  bleiben 
politische  und  bkonomische  Grundlagen  der  Jugendfursorgearbeit  aus- 
qespart  und  verstarken  den  individuellen  Druck  auf  den  Sozialarbei- 
ter    Das  Geflihl  des  eigenen  Versagens  und  Verschuldens  wird  gerade 
dadurch  produziert,  daB  die  Einzel verantwortung  im  taglichen  Ar- 
beitsvollzug  in  eine  individuelle  Rechenschaftspflicht  einmundet, 
wenn  aus  der  Arbeit  Konflikte  entstehen.   Die  Bindung  der  Rechen- 
schaftspflicht an  die  Vorgesetztenebene  la'Bt  ein  Machtgefalle  ent- 
stehen, daB  durch  die  Disziplinarbefugnis  der  Vorgesetzten  lhren  ma- 
teriellen  Ausdruck  findet. 

Die  Reduzierung  der  Kritik  von  oben  auf  innerbiirokratische  Befugnis- 
se  und  Funktionsablaufe  im  Kontext  von  Machtbefugnissen  soil   sicner- 
stellen,  daB  gesel lschaftspolitische  Ursachen  dieser  Strukturen 
und  damit  die  Veranderungsmbglichkeiten  abgetrennt  bleiben.  Urn  das 
Geflihl   des  individuellen  Versagens  und  der  eigenen  Schuld  gar  mcnt 
erst  aufkommen  zu  lassen,  wird  eine  geregelte,  geordnete  und  pflicht- 
bewuBte  Erledigung  der  Arbeit  als  Ziel  propagiert  und  gefordert. 
Jugendamtsleiter  haben  das  Recht,  alle  Vorgange  ansichzuziehen,  die 
Richtung  der  Bearbeitung  zu  bestinmen.   Im  "kollegialen"  Kontakt  mit 
dera  zustandigen  5ozialarbeiter  handelt  es  sich  nach  dem  Sprachge- 
brauch  einer  "partnerschaftlichen  Zusammenarbei t"  urn  Vorschlage, 
MeinungsauBerungen   ,  Hinweise  oder  Ratschlage.    1st  der  zustandige 
Kollege  im  konkreten  Fall  anderer  Meinung  und  nicht  bereit,  den 
"gewiinschten"  gerichtlichen  Eingriff  (Personensorgerechtsentzug, 
nachfolgende  Heimunterbringung,  Fursorgeerziehung)  vorzunehmen, 
Hausermittlungen  durchzufiihren,  Sozialhilfebefiirwortungen  in  der 
Hb'he  abzulehnen,  seine  Vermittlerrolle  wahrzunehmen  usw.     verandern 
sich     "wohlgemeinte  Vorschlage"  in  Entscheidungen  oder  dienstlicne 
Anordnungen. 

Da  sich  disziplinarische  Konsequenzen  aus  der  Oberschreitung  gesetz- 
licher  und  politischer  Grenzen  innerhalb  der  Jugendfursorge  am  deut- 
lichsten  an  bffentlich  ausgetragenen  Konflikten    aufzeigen  lassen, 
sei  folgendes  zitiert: 

"...    Ihnen    (sind)    innerhalb  der   Fami  1  ienfilr5orge    Kreuzberg   voruber- 
gehend   ...   Aufgaben  ubertragen  worden,   damit  Sie   konzentriert   Sozial- 
arbeit  mit  Gruppen  von  Lehrlingen,   Jungarbei tern,    Schulern   und  mit 
sozialen   Randgruppen    ...    leisten    ...    konnen.    . . .    es    besteht  Veran- 
lassung,    Sie  darauf  hinzuweisen,   daB   Sie    in    Ihrer   Funktion  als   Sozial- 
arbeiter  der  Fami  1  ienftirsorge   Kreuzberg   tatig   geworden    ...    sind   und 
nicht  als   Sozialarbei ter   beim   "Jugendzentrum  Kreuzberg1    e.V.    Die 
Identif ikation    Ihrer   beruflichen  Tatigkeit  mit    Ihrer   Zugehor igkei t 
zum  Kollektiv    'Jugendzentrum'     (Georg-von-Rauch-Haus ,    d.V.)    findet 
da    ihre  Grenze,   wo    Ihre  Verpf 1 ichtungen  der  Dienstbehorde  gegenuber 
erfiillt  werden  mussen.    ...    (es)   muB   ...    von    Ihnen   respekt  i  ert^werden , 
daB  Sie   in  einem  of fentl i ch-rechtl ichen  Oienst-  und   Treueverhal tnis 
zum  Land   Berlin   stehen.  .  .   wi  r  erwarten,   daB  Sie  kiinftig    in   Schreiben 
und  Unterredungen  anlaSlich   Ihrer  Tatigkeit  als  Sozialarbei ter  die 
kritisierten   Bezeichnungen  unterlassen.    Es  muB   betont  werden,   daB  die- 
ser Hinweis   beamtenrecht 1 iche   Bedeutung   hat".    (50) 

An  diesem  Schnittpunkt  der  Konfrontation  von  Arbeitsbasis  und  Lei- 
tungsebene  kristallisiert  sich  das  Argument  von  der  Erfolglosigkeit 
des  Widerstandes  gegen  die  starren  burokratischen  Strukturen  heraus. 


134  - 


Dabei  wird  die  Widerspriichlichkeit  zwischen  den  burokratischen 
Prinzipien  der  Organisation  von  Jugendfursorge  und  dem  ihr  zugrunde 
liegenden  Anspruch  einer  demokratisch  verfaBten,  an  Gerechtigkeit 
orientierten  und  Entwicklungsmbglichkeiten  sichernden  Arbeit  ebenso 
unterschlagen  wie  die  punktuell  erfolgreichen  Auseinandersetzungen 
der  Basis  gegen  Disziplinierungspraktiken  und  die  notwendige  Beant- 
wortung  der  richtigen  Frage  nach  Zielen  und  Bedingungen  einer  offen- 
siven  Jugendfursorgearbeit.   Die  Sensibilisierung  und  Offnung  der 
Diskussionen  in  manchen  Jugendamtern  flir  soziale  und  politische  Grund- 
lagen der  Jugendfursorgearbeit  widerlegt  die  einseitige  Position  von 
der  Allmacht  des  Staatsapparates,der  sich  in  alien  Lagen  unter  Ein- 
satz  der  ihm  zur  Verfugung  stehenden  Gewaltmittel    durchsetzen  kann. 
Die  entstandenen     Konflikte  der  vergangenen  Jahre  hatten  inner  Ver- 
suche  von  Kollegen  der  Basis  zur  Grundlage,  sowohl  die  inneren  Struk- 
turen der  Sozialblirokratien  anzugreifen  bzw.   zu  kritisieren  als  auch 
ein  Verhaltnis  der  Jugendfursorgearbeit  nach  auBen  herzustellen.   Die 
Kritik  an  der  Heimerziehung,   Funktion  von  Sozialarbeit,  Modellbewe- 
qung,  die  Unterstutzung  von  Jugendinitiativen   (Jugendzentren  und 
Wohnkollektive) ,  die  Einbeziehung  von  Sozialisationstheorien  usw. 
waren  in  verschiedenen  Stadten  punktuell   und  gut  organisiert,  Themen 
in  Arbei tsbesprechungen  und  Grundlage  von  Kollegendiskussionen  und 
Aktivi taten.   Sie  brachten  andererseits  den  Begriff  und  Inhalt  der 
"Fachl ichkeit  der  Jugendfursorge"   in  die  Auseinandersetzungen. 

pie  Fachlichkeit  der  Jugendfursorge 

Zwischen  den  burokratischen  Bedingungen  von  Zustandigkeit,  Eigenver- 
antwortung,  Hierarchie  und  dem  Strafinstrument  der  Disziplinarord- 
nung  liegt  die  sogenannte  "Fachlichkeit". 

Mit  Fachlichkeit  wird  nach  offizieller  Auffassung  die  Verpflich- 
tung  jedes  Sozialarbeiters  bezeichnet,  die  Jugendfursorgearbeit  nach 
fachl  ich-s  achlichen  Gesichtspunkten  zur  Erf'ullung  gesetzlich  fixier- 
ter  Aufgaben  durchzufiihren  und  sich  dabei  an  dem  "Recht  jeden  Kin- 
des  auf  Erziehung  zur  leiblichen,  seelischen  und  gesellschaftlichen 
Tiichtigkeit"  zu  orientieren.   Ebensowenig  wie  zur  Durchfiihrung  von 
Beratungen  und  "formlosen  Betreuungen"  oder  einer  Definition  von 
Gefahrdungen,  Stbrungen  oder  Verwahrlosungen  Kriterien  gesetzlich 
fixiert  sind,  die  sich  auf  die  Lebensumstande  der  Betroffenen  be- 
ziehen  wurden,  ebensowenig  existieren  Angaben  iiber  die  Wirksamkeit 
der  Jugendfursorgeangebote  und  MaSnahmen  zur  Einlbsung  des  Rechts- 
anspruchs  auf  Erziehung  zum  einen  und  zur  Beseitigung  entstandener 
Konflikte    zum  anderen. 

Im  ProzeB  des  Kontaktes  zwischen  Sozialarbeitern  und  Famnien^kommen 


.,„„  or7wunaen  weraen  son.   uie  juujchi.uu^  ->.-  ■■—•--  - 

Trl  auch  innerhalb  burokratisch  organisierter  Jugendfursorge  der 


doch  auc 


-  135 


Unsicherheitsfaktor.zu  dessen  Ausschaltung  sich  die  offentl ichen 
Arbeitgeber  gerade  um  eine  Weiterentwicklung  und  Verscha'rfung  der 
DisziplinierungsmaBnahmen  bemiihen. Diese  Subjektivitat  bewuBt  wahr- 
zunehmen  bedeutet  fur  die  Linken     innerhalb  des  Jugendfursorgebe- 
reiches  die  positive  Identif ikation  mit  Widerstandsformen  innerhalb 
und  auBerhalb  des  Arbeitsbereiches. 

Zur  Vermeidung  von  Willkur  und  zur  Verringerung  oder  Vermeidung  der 
repressiven  Wirkung  der  Ougendfiirsorge  ist  ein  Entscheidungs-  und 
Kontroll instrument  von  unten  -  der  Jugendamtsbasis  -  zu  entwickeln, 
mit  dem  sie  in  Konfliktsituationen  sich  nicht  nur  der  Amtsleitung 
gegeniiber  zur  Wehr  setzen,  sondern  auch  Forderungen  offensiv  vertre- 
ten  kann. 

Die  grbBte  Bedeutung  erhalt  diese  Forderung  gegenuber  offenen  Zwangs- 
maBnahmen  wie  den  familienrechtl ichen  Eingriffen,  den  anschlieBen- 
den  Heimunterbringungen  sowie  den  FursorgemaBnahmen.  Argument! eren- 
de  Verfechter  dieser  MaBnahmen  weisen  deren  Zwangscharakter  auch 
nicht  zurlick,  halten  ihn  vielmehr  wegen  der  "drohenden  Verwahrlo- 
sung"  oder  der  akuten  Gefahrdung  des  Kindes  oder  Jugen  dl ichen  fur 
gerechtfertigt.  Unter  Hinweis  auf  die  konkret  vorliegenden  Symptome 
der  "Verwahilosung  und  Gefahrdung"     ist  es  ihnen  auch  mbglich,  die 
Fachlichkeit  ihres  Standpunktes  unter  Beweis  zu  stellen  und  jeden 
Vorwurf  von  Willkur  zuruckzuweisen. 

Die  oft  vorliegenden  Forderungen  von  El  tern,  Miittem  oder  Va'tern, 
das  "zu  schwierige  Kind"  oder  den  "aufsassigen,  faulen  und  herumtrei- 
benden"  Sohn  im  Heim  unterzubringen,  weil  sie  mit  ihnen  "nicht  mehr 
fertig  werden" ,  sind  zusatzliche  Argumente  zur  Rechtfertigung  die- 
ser Entscheidungen.   Es  bestarkt  sie  sogar  in  der  Meinung,   im 
"wohlverstandenen  Interesse  des  Klienten"  zu  handeln.   Diese  Forderun- 
gen driicken  gleichzeitig  die  WidersprLichlichkeit  innerhalb  der  Le- 
benszusartmenhange  der  Betroffenen  aus,  da  sich  aus  dem  Machtverhalt- 
nis  der  el terl ichen  Gewalt  gegenuber  den  Kindern  und  Jugendl ichen 
gegensa'tzliche  Interessenlagen  entwickeln,  denen  gegeniiber  die  Sozial- 
arbeiter  in  der  Jugendfursorge  Stellung  zu  nehmen  haben.  Anders  als 
in  der  Jugendarbeit  sind  die  Sozialarbeiter  der  Jugendfursorge  in 
den  meisten  Fallen  gezwungen,  sowohl  auf  die  Position  der  Eltern  als 
auch  die  Position  der  Jugendl ichen  in  einem  zusammenhangenden  Ar- 
beitsprozeB  einzugehen.  Wenn  Eltern  z.B.   ihren  Sohn  aus  der  Wohnung 
werfen  wollen,  weil  sie  sich  dessen  Verhalten  nicht  langer  "bi'eten" 
lassen,  von  ihm  kein  Kostgeld  erhalten,  obwohl  das  Arbeitsamt  keine 
Arbeitsstelle  vermittelt,  der  Sohn  aber  nicht  ausziehen  will,  da  er 
kein  Geld  hat,  ihm  eine  Wohnung  fehlt,  er  aber  nicht  in  ein  Heim 
will,   stehen  sich  die  Interessen  der  Eltern  und  die  des  Jugendl ichen 
oft  unvereinbar  gegenuber.  Die  Sozialarbeiter  sind  in  diesen  Situa- 
tionen  wegen  fehlender  alternativer  Angebote  und  eines  unbedeutenden 
Einflusses  auf  die  sozialen  Beziehungen  des  Jugendlichen  in  einer 
hilflosen  oder  ausweglosen  Situation. 

Unter  diesen  Bedingungen  zeichnet  sich  die  Anwendung  des  Begriffs 
von  der  "Fachlichkeit"  dadurch  aus,  daB  sie  auftretende  Erscheinungen 
von  "Verwahrlosung  und  Gefahrdung"  nach  "objektiv  feststel lbaren" 
Zustanden  in  den  persbnlichen^und  familialen  Verhaltnissen  definiert 
und  als  Voraussetzung  fur  die  Einleitung  einer  "fachlich  gebotenen" 

-  136  - 


MaBnahme  ansieht.  "Objektiv  festste 
oder  Jugendlicher  die  Schule  schwan 
keiten  zeigt,  nicht  arbeitet,  die  E 
sich  nicht  um  sie  kummern  (vernachl 
handeln,  Unwirtschaftlichkeit  und  E 
die  Wohnung  verdreckt  ist  usw.  "Seh 
nicht?,  ist  der  Jugendliche  etwa  ni 
ken  gegen  einen  familienrechtlichen 
ziehungsmaBnahme  uberrascht  zuruckg 


11  bar"  ist  danach,  daB  ein  Kind 
zt,  faul  ist,  Verhaltensauffallig- 

tern  ihre  Kinder  allein  lassen, 
assigen),  sie  schlagen  und  miB- 
rziehungsunfahigkeit  der  Eltern, 
en  Sie  denn  diese  Gefahrdung 
cht  verwahrlost?" ,  werden  Beden- 

Eingriff  oder  eine  Flirsorgeer- 
ewiesen. 


Damit  werden  zwei   entscheidende  Fragen  erst  gar  nicht  gestellt. 
Nicht,  weil   ihre  Beantwortung  unbequem  und  schwierig  ist,  sondern 
weil    sie  Konsequenzen  im  Selbstverstandnis  und  Handeln  nach  sich 
Ziehen  wLirden. 

a)  Warum  ist  ein  Kind  oder  Jugendlicher  gefahrdet  oder  nach    birger- 
licher  Auffassung  verwahrlost? 

b)  Wie  kann  die  Gefahrdung  unter  Beachtung  der  sozialen  und  psychi- 
schen  Interessen  der  Kinder  und  Jugendlichen  sowie  ihrer  Eltern, 
die  liberwiegend  aus  Arbei terverhal tnissen  kommend,  abgewendet  wer- 
den? 

Die  Fragen  nach  den  sozialen  und  politischen  Ursachen  von  "Gefa'hr- 
dung  und  Verwahrlosung"  w'urde  taglich  neu  zu  der  Feststellung  f'Jhren, 
daB  Familie,  Schule,  Betrieb  und  Freizeit  unter  Lebensumstanden  der 
Arbei terbevbl kerung     soziale  und  psychische  Konflikte  und  Krisen  pro- 
duzieren.die  der  einzelne  "Kl lent"  nicht  zu  verantworten  hat. 

Wenn  wir  uns  in  der  Jugendfursorge  auf  diesen  Standpunkt  stellen, 
sind  wir  gezwungen,  unsere  Kenntnis  von  den  gesellschaftl ichen  Ur- 
sachen sozialer  und  psychischer  Krisen  standig  zu  vertiefen,  um  ein 
differenziertes  Verstandnis  zu  erhalten.  Wir  stehen  dann  vor  der 
Notwendigkeit,  den  ProzeB  der  Erziehung,  Bildung,  Ausbildung,   Krimi- 
nalitat  und  den  EinfluB  der  Freizeitinhalte  und  -formen,  die  intellek- 
tuelle,  soziale  und  psychische  Lage  der  Kinder  und  Jugendlichen    di- 
rekter  zu  erfassen.   Wir  kbnnen  das  nur  im  unmittelbaren  Kontakt 
mit  den  genannten  Bereichen.   Das  erfordert  ein  zunehmend  tieferes 
Eindringen  in  die  konkreten  VeFha'ltnisse.insbesondere  der  gesell- 
schaftlichen  Erziehungseinrichtungen,  Schulen  und  Ausbildungsstatten. 
Handlungsleitende  Elemente  mussen  die  aktuellen  Konflikte  der  Fami- 
lien     Kinder  und  Jugendlichen  sein  und  deren   Interessen,  Forderun- 
aen  .und  Meinungen  zu  den  Konflikten.   In  diesem  Kontext  der  sozialen 
Laqe  der  Betroffenen  und  der  politischen  Vernal  tin  sse  gesel lschaft- 
licher  Institutionen  kbnnen  die  auftretenden  "Erziehungs-,  Schul- 
und  Arbeitsschwierigkeiten"  nicht  mehr  in  diskriminierender  Weise 
den  Betroffenen  zum  Vorwurf  gemacht  werden.  Vielmehr  off net  diese 
Betrachtungsweise  erst  die  Diskussion  fur  die  Frage  nach  alternati- 
on Anqeboten  und  MaBnahmen  der  Jugendfursorge  zur  Vermeidung  oder 
Verringerung  ubereinstinmend  festgestellter  Gefahrdung  und  "Verwahr- 
losung". 

niese  zweite  Frage  nach  der  Abwendung  von  Gefahrdungen  erfaBt  zwei 
Seiten  der  Reaktionen  gesel lschaftlicher  Institutionen  auf     Notla- 

ifmt  welchen  erzieherischen,  materiellen  und  politischen  Mitteln 
wird  auf  Konflikte  der  Eltern,  Kinder  und  Jugendlichen  reagiert 
(Familie     Kita,  Schule,  Ausbildung,  Jugendfreizeitheim,  He!m  usw.) 


-   137 


und  welchen  Anteil   haben  diese  Reaktionen  an  den  "Schwierigkeiten", 
wie  sie  von  den  .Jugendamtern  wahrgenommen  Oder  ihnen  gemeldet  wer- 
den? 

b)  Mit  welchen  MaBnahmen  reagiert  die  JugendfLirsorge  auf  die 
"Schwierigkeiten"? 

Jedes  Mittel   erzieherischen,  materiellen  und  politischen  Einflusses 
ira  Prozess  der  lebensgeschichtlichen  Entwicklung  muB  auf  seine  Wirk- 
samkeit  der  Erziehung  zur  "leiblichen,  seelischen  und  gesel  Ischaftli- 
chen  TLichtigkeit"   hin  untersucht  werden.    Eine  Tuchtigkeit  freilich, 
die  die  Entwicklung  menschlicher  Fa'higkeiten  nicht  an  ihrer  Verwert- 
barkeit  flir  den  kapi  tal  istischen  ProduktionsprozeB  miBt,  sondern  die 
Postulate  bu'rgerlicher  Erziehungsziele  -  Selbsta'ndigkei  t,   Ich-Sta'r- 
ke,  Kooperationsbereitschaft,  Kommunikations-,  Kritik-,     Konflikt- 
und  Leistungsfa'higkeit  -  aus  ihrer  bLirgerlich  ideologischen  Umklam- 
merung  herauslbst    und  mit  dem  Inhalt  einer  Erziehung  unter  dem  Pri- 
mat  der  klassenspezifischen  Interessen  der  Arbei terkinder  und  -ju- 
gend  fLillt,  die  in  einer  offensiven  Konfrontation  mit  den  Machtver- 
haltm'ssen  und  der  Entwicklung  von  Solidarita't  und  Kollektivitat 
vertreten  werden  mlissen. 

Die  Frage  wird  dann  lauten:  Sind  mit  der  Anwendung  der  praktizierten 
erzieherischen,  materiellen  und  politischen  Mittel   unter  Berlicksich- 
tigung  der  Lebensumstande  in  den  jeweiligen  Familien  flir  die  betrof- 
fenen  Kinder  und  Jugendlichen  die  gesetzten  Erziehungsziele  u'ber- 
haupt  erreichbar  oder  stehen  sie  ihnen  diametral'  entgegen  -  haben  sie 
also  nicht  eher  auf  die  Entwicklung  von  Fa'higkeiten  unter  den  herr- 
schenden  Verha'ltnissen  eine  zerstbrende  wirkung? 

In  den  Auseinandersetzungen  von  Sozialarbeitern  der  JugendfLirsorge 
mit  ihren  Amtsleitern     spielt  diese  Problematik  bereits  wa'hrend  der 
Alltagsarbeit  eine  zentrale  Rolle. 

Wenn  liber  Jugendliche  Meldungen  vorliegen,  daB  sie  die  "Schule  schwan- 
zen,  mehrfach  von  der  Polizei  an  jugendgefahrdenden  Orten  aufgegrif- 
fen  wurden,  Diebstahle  begehen,  sich  herumtreiben,  von  zu  Hause 
abhauen,  aggressiv,  sexuell    -auffa'llig  und  rem'tent  sind,  nicht  ar- 
beiten  gehen,  sich  keine  Arbeit  suchen,   kein  Kostgeld  abgeben"  dann 
nimmt  der  Druck  auf  Sozialarbeiter  zu.   Die  Meldungen  werden  in  den 
Akten  gesarmielt.   Das  ist  Pflicht.   Sie  gehen  bei  den  Amtslei tungen 
ein,  werden  von  ihnen  verteilt  und  beachtet.   Es  sind  Beweismateria- 
lien  flir  die  Existenz  einer  "drohenden  oder  bereits  eingetretenden 
Verwahrlosung". 

Der  Druck  auf  Sozialarbeiter  entsteht  durch  den  Zwang  des  JWG,  vorge- 
schriebene  "Erziehungshilfen"  anzubieten,  durch  die  Arbei tsanwei sung 
des  GVP,  die  regional  vorhandenen  Einrichtungen  der  "freien"  und 
bffentlichen  Tra'ger  der  Jugendhilfe  zu  benutzen,  MaBnahmen  einzulei- 
ten  und  durchzufu'hren  und  durch  die  Rechenschaftspflicht  Liber  Art, 
Umfang  und  Zeitaufwand  bei   der  Bewaltigung  der  Aufgaben. 

Dem  Druck  so  zu  begegnen,  daB  sich  der  subjektive  Anspruch  einer 
Arbeit  im  Interesse  der  Jugendlichen  realisiert,  erfordert  die  Aus- 
einandersetzung  mit  den  Entstehungsursachen  der  "Auffal ligkei ten" 
und  die  Folgen  einer  Anwendung  jugendfLirsorgerischer  ZwangsnaBnah- 
men   (familienrechtlicher  Eingriff,  Heimunterbringung,  freiwillige 
Erziehungshilfe,  Fursorgeerziehung)  flir  die  zuklinftige  Lage  der  Ju- 


138  - 


gendlichen.   Die  Frage  nach  den  gesellschaftlichen  Einfllissen  auf 
das  Verhalten,  Lernen  und  Leben  der  Jugendlichen  muB  gestellt  wer- 
den.  In  diesem  ProzeB  der  Auseinandersetzungen  wird  die  politische 
Funktion  der  "Fachl ichkeit"   im  Hinweis  der  Jugendamtslei ter,  Stadt- 
rate  oder  Dezernenten  auf  das  "Gebot  sachlich-fachlicher  Entschei- 
dungen"  liber  die  zu  wa'hlenden  MaBnahmen  deutlich. 

Es  gent  den  Jugendamtsleitungen  und   konservativen  Vertretern  der 
JugendfLirsorge  nun  darum,  die  Konsequenzen  der  negativen  Bestandsauf- 
nahme  Liber  die  Folgen  traditioneller  Angebote  und  MaBnahmen  der  Ju- 
gendfLirsorge aus  der  Diskussion  herauszuhalten.   Es  soil   verhindert 
werden,   daB  Alternativen  zu  den  Angeboten  und  MaBnahmen  erforder- 
lich  sind  und  die  Kritik  an  der  herrschenden  Jugendamtspraxis  durch 
die  Basis  der  JugendfLirsorge  eine  Voraussetzung  fur  Veranderungpro- 
zesse  ist. 

In  den  vergangenen  zwei   Jahren  massiver  SparmaBnahmen  und  Personal- 
kurzungen  wurde  den  Argumenten  von  links  nicht  nur  mit  dem  Vorwurf 
fehlender  "Fachlichkeit"  begegnet,  sondern  zunehmend  darauf  hinge- 
wiesen,   daB  sich  die  politischen  Verhaltnisse  geandert  hatten  und 
nach  einer  ausflihrlichen  Diskussionsphase  wir  uns  mit  den  Verhalt- 
nissen abfinden  mlissen. 

Eine  Untersuchung  der  "Deutschen  Zentrale  flir  Vol ksgesundheitspf le- 
ge e.V."  aus  dem  Jahre  1975  ist  ein  Beispiel  daflir,  daB  die  sich 
zuspitzenden  Widersprliche  zwischen  Sozialarbeitern  und  Amtslei- 
tun  gen  in  der  Zwischenzeit  Gegenstand  "wissenschaftlicher  Forschung" 
wurden  und  Argumente  zur  Diffamierung  von  Widerstandsformen  als  unqua- 
lifizierte  Arbeit  und  Ausdruck  personlicher  Schwierigkeiten  der  So- 
zialarbeiter liefern  sollen. 

"Die  modern  ausgebi Ideten   Sozialarbeiter  werden   als    renitent   und 
unpraktisch   bewertet   von    ...    ^0  %  der  Amtslei ter    in   Jugendamtern    ... 
die  zunehmend    pess imist i schere   Beurteilung   des  Arbei tserfolges  zeugt 
weniger  von  einer  groBeren  wi ssenschaf t 1 ichen   Oistanz  als  von   beruf- 
\  ichen  Anpassungsschwi er igkei ten   der   jungen   Sozialarbeiter    ...    die 
Haufigkeit  der  Auseinandersetzungen  mit   den  Vorgesetzten   nimmt  de- 
stomehr   zu   je  junger  der   Sozialarbeiter    ist    ...    es    haufen   sich  die 
Falle,    in   denen   er    Konflikte    in   die    Behorde   hineintrSgt    statt    Kon- 
f  1  ikte  zu    losen".    (51) 

"Sie  sind  etwas  u'berhebl  ich,  zu  theoretisch  und  zu  wenig  an  der  Pra- 
xis orientiert,  wollen  die  Gesel 1 schaft  verandern,  ordnen  sich  nicht 
gern   unter  und  wollen  die    I nnenstruktur  der  Smter  andern."    (52) 

ANMERKUNGEN 

(1)      Informationsdienst  Sozialarbeit,  Heft  7/74,  Offenbach  S.    38 
(?)     Referentenentwurf  zum  Jugendhilfegesetz  vom  1.4.1974,  S.  3 
3       Trankfurter  Rundschau   (FR)   vom  27.12.76  unter  der  Uberschrift 
"Bald  bessere  Jugendhilfe" 

JSl     Erwin  Jordan   (Hg.),  Jugendhilfe,   Beitrage  und  Material ien  zur 

Reform  des  Jugendhilferechts  1975  Beltz,  S.   310 
(6)     a.a.O.,  S.   310 
7       a.a.O.   S.   309  ff 
(8)     Referentenentwurf  S.   3 

-  139  - 


S.   151 


Aktuelle  und  histori- 


(9)  §  21  Referentenentwurf 

(10)  3.  Jugendbericht  der  Bundesregierung,  S.   99 

(11)  Erziehung  und  Klassenkampf  15/16  S.   33,1974 

(12)  Erwin  Jordan  a.a.O.,  S.   310 

(13)  "Die  behandeln  uns,  aber  wir  konnen     die  nicht  behandeln"  -  aus 
Info  Sozialarbeit  Heft  7,  S.    39 

(14)  Texte  zur  Jugendhilfsrechtskritik,  Hg.  Verlag  Jugend  und  Poll - 
tik,  Dez.   1974,  S.   5 

(15)  Info  Sozialarbeit  Heft  9,  S.   60 

(16)  a.a.O.,  S.  53 

(17)  ebenda 

(18)  Info  Sozialarbeit  Heft  7,  S.  38 

(19)  Suddeutsche  Zeitung  (SZ)  vom  23.8.76  unter  der  Oberschrift 
"Die  Jugend  nicht  alleine  lassen" 

(20)  ebenda 

(21)  Jahresbericht  1975  der  Familienberatungsstelle  des  DPWV 
"Treffpunkt  und  Beratung"  in  Berlin-Kreuzberg,  S.   59/60 

(22)  Info  Sozialarbeit,  Heft  9,  S.  55 

(23)  Die  wichtigsten  Stellungnahmen  konnen  in  E.   Jordan  nachgelesen 
werden 

(24)  Info  Sozialarbeit  Heft  9,  S.   70 

(25)  Erziehung  und  Klassenkampf  Heft  15/16, 

(26)  Info  Sozialarbeit  Heft  9,  S.    70 

(27)  a.a.O.,  S.  60 

(28)  Manfred  Liebel ,  Produkti vkraft  Jugend, 
sche  Aspekte  der  Arbeiterjugendfrage  im  Kapitalismus, 
Verlag  Jugend  und  Politik,  Frankfurt  1976,  S.  18 

(29)  Das  RJWG  war  bereits  am  9.7.1922  von  SPD  und  Zentrum  gegen  die 
Stirrmen  von  USPD  und  KPD  verabschiedet  worden,  trat  jedoch  erst 
am  1.4.24  aus  vorwiegend  okonomischen  Grlinden  (Inflation  21/23) 
in  Kraft.  Vgl.  Gefesselte  Jugend  -  Fursorgeerziehung  im  Kapita- 
lismus 

(30)  Riedel,  Hermann,  Kommentar  zum  Jugendwohlfahrtsrecht  1971, 
Beck' sche  Textausgabe,  S.  63 

(31)  3.  JugendbeHicht 

(32)  a.a.O.  S.  56 

(33)  ebenda 

(34)  ebenda 

(35)  ebenda 

(36)  Familienbericht  2.   der  Bundesregierung  1975,  S.  XXVII 

(37)  a.a.O.,  S.   VIII 

(38)  H.   Riedel   a.a.O.,  S.   71 

(39)  Vgl.   Schulverfassungsgesetze  der  Lander 

(40)  AusfLihrungsvorschriften  fur  die  Berliner  Schule  sind  trotz  der 
erfolgten  Ablosung  durch  das  Schul verfassungsgesetz  ein  tref- 
fendes  Beispiel   fur  den  Schuldvorwurf  der  Schule  gegen  Schuler 
in  Konfliktsituationen  und  die  Festlegung  der  Jugendflirsorge  auf 
die  Behandlung  von  Familienkonflikten 

(41)  Dienstblatt  VII  Nr.   68  vom  3.6.29  -  Richtlinien  fur  die  Familien- 
fursorge 

(42)  Dienstblatt  VII  Nr.  47  vom  15.2.1939 

(43)  Dienstblatt  Teil    IV  1950  Berlin,   S.    34-40 

(44)  Der  Rundbrief.   Fachliches  Hi tteilungsblatt  des  Senators  fiir 
Jugend  und  Sport/Berlin  1963,  S.   5 

(45)  Dbl.  VII  Nr.  68  v.  3.6.29 


140 


(46)  Geschaftsverteilungsplan  eines  Berliner  Jugendamtes  1949 

(47)  ebenda 

(48)  Geschaftsverteilungsplan  eines  Berl iner  Jugendamtes   1973 

(49)  3.   Jugendbericht,   S.    32 

C 50)  Kampfen,   Lernen,   Leben,   Dokumentation  des   Kollektivs  Georg-von' 
Rauch-Haus   Berlin-Kreuzberg,   S.    192,   3.    Auflage  Dez.    1972 

(51)  Erzieherzeitung  Heidelberg  Heft  9/1976,  S.    17  ff 

(52)  zitiert  nach   Info  Sozialarbeit  Heft  15/1976 


Wt>  babtn  tin  neves  &Vth* 

FRIEDE  DEN   HUT  TEN 


KRIEG*  DEN 


PALASTEN! 


Wir  siod   Uhrlmge, 
SohCler  and  Gungarbftifer 
and  wo^nen  in  emem  (4avS, 
das  vor  (b  Jahren  beseizf 
wvrdt.  Wi'r  haben  dieses 
Such  rjeschrteb€.n,clcL 
vxnser  Ver-hutj  mitde™ 
Sena-t  von  diesen  Amts- 
Schimrnelri  ^ekundKjf 
wird  and  am  vxnstrt, 
tLrj-ahrungf.n  wie.  wirz.y-' 
sammtn  leben  and  Vomp- 
len    weilerzuc^fc*'*1 

!u9„3  a,|  tots*  W  BUVW:956moj 

_  t  Thomas    SydoW 

Georg  yon  Rauch-  a^m 


gebt  esweiter, 
unter  stiltzt  uns! 


Haus-  Kollektiv 


-   141 


Ulrike  Radhofer,  Westberlin 

ARBEIT  IM  JUGENDZENTRUM  -  WAS  1ST  DRIN? 


DAS  1ST  SCHON?  DASS  UNS  DAS  HAUS 
GEHORT!  DANN  GIBT'S  KEINEN  STREIT! 
WEIL  JA  JEDEM  ETWAS  GEHORT! 


Hinter  mir  liegen  zwei  Jahre  Arbeit  als  Sozialpadagogin  in  einem 
Jugendzentrum.  Das  waren  zwei  Jahre,  die  fur  mich  nicht  allein  ge- 
kennzeichnet  sind  durch  Schwierigkeiten,  Fast-Resignation,   Krisen, 
in  denen  ich  tatsachlich  nicht  mehr  wuBte,  wer  ich  bin  und  was  ich 
kann  -  sondern  auch  durch  wichtige  prsbnliche  und  politische  Erfah- 
rungen,  durch  ein  langsames  Entwickeln  von  offenen,  direkten  Bezie- 
hungen  zu  den  Jugendlichen.  Was  das  fur  mich  bedeutet  hat,  kann  ich 
noch  nicht  alles  in  Worte  fassen.   Ich  habe  mich  jetzt,  am  Ende  der 
zwei  Jahre,  nicht  resigniert  aus  der  Arbeit  zuruckgezogen,  sondern 
ich  gehe  wegen  einer  neuen  Arbeit,  bei  der  ich  hoffe,  viel   zu  ler- 
nen. 

ICH  WILL  NICHT  NUR  DEN  DRECK  VERFLUCHEN  - 
LASST  UNS  DEN  ROTEN  FADEN  SUCHEN  ! 

Ich  mdchte  rait  diesem  Artikel   keinen  der  Erfahrungsberichte  schrei- 
ben,   in  denen  nur  der  Alltag  beschrieben,  die  Frustration  herausge- 
lassen  wird.   Solche  Berichte  sind  wichtig  fiir  die,  die  sie  schrei- 
ben;  ich  kann  sie  mittlerweile  nicht  mehr  lesen.   Ich  mb'chte  viel- 
mehr  mit  diesem  Artikel  Mut  machen.   Er  richtet  sich  an  Leute,  die 
in  ahnlichen  Einrichtungen  arbeiten,  die,  ebenso  wie  ich,  liber 
schlechte  Arbeitsbedingungen,   zu  wenig  Geld,  zu  wenig  Planstellen, 
Intoleranz  der  Machthaber  usw.   stb'hnen.    Ich  mbchte  in  diesem  Arti- 
kel Liberlegen,  welche  Mbglichkeiten  drin  sind  bei  dieser  Arbeit. 
Ich  mbchte  anderen  Mut  machen,  daB  sie'  nicht  im  Al  1  tag  ersaufen, 
sondern  wieder  einen  roten  Faden  sehen. 

SO  SIEHT'S  AUS  BEI  UNS: 

Zunachst  einige  Informationen  zur  Situation:   Das  Jugendheim  ist  ein 
"Haus  der  Offenen  Tiir"  in  der  Tragerschaft  der  Ev.   Kirche.   Es  liegt 
in  einer  Stadt  am  Nordrand  des  Ruhrgebiets  -  da  wo  der  Pott  am 
dreckigsten  und  am  unterprivilegiertesten  ist.   Hier  haben  sich  die 
Zechen-Stillegungen  in  den  60-er  Jahren  wesentlich  harter  bemerk- 
bar  geraacht  als  in  den  groBen  Stadten    wie  Dortmund,   Bochum,  Essen, 
die  Liber  eine  bessere  wirtschaftliche  und  kulturelle  Infrastruktur 
verfugen. 

Konkret  -  in  dem  Stadtteil,  wo  unser  Jugendheim  liegt,  sieht  das 
so  aus: 


142 


Im  Verlauf  der  Kohlenkrise  wurden  vier  Schachtanlagen  geschlossen, 
damit  fielen  traditionelle  Arbeits-  und  Ausbildungsplatze  weg.  Durch 
neue  Arbeitsstellen,  teilweise  in  anderen  Stadten,  durch  Abwande- 
rung  und  Oberalterung  wurden  jahrzehntelang  gewachsene  Strukturen 
durcheinander  gebracht,  teilweise  zerstbrt.   Fur  Jugendliche  ist  es 
schwer,   in  ihrer  direkten  Umgebung  einen  Arbeitsplatz  zu  finden  - 
die  groBen  Lehrwerkstatten  der  Zechen  und  der  Gelsenberg  wurden  ge- 
schlossen.  Die  Wohnungen  sind  durchschnittlich  zu  eng,  zu  klein  - 
wenn  auch  in  schbnen,  fiir  das  Ruhrgebiet  typischen  Siedlungen  mit 
kleinen  Hausern,  Garten.   Sie  bieten  den  Jugendlichen  kaum  Mbglich- 
keiten zum  Ruckzug.   Im  Stadtteil   und  in  der  naheren  Umgebung  gibt 
es  nur  Haupt-  und  Sonderschulen,   keine  weiterfiihrende  Schule.    Es 
gibt  keine  NHS  hier,   keine  Stadtbucherei .   Das  einzige  Kino  liegt 
in  Stadtmitte  (mit  Filmen  wie  'KungFu',    ' Schulmadchenreport' ) .   Es 
gibt  in  der  N'a'he  keine  Buchhandlung,   kein  Jugendcafe,   keine  Bera- 
tungsstelle.   Da  fur  gibt's  noch  Analphabeten  -  Jugendliche,  denen 
man  nur  beigebracht  hat,   ihren  Namen  richtig  zu  schreiben.   Klar, 
daB  die  Flasche  naher  ist  als  die  Tageszeitung.  Und  wer  sich  u'ber 
Sachbeschadigungen  aufregt,  der  hat  die  massenhaften  Personenbe- 
schadigungen  noch  nie  bewuBt  wahrgenommen. 

In  diesem  Stadtteil   liegt  unser  Jugendheim.  Wir  probieren  eine  Art 
der  Selbstverwaltung  aus,  wie  sie  sich  innerhalb  der  letzten  vier 
Jahre  entwickelt  hat.   Sie  ist  nie  schriftlich  fixiert  worden  als 
Satzung  o.a.,  ist  auch  immer  in  Veranderung.   Zur  Zeit  ist  es  so, 
daB  ein  aus  der  Arbeit  gewachsenes  Team  die  Planung  und  Durchflih- 
rung  der  Veranstaltungen  und  Programme  ubernommen  hat.   Neben  mir, 
drei  Honorarmitarbeitern  und   (seit  kurzem)   einem  Zivildienstlei- 
stenden  sind  das  ca.    15.   Jugendliche  im  Alter  zwischen  13  und  18 
Jahren. 

Die  soziale  Zusammensetzung  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  verschoben: 
die  "Aufbaugeneration"    (mehrheitlich  Gymnasiasten)   hat  mittlerweile 
der  "2.  Generation"  Platz  gemacht,   die  fast  ausschl ieBlich  aus 
Hauptschiilern  und  Lehrlingen  besteht.   Im  Team  werden  alle  wichtigen 
Entscheidungen  getroffen:   Programm,  Raumvergabe,  Personalfragen, 
Schllisselgewalt.   Konflikte,  die  auftreten,  wenn  Entscheidungen  des 
Teams  den  Ansichten  des  Tragers  widersprechen,  mussen  durchgestanden 
werden  und  sind  wichtige  Lernprozesse  fiir  die  Jugendlichen.   Unser 
Programm  besteht  aus  Offenen  Veranstaltungen  (Diskothek,  Tee-Aben- 
de,  Filme,  Musik,  Theater,  Festivals),  offenen  Projektgruppen  (Thea- 
ter, je  nach  Stimmung  noch  Zeitung,  Musik,  Werken,   Seminare),  Feten, 
Wochenend-Tagungen  und  Fahrten,  Eltern-Gesprach,  Eltern-Tanz,  und 
was  sich  spontan  noch  so  ergibt.  Wir  haben  aber  immer  mehr  Projekte 
im  Kopf  als   raumliche  und  finanzielle  Mbglichkeiten.   Die  Jugendli- 
chen, die  erfahren,  daB  hier  kein  formal es  Konzept  der  Selbstver- 
waltung zugrunde  liegt,  sondern  daB  sie  hier  wirklich  Raume  und 
Mbglichkeiten  fiir  sich,  fur  ihre  Bedurfnisse  finden,  arbeiten  mten- 
siv  mit     Die  angeblich  so  motivationslosen  Hauptschuler  und  Lehr- 
linge,   selbst  die  "Halbstarken" ,  packen  mit  an,  well   sie  wis.sen: 

DAS  IST  UNSER  HAUS  - 

HIER  SCHMEISST  UNS  KEINER  RAUS! 

Ich  will   im  folgenden  nicht  nur  Tagebuchnotizen  aneinanderreihen, 
sondern  erst  bestiramte  Linien  verdeutlichen,  also  das  formulieren, 


143 


was  ich  im  Laufe  der  Arbeit  gelernt  habe: 

Ich  halte  es  fur  sinrwoll,  im  Jugendzentrum  zu  arbeiten,  und  zwar 

sowohl  aus  inhaltlichen,  politischen  Oberlegungen  heraus  als  auch 

unter  dem  Gesichtspunkt,  was  einem  eine  solche  Arbeit  persbnlich 

bringt.  Folgende  Punkte  will  ich  in  diesem  Zusammenhang  festhal- 

ten: 

GEMEINSAM  LEBEN 

Arbeit  im  Jugendzentrum  kann  heiBen,  einen  Schritt  in  Richtung  "Ge- 
raeinsames  Leben"  zu  tun,  der  Vereinzelung  und  Privatisierung  der 
Arbeiterjugendlichen  entgegenzuwirken.   Die  Jugendlichen,  die  ins 
Jugendheim  kommen,  sind  dabei ,  sich  von  Zuhause  zu  Ibsen.   Sie  haben 
ahnliche  Schwierigkeiten  in  der  Schule,  im  Betrieb,  zu  Hause.  Diese 
Schwierigkeiten  werden  in  diesem  Land  meistens  privat  "gelbst", 
durch  Flucht  in  die  eigenen  vier  Wa'nde,    Isolierung  in  Ehe  und  Fami- 
lie,  Vereinzelung.  Diese  MSglichkeit  ist  den  Jugendlichen  noch  ver- 
wehrt.  Das  Jugendheim  ist  fur  sie  ein  Zufluchtsort,  der  sie  eben 
nicht  nur  vereinzelt  la'Bt,  sondern  wo  sie  Freunde  treffen,  denen  es 
a'hnlich  geht,  mit  denen  sie  gemeinsam  ihre  Freizeit  organisieren 
und  ihre  Schwierigkeiten  angehen  kbnnen.   Diese  Erfahrung  ist  z.B. 
bei  geneinsam  verbrachten  Wochenenden,  bei  Fahrten  sehr  wichtig. 
Bei  einer  kontinuierlichen  Arbeit  im  Jugendheim  Uber  Jahre  hinweg 
mu'Bte  man  versuchen,  diese  Erfahrung  nicht  nur  auf  die  paar  Jahre 
zwischen  11  und  18  zu  beschra'nken,  sondern  weitere  Mbglichkeiten 
gemeinsamen  Lebens  zu  finden. 

"  ICH  KANN  WAS!  " 

Durch  die  Arbeit  im  Jugendheim  kann  das  SelbstbewuBtsein  von  Arbei- 
terjugendlichen gestarkt  werden:   Sie  arbeiten  in  der  Selbstverwal- 
tung,  organisieren  Feste,  Veranstaltungen,  Fahrten,  sie  machen  mit 
anderen  Musik,  sie  spielen  Theater,  sie  experimentieren  mit  neuen 
Medien.   Sie  werden  akzeptiert,  so  wie  sie  sind,  sie  erfahren:   "Ich 
kann  was.  Man,  hbrt  mir  zu.   Ich  bin  nicht  der  letzte  Dreck,  wie  die 
Alten  und  der  Meister  meinen."  Wir  haben  die  Erfahrung  gemacht,  daB 
viele  Jugendliche,  die  im  Jugendheim  bewuBter,  selbstbewuBter  wurden, 
auch  woanders,  z.B.   in  der  Schule,  anders  auftraten,  sich  nicht 
mehr  so  vie!  bieten  lieBen.   Das  ist  fiir  mich  ein  ganz  wichtiger 
Punkt,  vielleicht  der  rote  Faden  der  Arbeit. 


UNSERE  KULTUR 

In  diesem  Zusammenhang  is 
dung,  insbesondere  politi 
Arbeit  gefbrdert  werden: 
Musik,  ihre  Bewegungen  en 
nur  auf  kommerzielle  Vorb 
Krimihelden:  Abba,  Status 
ihnen  diese  Gesellschaft 
spielen  und  Musikmachen  s 
Lage,  ihre  Hoffnungen  und 
finden,  die  die  Vorausset 


-   144  - 


t  mir  eins  deutlich  geworden:   BewuBtwer- 
sche  BewuBtwerdung,  kann  liber  kulturelle 
Wenn  die  Jugendlichen  ihre  Sprache,  ihre 
tdecken.   Wenn  sich  die  Jugendlichen  nicht 
ilder  beziehen,  wie  Rockgruppen,  Stars  und 

Quo,  Kung  Fu  und  Kojak  (was  anderes  hat 
ja  kaum  zu  bieten),  wenn  sie  beim  Theater- 
ich  selbst  wiedererkennen,  ihre  eigene 

Traume  -  dann  kbnnen  sie  eine  Identitat 
zung  fur  politisches  BewuBtsein  ist. 


DANN  GEHT  AUCH  MAL  WAS  ZU  BRUCH  ... 

Arbeit  im  Jugendheim  ist  nur  mbglich,  wenn  man  die  schwierige  "offe- 
ne  Arbeit"  bewuBt  akzeptiert  und  dazu  stent.  Natlirlich  macht  die 
Disko  nicht  immer  SpaB,  wenn  die  Musik  drbhnt,  wenn  man  mal  wieder 
Schlagereien  schlichten  und  sich  mit  Besoffenen  herumstreiten  muB. 
Mulmig  wird's  auch  in   der  Magengegend,  wenn  geschlossene  Jugend- 
"Banden"  mal  wieder  ausprobieren,  wie  weit  sie  gehen  kbnnen  in  dem 
Laden,  ohne  herausgeschmissen  zu  werden.    Ich  meine  allerdings,  daB 
diese  Konflikte  ausgetragen  werden  mlissen.  Wir  haben  dabei  nicht 
Starke  demonstriert  (das  ware  bei  meinen  156  cm  auch  eher  lacherlich) , 
aber  weil  wir  die  meisten  Jugendlichen  gut  kennen  und  sie  Vertrau- 
en  zu  uns  haben,  weil    sie  wissen,  daB  wir  sie  akzeptieren,   lieBen 
sich  die  meisten  Schwierigkeiten  Ibsen.  Allerdings  sind  wir  auch 
nicht  bei  jedem  zerbrochenen  Stuhl  ausgeklinkt,  mit  der  Zeit  ent- 
wickelt  man  da  eine  gesunde  Apathie  (nur  als  ein  paar  Idioten  mal 
zwei   Feuerlbscher  im  Saal  geleert  hatten  und  wir  zwei   Tage  lang 
schrubben  muBten,  da  war  ich  ganz  schbn  sauer) . 

Die  SchlieBung  der  offenen  Veranstaltungen  kam  fiir  uns  nie  ernst- 
haft  infrage,  denn  nur  aus  der  offenen  Arbeit  heraus  la'Bt  sich  inten- 
siv  mit  Jugendlichen  arbeiten.   Nur  Gruppenarbeit,  ohne  offenes  An- 
gebot,  ist  nicht  interessant  fur  Jugendliche,  da  werden  sie  nur 
spezialisiert  als  Bastler,  Musiker,  Diskutierer  usw.   angesprochen. 
Aber  sie  wollen  auch  tanzen,  Bekannte  treffen,  neue  Leute  kennen- 
lernen,    'ne  Perle  oder   'nen  Typ  anmachen,  oder  auch  sich  nur  die 
Musik  reinziehen. 

Offene  Arbeit  ohne  gleichzei tige  intensive  Arbeit  in  Gruppen  und  Pro- 
jekten  bleibt  oberflachlich.  Arbeit  in  Gruppen  und  Projekten  ohne 
offenes  Angebot  wird  auf  die  Dauer  langweilig  und  schlaft  ein. 

ICH  WILL  SO  SEIN,  ME  ICH  BIN 

Fiir  Leute,  die  in  Jugendheimen  arbeiten,   ist  es  wichtig,  daB  sie 
ihre  eigene  Person  in  die  Arbeit  einbringen,  daB  sie  nicht  anonym 
bleiben.   Die  Jugendlichen  erwarten  in  den  Mitarbeitern  Leute,  zu 
denen  sie  mit  ihren  Schwierigkeiten  kommen  kbnnen,  die  ihnen  zuhbren. 
Aber  die  Mitarbeiter  sollten  sich  nicht  nach  einem  bestimmten  "So- 
zialarbeiter-Vorbild"   verhalten,   sondern  sich  so  geben,  wie  sie  sind. 
Wenn  sie  sich  nicht  gerne  gewaltsam  auseinandersetzen,  sollten  sie 
nicht  unbedingt  Starke  demonstrieren,  sondern  andere  Wege  finden. 
Wenn  sie  nicht  so  ausflippen  kbnnen  wie  manche  Jugendlichen,  wild 
tanzen  usw.,  sollten  sie  das  lassen.  Und  wenn  sie  mude,  erschbpft, 
qereizt  sind,  Liebeskurmier  haben,   sollten  sie  das  nicht  unbedingt 
Uberspielen.   Die  Jugendlichen,  mit  denen  wir  zu  tun  haben,   sind  sehr 
sensibel   und  merken  sofort,  wenn  man  ihnen  etwas  vormacht.   "Am 
besten  finde  ich  dich,  wenn  du  so  bist,  wie  du  wirklich  bist,  und 
nicht  etwas  vorspielst.   Das  ist  Theater,  und  nicht  mal   besonders 
gutes",  sagte  mir  Holger,  ein  Lehrling,  von  dem  ich  viel   gelernt 
habe. 

WAS  KANN  ICH 

rv,™  aehbrt  aber  auch,  daB  man  seine  eigenen  spezifischen  Fahigkei- 
?en  in  die  Arbeit  einbringt,  sei   es  nun  Musik  machen,  Theater  spielen, 

-   145  - 


werken,  malen,  Gesprache  flihren.   Das  Medium,  das  mir  liegt,  ist 
z.B.   Theater  im  umfassenden  Sinn,  also  Bewegungs-,  Rollen-,  Spon- 
tanspiele  usw.   Ein  solches  Medium  darf  natiirlich  nicht  nur  das  per- 
sbnliche,   leicht  belachelte  Hobby  des  Mitarbeiters  bleiben,  sondern 
solTte  sich  in  mbglichst  vielfaltigen  Forraen.durch  die  Arbeit  Zie- 
hen. 

Im  folgenden  will   ich  eine  Woche  beschreiben  ,    die  das  bisher  Ge- 
sagte  illustrieren  soil.   Die  Woche  ist  nicht  mit  alien  Einzelheiten 
so  hintereinander  abgelaufen,  aber  alles,  was  ich  jetzt  beschrei- 
be,  ist  einmal  vorgekommen. 

AM  SONNTAG  FANGT  DIE  WOCHE  AN  ... 

Am  Sonntag  fallt  es  mir  am  schwersten,  arbeiten  zu  gehen;  jahrelang 
gewohntes  Freizeitverhal ten  wird  durchbrochen.  Dabei  ist  am  Sonntag 
Theatergruppe,  also  das,  was  mir  am  meisten  SpaB  macht. 

Also  los,  auch     wenn's  schwer  fallt.   Heute  haben  wir  einen  Inten- 
siv-Termin,  weil  wir  viel  proben  mlissen.  Die  Theatergruppe  ist  ein- 
geladen  worden,  auf  dem  Kirchentag  in  Berlin  zu  spielen.   Wir  werden 
"Klassenlotterie  -  oder:   ...und  ich  geh'   doch  nicht  nach  Harstadt" 
spielen,  ein  Stuck  zu  Berufsberatung  und  Jugendarbeitslosigkeit,  das 
wir  alle  zusammen  gemacht  und  eingeubt  haben.  Wir  haben  es  schon  oft 
gespielt,  aber  jedesmal  anders,  denn  die  Szenen  werden  auf  der 
Grundlage  eines  Stuck-Geriistes  improvisiert;   es  gibt  immer  wieder 
was  Neues  zum  Lachen.    Das  Stuck  steht,  wir  besprechen'nur  noch  ein 
paar  Einzelheiten.   Dann  geht's  an  die  neue  Produktion:  StraSenthea- 
terszenen  zum  Thema  "Arbeitsmarkt" .  Wir  probieren,  kritisieren, 
schmeiBen  alles  ein  paar  Mai   urn,  nach  vier  Stunden  sind  wir  immer 
noch  nicht  zufrieden,  aber  in  Berlin  wird's  schon  klappen. 

Alle  freuen  sich  auf  Berlin,  auf  das  Spielen  dort.    Ich  habe  gemisch- 
te  Geflihle:   Ich  freue  rnich  auch,  aber  ich  habe,  wie  immer  vor  grbBe- 
ren  Aktionen.i  Angst,  was  da  wieder  alles  passieren  kann.  Wenn  nun 
jemand  verloren  geht,  oder  sich  Hasch  andrehen  und  dann  erwischen 
la'Bt,  oder  wenn  wir  einen  Auto-Unfall  haben...  Diese  Angste  sind 
noch  nie  wahr  geworden,  aber  ich  habe  sie  trotzdem  immer. 

MONTAG 

Abends  ist  Team-Sitzung.    Ein  wichtiger  Tagesordnungspunkt  ist  die 
Vorbereitung  des  kommenden  Sommer-Festivals.  Volker  fragt,  ob  "wie- 
der nur  politische  Gruppen"  spielen  werden     oder  ob  wir  nicht  mal 
'ne  bekannte  Rockgruppe  holen  kbnnen,  Scorpions  oder  so.   Es  gibt 
eine  spannende  Diskussion:  Warum  machen  wir  Feste,  Festivals? 
Geht's  nur  darum,  daB  die  Leute  abschalten,  konsumieren    oder  kbnnen 
wir  ihnen  auch  Alternativen  zeigen?  Soil  auf  unseren  Festen  auch 
vom  beschissenen  Alltag  die  Rede  sein,  und  was  man  dagegen  tun 
kann? 

Micha  fragt  sehr  erregt:  "Ihr  seid  doch  Linke  hier  im  Team,  sagt 
ihr,  ihr  wollt  doch  was  verandern.  Jetzt  sag1  mal .Michael ,  was 
heiBt  denn  flir  dich  'links'?"  Michael  wird  nachdenklich,  zbgert, 
weiB  nicht,  was  er  sagen  soil.  Micha  la'Bt  nicht  locker:   "Was  willst 


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du  denn  hier  verandern?"  Eine  anstrengende  Diskussion  spielt  sich 
ab     keiner  mag  die  alten  Formeln  gebrauchen.  Wir  stellen  fest,  daB 
auch  "linke  Lieder"  gedankenlos,  wie  Fahrtenlieder  geleiert  werden 
kbnnen.   Wir  merken:  Uns  fehlen  noch  viele  Argumente,  urn  zu  erklaren, 
was  wir  andern  wollen     und  wie. 

Nach  der  Sitzung  sagt  Micha,  daB  er  Michael   so  festgenagelt  hat, 
weil    inn  auf  dem  Putt  sieben  Mann  auf  einmal    herausgefordert  haben, 
die  wissen  wollten:   "Was  soil   das  heiBen,  du  bist  links?"  -  "WeiB- 
te,  und  dann  stehste  da,  und  weiSt  nicht,  wasse  sagen  sollst.  WiBt 
ihr  eigentlich,  wie  das  ist?" 

DIENSTAG 

Auf  die  Spontan-Theatergruppe  mit  den  11-1 3-jahri  gen  freue  ich  mich. 
immer.   Erst  toben  wir  durch  den  Saal ,  machen  Bewegungsspiele.    End- 
lich  kann  man  sich  frei   bewegen,  ohne  gleich  an  irgendeine  Tlir  zu 
stoBen!   Dann  besprechen  wir,  was  wir  heute  spielen  wollen.  Themen 
wissen  die  Madchen  und  Oungen  genug:   "Wenn  man  beim  Rauchen  er- 
wischt  wurde,  was  dann  passiert."   "Wenn  ein  Madchen  einen  Freund 
hat,  und  die  Eltern  merken  das."  -     "Wenn  der  Vater  arbeitslos^ 
wird,  was  dann  in  der  Familie  passiert."  -   "Wenn  ein  Madchen  einen 
Jungen  kennenlernen  will     oder  umgekehrt,  und  sich  nicht  traut."  - 
"Wenn  ein  Madchen    'nen  Gastarbeiter  als  Freund  hat."  -   "Werbung, 
Werbefernsehen." 

Wir  bilden  kleine  Gruppen,  die  iiberlegen  sich  eine  Geschichte,  und 
spielen  sie  den  anderen  vor.   Danach  sprechen  wir  darliber:   Was  hat 
uns  gut  gefallen,  was  war  weniger  gut?  "Bei  der  ersten  Gruppe  fand 
ich  gut,  daB  man  alle  verstehen  konnte."  -  "Ja,  und  die  Mutter  hat 
nicht  nur  rumgeschrien,   die  hat  auch  mit  den  Kindern  diskutiert." 
"Bei  der  zweiten  Gruppe  fand  ich  doof,   daB  die  alle  nur  ausgeflippt 
sind  beim  Schule-Spielen.   Das  stimmt  doch  gar  nicht  in  Wirkl ichkeit." 

Wir  lernen  gemeinsam,  neu  zu  sehen  ,  wahrzunehmen;  die  Wirkl  ichkeit , 
die  beschissene  und  die,  die  wir  uns  wlinschen.  Mir  fallt  auf,  daB 
die,  die  bisher  eher  schiichtern  waren,  aufgeweckter  werden  und  teil- 
weise  umwerfend  gut  und  witzig  spielen. 

Abends-  Seit  ein  paar  Wochen  la'uft  dienstags  abends  ein  Seminar 
zum  Thema  "Faschismus-Alltag  im  Dritten  Reich,  Hitler,  Was  geht 
uns  das  heute  an?" 

Wir  haben  uns  zu  diesem  Seminar  entschlossen,  weil   das  Tragen  von 
Nazi-Symbolen  zunimut,  liber  Juden-"Witze"  gedankenlos  gelacht  wird, 
Hit  er  bei   einigen  (wie  vielen?)     als  Vorbild  gilt.  Aber  kaum  je- 
mand  weiB  etwas  uber  diese  Zeit.  Wir  haben  an  jedem  Dienstagabend 
eine  Menge  Jugendliche  da,  Hauptschuler  und  Lehrlinge,  die  mehr 
wssen  wollen!  und  die  an  diesem  Abend  viel   kapieren    Wir  horen  kei- 
ne  Referate  an,  sondern  haben  Leute  eingeladen,  die  diese  Zeit  selbst 
erlebt  haben  und  die  darliber  erzahlen  kbnnen:   Widerstandskampfer, 
eheraliqe  KZ-Haftlinge,  aber  auch  Erna,  53  Jahre  alt:  Sie  war  zur 
HitTer-Zeit  ein  junges  Madchen,  begeistert  von  den  Nazi-Ideen, 
RDM  Funk?  onSHn    Nach  dem  Krieg  hat  sie  erfahren  mussen,  wie  sie 
betroqen  wSrde,  hat  einen  bitteren  LernprozeB  mitmachen  mussen. 
Je  klingt  erregt,  als  sie  sagt:     Ic    erzah  e  Euch  das, 
o-i   ihr  nicht  mehr  darauf  hereinfallen  durft.   Es  ist  so   leicnt, 
funge  Leu?e  zu  begeistern,  politisch  zu  verfuhren.   Ich  kriege  Angst, 

-   147  - 


wenn  ich  die  Entwicklung  heute  sehe.    Ich  war  in  Brokdorf,   habe  die 
jungen  Polizisten  gesehen,  den  Terror  gegen  Demonstranten,  Anders- 
Denkende.   Beschafft  Euch   Informationen!  Glaubt  nichts,  was   ihr  nicht 
selber  sent!" 

MITTWOCH 

Nach  der  Disko  habe  ich  notiert: 

Heute  wieder  viel  Al kohol-Konsum.    Die  meisten  kommen  schon  besoffen 
ins  Jugendheim.   Ich  muBte  flir  Hacki  den  Krankenwagen  holen,  er  war 
vollgedrohnt    von  Drogen  und  Alkohol   zugleich.   Pit,  einer  vom  Team, 
liegt  vollgedrohnt     hinten  auf  dem  Rasen   ("Mein  Alter  will    mich 
rauswerfen") . 

Schlagerei   zwischen  Horsti  und  einem  anderen  noch  rechtzeitig  ge- 
schlichtet.   Eine  Scheibe  in  der  benachbarten  Schule  wird  eingeschla- 
gen.   Der  Hausmeister  holt  die  Polizei,  die  wieder  abziehen  muB, 
weil   sich  naturlich  kein  "Schuldiger"  findet.  Der  eine  Polizist  sagt, 
als  er  wieder  abfahrt:   "Was  hat  dieses  Jugendhaus  eigentlich  noch 
mit  der  Kirche  zu  tun?  Sehen  Sie  sich  doch  'mal   die  Typen  hier  an!" 
Ich  rege  mich  auf,  schreie  ihn  fast  an:   "Was  meinen  Sie,  wenn  die- 
ses Jugendhaus  nicht  ware!"   In  einem  unbewachten  Moment  wird  die 
Eintrittskasse  geklaut. 
Und  trotzdem  -  die  Leute  brauchen  die  Disko  -  wir  machen  weiter. 


DONNERSTAG 

Disko  fiir  die  Kleinen.   Das  macht  SpaB,  da  ist  noch  viel   los,  es  1st 

nicht  so  festgelegt  in  den  Bewegungen  und  Verhaltensweisen  wie  bei 

den  GroBen.    Und  man  kann  auch  mal    'ne  andere  Scheibe  auflegen,  nicht 

nur  Abba  und  Bay  City  Rollers.    Das  Grips-Lied  spielen  wir  oft,  da 

singen  viele  mit: 

"Doof  gebor'n  wird  keiner, 

doof  wird  man  gemacht, 

und  wer  behauptet,  doof  bleibt  doof, 

der  hat  nicht  nachgedacht." 

Drei  Mutter  kommen  vorbei ,  wollen  sich  mal  anschauen,  wo  ihre  Kinder 
hingehen.    Ich  freue  mich  immer,  wenn  Eltern  kommen,   zeige  ihnen  al- 
les,  rede  mit  ihnen.   "Is  doch  schbn  hier",  meint  eine  Mutter,   "und 
unsere  Flirsorgerin  hat  gesagt,  das  war'n  Puff,  das  Jugendheim." 
Hinter  der  Theke  Gesprach  mit  einem  kleinen  Jungen,  der  zum  ersten- 
mal  da  ist.   "Wem  gehdrt  das  Jugendheim  eigentlich?"  -  "Na  ja,  den 
Jugendlichen  hier.   Euch  alien."  "Das  ist  gut.   Dann  gibt's  ja  keinen 
Streit,  wenn  alien  etwas  gehbrt." 

noch  offener  Treff,  hauptsachlich  sind  "Schuppen-Leute" 
oberflachlich  als  "Halbstarke"  bezeichnet.  Sie  ertra'nken 
und  ihre  Enttauschung  in  Alkohol  und  Schlagerei en.  Bei 
sie  sich  zuhause.   Johann:   "Das  ist  das  beste  bei   Euch, 
h  was  erza'hlen  kann,  und  keiner  lacht  einen  aus." 
te  habe  ich  14  Stunden  malocht.   Der  Schmorri   auch." 
15.   Jugendarbeitsschutzgesetz?  Beide  lachen. 
isse,  ich  will  ja  aufhb'rn  mit  Saufen,  ehrlich,  aber  auffe 
kriegste  so'n  Brand,  und  da  steht  immer  nur  'n  Kasten 
Sprudel,  was  willste  da  machen." 


Abends  ist 
da,  die  man 
ihren  Zorn 
uns  flihlen 
daB  man  Euc 
Wuffi:    "Heu 
Beide  sind 
Flinti:    "We 
Arbeit,  da 
Bier,   kein 


-  148  - 


SAMSTAG/SONNTAG 

Wir  machen  eine  Wochenend-Schulung  mit  dem  Team.  Thema:   HeiBer 

Stuhl.   Reihum  setzt  sich  jeder  auf  den   "heiBen  Stuhl",  und  einer 

nach  dem  anderen  sagt  ihm,  was  er  an  ihm  gut  und  was  er  schlecht 

findet.    Dies  ist  keine  gruppendynamische  Selbst-Zerfleischung, 

auch  kein  oberflachl iches  Sensitivity-Aufpappeln.    Diese  Leute  bil- 

den  ein  Kollektiv,  das  zusanmen  arbeiten  will   -  aber  sie  sehen  nicht 

nur  diese  Aufgabe,  sie  suchen  auch  Warme  in  der  Gruppe,  Zuneigung, 

und  sie  wollen  auch  Aggressionen  zeigen,  wenn  ihnen  etwas  stinkt. 

An  diesem  Wochenende  wird  viel  geklart,  viel  ausgesprochen,  was  lan- 

ge  in  der  Luft  lag,  aber  nie  so  recht  herauskam.   Am  Ende  haben  wir 

das  Gefuhl,  daB  das  gegenseitige  Vertrauen  grbBer  geworden  ist. 

Niemand  wurde  in  die  Pfanne  gehauen,  mutwillig  verletzt,  aber  es 

wurde  auch  keine  Kritik  unter  den  Teppich  gekehrt  (oh,  was  kbnnen 

die  Intellektuellen  von  diesen  Jugendlichen  lernen!). 

Jumping  singt  auf  der  Riickfahrt  wieder  Arbeiterlieder.   Die  lernte 

er  in  seiner  Familie,  nicht  erst  bei  uns.   Eins  ist  von  der  Rockgrup- 

pe  "Was  tun",  die  zweimal  bei  uns  gespielt  hat,  und  Jumping  singt 

das  sehr  stolz: 

"Solidaritat,    Kerl ,   die  brauchste, 

wenne  als  Malocher  wat  erreichen  wills, 

sagt  der  alte  PUtt-Mann  Rudi  Faust 

auf'm  Buckel   vierzig  Jahre  Putt 

und  zweimal   fast  verschutt 

zu  seinem  Kumpel   Hannes 

in  der  Kneipe  an  der  Ecke..." 

NOTWENDIG  IST  ... 

In  diesem  Bericht  fehlt  vieles  von  meinem  Jugendheim-Alltag:   Die 
ermiidenden  Auseinandersetzungen  mit  einzelnen  Leuten  aus  der  Ge- 
meinde     und  der  Nachbarschaft,  die  das  Jugendheim  lieber  heute  als 
morgen  schlieBen  wollen  -  Auseinandersetzungen,  die  nur  durch  das 
hone  MaB  an  Unterstutzung  durch  den  Gemeindepfarrer  durchgestanden 
werden  konnten,  der  immer  seinen  breiten  Rucken  flir  uns  hinhielt 
fund  wie  oft  muBte  seine  Frau  uns  im  Kirchenchor  verteidigen! ).   Es 
fehlt  im  Bericht  der  Rrger  liber  die  sinnlosen  Zerstbrungen;  der 
qroBe  StreS  (ich  war  zwei  Jahre  lang  die  einzige  hauptamtlich  Ange- 
qtellte)-  das  Aufreiben  in  langweiligen  Arbeiten  wie  Geld  zahlen, 
abrechnen;  die  Krisen-Zustande  nahe  der  Resignation.  Aber  all   dies 
kennen  die  Kollegen  aus  eigener  Erfahrung.   Ich  hoffe,  daB  ich  die 
Srhwieriqkeiten  der  Arbeit  dennoch  nicht  zugedeckt  habe  -  und 
dennoch  ein  wenig  Mut  zu  dieser  Art  von  Arbeit  gemacht  habe,  fur 
Hie  allerdings  notwendig  ist: 
Be  radikale  Parteinahme  fur  die  Interessen  der  Arbeiterkmder  - 

rucksichtslose  Bemuhung,   ihnen  Erfahrungen  zu  ermoglichen,  die 
d«  stSndige  "Du  bist  nichts  und  Du  kannst  nichts"  Lugen  strafen  - 
Das  dick-kbpfige  Festhalten  an  einer  Arbeit,  mit  der  man  sich  bei 
«"h"nnd-OrdnGng"-Schreieni  nur  unbeliebt  machen  kann. 


DIESER  BEITRAG  ERSOflEN  ZUM^RSTENJIAL 
IN  DER  ZEITSCHRIFT 


amos 


K.RITISCHE  BLATTER 
AUS  WESTFALEN 


"Amos"  berichtet  aus  dem  kirchlichcn  Bereich  -  Jugend-  und  Stadt- 

.,ilarheit   \KW-Bewegung  -  Antimilitarismus  etc. 

Bet! ;:  Red^ln  "Amos".  Querenburger  Hche  287,  463  Bochum 


Gunther  Soukup,  Westberlin 

SELBSTBESTIMMUNG  UND  DER  WEG  DORTHIN 

-  Ein  Beitrag  zur  Bestimmung  des  Aktionsradius  von  Berufspadagogen 
im  Vorfeld  von  Selbstbestimmung  und  Selbstverwaltung  - 


ZWEI IRRTUMER 

Soultzerin/Vogesen,   1968,   Kritische  Padagogen  aus  Berlin  haben  es 
erreicht,  ein  repressionsfreies,  weil   geschickt  finanziertes  Feri en- 
lager  zu  organisieren.   Die  Mehrheit  der  Jugendlichen,  werdende  Fach- 
arbeiter,  Oberschliler  und  Fachschliler  nutzt  die  Chance  zur  Selbstbe- 
stimmung.  Der  Zusammenbruch  der  vorgeplanten  Versorgung  erzwingt 
Selbstversorgung,  Selbstorganisation  ist  die  Folge  der  materiellen 
Notigung,  fur  sein  warmes   Essen  selbst  zu  sorgen.    Eine  woche  vor 
Lagerende  findet  in  einem  der  Zweierzelte  das  unfreiwillig  mitgehbr- 
te  Gesprach  zwischen  zwei   16jahrigen  Madchen  aus  Kreuzberg  statt: 
"S'mal,  wann  bist'n  du  nach  hause  jekomm?  Ha  det  jarnich  mitgeknecht. " 
"Ach,   ScheiBe,  war  wieder  urn  flinfe."  Pause.    "Man,  det  konn  die  doch 
jarnich  mit  uns  machen,   daB  wir  die  janze  Nacht  wegbleiben  du'rfen!' 
Die  beiden  Madchen  verlieBen  bald  darauf  das  Lager  und  trampten  nach 
Hause.   Fur  sie  war  der  Wegfall   von  Aufsicht  und  Kontrolle  eine  repres- 
sive Zumutung. 

Didaktikumsbesuch  in  einer  Schulklasse  in  Berlin  Kreuzberg.   Mentorin 
und  Studentin  einer  9.   Hauptschulklasse  begriissen  Sch'u'ler  und  Gaste, 
die  Studentin  erb'ffnet  den  Unterricht,  indem  sie  das  Thema  der  Stun- 
de  nennt.   Dann  agieren  die  SchLiler  selbstandig.   Sie  arbeiten  uber 
das  Thema  Welt-Ernahrung.   Sie  haben  Auftrage  unter  sich  verteilt 
und  jetzt  berichten  sie,  erklaren  mitgebrachte  Tabellen  und  Bilder 
Wie  selbstverstandlich  hat  einer  die  Gesprachsleitung  ubernommen,  je- 
der  der  spricht,  steht  auf.    Er  spricht  zu  seinen  Mi tschulern,   nicht 
zur  Lehrerin.   Einmal   nur  greifen  die  Padagogen  ein,   namlich  als  die 
SchLiler  von  der  Diskussion  der  Ernahrungsfrage  auf  die  naheliegende 
Diskussion  des  Problems  der  Geburtenkontrol  le  u'berwechseln.   Die  In- 
tervention zwingt  die  Klasse  zum  vorgegebenen  Stoff  zuriick.   Die  Be- 
sucher'  haben  einen     zwiespa'ltigen  Eindruck.   Das   Erscheinungsbildder 
Klasse  la'Bt  Selbstbestimmung  und  Selbstorganisation  vermuten,   einige 
Aspekte  deuten  auf  eine  Dressurlei stung  der  Klassenlehrerin.  Sie  be- 
sta'tigt,   daB  das  Verhalten  der  Schuler  das  Ergebnis  eines  mehrjahri- 
gen  Trainings  ist.   Eine  Theorie  liegt  ihrer  ungewbhnlichen  Didaktik 
nicht  zugrunde,  sagt  sie.   Sie  hielte  es       fur  menschlicher. 

Beide  Beispiele  markieren  nahelpgende  und  weitverbreitete  padagogi- 
sche  Irrtiimer.   wahrend  im  ersten  Beispiel     alien  Lagerteilneh- 
mern  ohne  Ansehen  ihrer  Herkunft  und  ohne  Beachtung  der  ubrigen  Le- 
benswirklichkeit  der  Teilnehmer  die  Fahigkeit  und  Bereitschaft  zur 
Selbstbestiirmung  zudekretiert  wurde,  verdeutlicht  das  zweite,  daB 
von  Interessen  abgelb'ste  Konditionierung  nur  die  formal e  Vorausset- 
zung  von  Selbstbestimmung,  doch  immerhin  diese,  hervorzubringen 
vermag. 


-  15o 


Lassen  wir  einmal  auSer  Acht,  daB  in  beiden  Fallen  die  Padagogen  in 
subjektiv  bester  Absicht  handeln.  (Lassen  wir  ferner  auBer  Acht,  daB 
man  angesichts  der  obrigkei  tl  ich-ruckstandigen  Art  zu  Lehren  in 
deutschen  Schulstuben  das  zweite  Beispiel  schon  als  Utopie  zu  wer- 
ten  geneigt  ist  -  obwohl  es  eigentlich  nur  aufzeigt,  wie  eine  unse- 
rem  politischen  System  in  etwa  gema'Be  Schuldidakti  k  aussehen  kbnnte.) 
Wie  aber  la'Bt  sich  Selbstbestimmung  uberhaupt  Lehren  und  Lernen? 


ES  GIBT  NICHT  V1EL  WISSEN, 
DAS  MACHT  VERSCHAFFT, 
ABER  ES  GIBT  VIEL  WISSEN, 
DAS  NUR  DURCH  MACHT 
VERSCHAFFT  W1RD.  B.Brecht 


Die  Chancen,  im  Verlauf  des  Sozialisationsprozesses  jene  F'ahigkeiten 
und  Leitbilder  zu  erwerben,  die  Voraussetzung  von  Selbstbestimmung 
und  fur  die  Selbstorganisation  derDurchsetzung  eigener  und  kollekti- 
ver  Interessen  erforderlich  sind,  sind  ebenso  ungleich  verteilt,  wie 
die  ungleiche  Herrschaftsverteilung  in  der  Gesellschaft  dies  erfor- 
dert.  (Zu  den  Fahigkeiten  zahlen  u.a.:  Sich  mit  Gleichen  oder  starker 
Benachteiligten  solidarisieren  zu  konnen,  Erfassung  von  Machtverhalt- 
nissen  und  Zusammenh'a'ngen,  Planungsvermb'gen,  Durchsetzungsvermbgen, 
Belastbarkeit,  Frustrationstoleranz,  Wendigkeit.)  Es  ist  deshalb  im 
Regelfall  unmbglich,  ohne  eine  Kette  von  Lernprozessen  (die  nicht  in- 
dividuell,  sondern  nur  in  Gruppenzusammenhangen  erfolgen  konnen) 
zur  Selbstbestimmung  und  Selbstorganisation  der  eigenen  Gruppen- 
und  Interessenzusammenha'nge  vorzustoBen.  Dabei  haben  aufstiegsorien- 
tierte  Arbeiter  und  Angestellte  (also  auch  Erzieher) .resignierte 
Arbeiter  und  deklassierte  Gruppen  je  verschiedene  Schwierigkeiten. 

O 

^il   die  weitaus  grbBte  Menge  der  Menschen  -  scheinbar  als  Folge  der 
Arbeitsteilung,  tatsachlich  aber  wegen  ungleicher  Machtverha'ltnisse  - 
zur  passiven  Hinnahme  der  fur  sie  berei tgestel lten   (oder  auch  verwei- 
oerten)  Arbeitszusammenha'nge  gezwungen  ist,  erscheint  es  ihnen  als 
selbstverstandlich,   daB  auch  in  alien  anderen  Bereichen  uber  lhre 
KbDfe  hinweg  liber  sie  bestimmt  wird.   Selbst  dort,  wo  sich  die  Macht- 
unterlegenen  kampferisch  organisieren,  tritt  dieser  Vorgang  noch_ 
Pinna  1  auf.    (Dies  ist  der  richtige  Ansatzpunkt  der  Padagogik  Freires) 
Dennoch  sind  diese  Gruppen  das  am  besten  geeignete  Lernfeld  fur 
Selbstbestintniings-"Tugenden",  insofern  in  ihnen  zumindest  virtuell 
ein  Wechsel     von  FLihrung  und  'Bestimmung'   angelegt  ist. 


1  Klassiker  der  Arbeiterbewegung  wuBten  stets  urn  diesen  Zusammen- 
hana     S  e  erkannten  durchaus,  wie  sehr  die  Einubung  der  Be  errsch- 
£"  in  die  Sender,  des  Ober-Sich-Bestimmenlassens  zum  Klotz  am 
Bein  Ses     esellschaftlichen  Fortschritts  werden  muBten    Marx     Ent- 
hi!  lunaen  uber  den  KommunistenprozeB  zu  Koln  MEW  Bd.8  5.41 2)  zu 

t        seiner  Zeit:   "Ihr  habt  15,  20,  50  Jahre  Burgerknege 

schaft     zu  befahigen..." 

-   151  ■ 


Rosa  Luxemburg   (Politische  Schriften  Frankfurt/Wien  1968  Bd.    II, 
Seite  162):   Die  Proletariermassen  mlissen  lernen,  aus  toten  Maschi- 
nen,   die  der  (Capitalist  an  den  Produktionsprozess  stellt,   zu  denken- 
den,  freien,  selbsttatigen  Lenkern  dieses  Prozesses  zu  werden.  Sie 
mlissen  das  Verantwortungsgeflihl  wirkender  Glieder  der  Allgemeinheit 
erwerben..."    (Diese  Satze  stammen  -  und  das  ist  zu  bedenken  -  aus 
einer  historisch-revolutionaren  Situation.)  Sie  zeigen  einen  Zusam- 
menhang  auf,  der  auf  unsere  Fragestellung  konstituierend  einwirkt: 
Menschen  lernen  im  Regelfall    nur  das,  was  ihre  soziale  Situation 
von  ihnen  an  neuen  Fahigkeiten  und  Fertigkeiten  fordert.   Die  Defini- 
tion dessen,  was   ihnen  nu'tzlich  oder  weniger  nlitzlich  zu  lernener- 
scheint,  wird  primar  durch  die  Anforderungen  des  Oberlebens   in  ihrer 
je  spezifischen  Lage  bestirmit,  sekunda'r  durch  mehr  oder  weniger  reaT 
listische  Wlinsche  und  Hoffnungen  flir  eine  eigene  'bessere'   Zukunft. 
Nur  durch  die  Teilhabe  an  einer  fortschrittlichen  Bewegung  ent- 

stehen  Hoffnungen  auf  die  Verbesserung  der  Lage  aller  oder  der  Klas- 
se. 


Selbstbestimmungslernen  fur  sich  selbst  kann  es  nicht  geben.  Es  wird 
in  der  Realisierung  von  Bed'u'rfnissen,  Hoffnungen  und  Interessen  ge- 
lernt  -  oder  gar  nicht.   Es  wird  allerdings  auch  nicht  an  Interessen 
gelernt,  die  die  Lerner  aufgrund  poli tisch-soziologischer  Analyse 
eigentlich  haben  mu'Bten,  sondern  im  Kampf  urn  die  Durchsetzung  der 
jetzt  vorfindlichen  und  der  im  ProzeS  bewuBt  werdenden  Interessen 
und  Ziele. 

Lernprozesse,  die  die  Individuen  als  flir  ihre  zentralen  (existenz- 
sichernden)    Interessen  nachteilig  definieren,  werden  direkt  oder  m- 
direkt  abgewe  hrt.    Bei  spiel: 


Drei  Banklehrli 
ger:  "Das  war  j 
und  Lernen  und 
wenn  wir  nicht 
flrger  in  der  Fi 
biSchen  gemotzt 
Ferien  selbstve 
mu'Bt  verstehen, 
bei   euch  wlirden 


nge  eine  Woche  nach  einem  "emanzipatorialem"  Zeltla- 
a  eine  ganz  dufte  Zeit  da  im  Lager.  So  mit  Freiheit 
Diskutieren  und  so.   BloB  jetzt  mu'Bt  ihr  verstehen  , 
mehr  zur  Gruppe  kommen.  Wir  hatten  noch  nie  so  viel 
rma,  wie  in  den  letzten  acht  Tagen.  Wir  haben  nur  ein 
,  weil   so  ein  paar  Sachen  im  Betrieb,  die  vor  den 
rstandlich  waren,  es  einfach  nicht  mehr  sind.   Ihr 

aber  wir  mlissen  das  Jahr  schon  noch  rumbringen.  Und 

wir  jedesmal  wieder  aufgeladen." 


Je  ungesicherter  und  miserabler  die  soziale  und  materielle  Lage  eines 
Menschen  oder  einer  Gruppierungtatsachlich  ist,  desto  starker  ist 
die  Tendenz  zur  Hinnahme  von  Fremdbestimmungen.   Extrem  ist  dies  in 
Anstalten  der  Fall,  in  denen  die  Insassen  zu  Karteikarten,  Nummern 
und  statistischen  Einheiten  zusammengeschrumpft  werden.    (Ober  die 
Schwierigkeit,  die  so  hergestellten  Haltungen  von  oben  aufzubrechen, 
berichten  Basaglia  et  al:  Die  negierte  Institution)  Selbst  lautstar- 
ke  Proteste  gegen  Fremdbestimmung  sind   dabei  zunachst  kein  Indiz  flir 
die  Bereitschaft  und  die  Fahigkeit  zur  Selbstbestimmung/-organisation. 
Die  Geborgenheit  der  Abhangigkeit  ist  letztlich  in  solcher  Lage  im- 
mer  noch  ertraglicher,  als  eine  Unabha'ngigkeit,  die  mit  Unsicherheit 
verknlipft  ist.   Erst  bei  Versagen  der  Obrigkeit  im  Versorgungs-  und 
Sicherheitszusammenhang  wird  tatsachlich  Aggression  ausgelbst  -  wie 
die  Analyse  vieler  Rebellionen  zeigt  -  dochweder  notwend'ig,  noch  auto- 
matisch  Selbstbestimnung. 

-  152  - 


Q 

Diese  Thesen  sollen  verdeutl ichen,  daB  der  Spielraum  zur  Festlegung 
von  durch     Berufspadagogen     zu  erreichenden  Zielenim 
Hinblick  auf  Selbstbestimmungslernen  enger  begrenzt  ist,   als  diese 
gern  annehmen.   Es  ist  zudem  auffallig,  daB  die  erfolgreichsten  Ver- 
suche  der  Befahigung  von  Betroffenengruppen  meist  von  Sozialarbeitern 
und  Erziehern     n  e  b  e  n     und     auBerhalb     ihrer     haupt- 
amtl ichen  Berufsrolle  durchgefiihrt  wurden.   Dies  mag  damit  zu  tun  ha- 
ben, daB  die  Gesetzmassigkei t  der  burokratischen  Apparate,   von  denen 
die  Angehb'rigen  der  padagogischen  und  sozialen  Dienste  selbst  fremd- 
bestimmt  abhangig  sind,  solche  Versuche  verhindert  -  auch  indem  sie 
'ihren  Beschaftigten  Interessenlagen  aufzwingt,   die  ihnen  selbst  eine 
entfaltete  Selbstbestimmungspotenz  des    ' Klientels'   als  fiir  sich  un- 
vorteilhaft  definieren  lassen.   Der  Kampf  flir  mehr  Selbstbestimmung 
durch  die  Betroffenen  ist  daher  auch  immer  einer  fiir  mehr  Selbstbe- 
stimmung am  Arbeitsplatz  der  Sozialarbei ter  und  Sozialpadagogen. 

Fatalerweise  neigen  Erzieher  (im  weitesten  Wortsinn)  dazu,  die  eige- 
nene  Defizite  und  Diskrepanzen  zwischen  Ansprlichen  und  Lebenspraxis 
mbglichst  unangefochten  bestehen  zu  lassen, die  Anspruche  aber  auf 
die  Jugendl ichen,   Kinder,  Eltern  usw.    zu  ubertragen.    Ersatzweise 
sollen  dann  die   'Klienten',  objektiv  oft  in  noch  ungunstigerer  Lage, 
Kampfe  durchstehen,  die  von  den  Erziehern  selbst  gemieden  worden 
sind.   DaB  sich  die  Betroffenen  zu  dieser  Art  von   'Kastanien  aus  dem 
Feuer  holen'   nur  einmal   und  nicht  wieder  losschicken  lassen,  sollte 
sich  von  selbst  verstehen. 

Berufserzieher  konnen  in  ihrer  Berufsrolle  nicht  als  Avahtgarde  des 
Fortschritts  agieren.   Sie  konnen  aber  im  Vorfeld  selbstbestimmter 
Interessendurchsetzung  und  selbstorganisierter  Kampfe  zur  Herausbil- 
dung  von  Fahigkeiten  beitragen,  die  den  Betroffenen  in  spateren  Si- 
tuationen  als  nutzliche  Verhaltensmodelle  und  Konf 1 iktstrategien 
zur  Verfligung  stehen.   Das  setzt  zuweilen  auch  die  Bereitschaft  vor- 
aus,   in  Rechnung  zu  stellen  und  zu  ertragen,  daB  die  Betroffenen 
auch  und  gerade  gegen  sie  lernen. 

Das  Lernziel  Selbstbestimmung  kann  auch  unerreichbar  bleiben,  wenn 
die  Initiatoren  einschlagiger  Projekte  und  Vorhaben  in  schbner  Pa'da- 
aoaentradition  Ziel   und  Weg  verwechseln,  d.h.    die  Tatsache  verleugnen, 
daB  zur  Erreichung  von  Zielen  Schritte  unabdingbar  sind,  die  gegan- 
nen  und  geubt  sein  mussen,  bevor  der  nachste  getan  werden  kann.  Ob- 
wohl   in  bestimmten  Situationen  die  verbffentlichte  Zuschreibung,  daB 
eHne  Gruppe  oder  eine  Person  zu  einer  bestimmten  Handlung  fahig  sei 
obwohl  das  noch  sehr  fraglich  sein  mag  -  von  groBen  motivierenden 
Wert  sein  kann,   ist  es  ein  absurder  Irrtum,  zu  meinen,   lediglnch 
durch  positive  Zuschreibung,  gutes  Zureden  oder  di_e  ^P^ ehlung^be-^ 

st 

den. 

wie 

Zie 

den 

mung  zu  verhi 

ersten 

^Schadenfrohes  Padagogikergemurmei 
das  fiihrt  mit  der  Selbstbestimnung.) 


ZUJhritt  abzunehmen,  oder  aber  inn  ungedeckt  und  unvorterei- 
en  L  *z     lassen,   die  ihn  uberfordern  mussen 

'"  5122*  ^sL^cik^emunnel:   Da  kbnnt  ihr  ja  mal   sehn,  wohln 


-   153  - 


Nach  dieser  groben  Bestimmung  der  gesellschaftlich  gesetzten  Grenzen 
fur  den  Versuch,  im  Rahmen  professioneller  sozialer  und  padagogischer 
Tatigkeit  Selbstbestimmung  bzw.    ihre  Voraussetzungen  "lehrbar"  zu 
machen,  seien  einige  Erfahrungssatze  festgehalten,  die  sich  im  Ver- 
lauf  vieler  Projekte,  die  explizit  Oder  implizit  Selbstbestimmung 
oder  auch  Selbstorganisation  zum  Ziel   hatten,  akkumuliert  haben: 

I  Die  wichtigste  Voraussetzung  fiir  Selbstbestimmungslernen  ist  die 
Lerngruppe: 

-  die  Existenz  gemeinsamer  Ziele  und  Interessen,  eine  Gruppenperspek- 
tive  in  Richtung  auf  die  Durchsetzung  solcher  Interessen. 

-  die  Entfaltung  eines  ausreichenden  Wir-Gefuhls   in  einer  solchen 
Gruppe  durch  gemeinsame  Erlebnisse,  Aktionen  und  deren  Reflexion. 
(Nach  wie  vor  ist  der  den  Gruppenpadagogen   (seit  Lewin)   eigenen  Hoff- 
nung,  man  kdnne  durch  Demokratisierung  des  Micro-Bereichs  der  Ge- 
sellschaft  zur  gesel lschaftlichen  Veranderung  vorstoBen,  mit  Skepsis 
zu  begegnen.   Es  ist  andererseits  nicht  zu  sehen,  wie  ohne  eine  brei- 
te  Kampagne  der  Einiibung  von  SelbstbewuBtsein  und  Selbstbestimmung 

in  Gruppen  gesamtgesellschaftliche  politische  Veranderungen  eine 
soziale  Basis  finden  soil  en.  Doch  gerade  die  Herstellung  der  Mbglich- 
keit  zu  so  breit  angelegten  Kampagnen  unter  gegenwa'rtigen  Bedingun- 
gen  -  und  noch  dazu  unter  Einsatz  beruflicher  Arbeitskraft  von  Pada- 
gogen  wird  zunehmend  be-  und  verhindert.   Dies   konnte  bedeuten:  Wir 
sind  (?)    (waren)  auf  dem  richtigen  Weg). 

-  ein  erkennbarer  und  unleugbarer  Erfolg  solcher  Aktionen  in  Richtung 
auf  die  Gruppenziele  und  -hoffnungen   (nur  durch  wahrgenommenen  Erfolg 
ist  eingeiibte  MiBerfolgserwartung  und  Resignation  tendenziell   an- 
greifbar). 

Brecht:   Schbnster  aller  Zweifel  aber 

Wenn  die  geschwachten  Unterdruckten 
an  die  Starke  ihrer  UnterdrUcker 
nicht  mehr  glauben 

-  Gruppenerfolge  kbnnen  -  von'Zufallen  abgesehen  -  nur  das  Resultat 
sorgfaltiger  Vorbereitung  von  Kampagnen  und  Aktionen  sein.   Die  Last 
dieser  Vorbereitungen  liegt  in  der  Ausgangslage  vol!   bei  den  Gruppen- 
griindern,  sie  kbnnen  sie  zu  diesem  Zeitpunkt  nicht  mit  dem  Hinweis 
auf  die  Notwendigkeit  selbstbestimmten  Gruppenhandelns  zuruckweisen. 

•  Auch  in  Lerngruppen  des  dargestellten  Typs  lernen  nicht  alle  Mit- 
glieder  zugleich  gleiche  Aspekte  selbstbestinmten  Handelns.    Inner 
gibt  es  qua  Sozialisation  oder  aufgrund  von  Vorerfahrungen  Unter- 
schiede  in  Anspruch  und  Qualifikation  zur  Mit-  und  Selbstbestinmung. 
Die  sich  herausbildenden  gruppeneigenen  Fiihrer  mu'ssen  einerseits  an 
die  Stelle  der  (Profi-)Gruppengrunder  treten,  andererseits  bleibt  es 
die  Aufgabe  der  Griinder,  die  schweigende  Mehrheit  vor  der  gruppen- 
eigenen 'Herrschaft'    zu  schlitzen.   Dies  kann  z.B.   in  der  Hilfestel- 
lung  bei   der  Entstehung  oppositioneller  Untergruppen  erfolgen. 

•  Auch  in  Gruppen  des  Reproduktionsbereichs   (andere  wird  es  in  die- 
sem Zusammenhang  kaum  geben)  spielen  die  Mitglieder  die  gleichen  Kon- 
kurrenzkampfe  und  Statusrangeleien  weiter,  die  ihnen  der  berufliche 
Sektor  aufzwingt.   Es  ist  fiir  die  Gruppenentwicklung  kein  Vorteil, 
wenn  eine  Gruppe  gehindert  wird,  eine  Phase  intensiver  Konkurrenz- 
kampfe  im  Inneren  auszutragen.  Erst  nach  einer  Ausbalancierung  in- 


154 


terner  Machtverhaltnisse  entwickelt  sich  in  der  Regel  ein  Arbeits- 
und  Aktionspotential  nach  drauSen.   Es  bleibt  aber  Aufgabe  der  Grun- 
der  oder  Teamer  der  Gruppe,  den  unterlegeneren  Grupperaii  tgliedern 
die  Kenntnis  und  Fahigkeit  zu  vermitteln,  die  sie  benbtigen,  urn  Fiih- 
rer abzulbsen.   Dies  bedeutet,  daB  man  tendenziell   nicht  Flihrung  ab- 
schafft     sondern  im  Verlauf  des  Prozesses  viele  oder  alle  zur  Ober- 
nahme  von  Fiihrungsfunktionen  befahigt.   Dies  setzt  die  Freisetzung 
von  Kritik  an  Griindern  und  FLihrern    v  o  r  a  u  s   .     Jedes  Mitglied 
muB  erfahren  haben  und  wissen,  daB  Kritik  nicht  zur  Isolation  flihrt. 

|  In  den  seltensten  Fallen  stimmen  die  erstgenannten  Gruppenziele 
mit  den  tatsachlich  angestrebten  Uberein.   Diese  Ideologie-Praxis-Dis- 
krepanz  ist  immer  wieder  Gegenstand  der  Gruppendiskussion.   Der  ideo- 
logisch-notwendige  Charakter  solcher  Verschleierungen  muB  zwar 
einerseits  akzeptiert  bleiben,  die  Benennung  der  tatsachlichen  Inter- 
essen und  Ziele  tragt  erheblich  zur  Entspannung  der  Gruppe  nach  innen 
bei     (Beispiel:   Es  ist  ein  Fortschritt,i  wenn  etwa  Erzieherschliler 
nicht  mehr  behaupten,  sie  wiirden  Erzieher,  weil   sie  die  Kinder  lie- 
ben     sondern  sagen,  daB  ihnen  dieser  Job  von  seinen  Konditionen  her 
qefS'llt  oder  wenn  Eltern  nicht  mehr  sagen,  sie  wollen  den  neuen  Aben- 
teuerspielplatz  lediglich  urn  der  Erweiterung  des  Aktionsspielraumes 
aller  Kinder  ihrer  Nachbarschaft  willen  durchsetzen,  sondern  sich 
und  anderen  eingestehen,  daB  sie  inn  auch  wollen,  urn  bfter  mal   von 
i   h  r  e  n     Kindern  entlastet  zu  werden.   DaB  solche  Offenheit  auch  ein 
wenig  normativ-inquisitorisches  Gruppenklima  voraussetzt  -  welches 
selbst  wiederum  nur  ein  Resultat  des  Prozesses  sein  kann,  ist  einer 
der  vielen  gruppendidaktischen  Zirkelschllisse,  die  sich  nicht  im  ra- 
schen  Durchgang  losen  lassen.    (Inmerhin  ist  in  die  Erfahrung  der  Men- 
schen  unserer  Gesellschaft  eingegraben,  daB  jedes  unbedachte  offene 
Wort  zur  Waffe  im  allgemeinen  Konkurrenzkampf  werden  kann.) 
Die  gruppeninterne  Verbffentlichung  unverschleierter  Absichten  und 
Interessen  tragt  aber  wesentlich  dazu  bei,  daB  die  Gruppe  sich  rea- 
listische  Ziele  setzt,  zu  deren  Erreichung  die  Krafte  und  das  Enga- 
gement auch  tragfa'hig  genug  sind. 

ulr  aus  seiner  Berufsrolle  heraus  mit  Gruppen  arbeitet,  die  in  der 
nurchsetzung  ihrer  Interessen  Selbstbestimmungs-  und  Selbstorgamsa- 
tionsfahigkeiten  erwerben  sollen,  muB  sich  auf  ein  langfnstiges  En- 
aaaement  einlassen.  Er  sollte  andererseits  versuchen.sich  selbst 
von  der  Gruppe  so  unabhangig  zu  halten  oder  zu  machen  (etwa  nndem 
Ian  das  nachste  Projekt  schon  beginnt,  wenn  dne  Ablosung  von  der  er- 
sten  Gruppe  In  Sicht  gerat)  .damit  sein  affekt ives  Bedurfms  ihr,  nicht 
Haran  hindert,   sich  Schritt  fur  Schritt  uberfluss^er  zu  machen. 
Um^ie  eigenen  Wirkungen  richtig  einschatzen  zu  konnen     ist  Kommuni- 
kation  mit  Dritten  und  das  Vorhandensein  eines  wie  auch  immer  provi- 
sorischen  MeBinstrumentes  nutzlich. 

SenziSngen  in  Jerlozialen  Lage  der  Gruppenangehbngen  verursach- 

-  155  - 


ten)  Unterschiede  in  der  Ausgangslage  und  im  optimal    Erreichbaren 
bedacht  werden,   ist  die  folgende  Orientierungshilfe  (ein  Extrakt  aus 
vielen  Erfahrungen  und  in  Anlehnung  an  ein  analytisches  Modell  Mol- 
lenhauers  entstanden)   mbgl icherweise  brauchbar: 

a.)   Die  Gruppe  ist  in  Reaktion  auf  einen  Grundreiz   (eine  antizipier- 
te  Interessenlage)   zustandegekommen.   Die  versammelten  Einzelnen  sind 
zunachst  Objekte  der  Tatigkeit  der  Veranstalter.  Diese  Reaktion  auf 
einen  Grundreiz  liegt  natlirlich  dann  nicht  vor,  wenn  die  Gruppen 
Zwangsgruppen  sind,  wie  etwa  im  Heim  oder  in  der  Schulklasse.   Es  ist 
gunstiger,  in  solchen  Institutionen  Gruppen  quer  zur  Zwangsgruppen- 
struktur  zu  bilden.    (Der  Grundreiz  zieht  dann  Menschen  mit  einer  ahn- 
lichen  Interessenrichtung  an.) 

In  dieser  Lage  sind  zunachste  Beziehungen  zwischen  den  Beteiligten 
herzustellen.   Die  Besonderheiten  und  speziTischen  Fa'higkeiten  sollten 
im  Gruppenprogramm  erkennbar  werden.   Das  setzt  die  Animation  zu  man- 
nigfachen  Aktionsfonnen  voraus.    (Wer  wenig  redet,  mag  viel   tanzen. 
Wer     nicht  tanzt,   kann  sich  in  handwerklicher  Arbeit  darstellen  und 
dabei  reden  usw. )   Es  sind  diejenigen  Fa'higkeiten  und  Fertigkeiten 
gruppenbffentlich  zu  machen  und  den  Gruppenzielen  nutzbar  zu  ma- 
chen,  die  spa'ter  in  das  Selbstbestimmungspotential   eingehen.   Die  da- 
mi  t  verbundene  Aufwertung  der  Teilnehmer  verstarkt  die  Gruppenkoha- 
sion. 

b.)  Obernahme  von  technisch-organisatorischen  Funktionen  in  der  Grup- 
pe durch  Beteiligte  (wird  erst  durch  die  vorangegangenen  Verdffent- 
licheungen  mbglich). 

In  der  Obernahme  solcher  Detail funktionen  profilieren  sich  die  ersten 
Ansatze  zum  Aufbau  gruppeneigener  FLihrung.  Mit  GewiSheit  setzen  sich 
in  dieser  Phase  solche  Gruppenmitglieder  durch,  die  im  Verlauf  ihrer 
bisherigen  Sozialisation  Erfahrungen  im  Durchsetzen  ihrer  Interessen 
und  FLihrungsanspruch  entwickeln  konnten.   Im  weiteren  Verlauf  des  Pro- 
zesses  wird  ihre  Fuhrung  des  bfteren  in  Frage  gestellt  werden.   Dies 
kann  sowohl  mit  einer  Aufteilung  von  Fiihrungsfunktionen,  mit  der  Ab- 
setzung  der  eher  noch  selbsternannten  Fuhrer  oder  mit  ihrem  Weggang 
(ggf.   mit  Anhangern)  enden.   Dennoch  bedu'rfen  diese  allerersten  Fu'h- 
rungsversuche  von  Gruppenmitgliedern  in  den  ersten  Phasen  der  Anlei- 
tung  und  Unterstu'tzung  durch  die  (oder  den)  Teamer,  selbst  dann, 
wenn  die  Fuhrer  ihren  FLihrungsanspruch  dadurch  demonstrieren  und 
legitimieren,  als  sie  ihn  in  der  Auseinandersetzung     g  e  g  e  n     die 
Professionellen  erwerben  und  behaupter.   DaB  dies  fur  die  Teamer  emo- 
tional  schwer  zu  verkraften  ist,  versteht  sich  von  selbst. 

c.)  Taktische  Mitbestinmung: 

Im  ProzeB  der  Definition  und  Artikulation  der  zu  vereinheitlichenden 

also  als  gemeinsam  definierbaren  Interessen  und  Ziele  erweitert  sich 

auch  der  Bereich,   in  welchem  die  Gruppe  Aufgaben  an  ihre  Mitglieder 

delegiert. 

Es  bleibt  Aufgabe  der  Teamer,  den  Zusarmienhang  der  Aufgabenstellungen 
mit  den  Gruppenzielen  zu  verdeutlichen  und  die  Gruppe  an  ihre  Kon- 
troll-  und  Unterstiitzungspfl icht  (Das  Wort  'Kontrolle'   darf  hier  nicht 
miBverstanden  werden.   Hier  kann  es  nicht  urn  Rechtfertigungs-  oder 

-  156  - 


Strafprozeduren  gehen,   sondern  darum,   dal3  derjenige,  der  Arbeit 
macht,    (oder  einen  Gruppenauftrag  aus  welchen  Grlinden  auch  immer 
nicht  erftillen     kann)   ein  Echo  auf  sein  Handeln  erhalt,  das  iw 
ersten  Falle  Anerkennung  und  Ermutigung  zu  neuer  AufgabenLibernahme  gibt 
und  -  im  zweiten  Falle  -  nicht  inquisitorisch,  sondern  solidarisch    - 
nach  den  Hintergrlinden  fragt.   Nur  so  hilft  die  Gruppe  dem  einzelnen, 
sich  als  Ursache  von  Wirkungen  zu   erleben  sowie  am  Beispiel    der  mit 
der  Durchfuhrung  von  Aufgaben  beauftragten  Mitgliedern  jene  Verant- 
wortlichkeit  der  Gruppe  zu  setzen,   die  zugleich  Lernmodell   fur  die 
wenigen  Aktiven  wird.    (Erst  wenn  die  selbstverstandlich  geworden  ist, 
ist  die  Voraussetzung  fur  Verbindl  ichkeit  von  Beschllissen  gegeben. 
Diese  sind  aber  unabdingbar  fur  den  Obergang  zur... 


d.)   strategischen  Mitbestimmung.   Diese  setzt  die  Fahigkeit  der  Grup- 
pe zur  Erfassung  der  Risiken  und  die  bewuBte  Bereitschaft  zu  ihrer 
Obernahme  voraus. 

In  dieser  Phase  kommt  der  Arbeit  der  Teamer  vor  allem  die  Aufgabe 
zu     die  in  der  Gruppe  Schwa'cheren   und  Zuruckbleibenden  zur  Artikula- 
tion ihrer  Einwande  und  Bedenken,  zur  Kritik  an  den  gruppeneigenen 
Fu'hrern  zu  bewegen.   Dies  geschieht  in  der  Kritik  der  Planung  der  vor- 
angegangenen Aktivitaten  der  Gruppe  und  in  der  Herausarbeitung  der 
Diskrepanzen  zwischen  Planung  und  Durchfuhrung  sowie  in  der  Offenle- 
gung  der  Ursachen  des  Kontrastes  zwischen  Plan  und  Aktion.  Ziel: 
Sta'rkung  der  inneren  Demokratie  der  Gruppe.   Befahigung  anderer  Mit- 
glieder zur  Fuhrung.  Die  Ausweitung  des  Flihrungs-  und  Leitungspoten- 
tials  in  der  Gruppe  ist  Voraussetzung  von 

e.)  Selbstbestimmung,  wenn  man  darunter  nicht  nur  die  Fahigkeit  der 
gruppeneigenen  Flihrer  versteht,  ihre  Absichten  und  Planungen  durch- 
zusetzen. 

In  dieser  Phase  sollten  die  Professionellen  in  Leitungsfunktionen 
UberfVu'ssig  sein,  weil   diese  von  der  Gruppe  arbeitsteilig  wahrgenom- 
men  werden.   Sie  kbnnen  entweder  in  Form  einer  beratenden  Mitglied- 
schaft  dabeibleiben,    (was  schwierig  ist)   oder  aber  aus  der  direkten 
Beziehung  zur  Gruppe  zur'u'cktreten  (was  oft  schwerfallt) . 
Selbstorganisation  kbnnte  in  dieser  Abfolge  bedeuten,   daB  die  Grup- 
oe  sich  kraft  Einsicht  in  grbBeren  Zusammenha'ngen  organisiert   (ge- 
werkschaftlich,  politisch,  Interessenverband)  oder  aber  die  erworbe- 
nen  Fa'higkeiten  und  Kenntnisse  zur  Ausweitung  der  Aktionsfahigkei  t 
in  die  Breite  einsetzt. 


daB  ein  tatsachlicher  Zugewinn  an 


Es  muB  noch  einmal   betont  werden, 

Entscheidungsgewalt  (Macht  im  Sinne  Brechts)  weitaus  gravierendere 

Wirkungen  entfaltet,  als  alle  padagogisch-didaktischen  Hilfskonstruk 

tionen. 

i'l'bstbestiiimungsfahigkeiten  kbnnen  leider  ebenso  verlernt  werden, 
wie  die  meisten  anderen  auch.   Dies  geschieht  insbesondere  dann,  wenn 
ah  Transfer-Lernen  nicht  stattgefunden  hat   (also  eine  Obersetzung 
I ,?  andere  soziale  Situationen  nicht  angebahnt  und  geubt  werden 
konnte)?  wenn  die  objektiven  gesellschaftlich-politnschen  Bedingungen 

-  157  - 


der  Entfaltung  der  Fahigkeiten  direkt  und  ungebrochen  entgegenstehen 
oder  eine  Kette  nicht  reflektierter  Mifrerfolge  zur  Resignation  treibt. 
Es  1st  auch  daran  zu  erinnern,  daf3  selbstverstandlich  gewordene  er- 
kampfte  Rechte-  auch  solche  zur  Selbstbestimmung  -   leicht  zur  Last 
werden.    In  dieser  Lage  kbnnen  wenige  Interessenten     i  h  r  e     Chance 
ergreifen,  liber  andere  zu  bestimnen. 


Frim;  J  me  I  wtirtie  bos  und  wild, 
tin  shr-bsi  es  hicr  mil  diesem  Bild. 
cr  parfcl  die  Intcllcklucllen  fevt 
bci  Arm  und  Koj>f.  bo  Rix:k  und  Wc 
Den  B«ill  /uctsl.  am  Knd  dun  <ira>-s, 
lunkl  cr  sic  ticl  ins  rule  Fa'-s 
Man  siciil  CS  hicr.  wie  rut  «C  sind. 
ftsi  wic  tin  Tcrrorisicnkind 


*u 


TENDENZ:  AUSBILDUNGSVERBOT 

Die  Gesinnungsschnu'ffelei  hat  in  Berlin  auch  schon  den  Ausbildungs- 
sektor  zum  Objekt  gemacht.   Bisher  sind  uns  nur  Falle  der  politischen 
Oberprlifung  von  Berufspraktikanten  bekannt,  seit  Neuestem  trifft  es 
auch  die  Studenten  der  FHSS  in  Berlin,  wie  folgender  Bericht  zeigt: 

"Wir  sind  Studenten  der  Fachhochschule  fiir  Sozialarbeit  und  miissen 
innerhalb  unseres  Studiums  im  4.   Semester  zwei  Praktika  ableisten. 
Die  Gesamtschule  Charloitenburg   (Schillerstr.)   hatte  zwei   Praxis- 
stellen  angeboten.   Daraufhin  bewarben  sich  zwei  Studenten  urn  diese 
Stellen. 

8  Wochen  spa'ter  fand  ein  "Bewerbungsgesprach"  statt,  das  sich  im 
Ablauf,  der  Zusammensetzung  der  Kommission  und  den  inhaltlichen  Fra- 
gen  erheblich  von  der  bisherigen  Praxis  der  Einstellungsgesprache 
unterschied: 

-  Anwesend  waren  Herr  Klotz,  Personalchef  im  Bezirksamt  Charlotten- 
burg,  der  Direktor  der  Gesamtschule  und  Frau  Scharfenberg  als  Ver- 
treterin  des  Personal  rates. 

-  Die  Kommission  weigerte  sich,  das  Gesprach  mit  beiden  Bewerbern 
gleichzeitig  zu  fiihren. 

-  Die  Diskussion  spitzte  sich  bei  beiden  Studenten  an  der  Frage  zu, 


-  158  - 


warum  sie  trotz  abgebrochenem  Lehrerstudium  ausgerechnet  Sozialarbeit 
an  der  Schule  gewahlt  ha'tten. 

Die  beiden  Studenten  verwiesen  auf  empirische  Untersuchungen  und 
eiqene  Erfahrungen  wahrend  eines  Praktikums  als  Lehrerstudenten,  in 
dem  sie  feststellen  muBten,  wie  sehr  repressionsfreier,  padagogischer 
Anspruch  und  die  Wirklichkeit  des  Schulalltags   in  Widerspruch  gene- 
ten     Das  BewuBtsein,  zumindest  die  Ahnung  der  individuellen  Perspek- 
tivlosigkeit  (Arbeittlosigkeit,  Lehrstellen,  die  nicht  ihren  Vorstel- 
lungen  entsprechen  usw.)  erzeugen  bei   den  Schulern  Desinteresse  und 
Aggressionen,  die  wiederum  Konflikte  produzieren,  zu  deren  Lbsung 
die  Lehrer  nur  wenig  beitragen  kbnnen.  Wir  meinen,  in  dieser  Situa- 
tion ist  die  Versuchung  fur  jeden  Lehrer  groB,  den  entstehenden  Kon- 
flikten  mit  Sanktionsmbglichkeiten  zu  begegnen.    Im  Gegensatz  dazu 
Stent  der  Sozialarbeiter  weder  unter  dem  Zwang,  bestimmte  Lehrin- 
halte  vermitteln  zu  miissen,  noch  hat  er  Sanktionsmbglichkeiten. 
Urn  seine  Funktion  erfiillen  zu  kbnnen,  ist  er  auf  die  freiwillige  Mit- 
arbeit  der  Schliler  angewiesen. 

Das  Bezirksamt  war  offensichtlich  anderer  Meinung:  Unsere  beiden 
Kommilitonen  wurden  ohne  Begr'u'ndung  abgelehnt.    Dem  zustandigen 
Dozenten  der  Fachhochschule  wurde  auf  Nachfrage  mitgeteilt,  das 
Bezirksamt  weigere  sich,  Praktikanten  einzustellen,  die  den  "Betriebs- 
frieden  der  Schule  stbren  und  sich  bei  anstehenden  Konflikten  einsei- 
tig  mit  den  Schiilern  solidarisieren  wurden". 

Das  "padagogische"  Selbstverstandnis  von  Direktor  und  Personalchef, 
das  sich  schon  in  den  Fragen  darstellte,  offenbarte  nun  ohne  Zuru'ck- 
haltung,  was  von  den  Sozialarbei tern  und  Lehrern  in  der  Schule  erwar- 
tet  wird:    In  enger  Zusamnenarbeit  fur  ein  mbglichst  "harmonisches 
konfliktfreies  Schulklima  zu  sorgen"   das  heiBt,   im  Zweifelsfall  fiir 
die  Institution  und  gegen  die  Schliler. 

Wenn  die  padagogisch-politische  Begrtindung  fur  uns  auch  absolut  vor- 
rangig  ist,  wollen  wir  doch  kurz  die  juristische  Seite  erwahnen. 
Eine  Ablehnung  aus  padagogischen  und/oder  politischen  Grunden  ist  bei 
Blockpraktikanten  nicht  mbglich,  da  wir 

a)  unsere  fachl  icheljual  if  ikation  erst  erwerben  sollen  und 

b)  eine  Ablehnung  aus  politischen  Grlinden  einem  mbglichen  Ausbil- 
dungsverbot  gleichkame. 

Wir  wehren  uns  gegen  eine  Praxis,  die  auf  kaltem  Wege  unbequeme  Mei- 
nunqen  ausschlieBen  will.  Aus  unseren  bisherigen  Erfahrungen  nnt  dem 
Rechtsstaat  fiirchten  wir,  daB  das  im  Augenblick  noch  ungesetzliche 
Vorgehen  des  Bezirksamtes  legalisiert  und  zur  Regel  wird.  Die  Berufs- 
verbote  wurden  dann  urn  einen  entscheidenden  Schritt  vorverlagert: 
nie  Finstellungsbehbrden  muBten  nicht  langer  den  Rechtsstaat  und 
seine  Organe  bemuhen,  das  Aussprechen  von  Berufsverboten  wird  dann 
der  WillWir  und  subjektiven  Interpretation  Einzelner  uberlassen. 
(aus  einem  Flugblatt) 

nie  beiden  Studenten  haben  inzwischen  andere  Praktikumsplatze  in 
Snandau  bekolen.   Sie  werden  Klage  fuhren  gegen  das  Bezirksamt    wo- 
bei   s"ch  -  falls  sie  gewinnen  -  an  ihrer  jetzigen  Situation  wohl 
nichts  mehr  andern  wird. 


(aus  "anstoB") 


159 


Klaus  Traube 

VON  EINEM,  DER  DIE  BDRGERLICHEN 
FREIHEITSRECHTE  ERNST  NIMMT 


Klaus  Traube,   der  selbst  von  den  angebliohen  "Verfassungsschutzern" 
heimgesuoht  wurde,   beschreibt  die  Geschiehte  von  Hans  Roth. 
Hans  Roth  ist  dem  Verfassungsschutz  und  den  Kultusburokratien  unbe- 
quem geworden  und  jemand,   der  die  Grund-  und  Freiheitsrechte  ernst 
nirnntj    kann  schlechterdings  nicht  Lekrer  werden,    seine  Bewerbungen 
werden  regelma&ig  abgelehnt. 

Es  ist  aber  auoh  die  Geschiehte  eines  Padagogen,   der  in  all  den 
Jahren  Consequent  urn  seine  Rechte  kdmpft  und  sich  nicht   -  weil  es 
oft  bequemer  ist   -  arrangiert  hat. 

Wir  drucken  den  Beitrag  von  Klaus  Traube  nicht  ab,   weil  ihn 

"Die  Zeit",    "Stern"  und  "Frankfurter  Rundschau"  nicht  bringen,   son- 

dern  weil  das  Beispiel  von  Hans  Roth,   der  dann  als  Sozialarbeiter 

im  Jugendzentrum  arbeitete,  Mut  macht,    sich  nicht  unterkriegen  zu 

lassen. 

Es  sollte  auoh  Hinweis  und  Aufforderung  sein,    sich  aktiv  an  der 

Unterstiitzung     des  Russell-Tribunals  zur  Repression  in  der  BRD  zu 

beteiligen.    (siehe  Info  Heft  17) 


Anfang  Jul i   nahm  das  Bundesverfassungsgericht  die  Verfassungsbe- 
schwerde  des  Dekanatsjugendwartes  Hans  Roth  aus  Limburg  gegen  die 
"Weigerung  des  Landes  Hessen"  an,   "alle  im  Besitz  des  Landesamts 
fUr  Verfassungsschutz  befindlichen  Akten  liber  den  Beschwerdefuhrer 
dem  Verwaltungsgericht  Kassel   vorzulegen." 

Die  Geschiehte  begann  1969,  als  der  27-jahrige  Jurastudent  und 
Oberleutnant  der  Reserve  Hans  Roth  zu  einer  "Ernstfal  lu'bung"  einbe- 
rufen  wurde.   Der  Sohn  aus  politisch  aufgeschlossenem  Haus  -  der 
Vater  gehbrte  zu  den  Grlindungsmitgliedern  der  CDU  -  war  stark  be- 
riihrt  worden  von  der  seinerzeit  heftigen  Diskussion  urn  die  Verab- 
schiedung  der  Notstandsgesetze  und  erlebte  nun  als  Kompaniechef 
die  Aufstellung  von  Anti-Demonstranten-Zugen.   In  einem  Unterricht 
zu   "Befehl   und  Gehorsam"  erza'hlte  er  seiner  Kompanie  rundheraus, 
daB  ein  Befehl   zum  Einsatz  im  Innern  dem  Grundgesetz  widerspricht 
und  auch  den  Grundsatzen  der  inneren  F'u'hrung. 

Da  war  ein  Einschnitt,  Hans  Roth  nennt  ihn  seine  politische  Mensch- 
werdung.   Die  Arbeit  an  seiner  rechtsphilosophischen  Dissertation 
um  das  Thema  Recht  und  Menschenwlirde  flihrte  zur  Auseinandersetzung 
mit  der  Rolle  der  Bundeswehr  beim  inneren  Notstand.   Er  schickte 
seinen  Wehrpass  zuriick  und  wurde  ohne  Antrag  und  ohne  das  gesetz- 
lich  vorgeschriebene  Verfahren  als  Wehrdienstverweigerer  anerkannt, 
gleichsam  ernannt.   Er  brach    das  Jurastudium  in  Wiirzburg  ab,  enga- 
gierte  sich  in  der  Jugendarbeit  mit  Milieugeschadigten  und  begann 

-  16o  - 


1970  in  Giessen  Erziehungswissenschaften     zu  studieren,  Hauptfacher 
evangelische  Theologie  und  politische  Bildung. 

Er  engagierte  sich  hochschulpol itisch,  so  als  Sprecher  der  Fach- 
schaft  Gesellschaftswissenschaften.  Zwei   seiner  Professoren,  der 
Theologe  Hahn  und  der  als  Schulbuchautor  bekannte  Hi  11 i gen, schrie- 
ben  in  einem  Spiegel -Leserbrief  am  18.10.73:   "Roth  hat  wahrend 
seines  Studiums  in  Giessen  eine  engagiert  demokratische  Position 
vertreten,  aber  keinen  Aktionismus  gegen  die  universi tare  oder 

grundgesetz! iche  Ordnung In  persbnlichen  Gesprachen  konnten 

wir  nicht  nur  sein  feinsinniges  li terarisches  Empfinden  kennenler- 
nen,   sondern  eine  humane  und  padagogische  Grundeinstellung,  wie  man 
sie'sich  bei  mehr  Studenten  wiinschen  wurde."  Und  die  Theologin  Pro- 
fessor Dorothee  Soelle  schrieb  von  Roth  als  einem  "freiheitlichen 
Sozialisten,  der  die  Position  eines  demokratischen  Sozialismus  ver- 
tritt.   Das  bringt  ihn  in  klaren  Gegensatz  zu  den  Positionen  der 
DKP".   Hans  Roth  selbst  nennt  sich  in  einem  Schreiben  an  das  Ver- 
waltungsgericht Kassel  "libertarer  Sozialist,  der  dem  fortschritt- 
"lichen  Burgertum  zuzurechnen  ist  und  ein  starkes  Interesse  an  der 
Erhaltung  der  burgerlichen  Freiheitsrechte  in  unserem  Land  hat." 

Roth  schloB  sich  keiner  hochschulpoli tischen  Gruppe  an,  war  aber 
Mitbegriinder  einer  Burgerini tiative  fur  die  SPD  vor  der  1974er 
Landtagswahl   in  Hessen  und  flirtete  1971  mit  der  Kandidatur  flir 
den  Konvent  der  Giessener  Universit'a't  auf  Listen  zweier  kurzlebiger, 
parteiunabhangiger,  sozialistischer  Gruppen.  Deren  eine  war  die 
Verbindung  "Sozialistische  Front  Giessen  -  Spartakus" ,' nicht  zu 
verwechseln  mit  dem  heute  der  DKP  nahestehendem  MSB-Spartakus;  er 
wurde  noch  vor  der  Wahl  von  dieserListe  gestrichen,  weil  den  Wort- 
fLihrern  eine  Erklarung  Roth's  der  Solidaritat  mit  den  aufst'a'ndi- 
schen  Arbeitern  in  Pol  en  nicht  paBte. 

Roth  war  also  nicht  einer,   vor  dem  man  die  Verfassung     zu  schlitzen 
hatte,  eher  einer  der  vielen  Intellektuel len  unter  den  Studenten, 
die  sich  damals  engagierten  flir  die  Einlbsung  ihrer  Meinung  nach 
unerfullter  VerheiBungen  der  Verfassung.   Einem  konservati ven  Staats- 
versta'ndnis  mag  er  somit  Massen  unbequem  gewesen  sein.  Zuvor  aber 
war  er  unma'Big  unbequem,  als  er  mit  der  Offiziers-Laufbahn  brach. 
Das  zeigt  jedenfalls  die  einzigartige  Reaktion,  ihn,  der  keinen  An- 
trag gestellt  hatte,  als  Kriegsdienstverweigerer  anzuerkennen  unter 
Umgehung  des  gesetzma'Bigen  Verfahrens,  das  sicher  Aufsehen  erregt 
natte. 

Roth  erfuhr  Widrigkei ten,  die  er  dieser  Affa're  zuschrieb.   Es  wur- 
den  ihm  Warnungen  von  seiner  politischen  Unzuverlassigkei t  hinter- 
hracht    man  schlug  ihm  ein  Stipendium  aus.   Er  muBte  das  Lehrer- 
^tudium  mit  Fabrikarbeit  finanzieren.  Diese  Konfrontation  mit  der 
Rpalitat  des  Arbeiterlebens  bestimmte  wesentlich  die  Wendung  von 
christlich-humanitaren  zu  sozialistisch-humanitaren  Anschauungen. 
Trotz  dieser  Erschwernis  beendete  er  1974  das  Studium  "Mit  Aus- 
leichnung".   Er  hatte  sich  bereits  in  der  Nahe  des  ihm  als  Referen- 
Har  zugewiesenen  Schulorts  eingerichtet,  als  er  wenige  Tage  vor 
fjr  auf  den  1.8.74  angesetzten  Vereidigung  telefomsch  gebeten 
Jurde,  zwei  Tage  spa'ter  zu  einem  Gesprach  ins  Regierungsprasidium 
Kassel   zu  kotimen. 


161 


Man  muB  nun  erinnern,  daB  damals  in  Hessen,  wo  zur  gleichen  Zeit 
die  SPD  Wahlkampfanzeigen  in  alien  Tageszeitungen  verbffentlichte 
mit  dem  Motto  "Hessen  muB  frei   bleiben  von  Bespitzelung  und  Schnu'f- 
felei",  sogenannte  Anhbrungen  zur  Verfassungstreue  von  Bewerbern 
fur  den  b'ffentlichen  Dienst  noch  nicht  allgemein  bekannt  waren.   So 
erscheint  es  glaubhaft,  wenn  Hans  Roth  berichtet,  er  sei  zwar  etwas 
verdutzt  aber  ohne  weiteren  Arg  am  25.   Jul i  nach  Kassel   gefahren. 
Dort  erwarteten  ihn  zwei  Beamte,  die  inn  fast  zwei   Stunden  anhbr- 
ten  -  so  hei'Bt  das  amtlich  -,ihn  also  die  Kreuz  die  Quer  nach 
seinen  politischen  Anschauungen  ausfragten.  Und  sie  hielten  ihm 
aus  einer  liber  ihn  angelegten  Akte  vor: 

Flugblatter  belegen  seine  Kandidatur  1971  filr  Konventswahlen,  ein- 
mal   auf  der  Liste  "Sozialistische  Front  GieBen     Spartakus",  ein 
andermal   auf  der  Liste  BUMS.   Jawohl ,  BUMS!  Und  im  gleichen  Jahr  1971, 
so  berichtete  die  Oberhessische  Presse,   hat  er  in  einem  Vortrag 
vom  "System  organisierter  Friedlosigkeit"  gesprochen  -  sie  berich- 
tete nicht,  daB  Roth  damit  den  Leiter  der  hessischen  Stiftung  fiir 
Friedensforschung  Senghaas.zitiert  hatte.  Von  Roths  "Kriegsdienst- 
verweigerung"  war  aber  nicht  die  Rede.    Ende:   Herr  Roth  mbge  seinen 
Schul dienst  nicht  antreten,  er  werde  vom  Kultusminister  hbren. 

In  den  na'chsten  vier  Wochen  hbrte  Roth  zwar  nichts  vom  Kultusmini- 
ster, der  aber  urn  so  mehr  vom  empbrten  radikalen  Demokraten  Roth. 
Tags  darauf  schrieben  ihm  vier  Professoren  des  Fachbereichs  Reli- 
gionswissenschaften,   beschwerten  sich  liber  die  Verhbr-Prozedur  - 
ohne  vorherige  Information,  ohne  Beistand,  ohne  Protokoll   -  und 
uber  das  Aktenstlick,   "das  auf  in  einem  freiheitlich-demokratischen 
Rechtsstaat  unerhbrte  Uberwachung  schlieBen  la'Bt".   In  kurzer  Folge 
erhielt  der  Kultusminister  weitere  Protestbriefe,  so  vom  Dekan  des 
Fachbereichs  Gesellschaftswissenschaften  und  vom  Landesverband  der 
Jungdemokraten.   Er  konnte  wei ter  lesen:  ein  von  Roth  angefertigtes 
Gedachtnisprotokoll   der  "Anhbrung"  in  einer  padagogischen  Zeitschrift, 
eine  vom  sozialliberalen  Asta  am  11.8.   zum  Fall   Roth  herausgegebene 
Dokumentation,  Presseerklarungen  dieses  AStA  und  des  Landesverban- 
des  der  Jungdemokraten  am  14.   und  15.8.   -  und  so  manches  in  der 
hessischen  Presse. 

Das  reichte.   Der  Kultusminister  nahm  sich  des  Falles  an,  iiberprufte 
die  Anwlirfe  gegen  Roth  und  verfugte  dessen  Einstellung.   Doch  so 
einfach  ging's  nun  auch  nicht.   Wie  ASTA  und  Presse  aufdeckten,  wi- 
dersetzte  sich  der  Regierungspra'sident,  gab  die  Akte  nicht  welter, 
bis  der  Kultusminister  energisch  etn  zweites  Mai  verfugte.   Einen 
Monat  nach  der  "Anhbrung"  wurde  Hans  Roth  in  das  Beamtenverhal tms 
auf  Widerruf  iibernommen .  Fast  ein  Jahr  dauerte  es,  bis  der  Regie- 
rungspra'sident ihm  im  Juni   75  in  jener  Un-Sprache  bescheinigte, 
da,:    'an  seinem  Verhaltnis  zu  den  verfassungsma'Sigen  Prinzipien 
Zwei.->1  als  nicht  vorliegend  erachtet  werden."  Noch  langer  muBte 
Roth  insistieren,  bis  er  im  September  das  offizielle  Protokoll   der 
Anhbrung  erhielt. 

Aber  Roth  bekam  nun  seine  Widerborstigkeit  mannigfach  zu  spu'ren. 
■  Der  Kultusminister,  der  sein  Verhaltnis  zur  Biirokratie  ohnehin 
strapaziert  hatte,  stellte  gleichzeitig  mit  dem  Einstellungsbe- 
scheid  fest,  daB  Roths  Gedachtnisprotokoll   "in  krassem  Gegensatz 
zu  der  objektiven  Darstellung  des  Regierungspradienten"  stehe  und 
"erneut  Oberlegungen  uber  die  Frage  der  Einstellung  veranlaBt." 


-  162 


Der  Schulleiter  wollte  von  dem  "verkappten  Maoisten"  nichts  wis- 
sen,  der  Leiter  einer  anderen  Schule  erklarte  sich  schlieBlich  be- 
reit,   ihn  zu  nehmen.   Zufallig  unterrichtete  dort  Roths  Freundin, 
die  von  dessen  Versetzung  erfuhr  durch  eine  Diskussion  des  Lehrer- 
kollegiums  uber  diese  Laus  im  Pelz.   Der  Vorsitzende  der  Giessener 
CDU,  jetzt  Oberburgermeister  der  Stadt  Lahn,  erklarte  Roth  zum  Links- 
radikalen,  seine  Einstellung  zum  bffentlichen  Skandal ,  wie  auch 
die  El  tern  der  SGhuler  Roth's  am  31.8.74  in  der  Giessener  Allgemei- 
nen  Zeitung  lesen  konnten.  Den  solcherart  aufgebrachten  Eltern  muB- 
te  der  Schulleiter  am  11.9.74  erklaren,  daB  Roth  kein  Linksradika- 
ler  sei   und  daB.   solange  er  Schulleiter  sei,  "keine  Hexen  verbrannt 
werden." 

Roth  konnte  nun  erahnen,  was  ihn  weiter  an  Brandmarkung  und  beruf- 
lichen  Hindernissen  erwarten  werde.  Vielleicht  kann  nur  der,  dem 
Ahnliches  an  kaltschnauziaer  Ausspielung  von  Amtsmacht  widerfahren 
ist,  die  Riicksichtslosigkeit  gegen  sich  selbst  begreifen,  mit  der 
Roth  nun  sein  Recht  suchte:  am  10.  Oktober  1974  erhob  er  Klage  gegen 
das  Land  Hessen  auf  Vernichtung  seiner  Verfassungsschutzakte,  nahm 
also  einfach  die  VerheiBung  des  Rechtsstaates  ernst,  den  Burger 
gegen  den  Staat  zu  schlitzen.  Aber  Roth  ist  kein  Naiver,  er  wuBte, 
daB  er  allein  gestellt  einen  jahrelangen  MusterprozeB  begann  gegen 
einen  denkbar  Libermachtigen  Gegner,  noch  dazu  gegen  den  einziq  mbq- 
lichen  Arbeitgeber  eines  zuklinftigen  Lehrers. 

Ehe  der  Klage  stattgegeben  wurde,  muBte  Roth  beweisen,  daB  er  auf 
dem  Verwaltungsweg  die  Vernichtung  der  Akte  nicht  erreichen  kann. 
Nach  fast  zwei  Jahren,  im  August  76,   kam  es  dann  zur  Verhandlung 
beim  Verwaltungsgericht  Kassel.  Der  Leiter  des  hessischen  Landesam- 
tes  fur  Verfassungsschutz  legte  die  Roth  sei  t  der  Anhbrung  bekann- 
ten  drei   Dokumente  vor  und  erklarte  zunachst,  es  seien  keine  weite- 
ren Akten  vorhanden.   Peinlich  nur,  daB  die  Dokumente  in  Erfullung 
der  preuBischen  Aktenordnung  mit  den  Seitenzahlen  26-30  versehen 
worden  waren.   Das  Gericht  verlangte  die  Vorlage  der  gesamten  Akte; 
als  dies  verweigert  wurde,  forderte  es  vom  Innenminister,  durch  eides- 
staatliche  Versicherung  an  Hand  des  konkreten  Inhalts  der  Akten 
qlaubhaft     zu  machen,  daB  die  Verweigerung  gerechtfertigt  ist.   Der 
Staatssekretar  gab  kurz  darauf  diese  eidesstattliche  Versicherung 
ab     aber  statt  sich  auf  den  konkreten  Inhalt  zu  beziehen,  stellte 
er'kurzerhand  fest,  daB  Akten  des  Verfassungsschutzes  "ihrem  Wesen 
nach  geheim  gehalten  werden  mlissen."  Daraufhin  verpfl  ichtete  das  Ge- 
richt den   Innenminister  in  einem  Zwischentjesc.heid  am  9.9.76,  die  ge- 
samte  Akte  vorzulegen.  Auf  die  Berufung  des   Innenmimsters  hin  hob 
der  hessische  Verwaltungsgerichtshof  diesen  BeschluB  des  Verwaltungs- 
nprichts  auf.   Dagegen  richtet  sich  Roth's  Verfassungsbeschwerde. 
Im  abgetrennten  Teil   der  Klage  entschied  das  Verwaltungsgericht 
Kassel   durch  ein  vielbeachtetes  Urteil   vom  13.1.77,  daB  die  bereits 
worqelegten  Aktenstucke  vom  Landesamt  fur  Verfassungsschutz  zu  ver- 
nirhten  seien.   Das  sehr  ausflihrliche,  in  seiner  Art  in  der  Bundes- 
reoublik  einmalige  Urteil  wurdigt  zunachst  Hans  Roth,  der     uberzeu- 
aend  dargelegt"  habe,  daB  die  fraglichen" Akten  wegen  ihrer  Zufallig- 
TJlt  einen  bereits  fur  die  damalige  Zeit  nicht  zutreffenden  Eindruck 
uprmitteln".   Das  Gebot  der  Vernichtung  wird  damit  begrUndet,  daB 
^Akten  fur  die  Erfullung  des  Schutzauftrages  nicht  mehr  relevant 
find  und  mit  dem  Grundsatz  der  Verhal  tnisrraBigkei  t,  nach  dem  bei 

-   163  - 


Beschrankung  von  Grundrechtspositionen  nur  das  unbedingt  Notwendi- 
ge  angeordnet  werden  durfe.   Das  Gericht  verweist  dabei   auf  das  "aus 
der  Menschenwurde  ableitbare  Prinzip  der  Freiheit  von  Furcht." 
Daruber  hinaus  aber  argumentiert  das  Gericht  generell,  daB  eine 
Mitwirkung  des  Verfassungsschutzes  bei   der  Prufung  der  Verfassungs- 
treue  von  Bewerbern  fiir  den  bffentlichen  Dienst  bereits  durch  das 
hessische  Verfassungsschutzgesetz  ausgeschlossen  sei. 

Naturlich  hat  der  Innenminister  auch  gegen  dieses  Urteil  Berufung 
eingelegt;  iiber  sie  ist  noch  nicht  entschieden.  Marburger  Partei- 
freunden,   unter  ihnen  Roth's  als  FDP-Stadtverordneter  aktiven  An- 
walt  Peter  Becker,  erlauterte  er  Ende  Febru^r,  er  habe  nichts  gegen 
das  Urteil   einzuwenden,  branche  aber  hbchstinstanzliche  Absicherung. 
Die  Pressekommeritare  zu  diesem  Aufsehen  erregenden  Urteil   fielen 
aus  wie  vorauszusehen.   Die  Frankfurter  Rundschau  wahlte  als  Dber- 
schrift  "Mutige  Richter",  der  FAZ  erschien  das  Urteil   "bedenklich" 
und  laut  Bayern  Kurier  erbffnet  es  "den  Staatsfeinden  den  Weg  in 
den  Staatsdienst. " 

Es  ist  acht  Jahre  her,  seit  Hans  Roth  seiner  Kompanie  Verfassungs- 
unterricht  gab,  seit  drei  Jahren  prozessiert  er,  und  er  muB  sich  noch 
auf  Jahre  einrichten.   Wie  lebt  einer,  der  den  Rechtsstaat  so  radikal 
beim  Wort  nimmt? 

Wahrend  der  Referendarzeit  standig  aggressivem  Mi'Btrauen  ausgesetzt, 
hatte  Roth  bald  nach  der  ersten  Welle  in  die  dffentlichkei t  getra- 
genen  Protestes  gelernt,  sich  zuriickzuhalten.  Da  hatte  es  Anrufe 
beim  Schulleiter  von  Eltern  gegeben,  die  ihr  Kind  nicht  von  diesem 
"Kommunisten"  unterrichtet  wissen  wollten,  jemand  lieB  seir  Kind 
Stenographie  lernen,   "damit  es  im  Unterricht  alles  mitschreiben 
kann".   Im  Lehrerkollegium  war  Roth  so  sehr  Unperson,  daB  seine 
Freundin  seit  der  Versetzuna  an  einen  anderen  Schulort  dort  ihre 
Beziehung  verschweigt.   Das  Kcllegium  setzte  beim  Schulleiter  5  Mo- 
nate  lang  die  Zuruckhaltung  eines  Briefes  durch,  in  dem  zwei   Schul- 
klassen  den  Kultusminister  baten,  Roth     nach  Ablauf  der  Referendar- 
zeit als  Lehrer  behalten  zu  durfen. 

Die  Behbrden  reagierten  mit  Nadelstichen,  wie  etwa     die  Vorga'nge 
urn  Roths  zweite  Staatsprufung  zu  Ende  der  Referendarzeit  im  Januar 
76  verdeutlichen:  Den  Auftakt  bildete  eine  Mitteilung  des  Regie- 
rurigsprasidenten,   zwei  Wochen  vor  der  Prufung,  daB  Roth  mangels 
freier  Planstelle  nicht  eingestellt  werden  kbnne.  Weiter  die  Nach- 
richt,  daB  wegen  des  "exponierten  Falles",  abweichend  von  der  u'bli- 
chen  Regelung  ein  vom  Regierungsprasidenten  nominierter  Beamter  den 
Vorsitz  fuhrt'.   Weiter  die  Nachricht,daS,  entgegen  der  Pru'fungsord- 
nung,  einem  etwaigen  Antrag  auf  Zulassung  von  Gasten  nicht  entspro- 
chen  werden  kbnne.  Weiter  wird  der  als  Prufer  vorgesehene  Betreuer 
seiner  Examensarbeit  -  die  verschwunden  war  und  blieb  -  durch  einen 
Roth  Unbekannten  ersetzt.  Der  zahe  Roth  behielt  die  Nerven,  wie_ 
die  Noten  "sehr  gut"  fur  sowohl   die  schriftliche  als  auch  die  mund- 
liche  Prlifung  ausweisen.   Das  brachte  nur  die  Gesamtnote  "gut"     we- 
gen der  in  den  Unterrichtsstunden  beobachteten     "didaktischen  Ein- 
seitigkeit",  wie  der  im  Sonderverfahren  bestellte  Vorsitzende  fest- 
stellte;  zwei  Professoren,  die  trotz  Vorwarnung  die  Zulassung  als 
Gaste  beantragt  hatten,  ha'tten  zu  dieser  Feststellung  etwas  sagen 


164  - 


kbnnen,  ware  ihnen  nicht  ohne  weitere  BegrLindung  die  Zulassung  ver- 
weigert  worden. 

Seit  Ende  der  Referendarzeit  im  Januar  76  ist  Roth  nicht  mehr  Leh- 
rer.  Er  bewirbt  sich  regelmassig,   in  seinem  Hauptfach  Theologie  man- 
gelt  es  an  Lehrern.   Im  Mai  76  stellte  ihn  die  evangelische  Kirche 
in  Limburg  auf  Drangen  mehrerer  Professoren  als  Sozialarbeiter  fur 
die  Jugendbetreuung  ein.  Aber  Roth  wird  in  Kurze  arbeitslos  sein, 
er  hat  gekundigt.   Warum? 

Man  las  in  der  Nassauischen  Landeszeitung  vom  20.5.77,  tags  drauf 
werde  in  Limburg  ein  Friedensfest    veranstaltet  von  der  internatio- 
nalen  katholischen  Friedensbewegung  "Pax  Christi"  und  dem  Bistum 
Limburg.   Es  f'a'nden  dabei   auch  StraBendiskussionen  statt  zum  Thema 
"Kriegsdienstverweigerung  oder  Militardienst" ,  an  denen  sich  u.a. 
der  "Oberleutnant  der  Reserve  und  Kriegsdienstverweigerer  Hans  Roth" 
beteilige.  Aber  tags  drauf  las  man  in  der  gleichen  Zeitung  unter 
der  Oberschrift  "Nicht  mit  Hans  Roth",  daB  diese  Diskussion  abge- 
blasen  war.   Roths  politische  Vorgeschichte  hatte  ihn  nun  auch  in 
Limburg  eingeholt,  wo  er  -  gewarnt  durch  Erfahrungen  und  durch  die 
Vorgesetzten  -  ein  Jahr  lang  jeden  privaten,  beruflichen  oder  gar 
bffentlichen  Bezug  auf  eben  diese  Geschichte  vermieden  hatte.    Er 
hatte  auch  zunachst  die  Beteiligung  an  der  StraBendiskussion  abge- 
lehnt  und  sich  erst  nach  langerem  Drangen  breitschlagen  lassen. 

Ich  haben  den  streitbaren  Hans  Roth  kurzlich  kennengelernt.   Er  blick- 
te  so  grimmig,  wie  ich  das  erwartete  von  einem  der  sich  seit  Jahren 
standig     bei   ungesicherter  Existenz  seiner  Haut  wehrt  und  der  dabei 
nicht  auf  Partei,  Gruppe,   Kegelclub,  Nachbarschaft,   Kollegen,  nur 
auf  wenige  Freunde  zahlen  kann.  Den  grimmigen  Blick  hi  el  t  er  durch, 
bis  von  den  Sommerferien  geredet  wurde;  da  wird  er,  wie  jedes  Jahr, 
wandern  -  halt  jemand,  der  sich  mit  34  Jahren  noch  kein  Auto  leisten 
kann.   Offenbar  verhilft  die  sukzessive  Beschaftigung  mit  einer  Dis- 
sertation urn  Recht  und  Menschenwurde,  mit  Theologie  und  mit  sozia- 
len  Randgruppen  zu  der  Gelassenheit,  nicht  rundum    zu  schlagen, 
wenn  man  gebissen  wird,  und  zu  der  Wurde,  seinerseits  inner  wieder 
die  Za'hne  zu  zeigen.   Es  bleibt  ihm  ein  schwer  auf zuarbei tender  Rest: 
Hans  Roth  ka'mpft  gegen  Burokratie  und  Verfassungsschutz  nicht  urn 
abstraktes  Recht,  sondern  urn  seine  konkrete  Wurde,  aber  er  setzt 
sich  dabei  zwangslaufig  auch  fur  die  ein,  denen  er  ein  bedrohlicher 
Aussatziger  bleibt,  ein  "Kommunist",  dem  man  seine  Kinder  nicht  an- 
vertrauen  kann. 

Auch  der  Verfassungsschutz  hat  im  ProzeB  nicht  behauptet,  Roth  sei 
linksradikal,   Kommunist,  Verfassungsfeind;   der  Regierungsprasident 
muBte  ihm  Verfassungstreue  bescheinigen.  Wie  denn  machen  es  die 
amtlich  oder  selbsternannten  Huter  unserer  freiheitlichen  demokra- 
tischen  Grundordnung  nur,  Unbequeme  wie  Hans  Roth  -  letztlich  eine 
halbe  Generation  Studenten  -  mit  der  Aura  politischer  Aussatzig- 
ke  t  zu  umgeben?  Nun,  neben  solchen  bffentlichen  Schimpfkanonaden 
wie  die  zitierten  des  Giessener  CDU-Vorsitzenden  gibt  es  subtilere 
Methoden,  wie  die  auf  gute  Sitten  haltende  FAZ  anlaBlich  eines 
vierspaltigen  Kommentars  zum  Kasseler  Urteil   demonstnerte:   In 
I  ner  urafanglichen  Eingabe  an  das  Venraltungsgencht  hatte  Roth  auf- 
gezeigt  und  belegt,  warum  er  kein  Kommunist  ist,  in  Gegenteil   schar- 

-  165  - 


fe  Auseinandersetzungen  mit  Kommunisten  gefuhrt  hat.  Aber  der  red- 
liche  Roth  stellte  darin  auch  fest,  daB  viele  ihm  bekannte  Kommu- 
nisten  die  biirgerlichen  Freiheitsrechte,  das  Grundqesetz  ebenfalls 
ernst  nehmen.   Diese  Passage  pickte  die  FAZ  treffsicher  als  einziges 
Charakteristikum  der  politischen  Einstellung  Roth's  heraus  und  stel- 
lte dahin,  ob  jemand  mit  solcher  Arschauung  wohl   ein  "geeigneter 
Lehrer  fur  politische  Bildung  und  evangel ische  Theologie  ist?" 
Das  sitzt  hierzulande,  wo  doch,  ob  nun  aus  Bild  oder  Bayernkurier, 
jeder  weiB,  was  Pluralismus  ist  und  daB  ein  anstandiger  Mensch 
nicht  mit  Kommunisten  umgeht. 

Max  Gu'de  schrieb  ku'rzlich,  am  5.  Juli,  in  der  Stuttgarter  Zeitung 
unter  der  Oberschrift  "Wir  brauchen  Vertrauen  in  die  Freiheit"  . 
von  den  armen  Burokraten,  die  ihr  Bild  vom  Kommunismus  "gleich  einer 
tibetanischen  Gebetsmlihle  reproduzieren."  Und  weiter:    "Man  fragt 
liberal  1,  ob  unser  Staatsschutzrecht  auf  den  gemeinsamen  legitimen 
Grundlagen  des  freien  Europa  beruht,  das  die  Abwehr  einer  konkreten 
Gefahr  voraussetzt,  oder  ob  bei  uns  ein  RLickfall    in  nationalsozia- 
listische  Unterdrlickung  der  Gesinnung  stattfindet".   Und  schlieBlich: 
"Wenn  man  liest,  daB  seit  1972  etwa  funfhunderttausend  bis  sechs- 
hunderttausend  Bewerber  einer  politischen  Zuverlassigkeitspriifung 
unterzogen  worden  sind,   so  weiB  man,  daB  diese  Prufungen  in  ihrem 
Ergebnisunglaubwlirdig  gewesen  sein  miissen." 

Max  Glide  mag  wissen,  wovon  er  spricht:   als  gehemaliger  CDU-Abgeord- 
neter,  der  dem  BundestagsausschuB  fur  Strafrechtsreform  vorsaB, 
als  ehemaliger  General bundesanwalt  und  als  heutiger  Betroffener, 
der  seinem  Sohn  im  Kampf  gegen  Berufsverbot  die  Stange  halt. 

Wieviele  muB  es  noch  betreffen,  bis  unsere  obrigkeitsstaatlich 
orientierte  Tendenzwende  gestoppt  wird? 


KLEINANZEIGEN 


Suche  Adressen  und  Material  zum  Thema  "Therapeutische  wohngruppen 
innerhalb  oder  auBerhalb  psychiatrischer  Institution^  bzw.  Uber- 
gangs-  oder  Resozialisierungswohnheim" .  Gabi  Dingerdissen,  Mader- 
gasse  3,  74  Tubingen  ,  .   1Q7ft 

Zentrale  Fortbildung  der  Arbeiterwohlfahrt  Januar  -  Jum   iy/o 
anfordern:   AWO,    P-stfach  1149,   53  Bonn 

Mainzer  Sozialreport  Nr.   2  berichtet  Liber  38  Seiten  uber  Jugend- 
zentren,  weitere  Themen:   Privatisierung, Prostitution.   115  seiten. 
Gegen  Voreinsendung  von  DM  3,5o  bei  Albert  Hbhner,  Rhabanusstr. 14 
65  Mainz  zu  beziehen. 

Tagung  des  Gustav-Stresemann-Institut  vom  12.-17.12.77  zum  Thema 
Gewalt  gegen  Kinder  und  Jugendliche  -  Gewalt  von  Kindern  und  Jugend- 
lichen.   Nahere  Informationen:  Haus  Lerbach,  5o6  Bergisch  Gladbach  2 
Ab  1.2.77  Stelle  fur  Erzieherin  in  Lern-  und  Spielstube(Auslander- 
und  deutsche  Kinder)   in  Darmstadt  f rei .   Anfragen  unter  Chiffre  11/21 
an  Sozialistisches  Bu'ro 
■  Berufstatige  Sozialpa'dagogin  (23J)   sucht  ab  1.1.78  oder  spa'ter  im 
Raum  Goslar/Harz  WG  oder  Leute,  die  Interesse  am  Zusammenwohnen 
haben.   Christine  v.  Ahlften,  Schocel  redder  13,  23  Altenkolz 


REDAKTIONSMITTEILUNG 


Auf  den  Monat  genau  5  Jahre  sind  vergangen.    Im  November  1972  erschien 
das  erste  Heft  des   Info  Sozialarbeit  mit  dem  Thema  "FUrsorgeerziehung". 
Vor  5  Jahren  haben  wir  dieses  Thema  bewuBt  geplant,  waren  doch  im 
Heimbereich  die  Widersprliche  am  scharfsten  hervorgetreten(und  wurde 
hier  die  Diskussion  urn  radikale  Veranderungen  der  institutionalisierten 
Sozialarbeit  mit  Vehemenz  betrieben. 

DaB  wir  heute  wieder  diesen  Bereich  als  Schwerpunktthema  behandeln, 
war  nicht  bewuBt  geplant,  aber  es  ist  sicher  auch  kein  Zufall,  werden 
doch  heute  wieder  Konzeptionen  der  Heimerziehung  diskutiert  und  umge- 
setzt,   von  denen  wir  glaubten,  sie  gehbrten  der  Vergangenheit  an. 
Wir  stehen  nicht  vor  einer  neuen  Heimkampagne,  aber  heute  wie  damals 
ist  der  Kampf  gegen  geschlossene  Heime  -  wie  pa'dagogisch-therapeutisch 
verbramt  sie  diese  uns  verkaufen  wollen  -  als  Kampf  gegen  eine  per- 
vertierte  unmenschliche  Sozialarbeit  aufzunehmen. 

Zwischen  dem  1.   Heft  und  dieser  18.  Ausgabe  liegen  Jahre  des   politi- 
schen    Aufbrauchs  der  Sozialarbeiter,  Jahre  der  Hoffnuhgen,   der  Reali- 
sierung     von  Veranderungen,  der  Enttauschungen  und  der  Niederlagen; 
die  politische  Landschaft  hat  sich  stark  verandert,  das  politische 
Geschaft  der  Linken  ist  schwieriger  geworden. 

Mit  dem  Info  haben  wir  in  dieser  Zeit  versucht.verschiedene  uns  wich- 
tig  erscheinende  Bereiche  zu  untersuchen,  Erfahrungsprozesse  zu  ver- 
mitteln,   Orientierungen  zu  geben,  Unterstlitzungsarbeit  zu  leisten, 
Diskussionsforum  zu  sein  und  organisierend  zu  wirken  (Sozialistische 
Aktion/Jugendpolitisches  Forum/Antirepressionskongress^um  nur  einige 
Beispiele  zu  nennen,  an  denen  wir  mitgearbeitet  haben). 

Der  Leserkreis  hat  stetig  zugenommen,  ebenso  die  aktive  Mitarbeit  von 
Gruppen  und  Einzelnen  im  Redaktionskollektiv.   Gemessen  an  unserer 
Wirkungsmdglichkeit  sollte  man  dies  aber  nicht  uberbewerten.  Viele 
Leser  haben  uns  auch  wieder  den  Riicken  gekehrt;  vielleicht  well   lhnen 
die  politische  Richtung  nicht  passte  oder  nicht  klar  genug  war, viel- 
leicht weil   sie  sich  auf  ein  "Oberwintern"  eingerichtet  haben,  viel- 
leicht weil   ihnen  die  Aktualitat  fehlte.   Letzterem  wird  nun  seit 
einem  Jahr  abgeholfen,  monatlich  erscheint  pad.  extra  Sozialarbeit, 
an  deren  Aufbau  wir  uns  beteiligen.   Hier  wird  allerdings  demnachst 
Hie  Form  der  Zusammenarbeit,  die  verschiedenen  Funktionen  beider 
Publikationsorgane  tu  diskutieren  sein,  urn  unnbtige  Oberschneidungen 

Finerdar/der  Leser  aber  gewiB  sein,  auch  in  Zukunft  werden  wir  an 
den  Prinzipien  unserer  bisherigen  Arbeit  -  Parteilichkeit  mit  den 
Retroffenen  -  Offenheit  in  der  politischen  Diskussion  -  differenzierte 
Ana^se  und  die  Entfaltung  sozialistischer  Politik  als  ein  Eintreten 
Sr  Veranderungen  in  alien  gesellschaftlichen  Bereichen  «ur  Emanzi- 
pation  des  Menschen  von  herrschenden  Zwangen  -  festhalten. 

-  167  - 


kte 


Wir  wunschen  uns,  daB  der  Info  nicht  nur  gelesen  wird,  sondern  die 
Leser  noch  starker  al  s  bisher  aktiv  an  seiner  Gestaltung  mitarbeii- 

Der   Info  wird  von  Praktikern  gemacht,   es   sind   keine  Zei tungsprof is » 
d.h.  wir  mussen  dem  mit  unterschiedlichen  Produktionsweisen  Recrnu  a 
tragen,mal   wird  der  Info  von  einer  ortlichen  AKS-Gruppe  erarbeitei. 
(z.B.    Heft  8  "   Reform  und  Reformismus   "),  mal   entsteht  er  aus.dh!=its- 
Zusammenarbeit  von  Gruppen  und  Einzelnen,  die  sich  aus  einem  ArDe 
seminar  ergibt   (z.B.   dieses  Heft)   oder  dokumentiert  den  Diskussioi 
prozeB  der  AKS-Gruppen  (z.B.    Heft  16  "Gewerkschaftsarbeit")-        .     . 
Dabei  muB  aber  auch  einkalkul iert  werden,  daB  ein  Heft  einmal   nicn 
wie  geplant  erscheint.    So  geschehen  mit  dem  Thema   "Altenarbeit   • 
Die  Gruppe,  die  die  Vorarbeiten  und  die  Koordination  Ubernehmen  so i 
te,     war  letztlich  nicht  mehr  arbeitsfahig.  ..  h.ten 

Damit   ist  aber  das  Thema  nicht  vom  Tisch,   wir  werden  auf  der  risen* 
Redaktionssitzung  u'berlegen,  wie  die  Realisierung  sichergestellt 
werden  kann.  c 

Wir  legen  daher  mit  dieser  Ausgabe  eine  Doppelnummer  vor     in  der    ° 
fnung,  daB  die  Beitrage  auf  ein  groSes  Interesse  stoBen. 

Das  nachste  Heft  wird  dann  im  1.   Quartal    1978  erscheinen. 

Fur  das  1.    Halbjahr  1978  haben  wir  uns  folgende  Arbeitsschwerpun 
vorgenommen 

I  ARBEITSSEMINARE 

-  Thema:  Ausbildungssituation 

-  Thema:  Arbeit  in  der  Fami  1  ienfiirsorge 

I  INFO  SOZIALARBEIT  -  THEMENSCHWERPUNKTE 

-  Heft  19:  Jugendhilferecht/Auseinandersetzung  mit  untersc 

lichen  Konzepten  der  politischen  Organisierung 

-  Heft  2o:  Ausbildungssituation 

-  Heft  21:  Fami  1  ienfiirsorge 

-  weitere  Themen,  zu  denen  mit  den  Vorarbeiten  begonnen  wird 
Arbeit  mit  Kindern  -  Justiz  und  "Resozialisierung"  -  Altera 

I  AKTIONEN 

-  Hitarbeit  an  der  SB-Initiative  gegen  kapitalistische  Arbeits- 
platzvernichtung  und  Existenzbedrohung 

-  6.   Deutscher  Jugendhilfetag   in   Koln(im  nachsten  Heft  werden  wir 
dazu  unsere  Einscha'tzung  und  Vorschla'ge  fur  die  Vorbereitung  v 
legen) 

Wer  mitarbeiten  mochte,  wende  sich  an  das  Redaktionskollektiv  lnf°i 
Sozialarbeit   im  Sozialistischen  Bliro,   Postfach   591,   6o5  Offenbach 
oder  an  eine  der  nebenstehenden  AKS-Gruppen. 

Redaktionskollektiv   Info  Sozialarbeit 
15.   November  1977 


hied- 


rbeit 


THEMEN: 

•  JUGENDHILFERECHT 

*  JUGENDHILFETAG  1978  • 
*  INTERESSEN  UND  ORGANISATION  • 


*  GENUSSFILZE  IM  KAMPF  UM  DIE  ARBEITSPLATZE  • 

•  GEWERKSCHAFTSARBEIT  IN  DEN  KIRCHEN  * 
•  KURZBERICHTE/KLEINANZEIGEN* 


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