• Dipl.Sozialpadagogin mlt therapeutischen Kenntnissen(l Jahr Berufs-
praxis) sucht eine Stelle moglichst in einer Beratungseinrichtung im
Rhein-Neckar-Gebiet. Jutta Steen, Elisabethstr.il, 68 Mannheim
• 2 Diplom-Padagogik Studentinnen mit gerade bestandenem Vordiplom
suchen "lieber gemeinsam, oder auch getrennt ab Mitte Oktober 1977
eine halbjahrige oder ganzjahrige Praktikantinnenstelle im Raum
Su'ddeutschland. Bisherige Praxis: 1 Jahr Kinderarbeit in einer Ob-
dachlosensiedlung. Wir ha'tten gerne eine Arbeit in Jugendzentren,
Stadtteilarbeit, Resozialisierungsbereich oder alternative Projekte.
Zuschriften an: Ellen Krauser, Hauptwachstr. 4, 86 Bamberg.
ARBEITS-/WOHN- UND FREIZEITKONTAKTE
t Wir haben auch am langerfristigen Zusammenl eben Interesse. Wir
sind bisher 4-5 Leute, die nach Abschlu(3 des Studiums vorhaben,
auSerinstitutionelle Kinder-, Ougend- und Sozialarbeit mit Land-
wirtschaft in Verbindung zu bringen. In unserer Al tbauwohniing sind
noch zwei Zimmer frei. Kontakt Christoph nach 19.00 Uhr 05309/5500.
I Hollander sucht fur das Stdudienjahr 1977/78 ein Zimmer in Dlissel-
dorf, vorzugsweise in einer Wohngemeinschaft. Harrie Mazeland,
St. Annastr. 79, Nimwegen/Holland, Tel. 080"- 220483.
I Student, 23 J. sucht zum Spatsommer Platz in einer Wohngemeinschaft
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2 einhalbzimmer frei, Haus in Schwalbach bei Frankfurt, Nahe S-Bahn.
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I Wer kann Strafgefangenen bei der Finanzierung einer Ausbildung
liber Fernkurse beni It'll ch sein? H. Adolf Hammer, Limburger Str. 122,
6252 Diez.
• Wir, Soz.pad. (22w) und Stud. Germ/Phil. (24m) suchen Paar, welches
mit un's im Raum Dortmund Wohngemeinschaft aufbauen mochte. R. Oshege,
Oespeler Dorfstr. 3, 46 Dortmund 76.
• Wir, 2 Dipl.-Pads(26), suchen Leute im Raum MA/HD-auch mit Kindern-,
die mit uns eine Wohngemeinschaft grlinden wollen. Jutta/Rainer Steen
Elisabethstr.il, 68 Mannheim. Telf. o621/4o 24 92
MATERIALIEN GESUCHT
• Thema: Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung. Unkosten werden
erstattet. Klaus Kucharski, Wredestr. 2, 3 Hannover 0511/808578.
I Thema: Theorie- und Praxisberichte zur Obdachlosenarbeit
Kindercentrum Riemekepark, Schulstr. 35, 479 Paderborn.
I Thema: Frauenwohnheime/Frauenhauser
Betinna Hinz-Dietrich, Rheinstr. 117, 62 Wiesbaden.
I Thema: Alternative Projekte im Bereich der psycho-sozialen Versor-
gung - Anne Sensmeyer, Babenend 5, 29 Oldenburg, Tel. 0441/681948.
• Repression an Schwule in der BRD und Material Liber die ehem.
Rotzschwul - Rote Schwule Fraktion, Postfach 10 05 43,
42 Oberhausen 1 .
• Kursbuch Nr. 22 und 25
Wolfgang Radtke, Schefflerstr. 23, 33 Braunschweig, Tel. 0531/692526.
• Thema: Frauenwohngemeinschaften.
• Thema: Einflihrung in die Arbeitsweise des Schu'lerreferats in einer
10. Klasse des Gymnasiums im Fach Englisch.
Rolf Lappenbusch, Lemgoerstr. 77, 4937 Lage-Lippe, Tel . :05232/61 708.
I Berichte, Dokumentationen, Flugblatter etc. zu Schlilerstreiks
Sigrid Meurer, Braker Str. 55, 48 Bielefeld 16.
INFORMATIONSDIENST
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SOZIALARBEIT
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^ V ^B if , W X WIDERSTAND
Jf /^S^Wr \ GEGEN
^GESCHLOSSENE
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HEIME Jf^
HEIMERZIEHUNCN^^/A^
KIUTIK UNDALTERNATIVEN
Ausserdem: Selbstbestimmung und der Weg dorthin *
Arbeit im Jugendzentrum * Der Fall Hans Roth *
18
Offenbach im November 1977
Doppclnummer - Preis DM 8,--
*?n
yf^^
Dieser Informationsdienst Sozialarbeit wird im Sozialistischen Biiro
von Gruppen, die im Sozialisationsbereich arbeilen, herausgegeben.
Der Info dient der Kommunikation und Kooperation von Genossen, die mit
sozialistischem Anspruch im Feld der sozialen Arbeit tatig sind. Der Info enthalt
neben einem Schwerpunktthema Darstellungen iiber die Organisationsmodelle
und Basisaktivitaten sozialistischer Sozialarbeiter/-padagogen, Erzieher etc.,
Kurzberichte, Informationen und Analysen aus dem Sozial- und Gewerkschafts-
bereich sowie Materialien, Hinweise, Stellenangebote und Kleinanzeigen.
Folgende Hefte sind noch Iieferbar:
HEFT 5: ZUR ORGANISIERUNG IM SOZIALBEREICH (lo4 Seiten, DM 5,--)
HEFT 7: JUGENDHILFETAG-SOZIALISTISCHE AKT10N (So S., DM 4, -)
HEFT 8: REFORM UND REFORMISMUS ALS PROBLEM PRAKTISCHER
POLITIK IN DER SOZIALARBEIT (72 Seiten, DM 4,-)
HEFT 9: SOZIALARBEIT IN JUGENDZENTREN ( 96 Seiten, DM 5, -)
HEFT lo: KNAST UND SOZIALARBEIT (64 Seiten, DM 3,5o)
HEFT 11: INSTITUTIONELLE PROBLEME STADTTEILBEZOGENER
SOZIALARBEIT ( 64 Seiten, DM 3,5o)
HEFT 12: INSTITUTIONELLE PROBLEME STADTTEILBEZOGENER
SOZIALARBEIT - TEIL II (8o Seiten, DM 4,~)
HEFT 13: JUGENDARBEIT - JUGENDARBEITSLOSIGKEIT (96 Seiten.DM 5,-)
HEFT 14: ALTERNATIVE PSYCHIATRIE (8o Seiten, DM 4,-)
HEFT 15: STUDIUM UND BERUFSPRAKTIKUM (88 Seiten, DM 5,--)
HEFT 16: GEWERKSCHAFTSARBEIT IN DER OTV ( 88 Seiten, DM 5,-)
HEFT 17: KINDERGARTENARBEIT (96 Seiten, DM 5,~)
Herausgeber: Sozialistisches Biiro
Postfach 591, 6o5 Offenbach 4
Verleger: Verlag 2ooo GmbH Offenbach
Erste Auflage: November 1977, 5ooo Exemplare
Alle Rechte bei dem Herausgeber
Vertrieb: Verlag 2ooo GmbH, Postfach 591, 6o5 Offenbach 4
Postscheck Frankfurt Nr. 61o41 ■ 6o4
Preis: Doppelnummer DM 8,--
bei Abnahme von mind, lo Stiick 2o% Rabatt
Weiterverkaufer (Buchladen.Buchhandel) 4o% Rabatt
jeweils zuziiglich Versandkosten
Das Info kann auch im Abonnemcnt bezogen werden. Bezugsgebiihren fiir
das Jahr 1977 ( Heft 16 - 18 ) DM 15,-- und DM 2,8o Versandkosten
Verantwortlich: Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit
Presserechtlich verantwortlich: Giinter Pabst Offenbach
Karikaturen: S.5o von Bernd Kruerke und S.78/84/85/87 aus Betrifft Sozialarbeit I
Beilage: Biicherhste Willi Miinzenberg Versand
Druck: hbo-Druck Einhausen
INFO SOZIALARBEIT, HEFT 18
I N H A L T
Vorbemerkung zu dieser Ausgabe
SCHWERPUNKTTHEMA: HEIMERZIEHUNG
Aufruf zum 2. Heimerziehertreffen
Protokoll vom AbschluBplenum des 1. Heimerziehertreffen
Autorenkollektiv
Gedanken iiber unser Leber) im Heim
- von Kindern und Erziehern
Erhard Wedekind, Kbln
Heimstruktur und Erziehersituation
- Eine Problemskizze verwalteter Zwischenmenschlichkei t
Erfahrungen mit einer Betriebsgruppe im Heim
Berichte aus totalen Institutionen
- Heim
- Psychiatrie
- Jugendgefangnis
Erklarung
Kanipf gegen geschlossene Heime
Alternativen zur totalen Institution
Jugendliche vom Klever Hof
Der Kampf gent weiter
Elisabeth Glucks, Munster
Koordination der Wohngemeinschaften
Autorengruppe
Berliner Gesellschaft fiir Heimerziehung - Eine Heraus-
forderung fiir die institutionalisierte Sozialarbeit
Ki nderschutz-Zentrum .Westberl i n
Bevblkerungsnahe Familienhilfe
Seite 3
Seite 6
Seite 7
Seite 17
Seite 35
Seite 51
Seite 55
Seite 55
Seite 57
Seite 58
Seite 61
Seite 65
Seite 65
Seite 73
Seite 79
Seite 91
Werkschule Westberlin
Konzept einer berufsorientierten padagogischen Werkschule Seite lo3
Manfred Rabatsch, Westberlin
Jugendfiirsorge- Kontroll- und Eingriffsinstrument
des blirgerlichen Staates in Arbeiterfamilien Seite lo9
1. Von der Heimkampagne zur Reformdiskussion
des Jugendhilferechts Seite 112
2. Aufbau des Gesetzentwurfs und vorgesehene jugend-
flirsorgerische MaBnahmen Seite 114
3. Zur Funktion der Spaltung in "normale", gefahrdete
und entwicklungsgestorte Jugend durch das Jugendhilfe-
system Seite 115
4. Zur Kritik am Referentenentwurf als Kritik an der
herrschenden Funktion von Jugendfiirsorge Seite 117
5. Stmkturelle Barrieren gegen die Zusammenarbeit der
Kollegen im Jugendpflege- und Jugendflirsorgesektor Seite 121
6. Rechtliche, politische und organisatorische Handlungs-
bedingungen innerhalb der Jugendfiirsorge Seite 124
THEMA: OFFENE JUGENDARBEIT
Ulrike Radhbfer, Bochum/Westberlin
Arbeit im Jugendzentrum - Was ist drin? Seite 142
Gunther Soukup, Westberlin
Selbstbestimmung und der Weg dorthin Seite 15o
THEMA: REPRESSION UND WIDERSTAND
Tendenz Ausbildungsverbot Seite 158
Klaus Traube
Von einem, der die burgerlichen Freiheitsrechte ernst nimmt 16o
AUSSERDEM:
Kleinanzeigen Seite 16/166
Redaktionsmitteilung Seite 167
Info- und Telefondienst zur Tarifrunde im Offentl .Dienst Seite 169
Fromme Wunsche flir 1978 Seite 84
VORBEMERKUNG ZU DIESER AUSGABE
Die Herausgabe dieses Infos, das sich schwerpunktmaBig mit der "bf-
fentlichen Erziehung" in stationaren Einrichtungen auseinandersetzt,
steht in direktem Zusammenhang mit praktisch-pol i tischen Anstren-
ungen im Arbeitsfeld Sozialarbeit. Die bffentliche Diskussion uber
die Heimerziehung muB dringend in diesem Lande wieder aufgenom-
men werden. Von den Kampagnen Ende der Sechziger Jahre sind nur noch
halbherzige oberflachliche Reformen geblieben, die diesen Namen nicht
verdienen. Einschneidende strukturelle Vera'nderungen der "bffent-
lichen Erziehung" sind aber nicht isoliert in einzelnen Heimen mbg-
lich, sondern m'u'ssen den gesamten Jugendhilfebereich mitumfassen.
Von solchen Entwicklungen scheinen wir zur Zeit mehr denn je ent-
fernt zu sein.
Der grundlegende Klassenkonflikt, der sich in der anhaltenden tief-
greifenden Krise als existenziel le Bedrohung des sozialen und bko-
nomischen Besitzstandes der Lohnabha'ngigen darstellt, wird ideolo-
gisch verleugnet durch die Propagierung einer umfassenden "Krisen-
gemeinschaft". Das bruchig gewordene "Netz der sozialen Sicherheit"
soil mit dem "Ausbau der inneren Sicherheit" geflickt werden. Diese
repressive Antwort auf die politische Legi timationskrise macht auch
vor dem Jugendhilfesektor nicht halt. Was der "Jugendbulle" in den
Jugendzentren bewirken soil, wird im Bereich der Jugendfiirsorge mit
neuen Varianten geschlossener Heime angepeilt.
Die vom Redaktionskol lektiv und dem AKS Kbln organisierte uberregio-
nale Heimerziehertagung am 25-/26. Juni in Kbln (siehe Protokoll S. 7
und "links" Oktober 1977) stent, einen Versuch dar, in dem der-
zeitigen Klima von Einschuchterung und Vereinzelung als Erzieher und
Sozialarbeiter zusammenzuf inden und gemeinsam an einern Weg zu arbei-
ten, der aus der Defensive herausfuhrt. Statt mit dem Rlicken an der
Wand nur noch vorsichtige Bedenken gegen die Wiedereinfuhrung ge-
schlossener Heime anzumelden, geht es darum, liber die Bekampfung der
repressiven Spitze des Jugendhi lfeeisberges hinaus den taglichen
Skandal der "normalen" Heime bffentlich zu diskutieren und die in
institutionellen Strukturen eingezwangten elementaren Bedlirfnisse
der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Erzieher offensiv einzu-
klagen. Die anwesenden Kollegen haben ihren Alltag im Heim zum
Gegenstand der Diskussion gemacht - die autoritar hierachischen Ar-
bei tsbedingungen genau-so wie den kUnstl ichen isolierten Rahmen der
Institution, der keine Ansatze zu einer gemeinsamen Lebenspraxis mit
den Betroffenen zula'Bt. An diesen solidarisch gefu'hrten Gesprachen
beteiligten sich nicht zuletzt ehemalige "Fiirsorgezbglinge" und Ver-
treter selbstorganisierter Wohnkollektive. Gegenwehr in den Insti-
tutionen aufzubauen und an Alternativen auBerhalb der Heime zu ar-
beiten - das sind zwei notwendige Wege, die vermittelt werden mlissen.
Die Kblner Tagung war keine einmalige Veranstaltung. Lokale Gruppen
wurden gebildet und ein nachstes uberregionales Treffen flir das
Wochenende lo./ll. Dezember in Berlin verabredet. Damit ist ein Pro-
zeB eingeleitet, in dem die Heimerzieher ihre Interessen selber zu
arganisieren beginnen. In der Fbrderung und Unterstutzung solcher
Arbeitszusammenhange sehen das Redaktionskollektiv und die am Sozial-
istischen Bliro orientierten und in ihm organisierten AKS-Gruppen eine
ihrer wichtigsten Aufgaben. Das vorliegende Info ist ein Ergebnis
der Kblner Tagung und versteht sich als Vorbereitungsmaterial fur
das Berliner AnschluBtreffen.
Bei der Fertigstellung dieses Heftes sind allerdings auch einige
Schwierigkeiten aufgetaucht, die wir nicht verschweigen wollen.
So ist vor allem das Tagungsprotokoll , das den Teilnehmern mbglichst
rasch zu gehen sollte, erst jetzt fertiggeworden.
Ebenfalls sind zugesagte Beitrage zu zentralen Problemen wie Erzie-
herselbstverstandnis oder Kritik an Neukonzeptionen geschlossener
Heime nicht erstellt worden. Gerade weil der Info-Zusammenhang aus-
schlieBlich von Praktikern getragen wird, sind wir auf eine funktio-
nierende Arbeitsteilung in hohem MaBe angewiesen, mussen Absprachen
wirklich eingehalten werden.
Wir hoffen aber, daf3 mit Hilfe von Kolleg(inn)en, die kurzfristig
bereit waren, Beitrage zu schreiben, eine brauchbare Material saram-
lung zustande gekommen ist.
Den Auftakt bilden das Protokoll der Kblner AbschluBdiskussion und
der von Kindern, Jugendl ichen und Erziehern zusamraengestellte Beitrag
"Gedanken iiber unser Leben im Heim", der den Heimalltag einer ver-
gleichsweise fortschrittl ichen Einrichtung sehr hautnah an den auch
dort erfahrbaren Grenzen beschreibt. In einer eher analytischen Pro-
blemskizze "Heimstruktur und Erziehersituation" werden grundlegende
institutionelle und strukturelle Probleme herausgearbeitet, die den
Rahmen fur Erziehungsarbeit definieren. Zugleich diskutiert dieser
Beitrag strategische Oberlegungen flir eine Handlungsperspektive der
Erzieher. Er stellt damit die theoretische Klammer zu dem Bericht
"Gewerkschaftliche Arbeit in einer Betriebsgruppe" dar. Der ver-
gleichsweise unterentwickel ten gewerkschaftl ichen Organisierung
von Heimerziehern in der OTV kommt eine zentrale Bedeutung fur Ver-
anderungsversuche an der Heimbasis zu. Das war Konsens der Kblner
Tagung. Allerdings erfordern die besonderen Bedingungen von Lohn-
erziehung im Heim eine entsprechend quali tativ-inhal tlich entwickelte
Gewerkschaftsarbeit, deren Umrisse bisher nur vage deutlich werden.
Die sich anschlieBenden "Berichte aus totalen Institutionen" - Heim,
Psychiatrie und Gefangnis - zeigen, wie sich grundlegende Struktur-
prinzipien der Heimerziehung, die im ersten Teil thematisiert wurden,
unter Bedingungen totaler Abschottung verhangnisvoll zu-spitzen.
Das Verhalten wird hier radikal von gesellschaftlichen Verh'a'ltnissen
abgetrennt und einer perfiden Manipulation ausgesetzt. Mit der pro-
pagierten fachlich-psychologischen Ausstattung diirften die neu kon-
zipierten geschlossenen Heime diesen gewaltsamen Zugriff auf die
"innere Natur" der Insassen nur noch subtiler ausweiten. Darauf weist
die Stellungnahme einer Arbeitsgruppe hin, die anla'Blich einer Fach-
tagung der Internationalen Gesellschaft flir Heimerziehung im Mai
dieses Jahres zustande gekommen ist und die wir noch einmal ab-
drucken.
Im dritten Teil des Schwerpunktthemas stellen wir "Alternativen zur
totalen Institution" vor, die direkt an den Lebenszusammenhangen
der Betroffenen ansetzen und versuchen, die Selbsthilfepotentiale von
Familien, Kindern und Jugendlichen zu mobilisieren und zu unterstlitzen.
Der Bogen, der sich vom Konzept des "Famil ienhelfers", wie es die
Berliner Gesellschaft fur Heimerziehung entwickelt hat und prakti-
ziert, iiber das "Kinderschutzzentrum" mit seinem mehrdimensionalen
Hi lfsangeboten fiir Familien, uber die "Werkschule" bis zum selbst-
organisierten Jugendhof "Kollektiv" in Odenthal-Klev erstreckt,
skizziert eine vorstellbare integrierte Familien- und Gemeinwesen-
arbeit, die das fur unser Jugendhilfesystem charakteristische Merk-
mal des repressiven Eingriffs endgultig aufgibt.
Der Beitrag "Jugendfiirsorge - Kontroll- und Eingriffinstrument des
burgerlichen Staates in Arbeiterfamil ien" setzt sich mit dem Recht
der Heimeinweisungsbehbrden.dem Jugendhilferecht und der Jugend-
hi lferechtsreform, auseinander.
Beitrage zur offenen Jugendarbeit; "Selbstbestimmung und der Weg dort-
hin - zum Aktionsradius von Berufspadagogen im Vorfeld von Selbstbe-
stimmung und Selbstorganisation" und "Was ist los im Jugendzentrum"
sowie Beitrage zu Repression und Widerstand schlieBen das Heft ab.
Dieses Heft des Info Sozialarbeit mit seinem Schwerpunktthema"Heim-
erziehung - Kritik und Alternativen" ist Ergebnis der Diskussionen
auf der Kblner Heimerziehertagung und der sich daraus entwickelnden
Zusammenarbeit.
Die Zusammenstellung, Auswahl und die redaktionelle Bearbeitung der
vorliegenden Beitrage haben vorgenommen:
Elisabeth Gliicks, Mlinster
Glinter Pabst, Offenbach
Jochen Schaffer, Westberlin
Barbara Wolf-Kunze, Westberlin
Erhard Wedekind, Kbln
Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit
Kbln, Oktober 1977
- 5 -
AUFRUF ZUM 2. HEIMERZIEHERTREFFEN
lo./ 11. DEZEMBER IN WESTBERLIN
Zur ersten Arbeitstagung am 25./26.Juni 1977 (siehe Protokoll S.7)
versammelten sich etwa 12o Heimerzieher, Sozialarbeiter und Studenten,
urn liber die Situation in der Heimerziehung zu diskutieren und gemein-
same Ansatzpunkte zu finden, den Repressionen von auBen und den resig-
nativen Haltungen innerhalb der Heime entgegenzutreten.
Es bildeten sich vier Arbeitsgruppen, die sich mit verschiedenen Pro-
blemkreisen aus der Praxis der Heimerziehung befassen:
- Heimerziehung im System der Jugendhilfe
- Arbeitsbedingungen im Heim (gewerkschaftl iche Organisierung etc.)
- Padagogik im Heim
- Alternative Einrichtungen, Arbeitssuche, Situation der Betroffenen
Neben der Fortfiihrung dieser Diskussionen schlagt der Arbeitskreis
"Heimerziehung", der die Tagung vorbereitet, vor, den Schwerpunkt
auf die bevorstehende Einfiihrung geschlossener Heime zu legen, urn in
der Diskussion eine gemeinsame Strategie des Handelns gegeniiber ge-
schlossenen Einrichtungen zu finden.
Folgende Fragestellungen sollten u.a. diskutiert werden:
- Wie kommt es zu dem Ruf nach geschlossenen Heimen, was veranlaBt
z.B. die Erzieher, die geschlossene Unterbringung als letzte wirk-
same MaBnahme zur Bewaltigung der Probleme mit "besonders schwier-
igen" Kindern und Jugendlichen zu erwagen?
- Was veranlaBt die ftmter, geschlossene Unterbringung als Erziehungs-
maBnahme zu beflirworten?
- Wie kb'nnen wir gegen die Wiedereinflihrung von geschlossenen Heimen
vorgehen? Welche Alternativen gibt es, um Heimeinweisungen zu ver-
hindern?
- Welche Rolle spielt das Jugendamt nach der Heimeinweisung fur die
Kinder, Jugendlichen und Erzieher?
- Kbnnte eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Heimen und
ftmtern bzw. Heimerziehern und Sozialarbeitern falsche Entschei-
dungen liber Heimeinweisungen und Verlegungen verhindern?
- Welche Folgen wi rd die erneute Klirzung des Heimetats fur die pa'da-
gogische Praxis der Erzieher in den Heimen haben?
Zu der Arbeitstagung sind natiirlich auch diejenigen herzlich einge-
laden, die von der Kblner Tagung nicht informiert waren oder nicht
teilnehmen konnten. Anmeldungen und Informationen bei :
Jutta Schone, Beusselstr. 65, looo Berlin 21 Telf. o3o/ 393 68 35
Manfred Rabatsch, Westberlin
PROTOKOLL VOM ABSCHLUSSPLENUM -
HEIMERZIEHERTREFFEN 25/26. JUNI 1977 IN KDLN
Das folgende Protokoll ist nach Tonbandaufnahmen angefertigt worden.
Die Diskussion erfolgte an Schwerpunktthemen, die einen Einstieg
in die zuklinftige Wiederaufnahme der bffentlichen Auseinandersetzung
iiber den Zustand und die Forderungen zur Veranderung der Lage von
Kindern, Jugendlichen und Erziehern in Heimen ermoglichen sollten.
Bedingung fiir die Diskussion war ein erhebliches Gefalle zwischen
den formalen Arbeitsbedingungen: Angefangen von Einrichtungen, in
denen 12 Sozialarbeiter und Erzieher 20 Kinder betreuen bis zu Ein-
richtungen, in denen die Kollegen gezwungen sind, jede zweite Nacht
Nachtdienst zu machen.
Diese Spannweite zwischen den Belastungsfaktoren im Arbeitsal ltag
ist fiir die Frage unserer Mbglichkeiten, liber den VerschleiB der
Arbeitskraft hinaus an auBerberuf lichen politischen Aktivitaten -
im Zusammenhang mit unseren Berufsvollzligen - tatig zu sein, von
erheblicher Bedeutung.
Diese Problematik ist ein zentraler Faktor fiir die gewerkschaftl iche
Arbeit, mit der wir auch darauf hinwirken mlissen, daB wir als Kolle-
gen mehr Mbglichkeiten entwickeln, um zu einer vernlinftigen Ko-
operation am Arbeitsplatz zu kommen.
Ein weiterer Schwerpunkt befaBte sich mit der Schwierigkei t, unter
den vorhandenen Strukturen und Machtverhaltnissen zwischen den Heim-
tragern/Tragern der Jugendhilfe und den Erziehern einen inhaltlich-
padagogisch-persbnlichen Bezug zu den Interessen der Kinder und Ju-
gendlichen herzustellen. Wahrend der Arbeitsgruppendiskussion am
Vortag war durch Berichte von betroffenen und erfahrenen Kollegen ein
ErrtichterungsprozeB eingetreten. Man kam sehr deutlich davon weg,
idealistische Vorstellungen und Konzepte eines ausschlieSl ichen So-
lidarisierungsansatzes in der Praxis zu vertreten.ohne unsere Inter-
essen als Erzieher und Sozialarbeiter miteinzubeziehen. WirmuBten
feststellen, daB es nur wenige konkrete Ansatzpunkte gibt, an denen
so etwas wie Interessengemeinsamkeiten, spontanes Sich-Wohlfuhlen
mit den Kindern und Jugendlichen in der heutigen Praxis ohne groBe
Hindernisse erfahrbar sind. Hier muB es fiir uns in der Zukunft auch
um die Oberlegung gehen, wie das Bediirfnis der Kinder und Jugendli-
chen nach Autonomie im Alltagsleben des Heimes, das bereits durch
die Liberal 1 splirbare Abhangigkeit von Zuwendungs- und Entscheidungs-
formen der heimoffiziellen Seite gebrochen wird, durch eine reali-
stische Strategie von Erziehung zu unterstiitzen ist.
Ein dritter Schwerounkt befaBte sich mit der heimlibergreifenden
Strategie. Welche Mbglichkeiten haben wir nach den bisherigen Erfah-
rungen alternativer Ansatze, die Heimerziehung Liberhaupt zu pro-
blematisieren. Welche anderen Wege der Zusammenarbeit mit den Stadt-
teilgruppen, mit den Familien und den Kollegen in den Jugend-
a'mtern sind mbglich? Gerade diese letzte Gruppe von Kollegen, die
Heiraeinweisungen vornehmen, vornehmen mlissen (?) aber nicht wollen,
muB sich fragen, wie eine Jugendflirsorge-, Famil ienfursorgearbeit
aussieht, die ausschlieBlich an den Lebensumstanden von Arbeiterle-
bensverhaltnissen ansetzt. Wie sieht die Alternative, die Verbin-
dunq einer Strategie im Heim mit einer Strategie offener Hilfen-evtl.
im Stadtteil - aus?
Diese Zusammenfassung von Themen aus den Arbeitsgruppen des Vortages
war der Plenumsdiskussion vorangestel It. Sie ging auch auf den Ein-
druck zurlick, daB wir uns starker in einer Defensive befinden und
es erst einmal darauf ankommt, eine Oberlebensstrategie im Erzieher-
alltag zu finden. Wie ist es mbglich zu verhindern, daB wir physisch
von unseren Kraften her und psychisch von unserer Identitat her
vor die "Hunde" gehen, ohne daB wir uns aufopfern und Illusionen
nachjagen. In dieser Klemme befinden sich viele und erst, wenn
wir auch auf diese Lage eingehen, werden wir parallel dazu den nach-
sten Schritt der Entwicklung von Lernzielen in Richtung "Strategie
nach auBen" angehen kbnnen.
Urn die Widerspruchlichkeit und die Schwierigkeit nicht zu unterschla-
gen.in der jetzigen Phase eine systematische Diskussion vor dem
Hintergrund so weit auseinanderklaffender Arbeitsbedingungen und
unterschiedl ichster inhaltlicher Interessen in der Zusammensetzuno
des Heimerziehertreffens liberhaupt fiihren zu kbnnen, werden
im folgenden Text Beitra'ge nach dem Ablauf der Diskussion wiederge-
geben.
ARBEITSBEDINGUNGEN
Ich bin Honorarkraft im Rahmen von Famil ienhilfe und beim Bezirks-
amt in Berlin ohne Arbeitsvertraa "angestellt". Irgendwelche Absi-
cherungen wie Krankenversicherung, Urlaubsanspruch, Arbeitslosen-
unterstiitzung bestehen nicht.
Honorarkrafte wie die Famil ienhelfer gibt es in den meisten Berei-
chen der Jugendhilfe in groBer Zahl, so daB es notwendig ist, daB
sich diese Kollegen urn einen sta'rkeren ZusammenschluB - auch in
der Gewerkschaft - bemiihen. Das ist auch deshalb notwendig, weil
eine groBer werdende Gruppe von Sozialarbeitern, Erziehern und So-
zialpa'dagogen bei Arbei tslosigkeit darauf anqewiesen sind, als Hono-
rarkrafte unter den ungesicherten arbeitsrechtlichen Bedingungen zu
arbeiten. Viele dieser Kollegen arbeiten 4 bis 10 Stunden in der Wo-
che, weil sie in der Mehrheit fur eine bestimmte Tatigkeit nicht
mehr Stunden zugebilligt erhalten. Daneben qibt es in den meisten
Bundeslandern eine Honorarordnung, in der ein Hbchstbetrag an Hono-
raren pro Monat und Person festgelegt ist. Diese Festlegung soil
verhindern, daB Honorarkrafte aus diesem Einkommen uberwiegend ih-
ren Lebensunterhal t bestreiten. Dagegen vorzugehen ist eine dringen-
de gewerkschaftliche Aufgabe.
Andererseits stellt sich fur die Kooperation zwischen Honorarkraf-
ten in der Praxis die Fraqe, mit welchen Forderungen im gewerkschaft-
lichen Bereich gemeinsam vorgegangen wird. Stellen wir uns 4 Honorar-
krafte mit je 10 Stunden in einem Heim vor, die in der dort beste-
henden Betriebsgruppe mit den Kollegen Angestellten zusammenarbei-
ten. Fordern sie gemeinsam die Abschaffung von 4 Honorarkra'ften und
dafu'r 1 Stelle fiir einen Erzieher Oder Sozial arbei ter?
Zu fordern ist ein Arbei tsvertrag fiir jede Honorarkraft mit alien
arbeitsrechtlichen und sozialversicherungsrechtlichen Ansprlichen.
Denn sie werden von den Arbeitgebern irrmer wieder eingesetzt, weil
sie billigere Arbeitskrafte sind als die Angestellten, da die Ar-
bei tgeberanteile fiir die Sozialversicherung nicht gezahlt werden
mlissen und diese Gruppe leicht gegen die Angestellten in Konflikt-
situationen ausgespielt werden kann.
Diese Problematik ist in engem Zusammenhang mit der Situation von
Praktikanten wa'hrend der Ausbildung und der Berufspraktikanten nach
dem Examen zu sehen. Denn viele dieser Praktikanten werden nicht
nur als billige Arbeitskrafte eingesetzt, wenn sie mit der Arbeit
einer vollen Erzieher- oder Sozialarbeiterstelle belastet werden,
dafiir aber nur 1/5 oder die Ha'lfte des BAT-Tarifs erhalten. Sie wer-
den auch durch die Abha'ngigkei t von einem Tatigkeitsbericht (Zeug-
nis) friihzeitig in die Anpassung an herrschende konservative bzw.
ru'ckschrittliche Arbei tsvollziige gepreBt ,um auf diese Weise eine
politische Enthal tsamkeit zu erzeugen.
Es ist also notwendig, den Status der Berufspraktikanten in zwei Rich-
tungen abzusichern. Zum einen, daB sie voll bezahlt werden - insbe-
sondere die "soziale Demontage", die Ruckstufung der Berufsprakti-
kantenlbhne von 75 % auf 66 2/3 % des BAT-Tarifs muB rlickgangig ge-
macht werden - und zum zweiten, daB sie in keinem Fall die alleini-
ge Verantwortung fiir eine Gruppe im Erzieherbereich oder eine Stel-
le in der Sozialarbeit ubernehmen.
Wie schwierig es ist, die rechtlichen Rahmenbedinqunoen abzuklaren,
unter denen wir arbeiteten, zeigten 3 Beitrage:
• Es fehlen Informationen, mit denen zu'giq und zuverlassig eine
Diskussion hinsichtlich der Problemstellungen fundiert werden kann.
Z B existieren mehrere Formen von Praktikantenstatus in den ver-
schledenen Arbeitsbereichen. Unterschiedlich sind sie vom Schulbereich
bis zum Jugendhilfebereich ebenso, wie innerhalb der Jugendhilfe von
der geschlossenen iiber die halboffene bis zur offenen Jugendhilfe.
Oft werden unterschiedl iche Praktika mit unterschiedl ichen
rechtlichen Voraussetzungen gleichgesetzt, die so gar nicht existie-
ren Hier ist es notwendig, daB sich die Fachoberschulen, Fachhoch-
schulen und Universitaten bereits mit dieser rechtlichen Seite aus-
einandersetzen, um muhsame Informationsarbeit in spaterer Praxis
gar nicht erst leisten zu mlissen.
t Nicht nur wegen der fehlenden Informationen, sondern auch wegen
der fehlenden Erfahrung mit Auseinandersetzungen und Forderungw zu
den Arbeitsbedingungen von Honorarkra'ften und Praktikanten gegenuber
Arbeitqebern auBerhalb und innerhalb der Gewerkschaften kann die
Konsequenz fiir eine Strategie noch nicht gezogen werden. Notwendig
ist eine Entwicklung des kontinuierlichen Erfahrungsaustausches von
Stadt zu Stadt und Gruppe zu Gruppe. Hier muB unbedingt berucksich-
tigt werden, daB insbesondere Honorarkrafte wegen ihrer begrenzten
Zeit und Kompetenz auch von ihren objektiven Arbeitsbedingunen her nur
schwer in der Lage sind, Arbeitskontinui tat Uber ihre bezahlte Arbeit
hinaus aufzubringen. Es muS sicher Kollegen geben, die hier eine
Initiativfunktion mit Koordinierungsaufgaben iibernehmen. Hier muB
wahrscheinlich die Gewerkschaftsgruppe Prioritat haben.
• Heimerzieher gehoren zu der Berufsgruppe im Jugendhilfebereich.die
den qeringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad haben.
Er liegt bei ca. 8%. Da die Mehrheit der anwesenden Kollegen in Kbl n
jedoch gewerkschaftlich - meist DTV - organisiert waren, wurde die
Wirkung gerade der Gewerkschaftsdiskussion wahrend der Tagung als
positiv beurteilt. Konkret a'uBerte ein Teilnehmer, daB er mit anderen
zusammen durchaus eine Orientierung fur die Weiterarbeit erhalten
hatte. Dagegen weist der geringe Organisierungsgrad von Heimerziehern
insgesamt auf ein Problem hin, mit dem wir uns in der Al ltagsarbeit
auseinandersetzen mlissen. Der VermutLing namlich, daB viele Kollegen
den erfahrenen physischen und psychischen StreB gar nicht so sehr auf
die bkonomischen Arbeitsbedingungen beziehen sondern in erster Linie
an der Beziehungsebene mit den Kindern festmachen. Sie sagen, da
komme ich m'cht klar, ich pack' das nicht. Deshalb wird es darauf an-
kommen>die Gewerkschaftsarbeit nicht nur auf die Lohnfrage auszu-
richten sondern auch die Bereiche der Arbeitsbedingungen, wo die In-
teressen der Kollegen und der Kinder und Jugendlichen gleichermaBen
betroffen sind, einzubeziehen. Wenn das nicht gelingt, droht
die Gewerkschaftsarbeit borniert standisch zu werden und bringt auch
keine neuen Kollegen in die Gewerkschaft. Gerade weil wir die Erfah-
rung machen muSten, daB das Verstandnis der OTV-Fuhrung fur die Ver-
schrankung von okonomischen mit padagogischen Problemen unterent-
wickelt ist, und ein politisches Interesse von der Fuhrung daflir auch
nicht vorhanden ist, miissen wir dieses BewuBtsein daflir vdllig allein
von unten entwickeln.
Wir sollten auch starker auf Erfahrungen aus der Geschichte von ge-
werkschaftl ichen und anderen politischen Auseinandersetzungen in die-
sem Bereich lernen. Die Erfahrungen des 1-tagigen Warnstreiks der
Kinderqartnerinnen aus Berlin-Kreuzberg vom September 1969 und die
Streikbewegung in Frankfurt 197o mit ihren differenzierten Einschat-
zungen der Forderungen zur Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungs-
bedingungen sollten hier berucksichtigt werden. Insbesondere der Fak-
tor des Einflusses eines Drucks von der Basis auf die Gewerkschafts-
fuhrung macht es mdglich, bkonomische und padagogische Probleme
unter politischen Gesichtspunkten des Zustandas der Gesellschaft zu
sehen und zu behandeln.
Dabei ist zur Vermeidung von Fehleinschatzungen und zur Entwicklung
einer richtigen Handlungsstrategie notwendig und auch mdglich, im
Bereich der Erziehung in Kindertagesstatten, Krippen und Horten.mit
den Eltern zusammenzuarbeiten. Das ist in Berlin und Frankfurt z.B.
auch geschehen. Der dadurch fur die Politiker in Regierungs-
verantwortung entstehende Druck wird auch von der Offentlichkei t(Pres-
se.Rundfunk.Fernsehen) aufgegriffen und politisch brisanter einge-
scnatzt. Dagegen kann diese Strategie in den Heimen kaum verfolgt
werden, denn eine Elternarbeit wird weder von den Heimen noch von den
Jugendamtern durchgefu'nrt Oder nach unseren Erfahrungen auch nur ge-
wLinscht oder unterstutzt. Daher ist das Problem mdglicher KampfmaB-
nahmen wesentlich schwieriger zu Ibsen. Denn wahrend die Eltern in
- 10 -
den Kindertagesstatten durch eine gute Informations- und Dffentlich-
keitsarbeit durchaus ein inhaltliches Verstandnis und Interesse flir
die Forderungen der Erzieherinnen entwickeln, in deren Folge sie die
Kinder fur einen oder mehrere Tage wahrend des Streiks nicht in die
Kita bringen, ist das flir die Heimerzieher ausgeschlossen.
An dieser Stelle der Diskussion wurde darauf hingew
nur ein erheblicher Unterschied in den Erfahrungen
verschiedener Arbeits bereiche und -anforderungen vo
Es bestand auch ein starkes Gefalle im Informations
politische Entwicklung der vergangenen lo Jahre und
Einschatzung. Daher wurde auch dagegen gesprochen
Liber Organisationsformen - ob innerhalb oder auBerh
schaft - zurlickgestellt wird. Wichtig ist, daB wir
wie die Isolierung der Kollegen bereits in den einz
tereinander aufgehoben werden kann, urn dann Uberhau
finden zu kbnnen, wie die Diskussion lanqfristig zu
INTERESSEN DER KINDER UND JUGEND-
LICHEN - LOHNERZIEHERINTERESSEN
iesen, daB nicht
aufgrund oft sehr
rhanden ist.
stand Liber die
die theoretische
daB die Diskussion
alb der Gewerk-
darauf eingehen,
elnen Heimen un-
pt erst Formen
fiihren ist.
Wenn wir nur eine Gewerkschaftsstrategie verfolgen, urn unsere Arbeits-
bedingungen isoliert von den BedLirfnissen der Kinder und Jugendlichen
in den Heimen zu verbessern, dann heiBt das flir die Kinder und Jugend-
lichen zunachst noch gar nichts. Dann geht es uns vielleicht besser,
man kann auch mit den Kollegen ein besseren Verhaltnis haben, aber
fur die Kinder und Jugendlichen hat sich noch nichts verbessert.
Andererseits reicht es auch nicht aus, nur zu sagen: wir mlissen doch
etwas tun und uns flir die Kinder und Jugendlichen einsetzen ,bevor
unser Verhaltnis zu ihnen abgeklart ist. Diesen Bruch und Widerspruch
zwischen unseren und deren Interessen mlissen wir genauer diskutieren.
Es ist deshalb die Frage, ob unsere Identita't mit den Interessen der
Kinder und Jugendlichen allein der Orientierungspunkt ist. Denn wir
haben auch massiv* Schwierigkeiten mit unserer Funktion umzugehen als
jemand, der flir Lohn Kinder erzieht. Weiter stehen wir vor den All-
tagskonflikten, daB uns Kinder Schwierigkeiten bereiten, "auf die
Nerven gehen". Diese Erfahrungen finden in einem System statt, das
sich Institutionen und eigene Gesetzma'Bigkeiten geschaffen hat, das
uns in Abhangigkeiten bringt, Arbeitsleistungen fordert. Dieses Sys-
tem konfrontiert uns z.B. taglich mit der Forderung, daB der ein gu-
ter Erzieher ist, der immer eine ruhige, saubere, aufgeraumte Gruppe
hat. Dagegen stehen unsere eigenen Forderungen und Vorstellungen,
wip'wir Kinder erziehen wollen. Viele Kollegen befinden sich bereits
auf einem "Verweigerungstrip". Sie sagen: lassen wir die Kinder lau-
fen, es wird schon irgendwie gehen ;sie werden damit aber nicht mehr
fertig.
Hier Ziele zu finden, an denen eine Orientierung fur Kollegen mdglich
ist - sie kbnnen in der Gewerkschaft, in der Identif ikation mit den
Betroffenen liegen aber auch darin, Heimerziehung tendenziell aufzu-
heben unseren eigenen Arbeitsplatz wegzurationalisneren, bedeutet
auch, 'mit den in unserer Arbeit und unseren Kbpfen vorhandenen Wider-
spriichen bewuBt umzugehen.
11 -
Erst wenn wir uns ein Stlick selbst einbringen kbnnen in unsere Ar-
beit, wenn wir ein Stuck produktiv sein kbnnen mit den Kindern(diese
Situation besteht aber nicht flir die meisten, sondern die Arbeitsver-
ha'ltnisse sind so geartet, daB die meiste Energie fur Oberlebensstra-
tegien draufgehen) werden wir auch Widerstand entwickeln kbnnen,
weil wir eine Perspektive in der Erziehung erkennen.
Wir mlissen daher einen Rahmen, einen Inhalt von Erziehungsarbeit dis-
kutieren, der unseren allgemeinen Einschatzungen von Interessen und
Bedlirfnissen der Kinder und Vorstel lungen von Organisierung und Wider-
stand der Kollegen ein perspektivisches Fundament gibt.
Um da hi n zu kommen, mlissen wir auch unsere eigene
rlicksichtigen, denn die Art und der Inhalt unserer
zesse bestimmt das, was wir in der Erziehung mit d
Jugendlichen im Heim machen. Wir verhalten uns desh
konkreten Erziehungssituation nach dem eigenen mora
tischen Wertsystem. Wenn wir die Kinder und Jugendl
setzen, ihre eigenen Interessen und Bedlirfnisse anz
werden wir erst mal geschockt sein, da sie sich auc
ten. Die Kinder und Jugendlichen haben oft erst mal
auf unsere Vorschlage oder Vorstellungen einzustei
ziemliche Kluft zwischen deren { auch durch kaputt
entstandenes)Verhal ten und unseren Interessen zum A
Sozialisation be-
eigenen Lernpro-
en Kindern und
alb auch in der
lischen und pol i-
ichen instand-
upacken, dann
h gegen uns rich-
gar keine Lust
gen. Es kommt eine
gemachte Bedlirfnisse
usdruck.
Der Beitrag eines Genossen vom Kleverhof bei Kbln(Jugendwohnkollek-
tiv, siehe S. 65 ) lieferte nun eine neue Ebene der Diskussion zum
Thema der Interessen von Jugendlichen in Heimen:
"Ich weiB, daB es wahnsinnig viele Jugendliche gibt in der Heimerzie-
hung, die in Heimen selber arbeiten und fast uberhaupt kein Geld da-
flir bekommen. Die Gewerkschaft klimmert sich nicht um diese Jugend-
lichen, weil diese Jugendlichen halt "AusschuB" sind. Da ware ein An-
satzpunkt, gleiche Interessen zu haben mit den Jugendlichen. Das
fangt an bei der Rentenversicherung. Wenn man 17 Jahre im Heim ist
Oder noch langer und eine Rentenversicherung m'e abgeschlossen hat
und nie Lohn gezahlt wurde, dann sind das flir uns sehr wichtige Pun-
kte. Ein anderes Problem ist die Ausbildung. Die meisten Jugendlichen
kbnnen einen HauptschulabschluB oder eine Berufsausbi ldung in den
Heimen nicht machen, weil das Heim eine Erfolgsmeldung haben will.
Wenn ich jetzt zum Heimleiter gehe und sage, o.k., ich mbchte jetzt
eine Lehre als Anstreicher oder so machen, dann verpflichte ich mich
(als Jugendl icher) gleichzeitig, 3 Jahre im Heim zu bleiben. Von da-
her weigern sich die Jugendlichen, die meinetwegen auch was drauf
haben, das also auch packen kbnnten, die Lehre zu machen."
In dem Augenblick, in dem ich mich mit Jugendlichen solidarisiere,
deren Probleme plbtzlich verstehe und sie interpretiere, bin ich der
Einzelkampfer in der Institution. Ganz gezielt werde ich verleumdet
und schlecht gemacht, daB meine Stellung, meine Position schwankend
wird. Man muB daher eine Basis haben, man muB sagen kbnnen, der Ruk-
ken wird mir gestarkt durch Gewerkschaft, durch Fachverband, durch
Kollegen in der Institution. Das erleben wir ja andauernd, daB ein
Hohenflug einsetzt mit einer Konzeption, die der Heimleiter in sein-
er Machtposition auch akzeptiert. Nur wenn die Praxis dann anlauft,
wenn das Konzept jetzt durchgesetzt werden soil, und plbtzlich Pro-
bleme mit den Jugendlichen, die ich bearbeiten soil, sichtbar werden
- und die Probleme werden sichtbar - dann ist das schlecht.
CHILE
DER MUT ZU UBERLEBEN
Vierfarbiger Kalender mit Stoffbildern aus den Elendsvierteln
von Santiago, die vom alltaglichen Kampf des chilenischen
Volkes gegen Elend und Unterdriickung erzahlen.
Sen dem Militarputsch von 1973 haben Hunderttausende von Chilenen ihren Arbeitsplau verloren. In den Arbei-
tersiedlungen beherrscht der lagliche Kampf um Nahrung, Kleidung und Behausung, gegen Krankheit und gegen
die uberall gegenwartige Repression das Leben der Menschen. Gegense.tige Hilfe wifd hier zur Ubeilebens Not
endiqkeit So haben sich in einigen diesei Siedlungen Gruppen von Frauen zusammengefunden, die ihren Alltag
f Slotfbildern (..Applikationen") darstellan. Durch den Verkauf dieser Bilder konnen sich die Frauen emige
Pesos verdienen. Uber die gemeinsame Nah- und Stickarbeit gew.nnen sie Einsicht in die Ursachen ihrer Situation
nd entwickeln Formen von solidarischem Zusammenhalt Und schlieRlich gehen ihnen diese Bilder auch die
Moglichken. der Auilenwell ihr Elend, ihren Kampf und ihre Hoffnungen mitzuteilen Die zumerst mdirekte
Form in der die Frauen das Leiden des chilenischen Volkes ahbilden, ist erne notwendige VorS'Cht angesichts del
Repression. Dabei kommt in der fast heiteren Farbigken diesei Stotfbilder etwas von dem Mul und der Zuversichl
;um Ausdruck, diese Zeit der Unterdruckung !u uberwirrden.
Der Kalender hat das Format 30 X 45 cm
Endverkaufspreis: DM 14,-
Auslieferung: ab 10. November 1977
Vorbestellungen an: Chile-Komitee, c/o FDCL, Savignyplatz 5, 1000 Berlin 12
Der Erlbs aus dem Verkauf der Kalender wird zur Unterstutzung der Familien
von politischen Gefangenen und Verschwundenen verwandt.
12
Man wird abgeschoben Oder soil abgeschoben werden. Deshalb meine ich,
daB Solidarisierung der erste Punkt ist.
Ein weiterer Faktor, ist die Notwendigkeit zu sehen, daB Kinder und
Jugendliche von den Erwachsenen, von den Erzieherkollegen und Sozial-
arbeitern nicht wie Zbglinge, sondern als Menschen rait eigenen Inter-
essen behandelt werden mussen. Eine Tendenz wird standig verbreitert
und forciert, rait der durch Therapie und Psychologie alle mbglichen
Leute mit einer "Macke" beredet werden. Man sieht uberhaupt nicht
mehr normale Menschen, sondern will alle in eine Therapie bringen.
Da gibt es in der Zwischenzeit den Begriff "einen ausboxen".
Es existieren daf'ur Isolierzellen, wo jemand vbllig aus dem Verkehr
rauskommt und fur eine bestimmte Zeit isoliert wird und dann wieder
auf dem Teppich ist.
So wird systematisch in den Kb'pfen der Erzieher und auch in der Aus-
bildung eine bestinmte Sichtweise iiber das erzeugt, was man spater
in der Berufsarbeit "behandelt".
Dieses Prinzip wird verfolgt, damit die Kollegen die Probleme gar
nicht mehr erkennen konnen.
Ein anderes Beispiel aus einem Berliner Heim, wo von Erzieherkollegen,
die wegen standig vorkommender Diebstahle eines Oungen, die Forderung
nach einer geschlossenen Gruppe erhoben wurde. Die Polizeidebatte
habe ich auch schon mal gefuhrt - was macht man denn, wenn im Heim
mal "Alarm" ist, ob der Nachtdienst dann die Polizei hoi en soil etc.
Warum kommen denn solche Diskussionen auf?
Das Selbstverst'a'ndnis der Kollegen in Heimen ist Uberhaupt nicht aus-
gepragt. Man trifft teilweise auf Kollegen, die sagen, man kbnnte ge-
nauso in irgendeiner Fabrik arbeiten. Es ware deshalb mal notwendig
liber einen langeren Zeitraum in einer Zeitschrift die Selbstverstand-
nisdiskussion zu fiihren. Wenn Kollegen ihr Selbstverstandnis darstel-
len, kbnnten wir auch etwas voneinander lernen. Wir kbnnten sonst
beispielsweise nicht den nachsten Schritt machen zu fragen, wie re-
formieren wir das Jugendhilfesystem, wie bekampfen wir das Jugend-
hilfesystem, wie ka'mpfen wir uberhaupt gegen Heimerziehung
Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Faktor. Es gibt auch noch
den Ansatz, daB die Heimerzieher von den Fahigkeiten der Kinder und
Jugendlichen lernen konnen. Ich hab in dem einen Jahr im Heim viel
von denen gelernt, so daB ich jetzt sagen kann, da sind Fahigkeiten,
Mbglichkeiten da, die ich bisher nicht kennengelernt habe. Diese
Sichtweise steht auch gegen die Auffassung von Defiziten bei den
Kindern und Jugendlichen, die nur noch therapiert werden konnen.
Zur Erklarung fiir diese Auffassung bei Erziehern, die derartige De-
fizittheorien aufgreifen ,ist wichtig zu sehen, wie sie im BewuBtsein
entstehen. Wenn ich jetzt abstrakt weiB, die Gesellschaft verursacht
Verhal tensweisen und "Stbrungen", die die Kinder und Jugendlichen
in Heime bringen, steht dem die tagliche Erfahrung mit Kindern da-
gegen, die ausflippen und eine Bedrohung flir denjenigen darstellen,
der im Heim arbeitet. Dann ist es ganz logisch, daS der erste Schritt
uc ■"■ i4v tin uiusiwIn w ii' iji. c-3 yai [z. luy ijviii uwu uci ci •> •**. ■ -
ist, zu sagen, der ist dran schuld, mit dem miissen wir was machen.
tVenn man dann noch 3 Jahre im Heim arbeitet und dazu noch isoliert >
1
We
kommt man notwendigerweise dahin.zu sagen, daB die Kinder therapiert
werden, damit ich Uberlebe.
Ich komme bei der Diskussion urn die Arbeitsbedingungen immer in einen
Konflikt, weil ich in einem Heim arbeite, das relativ liberal ist.
Wir haben inzwischen einen Erzieherschlussel von 1:1, haben Freiraume
zur Diskussion von Konzepten, Problemen der Heilpadagogi k und uns
stehen finanzielle Mbglichkeiten zur VerfUgung. Wir haben damit Ver-
anderungsmbgl ichkeiten im Alltag fur die Kinder, so z.B., daB wir
Wi rtschaftsgeld an die Kinder aus-zahlen und sie dann selbst ein-
kaufen. Einmal wbchentlich gibt es eine Dienstbesprechung, wo Ab-
sprachen und Abstintnungen erfolgen.
Wenn wir das hbren, stellt sich doch die Frage, ob die Widerspruche
in der traditionel len Heimerziehung zwischen den Erziehern und den
Jugendlichen und auch den eigenen persbnlichen Anspruchen Uberhaupt
losbar sind. Ich glaube,daB sie dort nicht lbsbar sind, sondern wir
daran gehen mUssen, alternative Projekte zu entwickeln, sie finanziell
absichern und mit Kollegen in den Heimen diskutieren, welche Mbglich-
keiten, welche KampfmaBnahmen ihnen zur VerfUgung stehen, urn die
Situation dort zu verandern.
Wenn auf der einen Seite gesagt wird, daB es gemeinsame Interessen
zwischen den Jugendlichen und uns gibt, den "Laden" (Heim) weiter-
1 auf en zu lassen, dann wurde ich sagen, es gibt auch das gemeinsame
Interesse, daB der "Laden" nicht weiter lauft. Wenn es gemeinsame
Interessen gibt, wird es sicher darauf ankommen, daB der "Laden"
anders weiterlauft. Ich hab die Erfahrung gemacht, daB Kollegen ihre
Institution, in der sie arbeiten, uberhaupt nicht kennen. Dadurch sind
sie ihr auch erheblich ausgeliefert. Dadurch sind auch kaum Ideen
zu entwickeln, wo man ansetzen kbnnte, Veranderungen in Gang zu set-
zen. Ich mbchte auf das Problem der Versorgungshaltung von Jugend-
lichen eingehen, Erfahrungen, di e ich in Frankfurter Jugendheitnen
gemacht habe. Ich kann ja nicht eine Versorgungshaltung so einfach
andern, sondern die Frage ist, wie kann ich Raume schaffen, daB die
Jugendlichen ein Nutzen davon haben und selbst tatig werden, gestal-
tend tatig werden. In einem Heim ist folgendes passiert: die haben
den Heimleiter davon-gejagt, weil er versuchte, Kollegen, die sich
mit ihnen sol idarisiert haben, rauszuschmeiBen,und dann das Heim
in Selbstverwaltung Ubernommen.
Die Verwaltungs- und Wirtschaftsabteilung ist jedoch geblieben, so
daB ein Kernbereich der Versorgung in Heimen unverandert intakt
blieb. Die Veranderungen lagen nun darin, daB das Essen selbst ausge-
teilt werden konnte und die Jugendlichen selbst abwaschen "durften".
Es wurden also Teile in die Selbstverwaltung der Jugendlichen uber-
geben, die sie erst einmal belasten.Nach wie vor hatten sie aber
keinen EinfluB darauf, was sie essen wollten, welche Wurst es zum
Abendbrot gab usw. .
Es kam nun noch ein weiterer Faktor hinzu, der die Situation er-
schwerte. Die Jugendlichen haben die Vorratsra'ume aufgebrochen, um
sich abends nach 22 oder 23 Uhr noch was zu essen zu machen.
Man reagierte dann damit, daB den Jugendlichen gesagt wurde, das geht
doch nicht, ihr kbnnt doch da nicht einfach einbrechen. Die Moglich-
keit der Jugendlichen zu sagen, wie sieht denn das zu Hause bei euch
- 15 -
aus(den Kollegen), wer schlieBt denn eueren Kuhlschrank ab, wurde
nicht aufgegn'ffen. Die Funktion der Wirtschaftsleiterin z.B. hat in
einer Selbstverwaltung ebenso wie das Wirtschaftspersonal keine Funk-
tion mehr oder muB die Inhalte mit der Jugendlichen neu bestimmen.
In dieser Phase des Kampfes urn die Selbstverwaltung des Frankfurter
Jugendwohnheimes wurde namlich nicht genau geklart, wie die Jugend-
lichen selbstandig werden, sich selbst einbringen, wo sie kreativ
sein konnen, wo wir dann auch eine ganze Menge von ihnen lernen kbn-
nen.
Was ich vorhin sagte, daS die Kollegen ihre Institution gar nicht
kannten; es war flir mich erschreckend, wie wenig die wuBten, in wel-
chem Rahmen sie arbeiten, was das Landesjugendamt ist, was ein Ju-
gendwohlfahrtsausschuB, der Landeswohlfahrtsverband, das Jugendamt
ist, schon gar nicht daran zu denken, wer der Trager des Vereins ist,
wo die Finanzen herkommen. Diese Unkenntm's flihrt zu einer vollkom-
menen Abhangigkeit - insbesondere in Konfl iktsituationen. Hier In-
formationen zu haben und dadurch beurteilen konnen, in welchen or-
ganisatorisch-padagogisch-pol i tischen Verhaltnissen man arbeitet., ist
flir die Entwicklung einer Strategie des Oberlebens und gezielten
Handel ns auBerst wichtig.
KLEINANZEIGEN
• Suchen Haus ohne groBe formal e Auflagen fur Sommerfreizeit 1978
mit Kindern aus sozialen Brennpurkten. Anregungen und Tips an
AW-Bielefeld Kreisverband-Abt.soz.Reh.-,Arndtstr. 8, 48 Bielefeld 1
I Jugendliche des Aktionsrates eines Jugendzentrums mbchten gern
Kontakt zu Sozialpadagogin/gen aufnehmen. Arbeitsmbgl ichkeit ab
Januar 1978 (Raum Niedersachsen) . Kontakt uber Chiffre 18/1 uber
die Redaktionsadresse
• Wir sind eine Projektgruppe, die sich mit obdachlosen Jugendlichen,
solche die zu Hause rausgeschmissen wurden oder es nicht mehr aus-
gehalten haben, beschaftigt. Fur diese soil eine Obernachtungsmbg-
lichkeitmit kurzfristiger( ! ) sozialpadagogischer Betreuung einge-
richtet werden. Welche Gruppen oder Einzelne haben Erfahrungen oder
wissen, wo ahnliche Projekte laufen. Informationen werden dringend
benbtigt, samtliche Kosten werden ubernommen.
Georg Detlinger, Weidenhauserstr. 37;Telf .o6421/23629(Bernhard)
I In Westberlin findet an mind. 3 Orten vom 15. - 29. Januar 1978
eine groBe Ausstellung uber alternative Energie statt. Wer in Ber-
lin Bus oder Lastwagen zum Transport freigibt - Bitte melden bei
Jochen Schaffer, Herbertstr.6, 1 Berlin 62, o3o/7841247
• Wo befindet sich ein Alternativprojekt(Kleinstheim) , das noch eine
Mitarbeiterin sucht. Ich bin Sozialarbeiterin (28 J) und mbchte
endlich in einem kontinuierlichen Projekt arbeiten und befriedig-
ende Wohn- und Arbeitsformen verwirklichen.
Gisela Wessel , Hoffschultestr.19, 44 Munster
I Dokumentation zur Entwicklung der staatlichen Behindertenponti k
in Deutschland (Entwicklungslinien und gesellschaftliche Bedin-
gungen); 351 Seiten, DM 17,— ; Bezug: A. Haaser, Gerstenweg 5
6229 Schlangenbad 5
- 16 -
Autorenkollektiv
GEDANKEN UBER UNSER LEBEN IM HEIM
VON KINDERN UND ERZIEHERN
WIR STELLEN UNSER HEIM VOR
Kinderhaus am Fuchsstein, 1 Berlin-Frohnau, Fuchssteiner Weg 13/19.
Zwei Kindergruppen mit jeweils 10 Jungen und Madchen im Alter von
6 bis 16 Jahren.
Zwei Wohngemeinschaften mit jeweils 6 Jugendlichen beiderlei Ge-
schlechts sind auBerhalb des Heimes, im Stadtkern, angesiedelt. Die
Berichte beschranken sich auf die Situation im Heim. Geschrieben und
zusammengestellt wurden sie von: Birgit Krliger, Christin Kru'ger,
Manuela Kriiger, Andreas Siebert, Marion Siebert, Barbara Wolf-Kunze,
Marwik Franz.
Aufnahniekriterien:
1. Beschulbarkeit in einer bffentlichen Schule
2. Heimaufenthalt nicht unter einem Jahr
3. Geschwister werden vorrangig aufgenomraen
4. Die jeweilige Zusamnensetzung der Gruppe muB beachtet werden.
Erziehunqsziel sehr qrob definiert:
1. Die Fahigkeit innerhalb der bestehenden Gesellschaft einen festen
Platz einnehmen zu konnen und zu behaupten.
2. Durch Entwickelung von Selbstwertgefuhl und Fbrderung individuel-
ler Fahigkeiten in alien Lebensbereichen das unter 1. genannte
Ziel zu erreichen.
3. Zu lernen in einer Gruppe zu leben und die Mbgl ichkeiten gemein-
samen Handel ns zu erfahren.
In der Gruppe leben:
Madchenhausqruppe: (die keine ist, Name ist Uberliefer
Klaus
15 Jahre
Marion
13 Jahre
Hassan
11 Jahre
Birgit
13 Jahre
Christin
12 Jahre
Erik
11 Jahre
Jenny
8 Jahre
Peggy
8 Jahre
Kerstin
6 Jahre
Blockhausgruppe:
: (das keines ist, Name ist Uberliefert)
Wolfgang
15 Jahre
Rainer
15 Jahre
Manuela
14 Jahre
- 17
Adreas
Marwik
Carola
Barbel
Sabine
Klaus-Dieter
Martin
12 Jahre
13 Jahre
9 Jahre
11 Jahre
9 Jahre
9 Jahre
7 Jahre
Mit den Kindern leben und arbeiten:
Erzieher im Gruppendienst
Sozialarbeiterin
Erzieherin
Erzieherin
Karin
Adelheid
Lilo
Wolfgang
Ralf
Dorothea
Marion
Hanna
Martin
Rolf
Erzieher mit anderen Funktionen:
Psvchologischer Dienst
Erzieher (20 Wochenstunden)
Erzieher
Erzieherin
Erzieherin
Soziologin (20 Wochenstunden)
Sozialarbei ter
Erzieher
Olivia
Antje
Heimleitung
Barbara
Karl-Heinz
Kunstpadagoge:
Pius
Haus und Wirtschaftspersonal :
Dipl. Psych. (20 Wochenstunden)
Dipl. Psych. (20 Wochenstunden)
Sozialarbeiterin
Erzieher
(20 Wochenstunden)
Nahfrau
Kochfrau
Kochfrau
Reinigungsfrau
Reinigungsfrau
Reinigungsfrau
Wirtschaftsleiterin und Kassierein
Schreibkraft (20 Wochenstunden)
Hausmeister
alle im Anerkennungsjahr
Frau M.
Frau M.
Frau N.
Frau R.
Frau M.
Frau B.
Frau L.
Frau K.
Herr H.
Praktikanten:
Jbrg
Moni ka
Norbert
Michael
Man beachte: Maximal 20 Kindern stehen 24 Erwachsene gegeniiber.
Die Gruppenerzieher arbeiten im 24 Stundenturnus rund urn die Uhr
mit Nachtbereitschaftsdienst. D.h., in jeder Gruppe ist ein Gruppen-
erzieher von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags anwesend. Er kann
U
wahrend der Nachtstunden schlafen (wenn er schlafen kann). Die Schlaf-
zeit wird zusatzlich bezahlt.
BERICHTE DER KINDER
MANUELA
Also, erst mal muB ich mir uberlegen, was ich in diesem Bericht
schreibe. Meine Schwester wollte dazu auch etwas schreiben, aber mog-
] ichst unabhangig . . .
Also erstmal bin ich 1*1 und nennen tut man mich Manuela. Im Fuchs-
stein, wo ich nun vier Jahre drin bin, sind schon viele Erzieher ge-
gangen. Und Kinder auch.
Ich mochte erst mal schreiben, was mir an dem Heim gefallt und was
ich nicht gut finde:
Das Haus iiegt im grijnen, wir sind auch nur 2o Kinder. In jeder Grup-
pe sind lo. Also 2 Gruppen. Die Kinder bzw. Jugendlichen sind von
7 b i 5 15 Jahren. In der anderen Gruppe ist es ungefahr auch so.
Wenn jetzt mal ein Thema ist, in der Gruppe, dann wird es von den
Kindern besprochen. Die Erzieher machen dann aber auch eine Hausbe-
sprechung. Die Erzieher dfirfen wir "Duzen". Also nicht "durfen",
sondern wir finden es alle besser, glaub ich jedenfalls.
Ich finde man kann auch Erzieher besser kennenlernen, wenn man auch
"Du" sagt. Also bei "Sie" kann man schon sagen, wenn das ein Fremder
ist und man noch nicht weiB, ob er uberhaupt will, daS man ihn duzt.
Unsere Gruppenbesprechungen klappen aber nicht immer, wei 1 die Kin-
der dann fernsehen wollen oder sauer sind. Kommt drauf an.
Wir versuchen auch zu diskutieren, wenn jetzt manche mal wieder ge-
schwanzt oder geklaut haben (was auch vo r kommt ) , also das Problem
versuchen irgendwie anzupacken. Warum derjenige schwanzt?
Vielleicht wei 1 er von seinen Mitschulern nicht anerkannt wird oder
we i 1 es mal wieder ein Heimkind ist usw. Manchmal traut derjenige
oder diejenige nicht zu kommen oder nichts zu sagen und manche
machen dann Q_uatsch. Dannwi rd es unruhig, daG wir manchmal aufhoren
mussen.
Wenn manche von uns schwanzen, werden sie zur Schule gefahren oder
bekommen eine Belohnung, wenn sie es "geschafft" haben. Ich finde
soetwas auch gut, weil ihnen dadurch Mut gemacht wird.
Aber es klappt nicht immer. Es g i bt auch so richtige Perioden, wenn
es jetzt besonders oft und schwer auswirkend passiert.
Wenn mi
wohne,
was im
"rumspr
Ich bin
so mude
gressiv
wieder
Von dem
horen
ch d
ist
Fuch
icht
auf
und
itat
urn 1
Str
Auge:
er Arzt, die neue Schule oder sonst wer fragt, wo ich
es mir auch peinlich, das zu sagen. Weil sich das dann,
sstein manchmal passiert, auch in Frohnau (Stadt tei 1 )
;
einer Ganztagsschule und ehrlich gesagt, bin ich dann
fertig, von dem Gebrulle, vor alien Dingen von der Ag-
durch die lo Stunden und die grauen Wande. Wenn ich dann
7 Uhr zu Hause bin, geht genau das gleiche da los.
ess und immer den Gedanken und Druck: Si tzenbleiben.zu-
n offen, naja so ungefahr.
19
Das las
ich dan
So geht
land ge
Hoffent
Ich wol
rumspin
zieher
so ne'
si nd d
sen sie dann im Fuchsstein aus an den Kleinen. Deshalb werde
n auch sauer und fange dann auch an zu meckern.
das weiter. Zwei Kinder von uns sind schon nach Westdeutsch-
kommen, wei I sie zuviel S c h e i s s e gebaut haben.
lich sind dann die Heime in Westdeutschland dafiir besser.
It auch noch etwas dazu. sagen, wenn die Kinder bei uns so
nen, ausflippen Oder so, dann werden auch automatisch die Er-
so gereizt und dann (puuh) werden die Kinder, die noch nicht
"Fl ippermei se" haben, von den Erziehern angemeckert . Also da
e Ferien wirklich schon das beste.
Die Erzieher allerdings verhalten sich auch moglichst gelassen und
frei, wenn jetzt einer mit rer sexuellen Frage ankommt. Ich finde
sowas gut, uberhaupt damit die Kinder lernen, daB sowas normal ist.
Manche kommen auch mal zu mir. So'n 15 j. Junge und meine Schwester.
Dann bin ich auch naturlich stolz. Haha.
Wenn ich das Heidi verandern wijrde, miiBte die Schule dort sein und
noch weniger Personal, weniger Erzieher und aus der Umgebung raus,
wo die Leute so miBtraurisch sind. Ich wollte auch noch sagen, daB
manche Jungen oder Madchen bei uns auch mit Schimpfworter umgehen,
wo sie selber nicht wissen, was daB ist. Vor alien Dinger schauen
sie es von den groBeren ab. Ich mach' mal 'n Beispiel ja?
Er: Nas Du Nutte, wo worst Du derm heute Ifacht?
Sie: Aah halt die Fresse, Du alter Saak.
Er: Ey, pass mal uff, nooh so'n Ding und die mile h&ngti
Sie: BVdde Votze, hau bloB ab Du Frames! "
Naja, so hb'r ich es in der Schule und manchmal bei uns. Und wenn ich
sie mal frag, also die mich so angesprochen haben: "Du sag mal, wat
is denn 'n Frommes oder ne Votze?" Dann wissen sie nicht weiter oder
sie wissen es uberhaupt nicht. Bei den Kleineren frag1 ich sowat und
bei die gleichaltrigen (neistens Jungs) vorsichtig, warum sie sowas
sagen und immer nur sowas, nie was anderes.
Zu den Beo-bbgen wollt ich sagen, daB wir sie gemeinsam mit dem Er-
zieher durchlesen. Wegen den Meinungen von uns und denen. Find ich
besser und dufte. Nur eins ist blbde: Weil man sich da vorkommt, wie
so 'ne Art " Versuchskaninchen". Also, sie haben was an uns entdeckt
oder so ahnlich und schreiben es dann auf.
Hoffentlich hat Euch mein ein bisschen langgezogener Bericht gefallen.
Manuel a
CHRISTIN
Ich heiBe Christin Kruger und bin 12 Jahre alt. Ic
als ich ins Hauptkinderheim kam, war drei Monate d
auch gereicht. Weil ich da kein Zimmer alleine ode
ster hatte. Auch, weil da die Schule drin war, und
immer so genau war. Und weil einige Erzieher stren
Eines Taqes kam die Heimleiterin aus dem Fuchsstei
abzuholen. Da hat sie nachgefragt, wegen uns fiinf
einem Tag sind wir, das heiBt meine Geschwister un
VW-Bus aus dem HKH zum FU gefahren. Das Heim hatte
fallen, und wir wollten gleich dableiben. Da hat e
dem HKH gemeint, da3 es hier so schmutzig ist. Dan
doch hineingekommen, in den FU. Die Erzieher waren
netter. Und hier waren auch weniger Kinder. In dem
auch viel mehr Ausgang. Das Heim liegt auch im Gru
konnte ich auch jedes Wochenende besuchen.
h war 8 Jahre alt,
a, und das hat mi r
r mit meiner Schwe-
wei 1 der Pfortner
g waren.
n , um Wolfgang N.
Kindern. An
d ich, mit einem
uns sehr gut ge-
in Erzieher aus
n sind wi r aber
hier auch viel
FU hatten wi r
nen. Meine Eltern
MARION
Bevor ich in den Fuchsstein kam, war ich im HKH, einem Durchgangs-
heim. Dort war die Atmosphare zwischen Erziehern und Kindern recht
beschissen. Das lag natiirlich nicht nur an den Erziehern, sondern
auch an uns, aber so, wie die z.B. die Dienste aufteilten, konnte
kein Kind oder Jugendlicher Vertrauen zu denen fassen. Da waren
namlich zwei bis drei Erzieher pro Tag da, und am Abend kam noch
1 ne Nachtschwester , die andauernd rummotzte, wenn man im Bett auch
nur einen Pieps sagte. AuBerdem konnte das Kind dort gar kein Selbst-
vertrauen aufbauen, da man im HKH andauernd gefilzt wurde, ob man
nicht noch 'ne "Lulle" hatte. Aber als ich dann in den FU kam, na
ja, da war halt alles ganz anders. Da wurde und wird man immer noch
viel freier erzogen. Erstmal durfte ich da alle duzen, was im HKH
gar nicht der Fall war. Dann durfte ich Kleidung und Mobel selbst
aussuchen, fur mein Zimmer, das ich mit Jenni, meinem Schwesterherz
bewohnte. In der ersten Zeit war ich also sozusagen im siebten Him-
mel. Aber das anderte sich sehr schnell. Namlich da, als die Oster-
ferien im Marz '75 langsam aber sicher zu Ende waren. Das hieB dann
fur mich "Penne". Und die war damals fiir mich das reinste Greuel .
Die erste Zeit waren die Kinder aus der Klasse ^c noch ganz nett,
aber als sie dann erfuhren, daB ich ein Heimkind bin, da waren sie
auf einmal gar nicht mehr so freundlich. So glaubte ich jedenfalls,
aber das stimmte gar nicht, wie sich spater herausstel 1 te, damals
glaubte ich, daB das doofe und eingebildete Kinder waren, sie aber
mieden mich, weil ich anfing zu schwanzen. So kam es also, daB ich
mich nicht mehr zum "Greuel" traute. Die Erzieher versuchten, mir
helfen in dieser Zeit, aber damals tscheckte ich dasnoch nicht
richtiq Tja, und so schwanzte ich naturlich unaufhorlich weiter,
bis zum Sommer '75, als ich mit groBer Hilfe von den Erziehern die
" doch noch bekam. Also wenn ihr mich fragt, im HKH hatte ich
- 21
ruck. Das mi t d
deren. . .? Denen
nun begann eine
mit ScheiBe bau
noch wol ] te ich
aber das gelang
hatten viele Er
das a] les ander
Zwa r g i b t ' 5 w i e
ich nicht immer
haben das im FU
auch einmal wie
Und dann werden
Erzieher und di
Ich hoffe, daB
an ein biBchen
stellungen uber
er Penne war ja nun fur mi
machte das Schwanzen naml
schwere Zeit fur mich, de
te, sahen mich die anderen
nicht aufgeben. Ich versu
mir nur zum Teil und sehr
zieher Verstandni s und sta
, denn im FU habe ich mei
heute z.B. noch oft Strei
gleich einen Bericht, wie
noch immer nicht getschek
ich und noch andere Kinde
sie begreifen, daB es im
e 1 iebe Babs in Ordnung si
der Bericht einigermaBen g
anders iiber uns denkt, fal
ein Heim gemacht habt.
ch geschafft, aber die an-
ich immer noch SpaB. Und
nn obwohl ich ofters noch
ats Streberin an. Doch
chte, mich durchzusetzen,
schwerlich. Aber auch hier
mden mir oft bei . Heute ist
n Selbstvertrauen gefunden.
t, aber deswegen zerreiB
heute z.B. Viele Kinder
t, aber bestimmt werden sie
r im FU die Kurve kriegen.
FU dufte ist, und daB die
nd.
ut ist, und daB ihr von nun
s ihr euch falsche Vor-
MARWIK
Ich heiBe Marwik und bin 2 1/2 Jahre
Katze, Hund und Schwestern in Fuchsst
sc^wister s i nd jetzt weg, meine klein
tern, und meine groBe Schwester ist in
Ein Tag in Fuchsstein verlauft filr mi
morgens urn 6 klingelt der Wecker, dan
angezogen am Fruhstiickti sch, dann ess
sam zur Bushal testel le. Urn l*t.oo Uhr
fahre ich eine Stunde nach Hause, da
ich etwas z.B. FuBball. Urn 16 Uhr ode
Schulaufgaben, wenn ich fertig bin sp
was kaufen. Wenn ich wiederkomme gibt
lig Donnerstag dann muB ich den Tisch
und morgens machen die Erzieher das.
habe, gehe ich meistens Fernsehen und
dem Erzieher, der im Dienst ist. Wenn
miide bin, gehe ich ins Bett, Oder wen
hat, dann gehe ich schlafen oder wenn
ich noch irgendetwas in meinem Zimmer
mir SpaB macht, das werde ich dann sc
Was mir in Fuchsstein gefallt
f Das Selbstbestimmen konnen, wenn ich ins Bett gehe (auBer die Mei-
nen)
• DaB wir uns selbst wecken konnen wenn wir wollen.
• DaB wir mal eingeladen werden zur irgendeiner Unternehmung.
• DaB die Erzieher auch mal Verstandni s zeigen
• DaB wir allein ins Kino gehen konnen, je nachdem.
• Es sind noch mehr Sachen, bloB mir fallen keine mehr ein.
Was mir in Fuchsstein nicht gefallt
t DaB die Kleinen von uns so friih aufstehen und immer so laut sind.
• DaB es erst ab 16 Taschengeld gibt.
in Fuchsstein. Ich bin mit
ein gekommen, Meine bei den Ge-
e Schwester ist bei Pflegeel-
einer Wohngemei nschaf t.
ch folgendermaBen:
n bin ich urn 6. ^5 gewaschen und
e ich bis urn 7.o5 und gehe lang-
ist die Schule zuende, dann
esse ich Mittag und dann spiele
r ein biBchen spa'ter mache ich
iele ich weiter oder gehe mir
es Abendbrot, oder wenn zufal-
decken und abdecken. Mittags
Wenn ich den Tisch abgedeckt
danach unterhalte ich mich mit
ich keine Luste mehr habe oder
n der Erzieher keine Zeit mehr
ich noch nicht mude bin, mache
spielen oder lesen oder was
hon sehen.
22
BIRGIT
Ich heiBe Birgit und bin 13 Jahre alt und erza'hle euch aus meinem
Heim. Ich bin schon 2 Jahre im Heim. Das Heim gefallt mir sehr, weil
die Erzieher nicht so streng sind wie in anderen Heimen. Die Kinder
und die Erzieher machen jeden Motag eine Kinderbesprechung. Hier
wurde in letzter Zeit vieles kaputt gemacht, und die anderen muBten
darunter leiden. Die Erzieher haben auch mit den Kinder gequatscht,
aber das hat meistens auch nicht geholfen. Wir haben hier auch
einen Hund, der heiBt Cora. Das ist ein dickes Vieh. Ich habe ein
Zimmer fiir mich allein, die anderen auch. Wenn ich das Heim veran-
dern konnte, wtirdeich es auch tun. Die Schule zum Beispiel ,hier
schwanzen sie ofter und die Erzieher mussen die dann zur Schule brin-
gen, Das finde ich dann ganz schon blode und dann haben die Erzie-
her keine Zeit fur uns. Wir haben hier einen groBen Garten mit
Buden die wir selber gebaut haben. Manche Erzieher gehen und neue
kommen wieder, das ist blode, weil man sich an denen gewohnt und
dann kommt wieder neue an, an die man sich wieder gewohnen muB.
Das finde ich nicht gut. Wir haben hier zwei Kochinnen, die teil-
weise ganz nett sind, teilweise auch blode, weil man fast immer ru-
hia sein muB. Wir haben einen neuen Erzieher bekommen, an den
haben wir uns aber schnell gewohnt. Wir haben hier eine Frau, die
mit uns jeden Mittwoch Theater spielt, da konnen wir tanzen und alles
sowas. Jetzt mache ich SchluB, weil ich keine Zeit mehr habe. Ich
hoffe euch hat es SpaB gemacht, diesen Bericht zu lesen.
Hit freundlichem GruB Birgit.
ANDREAS: UNTERSCHIED ZWISCHEN HEIM UND WOHNGEMEINSCHAFT
Ich Andreas bin 17 Jahre alt. Mit 11* Jahren kam ich ins Hauptkinder-
heim weil es zu Hause sehr schl imm war. Zum Anfang gefiel es mir
dort sehr gut, viel besser als zu Hause. Wenig spa'ter gefiel es mir
nicht mehr so gut, denn ich hatte nicht so viel Freizeit, ich durfte
nur im Heimgelande sein. Manchmal durfte ich auch rausgehen, urn mir
was zu holen. Die Erzieher dort im Heim waren gerade nicht so nett,
sie waren ganz schon streng. Punktlich muBte ich ins Bett, auch ande-
re Kinder. Wir waren dort unterschiedl i ch alt, muBten aber a I le zur
qleichen Zeit ins Bett. Sonnabends durften wir lange Fernsehen, das
war toll. In der Woche naturl ich, aber nicht so viel. Wir gingen
manchmal ins Theater, oder machten Unternehmungen. Spater mit 15
Jahren kam ich in ein anderes Heim, wo auch meine beiden Schwestern
Jenny (8) und Marion (13) waren. Ich hatte Gluck, denn Altere nahm
das Heim eigentlich nicht auf, da aber meine beiden Schwestern dort
waren kam ich nun dort rein. Es war ganz anders als im Hauptki nder-
hPim *Nur 20 Kinder waren dort im Heim, ich bekam em Zimmer fur
mich'oanz alleine. Das war ein schones Gefiihl fur mich, denn ,ch
hatte noch nie in meinem Leben ein eigenes Zimmer zur Verfugung
Die Erzieher waren viel freundlicher und netter als m Hauptkinder-
heim Ich hatte auch sehr viel Freizeit, und ich wurde auch nicht
nezwunqen, irgendetwas zu machen, was ich nicht wollte. Zum Bei-
sniel • Im Hauptkinderheim muBte ich das Mittagessen essen, was mir
P I' „*r nicht schmeckte. Im Kinderhaus am Fuchsstein, so hieB
»:"C: «r eine a z andere Atmosphare. Ich bekam sehr vie, Frei-
zeitangebote Ich konte auch mal langer weg bleiben mit Freunden,
- 23 -
die ich im Heim kennengelernt habe. Wi r gingen auch meistens weg ,
viel mehr als im Hauptkinderheim. Wi r durften auch rausgehen, um
zu spielen oder i rgendetwas einzukaufen wann wi r wollten, wir muGten
naturlich Bescheid sagen. Wenn wir etwas angestellt haben, dann ha-
ben die Erzieher mit uns daruber geredet und haben uns gesagt, da3
es nicht gerade gut ist, was wir gemacht haben. Sie haben sehr viel
Versta'ndni s fllr uns gehabt, wir bekamen auch keine Strafen. Im
Hauptkinderheim redeten die Erzieher nicht mit uns, wir bekamen eine
Strafe. Wir durften kein Fernsehen sehen Oder muBten fru'her ins Bett.
In diesem Heim bl ieb ich zwei Jahre, und es gefiel mir immer noch
sehr gut. Ich bin inzwischen fast 17 gewesen und kam mit noch einem
Madchen und einem Jungen in die angeschlossene Wohngemeinschaf t , da
wir schon sehr viel gelernt haben dort im Heim. Mit Geld umzugehen,
sein Zimmer ordentlich zu halten und noch andere wichtige Sachen.
Die Wohngemeinschaft liegt in der Stadt im Bezirk Wedding. DrauGen
in Frohnau, so hieG der Bezirk, wo das Heim war, war es ruhiger und
schoner, viel Griines. In der Wohngemeinschaft ist es auch sehr schon,
ich habe auch ein Zimmer fur mich alleine. Im Gegensatz zum Heim
hat man hier noch mehr Freizeit, dort sind zwar auch Erzieher, aber
die kommen nur am Tag. Nachts und morgens sind wir alleine. Das scho-
ne Leben ist nun zu Ende, wie man so sagt. Das Essen miissen wir uns
allein kochen, selbst waschen, selbst einkaufen. Wir stehen nun auf
eigenen Fuflen. Jeden Honat bekommen wir einen Satz Geld auf unsere
Konten iiberwiesen, wir miissen jetzt mit dem Geld selbst umgehen und
selbst entscheiden, was wir uns kaufen. Zum Anfang war es sehr schwer
fur uns, denn im Heim brauchten wir nicht kochen und nicht putzen,
aber bald hatten wir es uberwunden und schafften alles gut. Wir sind
jetzt selbstandig und konnen selbst entscheiden. Auch morgens zur^
Schule mCissen wir uns selbst wecken oder wir wecken uns gegenseitig.
Im Heim haben uns die Erzieher geweckt, daB war sehr schon. Hier in
der Wohngemeinschaft sind wir 6 Leute, 3 Madchen und 3 Jungen. Manch-
mal verstehen wir uns nicht, es ist sehr schwer, miteinander auszu-
kommen. Die Gemeinschaft manchmal ist auch ganz anders als im Fuchs-
stein, hier hat jeder andere Interessen, im Fuchsstein hatten wir
fast die gleichen Interessen. Im groBen und ganzen verstehen wir uns
auch, und wir versuchen, miteinander auszukommen.
Was mir nicht so gut im Heim gefiel:
Das Wechseln von Erziehern. Im Hauptkinderheim kam ein Erzieher
morgens, um uns zu wecken, mittags vor D ienstubergabe da kam der nach-
ste Erzieher, der ging abends weg und eine Nachtwache war denn da.
Im Fuchsstein war es ein biGchen anders. Die Erzieher kamen mittags
und blieben die Nacht dort und gingen erst wieder den nachsten Tag
mittags wieder weg. Das fand ich nicht so gut, denn man wuGte nicht,
wer am nachsten Tag kommt. Man hat auf einen bestimmten Erzieher
gewartet und dann kam ein ganz anderer, mit dem man viel 1 ieber zu-
sammen ist, als mit einem anderen Erzieher. Fur uns Kinder war dies
nicht so gut, denn wenn man einen Tag lang mit einem Erzieher zusam-
men war und man hat sich an ihn gewohnt, oder den Erzieher mochte
man, dann kam plotzlich ein anderer.
Auch mit dem Essen ist es hier in der Wohngemeinschaft anders, hier
konnen wir selbst entscheiden, was wir kochen, im Heim haben^wir das
Essen vorgesetzt bekommen. Mit diesem Bericht will ich ausdrucken ,
wie es in einem Heim ist, was man dort nicht entscheiden kann im
Gegensatz zur Wohngemeinschaft, dort kann man selbst entscheiden.
- 24 -
MARGIT
Margit, so heiGe ich und bin 20 Jahre alt. Ich bin noch in Schulaus-
bildung und mochte nachstes Jahr mein Abitur machen.
Ich war gerade ein halbes Jahr alt, als man mich ins Heim steckte.
Mit 16 Jahren verlieG ich das Heim und suchte mir eine Wohngemein-
schaft. In meiner Heimzeit hatte ich nie Kontakt zu meinen leiblichen
El tern.
Seitdem ich in der Wohngemeinschaft wohne, habe ich f estgestel I t ,
daB es Unterschiede zwischen Heim und Wohngemeinschaft gibt. Solange
ich im Heim war, bestand fur uns die totale Versorgungssi tuat ion.
Entscheidungen wurden uns abgenommen. Das einzigste, woruber wir
selbst entscheiden durften, war das Taschengeld. Dagegen in der
Wohngemeinschaft lernen wir, wie man sich verpflegt, wie man mit
Geld umgeht. Auch die Entscheidung , wann ich zu Bett gehen muB, wurde
mir hier nicht abgenommen. Also ich muB sagen, daB ich in der Wohn-
gemeinschaft einen Bezug zur Realita't bekommen habe. Im Heim habe
ich den Erzieher manchmal als etwas uber mir Stehendes empfunden.
In der Wohngemeinschaft hingegen habe ich zu den Beratern ein part-
nerschaf tl i ches Vernal tnis. Die Berater kommen mehr oder weniger
nach Bedurf ni ssen von uns in die Wohngemeinschaft. Man braucht sich
nicht so kontrolliert fuhlen. Im groBen und ganzen finde ich, daB
Wohngemei nschaf ten, egal welcher Art, eine Alternative zum Heim sind.
Ich lebe zwar hier in einer Wohngemeinschaft, die ich als Zwangsge-
meinschaft bezeichne, habe aber schon einige Vorteile drausgezogen .
Nur was mir an der Zwangsgemeinschaf t nicht gefallt ist, daB eine
Tendenz da ist, wo jeder mehr oder weniger fiir sich lebt. Daher
ziehe ich fiir mich die Konsequenz, daB ich i rgendwann mit Freunden
zusammenziehen werde, mit denen ich meine personlichen Probleme be-
sprechen kann. AuBerdem bin ich der Meinung, daG ich keine Berater
mehr brauche.
ENTW1CKLUNG DES HEMES UND HEIMALLTAG
Bevor ich kurz die bewegte Geschichte des Heimes und unseres All-
tags beschreibe, mbchte ich mi ch vorstellen. Ich heiBe Barbara und
bin 55 Jahre alt. Meine persbnlichen Verhaltnisse. Ich bin in 2.Ehe
verheiratet. Aus erster Ehe habe ich zwei Kinder, die nicht mehr in
meinem Haushalt leben, zwei Enkel kinder, auf die ich sehr stolz
bin.
Ich wohne in einer Mini-Wohngemeinschaft im Bezirk Kreuzberg mit
einem Freund meines Sohnes, der Musiker ist und mit dem ich viele
gemeinsame Interessen habe. Ich habe viele Freunde, mit denen ich
mich gerne treffe, um mit ihnen an Problemen aus meiner Arbeit Oder
allgemeiner Art zu arbeiten. Mit einem Wort: Mit geht es gut und ich
fuhle mich wohl in meiner Haut. Meine politische Einstellung ist
klar: Ich stehe auf der Seite der Menschen, die das Leben und die
Menschen lieben und sich dafiir einsetzen,fur Alle die Voraussetzung
fur ein menschenwlirdiges Dasein zu schaffen.
Ich stehe nicht auf der Seite der Leute, die nur ihre eigenen Inter-
essen vertreten, Kernkraftwerke bauen, Polizei terror fur richtig
halten gegen Menschen, die sich gegen menschenverachtenden Stadte-
bau oder andere menschenfeindl iche oder vernichtende Politik richten.
Ich stehe nicht auf der Seite von Leuten, die mit dem Wort Freiheit
im Mund nach alien Seiten schieBen.
Ich arbeite seit 12 Jahren im Kinderhaus am Fuchsstein. Ich bin
Sozialarbeiterin und im Heim mit der Funktion der Heimleiterin be- ^
traut. Vor 12 Jahren, als ich da anfing.war ich noch eine "richti-
ge Heimleiterin", heute vertrete ich diese Funktion nur noch nach
auBen.
In den Jahren 1970/71 fegte u'ber unser Heim eine Welle von Bambulen.
Fensterscheiben klirrten, Dachziegel flogen, das Mobiliar ging etli-
che Male zu Bruch. Diebstahle und Einbruche innerhalb des Heimes
waren an der Tagesordnung. Im Berliner Abgeordnetenhaus rotierte der
AusschuB flir Familie, Jugend und Sport, die Opposition forderte
wiedereinmal den Rlicktritt der Senatorin.
Was war geschehen:
Die Emanzipation der Erzieher nahm ihren Anfang. Fortschritti lcne
Erzieher, Praktikanten, Studenten rebellierten gegen den veralteten
Erziehungsstil. Dieser sah stark vergrbbert, etwa so aus:
1. Der Heimleiter (in) weiB am besten, was fur die Kinder gut ist
und sagt es den Erziehern. . .
2. Der Erzieher weiB, was flir die Kinder gut ist, denn der Heimlei-
ter und die Psychologen sagen es ihm.
Sind die Kinder so gut und edel wie der Heimleiter und die Erzieher,
ist alles in Ordnung, sind sie es nicht, mu'ssen sie bestraft werden.
Der Katalog von Sanktionen war unendlich und subtil, endete im
schlimmsten Fall mit Verlegung.
Die rebellierenden Erzieher weigerten sich mit Recht gegen diese
Methode.
Ergebnis: Die Erzieherschaft spaltete sich in zwei feindliche Lager
und bekampfte sich erbittert. Dieser Streit, der unausweichlich war,
schlug sich in der vorab beschriebenen Situation nieder.
- 26 -
In einem langen EntwicklungsprozeB gelang es uns, einen neuen Mit-
arbeiterstamm zu bilden und zu einer Mannschaft zu formen. Der grbB-
te Teil der Kollegen verlieB nach und nach das Heim, unter den neu-
en Bewerbern konnten wir uns damals noch die qualifiziertesten aus-
suchen, die gewillt waren, mit uns den EmanzipationsprozeB gemein-
sam fortzufiihren. Gleichzeitig begannen wir mit Gruppensupervision,
die dazu diente, eine gemeinsame padagogische Grundhaltung zu ent-
wickeln. Heute gibt es im Fuchsstein nur noch formal eine Heimlei-
terin. Die Blirokratenhierarchie will es so.
Unser Heimalltag sieht so aus:
In jeder Gruppe findet wbchentlich eine Erzieherbesprechung statt.
Die Erzieher beraten liber padagogische Probleme, diskutieren Bericht-
entwurfe, Eintragung in die Beobachtungsbbgen, organisatorische Fra-
gen und dergleichen mehr. In diesen Sitzungen auftretende Fragen
grundsatzlicher Art werden notiert und fur die Hauskonferenz vorge-
merkt.
Das Koordinationsteam, das wechselweise aus drei Erziehern gebildet
wird, sammelt die grundsatzl ichen Probleme und bringt sie in die Haus-
konferenz ein. (Psychologen und Heimleiterin werden immer als Erzie-
her bezeichnet, sie sind in alle Vorgange mit einbezogen). Die Su-
pervision, die von den Erziehern freiwillig wbchentlich einmal 1 1/2
Stunden durchgefiihrt wird, dient dazu, eben diese padagogischen
Grundsatzfragen flir die Hauskonferenz vorzudiskutieren. Reicht die
Supervision nicht aus, um anstehende Probleme hinreichend zu disku-
tieren, und Lbsungen zu entwickeln, hinter denen alle Kollegen wirk-
lich stehen konnen, wird ein Wochenendseminar eingeschoben. Im Ab-
stand von 3-4 Monaten sind wir mit dieser zusatzlichen Arbeitsform
sehr gut gefahren.
Wochenendseminar im Fuchsstein heiBt: harte, heiBe Diskussion im
fachlichen Bereich und Freude und SpaB am Zusammensein der Kollegen.
Das wichtigste Instrument zur Demokratisierung in unserem Heim ist
die Hauskonferenz. An dieser Institution sind alle Kollegen aller
Sparten beteiligt. Jeder ist gleich stimmberechtigt. Hier wird die
Heimpolitik des Hauses endgultig verpflichtend festgelegt.
Unser kleines Heim macht es mbglich, mit den Kindern stets sehr
persbnlich im Kontakt zu sein. Alles was unseren taglichen Heimall-
taq betrifft, wird am EBtisch beim gemutlichen Teestundchen mit den
Kindern besprochen. Das jedoch allein genligt nicht. Deshalb gibt es
hei uns die Institution "Kinderbesprechung". Auf diesem wichtigen
Forun werden Probleme besprochen, Konflikte ausgetragen, gemeinsame
Veranstaltungen geplant. Die Kinderbesprechung kann von Kindern oder
Erziehern einberufen werden. Es gibt keinen festen Termin dafur,
sondern sie wird nach den jweiligen Bedurfnissen einberufen. Sie
kann auch von Kindern ohne Erzieher stattfinden. So kann es vorkom-
men, daB wochenlang keine Kinderbesprechung stattfindet, dann wieder
dreimal in einer Woche.
Wir haben eine starke Gewerkschaf tsgruppe im Heim. Alle pad Mitar-
heiter sind in der 07V organisiert. Wir wissen genau, daB aktive^
Arbeit in der Gewerkschaft unerlaBlich ist, wenn unsere Arbeitssi-
tuation sich jemals bessern soil. Oft verzweifeln wir an der Starre
- 27 -
des Gewerkschaftsapparates. Alles geht so langsam und zahf 1 ussig
voran, aber es geht eben nur mit uns.
EIN TAG IM FUCHSSTEIN
Ich bin kein Gruppenerzieher, aber einmal in der Woche von Donners-
tag auf Freitag mach ich in einer Gruppe abwechslungsweise mit einem
Erzieher zusammen Nachtdienst. Das hi 1 ft mir die Kinder besser zu
kennen und die Arbeitsweise der Erzieher direkt zu erleben. Vor al-
lem aber erfahre ich mich selbst in den verschiedensten Situationen.
Wie reagiere ich, was bleibt von meinen schbnen Theorien, wie ist
das eigentlich mit dem einheitlichen Erzieherverhal ten, vor allem
aber wie fiihle ich mich wahrend und nach einem solchen Nachtdienst.
Donnerstag, 20.10.-21.10.1977
Ich mache mit Ralf zusammen Nachtdienst.
Ralf ist erst seit ca. 14 Tagen in unserem Heim und macht heute
seinen ersten Nachtdienst.
Um 12 Uhr mittags beginnt unser Dienst. Ich wappne mich also mit viel
guter Laune, denn ich weiB wie wichtig es fur den Ablauf des ganzen
Tages ist, ob ich gut ausgeschlafen und frbhlich ankomme, oder ob
mir aus was fiir Grunden auch immer, die gute Laune vergangen ist.
Schon an dieser Stelle wird mir klar, wie unnormal mein Erzieherda-
sein ist. Ich bin kein Mensch mit Sorgen und Nbten, ich habe kein
Privatleben, das mich einmal gllicklich und einmal ungliicklich macht.
Fiir die Kinder bin ich ein Erzieher, der kommt und geht und der fiir
sie nur als Erzieher im Dienst erlebbar ist. Ich bin ein Erzieher,
der zur Arbeit geht, seinen Dienst ordentlich>zu machen hat, bis der
Nachste kommt. Eben in diesem Moment geht mir auf, daB der Titel
dieses Berichtes falser ist. Ich lebe ja gar nicht in diesem Heim,
nur die Kinder konnen das mit Recht von sich behaupten.
Ich komme im Heim an. Ein paar Kinder sind schon aus der Schule zu-
rii'ek, rasen mir entgegen, wir begru'Ben uns zartlich. Fragen prasseln
auf mich herein: "Babsi, wer hat heute bei uns Dienst, bist Du heute
bei uns im Nachtdienst, schlafst Du heute bei uns, bringst Du mich
heute Abend ins Bett, kommt Karin heute, warum kommt Karin heute
nicht? usw. usw.
Ich erklare, daB ich heute mit Ralf zusammen Nachtdienst mache und
daB ich nicht weiB, wann Karin wiederkommt. Dann schiebe ich die
Kinder von mir, weil jetzt erst einmal eine halbe Stunde lang Dienst-
Ubergabe ist. Ich treffe Lilo und Ralf im Erzieherzimmer. Ralf ist
vor zwei Tagen Vater geworden, und ich mbchte ihm jetzt erst einmal
herzlich gratulieren und an seiner Freude teilnehmen. Aber das geht
nicht, denn Lilo hat einen dringenden Termin fiir ein Kind in der
Schule und muB ganz schnell weg. Wir machen also Dienstiibergabe.
Lilo berichtet uns was gestern los war, worauf wir achten mussen,
welche Termine wahrgenommen werden mlissen, und was mit den einzelnen
Kindern los war.
Wahrenddessen kommt Jenny zwei bis dreimal herein, weil sie gern
gleich mit mir Schularbei ten machen mbchte. Die ersten beiden Male
sage ich ihr geduldig, daB wir noch nicht fertig sind, in ein paar
Minuten kann sie kommen. Als sie beim drittenmal die Tu'r aufreiBt
und uns anbrlillt merke ich, wie ich gereizt werde und fauche sie an,
daB sie gefalligst warten soil bis wir fertig sind und ich jetzt
keine Zeit fiir sie habe. Jenny knallt die Tur zu und zieht heulend
und schimpfend ab. Ich argere mich bereits liber mich selbst. Warum
habe ich sie denn fiir die paar Minuten nicht auf den SchoB genommen,
was hatten wir denn so Wichtiges zu besprechen? Sie sieht drei Er-
zieher zusammen sitzen und keiner hat Zeit fiir sie. Wie oft am Tag
hort sie den Satz: "Ich habe keine Zeit!"
Lilo geht jetzt ganz schnell zu ihrem Termin. Endlich mbchte ich
mich mit Ralf beschaftigen, aber schon ist das Zimmer voller Kinder.
Jeder mbchte etwas anderes von uns. Ralf sagt, daB er am Nachmittag
zur Feier des Tages Kaffee und Kuchen spendieren will.
Mittagessen:
13 Uhr etwa sind fast alle Kinder aus der Schule da, wir essen Mit-
tag. Eine gemutliche Atmosphare bei Tisch ist nicht herzustellen.
Zunachst gibt es Streit um die Pla'tze. Die Kleinen geraten sich in
die Haare, Kerstin fangt an zu weinen. Wenn sie nicht neben Ralf sit-
zen darf, will sie gar nicht essen. Marion kommt herein und schreit
lauthals, daB man bei diesem Krach nicht essen kann, sondern Magen-
geschwiire bekommt. Hassan kommt aus der Schule. Er verteilt ein
paar Kung Fu Schlage, nicht schlimm, aber es entsteht wieder Krach.
Erik kommt mit Andreas. Sie gucken mit Abscheu auf das Mittagessen,
erklaren, daB sie so einen SaufraB bestimmt nicht essen und ver-
schwinden wieder. Ich laufe ihnen nach, frage schon auf der StraBe
wo sie denn hinwollen, bekomme aber keine Antwort, sie verschwin-
den Richtung Zeltinger Platz. Ich weiB, daB dort ein ImbiBstand ist,
und daB sie dort bestimmt von mitleidigen BUrgern etwas spendiert
bekommen. "Die armen Heimkinder kriegen bestimmt nichts Ordentliches
zu essen." Ich kbnne jetzt hinterherlaufen, aber ich mache es nicht,
weil ich Angst habe mich;la'cherlich zu machen.
Inzwischen ist das Mittagessen vorbei . Jenny und ich machen Schular-
beiten. Sie geht in die erste Klasse und ist noch mit Feuereifer da-
bei . Beim Lesen merke ich, daB sie nur lesen kann, was sie auswendig
weiB. Wir lesen 2-3 ma 1, dann kann sie alles auswendig. Ich denke
o.k., irgendwann wird sie schon richtig lesen lernen und bin froh,
daB wir fertig sind.
Pegqy die die gleiche Klasse besucht, behauptet steif und fest, sie
hat nichts auf. Na gut, denke ich, um 15 Uhr kommt die Erzieherm
Frau L., vielleicht gelingt es ihr, mit Peggy Schularbeiten zu machen.
Ich sortiere erst einmal das Geschirr in die Spulmaschine, mache den
Tisch sauber und fiihle mich 5 Minuten lang nutzlich. Dann ziehe ich
mit den drei Kleinen zum nachsten Aldi-Markt, um Kuchen fUr Ralfs
Fete einzukaufen. Ralf kummert sich derweil um die GrbBeren und de-
ren Schularbeiten.
Rpi Aldi suchen wir Kuchen aus. Die Kleinen wollen sich SuBigkeiten
^ufen und fangen an, die Regale abzugrasen, grabschen alles an und
<ind aanz schon laut. Die Leute im Geschaft sehen mich vorwurfsvoll
In und erwarten, daB ich eingreife. Ich will aber nicht, weil ich
28
29
es gut finde, daB sich die Kinder alles genau ansehen, Preise ver-
gleichen und nicht das erste Beste kaufen. Ich panzere mich gegen
die feindlichen Blicke und spitzen Bemerkungen und ziehe schlieB-
lich ab.
Im Heim angekommen decken wir den Tisch und laden alle Leute, die
im Haus sind, zum Kaffeklatsch ein. Ein Schwall von Kindern bricht
ins Zimmer. Jeder will von jedem Kuchen zugleich haben, Tassen kip-
pen urn, ohrenbetaubender Larm. Ralf sagt in diesem Moment glucklicn
und zufrieden: "Kinder kb'nnen wenigstens noch richtig feiern. ich
entspanne mich sofort, bin ihm dankbar fur diese Bemerkung und weiB
daB er recht hat. Erik, den ich seit Mittag nicht mehr gesehen habe,
kommt rein. Ich atme erleichtert auf, hoffe, daB sich jetzt eine Ge-
legenheit ergibt, mit ihm zu reden. Aber schon taucht Andreas am
Fenster auf und ruft eindringlich, daB er sofort kommen soil, sie
haben eine dringende Verabredung. Erik, eben noch ganz frbhlich,
bekommt wieder den verkrampften, gehetzten Blick, den ich seit Wo-
chen immer haufiger an ihm wahrnehme. Er verschwindet sofort. icn
habe keine Gelegenheit, ihn anzusprechen, denn gerade jetzt fangt
Martin sich an, mit Kerstin urn die letzten Kuchenkrumel zu prugeln.
Ich muB hin, wenn ich nicht will, daB das schbne, neue Kaffeege-
schirr zu Bruch gehen soil. Schnell schlage ich vor, daB wir al e im
Garten Versteck spielen wollen, urn uns auszutoben. Mem Trick k appt
heute, wir stlirmen alle in den Garten. Ich ziehe mich so schnell ich
kann aus dem Spiel raus, weil ich eigentlich von den Erlebnissen
des Tages schon ganz schbn geschafft bin.
Inzwischen ist Frau L. gekommen. Wir sind jetzt drei Erzieher in der
Gruppe. Frau L. will mit Peggy spazierengehen. Ich finde das gut,
vielleicht, wenn Peggy jetzt die Einzelsituation genieSen kann,
macht sie doch noch Schularbeiten.
Ralf fahrt mit Hassan zum Arzt, anschlieBend seine Frau und das Baby
im Krankenhaus besuchen. . . TH.rh.
Carola, aus der anderen Gruppe, war schon dreimal da i«i»it '"«
tennis zu spielen. Ich erklare ihr jedesmal, daB ich keine Zeit tur
sie habe weil ich heute im Madchenhaus Dienst habe Sie konrnt inner
wieder, weil sie mich Liberhaupt nicht versteht. SchlieBlich geht
sie traurig und enttauscht davon, sie hat nur verstanden, daB ich
SfSl'^S^BirtJJSi- ich das Schlachtfeld vom Kaffeetrin-
ken auf und fuhle mich wi edema! nutzlich. Ich suche En und Andreas,
<ie sind noch nicht wieder da, es wird schon langsam dunkel.
Die Kinder gucken jetzt im Fernsehen Pinochio, ich kann einen Moment
DannTrd es Zeit furs Abendessen. Erik und Hassan haben Tischdienst,
aber sie sind nicht da, und ich muB es selber machen. Marion hilft
mir Sie will heute Abend die Kleinen mit mir baden und ins Bett
bringen. Wir freuen uns auf eine gemiitliche Stunde.
Wir fangen gleich nach dem Essen an. Frau L. ist inzwischen mit
Peqqy zuruckgekommen, sie ku'mmert sich jetzt urn die Wasche.
Gerade als wir die Kleinen baden wollen, kommt ein groBer Junge aus
der anderen Gruppe. Er hat Streit mit Peggy gehabt und will sie
jetzt verhauen. Wir bitten ihn freundlich, doch wieder in seine Grup-
pe zu gehen und uns nicht zu stbren. Er ist sauer und laBt uns mcht
- 30 -
in Ruhe. Wir Ziehen uns ins Bad zurlick, Peggy steht verstdrt in einer
Ecke. Sie traut sich nicht auszuziehen. R. schlagt gegen die Tiir,
schreit laut, bedroht Peggy. Ich merke, wie ich immer aggressiver
werde. SchlieBlich halte ich die Situation nicht mehr aus und gehe
raus, urn mit ihm zu reden. Wir brlillen uns an. Ich sage ihm. wie be-
schissen ich es finde, daB er uns nicht in Ruhe la'Bt, er sagt mir,
wie beschissen er mich findet. Die Situation wird nicht besser. R.
geht nicht, er setzt sich jetzt mitten in den Weg. Ich zittere vor
Wut, am liebsten wurde ich ihn die Treppe runterschmeiBen . R. zit-
tert vor Wut und wlirde mich am liebsten die Treppe runterschmeiBen.
Wir tun's beide nicht, aber wir belegen uns noch eine ganze Weile
mit Schimpfworten. Ich weiB, daB die Situation verfahren ist. R.
kann jetzt gar nicht mehr weggehen, ohne sein Gesicht zu verlieren.
So motzt er noch eine Weile weiter, steht aber SchlieBlich unvermit-
telt auf und verschwindet.
Marion hat inzwischen die Kleinen fertig gebadet. Alle sind ganz
still und eingeschuchtert. Marion will den Kleinen noch vorlesen,
ich bin ihr so dankbar daflir, denn ich bin noch so erregt von der
Auseinandersetzung mit R., daB ich mich einfach nicht ruhig und lie-
bevoll verhalten kann. Ich bin so unzufrieden mit mir. Warum kann
ich nicht den Kindern eine warme, ruhige Atmosphare schaffen, warum
kann ich nicht auf R. eingehen, wenn er Sorgen hat und sie aggressiv
an den Kleinen auslebt. Wiedereinmal habe ich alles falsch gemacht.
Oder vielleicht liegt es gar nicht an mir, sondern an der Situation
im Heim?
Ralf ist inzwischen mit Hassan zuruckgekommen. Wir treffen uns im
Tagesraum und machen uns einen Tee. Marion, Birgit und Christin
kommen dazu,und die Stimmung ist plbtzlich ganz locker. Einer stimrnt
ein Lied an, Hassan bringt plbtzlich eine Kerze an, Christin holt
ein Liederbuch. Bei Kerzenschimmer und Tee verbringen wir eine gemu't-
liche Stunde. Keiner stbrt uns - Erik und Andreas sind immer noch
nicht da.
Ralf hbrt plbtzlich in Eriks Zimmer Stimmen wispern. Sie sind ganz
heimlich ins Haus geschlichen und gleich im Zimmer verschwunden.
Ralf klopft an, das Zimmer ist von innen verschlossen. Sie machen
nicht auf. Ich bin unglucklich. Wie weit sind uns die beiden Kinder
schon entglitten, daB sie nicht mehr mit uns reden wollen. Wie tief
ist ihr MiBtrauen gegen uns? Wie kbnnen wir sie wieder erreichen?
Urn zehn Uhr sind fast alle Kinder im Bett, es ist Ruhe im Haus. Ich
qehe in die andere Gruppe, urn mit den Erziehern ein wenig uber die
Tagesereignisse zu reden. Nach kurzer Zeit kommt Ralf und erzahlt
uns, daB Erik und Andreas doch noch aus ihrem Zimmer gekommen sind,
urn sich etwas zu essen zu machen. Urn Ralf und sich selbst ihre Star-
ke zu beweisen, haben sie angefangen, Rabatz zu machen, d.h. Stuhle
mit lautem Knall umgekippt, laut geschrien usw. Doro geht gleich in
die Gruppe und holt Andreas raus. Er ist hochrot im Gesicht, weiB
nicht was er machen soil, SchlieBlich trollt er sich in sein Zim-
mer. Ich weiB, ihm ist in dieser Minute genauso mies wie mir zumute.
Mm 12 Uhr sind Ralf und ich endlich mit unserem Kram fertig. Wir kbnn-
1 schiafen gehen, aber wir sind von unseren Tageserlebmssen noch
so aufgedreht, daB an schiafen nicht zu denken ist. Wir machen aus
- 31 -
der Not eine Tugend und schwatzen noch eine Stunde zusammen. Wir
kennen uns ja noch gar nicht und haben uns eine Menge zu erzahlen.
Es ist eins als ich in mein Zimmer gehe. Dort finde ich Birgit vor,
sie hat sich bei mir einquartiert. Ich finde es schon, mit einem
freundlichen Wesen mein Zimmer zu teilen.
Freitag fru'h:
Ab sechs Uhr wecken Ralf und ich die Kinder und machen Fruhstuck.
Wieder heiSt es, gute Laune zu verspriihen, urn den Kindern den Tages-
beginn so angenehm wie mbglich zu machen. Wir sind beide hundemude
nach der kurzen Nacht. Ich merke, wie ich immer angespannter werde.
Was wird mit Erik heute morgen seinf Werden wir es schaffen, ihn
zur Schule zu bewegen? Wie soil ich ihm heute morgen entgegentreten?
Soil ich ganz freundlich sein, als ware nichts, ich bin ganz unsi-
cher und hoffe, daS Ralf als neuer Erzieher ihm unbefangener gegen-
iibertreten kann. Ganz mitmeinen Sorgen beschaftigt, kiimmere ich
mich kaum urn die anderen Kinder. Christin und Birgit wollen mit mir
zusammen Kaffee trinken, Kerstin, Jenny und Peggy sind schon auf und
wollen mit mir reden. Plbtzlich sehe ich Erik noch vor dem Fruhstuck
im Parker auf die StraBe gehen. Er ist ganz blaB, sieht mich nicht
an, hetzt an mir vorbei . Ich gehe ihm nach und treffe ihn mit Andreas
zusammen gerade noch an der StraBenecke. Ich frage sie freundlich,
wo sie hinwollen und ob wir nicht erst einmal zusammen Kaffee trin-
ken wollen. Erik kann mich immer noch nicht ansehen, er sagt, sie
m'u'Bten weg, ha'tten keine Zeit. Andreas tanzt mit hochrotem Kopf auf
der StraSe herum und ruft immer: "Fang mich doch, fang mich doch".
Ich weiB nicht, was ich sagen und was ich machen soil. Klar ist,
daB sie heute wieder nicht zur Schule gehen und ihr endgiil tiger
RausschmiB aus der Schule nur noch eine Frage der Zeit ist. Was soil
dann werden? Alle bisherigen MaBnahmen haben nicht genutzt. Erst ha-
ben wir mit positiven Unterstlitzern gearbeitet, immer nur mit kurz-
fristigem Erfolg. Dann wurden sie taglich zur Schule gebracht, in
den Pausen noch zusatzlich besucht. Viele Schritte wurden gemacht,
viele Plane ausgedacht und jetzt stehe ich hier. Nichts geht mehr.
Ich merke, wie ich aus Hilflosigkeit und Mudigkeit ganz wutend wer-
de. Ich sage entschieden und energisch, daB sie jetzt sofort ins
Haus kommen sollen, damit wir miteinander reden kbnnen. Drehe mich
urn, gehe weg und sage noch mit markiger Stimme Sinnspriiche wie Z.B.:
Teh rnUBt selber entscheiden, was ihr macht. Ihr wi'Bt, daB Torsten
erst vor kurzem nach Westdeutschland verlegt wurde, wie soil es mit
euch weitergehen?
Ich weiB genau, daB das alles verkehrt ist. Erik und Andreas schwan-
zen nicht die Schule, weil sie faul sind, oder weil sie nur einfach
keine Lust haben, oder weil sie uns Erzieher argern wollen. Ihre gan-
ze Lebenssituation ist jetzt so verfahren, daB sie nicht mehr raus
kbnnen. Meine Aufgabe ware es, sie rauszuholen. Das geht aber nur,
wenn ich sie nicht dauernd bedrohe. Wieso sollen sie denn Vertrauen
zu mir haben, wenn ich ihnen immer nur erzahle, was alles noch fur
schlimme Sachen mit ihnen passieren kbnnen. Warum a'ndere ich ment
ihre Lebenssituation von Grund auf, lasse sie erst mal Vertrauen fas-
sen, fordere nicht dauernd Sachen, die sie nicht bringen kbnnen, stos-
se sie immer wetter fort von mir? Ist es die Heimstruktur,an deren
Grenzen ich wieder einmal gestoBen bin, oder ist es meine Unzulang-
lichkeit?
32 -
Juirenta
Neuerscheinungen Herbst 77
Angelika Burger/ Gerlinde
Seidenspinner
Jugend unter dem
Druck der
Arbeitslosigkeit
Reihe DJI-aktuell
176 Seiten, DM 16-
Diese Untersuchung do-
kumentiert, wie gravierend
sich Lehrstellenmangel
und Arbeitslosigkeit auf
die Jugendlichen auswir-
ken, laBt sie selbst mit
ihren Sorgen und Proble-
men zu Wort kommen und
zeigt, wie sich fehlende
berufliche Perspektiven
auf die konkrete Lebens-
situation der Jugendlichen
auswirken.
Arbeitsgruppe Tages-
m utter
Das Modellprojekt
Tagesmutter
Erfahrungen und Per-
spektiven
Reihe DJI-aktuell
236 Seiten, DM 20,-
Der Band gibt einen Ein-
blick in die Praxis dieser
neuen Betreuungsform fur
Kleinkinder. Es wird iiber
Erfahrungen in den 11
Schwerpunkten des Mo-
dellprojektes berichtet,
uber Beratung und Hilfen
fur die beteiligten Eltern
und Tagesmutter, Qber die
Entwicklung der Kinder.
Albrecht Briihl
Rechtliche Hilfen
ftir Obdachlose
168 Seiten, DM 14,-
Dieser praktische Rat-
geber informiert iiber alle
rechtlichen Fragen der
Randgruppenarbeit. Er
zeigt, wie man seine
Rechte gegeniiber Behor-
den durchsetzen kann und
bringt Musterbeispiele fur
Einspriiche, Beschwerden
und Antrage. Ein detaillie-
tes Register ermbglicht
einen raschen Zugriff zu
den im Einzelfall benotig-
ten Informationen.
Jiirgen Fritz
Methoden des
sozialen Lernens
Juventa Paperback
288 Seiten, DM 18,-
Ober 250 Spiele und
Obungen, dazu viele in
der Praxis erprobte Bei-
spiele und Anregungen
machen diesen Band zu
einer Fundgrube fur den
Praktiker. Hier findet er
eine Fulle von Methoden
zu den verschiedensten
Situationen und Aufgaben
sozialen Lernens: zum
Kennenlernen des ande-
ren, zur Verbesserung
von Kommunikationspro-
zessen, zum Umgang mit
sozialen Rollen, zur Zu-
sammenarbeit in Qruppen.
Projektgruppe Jugendbiiro
Subkultur und
Familie als
Orientierungs-
muster
Zur Lebenswelt von
Hauptschulern
Juventa Materialien,
Band 31
208 Seiten, DM 18,-
Detaillierte Befunde der
Lebenswelt-Analyse geben
einen vertieften Einblick
in die Identitatsprobleme
und die gesellschaftspoli-
tische Orientierung der
Jugendlichen.
Gerhard Schulze
Politisches
Lernen in der
Alltagserfahrung
Reihe DJI-Analysen
228 Seiten, DM 22,-
Auf der Basis einer empi-
rischen Untersuchung bei
Lehrlingen und Gymnasia-
sten wird uberpruft, welche
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einflussen.
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erscheinungen Herbst 77''
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Marion, die heute noch krank ist, hat inzwischen Schrippen gekauft,
wir decken einen gemlitlichen Friihstlickstisch fur alle Kinder und
Erzieher, die noch im Haus sind. Ralf ist gerade gekommen, er wollte
Jenny und Peggy zur Schule bringen. Mit Peggy hat es nicht geklappt,
an der Ecke ist sie ihm fortgelaufen und hat sich jetzt im Badezim-
mer eingeschlossen. Sie will mit niemandem sprechen und kommt nicht
heraus. Ralf meint schon nach seinem ersten Eindruck, sie gehbrte
noch gar nicht in die Schule, Vorschule sei fur sie besser.
Nach dem Frlihstiick geht Ralf in die Gruppenbesprechung, ich nehme
heute nicht mehr daran teil. Marion und ich sind allein. Wir beschlies-
sen, jetzt eine Frauenstunde abzuhalten. Wir duschen ausgiebig, wa-
schen uns die Haare, fbhnen uns gegenseitig, unterhalten uns. Wie
ich diese Stunde jetzt genieBe. Marion sagt: "WeiSt du Babsi, was
schon ware? Die Erzieher sollten nicht immer nach Hause gehen. Wir
m'JSten alle in einem groBen Haus zusammen wohnen. Ich finde euch
alle so nett, aber ich finde es schrecklich, daB ihr immer wieder
fort geht. Na ja, ich sehe ja ein, ihr konnt nicht Tag und Nacht mit
uns zusammen sein, das ist zu anstrengend, ach, ich weiB auch nicht,
es mu'Ste alles ganz anders sein."
Sie spricht mir aus der Seele.
Erhard Wedekind, Koln
HEIMSTRUKTUR UND ERZIEHERSITUATION
- Eine Problemskizze verwalteter Zwischenmenschlichkeit
Ober die pathogenen Auswirkungen der Institution "Heim" auf die
psycho-soziale Entwicklung der dort lebenden Kinder und Jugendlichen
gibt es bereits eine umfangreiche Literatur. Die Erzieher tauchen
allerdings in den meisten Untersuchungen lediglich als Statisten
auf, als Funktionare einer Einrichtung, die die strukturellen Merk-
male in Handeln Iibersetzen. Aber wie geht es ihnen selber dabei,
was bewegt sie, wie verarbeiten sie die enormen Belastungen ihres
Berufes? Und vor allem: wo sind die Bruchstellen, an denen sich Er-
zieher nicht nahtlos in eine insti tutionelle Maschinerie einspannen
lassen? Und es gibt kritische Erzieher und Sozialarbeiter in Heimen,
die liber Ansatzpunkte zu einer Veranderung ihrer Arbeitsbedi ngungen
und der gesamten sozialen Situation in der Einrichtung gemeinsam
nachdenken. Dabei bleibt man aber oft an Einzelheiten hangen und
droht den Oberblick zu verlieren.
Angesichts der hohen Dichte der Probleme und der umfassenden Kom-
plexitat der einzelnen Aspekte ist es sehr schwer, so etwas wie eine
Orientierung zu entwickeln, die den jeweiligen Auseinandersetzungen
eine langerfristige Richtung gibt. Bezogen auf dieses Bedlirfnis
mbchte ich mit meinem Beitrag einige grundlegende Probleme der Er-
ziehersituation umreiBen, wie sie sich aus der sozialen Struktur
stationarer Erziehungseinrichtungen ergeben. Meine uberlegungen sind
freilich bewuSt unfertig, nicht systematisch umfassend, bedurfen der
Prazisierung, Differenzierung und Infragestel lung anhand der Erfah-
rungen anderer Kollegen.
DIE TOT ALE INSTITUTION HEIM
Kennzeichnend fur das gesamte Jugendhilfesystem in der BRD ist sein
eindeutiger Interventionscharakter. Die MaBnahmen stoBen von auBen
in ein sehr vielschichtig gestricktes Netz von bkonomischen, sozia-
len und psychischen Schwierigkeiten, in denen sich eine Familie be-
findet. Sie versuchen, diese Problemlage zu reduzieren und sie fur
eine sozialtechnische Einordnung handhabbar zu machen. Ein besonders
einschneidendes Mittel ist die empfohlene Oder angeordnete Heimer-
ziehung. Symptomtrager ist dann einfach das Kind, das aggressiv und
trotzig ist oder der Jugendliche, der geklaut, gekifft hat, nicht
mehr zur Sc'hule geht. G'efragt wird nicht: wie sieht der Lebenszusam-
menhang der Familie aus; was ist mit der Arbeitsbelastung der Eltern;
wie kbnnen nachbarschaftliche Kontakte fruchtbar gemacht werden;
aibt es Mbglichkeiten von Selbsthilfe, die gefbrdert werden kbnnten;
wie sind die Chancen fur eine intensive Familienarbeit, usw. .
Stattdessen geht es urn die effektive Verwaltung eines abweichenden
Elements; effektiv heiBt, daB es erst mal verschwindet und dannt
nicht mehr stbrt.
- 35 -
"Die Unterbringung von Jugendlichen zur Resozialisierung in einem
Heim setzt nach geltendem Recht deren Verwahrlosung voraus, also
ein von der Norm abweichendes Verhalten, das von der Familie nicht
mehr behoben werden kann. Die Heimerziehung ist damit repressiv und
diskriminierend zugleich. Repressiv, indem sie erst einsetzt, nach-
dem eine ernste soziale Schadigung bereits eingetreten ist, und die-
se gleichsam bestraft; diskriminierend, indem sie das Versagen der
betroffenen Familie feststellt." (1)
Wer versagt? Die Familie, die ihre materiellen Belastungen nicht
mehr aushalt Oder sich beim krampfhaften Versuch, sozial aufzustei-
gen, auf Kosten der Kinder verhoben hat, die Eltern, deren gelernte
Normen und Orientierungen nichts mehr hergeben angesichts immer un-
durchschaubarer gesellschaftlicher Ablaufe und die sich in ihrer Un-
sicherheit an das Kind klammern und es ungewollt psychisch verkrup-
peln - Oder die Form asozialer Ansammlung vereinzelter Lohnarbeiter
in menschenfeindlichen Betonburgen, in denen sie sich nach der ano-
denden und stumpfsinnigen Routine des Jobs als kauflustige Konsumen-
teneinheit ein gefalliges Familienleben inszenieren sollen?
Die Unterbringung des ausgesonderten Symptomtragers erfolgt "bffent-
lich". "Offentliche Erziehung" heiBt praktisch institutionelle Er-
fassung und soziale Abschottung. Herausgerissen aus dem bisherigen
Lebenszusammenhang soil das Kind oder der Jugendliche lernen, mit
den Schwierigkeiten fertig zu werden, die in diesem Kontext entstan-
den sind; befriedigendere soziale Verhal tensweisen, die den Umgang
mit der gesellschaftlichen Realitat erleichtern, sollen im Heim er-
worben werden, dessen innere Struktur eine vol 1 ig anders gelagerte
Eigengesetzlichkeit aufweist als diese Realitat. Die institutionelle
Eigengesetzlichkeit des Heimes wird bestimmt durch die Merkmale
einer "totalen Institution", wie sie Erving Goffman beschrieben hat:
"In der modernen Gesellschaft besteht eine grundlegende soziale Ord-
nung, nach der der einzelne an verschiedenen Orten schlaft, spiel t,
arbeitet - und dies mit wechselnden Partnern, unter verschiedenen
Autorita'ten und ohne einen umfassenden rationalen Plan. Das zentrale
Moment totaler Institutionen besteht darin, daB die Schranken, die
normalerweise diese drei Lebensbereiche voneinander trennen, aufge-
hoben sind:
1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben
Stelle, unter ein und derselben Autoritat statt.
2. Die Mitglieder der Institution fuhren alle Phasen ihrer taglichen
Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer groBen Gruppe von Schick-
salsgenossen aus, wobei alien die gleiche Behandlung zuteil wird und
alle die gleiche Tatigkeit geineinsam verrichten mussen.
3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu
einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nachste liber, und die gan-
ze Folge der Ta'tigkeiten wird von oben durch ein System expliziter
formaler Regeln und durch einen Stab von Funktiona'ren vorgeschrie-
ben.
4. Die verschiedenen erzwungenen Ta'tigkeiten werden in einem einzi-
gen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offi-
ziellen Ziele der Institution zu erreichen." (2)
GegenLiber Goffman ist allerdings darauf hinzuweisen, daB sich die
fatale Logik der totalen Institution nicht bereits aus der Aufhe-
bung der flir die burgerliche Gesellschaft typischen Trennung der
- 36 -
Lebensbereiche Arbeit, Offentlichkeit und private Reproduktion er-
gibt, sondern aus der Organisierung dieser Aufhebung als soziales
Ab seits, in dem gesellschaftliche Realitat nicht produktiv ange-
eignet wird. Das Heim als soziales Abseits stellt ein umfassendes
Versorgungssystem dar, das den Anspruch erhebt, alle Bediirfnisse
der Insassen entmlindigend flir diese zu regulieren. Die dabei struk-
turell produzierte Passivitat und Unselbstandigkeit bef'ahigt die Be-
troffenen noch nicht einmal zur Erlernung der wesentlichsten Kultur-
techniken, die ein Lohnabhangiger benb'tigt, urn seine Arbeitskraft
entsprechend zu verkaufen, von einer interessenbezogenen Auseinander-
setzung mit den sozialen Widersprlichen ganz zu schweigen. Alle sozial-
padagogischen und therapeutischen Lernzielbestimmungen denunzieren
sich von selber angesichts der in Heimen liblichen Versorgungsstra-
tegie, die den Betroffenen aller Notwendigkeiten enthebt, seine un-
mittelbaren lebenspraktischen Angelegenheiten, die sonst den Alltag
der Menschen nachhaltig bestimmen, selber in die Hand zu nehmen.
Einfache Ablaufe wie Einkaufen, Kochen, Putzen, Reparaturen, Frei-
zeitgestaltung sind den Heitninsassen entzogen. Erfahrungen im Um-
gang mit Behdrden, Sffentlichen Einrichtungen und Kulturinsti tutio-
nen konnen nicht Stuck flir Stuck selbstta'tig gemacht werden. Wie
soil dabei ein Kind oder ein Jugendlicher spielerisch in die Lage
versetzt werden, sich im Umgang mit Kontakten zu anderen Menschen
selber zu erfahren, sich zu identif izieren und abzugrenzen? Die Ra-
tionalitat der effektiven Abflitterung im organisierten Heimrahmen
stent quer zu den notwendigen Bedingungen sozialer Lernprozesse.
DAS DILEMMA " BLOSSER " PADAGOGIK
Wie strukturieren nun diese objektiven Bedingungen des Heimes als
.totale Institution das Verhaltnis der Erzieher zu den Kindern und
Jugendlichen? Die Versorgungssituation und die absolute Verkummerung
lebenspraktischer Al 1 tagsvorgange schafft tendenziell eine Gegenstands-
losigkeit der Erziehungsprozesse. Der vorprogrammierte Ablauf la'Bt
kaum noch gemeinsatne Aufgaben, - ein sinnlich erfahrbares gemeinsames
Drittes -, auf die sich die Interaktion Erzieher/Jugendlicher bezie-
hen kbnnte, ubrig. Fur den Erzieher existiert keine Tatigkeit, die
von den Kindern und Jugendlichen losgelbst ware. Unter dem Aspekt
dieser strukturellen Klinstlichkeit der Verhaltensablaufe wird das
Heim zum Ort "bloBer Padagogik". Das, was Heinsohn/Knieper in ihrer
Kritik des Kindergartens herausgefunden haben, gilt in noch weit
existentiellerem MaBe fur das Heim. Die Erzieher "existieren Uber-
haupt nur in Beziehung auf die Kinder. Dadurch wird aber die ent-
scheidende Komponente der Wertschatzung, namlich die Herstellung
einer gleichberechtigten (sozii-reversiblen) Partnerschaft fast un-
mbalich gemacht. Bei welchen seiner Verrichtungen soil der Erzieher
das wertgeschatzte Kind teilhaben lassen, wenn in der padagogischen
Situation der Institution das Kind doch gerade Gegenstand seiner
Verrichtung ist?" (3)
na die Heimerzieher in der Regel auch von den Bereichen der schuli-
=rhen Ausbildung und der Berufsvorberei tung ferngehalten werden,
hleibt ihnen in. Prinzip nichts als die KonzentratTon auf das Sozial-
uirhalten als solches und auf eine irgendwie abgetrennt emtieren-
de Sotionalitat. Dieser zu bearbeitende konmunikatTve Rest redu-
- 37 -
ziert die Vielfalt von Lebenspraxis auf die Vermittlung von Normen
und die Kontrolle ihrer Einhaltung. "Die Eindrucksmonotonie flihrt
im Extrem dazu, daB den Kindern nichts vermittelt werden kann, sie
aber doch 'irgendwie' Liber den Tag kommen mLissen und dabei aller-
lei Unbequemes anstellen kbnnen. Diese Mb'glichkeit erscheint als
Ungehorsam und Stbrung und sorgt flir die spezifische Qualitat des
Erzieher-Kind-Verhaltnisses, das als eine des ' Ruhig-und-auf-Distanz-
haltens' der Kinder bezeichnet werden kann." (4)
MaBstabe und Anhaltspunkte auBerhalb der Beziehung zum Erzieher, an
denen sinnvolle Verhaltensstrategien im Hinblick auf ein zu errei-
chendes Ziel liberprlift werden kbnnten, stehen dem Kind oder dem Ju-
gendlichen nur auBerst begrenzt zur VerfUgung. Die Bestatigung Oder
die Verwerfung eigenen Tuns wi rd fast ausschl ieSl ich Liber die Reak-
tion des Erziehers rLickgekoppelt. Die allmachtig erscheinende Stel-
lung des Erwachsenen kann so nicht Stuck fur StUck abgebaut werden.
Bei welchem AnlaB kdnnten denn Schwachen, Unfertigkeiten und noch
nicht ausreichende Erfahrungen auf Seiten des Erziehers beobachtet
werden? "Interesse fLir sich und seine Wertschatzung nimmt das Kind
wahr, wenn es den Erzieher zeitweise selbst wie ein kleines Kind er-
fahrt, das auch nicht alles kann, sondern noch zu arbeiten und zu
lernen hat." (5) Wenn dies strukturell nahezu verunmbglicht wird,
kbnnen Autonomie und Selbstsicherheit nicht entwickelt werden, ver-
festigt sich stattdessen die neurotische Fixierung auf die Bezugs-
person und fbrdert all die hilflosen Versuche, Aufmerksamkeit zu
erzielen, ein Qua'ntchen Liebe abzubekomnen und dabei in der Konkur-
renz zu den anderen Mi tbetroffenen Tricks und entsprechende oppor-
tunistische Strategien anzuwenden.
Dieses Strukturmuster hat sich kein Erzieher ausgedacht. Es ist in
Bezug auf die jeweils besonderen Bedingungen einer Einrichtung in
unterschiedlicher Intensitat wirksam und wird als solches vom Er-
zieher vorgefunden - freilich als eine strukturelle Gewalt,der man
sich nicht entziehen kann. Sie erfaBt auch den Kollegen mit ganz
anders gelagerten Absichten mit einer Eigendynamik, die nur den Me-
chanismen des Institutionserhaltes verpflichtet zu sein scheint.
Verscharft wird der skizzierte Zusammenhang durch die soziale und
bkonomische Eingangsvoraussetzung, die die Lage der Erzieher be-
stimmt. Sie sind zunachst wie jeder Arbeiter und Angestellte im in-
dustriellen Sektor Lohnabhangige, die ihre Arbeitskraft individuell
und in Konkurrenz zu anderen Bewerbern zu mbglichst gLinstigen Bedin-
gungen verkaufen mLissen und darauf zu achten haben, daB sie sich nicht
fruhzeitig verschleiBen. Die so objektiv gegebene "Gl eichg'u'l tigkei t"
pragt ihre Kooperation zu den Kollegen und ihr Verhaltnis zu ihrem
Arbeitsgegenstand, den Kindern und Jugendlichen. Dieser Umstand ist
erst zu einem Zeitpunkt in das Blickfeld der padagogischen Forschung
geruckt, als traditionelle vorkapitalistische Erziehungsleitbilder
christlich-cari tativer Art sich zunehmend aufzulbsen und ihre ver-
haltensnormierende Kraft einzubuBen begannen. Auch wenn bei alien
Beteiligten nach wie vor groBe Hemmungen und emotionale Barrieren
bestehen, diesen einfachen aber fur die erzieherische Motivation
grundlegenden Sachverhalt zu akzeptieren, muB von dem fehlenden Zu-
sammenhang des Schicksals der padagogischen Arbei tsgegenstande mit
der Zukunftsperspektive der Erzieher ausgegangen werden. "Sie (die
38 -
Kinder, E.W.) kbnnen - solange die Erziehung nicht bewuBt politisch
betrieben wird - nicht als mbgliche spatere Kooperationspartner
beim gemeinsamen Aufbau verbesserter Lebensbedingungen und einer
sinnvollen Gesellschaft wahrgenommen werden; nicht als Subjekte, die
ich fur die Durchsetzung und Erhaltung meiner materiellen Lebensinter-
essen brauche, ebenso wie sie mien brauchen, sondern primar nur als
kleine Nervensagen, die mit ihren AnsprLichen meine Arbeitskraft und
seelische Gesundheit zu zerriitten drohen." (6)
Keine padagogische Institution wirkt sich psychisch so belastend aus
wie das Heim. Okkupierende Arbeitszeiten (Schichtdienst, Nachtbereit-
schaft, Dienst an Sonn- und Feiertagen) und die Libergreifenden so-
zialen Isolationsmechanismen der totalen Institution (kaum Mbg-
lichkeiten fLir intensive AuBenkontakte und fLir ein regelma'Biges
politisches, kulturelles und soziales Engagement auBerhalb des Hei-
mes) lassen ein geregeltes "Privatleben" kaum zu. Andererseits er-
zwingt die Heimstruktur als Ort bloBer Pa'dagogik eine ausschl ieBli-
che Ausrichtung des Erziehers auf die Kinder und Jugendlichen. Seine
eigenen Interessen und BedLirfnisse finden hier keinen bffentlich
sanktionierten und legitimen Zugang zu seiner Erziehungsarbeit.
Allerdings ist die objektiv angelegte LohnerziehergleichgLiltigkeit
keineswegs eine fur den Padagogen durchga'ngig zu praktizierende Ver-
haltensorientierung. Die Lebendigkeit menschlicher Beziehungen sel-
ber verhindert ihre totale Wirksamkeit innerhalb des Verhaltnisses
zu den Kindern und Kollegen. Die Dichte der Interaktion macht auch
zwangslaufig die Perspektive des anderen fLir mich erfahrbar, der ich
mich in meinem Verhalten nicht vbllig entziehen kann. In ihr sind
verschLittete BedLirfnisse nach sinnvoller Vergegenstandlichung und
Ansa'tzen solidarisch-ehrlicher Kooperation spLirbar, die ahnliche Im-
pulse bei mir mobilisieren. Diese Impulse kbnnen selbst durch die
repressive Struktur des Heimes nicht ganzlich unterdrLickt werden.
Sie liegen freilich auBerhalb der professionellen Erzieherrolle und
werden im Alltag oftmals eher beila'ufig - bei einem FuBballspiel ,
beim selber Musik machen etc.- freigesetzt. Der Liberalisierungs-
qrad in den konkreten Arbeitsbedingungen der jeweiligen Einrichtung
entscheidet letztlich daruber, wie schnell diese produktiven Abfall-
produkte des Erzieheralltags wieder unter den Wust von Trott und
Routine untergepflugt werden. Gerade die permanente Diskrepanz zwi-
schen solchen Situationen und den objektiven Bedingungen, der Zwie-
SDalt dem der Erzieher so schnell nicht entgehen kann, macht die
eiqentliche Arbeitsbelastung in hohem MaBe aus. "Der ArbeitsstreB,
unter dem Lohnerzieher stehen, wirkt wahrscheinlich gar mcht so
sehr direkt liber die physische und sozusagen meBbare nervliche Be-
lastunq am Arbeitsplatz, Uber die Arbeitsdauer, den Larmpegel .son-
dern er wirkt vielmehr i n d i r e k t. Liber die Wahrnehmung der
PersDektive und Bedurfnisse der Erziehungsobjekte, denen ich mich
irgendwie verpflichtet flihle, die ich aber notgedrungen und sehen-
den Auges vernachlassigen muB." (7)
nie individuelle Verarbeitung dieser Arbeitsbelastung, der Urngang
rait dieser spezi.ellen Form eines strukturell produzierten schlechten
Gewis ens ist nicht unabhangig von dan gesellschaftlichen Problan-
h^.RKein des einzelnen Erziehers. Aufgrund einer empinschen Un-
SsSchunJ Slstberlfner Erziehungsheime kornnt Schmidt-Traub zu den,
- 39 -
Ergebnis: "Namentlich von Erziehern, die ihren Beruf aus padagogischen
und politischen Motiven heraus gewahlt hab en, werden nicht-padagogi-
sche Sachzwange in der tag "lichen Erziehungsarbeit besonders kriti-
siert. Erzieher, die nur geringfugig pa'dagogisches Engagement erken-
nen lassen, scheinen demgegenliber ha'ufiger in derartige administra-
tive und technokratische Ta'tigkeiten auszuweichen." (8)
HILFE DURCH " REFORMEN " VON OBEN ?
Aber wo findet die padagogisch-politische Motivation kritischer So-
zialarbeiter und Erzieher Unterstutzung? Die vielfach angepriesenen
reformerischen Veranderungen hbren oftmals mit einigen neuen Baulich-
keiten, personellen Veranderungen bzw. der Einstellung eines Psy-
chologen auch schon wieder auf. Ernsthafte Veranderungen der Heim-
struktur sind davon nicht zu erwarten. Gerade psychologische Fach-
krafte dienen als therapeutische Beilage eher der Legitimation, der
offiziellen Bezeichnung der Einrichtung das Wbrtchen "heilpadago-
gisch" voranzusetzen und damit die Pflegesatze zu erhbhen. Isolier-
te Therapieversuche mit einzelnen Kindern und Jugendlichen bleiben aber
weitgehend uneffektiv, wenn sie nicht in ein sozialtherapeutisches
Milieu eingebettet sind.
Mhnlich verhalt es sich mit den zahlreichen Fortbildungsangeboten,
von deren Besuch sich der Trager ein progressives Image, der inter-
essierte Erzieher konkrete Hilfestellungen fiir die Praxis erhofft.
DaB es sich dabei zumeist um Etikettenschwindel handelt, merkt der
Kollege spatestens dann, wenn er mit dem einen Oder anderen neuen
Vorschlag nach der Fortbildung versucht, gegen die Starrheit der
Institution anzugehen. Mittlerweile kritisiert denn auch ein renom-
mierter Vertreter des offiziellen Refortnflligels wie Bauerle die Inef-
fizienz solcher MaBnahmen. "Die institutionellen Zwa'nge der Sffent-
lichen und privaten Institutionen und Dienste der Sozialarbeit
(von burokratischen Traditionen, Mangel an personellen und materiel-
len Ressourcen bis zu rechtspolitisch unumwerfbaren Positionen) las-
sen es in der Regel nicht zu, daS Entwicklungen im BewuBtsein der
Teilnehmer und in ihrer methodischen Geschicklichkeit sich in der
taglichen Praxis nach einem Fortbildungskurs anders niederschlagen
als in Enttauschung, Resignation und Verzweiflung der Beteiligten.
Ihr Anpassungsdruck ist - von der Fortbildungsstatte zuru'ckgekehrt -
noch akuter...Er (der fortgebildete Padagoge, E.W.) ist tief beunru-
higt, daB alles so lauft, wie es lauft, und daB weder er noch die
Kollegen aus ihren Handlungszwangen herausfinden . Alle guten Vor-
satze, alle aktivierten Impulse weichen alsbald dem beklemmenden Ge-
flihl der Unabhanderlichkeit der institutionellen Verha'ltnisse. Ein
resignatives Sich-Abfinden tritt an die Stelle des eben noch neu ge-
starkten Mutes, es einmal anders zu versuchen. Alle Logik der Ver-
nunft bricht vor den Fakten der Institution." (9)
Bauerle schlagt ein Konzept der Institutionsberatung vor, nach dem
die Fortbildung in der Einrichtung selber unter EinschluB aller Be-
teiligten von unabhangigen "Moderatoren" durchgefu'hrt und die Erwei-
terung der padagogischen Kompetenz mit der Veranderung institutionel-
ler Strukturen verbunden werden soil. Versuche in diese Richtung
kbnnten sicherlich nicht schaden, aber neben vorsichtigen Zweifeln
- 40 -
an der Unabhangigkeit und Konfliktfreudigkeit der "Moderatoren" ist
die grundsatzl iche Frage zu stellen, woher die Gelder und das Inter-
esse der Verbande herkommen sollen und wieviele Einrichtungen dann
von der Institutionenberatung profitieren kbnnen?
Die vage Hoffnung auf die Realisierung derartiger Konzepte gibt den
Erziehern noch keine realistische Handlungsorientierung, vermag die
verbreitete Resignation noch nicht aufzubrechen. Resignation ist ne-
ben direkten Rausschmissen die Hauptursache flir die hohe Fluktuation
gerade unter den jlingeren und den kritischen Erziehern. Dazu heiBt
es in der bereits zitierten Westberliner Untersuchung: "40 % der
Befragten sind erst 1-2 Jahre lang in dem jetzigen Heim beschaftigt
und nur 23 % der Erzieher haben keinerlei Personalwechsel wahrend
der letzten beiden Jahre in ihrer Erziehergruppe erlebt. Diese ho-
he Fluktuation unter den Erziehern stellt eine weitere ungiinstige Be-
dingung flir eine kollektive Erziehungsplanung dar. Mehr wie schie-
re Versorgungsprozesse sind von den Erziehern bei den GruppengrbSen
von 10-12 Kindern nicht zu erwarten." (10)
Wenn befriedigende Lbsungen von "oben" kaum zu
als Alternative zur individuellen Resignation
gien von "unten" in Frage kommen. Denn: kurzfr
erziehung nicht abschaffbar. "Jedes 20. Kind 1
Zei t Oder fur viele Jahre im Heim. Das ist ein
se." (11) Tausende von Kollegen sind dort besc
letzten Jahren leicht fallende Tendenz in der
bei Jugendlichen nach FEH (Freiwillige Erziehu
geordnete Fursorgeerziehung) steigt aufgrund d
keit und der bkonomischen Krise in der letzten
erwarten sind, kbnnen
nur kollektive Strate-
istig ist die Heim-
ebt etwa fur klirzere
es aus jeder Schulklas-
haftigt. Die in den
Belegung vor all em
ngshilfe) und FE (an-
er Jugendarbeitslosig-
Zeit wieder an.
LOHNERZIEHERINTERESSEN OFFENSIV ORGANISIEF£N !
Zuna'chst ist es erforderlich, daB die Erzieher offen zu ihren Repro-
duktionsbedlirfnissen als Lohnerzieher stehen und nicht langer versu-
chen, die Paradoxien der herkbmmlichen Heimstruktur durch indivi-
duelles Oberengagement(sprich:unbezahlte Mehrarbeit, zu kompensieren.
Ein solcher Umgang mit dem schlechten Gewissen flihrt namlich nur da-
zu daB sich die Padagogen verschleiBen und fruhzeitig kaputtmachen.
Das nLitzt letztlich auch den Betroffenen wenig; produziert wird eine
uberzogene Erwartungshaltung, die Kinder und Jugendlichen mbgen den
Mehreinsatz durch Dankbarkeit honorieren. Das Ergebnis sind vermehr-
te Unsicherheiten und Schuldgefuhle bei den Betroffenen sowie Ent-
tauschung und Frustration auf Seiten der Erzieher. Die Anspruche aus
der eigenen Lohnabhangigkeit offensiv einklagen, kann fur kritische
Kollegen nur bedeuten, sich gewerkschaftlich in der DTV zu organi-
sieren Damit sieht es gerade bei den Heimerziehern schlecht aus:
"Aus einer Statistik des DGB von 1970 gent hervor, daB nur ca. 8 %
aller Erzieher gewerkschaftlich organisiert sind. Dagegen sind knapp
80 % der Lehrer und fast 95 % aller Metallarbeiter Gewerkschaftsmit-
alieder" (12) Hier liegt eine Quelle fur die starre Unveranderlich-
kPit der'objektiven Arbeitsbedingungen im Heim. Genauso wenig wie
die Industriearbeiter ohne eine gewerkschaftliche Organisierung ihre
Arbeitskraft vor dem kapitalistischen Raubbau schutzen konnten wer-
den auch die Heimerzieher ihre Situation ohne eine adaquate Interes-
- 41 -
senvertretung nicht verbessern kbnnen.
Dabei kbnnen die Forderungen nicht bei rein quantitation Anhebun-
gen des Monatslohnes und des Freizeitausgleich.es stehenbleiben.
Vielmehr kommt es darauf an, "bkonomische Forderungen starker an
fortschrittlichen padagogischen Inhalten zu orientieren." (13)
Das heiSt,z.B. die hierarchische Strukturierung des Mitarbeiterkol-
legiums zu bekampfen. "Befbrderungen wirken sich nachteilig auf So-
lidarisierungsprozesse unter den Erziehern aus und schranken die
Flexibility der funktionalen Arbeitsteilung in der Erziehergruppe
ein, da sie rivalisierende Einstellungen, sowie statusorientierte
Ambitionen unter den Erziehern beglinstigen. Die Beforderungskrite-
rien sind nach Ansicht vieler Erzieher Liberdies irrational. Viele
Erzieher betrachten das Befbrderungssystem mit gemischten Gefuhlen:
Zum einen sind Aufstiegsaspirationen unverkennbar, andererseits wird
mit Nachdruck die Forderung gestellt, hierarchische Strukturen im
Heim abzubauen, u.a. durch eine paritatische Besoldung zu ersetzen."
(14) Neben der Abschaffung des l.,2.und 3. Erziehers etc. la'uft eine
verschra'nkung okonomischer und sozialpadagogischer Forderungen auch
darauf hinaus, Anordnungen der Heimleitung durch Teamentscheidungen
zu ersetzen und auf die Installation einer kollektiven Heimleitung
hinzuarbeiten, verstarkte Mitsprache bei der Einstellung neuer Kol-
legen und der Festlegung der Indikation bzw. der Aufnahmekriterien
zu verlangen. In diesen Zusammenhang gehbrt ebenfalls eine grb(5ere
Autonomie der einzelnen Gruppen.
Praktisch erfordert diese Strategie zuniichst die Bildung einer D7V-
Betriebsgruppe und die Wahl eines Betriebsrates. Dies sindnotwen-
dige Mittel, urn BewulBtwerdungsprozesse unter den Kollegen in Gang
zu bringen und Artikulationsmbglichkeiten fur das Erkennen und Wahr-
nehmen der eigenen Interessen zu schaffen. Solche Initiativen werden
vor allem bei kirchlichen Tragern auf starken Widerstand stoBen,
die bisher unter Berufung auf den besonderen Status von Religions-
gemeinschaften ihren Mitarbeitern legitime Rechte als Lohnabhangige
vorenthielten. Das jungste Grundsatzurteil des Landesarbeitsgerich-
tes Hamm (Aktenzeichen 3 Sa. 941/76) (15) im Rechtsstreit zwischen
0TV und Evangelischer Kirche dlirfte allerdings die formalen Bedin-
gungen fiir gewerkschaftliche Aktivitaten erheblich verbessert haben.
Danach werden Mitarbeitern kirchlicher Einrichtungen die Schutz-
normen des staatlichen Arbeitsrechtes" in vollem Umfang zugestanden.
Weitaus hemnender wirkt sich aber die Beschrankung der
auf allein quantitative Forderungen aus, die bislang di
nellen Strukturen und damit ebenfalls den konzeptionell
Erziehungsprozesse ausblendeten. Daran"wird der Apparat
wohl nichts andern. Fortschrittliche Heimerzieher werde
nicht umhin kbnnen, informelle Gruppen in einzelnen Hei
lokaler Ebene nach dem Vorbild der AKS-Gruppen zu bilde
krete Handlungsperspektiven im Hinblick auf den Arbeits
die Gewerkschaft entwickeln. (16) Wahrscheinlich kbnnen
Gruppen Liber einen regelmalBigen uberregionalen Erfahrun
wie er mit der ersten Heimerziehertagung im Juni 77 in
de gekonmen ist, besser stabilisieren.
OTV selber
e institutio-
en Rahmen der
freiwillig
n deshalb
men und auf
n, die kon-
platz und
sich solche
gsaustausch,
Kbln zustan-
- 42
GEGEN EINE MORALISIERENDE AUSBEUTUNG DES " SCHLECHTEN
GEWISSENS " DER ERZIEHER
Ich wollte mit dem bisher Gesagten keinesfalls den illusionaren An-
spruch verbreiten, lediglich eine im obigen Sinne angelegte Gewerk-
schaftsarbeit konne bereits die strukturellen Widerspru'che im Ver-
haltnis der Erzieher zu ihren Arbeitsgegenstanden, den Kindern und
Jugendlichen , aufheben. Ganz im Gegenteil: ein offensiver Kampf fur
bessere Arbeits bedingungen der Lohnerzieher unter den gegebenen Sy-
stembedingungen der Heimerziehung wird notwendigerweise mit den Be-
dlirfnissen der betroffenen Heiminsassen kollidieren und diesen Inter-
essenkonflikt sogar weiter zuspitzen. Denn: "Arbeitsorganisatori-
sche Reformen, wie die Herabsetzung der Arbeitszeit (...) und die
Erhbhung der Erzieherzahl pro Gruppe, fiihren zu einer noch starkeren
ihkonsistenz der padagogischen Vorgehensweisen, sowie einer komplexe-
ren Organisationsstruktur im Heim!" (17) Niemand, der praktische Er-
fahrungen in der Heimerziehung gesammelt hat, wird diesen Zusammen-
hang ernsthaft bestreiten konnen. Aber es ware fatal, wenn hiermit
der AnlaS gegeben ware, hinter den erreichten Problematisierungsgrad
zuriickzufallen, die eigenen Reproduktionsbedlirfnisse wieder hinten-
an zu stellen und damit der moralisierenden Argumentation flihrender
Theoretiker der Heimerziehung aufzusitzen, die da z.B. lautet: "Von
den Bediirfnissen des Kindes ausgehend, la'Bt sich eine 40-Stunden-
Woche mit einem noch so ausgeklligel ten Dienstplan und mit noch so
vielen Mitarbeitern in der Heimerziehung nicht rechtfertigen. Wer
anders behauptet, argumentiert unpadagogisch. Wer eine 40-Stunden-
Woche in der Heimerziehung durchflihrt, handelt unpadagogisch! Heim-
erziehung mit derart geregelter Arbeitszeit geht immer zu Lasten
der Kinder!" (18)
ner solchen Argumentation? Ober die Mobilisie-
begrlindeten schlechten Gewissens sollen die
LuckenbliSer zur Aufrechterhaltung einer in sich
ischen Veranstaltung im sozialen Abseits her-
hnen die freiwillige Ubernahme der sozialen Iso-
rlindig schmackhaft gemacht. "Der Kompromil5 kbnn-
her leben allein oder mit ihren Lebenspartnern
wie die Kinder in einer organisierten Gemein-
d sie leben dabei bestimmte Zeiten in einer Grup-
eren Bereich des Heimes. Das Heim als organisier-
lebens von Kindern und Erwachsenen halt nicht nur
fur die Befriedigung der Bedurfnisse der Kin-
flir die der Erwachsenen. Der Erzieher arbeitet
sondern er lebt in der Gruppe." (19)
Was steckt hinter ei
rung des strukturen
Erzieher erneut als
fragwlirdigen padagog
halten. Dabei wird i
lation allzu vorderg
te lauten: Die Erzie
bzw. Familien ebenso
schaft, dem Heim. Un
pe oder in einem and
te Form des Zusammen
Mbglichkeiten bereit
der, sondern ebenso
nicht in der Gruppe,
Was ist das fur ein KompromiB? Weil es den Kindern in den Heimen
nicht gut geht, sind die Erzieher am besten rund urn die Uhr da, urn
die schlimmsten Beschadigungen abzumildern. Wenn man wirklich die
Interessen der in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen im
Auge hat, kann man keine Scheinlbsung auf Kosten der Erzieher an-
streben Aufgrund der eingangs skizzierten Analyse des Heimes als
totaler Institution im Kontext eines repressiv angelegten Jugendhil-
ferechtes, mul3 die Ausgangsbasis der moralisierenden Argumentation
verworfen werden, daB namlich die Installation von Heimen als sozia-
lem Abseits Liberhaupt etwas mit padagogischen Notwendigkei ten aufgrund
43 -
bestimmter psycho-sozialer Problemlagen der Betroffenen zu tun hat.
Kein Kind und kein Jugendlicher hat ein Interesse daran, in einem
realitatsfremden Versorgungssystem Dinge zu lernen, die fur das Ober-
leben in der Institution niitzlich, fiir die Bewaltigung gesellschaft-
licher Real i tat aber verhangnisvoll sind. DaB dies in Heimen mit
einer gewissen Zwangslaufigkeit geschieht, wird auch der wohlmeinen-
de und engagierte Erzieher mit noch so viel Einsatz nicht grundle-
gend verhindern kdnnen.
Aus diesem Grund ist jede Strategie zu verwerfen, die dazu beitra'gt,
die Gleichung "OTfentliche Erziehung" = totale Institution zu zemen-
tieren. Urn aber uberhaupt die Voraussetzungen fur eine wirkliche In-
fragestellung der grundlegenden Heimstruktur zu schaffen, urn gleich-
sam den gesellschaftl ichen Nahrboden daflir zu bereiten, brauchen
die Padagogen Kooperationsbedingungen, die ihnen eine solche Ausein-
andersetzung erst ermdglichen. Bedingungen, die ihre Konkurrenz als
Lohnerzieher untereinander tendenziell aufheben und mit dem Kampf
fur adaquate Reproduktionsmoglichkeiten (Arbeitszeit, Urlaub, Frei-
zeit) die Uffentl ichkeit und den Staat zwingen, die Effizienz der
Aufrechterhaltung herkommlicher Heime zu uberprufen.' Vor diesem
Hintergrund hat die oben angerissene Gewerkschaftsstrategie ihren
Sinn, eben nicht als reiner Selbstzweck. Die in diesem Zusammenhang
genannten Forderungen nach Abschaffung der heiminternen Hierarchie
und nach mehr Mitsprachembglichkei ten miiBten nunmehr durch Forde-
rungen erganzt werden, die als la'ngerf ristige Richtschnur gelten
kbnnen:
I Gleiche Bezahlung von Erziehern und anderem staatlichen Lehrper-
sonal , um mit der unsinnigen Unterbewertung von Sozialisations-
arbeit gegenliber intel lektuel ler Vermi ttlungsarbeit SchluB zu
inachen
I Hochschulstudium der Erzieher, das ihnen eine selbstandige wissen-
schaftliche Kompetenz fur ihre padagogischen Aufgaben vermittelt
I Einflihrung des Einheitserzi ehers mit gleicher Ausbildungsstufe
und gleicher Lohnhbhe
I Abschaffung der Hierarchie, Delegation spezieller Aufgaben durch
Wahl.
Diese Forderungen decken sich zum Teil mit denen, die Heinsohn/
Knieper fiir das soziale Personal im Kindergarten erhoben haben. (20)
Dieser Umstand verdeutlicht, daB es hier nicht nur um heiminterne^
Probleme all ein geht, sondern um Grundfragen des gesamten profess io-
nellen Sozialisationsbereiches.
KOOPERATIONSPROBLEME DER " HILFLOSEN HELFER '*
Der Kampf fiir eine Veranderung der objektiven Kooperationsbedingun-
gen der Erzieher muB, wenn er nicht an den inneren Widerstanden der
Kollegen selber scheitern will, auch die Arbeit an den psychischen
Einstellungen zueinander und dem sozialen Umgang miteinander ein-
schlieBen. Das hierarchische und geflihlsblinde Konkurrenzsystem
in den Erziehungsinstitutionen findet ja in der sozialisationsbe- _
dingten Vorpragung der Erzieher gunstige Voraussetzungen fiir subtile
Verinnerlichungsformen. Diese erschweren einen offenen und gef'uhls-
betonten sol idarischen Umgang unter den Kollegen, ohne den aber die
Verlag
im Eigentum
der Mitarbeiter
fefuns
Y die
UnserJahresabokostet38,-DM,furLeute
gleichzeitig pad. extra abonnieren,
ganze20DM!
44
pol iti sch-padagogischen Auseinandersetzungen von vornherein zum
Scheitern verurteilt sind. Die eigene Vorpragung wird im Zuge der
Ausbildung liberlagert durch die Obernahme der professi oriel 1 en
"Helferrolle". Diese la'St Hilflosigkei t nur bei den Klienten gelten
und veranlaBt den professionellen Padagogen, sich als unmittelbar
betroffenen M e n s c h e n aus der Arbeitssi tuation herauszuneh-
men. Der Erfolg in der beruflichen Tatigkeit wird in hohem MaBe von
der Beherrschung einzelner Methoden abhangig gemacht, nicht von der
durch den "Klienten" sinnlich erfahrbaren eigenen emotionalen Stimnig-
keit. Die Verfestigung dieser Rolle kann zu klinisch feststellbaren
psychogenen Niederschlagen in Form von Depressionen, Phobien, Nerven-
zusammenbruchen und sogar Suizidversuchen fiihren, deren Auftreten
bei sozialen Berufen als significant holier festgestellt wurde. (21)
Es ist durchaus zu vermuten, daB d
chischen Mechanismen einen wesentl
erstaunliche Reserve von Erziehern
chen Organisierung. In jedem Fall
sionellen Helferselbstverstandniss
unter den Kollegen, weil sie die V
rungen und Veranderungsstrategien
ten fingsten und Bedlirfnissen verhi
iese unterschwellig wirksamen psy-
ichen Grund mit abgeben fur die
gegenliber einer gewerkschaftli-
blockiert die Fassade des profes-
es echte Solidarisierungsprozesse
erankerung von gemeinsamen Forde-
in den nur zu Unrecht ganz priva-
ndert.
Es klingt paradox, aber das professionelle Helferversta'ndms bezieht
seine Ldsungsstrategien fur eine Verbesserung zwischenmenschlicher
Ablaufe aus einer Quelle von Fachlichkeit, die sich gegenuber einer
echten dialoghaften Menschlichkeit hermetisch abgeriegelt hat. Zuge-
geben, gerade kritische Padagogen sind nicht total durch die perver-
tierte Helferrolle definiert (vgl. die Aussagen uber die Perspektiven-
wahrnehmung), aber vollig kann sich niemand von uns davon frei spre-
chen. Mir scheint, daB es sich bei dieser Strategie, das Leiden des
Gegenuber letztlich nicht an die eigene emotionale Betroffenhei t
herankoramen zu lassen, urn die psychische Entsprechung der objektiv
angelegten Lohnerziehergleichgultigkeit handelt, die zudem noch mit
Resten des liberkommenen caritativen Leitbildes verwoben wird. Und
in der Tat, unter den Bedingungen von Lohnerziehung in entfremdeten
Institutionen stellt das sogenannte "Helfersyndrom" (Schmidtbauer)
eine Art individueller Schutz dar, der freilich schon angesichts
seines krankmachenden Preises nicht viel taugt. Padagogen, die eine
offensive Strategie zur grundlegenden Veranderung total er Inst tu-
?ionen im Sinn haben, mussen auf diesen "Schutz" vollends verzichten
lernen.
Eiqene Betroffenhei t, Unsicherheit und Sngste im Kollegenkreis offen
anzusprechen, setzt ein hohes MaB an Vertrauen und aufeinander Ein-
gehen voraus. Meine eigenen Erfahrungen in einer der wemgen Retorm-
einrichtungen, die versuchen, diese psycho-soziale Dimension in der
Arbeit mit den Jugendlichen und in der Kooperation unter den Kolle-
gen in Erfahrungsgruppen aufzugreifen und bewuBt zu machen, haben
mir verdeutlicht, wie schwer es ist, diese Offenheit untereinander
herzustellen. Oftmals sind kleinere Gruppen, die sich spontan aus
eigener Initiative bilden, notwendig, urn hier weiter zu kommen. (ZZ)
46
OBERLEBEN IM HEIMALLTAG UND PERSPEKTIVEN AUSSERHALB
Erfahrungen mit dem Bemuhen, die eigene Betroffenhei t in die Heim-
arbeit einzubeziehen, wirken sich einschneidend auf das Verhaltnis
zu den Jugendlichen aus. Wenn ich verstehen lerne, warum sich ein
Junge in Drogen, Alkohol, in eine kriminelle Karriere oder in eine
totale Selbstisolation fllichtet (oder fllichten muB), dann provo-
ziert die Frage, wie er einen befriedigenderen Weg, der eine soziale
Entwicklung erlaubt, finden kann, zugleich eine Problematisierung
meiner eigenen Lebensorientierung. Denn das normierte kleinblirger-
liche Gllick bietet fur den Jungen keinerlei Reiz mehr, ist vielmehr
Ursache seines verzweifel ten Protestes.
Welche Alternative kann ich durch den Lebenszusammenhang, in dem ich
stehe, vorleben und vermitteln? Welche gemeinsam leitenden Oberzeu-
gungen existieren im Mitarbeiterkreis, die uber ein reduziertes Job-
verstandnis hinaus gesellschaftl iche Perspektiven beinhalten?
In den meisten herkbmmlichen Heimen kommt diese Problematik erst
garnicht auf den Tisch.
Das therapeutische Reformheim sensibilisiert fur diese Fragen, eine
Antwort stellt es aber noch nicht da. Die objektive Kluft zwischen
der sozialen Lebenslage der Mitarbeiter auBerhalb des Heimes und
der Situation der Jugendlichen bleibt bestehen.
Trotzdem ermbglichen Veranderungen der "inneren" Kooperationsbedin-
gungen unter den Kollegen, die mit der Verbesserung der objektiven
Arbei tsbedingungen im Heim einhergehen mlissen, eine weitgehende Pro-
blematisierung des eigenen padagogischen Selbstverstandnisses , die
Infragestellung der professionellen Helferrolle. Der grundlegende
Widerspruch von Lohnerziehung, der immanent nicht aufzuheben ist,
wird bewuBter: Als professionelle Padagogen bewirken wir nur dann
etwas, wenn wir uns unprofessionell verhalten, in realen Lebenssitua-
tionen und nicht in sozial-therapeutischen Settings. Diese Situatio-
nen sind aber vor dem Hintergrund des strukturellen Fehlens gemeinsa-
mer wichtiger Aufgaben mit den Kindern und Jugendlichen die Ausnah-
me, die bloBe Padagogik dagegen die Regel.
Vom Padagogisieren wegzukommen heiBt, sich starker auf natlirliche
Alltagsbezlige zu konzentrieren, diese im Versorgungssystem des Hei-
mes wieder zu entdecken und sie sich mit den Jugendlichen zuruckzu-
erobern, schrankt die Mechanismen der totalen Institution eher ein
als ein versierter Psychologe. Zusammen Einkaufen, Kochen, das Haus
sauber halten und selbstandig renovieren - das sind ein paar der
wenigen sozial relevanten Situationen, an denen sich mehr an wirk-
licher Beziehung und Auseinandersetzung zwischen Erziehern und Ju-
gendlichen entwickelt als in den Besprechungen und "Falldiskussio-
Frei'lich kann diese Vorgehensweise nicht mehr, als den Jugendlichen
und den Erziehern das tagliche Oberleben im sozialen Abseits etwas
zu erleichtern. Wenn aber Erzieher und Jugendliche versuchen, jede
soziale Situation auszunutzen, die Kontakte nach drauBen schafft
und ein Stuck weit die Isolation des Heimes aufbricht, liegt das im
Interesse beider.
Besonders krass zeigt sich die isolierende Wirkungsweise der Heim-
erziehung auf dem Gebiet der Berufsausbildung. Eine Erhebung, die
in 54 Heimen der Bundeslander Baden-wurttemberg, Hamburg, Hessen,
- 47 -
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Jahre 1976 vorgenommen
wurde, ergab, "daB nur 131 = 4,3 % aller Jugendlicher in einer qua-
lifizierten betriebl ichen Ausbildung auBerhalb des Heimes stehen."
(23) Ober zwei Drittel der Jugendlichen mussen mit einer unqualifi-
zierten "Ausbildung" im Heim vorlieb nehmen. Hier ist z.B. zu for-
dern, daB die im Zusammenhang mit der Jugendarbei tslosigkeit geplan-
ten liberbetriebl ichen Lehrwerkstatten Jugendliche aus Heimen ver-
starkt integrieren. (24)
Diese Versuche, den Mantel der sozialen Isolation liber den Heimen
punktuell zu durchlbchern, stehen nicht im Gegensatz zu dem lang-
fristigen Ziel, Heime als padagogische Institutionen abzuschaffen.
Wenn sich die Erzieher im Sinne der skizzierten gewerkschaftl ichen
Strategie nicht darauf einlassen, die Realisierung von Offnungsversu-
chen der Heime nur durch eigenen Mehreinsatz zu gewahrleisten, tra-
gen sie dazu bei, die padagogische Irrational! tat totaler Institutio-
nen zu verdeutl ichen. Das offensive Einklagen der eigenen Lohner-
zieherinteressen ist der Kunstlichkeit des Heimrahmens vollauf ange-
messen. Indirekt wird dadurch zwangslaufig die Aufmerksankeit auf
Projekte gelenkt, die in den Lebenszusammenhangen der Betroffenen
ansetzen. Hier liegt die Nahtstelle zu den alternativen Versuchen
von integrierter Familien- und Gemeinwesenarbei t, in deren Rahmen
Moglichkeiten kollektiver Lebensformen von Erziehern, Kindern, Ju-
gendlichen und alteren Leuten zu diskutieren sind. Der Unsinn blos-
ser Padagogik laBt sich letztlich wohl nur in Projekten aufheben,
in denen die Padagogen selber Betroffene sind und mit alien anderen
qemeinsam produktiv an einer Lebenspraxis arbeiten, die mchts mehr
mit der kalkulierten Zuwendung des Lohnerziehers zu tun hat, sondern
mit zwischenmenschlicher Erfahrung bei der Aneignung gesellscnattli-
cher Zusammenhange. (25)
ANMERKUNGEN
Barabas, Blanke, Stascheit, SachBe, "Exkurs: Zur politischen
Okonomie der Heimerziehung: Fiirsorgeerziehung oder Sozialisa-
tionshilfe?", in: dies., dahrbuch der Sozialarbeit 1976,
S. 235, Reinbeck 1975 ......
Goffman, Erving, "Asyle - Ober die soziale Situation psychiatn-
scher Patienten und anderer Insassen , Frankfurt l9/<:, s. i'
Heinsohn, Gunnar, Knieper, Barbara M.C., "Das Desinteresse
lohnabhangiger Padagogen als zentrales Problem der Erziehung ,
in: Bruder, Klaus-Jurgen u.a., Kritik der padagognschen Psycho-
logie, Reinbeck 1976, S. 28
Heinsohn, G. /Knieper, B.M.C., "Wie Gleichgul tigkei t und Inter-
esse der Erzieher sich auf Erwerb von theoretischem Wissen und
seinem Gebrauch gegenuber den Kindern auswirken", in: pad. extra
Nr. 19/20, Frankfurt 1975, S. 38
Heinsohn/Knieper, "Das Desinteresse lohnabhangiger Padagogen. . .(
a.a.O., S. 29
(6) Ottomeyer, Klaus, "Dkonomische Zwange und menschliche Beziehungen
- soziales Verhalten im Kapitalismus" , Reinbeck 1977, S. 203
(7) Ottomeyer, a.a.O., S. 204/205
(8) Schmidt-Traub, Sigrun, "Rollenkonflikte der Heimerzieher ,
Weinheim 1975, S. 145
(1)
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(22)
(23)
(24)
(25)
Bauerle, Wolfgang, "Fortbildung von Sozialarbeitern ohne Fort-
bildung ihrer Institutionen?", in: Materialien zur Heimerziehung,
Nr. 3/76, Hg. Internationale Gesellschaft fur Heimerziehung,
Frankfurt 1976, S. 7 u. 8
Schmidt-Traub, a.a.O., S. 145
Bonhoeffer, Martin , "Heimerziehung la'Bt sich nicht mit Zahlen
beschreiben. . .", in: betrifft:erziehung Nr. 11/76, Weinheim
1976, S. 37
Martin, Klaus-Rainer, "Der Erzieherberuf" , in: Kupffer, Hein-
rich, Einflihrung in Theorie und Praxis der Heimerziehung,
Heidelberg 1977, S. 116
Wedekind, Erhard, "Gewerkschaftsarbei t und politische Organi-
sierung von Sozialarbeitern", in: Informationsdienst Sozialar-
beit, Nr. 16, Offenbach 1977, S. 60
Schmidt-Traub, a.a.O., S. 147
"Schiff betreten", in: Der Spiegel Nr. 40/77, Hamburg 1977,
S. 70-74
Vgl. Wedekind, a.a.O., S. 58-60
Schmidt-Traub, a.a.O., S. 144
Martin, a.a.O., S. 104
Martin, a.a.O. , S. 105
Vgl. Heinsohn, Gunnar/Knieper, Rolf, "Theorie des Familien-
rechts. Geschlechtsrollenaufhebung, Kindesvernachlassigung, Ge-
burtenruckgang", Frankfurt 1974, S. 235-236
Vgl. Schmidtbauer, Wolfgang, "Die hilflosen Heifer - Liber die
seelische Problematik der helfenden Berufe", Reinbeck 1977
Vgl. Klliwer, Karl, "Die psychoanalytische Kleingruppe als
Agentur der Klarung zwischen Persbnlichkeit und Gesellschaft",
in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Nr. 2/74, Hg.
Arbeiterwohlfahrt Bonn, 1974
Landschaftsverband Rheinland, Rundschreiben 42/8, 24. 8. 77, S. 4
Vgl. Happle, Paul/Wedekind, Erhard, "Heimjugendliche und Ar-
beitslosigkeit", in: pad. extra Nr. 17/18 1975, Frankfurt
Als ein Beispiel kann man die Tvind-Schulen in Danemark er-
wahnen, die mittlerweile viele Sozial padagogen in der BRD
motiviert haben, ahnliche Projekte aufzubauen (z.B. die Werk-
schule in Berlin)
Inforj
ERFAHRUNGEN MIT EINER BETRIEBSGRUPPE IM HEIM
Seit nunmehr fast ein
richtung sich zusamme
Rahmen flir das Formul
setzen gewerkschaftli
ich diesen sehr besch
len, um mbglicherweis
lich zu zeigen, daB i
sondern durchaus eine
sicht ware dann vie
Kollegen/innen zu ver
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ngetan, um i
ieren eigene
cher Forderu
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suchen.
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nicht auf sie
len Hintergrund
innvolle Hilfe,
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riebsgruppe einen
Interessen zum Durch-
Im folgenden wi 1 1
ntwicklung darstel-
eimerziehung deut-
beschrankt sind,
haben, Diese Ein-
etwas fthnliches mit
DAS SCHLECHTE GEWISSEN, WENN MAN BEGINNT, SICH AUF EIGENE
BEDDRFNISSE ZTJ BESINNEN
Wir alle sind schon mal mit der Frage eines Jugendlichen konfron-
tiert worden; "Wofu'r wirst Du eigentlich bezahlt, Du sitzt hier 'rum,
quatschst ab und zu mit uns und dann,Punkt 22.00 Uhr haust Du ab
und la'Bt uns hier." Wir kennen das Gefuhl , das sich dann einstellt.
Es wird dadurch bestimmt, daB wir einerseits wissen, wieviel Zeit
und Energie fur diese Arbeit aufgebracht werden muB. Uir wissen und
sp'u'ren es taglich, daB wir mit unseren privaten Bezligen ins Schleu-
dern kommen. Wir haben den Eindruck, fast alle physische und psychi-
sche Kraft fur eine solche sehr intensive Arbeit investieren zu mu's-
sen, um auch nur ein wenig das Gefuhl zu haben, sinnvoll zu arbeiten.
Und dann die Frage "Wofu'r wirst Du eigentlich bezahlt?" Mit ihr wird
klar, wie wenig solche Jugendlichen von Dir als Person haben, wo sie
doch'angewiesen sind auf eine einigennaBen tragfahige Beziehung zu
jemandem.auf den sie sich flir die Zeit im Heim verlassen kbnnen.
Dies Bedurfnis der Jugendlichen scheint zunachst dem Bedurfnis der
Institution und deren Vertretern zu entsprechen. Kurz gesagt:
Du sol 1 st moglichst viel an Zeit und Arbeit aufwenden, um eine hohe
Erfolgsquote bei den Jugendlichen zu erreichen und ein geringes MaB
an zusatzlich notwendig werdenden Personalkosten zu erzielen. Die
Belohnungsskala sieht dann ahnlich aus. Ich meine nicht etwa , daB
diese Skala offiziell bestunde, nein, wie und in welcher Weise in-
formell auf ein hones zeitliches und emotionales Engagement unter
den Kollegen/innen und "den Vertretern des Heimes reagiert wird, macht
bei vielen Kollegen/innen das Gefuhl .sinnvolle oder weniger sinnvol-
le Arbeit zu leisten.
Und dann plotzlich wird ein Kollege/in aus deinem Team krank, oder
ein anderes Teammi tgl ied fahrt in Urlaub, zur Kur oder will zu einer
Fortbildung ,zieht um oder sonst irgendwas und du schaust auf deinen
Dienstplan und stellst fest, daB du diese Woche mal wieder mehr als
51
50 Stunden in der Gruppe warst. Und dann gehst du zur Heimleitung
und sagst, lieber Heimleiter, die zehn bis zwanzig Stunden mochte
ich entweder bezahlt haben oder mir als freie Tage aufschreiben. Der
sagt dir aber, das kbnnen wir nicht, das gibt ein FaS ohne Boden,
Liberal 1 ist das Hemd zu kurz, die kriegen wir niemals vom Trager be-
zahlt und auBerdem diese Stunden hast du ja freiwillig gemacht. Sie
waren von mir nicht angeordnet. Und dann flihlt man sich verarscht
und denkt sich, niemals werde ich nochmals mehr als 40 Stunden arbei-
ten und beginnt seinen Dienstplan zu durchforsten, urn uberfViissige
Stunden zu streichen. Doch man findet keine, weil man genau weiB,
wenn ich die und die Stunde streiche, kommt die Gruppe zu kurz. Und
gerade hat doch so ein bi'Bchen Selbstregulation unter den Ougendli-
chen angefangen. Die muB ich doch unterstutzen, sonst fange ich nach-
her wieder ganz von vorne an, oder einer von denen landet im Knast
oder nimmt Drogen oder sonst was. Und man macht weiter seine 50 bis
60 Stunden ohne zusatzliche Bezahlung, weil man auch keinen Ort hat,
wo dies alles besprochen und mbglicherweise in Forderungen einmiin-
den kann. Das schlechte Gewissen dem Jugendlichen und der Institu-
tion gegen'uber scheint erst einmal gesiegt zu haben.
WIE EINE BETRIEBSGRUPPE ENTSTAND
In unserem Heim haben wir iirmer schon ein ausgefeiltes Besprechungs-
system gehabt. Selbst gruppendynamische Mitarbeiterbesprechungen
sind eingebunden in ein sechsstlindiges wbchentliches Besprechungssy-
stem. Diese Besprechungen bieten viele Mbglichkeiten, fachliche,
narzistische und strukturelle Probleme einer solchen Einrichtung zu
thematisieren. Doch schaffen sie nicht die Konkurrenz, den Neid und
die unterschiedlich bewerteten Funktionen ab. Sie schaffen auch nicht
die Tatsache aus der Welt, daB die Bezahlung desto hbher ausfa'llt,
je weniger man mit den Betroffenen zu tun hat. Im Gegenteil, ten-
denziell schaffen solche Besprechungen das GefUhl,"wir" sind alle
zusammen an einer Sache beschaftigt, wir sitzen in einem Boot und
miissen uns nur immer wieder entscheiden, wohin es geht, wer rudern
und wer steuern soil .
Ich meine damit, daB solche Besprechungen Illusionen na'hren, Entla-
stung fur widerspruchliche Spannungen schaffen und scheinbar Unter-
schiede nivellieren. Es ware aber falsch, wenn aus dieser Aussage
gefolgert wurde, daB Mitarbeiterbesprechungen abgeschafft werden
so11ten. Man sollte nur auch die Gefahren solcher Besprechungen er-
kennen und mit ihnen umgehen.
Auch wir sind lange Zeit davon ausgegangen, daB wir in solchen Be-
sprechungen all unsere Probleme diskutieren und Ibsen kbnnten und
daB das Formulieren bestinmter eigener Bediirfnisse in der Arbeit
schon eine wirksame Veranderung bringen kbnnte. Wir haben mcnt ge-
merkt, daB viele Besprechungen uns eher beschwichtigt haben und uns
in eine Verantwortlichkeit fur die Gesamteinrichtung hineingedriickt
haben, deren Struktur wir erst einmal nicht zu verantworten haben.
Wir haben nicht gemerkt, wie wenig auf unsere eigenen Schwierigkei-
ten eingegangen werden konnte und wie sehr uns ein "schlechtes Ge-
wissen" beim Formulieren eigener berechtigter Interessen behindert
hat.
52 -
Durch informellen Kontakt und durch die anstehende Wahl eines neuen
Betriebsrates wurden uns diese Strukturen deutlicher. Wir sahen mehr
und mehr die dringende Notwendigkei t einer eigenen OTV-Betriebsgrup-
pe, zu der alle Kollegen/innen, die mit ihrer widersprlichl ichen Si-
tuation nicht so leicht fertig werden, kommen kbnnen. Gleichzeitig
fand auch die Wahl von Vertrauensleuten statt, die sich vor allem
urn die vbllige Abspaltung des Wirtschafts- und Verwal tungspersonals
klimmern sollten. So formulierten wir folgende Aufgabengebiete fur
die Gruppe:
- tarifliche und arbeitsrechtliche Selbstqual if i kation,
- regelmaBiger Kontakt zur Gewerkschaft,
- regelmaBiger Kontakt zum Betriebsrat und umgekehrt,
- Diskussion bestimmter betriebsinterner Probleme auf gewerkschaft-
lichem Hintergrund (z.B. fordere ich fur dienstplanma'Bige uber-
stunden finanziellen oder Freizeitausgleich) ,
- alle Fragen, die mit Hbhergruppierungen im Verwaltungs- und Wirt-
schaftsbereich zu tun haben,
- konzeptionelle Probleme, die sich auf Kollegen auswirken,
- Dienstplanprobleme,
- regelma'Biges Info Liber Arbeitgeber.
Wir waren und sind uns dariiber klar, daB ein solcher Katalog kaum
in einer Wochenstunde zu schaffen ist. Trotzdem bietet er eine gute
Orientierung fur unsere Arbeit.
Anfang des Jahres haben wir dann in Zusammenarbeit und Abstimmung
mit unserem engagierter Betriebsrat festgestel 1 t, daB uns seit Jahren
fur dienstplanma'Bige Oberstunden die tarifvertragl ich zustehenden
Zuschlage nicht bezahlt wurden.
Wir setzten uns zusanmen und formulierten ein Papier, in dem auf
diesen Zustand hingewiesen wurde. Gleichzeitig wurde die Heimleitung
vom Betriebsrat informiert. Reaktion des Tragers: wir bekommen zwar
jetzt die Zuschlage, doch findet jetzt eine rigidere Form der Ober-
stundenbeurteilung statt. Es wird nicht mehr jede Oberstunde bewil-
ligt, die sich aus der Notwendigkeit der Praxis ergibt, sondern es
wird ein starkerer Druck auf die Kollegen ausgelibt, das Aufschrei-
ben von Oberstunden doch lieber zu vergessen.
AusfluB dieses Papiers der OTV-Betriebsgruppe war dann weiter die
Einrichtung einer Arbeitsgruppe im Heim, die einmal die rotwendig
anfallenden Dienstzeiten addieren sollte, feststellen sollte, wie-
Viel Kollegen/innen fur diese notwendig anfallenden Dienstzeiten zur
Verfiigung stehen m'uBten. Auf das Ergebnis dieser Gruppe werde ich im
weiteren noch zu ruck kommen.
Beeindruckend war die Reaktion, die das Papier der DTV-Betriebsgrup-
pe unter den Kollegen/innen und der Heimleitung auslbste. Der Heim-
leiter wurde sich an dieser Stelle exemplarisch seiner widerspruch-
1 ichen Pufferfunktior bewuBt und antizipierte in seiner betroffenen
Reaktion die Gefahrlichkeit der Konsequenzen eines solchen Papiers
fur die Heimerziehung. Denn: Uns wurde klar, wenn wir konsequent
diegewerkschaftlich erkampften Fortschritte (z.B. 40-Stunden-Woche)
fordern und leben wollten, wurde diese Forderung Heimerziehung ten-
denziell unmbglich machen. Als Beleg das von mir erwiihnte Ergebnis
unserer Dienstplan-Arbeitsgruppe.
Es zeigte, daB zum kontinuierlichen Abdecken von alien Zeiten, die
- 53 -
fur Jugendliche im Wohnbereich anfallen (unter Berlicksichtigung von
durchschnittlich 30 Tagen Urlaub und 14 Tagen Krankheit pro Jahr/
Kollege/in) genau 5,8 Stellen pro Gruppe anfallen (Doppelbesetzung
am Abend und Doppelbesetzung am Wochenende). D.h., es sind immer
drei Kollegen im Dienst und 2,8 Kollegen/innen machen Urlaub, sind
krank oder haben frei . Diese 5,8 Kollegen/innen wlirden bei einer Be-
zahlung von BAT 4b (graduierte Sozialpadagogen/innen) jeder einzeln
durchschnittlich 2.400.-- DM brutto (ca. 1.500.-- DM netto) verdie-
nen. Das hieSe pro Jahr fur 5,8 Kollegen/innen 180.000.-- DM. Bei
einer Gruppe von 12 Jugendlichen ware der Personalaufwand nur allein
fiir den Wohnbereich pro Tag und Junge von knapp 45.-- DM, also mehr
als das Doppelte wie bisher. Diese Kalkulation verdeutlicht einen
nicht mehr zu leugnenden EngpaB in den Arbeitsmbglichkeiten der
Heime.
In diesem Zusammenhang kbnnen wir uns als Sozialarbeiter/innen nicht
den Schuh anziehen, urn solche strukturellen Probleme von Heimerzie-
hung durch Mehrarbeit zu kompensieren. Es ware namlich denkbar, wie-
der eine 50-Stunden-Woche flir Heimerzieher bei entsprechender Be-
zahlung einzuflihren. Wlirden wir uns darauf einlassen, waren wir mit-
verantwortlich flir die Erhaltung eines Heimerziehungstnodells, das
weder Jugendliche genligend selbstverantwortlich auf gesel lschaftli-
che Realitat vorbereitet, noch berechtigte soziale, kulturelle und
politische Reproduktionsinteressen von Sozialarbeitern/innen beriick-
sichtigt. In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Artikel von
E. Wedekind "Heimstruktur und Erziehersituation" in diesem Info.
AbschlieBend fasse ich das bisherige Ergebnis unserer Arbeit zusam-
men:
I wir haben gelernt, daB individuelle Arbeitsuberlastungen notwendig
einen strukturellen Hintergrund haben;
• daB es falsch 1st, innerhalb eines Heimes den Heimleiter als Ver-
ursacher solcher struktureller Probleme zu betrachten und zu be-
kampfen, sondern daB es darum gent, alternative Modelle bffentli-
cher Erziehung zu entwickeln, zu fordern und durchzusetzen;
I unsere Arbeit in der OTV-Betriebsgruppe soil Widerspriiche erst ein-
mal transparent machen. Wir haben nicht den Anspruch, sie sofort
aufzulbsen.
I wir kbnnen uns nur zusammen immer wieder darin bestarken, daB
nicht unser "schlechtes Gewissen" zum tragen kommt, sondern gemein-
sam so viel Kraft aufwenden, urn eine langerfristige Lbsung durch-
zusetzen.
54
BERICHTE AUS TOTALEN INSTITUTIONEN
Die Frage, ob schwerpunktma'Big offene Hilfen in den Lebenszusammen-
hangen der Betroffenen gefbrdert und ausgebaut werden oder aber eine
Zementierung der stationaren Unterbringung in totalen Institutionen
erfolgt, ist keine therapeutisch-padagogische, sondern eine politi-
sche. Statt verstarkt darliber nachzudenken, wie Heime schrittweise
in eine Gemeinwesenarbeit integriert werden konnen, wie die internen
Ablaufe transparenter, durchlassiger und reali tatsnaher zu gestalten
sind, werden zur Zeit in alien Bundeslandern Millionenbetrage fiir
die Neueinrichtung geschlossener Heime zur Verfugung gestellt, wird
in Erziehungsheimen wieder offen auf geschlossene Abteilungen zuru'ck-
qegriffen. Das ist die "padagogische" Strategie, die der Sozialbiiro-
kratie angesichts von Krise, Jugendarbeitslosigkeit und verstarktem
Leistungsdruck in Schule und Betrieb angemessen erscheint.
Durch die Verbramung der geschlossenen Heime als "heilpadagogische
Intensi vbetreuung" sollte sich niemand tauschen lassen: die Abschot-
tung von der Gesel lschaft, die in der Heimstruktur angelegt ist, fin-
det in vol 1 ig geschlossenen Einrichtungen ihre hbchste Verdichtung.
Die Dffentlichkeit ist von jeglichen Informationen liber interne Vor-
gange ausgeschlossen. Unbehelligt von jeglicher externer Kritik wird
Phantasie, Individuali tat und Lebensfreude in der totalen Institution
erstickt. Nur einzelnen engagierten Kollegen ist es zu verdanken,
wenn der skandalbse All tag liberhaupt einmal der Offentl ichkeit zu-
qanglich gemacht wird. Zwischen den nachfolgenden Beriehten aus einem
qeschlossenen Madchenheim, einem psychiatrischen Krankenhaus und
einem Gefangnis ergeben sich Verschrankungen. Die Obergange zwischen
diesen Spielarten der totalen Institution sind flieBend.
Das erdruckende Leiden, das sich hier abspielt, verpflichtet uns,
den Kampf gegen den weiteren Ausbau geschlossener Heime verstarkt
zu fu'hren.
DREI TOTE IM MADCHENHEIM
GroBeri Wirbel haben die massiven VorwUrfe des Sozialarbeiters Peter
Brosch gegen das Isenbergheim, ein Haus fur "schwer erziehbare Mad-
chen ausgelost. Schwerwiegendster Vorwurf des Sozialarbeiters, der
selbst ein Jahr in den, Heim gearbeitet hatte: Ungeheure Schlamperei
und mangel nde arztliche Versorgung seien Schuld am Tod einer 17-jah-
riqen und Ursache zweier Totgeburten. "Unterstellung Ehrabschnei-
dung? R fmord" nennen die Verantwortlichen in dan von der nneren
Mission geleiteten Madchenwohnheim die Vorwurf e Die ^aatsanwalt
schaft dagegen, die den Fall zur Zeit pruft, schlieBt nicht aus daB
die Ermittlungen uber unterlassene Hilfeleistung auch auf andere
Straftatbestande ausgeweitet werden konnten.
- 55
Inzwischen hat sich die zusta'ndige Heimaufsicht, das Landesjugendamt
Bremen, mit Vertretern der Inneren Mission zusammengesetzt, urn die
VorwLirfe zu klaren. Nach dem Gesprach sah sich die Aufsichtsbehorde
nicht veranlaBt, das Heim zu schlieBen, dazu seien zu viele Fragen
ungelost und eine umfassende Prufung notwendig. Bei der Sitzung wur-
den freilich nicht diejenigen gehort, die die schweren Vorwiirfe er-
heben.
Beispielsweise Claudia Gonsch, die Strafanzeige wegen Korperverlet-
zung und unterlassener Hilfeleistung gestellt hat. Ihr war zuna'chst
trotz starker Unterleibsschmerzen wa'hrend der Schwangerschaft der
Besuch bei einem Arzt verweigert worden. Tage spater konnte in einem
Krankenhaus nur noch die Geburt eines nicht lebensfa'higen Kindes
eingeleitet werden, das bei fruhzei tiger Behandlung ha'tte evt. geret-
tet werden kdnnen.
Die Heimleitung lieB sich nach ihrer RUckkehr eine Erklarung unter-
zeichnen, daB sie am Tod des Kindes keinerlei Schuld treffen wiirde.
Ganzlich mysteribs erscheint der Tod der 1 7-jahrigen Susanne Blanke,-
die wenige Tage nach einer Totgeburt starb. Von ihr sind MutterpaB
und der Durchschlag der Meldung Liber den Tod des Madchens an die
Heimaufsicht in Bremen verschwunden. Laut Peter Brosch wurde auch
Susanne Blanke trotz starker Unterleibsschmerzen nicht zum Arzt ge-
schickt. Vielmehr habe sie weiterhin in einem Altenheim auf der
Pflegestation arbeiten mu'ssen.
Ober die eklatanten Fa'lle hinaus hat Peter Brosch dem Heim eine gan-
ze Latte von Verstb'Ben vorgehalten, wie z.B. Postkontrolle, unangemes-
sen none Strafen, Ausbeutung der Madchen als kostenlose Arbeitskraf-
te, Schla'ge, Schikanen usw.
AuBerdem sollen im Heim eine Reihe von Madchen Suizidversuche unter-
nonmen haben. Eine Erzieherin stritt die Selbstmordversuche zwar
nicht ab, nahm sie dafUr aber auf die leichte Schulter: "Ein biBchen
(hierbei zeigte sie auf ihr Handgelenk) schnippeln, das kann man
nicht ernsthaft Selbstmordversuch nennen. Damit soil doch nur ein
Signal gegeben werden, das bei uns gewiB nicht liberhort wird." DaB
so ein Signal Liberhort wird, hat auch Peter Brosch nicht behauptet.
Im Gegenteil: Solchen Versuchen soil man teilweise padagogisch per
mehrwbchiger Ausgangssperre beigekommen sein.
Auch der Vorwurf, im Heim seien zu wenig ausgebildete Kra'fte bescha'f-
tigt, wird von Pastor Aderkas bestritten. Selbst der Hausmeister sei
gelernter Ba'ckermeister und damit erfahren in Menschenfuhrung und
nicht irgendein "von der StraBe eingefargener, ungelernter Arbeits-
scheuer." Pastor Aderkas kann sich Brosch VorwLirfe nur mit dessen
Persb'nlichkeit erkla'ren: Der Sozialarbeiter hat 18 Jahre lang am
eigenen Leib Heimerziehung erfahren und ist Autor eines Buches u'ber
Fursorgeerziehung. AuBerdem vermutet Aderkas politische Ambitionen
und wittert "merkwlirdige Parallelen zur russischen Revolution". Auch
heute gehbre es "zur politischen Kampffiihrung, nur ma'Big bestehende
Autoritaten zu untergraben. Mit dankbaren und zufriedenen Menschen
kann man keine Revolution machen, man muB ihnen erst die Augen dafiir
bffnen, daB sie unter ungerechten Verbal tnissen leben."
Der Bericht von Peter Brosch jedenfalls hat fieberhafte Recherchen
56
ausgelbst. Alle betroffenen Stellen beteuern,sie seien an einer rest-
losen Aufklarung interessiert. Der erste Schritt zur Wahrheitsfindung
war schnell getan: Am Tage nach der Verbffentlichung erschien bei
Peter Brosch der Gerichtsvollzieher mit der fristlosen Kundigung der
Inneren Mission, die auch eine einstweilige VerfLigung gegen den So-
zialarbeiter beantragt hat, die ihm verbieten soil, weiterhin b'ffent-
lich VorwLirfe gegen das Heim zu erheben.
(gekLirzte Fassung aus Bremer Blatt Nr. 9, 1977)
BETRIFFT: BRAUWEILER
ES WAR NICHT MEHR AUSZUHALTEN
Ich heiBe: W.M., wohne im Kolner Landbezirk in einer Dreizimmerwoh-
nung, habe 5 Kinder, habe frLih geheiratet und bin von Beruf kaufm.
Angestellter.
Ich heiBe: E.O., wohne in einem Kolner Vorort in einer Dreizimmer--
wohnung, keine Kinder, seit Dezember 1976 verheiratet, ich bin seit
April 1977 krankgeschrieben.
Ich kam im Jul i 1977 nach
einen Selbstmordversuch hi
Brauweiler mit der offizie
brauch (Sucht)", was aber
Landeskrankenhaus Brauweil
waren zwischen 3 und 6 Woe
hat sich erst 2 Tage nach
Arztin vorgestellt, vorher
wurde aber direkt nach der
urn 1/2 6 Uhr aufzustehen
beruflichen Schwierigkeiten, nachdem ich
nter mir hatte, in das Landeskrankenhaus
lien Diagnose "Verdacht auf TablettenmiB-
eine Fehldiagnose war. Wi r lernten uns im
er auf der Station M 1 und 2 kennen. Wir
hen auf dieser Station. Bei einem von uns
der Aufnahme bei einer normalen Visite eine
war keine a'rztliche Versorgung da. Ich
Aufnahme aufgefordert, am nachsten Morgen
um in der Ku'che zu arbeiten.
Im anderen Fall war am Tag d
bei der Arztin von einigen M
mal die offizielle Einweisun
in der Ku'che mitarbeiten, wo
haben. Die KUche war zustand
Bevor wir aufgefordert worde
wir nicht gefragt, ob wir kb
ten hatten. Auch wurden wir
weise vom Gesundheitsamt vor
er Einlieferung eine kurze Vorstellung
i nuten Dauer - sie kannte noch nicht ein-
gsdiagnose. Kurz darauf muSte auch er
wir dann zusammen die Ku'che geleitet
ig fur ca. 7D Personen bei 3 Mahlzeiten.
n sind, in der Ku'che zu arbeiten, wurden
rperlich gesund sind und keine Krankhei-
vorher nicht untersucht, was normaler-
geschrieben ist.
Wir bekamen fur unsere Kuchenarbeit pro Tag 2.- DM und arbeiteten
dafiir ca. 14 Stunden ta'glich. Wir muBten samstags und sonntags put-
zen und die Pfleger und Putzfrauen mitverpflegen, damit sie das Geld
fLir die Kantine sparen konnten. Manche nahmen sich auch Essen mit
nach Hause. Es gab nur sonntags Butter, ansonsten gab es nur wasse-
rige Margarine, wo 12 Personen mit 500 g auskommen muBten. Kaffee
qab es nur einmal in der Woche, und zwar sonntags, und dann nur 5 g.
Sonst gab es morgens und abends 4 Loffel Kaffee-Ersatz auf 10 1
Wasser fur alle Patienten. Nachts stellteiwir eine Kanne von diesem
Gesbff in den Aufenthaltsraum, damit die Mitgefangenen nebenbei auch
etwas zu trinken hatten. In diesem Behalter war manchmal mehr Urin
als andere Flussigkei t.
57
Wir haben festgestell
Anstalt Kranke, die i
haben und auch m'cht
Auf unserer Station h
phi 1 i s im Endstadium
wahr wurden, was mit
schirr griindlich gere
wortung m'cht mehr in
der KUche nicht mehr
t, daB in samtlichen Ha'usern der sogenannten
n der KUche arbeiten, kein Gesundhei tszeugnis
auf ansteckende Krankheiten untersucht wurden.
alf einer mit das Geschirr zu spu'len, der Sy-
und kbrperlichen Ausschlag hatte. Als wir ge-
ihm los war, haben wir sofort das komplette Ge-
inigt und haben diesen Mann auf eigene Verant-
die KUche gelassen. Ansonsten ha'tten wir in
gearbeitet und auch kein Essen gekocht.
Es waren jederzeit alle AuBentu'ren und Fenster verschlossen bzw. mit
ausbruchsicherem Glas versehen. Eine Klimaanlage 1st in diesem Haus
nicht vorhanden. Wir kbnnen besta'tigen, daB die Toiletten vom Reini-
gungspersonal m'cht gereinigt wurden.
Der Landschaftsverband kassiert von den Krankenkassen, Sozialamtern
usw. pro Patient zwischen 1.950.- DM und 2.350.- DM im Monat, und
das bei diesen Zustanden. Wir sind nach guten Rechnereien dazu gekom-
men, daB die Halfte davon zuviel bezahlt ist. Von dieser monatlichen
Summe kbnnte man getrost in Mallorca in einem Hotel leben.
Einige Handtlicher im Krankenhaus Brauweiler sind mit der Aufschrift
"Arbeitsanstalt Brauweiler" versehen. (Unter den Nazis war Brauwei-
ler eine "Arbeitsanstalt".) Das sogenannte Pf legepersonal besteht
teilweise aus denselben Leuten, die damals im Arbeitslager Brauweiler
als Aufseher beschaftigt waren. Diese wurden nur durch einen Schnell-
kurs zum Pflegehilfspersonal ausgebildet. Teilweise tragen diese Leu-
te noch heute ihre Schlagstbcke von damals und ihre Arroganz und
Hochnasigkeit den Patienten gegenliber mit sich. Das haben wir selbst
festgestellt: Wir wurden von dem Pflegepersonal und der Arztin fast
immer in der dritten Person angesprochen, aber nur notigenfalls. Un-
tereinander sprachen sie sich nur mit Du an und machten dumme Witze
Uber uns. Kaffeetrinken war ihnen wichtiger - besonders der Arztin
und der Psychologin - als die Anhbrung eines Patienten.
Falls man der Arztin oder Psychologin etwas mitteilen wollte, wurde
einem gesagt, entweder ganz kurz oder gar nicht, so daB einem von
vorneherein die Lust verging, mit diesen Gefa'ngnisaufsehern zu spre-
chen. Die einzige vernunftige Person in Brauweiler ist eine Sozial-
arbeiterin (Frau Wirtz), die sich aber auch wirklichder personlicnen
Probleme der Betroffenen annimmt und auch manchmal etwas bei den
Oberaufsehern erreicht, aber leider nicht soviel, daB diese Zustande
aufhbren.
(aus Kblner Volksblatt 10/77)
ESSENSBOYKOTT IN DER JUGENDSTRAFANSTALT - RAUSSCHMISS
DER SOZIALPADAGOGEN
Im April 1977 boykottierten in der Jugendanstalt Vierlande Gefangene
das Mittagessen. Der Protest richtete sich ausschlieBlich gegen die
unzureichende Verpflegungssituation der Anstalt. Obwohl die Berech-
tigung des Protests bald von der Justizbehbrde und der Anstaltslei-
tung anerkannt werden muBte, klindigte das Strafvollzugsamt alien
Sozialpa'dagogen der Anstalt am 1.7. zum 30.9.1977. Vorgeworfen wird
- 58 -
ihnen im wesentlichen das Unterlassen "enger und loyaler Zusammenar-
beit" mit der Anstaltslei tung zur Niederhaltung des Protestes der
jugendlichen Strafgefangenen.
In dem mittlerweile 7-ja'hrigen Bestehen der Anstalt sind wir die
vierte Generation von Sozialarbeitern, die die Arbeit mit den Jugend-
lichen aufgeben muB. Der in Vierlande sta'ndig auftretende Konflikt
ist der Widerspruch zwischen dem vom Strafvollzugsamt deklarierten
Anspruch eines Erziehungsvollzuges und den materiellen Mbgl ichkei ten
und Bedingungen, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind. Die
unzureichenden Voraussetzungen flir die Realisierung dieses Anspru-
ches zeigen sich z.B. in der personellen Besetzung der Anstalt:
1 Sozialarbeiter auf 25 Gefangene, wahrend selbst die Anstaltsleitung
die doppelte Zahl von Sozialarbeitern fordert.
Parallel zu der materiellen Ebene hat es immer Auseinandersetzungen
urn die Inhalte der Sozialarbeit gegeben, so besonders und lange da-
rum, der Sozialarbeit institutionell den Stellenwert zu verschaffen,
der dem Anspruch "Erziehungsvollzug" gerecht wlirde. Ein sog. Erzie-
hungsgruppenleiterpapier als Rechtsgrundlage ist von unseren Vorgan-
gern durchgesetzt worden. Die Fruchte ihres Einsatzes haben sie je-
doch nicht mehr ernten kbnnen, da das Strafvollzugsamt die positive
Entscheidung liber dieses Papier lange Zeit verschleppt hat. Aus
diesem Grund und wegen der Streichung der 5. Sozialarbeiterplanstelle
in Vierlande haben sie im Fruhjahr 1975 samtlich gekundigt.
Ausgangspunkt des Konflikts in Vierlande im April 1977 war die Ver-
pflegungssituation der Gefangenen, seit Bestehen der Anstalt ein we-
sentliches Problem (Anstal tsleiterin Eva-Maria Rlihmkorf gegenliber
der "Bergedorfer Zeitung": "...es stimmt auch, daB die Verpflegung
bisweilen in verschiedener Hinsicht unzureichend war. Das mit dem
Stuck Fell und anderen Gegensta'nden ist naturlich libel ..."). Ausloser
des Protestes der Gefangenen war eben dieses Stuck Fell mit langen
schwarzen Haaren, das die Gefangenen als Mausehintern betitelten.
Auf Stationsversammlungen besprachen die jugendlichen Gefangenen
das gemeinsame Vorgehen und stimmten darliber ab. Es wurden Briefe an
die zusta'ndigen Stellen und die Presse geschickt und das Mittagessen
an 10 Tagen verweigert.
Dieses von der Form her unter padagogisch wie unter gesellschaftspo-
litischen Aspekten erwlinschte und geforderte Venal ten der Jugendli-
chen stand im Widerspruch zu den Auffassungen, die im herkbmmlichen
Strafvollzug vorherrschend sind. Die normale Reaktion im Vollzug
auf schlechtes Essen ist die individuelle Vernichtung des angebote-
nen Essens, indem es z.B. vom Gefangenen aus dem Fenster gekippt wird.
Dieses individuelle und letztlich resignative Reagieren war auch in
Vierlande Liblich und viel zu alltaglich. Im April 1977 jedoch haben
die Jugendlichen aus begrundetem AnlaB vol 1 i g selbstandig m Ansatz
das realisiert, wozu die sozialpa'dagogische Arbeit sne befahngen sol 1-
te: Kooperationsfa'higkeit, planma'Bige Wahrnehmung und Vertretung
eigener Interessen.
Der qemeinschaftliche Protest der Jugendlichen stieB innerhalb der
Anstalt und im Strafvollzugsamt allerdings auf heftigen Widerstand.
Er wurde zu einer Aktion weniger umgedichtet, die nur durch die Un-
- 59 -
terdruckung der Mi tgefangenen moglich gewesen sei. Als sich die Si-
tuation durch die gegen uns angekiindigte Entlassung und durch den
zur Abwendung der Kiindigungen angesagten Hungerstreik der Jugendli-
chen verscharfte, ging die Anstalt auBerst repressiv gegen die Gefan-
genen vor:
- einer der sogenannten vermeintl ichen Radelsfuhrer wurde psychiatrisch
begutachtet, andere wurden von den librigen Gefangenen durch Ein-
schluB isoliert und in andere Anstalten verlegt;
- alien Jugendlichen wurde Verlust von Begiinstigungen wie Urlaub fur
den Fall ihrer Teilnahme am Protest angedroht;
- zeitweise bestand die Anordnung, Telefongesprache zwischen Gefan-
genen und Verteidigern abzuhb'ren.
Unsere Kundigung durch das Strafvollzugsamt reiht sich in die repres-
siven MaBnahmen, die sich gegen die jugendlichen Gefangenen richten,
ein. In der Kundigung wird uns vorgeworfen, daB wir uns nicht aktiv
an dem Vorgehen gegen den Protest beteiligt haben. Dieser Forderung,
den Protest rait niederzuhalten, durften wir jedoch auch innerhalb un-
serer arbei tsvertragl ichen Stellung nicht nachkommen. Das ha'tte be-
deutet, daB wir selbst sozial erwiinschte Verhaltensweisen hatten ab-
lehnen und verurteilen mu'ssen. Das von uns erwartete Vernal ten war
daher die Aufforderung zur eigenha'ndigen Liquidierung der in Vier-
lande praktizierten Sozialarbeit. Konsequenterweise schlug man uns
schlieBlich vor, selbst zu kundigen. Unsere Weigerung wurde mit den
Kiindigungen durch das Strafvollzugsamt beantwortet. Das Vorgehen ge-
gen die jugendlichen Strafgefangene.n fand seine fast vollstandige
Parallele in der Behandlung des Widerspruchs zu den Sozialarbeitern.
Die Konflikte sollten nicht praktisch ausgetragen, sondern in beiden
Fallen restriktiv gelbst werden.
Erziehungsvollzug.d.h. Sozialarbeit als integraler Bestandteil des
Strafvollzugs, bedeutet, mit Konflikten zu leben und zu arbeiten.
Das ist die Voraussetzung, unter der alle Mitarbeiter in Vierlande
arbeiten sol lten.
Fur diesen Anspruch haben wir uns eingesetzt und treten fur seine
Realisierung auch jetzt mit unserer Klage gegen die Kiindigungen ein.
Dabei sind wir uns bewu6t, daS wir im Widerspruch zum Strafvollzugs-
amt stehen. Es ist aber derselbe Widerspruch, der zwischen den Wor-
ten und Taten des Vollzugsamtes liegt. Immer wenn die Sozialarbeiter
den vom Strafvollzugsamt abstrakt formulierten Erziehungsgedanken
inhaltlich auszufullen suchten, wurde der Grundkonfl ikt zwischen
Verwahrvollzug und Sozialarbeit offensichtlich.
(aus der Presseerklarung der Sozialpadagogen)
NACHTRAG
Mittlerweile hat vor dem Arbeitsgericht Hamburg die Verhandlung liber
die "Einstweilige Verf'u'gung" stattgefunden. Dieser Antrag der Sozial-
padagogen wurde abgelehnt. In der mlindl ichen Begriindung erklarte der
Arbeitsrichter, daB im Moment Reformen im Strafvollzug nicht moglich
seien, die Antragsteller hatten sich daher so zu verhalten, daB der
Arbeitsfriede nicht gestb'rt werde. Die Hauptverhandlung findet im
Dezember statt. Im nachsten Info berichten wir dariiber.
KAMPF GEGEN "GESCHLOSSENE HEIME"
"Seit ca. einem Jahr findet in Jugendbehorden unter wei tgehendem
AusschiuS der Fachoff entl ichkei t die Diskussion liber ein Thema 5tatt,
das nach den Erfahrungen und Uberzeugungen der letzten 10 Jahre von
alien aufgeklarten Padagogen als uberwunden gait.
Die geschlossene Unterbr ingung von Kindern und Jugendlichen.
Mit der Begriindung, man mu'sse sich mehr urn Kinder und Jugendliche
ktlmmern, die vom vorhandenen Jugendhi 1 fesystem nicht erfaBt werden,
bzw. die sich offenen Hi 1 fsangeboten entzogen, wird unter dem neuen
Etikett "Hei Ipadagogi sche I ntensivbetreuung" ein Mittel propagiert,
das sich in der Vergangenhei t als entscheidendes Hindernis erfolgrei-
cher Padagogik erwiesen hat.
Das Wiederaufleben der D
Kindern und Jugendlichen
scha'rfenden gesellschaft
bruch der Sozial pa dagogi
der 70er Jahre ist die E
fig. bkonomische Krise,
Arbei tslosigkeit und das
teresse an neuen erprobe
Die ohnehin uberwiegend
Jugendhi Ifesystems werde
tiger Veranderungen und
gensatz zu anderen Lande
setzen die MaBnahmen nic
gen der Betroffenen an,
tome.
iskussion urn geschlossene Unterbri ngung von
ist nur im Zusammenhang mit den sich ver-
1 ichen Problemen zu verstehen. Mach dem Auf-
k in der Reformphase Ende der 60er, Anfang
ntwicklung seit einiger Zeit wieder rucklau-
allgemeine Einschrankung liberaler Tendenzen,
Bes i nnen" auf das "Machbare" haben das In-
nswerten Wegen schwinden lassen....
reaktiven Tendenzen des gesamten deutschen
n durch die Lust losigkei t beziigl ich nachhal-
das Argument "Geldmangel" versta'rkt. Im Ge-
rn (z.B. den skandi nav ischen, Holland etc.)
ht prophylakt isch in den Lebenszusammenhan-
sondern reagieren diszi pi in ierend auf Symp-
Lage das Schwergewicht der MaBnahmen im prophylakt ischen Bereich,
wurde das nicht nur dem Interesse der Betroffenen mehr entsprechen,
sondern auch weitaus bill iger sein. Denn
- die Kosten fur Heime, Kliniken, psych i at ri sche Anstalten, Gefangnis-
se, Sozialhilfe u.a. sind kaum noch zu bremen
- die Losungen der Probleme werden urn so schwieriger, je weiter sie
in ihrer Entwicklung bereits fortgeschri tten sind.
Wer hat ein Interesse daran, Kinder und Jugendliche geschlossen
unterzubri ngen?
1. Der Ruf nach mehr innerer Sicherheit hat weite Kreise der Bevol-
kerung erfaBt und bietet ordnungspol i tisch fixierten Politikern, Ju-
stiz Polizei und der Biirokratie eine vorziigl iche Gelegenheit, der
"sanften Tour" soz ial padagogi scher Jugendarbeit ein Ende zu bereiten.
Ordnungsprinzipien, wie "Pf 1 icht" und "Anstand" sollen wieder starker
- 61 -
an die Stelle von Kritik, Toleranz und der lei
sel 1 schaftl ichen Ursachen von Jugendproblemen
Politiker erkennen, dal3 die Jugend, die unter
verscharftem Lei stungsdruck in der Schule, Jug
und allgemeiner Perspekt i velosigkei t zu leben
mehr Probleme bereiten wird, als unter Bedingu
peritat, we i ! selbst die gesel 1 schaftl ich konf
bewaltigung zum Teil verstellt werden.
Diese politischen Veranderungen und die Knapph
kassen uben einen immer starker werdenden Drue
stration aus, unbequemen Jugendl ichen und Kind
St igmat isierung und Kr imi nal i si erung abweichen
kommen . Die geschlossene Unterbr i ngung lost da
einem Schlag:
Sie schafft (zunachst) Ruhe in der Offentlichk
(scheinbar) die Trager der ortl ichen Jugendhi
digen Frage nach den ge-
treten .
den Bedingungen von
endarbeitslosigkeit
hat, der Gesel 1 schaft
ngen okonomi scher Pros-
ormen Wege zur Lebens-
ei t in den Geme i nde-
k auf die Soz ial admi ni -
ern wieder mit Drohung,
den Vernal tens beizu-
bei 2 Probleme mit
eit und entlastet
fe.
2. Unter diesen Bedingungen wachst die Zahl der Padagogen , die aus
Hi 1 f losigkeit und Frustration im padagog i schen Atltag zu dem verzwei-
fel ten SchluB kommen, die geschlossene Unterbr ingung als "ultima
ratio" zu fordern. Sie fiihlen sich al leingel assen von einer sich wie-
der in obrigkei tsstaatl ichen Denken formierenden Gesellschaft und
mit einem nicht kurzfristig einzulosenden sozial -emanzi pat i ven An-
spruch an sich selbst. Sie erleben zunehmend, wie durch sich ver-
schlechternde Arbei tsbed ingungen , Einsparungen und Stel 1 enkiirzungen
ihr padagog i scher Handl ungsspiel raum immer enger, die Gefahr der
personl ichen Anfeindung immer groBer wird.
In dieser Phase von Perspektivlosigkei t und Mi ttel verknappung wird
von Politikern und Sozial burokrati e unerwartet die Bereitschaft sig-
nal isiert, fur "heil padagog ische I ntensi vbetreuung" immense Mi ttel
bereitzustel len, werden Bauplane und Stel lenschliissel von verlocken-
der GroBzugigkeit vorgelegt. Gleichzeitig ha'ufen sich die Berichte
iiber geschlossene Unterbr ingung von Kindern und Jugendl ichen in Psy-
chiatrie und Strafanstal t . Warnungen werden laut, die geschlossene
Unterbringung auch ohne die Mitsprache der Padagogen zu verwi rkl ichen.
Nur bei Kenntnis dieser Bedingungen ist zu begreifen, warum Padago-
gen von ihren Prinzipien abriicken und nach therapeut ischen Rechtfer-
tigungen fiir das scheinbar Unvermei dbare suchen:
Mit der Einrichtung von "Hei 1 padagog ischer I ntensivbetreuung" verbin-
den sie die Hoffnung, dort.auch "den Problemfal len" hel fen zu konnen.
Sie geben sich der Illusion hin, in der Abgeschlossenhei t tragfahige
Bindungen herstellen und nutzen zu konnen, urn die Betreuten zu einer
adaquaten Handlungsfahigkei t zu fiihren.
Dieser Konzeption muB Nichtachtung entscheidender Erkenntnisse der
Erziehungswissenschaf t und verwandter Fachdi szipl inen vorgeworfen
werden:
I Zwang und Therapie sind miteinander unvereinbar.
• Bindungen iiber die Dauer des Heimaufenthal tes hinaus entstehen nur
da, wo Erzieher durch Hilfen bei der Bewaltigung realer Lebenssi-
tuationen Vertrauen erwerben konnen, wo sie in kritischen Situatio-
nen akzeptierbare Alternativen aufzeigen und Verstandnis fiir Fehler
unter Beweis stel len konnen. Das geschlossene Heim bietet keinen
62
Raum fiir realistische Probl emsi tuat ionen und adequate Bediirfn i sbe-
f r iedigung.
Soz ial padagog i sche Erfahrung lehrt, daB Handlungsfahigkei t nur
durch Erleben und Handeln erworben wird. Lernen durch Handeln setzt
ein real i st i sches Lernfeld voraus, das schon die offene Heimerzie-
hung kaum zureichend berei tstel 1 en kann ( I nsel padagog i k) . Die Be-
dingungen der geschlossenen Unterbringung reduzieren, verandern und
verzerren die Umwelt der Kinder und Jugendl i chen. In geschlosse-
nen "totalen" Inst i tut ionen kann kein Verhalten gelernt werden,
das brauchbar fur das Leben von Erwachsenen, Jugendl i chen , Kindern
in unserer Gesellschaft ist. Stattdessen werden solche Uberlebens-
techniken erworben, die nur relevant sind fur das Uberleben unter
geschlossenen Bedingungen (Vorberei tung auf den Knast).
Wenn unter
Hilfen fur
bei diesen
sche Einric
Kern nichts
sich schl ic
letztes Mi t
• wenn Pada
ihrer Mog
t wenn es
gebl ich e
t wenn s i ch
laufern u
will.
den Bedingungen abg
die Betroffenen zu
geplanten Heimen un
htungen. Was als In
mi t der Not der Be
ht urn den Tatbestan
tel eingesetzt werd
gogen - aus we Ichen
chkeiten angelang
n Phantasie fehl t u
rschopft sind,
die Of fentl ichkei t
nd kleinen Dieben a
eschlossener Unterbringung keine echten
erwarten sind, dann handelt es sich
d Abteilungen auch nicht urn padagogi-
tensivhilfe bezeichnet wird, hat im
troffenen zu tun, sondern es handelt
d von Fre ihei tsberaubung, der dann als
en sol 1 ,
Grl'nden auch immer - an den Grenzen
t si nd ,
nd die materiel len Voraussetzungen an-
jugendl ichen Storern, Schlagern, Weg-
uf relativ einfache We i se entledigen
Wir appellieren an alle Erzieher, Sozia 1 padagogen und Erz i ehungswi s-
senschaftler, an die gesamte Fachoffentl ichkei t , sich nicht fiir eine
padagogi sch-therapeut i sche Verbramung miBbrauchen zu lassen; auch
nicht nach dem Motto: "Wenn wir die Einrichtung geschlossener Heime
schon nicht verhindern konnen, wollen wir wenigstens auf eine qua 1 i -
fizierte Ausstattung drangen". Hier wird ein moral ischer Druck er-
zeugt, der mit der Verantwortung fiir die betroffenen Jugendl ichen ar-
gumentiert, letztlich aber den realen Sachverhalt verschleiern hilft.
Wir wollen nicht verleugnen, daB es Kinder und Jugendl iche gibt, die
die padagogische Arbeit eines Gruppenerzi ehers zunichte machen, de-
nen Padagogen nicht gewachsen sind, fiir die Erzieher kaum mehr die
Verantwortung ubernehmen konnen. Es ist dringend notwendig, sich die-
ser Probleme anzunehmen und Losungen zu finden, die jedoch nicht nur
die Erzieher von unertragl ichen Belastungen befreien, sondern eine
wirkliche und nachweisbare Hilfe fiir die Betroffenen sind.
Sozial padagogi 5 che Arbeit muB starker als bisher praventiv ansetzen,
will sie sich nicht in einer ohnmachtigen Handwerkelei an Fehlent-
wicklungen erschopfen. MuB das fur alle Zeiten eine fruchtlose For-
derung der Fachleute bleiben? Und warum eigentlich?
Wer glaubt, weglaufende Jugendl iche aus padagogi scher Verantwortung
hinter SchloB und Riegel bringen zu mussen, sollte priifen, was hmter
dem steckt, was er "Verantwortung" nennt.
Die Rede von der Verantwortung wird zur bloBen Rational ( s lerung eines
63
Herrschaf tsanspruches, der von den Inst
durchsetzt, vermittelt uber das Handel n
die in der Zwickmuhle zwischen schlecht
kation mit den vorgegebenen Strukturen
lische Verpfl ichtung aus den Augen zu v
der kritischen Aufklarung der b'ffentl ic
tiefgreifender Veranderungen im gesamte
stehen.
Sollen wi r unsere offenbare Unfahigkei t
Jugendlichen padagogisch umzugehen, in
Kinder umsetzen? (Wi r sperren sie ein b
wir wirklich dazu fahig? 1st das alles
die das vorant rei ben, beschonigen, bema
br i ngen
Was sind das fur Leute? Sozial padagogen
tutionen ausgeht und sich
der padagogi schen Akteure,
em Gewissen und Tei 1 identif i-
drohen, ihre eigent] iche mora-
erlieren. Diese kann nur in
hkeit Liber die Notwend igkei t
n System der Jugendhilfe be-
mi t dtesen Kindern und
Aggressi vi tat gegen diese
is sie kapi tul ieren!) Sind
was uns einfallt? Und jene,
nteln, in burgernahe Begriffe
?"
Jutta Anders, Berlin • Wolfgang Bauerle, Frankfurt • Egon Halbleib,
Frankfurt • Hanna Kotowski, Berlin • Barbara Kubale, Marburg •
Gunter Menkel , Berlin • Gerhard Muller, Frankfurt • Dieter Neander,
Dortmund • Irmgard Pi orkowski-Wilhr , Heppenheim • Jiirgen Schmitz,
Berlin • Erhard Wedekind, Koln • Barbara Wolf-Kunze, Berlin
Heimerziehung - Heimplanung
■Dokumentation einer Ausstellung —
*
Herausgeber: Internationale Gesellschaft fur Heimerziehung — IGfH —
in Zusammenarbelt mil Benlta von Perbandt
Konzeptlon und Inhalt: P. Flosdorf, I. Joachim, K. H. Marcinlak, B. v. Perbandt
Format 30 x 31 cm, 134 Selten, kartonlert DM 17,— und 2.50 DM Versandkosten
zu bezlehen uber: Internationale Gesellschaft fur Heimerziehung, B Frankfurt/Main 71, Heinrlch-Hollmann-btr.3
Die Nachfrage nach Planungsgrundlagen fOr den Heimbau, nach Anregungen fur Details unci nach Belsplelen,
die nlcht nur Grundrlsse zelgen, sondern auch erkennen lassen, ob und welche padagoglschen Oberlegungen
vorangegangen sind, flihrte zu dem Vorhaben, den Themenbereich .Heimerziehung — Heimplanung emmal
grundsatzllcher zu bearbelten und In einer Ausstellung und Dokumentation zu problematisieren.
Die Internationale Gesellschaft fur Heimerziehung (Sektlon Bundesrepublik Deutschland In der |FICE] ubemahm
bel dlesem Arbeltsvorhaben die Federfuhrung, Vertreter der Spltzenverbande der freien Wohlfahrtsptlege und
der Arbeltsgemelnschaft fur Erzlehungshilfe (AFET) blldeten ein beratendes Gremium. der Bundesmlnister fur
Jugend. Famllie und Gesundheit ffirderte und ein interdlsziplinares Team erarbeitete die Ausstellung, die im
Herbst 1973 In Darmstadt und Im Herbst 1974 In WQrzburg von rd. 6000 Personen — vorwlegend Fachleute aus
dem In- und Ausland — besucht wurde.
Der vorllegande Band ist die Dokumentation dleser Ausstellung. Das Buch profitiert von dem Zwang zur Vlsua-
llslerung, den das Medium Ausstellung mit slch brachte. □berslchtliche Graflken, kurze Texte, Ablautdlagram-
me, Fotos, Zeichnungen von Grundrlssen und Interpretatlonen dazu, Anleltungen zu verschiedenen Planspielen
und zur Planungsmethodlk, Interpretatlonen konkreter Modelle, z. B. des Bettelhelmschen Heimes in Chicago,
fuhren den Loser in dBn Zusammenhang von padagogischer Konzeptlon und Planung ein und geben uber Pla-
nungschancen Auskunft. Elne Kritlk der verschiedenen Planungsverfahren ermSgllcht elne bewulite Auseinan-
dersetzung mit den darln enthaltenen Rlslken.
Die Bedeutung von Kommunikationsberelchen, der ElnlluB von Raumen und Sachen auf menschliches Verhal.
ten, werden dlskutlert. Elnzelne Erzlehungslnstltutlonen werden anslysiert und hlerbei sowohl padagoglsche
als audi baullche Konzeptlonen entfaltet und mltelnander vergllchen. Dies ermoglicht dem Leser elne Dbertra-
gung auf konkrete Praxlsprobleme, ganz glelch ob es slch hlerbei urn groBe Oder klelnere Neubauvorhaben.
Umbauten, Veranderungen oder urn die Nutzung einer Moblierung handelt.
Das Buch Ist ein unverzichtbarer Heifer fur alle verantwortllchen Trager und Mltarbelter im Berelch der Heim-
erziehung.
Jugendliche vora Jugendhof in Odenthal
KLEVER HOF - DER KAMPF GEHT WEITER
18. MAI 1977: lo. RUNDE
Der offene Kampf mit gewalttatigen Mitteln gegen den Jugendhof des
Vereins Kol lektiv e.V. in Odenthal (bei Koln) fand mit dem Polizei-
uberfall vom 18. Mai 1977 vorlaufig ein Ende. Da sich diese Aktion
als Bjmerang erwies, gingen Behb'rden, Parteien und Verbande, die uns
bekampfen, zu 'feinsinnigeren' Methoden liber. Seit dem 18. Mai wird
aus dem Hinterhalt geschossen.
Kurz zur Erinneriing: Im Zuge der Fahndung nach dem mutmaBlichen Buback-
Attenta'ter Christian Klar wurde der Jugendhof am Morgen des 18. Mai
von rund 100 Polizisten (Sonderkommando, Kripo und Schutzpolizei)
uberfallen.
Eine bei ahnlichen Ereignissen vorher noch nie dagewesene Empbrung
in Presse, Rundfunk, Fernsehen und Bevblkerung gegen das brutale
Auftreten der Polizei auf dem Jugendhof verunsicherte die in ver-
schiedenen Amtern und Parteien sitzenden Gruppierungen, die bis dahin
geglaubt hatten, sie kdnnten unter dem Vorwand der Terroristenjagd
mit der alten Kopf-ab-Methode eine Einrichtung beseitigen, die ihnen
miBfallt.
Da die 'Keule' nicht getroffen hatte, ging es uber zur 2. Runde:
Die Baupolizei und die Brandschutzkommission wurden eingeschaltet.
Die Koiimission stellte fest, daB die Elektroanlage des Jugendhofes
insgesamt erneuert werden muB, Kostenpunkt: ca. 20 000 Mark. Auch
dieser Schlag ging ins Wasser: inzwi schen verpfl ichtete sich die
'Neue Heimat', die Anlage kostenlos zu erneuern.
Runde 3:Die Kriminal polizei gibt der brtlichen Presse Mi tteilungen,
in denen steht, daB auf dem Jugendhof wertvolles Diebesgut gefunden
worden sei.
Runde 4: Von Innenminister Dr. Hirsch (NRW) angefangen behaupten alle
offizi'ellen Stellen, daB der Jugendhof uber den Ablauf der Polizei-
aktion Lugengeschichten verbreite; frei nach dem Motto: die haben
sich selbst das Haus angeziindet.
Dies la'Bt sich beliebig fortsetzen. Die systematische Verunglimpfung
des Jugendhofes ist eine Form der 'Heckenschutzen-Taktik' . Eine wei-
tere Erscheinungsform dieses 'politischen' Mittels ist der Versuch,
dem Jugendhof Gelder zu entziehen oder vorzuenthalten.
Eine Entscha'digung fur die Schaden, die die Polizei ben lhrem Ennsatz
am 18 Mai anrichtete, wurde dem Jugendhof bis heute mcht gezahlt.
Ein vom Jugendhof beauftragter Gutachter stellte fest, daB an Mobnli-
ar und Haus (Fenster, Turen etc.) ein Sachschaden in Hone von
DM 7 000.-- (siebentausend Mark) entstand. In dieser Summe sind
Schmerzensgelder, Arzthonorar (ein psychiatrisches GutachtenmuBte
erstellt werden) und sonstige Unkosten, die durch den Polizeieinsatz
- 65
entstanden, nicht enthalten. Insgesamt schatzt der Anwalt des Jugend-
hofes die Hbhe der Entschadigungssumme, die der Regierungsprasident
Koln als verantwortliche Stelle zahlen muB, auf rund 10 000.- DM ein,
unberucksichtigt der Tatsache, daS der wirkliche Schaden damit nicht
voll gedeckt ist. Nur sind wir inzwischen so weit, daB wir die Hoff-
nung auf eine voile wirtschaftliche Entscha'digung aufgegeben haben.
Aufgegeben haben wir auch, die b'ffentliche Rehabilitation des Jugend-
hofes zu erreichen. Hierzu nur ein Satz: "Ich sehe nicht ein, daB
wir uns noch zusatzlich entschuldigen",sagte NRW-Minister Hirsch.
Obersehen hat der Herr Minister dabei, daB sich noch nie jemand ent-
schuldigt hat. Bis heute erklarte auch noch keine offizielle Stelle,
daB Klar nie bei uns war. Der ausgesprochene Verdacht steht immer
noch unwidersprochen im Raum. Da ist es m'cht verwunderlich, daS im
Zusammenhang mit der Schleyer-Entfuhrung wiederholt Staatsschutz und
Sonderkommando Schleyer (Soko) aus Koln den Jugendhof belastigten.
Diesmal kamen die Fahnder allerdings Liberaus 'zivil' - nach Marke
'James Bond' oder bieder wie der Inhaber eines 'Tante-Emma-Ladens' .
DAS CARITATIVE HANDCHEN DES REGIERUNGSPRASIDENTEN
Im Jul i 1977 rechneten wir den Abgesandten des Regierungsprasidenten
(RP) unsere Kosten vor. Die Antwort auf unsere Rechnung von
DM 7 000. — : die Polizei sei zu dem Ergebnis gekommen, daB sie nur
einen Schaden in Hbhe von DM 700.-- angerichtet habe. Also ein Zehn-
tel. Doch der RP, so lieBen die Behbrdenvertreter wissen, wolle sich
groBzligig zeigen. Der RP bffne sein caritatives Handchen und lasse
2 700.- DM in unsere Kasse klingeln.
Der Jugendhof lehnte dieses Angebot dankend ab.
Die Verhandlungen liber die Wiedergutmachung sind seitdem kaum einen
Schritt weitergediehen. Das bedeutet, daB wir auf das Geld, das fiir
die Beseitigung der Schaden gebraucht wurde und gebraucht wird, noch
heute warten und Monate warten werden.
Ohne die ideelle und praktische Hilfe zahlreicher Freunde sa'Ben wir
noch heute vor einem Trummerhaufen.
(Hinweis: Als Lekt'u're empfehlen wir zum 18. Mai die Septemberausga-
be der Zeitschrift 'konkret'. Auf Seite 20 dieser Ausgabe ist eine
Darstellung des Kblner Polizeiprasidenten Hosse zu den Vorfallen
sowie die entsprechende Antwort darauf von Dr. Klaus Traube abgedruckt,
dem Burger, der durch die 'Wanzenaffare' bekannt wurde.)
POLITIK AUS DEM HINTERHALT: 1. ART
Da das technisch perfektionierte Terroristenkommando den Jugendhof
nicht schaffen konnte, haben die CDU des Rheinisch-Bergischen Krei-
ses und ihre Freundeskreise ihre alten Vorderlader aus der Kommode
geholt und schieBen aus dem Hinterhalt.
Am 3. Januar 1975 stellte der Verein Kollektiv e.V. erstmals den An-
trag auf Anerkennung nach Paragraph 9 des Jugendwohlfahrtsgesetzes
(JWG). Eine Anerkennung bedeutet, daB der Jugendhof dann geniigend
Geld erhalt, um den Jugendhof zum Wohle der dort lebenden Jugendli-
chen und jungen Erwachsenen zu fiihren. Dieser erste Antrag wurde
schlicht untergebuttert.
- 66 -
Am 26. November 1976 stellte der Verein de
nach § 9 JWG erneut.
Mit wohlfeilen Tricks verstand es die CDU,
schen Kreis die absolute Mehrheit innehat,
ren Antrag bis zum 26. September 1977 hina
die Christdemokraten, urn die Vertagung Libe
Antrages zu begriinden, zum Vorwand, daB ei
des Jugendhofes den Hof verlassen habe. Du
de sich nun doch jetzt alles in der Schweb
genheit wurde unser Antrag aufgrund des Po
kurz nach dem 18. Mai) erst gar nicht auf
gendwohlfahrtsausschusses (JWA) des Rheini
setzt.
Dann, am 20. Juni 1977, traf den Jugendhof
Schlag: der erste Vorsitzende des Vereins
Dbrken, starb bei einem Autounfall in den
Jetzt, so lieBen uns die Herren der CDU wi
vollkommen im Argen. Der Vorsitzende des V
halb sei der Verein nicht mehr rechtskraft
n Antrag auf Anerkennung
die im Rheinisch-Bergi-
die Abstimmung Uber unse-
uszuzbgern. Einmal nahmen
r die Beratung unseres
n langjahriger Mitarbeiter
rch diesen Ausfall befin-
e. Bei der n'a'chsten Gele-
lizeiliberfalles (es war
die Tagesordnung des Ju-
sch-Bergi schen Kreises ge-
ein schwerer person! icher
Kollektiv e.V., Walter
Tr'ummern seines Wagens.
ssen, sei doch wohl alles
ereines sei tot und des-
ig-
Nun: trotz aller Hemmschuhe und Tricks gelang es uns(in muhseliger
Kleinarbeit alle Vorschriften zu erfiillen, die verlangt wurden, urn
eine Beratung im JWA zu erreichen. Da keine neuen GrLinde fur eine
weitere Vertagung gefunden werden konnten, stand unser Antrag am
26.9.1977 endlich auf der Tagesordnung des JWA, nichtbffentlicher
Teil der Sitzung. Abends rief der Leiter des Kreisjugendamtes , Hans
van Geldern, auf dem Jugendhof an und teilte uns mit, daB unser An-
trag abgelehnt worden sei. GrLinde wollte er nicht nennen.
Die offizielle Begrundun g erhiel ten wir erst am 4. Oktober 1977,
nachdem wir uns am 3. Oktober bei der Verwaltungsspi tze des Kreises
beschwert hatten.
In der Zwischenzeit hatten wir jedoch in geheimdienstahnlicher Klein-
arbeit aus verschiedenen Quellen einige Informationen Liber den Ab-
lauf der Sitzung des JWA erfahren. Denn obwohl die Damen und Herren
des Ausschusses zu strengstem Stillschweigen uber den Verlauf der
nichtbffentlichen Sitzung verdonnert worden waren, lieB mancher
[ranches durchblicken.
Abgelehnt wurde unser Antrag mit 9 zu 4 Stimmen. Die CDU hat im
JWA 5 Stinmen, die SPD 3 Stimmen und die freien Verbande 5. Die
FDP war zu der Sitzung nicht erschienen.
Die CDU, das DRK, die Kirche, die Caritas und die Sportjugend stimm-
ten gegen uns. Fiir uns stimmten die SPD, sowie der Deutsche Parita-
tische Wohlfahrtsverband und die Arbei terwohlfahrt, die sich im JWA
eine Stimme teil en mu'ssen.
In der CDU herrschte Fraktionszwang. Eine CDU-Dame gab zwar kund,
daS sie sich das Recht der freien Entscheidung wahren wolle, beugte
sich dann aber doch dem Druck ihrer Parteikollegen; nach "reifli-
cher uberlegung", wie sie wissen lieB. Diese Ausrede fu'hrte sie wohl
an urn ihren Mangel an Zivilcourage und die Unmbglichkei t demokra-
tischen Entscheidens innerhalb der CDU zu verschleiern.
Da formelle oder juristische Grunde zur Begrundung einer Ablehnung
nicht greifbar sind, griff die CDU in ihre Trickkiste und konstru-
ierte Ablehnungsgrunde, die - auf einen Nenner gebracht - sich aus-
67
schlieBlich an der Person Heinz FaBbender, einem Mitbegrunder des
Jugendhofes, aufhangen.
Im Ablehnungsbescheid heiBt es:
"1. Unter den gegebenen Umstanden wird eine Anerkennung des Vereins
Kollektiv e.V. abgelehnt.
2. Eine erneute Beratung und BeschluBfassung im JWA soil erfolgen,
wenn der Verein Kollektiv e.V. sich verbindlich dazu erklart,
daB...
a) der als "Erzieher" tatige Herr FaBbender nicht mehr im
Jugendhof-Klev als Erzieher arbeitet..."
In einer achtseitigen Begrlindung wird dann angefuhrt, daB Heinz FaB-
bender mehrfach vorbestraft sei . Auch habe der Jugendhof inclusive
seiner Verantwortlichen Heinz FaBbender und Peter Halberkann mehr-
fach im Blickpunkt der Offentlichkeit gestanden. Angefuhrt werden
dazu im wesentlichen: Besuch des Jugendhofes beim Oberkreisdirektor
des Rheinisch-Bergischen Kreises (siehe 2. Akt); Streitigkeiten mit
einem Nachbarn des Jugendhofes; ZusammenstbBe mit der Polizei.
Die Streitigkeiten mit dem Nachbarn wurden durch einen gerichtlichen
Vergleich beigelegt. Bezuglich der ZusammenstbBe mit der Polizei lau-
fen noch zwei Strafanzeigen des Vereins Kollektiv e.V. gegen Poli-
zei beamte wegen des Verdachts der Kbrperverletzung im Ant pp.
Die CDU schluBfolgert in ihrer Begrlindung daraus: Heinz FaBbender ha-
be nicht verhindert, daB sich Jugendliche strafrechtlich relevant
verhalten. Weiter veranlasse er, daB sich Jugendliche gegen die be-
stehende Rechtsordnung auflehnen.
Wbrtlich heiBt es dann: "Die Bedenken gegen die Anerkennung des Kol-
lektiv e.V. haben ihre Grundlage in der Stellung dieses fur den Ein-
satz im Bereich der Jugendhilfe ungeeigneten Mannes im Vorstand die-
ses Vereins." (Anmerkung: Heinz FaBbender ist stellvertretender Vor-
sitzender).
Der sogenannten Begrlindung fehlt auch nicht der Hinweis, daB^eine
Anerkennung nur erfolgen d'u'rfe, wenn die Arbeit des Tragers ver-
fassungskonformen Zielen" diene.
Das bedeutet, daB die CDU zum schmutzigsten Trick uberhaupt gegrif-
fen hat, um den Jugendhof kaputtzumachen. Sie sagt, daB der Hot we-
gen dieser einen Person nicht anerkannt werden kbnne. Dies in der
miesen Hoffnung, daB sich die Leute des Jugendhofes s pal ten und den,
der gemeint ist, zum Teufel jagen oder daB dieser selbst das Hand-
tuch wirft und aufgibt. Diese Rechnung wird jedoch nicht aufgenen.
Denn urn dem Kalklil der CDU folgen zu kbnnen, miiBten wir zunachst
einmal das Intrigantenspiel lernen; jenes Gesellschaftsspiel , das
von unseren Damen und Herren Politikern so gehegt und gepflegt wird.
In der Praxis bedeutet die Begrlindung der Ablehnung fur Heinz FaB-
bender ein Berufsverbot oder eine noch auf lange Dauer anhaltende
finanzielle Schleuderpart ie des Jugendhofes nahe am Abgrund. Und
sollte es uns doch gelingen, auf juristischem Wege die Unhaltbarkeit
dieser Begrlindung zu beweisen, hat die CDU eine neue gezinkte Karte
in der Hinterhand: das bbse Gesicht des Verfassungsfeindes.
68
2. AKT
Urn ihre Rachegelliste zu befriedigen, scheut die CDU selbst vor dem
hinterhaltigsten Mittel nicht zuruck. Rachegeliiste hegt die CDU,
weil der Landrat dieses Kreises, Dr. Konrad Kraemer (CDU), im von-
gen Jahr vor dem Kblner Verwal tungsgericht erklaren muBte, daB er
nicht mehr weiter verbreitet, daB der Jugendhof ein 'sozialisti-
sches Agitationsaktiv' , eine ' Agit-Prop-Gruppe' sei, was auch irmier
er damit meint. Weiter wurde ihm untersagt, zu behaupteten, daB der
Jugendhof ' Berge von Kampfschriften1 etc. verbreite. Dies zum Hin-
tergrund.
Mit einer Ablehnung unseres Antrages gab sich die CDU in der Sitzung
des JWA am 26.9.77 nicht zufrieden.
Am Amtsgericht Bergisch Gladbach hat der Richter Hebborn einen BuB-
geldfonds geschaffen, dessen Gelder nach den eigenen Worten des Rich-
ters denen zukommen sollen, die grbBtenteils vor Gericht stehen:
sozial benachteiligten Gruppen.
Aus diesem Fonds erhielt auch der Jugendhof 1976 einmal Geld fur
Strom, Briketts usw.
In der Sitzung des JWA stand nun Dr. Hugo Koerth (SPD) auf und be-
schwerte sich daruber, daB ein Musikverein, den er wohl mitbetreut,
vor langerer Zeit einmal beim Amtsrichter Hebborn einen ZuschuB fur
ein Cembalo beantragt habe. Hebborn habe kein Geld gegeben. Aber
der Jugendhof.
Die CDU griff diesen Hinweis des beleidigten Musikfreundes dankbar
auf Allen voran skandierte der Karri ere-Jungling der Kreis-CDU,
Wolfqang Bosbach (24), in hochsten Tbnen, daB er einfach entsetzt
sei- "Ich bin am Rande des Entsetzens. Als der Klever Hof in Schwie-
riqkeiten war und auf Geld vom Kreis wartete, fiel das Wort BuBgeld.
Sicher wurde da gezahlt." (Zitat entnommen dem 'Kblner Standtanzei-
qer' (Ausgabe Bergisches Land) vom 28.9.1977). Die CDU stlirzt nun
den Amtsrichter Hebborn in den bbsen Verdacht, ein Jugendhof-Sympa-
thisant zu sein - und damit schon beinane ein Anarchisten-Sympathi-
sant. Hebborn wird dazu verdonnert, vor dem AusschuB Bericht liber
die Vergabe der Gelder des BuBgeldfonds zu erstatten.
Worauf das hinauslauft ist klar. Die CDU unternimmt nach erfolgter
Ablehnung des Antrages auf Anerkennung nach § 9 JWG den Versuch,
dem Jugendhof einen Geldhahn nach dem anderen abzudrehen, damit der
Hof mbglichst schnell finanziell ausblutet.
Der Angriff auf den Richter, der sich ' erdreistete' , dem Jugendhof
Licht- und Heizgeld zu geben, muB weiter erklart werden:
Amtsrichter Hebborn hatte am 16. September 1977 uber zwei Verantwort-
liche des Jugendhofes zu Gericht zu sitzen: Heinz FaBbender und
Hans Stendel, der nicht mehr auf dem Jugendhof arbeitet, muBten sich
weaen Hausfriedensbruch verantworten.
Was war qeschehen: Genau ein Jahr davor, am 16.9.1976, stand der Ju-
aendhof kurz vor seiner SchlieBung. Der Strom war abgestellt das
Uasser sollte innerhalb der nachsten Tage abgedreht werden, Lebens-
mittel (Kartoffeln und ein paar Kohlkbpfe) reichten fur noch hoch-
stens drei Tage. AuBer 15 Jugendlichen muBten zwei Babys versorgt
In^eser hochsten Not gingen alle Bewohner des Jugendhofes am
16. 9. 76 zum Oberkreisdirektor des Rhein.-Berg. Kreises, Dr. Walter
- 69 -
Scholtissek (CDU), urn diesem Mann ihre Notlage zu schildern. Der
hohe Mann war nicht in seinem BLiro. Also setzten sich die Besucher
in sein Zininer, urn auf ihn zu warten. Anstelle des Oberkreisdirek-
tors erschien jedoch plotzlich Pol i zei und warf die Jugendlichen mit
erheblicher kbrperlicher Gewalt (Atteste liber die Verletzungen der
Jugendlichen liegen vor) aus dem Kreishaus. Einige Tage spa'ter erstat-
tete Scholtissek Anzeige wegen Hausfriedensbruch.
Am Jahrestag dieser als "Pel lkartoffelaktion" in die Geschichte des
Jugendhofes eingegangenen Aktion stellte das Gericht unter Vorsitz
des Richters Hebborn mit sofortiger Zustimmung des Staatsanwal tes
das Verfahren ein.
Das bedeutet: die fur den Kreishausbesuch verantwortlichen Jugendhof-
bewohner wurden nicht bestraft. Das schmeckte der CDU nicht. Der
Kommentator der CDU-Postille "Bergische Landeszei tung" (Ausgabe der
"Kolnischen Rundschau" fur den Rhein.-Berg. Krei s) lamentierte darob
Liber "wieder einmal verheizte" und "zur Drecksarbeit benutzte" Poli-
zisten.
Da sich die Herren Politiker nicht trauen, often gegen ein Urteil
vorzugehen (vielleicht mit einer schnellen Anderung der Gesetzgebung
innerhalb der Grenzen des Rhein.-Berg. Kreises) , dass von einem unab-
hangigen Gericht gesprochen wurde, wahlen si e den schmierigen Weg:
"Urteilsschelte" betreibt die CDU nicht, steht im ' Stadtanzeiger ' .
Doch: "Ich ahne Fiirchterl iches. Und ahnen darf ich doch?" fragt be-
kannter Bosbach (CDU) mit der Miene eines Ehrenmannes. Kurzum:
Richter Hebborn sei befangen, weil er dem Jugendhof einmal geholfen
hat.
So wird ein Mann, der entgegen dem bffentlichen Druck, der hauptsach-
lich von der CDU betrieben wird, ein Verfahren eingestellt hat,an-
statt zu bestrafen, dffentlich als 'korrupt' diffamiert. Wobei die
Frage erlaubt sein darf, welche Mittel wir haben kbnnten, um jeman-
den zu korrumpieren.
Bezweckt wird mit einer derartigen Hintertreppenpol i ti k, daB die
wenigen, die in unserem Kreis noch den Mut haben, eine Einrichtung
wie den Jugendhof zu unterstlitzen, klar wissen: "Du wirst abgeschos-
sen." Zumindest wird ein Mann wie Richter Hebborn bffentlich in Mil3-
kredit gebracht. Denn: dieser Mann lebt in diesem kreis, hat Nach-
barn, Bekannte und sicher auch seine Stammkneipe; seine Frau geht
zum Einkauf usw. usw. Man kann sich ausmalen, was diesen Mann und
seine Familie an Gemeinheiten erwartet.
3. AKT
Bleibt noch anzumerken, daB die Kriminalpolizei des Rheinisch-Ber-
gischen Kreises selbst den "Ausflipp" eines 16ja'hrigen Madchens zum
AnlaB nimmt, dem Jugendhof eins auszuwischen. Geschehen war Folgen-
des: ein Madchen aus unserer Nachbarschaft , das mit einem Jungen des
Jugendhofes befreundet is t, ri(3 nach einem Krach mit ihren Eltern aus
und kam zu uns. Das Madchen war kaum zwei Stunden bei uns, als die
Eltern kamen.Ein Streitgespra'ch entstand. Die Eltern zogen wu'tend
ab und erstatteten bei Herrn Klaus Rebmann von der Kripo in Gladbach
Anzeige gegen den Jugendhof.
Im Laufe des Tages beruhigte sich das Madchen, so daB nach mehreren
Telefongesprachen mit der Mutter noch am Abend des selben Tages
eine Aussprache stattfinden konnte. Ein Verantwortlicher des Hofes
70
Rotbuch
Potsdamer Strafie 98 1000 Berlin 30 Telefon (030) 2 61 11 96
Rotbucn 178
96Seiten
DM 7
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GotzAfy
>Wofiir wirst du
eigentlich bezahlt?< I
Das resignierte Nichts-
tun im Jugendheim/Das
Amt der Amtmanner/
Neuere Versuche, sich
um Erziehung zu driik-
ken/'DerClubiTrink-Dich
-Frisch(/Pol. Btldung im
Jugendheim d.a.m.
Rotbuch 163, DM7, -
Gemeinsam
sind
wir
unertraglich
Dieser Band will pol. Re-
signation und Illusion
entgegentreten, indem
er die Krisenpolitik von
Staat, Unternehmen und
Medien unlersuchl und
den Arbeitskampf in den
Betrieben beschreibt
Rotbuch170, DM 8,-
Angste und Erfahrungen
eines Kader-Gymnasia-
sten/iLeben fur die Par-
teii - und was das kostet
/Verlust der Identitat als
FrauimKSV/FurdiePar-
tei desProletaiialbdnder
Uni u.a.m.
Rotbuch177,DM7,-
fuhr mit dem Madchen zu dessen Eltern. In einem langen gemeinsamen
Gesprach Liber familiare Probleme und besondere Schwierigkei ten des
Madchens einigten sich schlieBlich die beteiligten Parteien darauf,
daB das Madchen klinftig seinen Freund an jedem Wocherende tagsliber
besuchen darf.
Einen Tag s pater rief nun ein Vertreter der ortlichen Presse an:
Einer Information zufolge werde auf dem Jugendhof seit zwei Tagen
ein minderjahriges Madchen gefangen gehalten. Was das solle? (Zur
Verdeutlichung: diese Information kann nur von der Kripo kommen,
da die von den Eltern aufgesucht worden war. AuBerdem ist Kripo-
Mann Rebmann mit dem Vertreter jener Zeitung befreundet). Mit MLihe
und Not konnten wir den Journalisten davon abhalten, eine Rauberpi-
stole, die nie stattgefunden hatte, zu schreiben.
Soweit diese drei Akte aus der Umwelt, in der wir leben.
WIR MACHEN WEITER
Der unbefangene Leser, der dies alles gelesen hat, kb'nnte nun mei-
nen, wir sta'nden nur noch mit Dreschflegeln bewaffnet parat, urn die
politischen Hinterzimner der CDU und ihrer Freunde zu sturmen. Die-
ses Bild w'urde der CDU und anderen rechten Kraften des Kreises si-
cher gut gefallen. Nur: den Gefallen bereiten wir den Herren mcht.
Die Arbeit auf dem Hof lauft weiter. Das Dach des Haupthauses ist
repariert, alle Fensterscheiben sind neu eingesetzt (s. 18. Mai),
neue Regenrinnen sind gesetzt, eine weitere Fassade des Hauses ist
neu verputzt, zwei Zinmer sind vollstandig renoviert. In Kurze wird
der Strom gemacht, sieben Zimmer mLissen noch renoviert werden, ein
ehemaliger HLihner- und Kaninchenstall wird zu einem Kinderzimmer
ausgebaut usw.
Wegen der Renovierungsarbeiten.und weil wir wen ig Geld haben, sind
wir zur Zeit auf engstem Raum zusammengerlickt. Teilweise mlissen
augenblicklich drei Jugendliche auf einem Zimmer hausen. Aufgrund
der miserablen wirtschaftlichen Lage konnten wir leider auch kaum
noch neue Jugendliche aufnehmen. Die Pla'tze, die durch den Wegzug
einiger Jugendlicher frei wurden, blieben grb'Btenteils unbesetzt.
Einer, der in eine eigene Wohnung zog, macht eine Dachdeckerlehre;
ein Madchen, das sich selbstandig machte, holt in der Abendschule
die mittlere Reife nach. Ein Junge, der zu seinen Eltern zuruckgehen
konnte, arbeitet nun regelma'Big. Und diese drei jungen Menschen ka-
men ohne eine Hoffnung auf irgendeine Zukunft zu uns. Sie haben es
bei uns gelernt, ohne Kriminalitat Oder Prostitution selbstandig zu
leben. Das macht uns unheimlich froh und gibt neue Kraft. Ein Junge,
der auf dem Hof wohnen bleiben mbchte, beginnt im Fruhjahr 1978
eine Ausbildung. Andere sind mittlerweile soweit, daB wir mit guter
Hoffnung sagen kbnnen, daB sie, wenn sie durchhalten, im nachsten
Jahr ihren HauptschulabschluB nachholen kbnnen.
Die Jugendlichen haben auf dem Jugendhof ein Zuhause gefunden, in
dem sie sich wohlfuhlen und fur sich selbst etwas lernen.
AUFRUF ZUR SOLIDARISCHEN UNTERSTUTZUNG
Das SB hat den Jugendlichen im Klever Hof aus dem Solidari tatsfonds
DM looo,-- iiberwiesen. Weitere Spenden an den JugendhofrVerein Kol-
lektiv.Kreissparkasse Bechen 328/001930 sind dringend erforderlich.
Elisabeth Gliicks, Miinster
KOORDINATION DER WOHNGEMEINSCHAFTEN
HOHER ANSPRUCH - UNZUREICHENDE REALISIERUNG
Ober die Ziele und Vorhaben der Koordinierungsstelle fur Wohnge-
meinschaften im Bereich Jugend- und Sozialarbeit (KoSt) habe ich
im Info 16 berichtet.
Nach einem Jahr mehr oder weniger intensiver Koordinierungsarbeit
la'Bt sich eine erste Bilanz Ziehen, die gemessen an den Erwartungen
und AnsprLichen, auf der Oktober-Tagung 1976 formuliert, hinter die-
sen zuriickgeblieben ist. Die.Frage nach der Ursache muB dabei in
zwei Richtungen gestellt werden:
Zum einen ist zu hinterfragen, inwieweit die auf der Tagung in eupho
rischer Stiimiung entwickelten Mbglichkei ten und Chancen fur die
WGs durch die KoSt einer realen Einschatzung entbehrten.
Zum anderen steht die Klarung des Wechselverhaltnisses von KoSt und
Wohngemeinschaften (WGs) als Basis der Arbeit an.
Aus der Klarung des letzteren ergibt sich schon die Antwort auf die
erste Frage: Es ist nicht gelungen, die WGs zu einer regelma'Bigen
inhaltlichen Mitarbeit zu bewegen, d.h. die Realisierung der inhalt-
lichen Ziele bleib der KoSt uberlassen. Die zur UnterstLitzung vorge-
sehene Arbeitsgruppe kam aufgrund mangelnden Interesses nicht zustan-
de und blieb auf die regelma'Bige Mitarbeit einer weiteren Person
beschrankt. Die finanzielle Basis konnte nicht geschaffen werden, da
sich nur insgesamt vier Einrichtungen und einige Einzelpersonen zu
einer monatlichen Spende bereit erklarten (dies zum Teil auch erst
nach den bei den WGs-Treffen im Mai diesen Jahres).
Die Koordinierungsarbeit muBte sich zwangslaufig auf dieser Basis
mit nur wenigen Ausnahmen auf rein reaktiver Ebene abspielen. Kon-
kret ausgedrlickt: Beantworten von Briefen und Materialwunschen von
Studenten, Verschickung von Info-Material und Protokollen an im
Aufbau befindliche Oder geplante Einrichtungen, Nachfragen von Adres-
sen, Anknupfen von Kontakten.
Eine wichtige Moglichkeit, die Kommunikation von KoSt und WGs zu
verbessern, indem einzelne WGs von mir aus besucht wurden, wurde
durch die ra'umliche Lage der WGs (verstreut Uber die gesamte BRD)
als auch durch die dabei aufflammende(aber nur sehr kurzfristige
Bereitschaft zur Unterstutzung im wesentlichen negativ beeinfluBt.
Diese Einschatzung tragt im groBen und ganzen resignative Zuge.
Fs muB - und dies ist fur die Einordnung des folgenden wichtig -
Habei berucksichtigt werden. daB ich diese Einschatzung aufgrund der
im Okt 1976 getroffenen Absprachen und Aussagen der WGs entwickelt
habe, die von der Bereitschaft zur aktiven Beteiligung durch die
Sl/VognTorn:hereinnals zu erwartende Illusion mit einzuplanen aus
- 73 -
jT
Griinden wie Abstraktheit der Idee der KoSt, Eingespanntsein in den
taglichen Kleinkram der WG, Tendenz zum Konsumverhal ten in dem Wis-
sen urn die Existenz einer Koordinierungsstelle, ware realistisch ge-
wesen, wurde von meiner Seite aus allerdings erst endgultig wahrend
des Verlaufs der beiden Tagungen im Mai 1977 als auf die nachste
Zeit unabanderliche Tatsache akzeptiert.
Gemessen an diesen Bedingungen stellen sich die bisherigen Aktivita-
ten der KoSt nicht so resignativ dar, wie es aus den ersten Satzen
herauszulesen ist. Gemessen auch an der Zeit, die ich flir die KoSt
aufbringen kann, erscheint das Ergebnis als ganz zufriedenstellend
und die weitere Arbeit als sinnvoll. Sicherlich ware die Realisierung
einiger Punkte schneller vor sich gegangen, wenn die Koordinierungs-
arbeit als sog. full-time-job moglich gewesen ware. Dies war aller-
dings nicht durchflihrbar, nachdem die finanzielle Basis fehlte und
noch immer fehlt.
WAS MACHT NUN EIGENTLICH DIE ARBEIT DER KOST. AUS ?
Ein erster Arbeitsschritt war mit dem Ziel einer detaillierten Be-
standsaufnahme der WG-Landschaft in der BRD gekoppelt.
Als Mittel dazu wurden Info-Schreiben an alle, nicht durch die Tref-
fen erfaBten WGs verschickt (schwerpunktartig im Dez. 1976 und Juni
1977), deren Rlicklauf allerdings sehr gering war.
So sieht die Situation heute aus, daB ca. 100 Einrichtungen und
zahlreiche Einzeladressen von Sozialarbeitern, Erziehern usw. er-
faBt sind, wobei noch nicht abschlieBend geklart werden konnte, ob
alle erfaBten Einrichtungen heute noch existieren. Nur etwa 1/3 der
WGs ist bisher durch Treffen erfaBt worden.
Die zum Zwecke der Bekanntmachung der KoSt verdffentl ichten Artikel
und Protokolle in padagogischen Zeitschriften hatten in erster Linie
den Effekt, daB gehauft Anfragen von Studenten nach Erfahrungsbe-
richten und Material fur Examensarbeiten kamen.
Parallel zu diesem Versuch, neue Kontakte aufzubauen, sol 1 te der
Kontakt zu den bereits bekanntenWGs durch Rundbriefeund Besuche si-
chergestellt werden. Die Rundbriefe, von denen bisher zwei erschienen
sind, hatten nicht die gewlinschte Reaktion zur Folge, sondern ver-
schwanden in den sonstigen Papieren der WGs, ohne , was gleichermaBen
wesentliches Anliegen bei der Planung der KoSt war, von den Bewohnern
der WGs aufgenommen zu werden. Letzflich tat die Form der RunHbriefe
ein ubriges dazu. Geplant ist flir die nachste Zeit eine Wandzeitung,
die in den WGs aufgehangt werden soil und somit alien zuganglich
ist.
Zur Aufhebung der Isolation der WGs untereinander tauchte kurzfri-
stig die Idee eines gemeinsamen Zeltlagers auf, dessen Organisie-
rung allerdings mangels fehlenden Kontaktes zwischen KoSt und WGs
sowie der WGs untereinander nicht zustande kam und das auf dem Bun-
destreffen im Okt. 1977 in Angriff genommen worden ist. (Im AnschluB
an die SLidtagung im Mai war bereits ein Zeltlager von mehrerei WGs
zustande gekommen, das sehr zur Zufriedenheit der Beteiligten ver-
laufen war. )
Weiterer Bestandteil der Koordinierungsarbeit stellt die Organisie-
rung von WG-Treffen dar, wobei der inhaltliche Rahmen weitgehend
von den WGs geplant wird.
FLir die beiden ersten Treffen im Mai 1977 ist dies nicht realisiert
worden, entsprechende Konsequenzen flir die nachsten Treffen konnten
daraus als positive Ergebnisse gefaBt werden: so z.B. hatten diese
Treffen und auch die im vorigen Jahr die Erfahrung gebracht, daB sich
bereits wahrend der Treffen jeweils fur das nachste Mai eine Oder
zwei WGs zur inhaltlichen Planung bereit erklaren.
Zur finanziellen Fdrderung als auch zur inhaltlichen Funktion der
KoSt gehdrt die Planung von Info-Mappen. Die Erstellung einer ersten
Mappe zu Finanzierungsmodellen fur WGs wird Ende des Jahres in Angriff
genommen. AuSerdem ist geplant, eine Info-Mappe liber mehrere WGs
verschiedenen Typs zusammenzustellen mit Erfahrungsberichten und Fo-
tos. Dies dient- darLiber hinaus dem Ziel, die Existenz der KoSt
starker in die Offentl ichkeit zu riicken.
Der zuletzt angefuhrte Punkt machtein den letzten Monaten einen GroB-
teil der Aktivitaten der KoSt aus. Konkret heiBt das: Verfassen von
Artikel und Teilnahme an Tagungen.
Eine weitere wlinschenswerte Funktion der KoSt besteht darin, flir die
WGs konkrete Unterstlitzungsarbeit zu leisten. Dieses konnte zum er-
sten Mai flir den Jugendhof in Odenthal durchgeflihrt werden, wo u'ber
die KoSt die Informationen liber die dortigen Ereignisse (s. Info
17 und dieses Heft) an die WGs als auch an die Zeitschriften gege-
ben werden konnten, damit die WGs durch Spenden und Unterschriften
unter eine Stellungnahme ihre Solidaritat ausdriicken konnten. Auf
dieser Ebene als auch auf der fachspezifischen Interessenrealisie-
rung kann sich der positive Stellenwert der KoSt festigen,
OKTOBER-TREFFEN 1977 - EIN SCHRITT VORWARTS
Diese Situation stellte sich so bis zum Bundestreffen Mitte Oktober.
Das Treffen brachte dann eine bis dahin nicht erreichte Beteiligung
der WGs. Die Teilnehmerzahl muBte leider aus raumlichen und in-
haltlichen Oberlegungen heraus auf 80 Leute beschrankt werden.
Weiter fortgesetzt hat sich die erfreuliche Entwicklung, daB sich
immer mehr Bewohner an den Treffen beteiligen. Hier waren es ca. 50%.
Die zunachst vorgenommene Trennung der beiden Gruppen: Bewohner
mit eigener Tagesordnung und Berater mit eignem Progranvn hat sich
als sehr erfolgreich und von beiden Seiten wlinschenswert erwiesen.
Auf einem mehrstlindigem Plenum als auch auf den Zwischenplenen wurde
dann entlang der einzelnen Problempunkte beider Gruppen zusammen
diskutiert, was auch zunehmend zur Zufriedenheit aller verlauft.
(Zu den im einzelnen besprochenen Punkten erscheinen demnachst Pro-
tokolle).
Zur weiteren Arbeit der KoSt faBte das Plenum folgende Beschllisse:
I der Kontakt der KoSt zu den WGs wird durch eine Kontaktperson aus
dem Tragerverein der WG bzw. der WG selbst bestimmt. Die anwesenden
WGs haben dies bereits getan.
I die bisher stattgefundenen Treffen werden Liberregional weiterge-
74 -
75
fu'hrt. Die inhaltliche Vorbereitung geschieht weiterhin durch zwei
WGs. Zwischen den halbjahrlichen Treffen wird ein Zeltlager statt-
finden, wo alle Berater und Bewohner, die Interesse und Zeit haben,
sich treffen sollen. Die halbjahrlichen Treffen werden nach den
Erfahrungen des letzten Treffens auf 80 - 90 Leute beschrankt blei-
ben.
• die WGs intensivieren den Kontakt zunachst regional untereinan-
der und geben die Ergebm'sse solcher Treffen bzw. Arbei tsauftrage an
die KoSt weiter.
I alle zwei Monate erscheint eine Wandzeitung fiir die WGs, die von
einer WG zusammengestel It wird.
• urn die finanzielle Basis der KoSt sicherzustellen, werden verschie-
denen Vorschlage diskutiert: eine engere Zusammenarbeit mit der AG
SPAK und die Grundung eines eingetragenen Vereins. Die Beitrage der
WGs laufen zuklinftig liber ein gesondertes Einzugsverfahren.
I die KoSt wird durch eine regelma'Big tagende Arbeitsgruppe ge-
stlitzt, deren Zusammensetzung mittlerweile gesichert ist.
I die Dffentlichkeitsarbeit sieht vor: Erstellung der schon angespro-
chenen Arbei tsmaterialien, Herausgabe eines Buches Liber die Entwick-
lung der Wohngemeinschaftsarbeit mit exemplarischem Projektteil,
evtl . Teilnahme am Jugendhi lfetag, regel ma'B 1 9er Kontakt zu sozial-
padagogischen Publikationen, konkrete Hi Ifeleistungen fur einzelne
WGs.
I Aufbau einer Erfassungs- und Verteilungsstelle, an die sich WGs
wenden sollen, die freie Pla'tze in ihren WGs zu belegen haben, als
auch Sozialarbeiter, die Jugendliche, Strafentlassene, Kinder in WGs
vermitteln wollen. Dazu soil es mbglich sein, interessierte Zivil-
dienstleistende und Jahrespraktikanten in WGs zu vermitteln, ebenso
Sozialarbeitern die Mbglichkeit zu bieten, freie Beraterstellen zu
erfragen. Diese Stelle wird ihren Sitz unter folgender Adresse haben:
Aktion junge Menschen in Not e.V.
Bernd Bornhoff
Frankfurter Str. 48
6300 GieBen-Lahn, Tel .: 0641/78660
Die hier formulierten Aktivitaten lassen die Wechselbeziehung von
KoSt und WGs praktizierbarer erscheinen und kbnnten somit der dro-
herden Verselbstandigungstendenz entgegenwi rken.
STANDORT UND STELLENWERT DER WOHNGEMEINSCHAFTSARBEIT
Betrachtet man riickwirkend die Entwicklung der Wohngemeinschaftsbewe-
gung innerhalb der Sozialarbeit, so kann man durchgangig seit Exi-
stieren der ersten Jugendwohnkollektive feststellen, dal3 dem Ruf nach
Verknlipfung von padagogischen und politischen Ambitionen in der
Wohngemeinschaftsarbeit als auch innerhalb des Jugendhi Ifesystems
zu keiner Zeit eine einheitliche Handlungsperspektive folgte.So ist
der in den Jahren 1970 - 1973 gefiihrte Erfahrungsaustausch nur fiir
kurze Zeit kontinuierl ich verlaufen, letztlich brachte er aber keine
einheitliche Kooperation bei der Lbsung der gemeinsamen AuBen- und
Binnenprobleme zutage. Die unterschiedliche Einschatzung der Anspruchs-
realisation und Realitat - bestimnt wurde die Diskussion durch die
Entstehung des Rauch-Hauses - fbrderte die Diskrepanz zwischen den
Wohngemeinschaften. Das Modell Jugendwohnkollektiv - wachsende Be-
76 -
rufsperspektive unter Sozialarbeitern und Padagogikstudenten - konn-
te in seinem Stellenwert fur das Jugendhi If esystem als auch fur die
auBerinstitutionelle Bewegung in der Jugendarbeit noch nicht einge-
ordnet werden.
Diese enttauschende Entwicklung, vielleicht auch mit ein Grund fiir
das Scheitern vieler Wohngemeinschaften an finanziellen und inhalt-
lichen Schwierigkeiten, trifft gerade die Einrichtungen und Bera-
ter, die an ihre Arbeit weitergehendere Ansprliche und Erwartungen
formulieren, als sie in der Bestimmung einer Wohngemeinschaft als
Zwischenschaltung zwischen repressiver, real i tats ferner Heimerzie-
hung/Strafanstalt und "normalem" Leben au&erhalb dieser Institutio-
nen in der Gesellschaft zum Ausdruck kommen.
Das Verstandnis von Sozialarbeit als Feld politischer Arbeit in Ver-
bindung mit einer Analyse von Sozialarbeit als adaquate Reaktions-
form auf den gesellschaftlichen Verhaltnissen immanenten Widersprii-
chen und Krisenerscheinungen ist zwar der theoretisch-abstrakten
Neu bestimmung von Inhalten und Zielen einer Wohngemeinschaftsarbeit
unabdingbarer Hintergrund, bleibt jedoch, was seine Umsetzung be-
trifft innerhalb des Prozesses in der WG durch die Konfrontation mit
den Regelma'Bigkeiten des taglichen Lebens, den Verhal tensgewohnhei-
ten von Bewohnern, dem anerzogenen eigenen oder padagogisch herge-
leiteten Reaktionsrepertoir der Berater, mit der direkten und indi-
rekten Prasenz der bffentlichen Institutionen allzu leicht auf die
Ebene eines Denkmodells beschrankt. Seine Realisierung bzw. die Aus-
einandersetzung mit Mbgl ichkeiten seiner Realisierung werden zurlick-
gedrangt auf eine nicht mehr permanent gefiihrte Reflexion in der
Freizeit, auf Vereinssitzungen, auf WG-Treffen.
Aber auch dort bleibt zunachst die Beschaftigung mit den in der Pra-
xis auftretenden Problemen, die liber den Kopf zu wachsen drohen: Ee-
sorgung von Arbei tsstell en, Sanktionierungsregelungen, Sicherstel-
len der finanziellen Basis, Versuche der Gestaltung eines Gruppenle-
bens im Vordergrund.
Die bei alien Wohngemeinschaften anzutreffende Eingebundenheit in
die Lbsung der Binnenprobleme la'Bt von einem gewissen Punkt an, an
dem die Verstrickung und Kleinarbeit zum offenen Infragestellen des
eigenen Anspruches und der Arbeit in der WG flihrten, das Bedlirfnis
nach Austausch und Kontakt zu ahnlich "Betroffenen" entstehen.
Die weitergehende Diskussion urn Standort und Stellenwert der WG-
Arbeit ist dabei eingeschlossen, die Realisierung von gemeinsamen In-
teressen und die Lbsung von durchgangig den gleichen umfassenderen
Problemen (u.a. Belegungsprobleme, Finanzierungsengpasse, Diszipli-
nierungsversuche durch Behbrden) wurde zwar immer wieder fiir notwen-
dig erachtet, blieb aber eine schbn nachzulesende Forderung in Pro-
tokollen und nichts mehr.
Sei es, daB der eigene Anspruch nicht ernst genug genommen wurde
oder durch das Angespanntsein in der ta'glichen Arbeit die Kraft da-
zu nicht mehr reicht, es gibt Grlinde genug, warum es bisher so ge-
laufen ist und nicht anders.
Deutlich sein muBte allerdings, daB nicht immer wieder neu mit Erfah-
rungsaustausch und Kontaktaufnahme begonnen werden kann, ohne daB
dieses weitere Konsequenzen fur die daran Beteiligten k»t. Die Tref-
- 77
fen 1976 haben dies ebenso deutlich gezeigt, wie die bisherigen Ver-
suche . Die positive Konsequenz aus dem Oktober Treffen 1976, wie
es durch den Aurbau der KoSt als ersten Schritt mbglich wurde, laBt
hoffen, daB der neuerliche Versuch einer Zusammenfassung der WGs
im Bereich der Sozialarbeit nicht nur flir die Arbeit in den WGs,
sondern auch flir deren Vermittlung und Stellenwert im System der
Sozialarbeit Auswirkungen haben wird.
Die Diskussion urn starkere Realisiemng der ursprunglichen Ziele
der WG-Bewegung auf dem Hintergrund der Erkenntnisse einer fast to-
talen Eingliederung der WGs in den Rahmen der institutionalisierten
Sozialarbeit muB zum wichtigsten Bestandteil der Auseinandersetzung
der WGs untereinander werden. Die KoSt wird in diesem Sinne eine
Starkung der WG-Bewegung in sich und an sich zu verfolgen haben. Die.
bisherige Koordinierungsarbeit ist dazu ein sehr kleiner, aber zu-
mindest bereits gemachter Anfangsschri tt.
Die auf dem Oktober Treffen 1977 formulierten Vorstellungen werden,
wenn sie realisiert sind, Kooperation und Koordi nation ein gutes
Stuck weiterbringen.
Bisher sind allerdings nur ein Drittel der erfaBten WGs an der Koor-
dinierungsarbeit beteiligt. Es ist daher unbedingt notwendig, daB wei-
tere inhaltliche und finanzielle Unterstiitzung von WGs und von Ein-
zelpersonen eintreffen..
Koordinierungsstelle f. Jugendwohngemeinschaften c/o Elisabeth Glucks
Buldernweg 47, 4400 Mlinster, tel . : 0251/75630.
Spendenkonto: Postscheckkonto 1870 66-463, Postscheckamt Dortmund
Sonderkonto Koordinierungsstelle (Adresse wie oben angegeben).
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78 -
Autorengruppe Westberlin
BERLINER GESELLSCHAFT FUR HEIMERZIEHUNG (BGfH)
EINE HERAUSFORDERUNG
FOR DIE INSTITUTIONALISIERTE SOZIALARBEIT
Der folgende Beitrag ist von den Mitgliedern Barbara Uolf-Kunze/
Jiirgen Gottsahliah/Joehen Schaffer, der BGfH konzipiert und dem
Delegiertenplenum vorgelegt worden, dabei wurden die in den Arbeits-
gruppen erarbeiteten Ergebniese beriioksiahtigt . Der Artikel ent-
spriaht nicht der Meinung alter Mitglieder der BGfH und ist in einev
Phase anhaltender Diskussionen geschrieben worden. Auf dies hinzu-
weisen halten wir fur wichtig und notwendig.
ENTSTEHUNG DER BGfH
Als die BGfH 1969 in Berlin gegrundet wurde, war sie tatsachlich
noch eine Gesellschaft fur Heimerziehung.
Sehen wir uns die Heimscenerie von 1969 ruhig etwas genauer an.
Es war die Zeit der Heimkampagnen in der BRD, eine Zeit.in der
verkrustete Strukturen und die "Heimerziehung" radikal in Frage ge-
stellt wurden. Eine Zeit, in der auch in Berliner Heimen durch Studie-
rende der Sozialarbeiter- und Erzieherschulen eine heilsame Unru-
he entstand.
Die zustandigen Behbrden, aufgeschreckt aus langjahrigem Schlaf,
holten sich einen namhaften Padagogen aus der BRD, der die festge-
fahrene Karre wieder flott machen sollte. Dieser jedoch lieB sich
nicht so mir nichts dir nichts vor die Senatskarre spannen, sondern
begann, in der verrotteten Berliner Heimerziehung aufzuraumen. Er
ging in die Heime, sprach zu jeder Tag-und Nachtzeit mit Kindern,
Jugendlichen und Erziehern und versuchte,' deren Interessen in der
Verwaltung durchzusetzen. Dieses Vorgehen war ganz und gar nicht im
Sinne der Senatsoberen, deren Devise lautete eher: keine Skandale
in den Heimen, die nach auBen dringen, kein Gerede in der Presse
liber unliebsame Vorgange in den Heimen, Ruhe und Ordnung der Offent-
lichkeit gegentiber. Was hinter den Kulissen der Heime ablief, war
nicht so wichtig so lange es hinter den Kulissen blieb.
Wahrend dieser Zeit begannen sich auch schon die ersten dunklen Wol-
ken der spateren Berufsverbotspraxis am Horizont abzuzeichnen. So
war ein Dozent einer senatseigenen Erzieherschule standig vom Hin-
auswurf bedroht, weil er in seinem Unterricht versuchte, die Stu-
Hiprenden auch uber die wahren Hintergriinde der standigen Heimnnsere
aufzuklaren. Es kam damals zu einan Streik der Studierenden, der die-
cen Hinauswurf verhinderte. Dieser politische Hintergrund erschien
Mns einer handvoll Heimerzieher, Sozialarbeiter, Psychologen und
Akademielehrern, der richtige Zeitpunkt zu sein, einen Zusammen-
*t! 1 ler He merzieher und an der Heimerziehung Interessierten
IS versuchen Der Verein" Berliner Gesellschaft fur Heimerziehung
- 79 -
genannt, sollte ein Sammelbecken filr die Erzieher sein, die mit ih-
rer Arbeitssituation nicht zufrieden waren, da sie erkannt hatten,
woran diese krankte . Urn nur einige Punkte aufzuzahlen, so war es
einmal die Starke Hierarchie in den Heimen von Heimleiter bis zum
Praktikanten, die den Erzieher unmbglich machte, eigene Vorstellungen
von Padagogik in die tagliche Praxis einzubringen, der damalig prak-
tizierte Erziehungsstil, von Repressalien diktiert, und vor allem der
politische Stellenwert der Heimerziehung innerhalb der Gesellschaft.
Alles in allem war klar, daB die Organisationsform, gepragt von
der totalen Versorgungsmaschine, als Lernfeld fur Kinder und Jugend-
liche vbllig ungeeignet, ja sogar schadlich war.
Gemeinsam mit diesem Potential an Heimerziehern wollten wir neue Vor-
stellungen entwickeln und diese gemeinsam durchsetzen. Sanktionen
gegen Kollegen, wie z.B. gegen den genannten Dozenten, wollten wir
geschlossen zurlickweisen. Wir gingen von der Vorstellung aus, daB
wir, waren wir nur stark genug, unseren Verein als Druckmittel ge-
gen die konservative Senatspolitik einsetzen kbnnten. So fanden sich
zur Grundung der BGfH ca. 35 Leute aus sozialpadagogischen Berufen
zusammen, die entschlossen waren, die Berliner "Heimwelt" zu veran-
dern.
Was dann daraus wurde, sah allerdings ganz anders aus. Die BGfH
war in den folgenden Jahren in der Berliner Bewegung der Heimerzie-
hung nur ein Anhangsel , nie eine treibende Kraft.
Als 1970 vom Kinderheim Lindenhof ein Erzieherstreik ausgerufen wur-
de, als die Kreuzberger Kinderga'rtnerinnen ihren Streik durchfuhr-
ten, als das Bethani en -Krankenhaus besetzt wurde und das Georg-von-
Rauch-Haus entstand, war die BGfH zwar immer dabei, sandte Solida-
ritatsschreiben in alle Welt, wurde aber nie selbst initiativ.
In der Riickschau stellte sich uns ziemlich klar dar, wo die Fehler-
quellen von damals zu suchen sind. Die BGfH hatte eine Flihrungs-
spitze, die Liber die Mitglieder hinweg die Ziele des Vereins fest-
legte und durchzusetzen versuchte. Diese FLihrungsspitze war durch
Liberal! tat und Loyal i tat dem Senat gegenu'ber in seiner Handlungs-
freiheit eingeschrankt. Radikale Handlungen, wie z.B. Teilnahme an
der Besetzung von Bethanien.schlossen sich dadurch von selber aus.
Die BGfH beraubte sich selber ihrer politischen Schlagkraft und ver-
lor n'icht nur an EinfluB, sondern auch an Interesse ihrer Mitglieder.
Sie schmolz schlieBlich zu einem unbedeutenden Hauflein zusammen
und stand vor der Frage, sich aufzulosen oder die Gesellschaft
neuen Zielen zu beleben.
Wir entschlossen uns, der liberalen Mehrheit entsprechend, unsere
politischen Aktivitaten, bis auf wenige Einzelfalle, zuruckzustellen
und uns konkreter, alternativer Sozialarbeit zuzuwenden. So wurde
das Projekt "Einsatz von Familienhelfern", neben der Grundung mehre-
rer Wohngemeinschaften und einem Wohnungsmarkt flir Trebeganger und
entlassenen Heimjugendlichen^um Herzstuck unserer Vereinsarbeit.
80
DAS PROJEKT "FAMILIENHELFER"
Es begann ganz zufallig und war eine sportane Idee unseres Mitglie-
des Martin Bonhoeffer, der im Jahre 1968 Referent der senatseigenen
Heimaufsicht war. Eine Sozialarbeiterin aus Kreuzberg rief an und
suchte Heimplatze filr funf Kinder, deren Mutter ganz plotzlich ins
Krankenhaus muBte. Das Berliner HKH (Durchgangsheim) quoll Liber,
auf den Fluren standen schon Betten herum und sie konnten kein ein-
ziges Kind mehr aufnehmen. Martin machte den Vorschlag, ein Freund
von ihm, gerade ohne Beschaftigung, kbnnte die Kinder in der Familie
betreuen. Die Sozialarbeiterin Liberschlug sich fast ob dieser ku'h-
nen Idee, erwarmte sich dann aber dafu'r. Die Burokratie allerdings
entschied, wie konnte es anders sein, dagegen und zog es vor, die
flinf Kinder in alle Winde zu zerstreuen. Es gelang ihnen, flir funf
Kinder flinf verschiedene Heimplatze zu finden. (Das glei'che Bezirks-
amt Kreuzberg stellte einige Jahre spater eigene Famil ienhelfer ein
und verkaufte sie als eigene Idee).
Obwohl Kreuzberg gegen den Vorschlag entschied, war eine neue Idee
geboren und lieB uns nicht mehr schlafen. Mit "Familienhelfern"
konnten wir alle Kinder, deren Bezugspersonen kurzfristig ausfielen,
vor einer Heimunterbringung bewahren.
Das bedeutete:
1. Die Kinder brauchten nicht aus ihrer vertrauten Umgebung geris-
sen werden, was wir besonders bei Kleinkindern grausam fanden.
2. Die Kinder konnten Schulen, Kindertagesstatten und Freizeitein-
richtungen im Stadtteil weiter besuchen.
3. Freunde, Nachbarn etc. blieben den Kindern erhalten.
4. Die negativen Erfahrungen einer Unterbringung in einem Durch-
gangsheim blieben den Kindern erspart.
Wir wuBten aus unserer Arbeit in den Heimen, wie Kinder die Einwei-
sung ins Heim erleben und nie vergessen. Oft haben wir, von jetzt
schon Erwachsenen, ihren ersten Tag im Heim bis ins kleinste Detail
erzahlt bekommen. Dokumente der Lieblosigkeit und Einfallslosigkeit
von sogenannten Fachleuten.
Die Idee Famil ienhelfer war jetzt in unserem Kopf, wie sollten wir
sie in die Praxis umsetzen. Folgende Probleme stellten sich uns:
- Wurden die Eltern uns in ihre Wohnungen lassen?
- Wo nehmen wir die geeigneten Heifer her?
- Wie gewinnen wir die Behbrden flir unsere Idee und wie wird sie
finanziert?
Trotz dieser ungeklarten Fragen fingen wir einfach an. Im Bezirk
Neukblln ging es wieder urn die Unterbringung von flinf Kindern im
Alter von 4-13 Jahren, deren Mutter von einerMinute zur anderen
ins Krankenhaus muBte.
Die Sozialarbeiterin griff unseren Vorschlag begeistert auf, konnte
ihren Amtsleiter liberzeugen, vor allem natlirlich durch die Kostenfra-
ae (5 Kinder im Heim kosten ein Vermbgen).. Dieser erste Familien-
helfereinsatz wurde ein groBer Erfolg. Es dauerte nicht lange und
durch Mund zu Mundpropaganda kamen die ersten Auftrage ins Haus.
Unsere Heifer suchten und fanden wir an den Universitaten, besonders
aus den Fachgebieten Soziologie, Psychologie und Sozialpadagogik.
Auch andere Bereiche waren sporadisch vertreten. Wir gnngen davon
81
aus, jeder, der SpaB an der Betreuung und Versorgung von Kindern
hatte, kann mitmachen. Eigentlich ist das auch heute noch unser
Prinzip. Damit soil m'cht eine fachlichen Qualification abgesprochen
werden, nur, sie genligt nicht fiir unser Vorhaben. Man stelle sich
einen gelehrten Akademiker vor, der den Kindern keine Suppe kochen,
oder das Wi rtschaftsgeld nicht einteilen kann - wir konnen inn nicht
gebrauchen.
Das war je gerade das Neue und Besondere an unserer Form von Sozial-
arbeit, dal3 sie sich nicht nur auf Gesprache Liber die Probleme der
Betroffenen beschrankte, sondern in den Familien praktische Arbeit
leistete. An welcher Universitat lernt man das?
Als wir unser Projekt begannen, waren wir so wenige, daB wir uns
sehr schnell personlich gut kannten. Vom ersten Familienhelferein-
satz an erkannten wir, daB eine standige Beratung des Familienhel-
fers neben seiner praktischen Arbeit in der Familie gewa'hrleistet
sein muB. Praktisch sah das so aus, daB 2-3 Leute (Psychologen, So-
zialarbeiter, Erzieher) der Berliner Gesellschaft taglich telefonisch
oder personlich zur Verfugung standen. Jedes auftretende Problem
wurde sofort besprochen, der Heifer war nie allein. Diese Methode
bewahrte sich sehr gut, war aber viel zu aufwendig. So lieB sich die-
se Arbeitsform nur so lange durch halten.wie das Projekt noch sehr
klein war. So blieb es auch die ersten 2 bis 3 Jahre. Fami lienhel-_
fer kamen und gingen, sie machten ihre Einsa'tze und verschwanden wie-
der, neue wurden gewonnen. Die Arbeit der BGfH bestand ausschlieBl ich
in der:
- Helferwerbung
- Vermittlung von Familienhelfereinsatzen
- Helferberatung
- Eintreiben der Finanzen in den Bezirksamtern
- Werbung fiir das Projekt in den Bezirksamtern.
Ceht man davon aus, daB alle Mitarbeiter der BGfH am Projekt ihren
Fulltimejob in den Heimen hatten, dann wird klar, warum das Projekt
jahrelang spa'rlich vor sich hin klimmerte. Wir hatten einfach keine
Zeit und waren schon von der beschriebenen Arbeit vbllig aufgefres-
sen.
So hatte das Bezirksamt Kreuzberg Zeit und Gelegenheit, Liber unseren
Kopf hinweg ein eigenes Familienhelferprojekt aufzubauen und daflir
eine Fachkraft einzustellen.
Etwa 1973 nahm die Arbeit rapide zu. Eine Gruppe Familienhelfer fand
sich zusammen, die selbst initiativ wurde. Es wurden Flugbla'tter
gedruckt, die der Verbreitung unserer Idee in den Bezirksamtern _
dienen und gleichzeitig neue Heifer anlocken sollte. In den Bezirks-
amtern wurden die Sozialarbeiter einzeln angesprochen, an den Sozial-
arbeiterakademien die Studierenden davon unterrichtet. Diese Inten-
siv-Werbung blieb nicht ohne Erfolg. Hatten wir in den vergangenen
Jahren etwa 10 - 15 Einsa'tze durchgef'u'hrt, so verdoppelten und ver-
dreifachten sich in den letzten Jahren die Einsa'tze. Der Familien-
helferstamm wuchs bis auf ca. 35 Leute an und die altbewa'hrte Metho-
de der sta'ndigen Beratung und Supervision der Fami lienhel fer brach
hoffnungslos zusammen.
82 -
VERMITTLUNG DER FAMILIENHELFER UND FINANZIERUNG
Der zustandige Sozialarbeiter eines Bezirksamtes ruft bei der BGfH
an, er braucht dringend eine Betreuung fLir eine "auffal lige" Familie.
(Damit diese Anrufe iiberhaupt erfolgen, sind wir in die Bezirksamter
gegangen, haben mit den Sozialarbeitern gesprochen und Broschiiren
Liber die BGfH verteilt.) Der Sozialarbeiter schildert kurz die Art
der "Auffal ligkeit", und unser Vermittlungsdienst stellt die meist
schon bekannten finanziellen Bedingungen, d.h. zur Zeit 11,91/Std.
fiir "Haushaltsfortfiihrung", 17.- fiir "sozialpa'dagogischen Einsatz".
Dieses Geld steht jedoch dem Familienhelfer nicht ganz zu. Die Fami-
lienhelfer arbeiten auf Honorarbasis. Sie werden liber den Verein
von den jeweils zustandigen fimtern stundenweise bezahlt. Der Verein
finanziert sich durch eine 10%ige Abgabe der Familienhelfer-Honorare.
Diese Mittel kommen zum einen in Form von "Handgeldern" den betreu-
ten Familien zugute, zum anderen werden damit Kosten fiir Verwaltungs-
arbeit und einen im Aufbau befindlichen Beratungsladen und alterna-
tive Projekte der Jugendhilfe finanziell unterstlitzt.
Unser Vermittlungsdienst sucht nun in der Wartelistenkartei nach
einem geeigneten Mitarbeiter. Im ersten Gespra'ch dieses Familienhel-
fers mit dem Sozialarbeiter wird kurz die Problematik in der Familie,
in der das Kind lebt, umrissen. Da der Sozialarbeiter oft sich auf
Grund seiner Funktion oder seiner Oberlastung nicht genligend mit der
Familie auseinandersetzen konnte, sind diese Informationen meist
oberfla'chlich und gehen Liber Daten und Aktenvermerke nicht hinaus.
Es gibt natlirlich auch hier Ausnahmen.
DER EINSATZ IN DER FAMILIE
Es handelt sich in der Regel urn Familien
schichten, und meistens ist nur noch ein
fast inmer die Mutter.
Schon der erste Kontakt zeigt Probleme:
nend, sie wittert Konkurrenz, die entwed
ben oder Zuneigungen der Kinder von ihr
(oder die Kinder) hat Angst, noch mehr Li
Wohnungssituation ist vbllig unzureichen
nicht aus.
So gilt es, mit der Mutter Antrage auszu
ren, der Mutter Mut zu machen, aggressiv
(wenn die dortigen Beamte nicht oder kau
gieren), mit den Kindern und der Mutter
sparender und mit besserer Arbeitsteilun
Die Kinder haben meistens Probleme in der Schule. Es ist nun unmog-
lich hier aufzuzeigen, wie der Familienhelfer generell darauf rea-
oiert denn das ist in jeder Familie verschieden. Doch gibt es in
vielen Fallen gemeinsame Erscheinungen, z.B. daB viele Kinder trotz
schlechter Leistungen lernwillig sind. Die Situation in der Schul-
klasse, der mangelnde Bezug zum Schulstoff, die Beziehung zum Lehrer
und die Situation zu Hause gefa'hrden diese Lernwilligkeit jedoch.
So arbeiten wir, wenn imner mbglich, mit den betreffenden Lehrern
aus unteren Einkommens-
Elternteil mit den Kindern -
die Mutter reagiert ableh-
er ihre Autoritat untergra-
abzweigen konnte. Das Kind
berwacht zu werden. Oder die
d und der Verdienst reicht
flillen, Umzlige zu organisie-
er auf den ftmtern vorzugehen,
m merklich auf Anfragen rea-
die Haushaltsplanung kosten-
g auszutlifteln.
- 83
Nach 5 Jahren Arbeit am Info Sozialarbeit hier unsere "Frommen Wiinsche" fij
1978 und die nachsten 5 Jahre. Redaktionskollektiv Info Sozialarbei
^JpcV, vit\ ClucUi
zusammen. Wir versuchen zu Hause, oder wenn es dort nicht gent, in
unserem. Laden, dem Kind eine Atmospha're zu bieten, in der es lernen
kann. Wir wenderi andere Lernmethoden an, so daB es dem Kind auch
SpaB macht, kontinuierl ich zu lernen.
Ein anderes Problem ist die aggressive Umgangsform in der Familie.
Dafu'r kann es viele Ursachen geben. Eine davon kann sein, daB durch
die autoritare Struktur bedingt, Anweisungen ohne Begrlindungen ge-
geben werden, so daB die Kinder ohne jede Einsicht murrend und mit
Widerstand auch sinnvolle Anordnungen befolgen (oder das Argument
der Ohrfeige tritt in Kraft). Die Einsicht kann erfolgen, wenn
bfters "warum" gefragt und darauf geantwortet wird. Der Familienhel-
fer unterstu'tzt die Kinder in ihren Fragen und die Mutter beim,
anfangs nur zogernd gegebenen, Antworten.
Eine wichtige Sache, die Reisen nach Schweden oder in den Bayerischen
Wald, die Familienhelfer mit "ihren" Kindern machten, werden bespro-
chen. Die wichtigste Erfahrung auf diesen Reisen war neben dem
Zwang zu kooperativem Handel n (Selbstversorgung) wohl die Erkenntms,
daB die jeweiligen Kinder mit ihren Problemen nicht allein dastan-
den, sondern daB es viele andere Kinder gab, die gleiche oder ahnli-
che Schwierigkeiten in ihren Familien haben. Dies forderte die Fahig-
keit einzelner, sich mit ihren Problemen offener auseinanderzusetzen.
Fur fast alle langeren Einsatze in der Familie kann gesagt werden,
daB der Familienhelfer wahrend der Zusammenarbeit in der Familie
eine emotionelle Distanz nicht bewahren kann. Diese ware insofern
angebracht, da er kein Mutter- oder Vaterersatz sein soil. Vielmehr
soil er Hilfe zur Selbsthilfe geben, so daB die Familie im Idealfall
nach Ende des Einsatzes soweit stabilisiert ist, daB sie die Proble-
me allein bewaltigt. Da dem oft nicht so ist, stellt sich das Pro-
blem der Nachsorge. . . ,. .,. .,,..,
Solange, wie wir noch nicht gen'iigend funktiomerende Stadttei 1 laden
haben, die eine Nachsorge durch Kindergruppen und Elternberatung
weitergehend gewahrleisten kbnnten, bleiben dem Familienhelfer nur
noch Oberstunden, urn keinen plbtzlichen Abbruch seiner Arbeit und
damit oft die Gefahr von umscnstigen Bemuhungen zu verursachen.
Deshalb ist es unsere dringlichste Aufgabe, in der Stadtteilarbeit
voranzukommen.
INNERORGANISATORISCHE SCHWIERIGKEITEN
1975 erlebte die Familienhilfe einen quantiativen Aufschwung von vor-
her ungeahnten AusmaSen.
Da sich beim Berliner Senat und den Bezirksa'mtern allmahlich die tr-
kenntnis durchsetzte, daB Familienhilfe erheblich bkonomischer ist,
als es Heimeinweisungen sind, wuchs die Zahl der Auftra'ge und entspre-
chend die Anzahl der Familienhelfer schnell an, Daraus ergaben sich
erhebliche Konsequenzen sowohl inhaltlicher als auch organisatori-
scher Natur.
- 86
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Innerhalb der Gruppe von Famil ienhelfern, die auf liber hundert Leute
anwuchs konnte die alte Kommunikationsstruktur nicht mehr ausgebaut
werden Vur viele Familienhelfer nahm die BGfH mehr und mehr den
rharakter einer Jobvermittlung an. Der Versuch, eine alternative
Sozialarbeit zu entwickeln, wurde in dieser Phase nur von einzelnen
Gruppen oder Famil ienhelfern gemacht.
Fine inhaltliche Diskussion konnte auf dem Plenum nicht mehr gelei-
clet werden und die Atmosphare verschlechterte sich zusehends. Durch
dif Elnrichtung von Untergruppen wurde der Versuch gemacht, eine
einzurichten. Ki oern craiuu^ niPSer vorsicht ge Ansatz
^"terienen und Jersonellen Mi ttel unterschatzt wurden. Trotzdem
- 87 -
soil an der Realisierung dieser notwendigen Erganzung der Familien-
hilfe weitergearbeitet werden.
Da das Plenum die Kommunikation m'cht mehr leisten konnte, wurden
Wochenendseminare geplant.
Ein erster Schritt, die inhaltliche Diskussion weiterzutreiben, war
die Selbstverstandnisldiskussion im Herbst 1976. Zwar konnten eine
Reihe organisatorischer Probleme und Veranderungen entschieden wer-
den, was nicht genligend geklart wurde, war eine Einschatzung und
Standortbestimmung der Arbeit im Rahmen gesel lschaf tlicher Erziehung
und ihre politische Perspektive. Ebenfalls nicht geklart wurde die
flir das Selbstverstandnis der Familienhelfer wichtige Klarung der
Fragen von Dauer und Kontinuitat der Arbeit, wobei auch die unter-
schiedlichen Ausgangspositionen von Studenten und Leuten mit abge-
schlossenein Studium batten ber'ucksichtigt werden mlissen. Die Klarung
dieser Fragen wird auch ftir die Zukunft des Vereins entscheidend sein.
Ende 76/Anfang 77 unternahm die Ladengruppe einen VorstoB,
die Vereinsstrukturen in den Griff zu bekommen. Der von dieser Grup-
pe formulierte Antrag auf personelle und inhaltliche Veranderungen
wurde zwar abgelehnt, aber die dadurch ausgelbsten Diskussionen hat-
ten endlich zum Ergebnis, daB man sich mit einer Neustrukturierung
und neuen inhaltlichen Ausrichtung des Vereins befassen wollte.
ERGEBNISSE DER DISKUSSIONEN: EIN NEUER ANFANG
Die Schwerpunkte der Diskussion lagen auf folgenden Problemkreisen:
1. Kann man die Familienhilfe aus der isolierten Beziehung ein
Meinzelner Familienhelfer flir eine Familie" herausfuhren.
Die dazu bisher unternommenen Versuche waren nur teilweise er-
folgreich und haben in Bezug auf die Eltern vollig versagt.
2. Die Situation der Frau in den Familien:
Da die Unterdruckung der Frau in vielen von uns betreuten Familien
besonders exemplarisch ist, ist es dringend notwendig, zu uberle-
gen, wie diese Situation verandert werden kann.
3. Wie tritt der Verein nach auBen auf?
Arbeitsrechtliche Probleme der einzelnen FH's als Honorarkrafte.
Als Ergebnis und Neuorientierung wurden festgehalten:
- Zusammenarbeit mit anderen Gruppen ahnlicher Zielsetzung
- verstarkte Diskussion urn Einordnung der Familienhilfe in ein Kon-
zept "Alternativer Sozialarbeit"
Familienhilfe soil dazu beitragen, einen emanzipatorischen Ansatz
in der Sozialarbeit zu verwirklichen. (Hilfe zur Selbsthilfe)
Die objektiven Ursachen der Situation der Familien sollen aufgedeckt
und die Familien befahig werden, sich kritisch mit den Ursachen ihrer
Lage auseinanderzusetzen. Dazu gehbrt, das SelbstbewuBtsein innerhalb
der eigenen Schicht zu wecken, da die Mittelschichtsorientiertheit
der meisten Familien verhindert, adaquate Problemlbsungsstregien zu
entwickeln und nur Anpassungsmechanismen produziert. Zu diesen Pro-
blemlbsungsstrategien gehbrt ein starkerer ZusammenschluB der betrof-
fenen Familien, d.h. die Isolation der Familien und der Familien-
hilfe soil aufgebrochen werden. Ferner gehort dazu eine Starkung
der Familien gegenuber den Amtern; die Ursachen der Aggressionen
sollen in Gesprachen aufgedeckt werden; ein LernprozeB zur Artikula-
tion von Gefuhlen soil eingeleitet werden.
Ausqehend von diesem neu formulierten Anspruch ergeben sich fur die
methodische und organisatorische Arbeit des Vereins folgende Konse-
Grund^age der Arbeit jeden Familienhelfers muB die Arbeit in einer
kleinen dezentralen Gruppe sein, welche sich moglichst an Stadttei-
IrTdiesen Gruppen soil eine Theorie-Praxis Diskussion gefiihrt werden,
durch welche letztlich die Verbindung zwischen konkreter Arbeit
und politischem Anspruch hergestellt werden kann. Diese dezentralen
Gruppen bilden die Basis fur eine angestrebte Stadtteilarbeit, durch
welche dann die Isolation der Familienhilfe aufgehoben werden soil.
Die Organisation und [Coordination des Vereins geschieht durch ein
14taqig stattf indendes Delegiertentref fen aus Vertretern der einzel-
nen Arbeitsgruppen. Diese Delegierten wechseln standig, urn zu ver-
meiden daB sich eine abgehobene Gruppe konstituiert. Wichtige Ent-
scheidungen werden auf der Mitgliederversammlung gefallt.
Der letzte wichtigste Diskussionspunkt.der fur die Zukunft des Ver-
eins von entscheidender Bedeutung ist, ist die Auseinandersetzung
mit dero Berliner Senat.
Nachdem Kreuzberg 1970 ein eigenes Modell von Familienhilfe konzi-
pie»-t hatte, d.h. sie beschrankten sich im wesentlichen auf eine
Kopie der Berliner Gesellschaft nur daB weniger bezahlt und mehr
kontrolliert wurde, hat der Berliner Senat flir 1978 einen eigenen
Etat fjr Familienhilfe eingerichtet und plant neue Ausfuhrungsvor-
schriften fur Familienhilfe. Weder zum einen noch zum anderen wurde
die BGfH in die Diskussion mit einbezogen.
Sollte sich diese Entwicklung in den einzelnen Bezirksamtern durch-
setzen, ware der BGfH erst mal die bkonomische Grundlage entzogen.
Wir haben darauf in doppelter Weise reagiert. Erstens in Anfragen
hei den entsprechenden Senatsstellen unter Hinweis der Unwirtschaft-
lirhkeit eines Ausbaus der Verwaltung, da bei uns ein Vermnttlungs-
vstem schon besteht. Zweitens, und dies ist die einzig wirksame
MPthode in Gesprachen mit den einzelnen Sozialarbeitern auf die
Notwendigkeit einer unabhangigen Organisation hingewiesen um mit
Unterstutzung der Sozialarbeiter auf die Veranderung der Senatsplane
einzuwirken Dies hat in einigen Bezirken schon erste Erfolge ge-
TPiat und wird von uns noch weiter intensiviert.
Ein weiterer Auseinandersetzungspunkt mit den Rmtern ist, die Stun-
denzah und Dauer der Einsatze mehr am tatsachlichen Bedarf aufzu-
■ II I W** arbeitsrechtliche Problem als Honorarkrafte soil d1e
^!Sn.SlltrSl S slcUbel der OTV konsti tutierten Honorar-
kraftegruppe gemeinsam angegangen werden.
89
KANN DIE FAMILIENHILFE
EINE ALTERNATIVE ZUR HEIMERZIEHUNG DARSTELLEN?
Aufgrund jnserer bisherigen Erfahrungen muB man dazu sagen, daB Fa-
milienhilfe alleine kaum als Alternative zur Heimerziehung ausreicht.
Was Familienhilfe leisten kann, ist, eine gewisse Praventivfunk-
tion im Vorfeld der Heimerziehung zu Iibernehmen. Dies ist aber eine
Funktion, die durchaus nicht im Widerspruch zu staatlicher Intention
liber die Aufgabe von Familienhilfe besteht. Zu fragen bleibt also,
inwieweit Familienhilfe tatsachlich eine Alternative darstellen
kann, und zwar nicht nur im formalen Sinn als Komplement zur Heim-
erziehung, sondern im Kontext einer alternativen Sozialarbeit.
Was sind eigentlich die Unterschiede zur institutionalisierten So-
zialarbeit?
Wird der noch existierende Freiraum uberhaupt von uns genutzt?
Anhand dieser Fragestellungen wurde uns sehr schnell deutlich:
1. Der Mangel an Reflexion uber den politischen Anspruch und die
tatsachl iche Arbeit.
2. Die Begrenztheit der tatsachl ichen Mbglichkeiten, wenn man Fami-
lienhilfe isoliertbetrachtet und praktiziert.
Die beabsichtigte Institutionalisierung der Familienhilfe maehte es
endlich auch fur uns unumganglich, uns rtrit der politischen Perspek-
tive unserer Arbeit auseinanderzusetzen. Wir haben in langeren Dis-
kussionen erkannt, daB Familienhilfe fur uns nur wirklich dann sinn-
voll sein kann, wenn man sie als Teil eines umfassenderen Konzeptes
von Stadtteilarbeit betrachtet, wobei sie gerade wichtige Voraus-
setzungen der Kontaktaufnahme in den einzelnen Stadtteilen schaffen
kann. Nur so kann eine Arbeit entstehen, bei der Ansatze einer alter-
nativen Sozialarbeit verwirklicht werden kb'nnen.
Wir haben diesen Erkenntnissen Rechnung getragen, den alten Verein
aufgelost und einen neuen gegrlindet. Dieser neue Verein, Berliner
Gesellschaft fiir Sozialarbeit, ist von seiner Struktur her so ange-
legt,
daB das Ziel einer dezentralen Stadtteilarbeit erreicht werden kann,
daB die Mb'glichkeit zu guter Kommunikation unter den Fami lienhelfern
gegeben ist (verbindliche Mitgliedschaft und verbindliche Mitarbeit
in den Arbeitsgruppen) ,
daB die Organisation besser funktioniert (Zusammenlegung von Vermitt-
lung und Geschaftsstelle).
Wir haben uns damit von Anfang an bem'u'ht, dem Verein eine breitere
Basis zu geben, als die ausschl ieBliche Fixierung auf Verhinderung
von Heimeinweisungen, da dies noch keine alternative Sozialarbeit
bedeutet.
Kinderschutz - Zentrum, VVestberlin
BEVOLKERUNGSNAHE FAMILIENHILFE
Vor Uber zwei Jahren ist das Kindersahuts-Zentrum der Offentlichkeit
■oorgestellt warden. Ging es anfangs darum, seine Arbeitsweise und
Funktion uberhaupt zu begriinden una Finanzieiiingsmogliahkeiben dursh-
zusetzen, so wird mittlerweile eine neue Phase eingeleitet.
Seit September dieses Jahres wurde ein Stadtteil-laden eingeriahtet,
urn die Arbeit der Melde-und Nothilfestelle zu intensivieren.
Kindersohuts-Zentrum, das heilit auch: eine offensive Antwort auf
die Bestrebungen, Sozialarbeit hinter versohlossenen Tttren und Mauern
zu praktizieren.
DIE NOTWENDIGKEIT DES KJNDERSCHUTZES
In den letzten Jahren hat sich die begriindete Einsicht verbreitet,
daB die Lage der Kinder in der Bundesrepublik alles andere als zu-
friedenstellend ist. Nicht von ungefahr wird in diesem Zusammenhang
von einer weit verbreiteten Kinderfeindlichkei t gesprochen, von
einer strukturellen Benachteil igung und Gefahrdung unseres Nachwuch-
ses.
Diese Diskussion - die auch zu parlamentarischen Initiativen geflihrt
hat (1) - macht deutlich, daB nicht nur die Situation der Kinder im
Bereich von Erziehung und Ausbildung grundlegender Verbesserung be-
darf. Gleichzeitig ist ein Eingreifen in die Wohn- und Familienver-
haltnisse, die Umweltbedingungen, in das Gesundheitssystem geboten,
wenn der grundgesetzlich verankerte Anspruch auf Entfaltung und Fbr-
derung des Kindes eingelbst werden soil.
Die Beschneidung und Verweigerung grundlegender Lebens- und Entfal-
tunqsrechte der Kinder all ein als ein Problem des Familienzusammen-
hanas zu sehen, wurde zu kurz greifen. Solche Beeintrachtngungen zei-
aen sich auf der institutionellen Ebene (z.B. in den schulischen
Finrichtungen, im Fursorgewesen) ebenso wie auf der sozial-struktu-
rellen Ebene, in den gesellschaftlichen Ungleichheitsverhal tmssen,
die unterschiedliche Entwicklungschancen setzen. (2)
In diesem sozialen Gesamtzusammenhang ist auch die Problematik der
K ndesmiBhandlung zu sehen. Ausn«B und Folgen der Gewalt gegen Km-
dlr beunruhigen die Offentlichkeit in zunehmendem MaBe. (3) Die
Sandlung von Kindern umfaBt aber mehr, als man bisher in An eh-
Mibnanaiuny u Bestimmungen darunter verstanden hat: Kindes-
Z a 1 s nicht Imin die Llierte gewaltsame Beeintracht,-
miiinanaiuny MiBhandlung von Kindern umfaBt vielmehr
^e^^amthelt der LebensbedingungU der Handlungen und Unterlassun-
- 91 -
gen, die dazu fiihren, daB das Recht der Kinder auf Leben, Erziehung
und wirkliche Fbrderung beschnitten wird. Das Defizit zwischen die-
sen den Kindern zugesicherten Rechten und ihrer tatsa'c hi ichen Lebens-
situation macht die Gesamtheit der KindesmiBhandlungen aus. (4)
Gegenwa'rtig wird nur ein kleiner Ausschm'tt solcher Gewalttatigkeit
gegen Kinder bekannt: ein Bruchteil besonders zugespitzter Falle
kdrperlicher MiBhandlungen. Die in den polizeilichen Kriminalstati-
stiken ausgewiesencn Fa'lle von Gewalt gegen Kinder belegen nicht das
gesamte AusmaB allein der kbrperlichen MiBhandlungen. Allerdings han-
delt es sich bei den in der Offentlichkeit beliebten Hinweisen auf
das AusmaB der Dunkelziffer - 95 % - um pure Spekulationen.
Ohne jeden Zweifel haben wir es in der Bundesrepublik mit einem weit
verbreiteten Problem zu tun, dem ein psychischer, sozialer und kul-
tureller Ursachenzusammenhang zugrundeliegt. Seine wesentlichen Ele-
mente sind:
- gesellschaftl iche Verhaltm'sse, die eine gewal tfbrmige Auspragung
zwischenmenschl icher Beziehungen hervorbringen und Erziehungstra-
ditionen festigen, die auf die autoritare Festlegung des Nachwuch-
ses zielen,
- das Fehlen bzw. die Knappheit dessen, was man zum tagl ichen Leben
braucht - d.h. auch das weitgehende Fehlen von Kenntnissen und
Fahigkeiten, die zur Bewaltigung des Lebens in den entwickelten
Industriestaaten notwendig sind -,
- die durch lebensgeschichtliche Erfahrungen verfestigten Persbnlich-
keitsstrukturen, die eine reali tatsgerechte und das heiBt auch
kritisch reflektierte Verarbeitung individueller Bedurfnisse und
gesellschaftl icher Anspruche nicht gestatten,
- die Gefahrdung bzw. die Zerruttung des familialen Lebenszusammen-
hangs, der als isolierte Privatspahre dem gesellschaftl ichen Druck
immer haufiger nicht mehr standhalt. (5)
Nan muB sich darliber hinaus klarmachen, daB Kinder in einer Gesell-
schaft, die zum Kind immer weniger motiviert ist, eher als eine Be-
lastung als etwas Bef riedigendes erlebt werden. Kinder machen Arbeit,
sie verlangen nach Hilfe und Zuwendung, sie entsprechen haufig
nicht den drangenden Liebeserwartungen ihrer El tern. Kinder aufzu-
ziehen heiBt nicht selten: auf die Befriedigung eigener Bedlirfnisse
zu verzichten, eine Ausbildung Oder eine berufliche Tatigkeit zuru'ck-
zustellen, eingeengt zu sein. Die Enttauschung darliber und die Dauer-
beanspruchung durch kleine Kinder fiihren nicht selten zu gewaltsam
ausgetragenen Konflikten in der Familie.
Diesen sozialen Problemzusammenhang mussen Bemlihungen um einen kon-
kreten Kinderschutz berucksichtigen, wenn sie einen real istischen
Ausgangspunkt gewinnen wollen.
Obwohl wir Kinderschutzbestrebungen in Deutschland nun schon seit
der Jahrhundertwende kennen (6) und wir es heute mit einem entwickel-
ten staatl ichen System der Jugendpflege und Jugendfu'rsorge zu tun
haben, ist die gegenwartige Situation des Kinderschutzes in der Bun-
desrepublik Deutschland doch in jeder Hinsicht unbefriedigend.
Die staatlichen Einrichtungen, in deren Zustandigkeit Kinderschutzan-
- 92 -
gelegenheiten fallen, wie Familienf'u'rsorge, Erziehungsberatung,
Sauglingsfursorge usw., sind kaum auf ein Eingreifen in Mi'Bhandlungs-
situationen vorbereitet, ihnen fehlen weitgehend die Mittel und die
flir diese Aufgabe qualifizierten Mitarbeiter. Arbeitsbelastung und
arbeitsteilige Struktur der behordlichen Sozialarbeit erschweren
die sofortige und umfassende Hilfe in Notsituationen und die inten-
sive Auseinardersetzung mit Problemen einzelner. Notwendige Praven-
tiv- und NachsorgemaBnahmen lassen sich aus ahnlichen Gr'u'nden nicht
verwirklichen. Die Beratungs- und Hi Ifseinrichtungen sind im Zuge
einer zunehmenden Verrechtlichung des Sozialwesens von Burokrati-
sierung nicht verschont geblieben, mit der Folge, daS neue produkti-
ve wege der Problembewaltigung eher versperrt wurden. Zudem gelingt
es haufig nicht, die Kluft zwischen den Betroffenen und den Behorden
bzw. den als Behorden erscheinenden Einrichtungen zu schlieSen.
Behdrdliche Sozialarbeit wird immer noch als ein Sanktionsapparat
verstanden, der mit gesetzlichen MaBnahmen reagiert, schwer durch-
schaubar und daher auch kaum zu beeinflussen ist.
KINDERSCHUTZ - ZENTRUM - EIN MODELL
Was not tut, ist die Errichtung ei nes Kinderschutz-Zentrums. Es
tragt zur konkreten Bekampfung und Vorbeugung der Gewalt gegen Kin-
der in unserer Gesellschaft bei. Es stellt eine bevbl kerungsnahe
soziale Hilfseinrichtung neuen Typs dar. Es soil dort errichtet
werden, wo die Belastungen gegenwartiger Lebensverhal tnisse sich zu
Konfliktzusammenballungen verdichten, die sich in MiBhandlungen von
Kindern explosionsartig entladen. Sie sind heute an der Tagesordnung
und keinesfalls die Ausnahme von der Regel .
Ein solches Kinderschutz-Zentrum in groSstadtischem Ballungsgebiet
soil ein wissenschaftlich uberlegtes Eingreifen in akuten Notlagen
ermbgl ichen und zugleich zur Verhutung von MiBhandlungen beitragen.
Es stellt keine dem Gefangnis vorgelagerte Ermittlungsbehbrde dar
und ist kein familien- oder erziehungsideologisches Belehrungsinsti-
tut. Die Aufgabe des Kinderschutz-Zentrums liegt nicht darin, die
in Schwierigkeiten geratenen Menschen - Erwachsene und Kinder glei -
chermaBen - als "Kranke", "Nicht-Normale", "Verrlickte" oder "halt-
lose Verbrecher" zu behandeln.
Es ist vielmehr die Aufgabe des Kinderschutz-Zentrums, die Betroffe-
nen zu befahigen, im Kontakt mit anderen, nicht zuletzt mit sach-
verstandigen und ernsthaft engagierten Mitarbeitern, ihre Probleme
aus eigener Kraft zu bewaltigen. Es soil Hilfe dort geleistet werden,
wo der einzelne bzw. die einzelne Familie Liberfordert ist. Ein sol-
cher Kinderschutz ist gemeinwesen-orientiert, d.h. er lebt von der
Einbeziehung der Betroffenen, ihren Erfahrungen und Kraften, wie ver-
schuttet auch immer sie sein mbgen. Er baut nicht allenn auf den gu-
ten Rat sondern versucht dazu beizutragen, gegenuber zerstorten
und oroblematisch gewordenen Lebenszusammenhangen neue, produktivere
iPbens- und Erziehungsmbglichkeiten ein Stuck weit zu schaffen. Die-
seenge Verbindung von Beratung und Hilfe kann sich im Gegensatz zu
ueit verbreiteten Parzellierungstendenzen innerhalb der Sozialarbeit
nicht auf wenige Teilbereiche beschranken. Um eine eigenstandige
Fntwicklung mit dem Ziel der Selbsthilfe zu ermbgl ichen, muB viel-
mehr der gesamte Familien-
berucksichtigt werden.
id Lebenszusamnenhang des einzelnen mit-
- 93
Eine derartige Einstellung, die es nicht zula'Bt, KindesmiShandlun-
gen in blirokratischer Form Uber die Mbglichkeiten der Betroffenen
hinweg abzufertigen, setzt daher das Prinzip der Freiwil ligkeit vor-
aus. Denn erst auf dieser Grundlage kann der Wille und das BewuBt-
sein der Betroffenen als ein wesentliches Moment fur wirksame Hilfe
aktiviert werden. Dieses Prinzip der Freiwill igkeit findet dort sei-
ne Grenze, wo das Nicht-helfen-lassen-wollen von betroffenen Erwach-
senen das Leben der betroffenen Kinder gefahrden kb'nnte, d.h. wenn
akute Lebensgefahr besteht bzw. wenn die Eltern absehbar nicht in
der Lage sind, flir das Kind angemessen zu sorgen.
Aus dem Prinzip der Freiwi 11 igkeit folgt, daB im Kinderschutz-Zent-
rum das Prinzip der Straflosigkeit gewahrt bleiben muB. KindesmiBhand-
lung unterliegt als Offizialdelikt der Strafverfolgung; in zunehmen-
dem MaBe ber'Ucksichtigen die urteilenden Richter die dem MiBhandlungs-
delikt zugrunde liegenden Lebensumstande und den Gesichtspunkt der
Resozialisierung. Das Prinzip der Straflosigkeit bedeutet, daS das
Kinderschutz-Zentrum nicht als strafverfolgende Institution auftritt;
die Beziehungen zwischen den Betroffenen und dem Kinderschutz-Zent-
rum sind therapej/tischer Art. All e bisherigen Erfahrungen zeigen,
daB dem Problem der KindesmiBhandlung mit verscharfter Strafandro-
hung nicht beizukommen ist.
Es ware verfehlt zu versuchen, mit einem Kinderschutz-Zentrum die
ganze mbgliche Vielfalt von Kinderschutzaufgaben in unserer Gesell-
schaft abzudecken. Beim gegenwartigen Stand der Kinderschutzbemuhun-
gen in der Bundesrepublik kann es sich vielmehr nur darum handeln,
ein Modell zu entwickeln,
- das sich auf einen Ausschnitt notwendiger und vordrmgl icher Hil-
fen konzentriert und gleichzeitig mit anderen Einrichtungen der
Sozialarbeit zusammenarbeitet,
- das eine Initiativfunktion fiir staatliche wie private Bemuhungen
auf dem Gebiet des Kinderschutzes hat,
- das schlieBlich ein Beispiel ist fur eine auf die Probleme der
Praxis der sozialen Arbeit gerichteten Forschung und Wei terbildung.
Neue Modelle einer die ganze Familie umfassenden Therapie und Hilfe
kbnnten auch in Zusamnenarbeit mit der behbrdlichen Sozialarbeit
bzw. mit freien Initiativen - wie z.B. dem in Berlin bestehenden
Frauenhaus - entwickelt und erprobt werden. Das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM
BERLIN wird sich an der Entwicklung solcher Modelle, die auch einen
Beitrag zur Umstrukturierung des Heimwesens leisten kbnnten, betei-
ligen.
AUFGABEN DES KINDERSCHUTZ - ZENTRUMS
Die Hauptaufgabe des Kinderschutz-Zentrums besteht darin, den Fami-
lien, in denen es zu KindesmiBhandlungen bzw. -vernachlassigungen
kommt, arztliche, psychologische, padagogische und juristische Hil-
fe, das heiBt, eine umfassende lebenspraktische und wissenschaft-
lich fundierte Hilfe anzubieten. Der Verbund von jederzeit zugang-
lichen HilfsmaBnahmen zeichnet das Kinderschutz-Zentrum gegenliber
den hocharbeitsteilig aufgesplitterten und burokratisch strukturier-
ten Hilfen auf dem Gebiet der Sozialarbeit aus. Die Ratsuchenden
diirfen in der schwierigen Situation, in der sie sich befinden, nicht
94
mit dem Hinweis auf anderwartige Zustandigkei t abgewiesen werden.
Das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM umfaBt vier Schwerpunktbereiche:
1. Melde- und Nothilfestellen
Das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM errichtet eine Tag und Nacht erreichbare
Melde- und Nothilfestelle. Sie bildet den Zugang zum Zentrum. Als
"Anlaufstelle" stellt sie den ersten Kontakt zu den Ratsuchenden her
und ninmt Hinweise aus der Nachbarschaft, den Schulen und Kindergar-
ten, aber auch aus der breiteren dffentlichkeit, den Einrichtungen
der Sozialarbeit und des Gesundheitswesens entgegen. Sie leistet
"Erste Hilfe", die alien anderen Hilfen vorausgeht.
Nothilfe heiBt ein Zweifaches: den Hinweisen auf MiBhandlungen oder
Vernachlassigungen wird nachgegangen (Untersuchungsarbeit) und es
wird schnell in Konfliktsituationen eingegriffen (Kriseninterven-
tion). Darunter verstehen wir alle Initiativen und Angebote, die
dazu beitragen, akute Krisensituationen in den Familien zu "ent-
scharfen", die eine erste Klarung ermbglichen und eine Perspektive
erbffnen, wie die bestehenden Probleme bewaltigt werden kbnnen (Be-
handlungsplan).
Die Beratung in der Melde- und Nothilfestelle stellt eine "soziale
Kurzberatung" dar; sie wird in der Regel mit Hausbesuchen verbunden.
Der weitere Kontakt mit dem KINDERSCHUTZ-ZENTRUM wird dadurch ge-
wahrleistet, daB derjenige Mitarbeiter der Nothilfestelle, der den
ersten Kontakt zu einer Familie hatte, in der Regel auch die weitere
Beratung libernimmt. Das bedeutet, daB die Mitarbeiter im Schwerpunkt-
bereich "Erziehungs- und Familienberatung" gleichzeitig in der Not-
hilfestelle arbeiten, und umgekehrt.
Das Eingreifen in akuten Notfallen setzt eine standige Erreichbar-
keit rund urn die Uhr voraus, zumal sich familiale Krisensituationen
erfahrungsgema'B in den Abendstunden, an Wochenenden und an Feierta-
gen haufen. In den Nachtstunden wird eine Rufbereitschaft eingerich-
tet.
2. Kinderwohngruppe
Die Erfahrungen zeigen, daB es notwendig ist, fiir Kinder in sie ge-
fahrdenden Notlagen "Fluchtorte" zu schaffen. Eine solche kurzfri-
stige Aufnahmembglichkeit bietet die Kinderwohngruppe. Sie soil fiir
mindestens funf Kinder Platz bieten. In sofort aufzunehmenden Bera-
tungen mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten soil gepriift wer-
den, ob eine Wiedereingliederung des Kindes in die Familie mbglich
und sinnvoll erscheint.
In der Kinderwohngruppe leben sozialpadagogisch und psychologisch
qualifizierte Betreuer, vielleicht auch mit eigenen Kindern. Dieses
Konzept gewahrleistet, daB die Kinder in einen normalen familiaren
Tagesablauf integriert sind; eine anonyme Heimatmosphare wird ver-
mieden.
Die Aufnahme eines Kindes in die Kinderwohngruppe darf nicht darauf
h nauslaufen, es grundsatzlich aus seinem bisherigen sozialen Zusam-
menhang zu reiBen. sondern sie muB berucksichtigen, daB das Kind die
bisherigen Kontakte - soweit im Interesse des Kindes sinnvoll und
- 95 -
moglich - aufrechterhalten oder sogar stabilisieren kann. Das bedeu-
tet, daB der Besuch der bi slang besuchten Schule oder des Kindergar-
tens mdglichst nicht unterbrochen wird. Fur einen regelma'Bigen Kon-
takt mi t den Eltern wird in beiderseitigem Einverstandnis gesorgt.
Die Kinderwohngruppe wird durch Sonderpflegestellen erganzt, die fur
jeweils zwei Kinder eine langerfristige Alternative zur Familie er-
bffnen. In diesem Zusammenhang soil in Kooperation mit den fur das
Pflegewesen zusta'ndigen Behorden und freien Initiativen ein Netz von
Pflegestellen geschaffen werden, die in einem engen Kontakt zum
KINDERSCHUTZ -ZENTRUM stehen.
3. Erziehungs- und Familienberatung
KindesmiBhandlungen stellen nach ubereinstimnenden Forschungsergeb-
nissen eine Zuspitzung nicht bewaltigter Konf liktsituationen dar,
die sich typischerweise in der Isolation privater Lebensverhaltnis-
se und bei einem hohen Grad zwischenmenschlicher Gleichgtiltigkeit
ergeben, aus denen es keinen anderen Ausweg als den der Gewalt gegen
diejenfgen zu geben scheint, die doch zugleich geliebt werden und
auf die man mit seinen Bediirfnissen und Anspruchen so unimttelbar
angewiesen ist. Haufig sind diese Familien auch nach auBen hin vol-
lig isoliert. ...
Hier kann eine die bisher undurchschauten lebensgeschicht ncnen
Verstrickungen aufhellende Beratung eingreifen. Das KINDERSCHUTZ-
ZENTRUM umfaBt deshalb das Angebot einer umfassenden Lebens-, the-,
Familien- und Erziehungsberatung. Sie vollzieht sich sowohl in der
Form der Einzelberatung als auch in der Form der Gruppenberatung.
Sie findet nach einvernehmlicher Absprache entweder in den Raumen
des Zentrums oder auch in der Familie selbst statt.
Die Beratungsarbeit, die in jedem Fall ohne langen Aufschub, ohne
Wartezeiten durchgefuhrt werden soil, muB sich zunachst an der ak-
tuellen Situation und Notlage der Familie orientieren. In dan MaBe,
wie die tieferliegenden Problemzusammenhange sichtbar werden, kann
gemeinsam mit den Betroffenen liber eine weitere Hilfe entschieden
werden (Einzel- und Gruppenberatungen).
Daneben wird es notwendig sein, ein Angebot an vielfaltigen leoens-
praktischen Hilfen zu machen, ohne die eine weitere und intensiyere
Bearbeitung der vorliegenden Familienprobleme in der Beratung hautig
nicht gelingt. Dazu gehbren: ;++,.,„„
- die Entlastung der Familie bei der Erziehung durch die Vermittlung
von Kindertagesstattenplatzen, von Kinderfreizeitmbglichkeiten,
von Erholungsaufenthalten, Schularbeitszirkeln, Familienhelfern,
- Hilfe bei Wohnungsproblemen,
- Beratung und Hilfe bei Behbrdenangelegenheiten,
- Rechtsberatung - vor all em im Hinblick auf Eherechts- und Sorge-
rechtsfragen -,
- arztliche Hilfe und Beratung bei Schwangerschaftsproblemen, Kinaer-
ernahrungs- und -pflegefragen und bei Schwierigkeiten, den richti-
gen Arzt zu finden.
Die Form der Beratung wird einvernehmlich von den Ratsuchenden und
dem Berater bestimmt (Einzel- oder Gruppenberatung). Es kann der
Schaffung eines fur die Beratung und Therapie grundlegenden Ver-
trauensverhaltnisses zugute kommen, wenn die Ratsuchenden den Ort
96 -
der gemeinsamen Beratung und Therapie selbst bestiirmen kbnnen.
Auch soil der Berater wahrend der Beratungszeit nicht wechseln,
hangt doch der Erfolg einer Beratung bzw. Therapie davon ab, inwie-
weit der Berater sich tatsachlich auf die Probleme der Betroffenen
einlassen und inwieweit er die jeden therapeutischen ProzeB gefahr-
dende soziale Distanz zwischen ihm und dem Betroffenen abbauen kann.
Was die angewandten therapeutischen Methoden betrifft, so ist im
KINDERSCHUTZ-ZENTRUM nicht beabsichtigt, daB sich die Mitarbeiter an
den Abgrenzungskampfen verschiedener methodischer Richtungen und
"Schulen" beteiligen. Vielmehr geht es darum, bezogen auf den Pro-
blemzusammenhang (Familienkrise und KindesmiBhandlung) vorliegende
Theorien und Methoden kritisch zu reflektieren und ihre jeweilige
Reichweite praktisch zu erproben. Es wird jedoch notwendig sein, ge-
rade in akuten Familienkrisen, kurz- und mittelfristige sozialthera-
peutische Ansatze anzuwenden und weiterzuentwickeln. Dabei soil nach
Mbglichkeit die gesamte Familie in die Therapie einbezogen werden.
4. Forschung, Dokumentation und Weiterbildung
F'u'r eine erfolgversprechende, an den Interessen und Problemen der
Betroffenen orientierte Kinderschutzarbeit ist jedoch Voraussetzung,
daB sie forschungsma'Big abgesichert ist und standig wissenschaftlicher
Oberpriifung unterliegt.
In Zusammenarbeit mit dem Institut fur Soziologie der Freien Univer-
sitat Berlin und mit der Fachhochschule fur Sozialarbeit und Sozial-
padagogik sollen die folgenden Untersuchungsvorhaben in Angriff ge-
nommen werden:
I Intensivuntersuchung Gewalt in der Familie (systematische Auswer-
tung dem Zentrum bekannt gewordener Fa'lle zur Herausarbei tung der
die gewaltsam ausgetragenen Konflikte bedingenden Ursachenzusam-
menha'nge, der Anlasse und Folgen der MiBhandlungen und der Reich-
weite sozialpadagogischen und sozialtherapeutischen Eingreifens) ;
I KindesmiBhandlung und Polizei (Auswertung polizeilichen Materials
zur Herausarbeitung von Strukturen und Problematik bei schweren
Fallen von KindesmiBhandlung; Stichprobenbefragung beteiligter
Polizeibeamter liber ihre Erfahrungen und Einstellungen in Zusam-
menhang mit der MiBhandlungsproblematik);
• Kinderschutz als Aufgabe der Familienfursorge - Mbglichkeiten und
Grenzen (Bestandsaufnahme, was die Familienfursorge auf dem Gebiet
des Kinderschutzes bewirkt, d.h., was sie erreicht, mit welchem
Erfolq sie eingreift, wie die Arbeit verbessert werden kbnnte).
Lanqerfristig ist geplant, im Rahmen des KINDERSCHUTZ-ZENTRUMS die
Mbqlichkeiten und Probleme kurz- und mittelfristiger therapeutischer
Interventionen zu untersuchen. Ein genauerer Untersuchungsplan wnrd
sich allerdings erst im weiteren Fortgang der Arbeit entwickeln
lassen.
Gleichzeitig soil im KINDERSCHUTZ-ZENTRUM eine Dokumentationsstelle
zur Situation der Kinder in der BundesrepubTik Deutschland, uberdie
Krise dar Familie und alle Probleme der KindermiBhandlung eingench-
£t werden. die alle bibliographischen und matenalmaBigen Daten
ijber diese Bereiche erfaBt und anderen Einrichtungen zur Verfugung
, Die Dokunentationsstelle kann nach einer Anl auf phase mit
einer Hochschuleinrichtung oder Stiftung verknupft werden. Es besteht
- 97 -
aber gegenwartig sowohl seitens der Mitarbeiter der Presse und der
Rundfunkanstalten als auch seitens einer groSen Anzahl von Studie-
renden das dringende Bedurfnis, aktuelles und problembezogenes Ma-
terial liber neueste Forschungen und Entwicklungen in der Praxis in
die Hand zu bekommen. Es ist auch an die Aufnahme von Ton- und
Filmmaterial gedacht. Die Dokumentationsstelle wlirde mit der Ver-
mittlung solchen Materials zugleich einen Beitrag zu einer kritischen
Uffentlichkeitsarbeit leisten.
Die Mitarbeiter des KINDERSCHUTZ-ZENTRUMS s
be in der Weitergabe der im Zentrum gemacht
der Vermittlung der einschlagigen wissensch
die Berufsgruppen, die vornehmlich mit den
handlung in Berlihrung kommen; auch hier wir
beit mit den bestehenden Einrichtungen der
und mit den Hoch- und Fachhochschulen gesuc
bote sind vordringlich: Tagungen mit Mitarb
ge und Erziehungsberatung, mit Lehrern, mit
tizierenden als auch Krankenhausarzten) , mi
ehen eine wichtige Aufga-
en Erfahrungen und in
aftlichen Erkenntnisse an
Problemen der KindesmiB-
d eine enge Zusammenar-
Fort- und Weiterbildung
ht. Die folgenden Ange-
eitern der Familienflirsor-
Arzten (sowohl freiprak-
t Richtern und Anwalten.
Zeitschrift fur politische Okonomie
und soziolistiscke Politik
STAND DES PROJEKTS - UNSERE ARBEIT UND AKTUELLE PROBLEMS
Ansatze zur praktischen Arbeit mit betroffenen Familien wurden an-
fangs nur sehr zogernd betrieben, was jedoch nicht nur von dem Wol-
len der Mitarbeiter abhing, sondern von den Bedingungen, unter denen
wir versucht haben, das Projekt aufzubauen.
Vor uber zwei Jahren wurde das Projekt der Offentlichkeit vorge-
stellt und das Schwergewicht unserer Bemlihungen lag zunachst darin,
inhaltlich die Notwendigkeit eines solchen Modells zu begrunden.
Gleichzeitig hing davon unmittelbar die Durchsetzung von Finanzie-
rungsmoglichkeiten ab. Die Fachb'ffentlichkeit bekundete sofort leb-
haftes Interesse. Zwei gro(3e private Stiftungen in der BRD befurwor-
teten ihrerseits eine finanzielle Unterstii'tzung des KINDERSCHUTZ-
ZENTRUMS in den ersten beiden Model ljahren. Verhandlungen mit der zu-
sta'ndigen Senatsverwaltung von Berlin zur Klarung inhal tlicher Fra-
gen, wie auch Fragen der mittelfristigen Finanzplanung sind seit Be-
ginn angestrebt und unter einigen Schwierigkeiten auch geflihrt wor-
den. Bis heute haben diese Verhandlungen zu folgendem Ergebnis ge-
f'uhrt:
Der Senat hat schlieBlich nach hinhaltenden -Verhandlungen unserem
Antrag an eine westdeutsche Stiftung zugestimmt. Diese Zustimmung
bedeutet jedoch nicht eine Zusage des Berliner Senats zur Obernahme
der Folgekosten, die nach der Modellphase 1979/80 entstehen werden,
wobei die zustandige Senatsverwaltung deutlich gemacht hat, daB
langfristig uberhaupt nur die Finanzierung eines Teilbereichs des
KINDERSCHUTZ -ZENTRUMS (Erziehungs- und Fami lienberatung) in Frage
kommt.
Interessanterweise steht dazu im Senatsbericht Uber die Situation
miBhandelter und vernachlassigter Kinder vom 24.6.76: "Ob wohl die
Zustand igkei ten, wie deutlich wird, weitgehend geregelt sind und
die zustandigen Bereiche sich urn eine gute Zusammenarbei t bemuhen,
kann nicht davon ausgegangen werden, daB unter den gegebenen Bedin-
gungen die Problematik der KindesmiBhandl ung schon befriedigend be-
Wolfram Looser
Fiskalpolirik in derKrise 74/75
GeorgiosStamatis
Staatsausgaben und KapHalreprodukrion
Heimonn/ Mortens/ Miiller
DielinkeinderSPD
KariLausdike * ZurKritik
gewerkschohlkherBildungsarbeit
Diskussion:
Krabbe * KrifikdesGEW-Artikels
Ebenhans* Antwortauf Massarrat
StamalisundKrause * Diskussion
desMonopol-Artikels
LinkeinderSPD
Gewerksdi. Bildungsarbeit I
imAbo
.Rotbuch
IVerlug
98
waltigt wurde." (S. 4) Dazu weiter in der Stellungnahme des Senats
zum KINDERSCHUTZ-ZENTRUM: "Insoweit ist es geboten, alle Vorschiage
und Anregungen zu einer Verbesserung des Kinderschutzes sorgfaltig
zu priifen." Und weiter, daB "der Bedarf im Bereich von Erziehungs-
und Fami 1 ienberatung eine Ausdehnung der Angebote als notwendig er-
scheinen laSt. Daru'berhinaus konnen auch aus anderen Schwerpunktbe-
reichen Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt und hergeleitet wer-
den, die eine optimaiere und intensivere Aufgabenwahrnehmung im Be-
reich des Kinderschutzes aufzeigen, ohne daB die ... Einr ichtungen
unbedingt erhalten bleiben mussen und offentlich finanziert werden
miiBten."
Die Verwirkli chung eines alternativen Projekts wie dem unserem
setzt eine verantwortungsvolle Obernahme aller Arbeiten durch die
Mitarbeiter voraus, was letztlich heiBt, daB Mitarbeiter voll einge-
stellt und finanziert werden. Bisher ist das bei uns nicht der Fall.
Zwar verfugt das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM Liber verantwortungsvolle Mit-
arbeiter, nicht aber liber genugend finanzielle Mittel, diese auch
anzustellen. Bisher arbeiten alle ehrenamtlich und sind gezwungen,
ihren Lebensunterhal t durch andere Tatigkeiten sicherzustellen. Ge-
meinwesenarbeit zum Null-Tarif la'Bt sich bei der GroBe unseres
Projekts kaum durchhalten. Aber gerade die Arbeit mit Familien, in
denen schwere gewaltsame Auseinandersetzungen an der Tagesordnung
sind, macht eine intensive Betreuung notwendig. Wer kann das neben
Beruf und eigenen Kindern noch leisten? Die Grenzen einer solchen
Mitarbeit sind schon gesetzt.
Trotz der schwierigen Situation haben wir dennoch versucht, das Mo-
dell in die Praxis umzusetzen. Standen im ersten Jahr vor all em Ver-
handlungen mit dem Senat von Berlin und eine gezielte Offentlich-
keitsarbeit im Vordergrund, so hat sich die Arbeit im zweiten Jahr
zugunsten von Beratungsarbeit gewandelt. Inzwischen waren wir durch
Rundfunk- und Fernsehsendungen, Vortragen vor Anwalten, Rrzten und
Sozialarbeitern so bekannt geworden, daB immer mehr Anfragen urn Rat
und Hilfe von alien Seiten an uns herangetragen wurden, obwohl stets
auf den vorbereitenden Charakter unserer Arbeit hingewiesen wurde.
Seit ca. 1 Jahr flihren nach und nach die Mitarbeiter neben lhrer
hauptberuflichen Tatigkeit fur das Zentrum Notfalleinsatze bei pro-
blematisch gewordenen Familienzusammenha'ngen durch, gleicnzeitig
libernehmen sie auch die weiterfuhrenden Beratungen mit den Familien.
Ihre Arbeit wird durch regelmaBige Fall-Diskussionen und Supervision
begleitet.
"Und wer schutzt uns?" Diese Frage haben uns in der Vergangenheit
viele Eltern gestellt und das nicht nur wegen unseres Namens. Kin-
desmiBhandlungen gehen einerseits mit Schuldgefiihlen, andererseits
aber auch mit dem Gef'Jhl der Eltern einher, standi g mit Problemen
allein gelassen zu werden, von der Gesellschaft dafiir aber verur-
teilt zu werden. Dadurch entstanden anfangs haufig Probleme, die sich
in Konkurrenz zwischen Eltern und Kindern ausdrlickten (wessen Pro-
bleme sind schwerer). Ratsuchende Eltern mit Erziehungsschwierigkei-
ten bei den Kindern versuchen auch oft, den Berater auf ihre Seite
zu Ziehen. Als Konsequenz fur unsere Arbeit bedeutet das, eine Ver-
anderung in der Beratungssituation zu erreichen. Erstgesprache wer-
den zwar nach wie vor von einem Mitarbeiter gefiihrt, in der weiteren
- loo
Beratung werden jedoch zwei Berater eingesetzt
der, einer fiir die Eltern. Damit soil versucht w
nannten Schwierigkeiten entgegenzutreten. Gemein
gen mit der ganzen Fami lie und Beratungen mit Ei
wechselnd, je nach Bedlirfnis, Bestandteil einer
die zur Problembewaltigung beitragen soil.
Die Beratungen finden in der Anfangsphase stets
zuhause statt, was zum Vorteil hat, daB nicht di
auf eine andere Umgebung einstellen mlissen, sond
Betroffenen bedeutet das weniger Angst und keine
einer fur die Kin-
'erden, den oben ge-
same Therapiesitzun-
nzelnen sind ab-
Farm'l ienberatung,
bei den Familien
e Ratsuchenden sich
ern wir. Fiir die
anonyme Atmosphare.
Das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM in seinem voll en Ausbau konnte unter den
Bedingungen, unter denen wir zu arbeiten gezwungen sind, bisher nicht
realisiert werden. Bisher waren wir zwar liber ein Euro telefonisch
und schriftlich erreichbar, aber auch das nur wahrend der sonst lib-
lichen Blirozeiten (dies gilt allerdings nicht fiir die Familien, die
wir schon betreuen). Zum Teil lag das daran, daB wir nicht liber
eigene Raume verfiigten (fehlende finanzielle Mittel), zum Teil an
der fehlenden Zeit der Mitarbeiter. Seit September d.J. versuchen wir
mit einem erneuten Kraftaufwand, in einem Laden in Berlin-Neukb'lln
unsere Arbeit mit der Einrichtung der Melde- und Nothilfestelle fort-
zusetzen. Es kann sich in der momentanen Situation dabei nicht urn
eine Rund-um-die-Uhr besetzte Stelle handeln. Es muS sich zeigen,
ob eine Besetzung der Stelle zwischen 9-22 Uhr ausreicht, oder ob
zeitliche Verschiebungen notwendig werden. Mit Hilfe eines Telefon-
anrufbeantworters soil dies geklart werden .
Die Durchsetzung der Kinderwohngruppe stellt sich vorlaufig am
schwierigsten dar. Dafiir sind einerseits sta'ndige finanzielle Mittel
notwendig, andererseits sind mit den Behbrden die rechtlichen Grund-
lagen und Bedingungen noch nicht abgeschlossen. Darunter fallen vor
alien Dingen auch Fragen nach der Errichtung eines heilpadagogischen
Kleinstheimes.
Die Forschungsstelle ist fiir die ersten beiden Modelljahre zu einem
Teil von der Fachhochschule fiir Sozialarbeit und Sozialpadagogik
abgesi chert. Voruntersuchungen von KindesmiBhandlungsfallen in der
Familienflirsorge laufen derzeit an.
Wer soil das bezahlen?
Bisher haben wir keinen einzigen Pfennig staatlicher Unterstlitzung
qesehen. Gelder fiir Telefon, Bliromaterial , Benzinkosten usw. haben
wir bei Freunden, Bekannten, Kollegen, die regelma'Big ein Einkommen
beziehen, zusarmengebettelt. In letzter Zeit haben wir auch Geld-
buBen liber die brtlichen Gerichte erhalten. Das reicht natiirlich
nicht hinten und vorne. Wir sind auch auf Eure Hilfe angewiesen.
KINDERSCHUTZ-ZENTRUM BERLIN e.V.
Sonnenallee 77
1000 Berlin 44
Konten- Berliner Bank (BLZ 100 200 00) 52 54 900 300
Postscheckamt Berlin-West: 22281-108
lol -
ANMERKUNGEN
m Vql • GroBe Anfrage der Bundestagsfraktion der CDU/CSU betr.
Situation der Kinder, BT-Drucksache 7/2414 und die Antwort der
Bundesregierung BT-Drucksache 7/3340.
Antrag der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, Druck-
sache 7/514 und der daraufhin vorgelegte Bericht des Senats von
Berlin, Drucksache 7/866: "Bericht Uber die Situation miBhan-
delter'und vernachlassigter Kinder in Berlin."
(2) Siehe hierzu im weiteren auch: Bast, H.: Zur Lage der Kinder in
der Bundesrepublik Deutschland, in: Bast/Bernecker/Kastien/
Schmitt/Wolff (Hrsg.): Gewalt gegen Kinder - KindesmiBhandlungen
und ihre Ursachen, Reinbek 1975, S. 45 ft.
(3) In Berlin wird inner wieder gefragt, ob Berlin kmderfeindlicn
sei Die Vorlage des Berichts uber die Situation miBhandelter
Kinder in Berlin wurde von der Zeitung "Berliner Morgenpost
zum AnlaB fur eine 10-tagige Serie uber KindesmiBhandlungen ge-
nommen. Anzumerken 1st dazu, daS diese Zeitung mit keinem Hin-
weis auf das KINDERSCHUTZ-ZENTRUM aufwarten kann.
(4) vgl . : Gil, D.G.: Unraveling Child Abuse, Am. J. Orthopsychiatry,
April 1975
(5) Vgl.: Wolff, R.: KindesmiBhandlungen und ihre Ursachen, in:
Gewalt gegen Kinder, a.a.O., S. 13-45.
(61 Der erste "Verein zum Schutz der Kinder vor MiBhandlung und
Ausnutzunq" wurde bereits im Jahre 1887 gegrundet. Vgl.:
Bern™ A.: Entwicklung und Probleme des Kinderschutzes in der
BRD. Unveroff. Diplomarbeit an der FU Berlin, Nov. 197b.
Anzeige
DIE INTERNATIONALE GESELLSCHAFT FUR HEIMERZIEHUNG
informiert: • durch Mitgliederrundbriefe
• Jugendhilfe-lnformationen (monatlich)
• Materialien zur Heimerziehung (vierteljahrlich)
• eine IGfH-Schriftenreihe
• in padagogischen, organisatorischen und bautechnischen Fragen
• einen internationalen Heimerziehungsaustausch
• Internationale Ferienlager Fur Kinder und Jugendliche
berat:
organisiert:
veranstaltet:
arbeitet zusammen:
irstellt:
• Fach- und Fortbildungstagungen
• Begegnungen mit auslandischen Sozialpadagogen in der BRD
• Studienreisen ins Ausland
• mit Pariamentariern, Fachorganisationen, Ministerien und Behorden
• mit sozialpadagogischen Ausbildungsstatten
• mit Presae. Rundfunk, Fernsehen
• Sachverstandigen-Gutachten
• Stellungnahmen zu aktueilen Fragen der Heimerziehung
Anfragen an : Internationale Gesellschaft fur Heimerziehung
Heinrich-Hoffmann-Str. 3, 6ooo Frankfurt
Werkschule Westberlin
KONZEPT EINER BERUFSORIENTIERTEN
PADAGOGISCHEN WERKSCHULE
1. AUSGANGSSH UATION FOR DIE EINRICHTUNG DER WERKSCHULE
Seit einigen Jahren hat sich die Situation im Ausbildungsbereich
flir Jugendliche verschlechtert. Das Angebot von Ausbi ldungsplatzen
fur Jugendliche entspricht nicht mehr der Nachfrage. Die steigenden
Arbeitslosenzahlen belegen, daB es besonders fur jugendliche Arbeits-
nehmer schwierig ist, liberhaupt eine Arbeit zu finden. Weder von
Seiten der Wirtschaft noch von Seiten der staatlichen Institutionen
ist bisher auf dieses fur die Jugendlichen existenzielle Problem mit
Erfolg reagiert worden.
Fur die betroffenen Jugendlichen gibt es kaum Mdglichkeiten.aus ihrer
gesellschaftlichen Situation eine Lebensperspektive im positiven Sin-
ne zu entwickeln. Sie reagieren mit Resignation, fuhlen sich Uber-
fliissig und unnutz. Sie wenden sich dem Alkohol zu Oder nehmen ande-
re Drogen ein. Ihre Konsumbedurfnisse kbnnen sie aufgrund ihrer
schlechten materiellen Situation nicht befriedigen. Eine Folgeer-
scheinung hieraus ist zum Beispiel das Ansteigen der Jugendkrimina-
litat.
Im Juli 1977 haben einige Berliner Sozialarbei ter den Verein Werk-
schule Berlin mit dem Ziel, Jugendliche dabei zu unterstutzen, ihre
perspektivlose Situation zu verandern, gegrlindet.
Entsprechende Wohnmogl ichkeiten, Arbeits- und Ausbildungsplatze wer-
den zu diesem Zweck vom Verein zur Verfugung gestellt.
Unsere Erfahrungen als Sozialarbeiter in der staatlichen Jugendar-
beit und der bffentlichen Erziehung zeigen, daB zusatzliche und an-
dere Formen padagogischer und materieller Unterstutzung praktiziert
und entwickelt werden mussen.
2. DARSTELLUNG DER EINRICHTUNG
Materieller Rahmen
Der Verein hat bisher folgende Raume angemietet
1 Fabriketage (400 qm) als Wohnung
1 Fabriketage (400 qm) als Werkstatt
1 Ladenwohnung (160 qm) als graphische Werkstatt
Mit einem Elektrobetrieb wurden vertragliche Vereinbarungen getrof-
fen in Zusammenarbeit mit der Werkschule eine Lehrl ingsausbi ldung
C5 '- 10 Auszubildende) durchzufuhren.
iier zur Zeit berufstatige Sozialarbeiter werden mit den Jugendli-
rhen wohnen, arbeiten und sie padagogisch betreuen.
Spiterhin werden Honorarkrafte mit fachspezifischer AusbTldung im
Rahmen des padagogischen Gesamtkonzepts mitwirken.
- 103
Vorhandene Eigenmittel des Vereins
Graphische Werkstatt:
Komplettes fototechnisches Labor, komplette Druckereieinrichtung,
Tbpferei - Wert 10 000 DM
Fabriketagen:
Mittel fiir Umbauten, Einrichtung, Werkzeuge, Maschinen, Installa-
tionen - Wert 40 000 DM
Padagogischer Rahmen
Entsprechend dem Zweck und im Rahmen der Ziele des Vereins beginnt
am 1.10.1977 dieser Kurs mit insgesamt 14 Jugendlichen und 4 Sozial-
arbeitern und Lehrern.
6 Jugendliche machen eine Lehre als Elektroinstallateure. Die Aus-
bildung erfolgt in Zusammenarbeit und unter fachlicher Anleitung
eines Elektromeisters. Die Gesellenprlifung wird nach den Libl ichen
Bestimnungen und Fristen bei der Elektroinnung Berlin abgelegt.
8 Jugendliche bereiten sich auf den Hauptschul- bzw. Realschulab-
schluB vor. Diese Vorbereitungskurse werden in den Raumen der Werk-
schule durchgefuhrt.
Fur alle Jugendlichen und Padagogen besteht die Notwendigkeit, an
den praktischen Grundkursen der Werkschule zu arbeiten.
Zunachst werden folgende 9 praktische Grundkurse eingerichtet:
Metal lbearbeitung und SchweiBtechnik
Es werden verschiedene Gebrauchsgegenstande aus Metal! hergestellt
und dabei Methoden und Mbglichkeiten der Metallbearbeitung erlernt.
Einfache SchweiBverfahren (ElektroschweiSen und AutogenschweiBen)
werden hier einbezogen.
Elektrotechnik
ts werden Grundbegriffe und Funktionszusammenhange in der Elektro-
technik vermittelt, wie Leitungen, Steckdosen, Schalter, Sicherungen,
Lampen verlegen und installieren, Reparaturen von Haushaltsgeraten
wie: Tauchsieder, Toaster, Staubsauger,
Einfuhrung in die Elektronik: Bau eines einfachen Verstarkers mit
elektronischen Bauelementen.
Foto + Repro + Druck
In der graphischen Werkstatt der Werkschule sollen von den Schiilern
und Lehrlingen Arbei tsergebnisse und Berichte Liber Untersuchungen
fototechnisch und drucktechnisch hergestellt werden. Hier kbnnen
die sprachliche Form, grammatikalische Unsicherheiten und Ausdrucks-
formen verbessert und korrigiert werden.
Textilverarbeitung
In der Werkschule wird eine Schneiderei eingerichtet, die in einem
kleineren Umfang Kleider, Hosen, Jacken herstellen soil. AuBerdem
wird ein Webstuhl gebaut, auf dem kleine Teppiche aus Wolle oder
Stoffresten gewebt werden kbnnen.
Frisierkunst
Grundkenntnisse dieses Handwerks wie Schneiden, Farben, Ondolieren
usw. werden erlernt.
104 -
Maschinenschreiben und Buchhaltung
Innerhalb der Werkschule werden sehr verschiedene kaufmannische und
buchhalterische Arbeiten zu erledigen sein. Im Zusammenhang mit die-
sen praktischen Anforderungen wird Einblick in den kaufmannischen
Arbei tsbereich gegeben . Erlernen von Maschinenschreiben, Schreiben
von Rechnungen, Beteiligung an der Buchflihrung usw. sind hier die
Arbei tsmoglichkei ten.
Lebensmitteltechnik
Aufgabe dieses PG ist es, die Versorgung der Werkschule mit Lebens-
mitteln sicherzustellen. Die Schiiler dieses PG kochen das Essen fur
alle, besorgen die Lebensmittel , f'Jhren die K'uche, machen den Spei-
seplan und kummern sich urn alles, was mit der Kliche und den Nahrungs-
mitteln zu tun hat.
Ton + Steine + Topfen
In zusammenarbeit mi t einem Werkkunstlehrer und Bildhauer kbnnen in
diesan PG Arbeiten mit Ton, Formen aus Gips, graphische Arbeiten und
Steinmetzarbeiten erlernt werden.
Instrumentalmusik
Hier konnen je nach Interesse verschiedene Instrumente kennengelernt
und der Umgang im Spiel mit den Instrumenten geiibt werden. Grund-
kenntnisse der verschiedensten Musikepochen (Klassik, Blues, Rock,
Beat, Pop, Underground, Jazz usw.) kbnnen anhand von sehr vielen
praktischen Bei spiel en vermittelt werden.
Die Praktischen Grundkurse haben zunachst drei Funktionen:
I Betrieb der Einrichtung
Um die Arbeit der Werkschule durchfuhren zu kbnnen, sind besonders
fiir die Lehrli ngsausbildung die PG I und II und fLir den gesamten Be-
reich die PG VI und VII notwendig. Diese Bedeutung soil alien Jugend-
lichen und Padagogen dadurch einsichtig werden, daB sie verbindlich
und eigenverantwortlich in diesen Praktischen Grundkursen arbeiten.
• Kennenlernen von Berufsfeldern
Alle Praktischen Grundkurse haben einen real en beruf lichen Hinter-
grund. Sie geben Jugendlichen die Mbglichkeit, berufsspezifische Ar-
beiten kennenzulernen und durchzufiihren. Damit sollen individuelle
Neigungen erkennbar gemacht und eine differenzierte Einstellung zu
verschiedenen beruflichen Bereichen erarbeitet werden.
Weiterhin gehbrt es zu den Aufgaben der Werkschule, diese Jugend-
lichen nach AbschluB des Haupt- bzw. Realschul kurses in Lehrstellen
zu vermitteln.
■ Verbindung von praktischer und theoretischer Arbeit
niTLehrhnge arbeiten auf das Ziel der berut ncnen gualiti kation
(Gesellenprlifung), die Schuler auf das Ziel der schulischen Qualifi-
kation (externe Schulprlifung) hin.
FUr die Schuler ist zunachst nur ein theoretisches Lernangebot yor-
handen, was in einer Prufung als abstraktes Wissen abverlangt wird
Uir qehen davon aus, daB Jugendliche, die in der Werkschule mitmachen
warden fiir diese Anforderungen keine Motivation haben und auch
nidrt auf eigene positive Erfahrungen zuruckgreifen konnen.
- 105 -
Die Arbeit in den Praktischen Grundkursen ist entweder von der Not-
wendigkeit, das Leben in der Werkschule zu organisieren oder von
einer konkreten Produktion fur den eigenen Bedarf, bestimmt. In die-
sem Zusammenhang miissen sich die Schiller und Sozialarbeiter gemein-
sam theoretische Grundlagen erarbeiten.
Die Faktoren, Verantwortl ichkeit in der jeweiligen Arbeit fur die
gesamte Werkschule und Herstellung verwendbarer Produkte bilden die
Grundlage der Motivation zum theoretischen Lernen.
In diesem Sinne halten wir die Arbeit in den Praktischen Grundkursen
fiir eine notwendige Grundlage zur Vorbereitung auf den externen Schul-
abschlutS (Hauptschul- oder RealschulabschluB) .
Jeder der 8 Schiiler soil im Verlauf eines Jahres an vier oder fiinf
PG mitarbeiten. In einem PG arbeiten 3 oder 4 Schiiler und 1 Lehrer
bzw. Sozialarbeiter, nach ca. 50 Tagen wechselt die Gruppe zu einem
anderen Praktischen Grundkurs.
3. DIE PADAGOGISCHEN ZIELE
Der besondere padagogische Charakter der Werkschule beruht auch
darauf, dal3 die in der Werkschule lebenden und arbeitenden Sozialar-
beiter Liber praktische Berufserfahrungen im handwerklichen und kauf-
manm'schen Bereich verfiigen.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Voraussetzung sehen wir die erzieheri-
schen Aufgaben in der Verbindung von praktischem Lernen und gemein-
samen Leben. Die sich aus dem Ausbildungs- und Arbeitsrahmen erge-
bende konkrete Orientierung fur die Jugendlichen erstreckt sich Liber
einen langeren Zeitraum und ermoglicht eine langfristige Planung
einzelner Arbeits- und Lernschri tte.
Aus der kurzfristigen Umsetzung dieser Arbeitsschri tte ergeben sich
gemeinsame praktische Erfahrungen, die die Grundlage fiir die sozia-
len Verhaltensweisen innerhalb der gesamten Gruppe bilden.
In diese Erfahrungsprozesse und zu erwartenden Konfliktsi tuationen
sind die Sozialarbeiter integriert.
Sb haben hier die Aufgabe, auftretende Probleme anzusprechen und die
Problembewaltigung mit herbeizufuhren.
Diese Basis gemeinsamer Lern- und Erfahrungsprozesse entwickelt das
Verstandnis fiir den anderen. Jeder Werkschuler erkennt so, dafl seine
individuellen Fahigkeiten fiir die Bewaltigung der sich aus der Ziel-
setzung der Werkschule ergebenden Probleme wichtig und von groBer
Bedeutung sind. Diese Entwicklung zu fbrdern und zu unterstiitzen
ist das padagogische Ziel der Werkschule Berlin.
Bei den herkbmmlichen Fbrderungsangeboten fiir diesen Personenkreis
in Form von Grundkursen, berufsvorberei tenden MaBnahmen oder sonsti-
gen Angeboten, bei denen die Jugendlichen lediglich die Kurse besu-
chen, ansonsten aber in ihren familiaren und sozialen Verhaltnissen
bleiben, ist die Ausfallquote sehr hoch. Oft brechen sie schon nach
wenigen Besuchen den Kurs ab, da sie den ihnen gestellten Anforde-
rungen der vorgegebenen Lerninhalte all eine nicht gewachsen sind;
damit verstarkt sich ihre Perspektivlosigkeit.
Durch die Verbindung des Wohn- und Arbeitsbereichs und intensiver
- 106
VEWAG
JUGEND UND POLITIK
»SeIber
ANNELIESE maas, ingrid schwarz, udo MAAS
POLITIK HEISST "SELBERMACHBf - jugend-
ARBEIT IM ARBEITERVIERTEL 360 S. DM 16,80
Die Verfasser beschreiben die Entwicklung
jugendlicher Arbeiter in.Mannheim-Rheinau
iiber mehrere Jahre hinweg bis zu ersten
Ansatzen eines bewufit organisierten Lebens-
und Handlungszusammenhanges. Dabei wird
deutlich, dafi sich politisches Bewufltsein
nur durch selbstorganisiertes Handeln von
Arbeiteni und ohne die Programmhuberei
und den Fuhrungsanspruch selbsternannter
kommunistischer Eliten wirklich entfalten
kann.
*■ j^^b t^^' '
"JjSf -«PF ^^^#^W > *«.,
W, HATSCHER, A. HERRENKNECHT, ST, KOOSPAL
TRfiUE, HOFFNUNGEN, KWFE - ein lesebuch
ZUR JUGENDZENTRUMSBEWEGUNG 144 S. DM 8,-
"Die Jugendzentrumsbewegung lebt nach wie
vor - nur bewegt sie sich heute anders."
Das Lesebuch - geschrieben von Aktiven -
widerlegt durch die Darstellung prakti-
scher Erfahrung die gerade in der padago-
gischen Fachliteratur vertretenen These,
die JZ-Bewegung sei in der Krise oder gar
tot. Neben historischen Dokumenten, Hinter-
grundtexten, konkreten Aktionsvorschlagen
findet sich eine reichhaltige Adressen-
und Materialliste.
ALBERT HERRENKNECHT
PROVI.NZLEBEN - aufsatze Ober ein
POLITISCHES NEULAND 232 S. DM IS, 80 ,-
Die Aufsatze von Albert Herrenknecht , der
20 Jahre in einem 500 Seelen-Dorf gelebt
hat, bringen in lockerer Folge - eher be-
I schreibend als analytisch - Alltagsberich-
| te und Diskussionen iiber das Leben von
1 Jugendlichen auf dem Land und iiber die
I Schwierigkeiten, gerade dort Politik zu
I machen. U.a. ist das Buch eine Aufforde-
I rung, die Provinz als politisches Aktions-
I feld ernstzunehmen, auf dem Land zu blei-
I ben, gerade dort zu verandem^
Bestellungen und Prospektanforderungen bei:
VERLAG JUGEND UND POLITIK, HAMBURGER ALLEE 49, 6 FRANKFURT %
padagogischer Betreuung soil gewahrleistet werden, daB die Jugend-
lichen in gemeinschaftlicher und individueller Beta'tigung in den
verschiedenen Berufsfeldern mit Begleitung der Sozial padagogen zu
kontinuierlichen Lern- und Stabilisierungsprozessen gelangen.
Somit werden siclTdie aus den sozialen Problemen der Jugendlichen
ergebenden Schwierigkeiten und die aus den an sie gestellten Anfor-
derungen erwachsenden praktischen und theoretischen Probleme auf der
Grundlage gemeinsamer Erfahrungsprozesse im Arbeits- und Wohnbereich
aufarbeiten lassen.
Das Konzept der Werkschule Berlin beinhaltet, daB ab 1.10.1977 die
Jugendlichen gemeinsam mit den Padagogen unter Anleitung von Fach-
kra'ften beginnen, die der Werkschule zur Verfiigung stehenden Fabrik-
etagen zu Wohn- bzw. Werkraumen umzubauen.
Wir sehen diese gemeinsame Ausbauphase als einen Bestandteil des
Gesamtkonzepts an, da den Jugendlichen zum einen gleich bei Eintritt
in die Werkschule die Mbglichkeit gegeben wird, ihre zukunftige Um-
gebung mitzugestal ten. Dadurch werden sie motiviert, sich aktiv an
der Planung und am Aufbau ihres neuen Lebensraumes zu beteiligen.
Zum anderen bietet die gemeinsame Ausbauphase die Lernmbglichkeit,
durch Austausch verschiedener Fertigkeiten und gegenseitiger Hilfe
bei der praktischen Arbeit sich gegenseitig zu akzeptieren und zu
unterstutzen sowie persbnliche Beziehungen zueinander zu entwickeln.
4. DIE FINANZIERUNG
Aus dem padagogischen Konzept und den padagogischen Zielen der Werk-
schule ergibt sich, daB die jugendlichen Madchen und Jungen und die
Padagogen fUr die gesamte Dauer der MaBnahmen zusamnen leben und
Die Vorbereitungskurse fur die externe SchulabschluSprufung sind zu-
nachst fur die Dauer von 18 Monaten konzipiert. Fur den zweiten
Durchgang ab April 79 wird eine Verkurzung der Kursdauer in Erwa-
gung gezogen. Die Lehrlinge wohnen ebenfalls fiir die gesamte Aus-
bildungszeit in der Werkschule.
Die Unterbringung und Finanzierung liber Tagespflegesatze der Jugend-
lichen kbnnte auf der Rechtsgrundlage der §§ 5, 6 JWG Oder als i-t
und FEH durchgeflihrt werden. Fiir Jugendliche, die wahrend der MaB-
nahmen'die Volljahrigkeit erreichen, ware eine Weiterfuhrung de[
Unterbringung als eine besondere Form der Jugendhilfe (zur Uurcnrun-
rung vcn MaBnahmen nach § 6 Abs. 3, § 75a Abs. 1 JWG) moglich.
Entsprechende Antrage fur eine "Betriebserlaubnis" der Werkschule
Berlin sind beim Senator fiir Familie, Jugend und Sport gestellt wor-
den.
ANMERKUNG IN EIGENER SACHE
Liebe(r) Info-Leser(in),
wir bitten Euch recht herzlich vorlaufig von Anfragen und Besuchen abzusehen,
wir befinden uns in einer schwierigen Aufbauphase, die uns viel Zeit ixnd Kraft
kosten wird, sodafi wir zur Zeit auf solche Anfragen nicht reagieren konnen.
Im Friihjahr 1978 werden wir eine ausfiihrliche Dokumentation iiber die Arbeit
der Werkschule erstellen. Cber den Bezug erfahrt Ihr weiteres aus dem Info.
Herzliche Griifie Werkschule Berlin e.V.
Manfred Rabatsch, Westberlin
JUGENDFURSORGE -
KONTROLL- UND EINGRIFFSINSTRUMENT DES
BCRGERLICHEN STAATES IN ARBEITERFAMILIEN
"Uber die Einweisung ins Heim entschei.det das Jugendamt. Hier werden
unsere Akten, unser Fall, verwaltet; iiber unseren Kopf hinweg wer-
den Entscheidungen getroffen, gegen die wir uns meistens nicht weh-
ren konnen. Deswegen sehen wir das Jugendamt als eine Behorde an,
die uns zu Menschen zweiter Klasse abstempelt und uns zu hilfslosen
Objekten der Verwal tungsbilrokrat ie macht". (1)
"Die Reform des Jugendhi 1 ferechts solle nur schrittweise in die Tat
umgesetzt werden, so wie es die Entwicklung der offentlichen Kassen
bei Landern und Gemeinden zula'Bt". Mit dieser Randnotiz vom 2.1.1977
berichtete die Frankfurter Rundschau (FR) uber ein dpa-Interview
der Bundesministerin fur Jugend, Familie und Gesundheit.Antje Huber.
Diese Aussage kennzeichnet die Lage im Jugendhi lfebereich als eindeu-
tig.
Eine Jugendhilferechtsreform, die eine strukturelle Ablb'sung des
geltenden Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) bedeuten wiirde, wird es auf
Jahre hinaus nicht geben. Dagegen wurde noch am 1.4.1974 in der re-
gierungsamtlichen Begriindung zum Referentenentwurf eines neuen Jugend-
hilfegesetzes getbnt, daB die beiden Novel lierungen zum JWG vom
28.8.1953 und 1.7.1962 nicht dazu in der Lage waren, das JWG "in
ein modernes Erziehungsgesetz umzuwandeln, auch wenn seine Regelungen
neue Arbei tsmethoden oder Hi 1 feformen nicht ausschl ieBen. Das gel-
tende Recht genugte weder dem heutigen Verstandnis noch der dynami-
schen Funktion der Jugendhilfe. Zudem enthalt es noch manches obrig-
kei tsstaat 1 iche Element. Zahlreiche Genera I klauseln fuhren zu hochst
unterschiedl i chen Aktivitaten der Jugenda'mter in Stadt und Land. Es
basiert noch auf der iiberholten Aufgabentrennung in Jugendpflege und
Jugendfiirsorge". (2)
Hinsichtlich der strukturellen Bedingungen gab es jedoch zwischen
1977 und 1974 keine prinzipiel len Unterschiede. Als die Heimkampagne
1969 und der jugendhi lfetag 1970 in Nu'rnberg die Tra'ger der Jugend-
hilfe zu Reformaktivitaten veranlaSten, wurde in Hessen vom zustan-
digen Ministerium ein "Stufenplan zur Reform der Heimerziehung" vor-
gelegt, der bis 1980 weitgehend realisiert sein sollte. Im Vorwort
hieB es: "Der vorgelegte Stufenplan la'St sich im Rahmen, der die
Moql ichkei ten praktischer Umsetzung der Empfehlungen des Heimbeira-
tes unter den immer und liberal 1 geltenden Bedingungen knapper und
personeller Hittel berucks ichtigt ." verwirkl ichen.
Der Unterschied zwischen 1969 und 1977 bezieht sich allein auf die
nnlitischen Auseinandersetzungen und in der Offentlichkeit disku-
tierten und von ihr beachteten Konflikte innerhalb der gesamten Ju-
nonrihilfe Heute sind Disziplinierungen, Berufsverbote, Wirtschafts-
krise und'jugendarbeitslosigkeit All tagsprobleme und Gesprachsinhal-
- 109 -
te der sozialpadagogischen Basis, die in ihrer Betroffenheit von der
zunehmenden Repression sowohl auf der Ebene der al ltaglichen Hand-
lungsvollzlige als auch der politischen Auseinandersetzung die Grund-
satzfrage nach dem Sinn, den Zielen und Mitteln einer Vera'nderung
gesellschaftlicher Verha-ltnisse stellt.
Diese Situation strukturiert die MaBnahmen der Jugendflirsorge in ver-
scha'rfter Weise und la'Bt nach dem Ende der Reformdiskussion die
in jahrelangen politischen K'a'mpfen angegriffenen gesellschaftlichen
Strukturen in ihrem unterdriickenden und abschreckenden Charakter deut-
licher hervortreten.
Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit werden die bereits eingetre-
tene Verschlechterung der materiellen und psychischen Lage weiter
Teile der Bevbl kerung so stark vorantreiben, daB eine zunehmende Ver-
elendung der Lebensumstande in Arbeiterf ami lien und als deren nega-
tivster Ausdruck die Deklassierung von Arbeiterjugendlichen als
verscharftere soziale Krisensituationen auf die Jugendhilfeinstitu-
tionen treffen. Angesichts der Hochrechnungen der Bundesanstalt fur
Arbeit in N'urnberg nach denen die Jugendarbeitslosigkeit bis 1984
auf 1,4 Millionen ansteigt, wirkt eine Erklarung des Bundesmimste-
riums fur Jugend, Familie und Gesundheit vom 27.12.1976:"es gelte die
Jugendarbeitslosigkeit noch einmal zu iiberpriifen (3) wie der Versuch
eines Boxers, den nachsten Schlag mit gutem Zureden abzuwehren.
Die Jugendhilfeinstitutionen,insbesondere die Trager der Jugendfiir-
sorge dagegen sehen sich zunehmend schlechter in der Lage, den Kon-
flikten gegeniiber angemessen zu reagieren. Haushaltsstrukturgesetz,
SparmaBnahmen und Personalkiirzungen sind seit dem Ende der offi zie-
len Reformdiskussion 1974 Inhalt staatlicher MaBnahmen, die das roll-
back im gesamten Jugendfursorgesektor kennzeichnen. Die Tendenzwende
zu einem Zustand wie er vor 1968 herrschte, ist unverkennbar. tine
Angemessenheit des Reagierens auf Konflikte wiirde im Kontext dieser
politischen Situation bedeuten, daB der in den vergangenen Jahren
hef tiger Reformauseinandersetzungen entwickelte materiel le und perso-
nelle Umfang der Jugendf'u'rsorgeangebote im Bereich
• ambulanter Beratung (auf dem Gebiet der Erziehung, des Rechts, ma
terieller Sicherung einschlieBlich der Arbeitsfbrderung , Schule-,
Berufsaus- und Elternbildung)
• offerer und halboffener Erziehungshilfen ,
• alternativer Erziehungshilfen zur Heimerziehung (Wohngemeinscnatten,
Familienhelfer, hauptamtliche Erziehungsbeistande)
• alternativer Erziehungskonzepte und -praktiken in den Heimen, Kin-
dertagessta'tten, Horten und Vorschulen, die sich an Lebensumstanden
und Lebensinteressen der Kinder und Jugendlichen orientieren
• des Umfangs materieller UnterstUtzung auf sozial- und jugendnilte-
rechtlicher Grundlage (Sicherung des Lebensunterhaltes der Faminen
bei Arbeitslosigkeit-und Ausbildung, Schuldenregulierung)
erhalten bleibt.
Die in diesem Katalog von MaBnahmen enthaltenen Versorgungsanspruche
der Familien, Kinder und Jugendlichen zur Bereitstellung von Erzie-
hungshilfen ergeben sich nach wie vor aus dem Jugendwohlfahrtsgesetz,
dessen 55-jahrige Tradition die Aufrechterhaltung eines obrigkeits-
staatlichen Kontroll- und Eingriffssys terns sichert, dessen organisa-
torisches Instrument das Jugendamt und dessen grdBter Erziehungstra-
ger nach wie vor die konfessionellen Spi tzenverbande der "freien*
Wohlfahrtspflege sind. In dieser Tradition hatten die "Angebote"
und "MaBnahmen" der Jugendflirsorge gegeniiber der Jugendpflege ein
deutliches Obergewicht im Haushaltsvolumen und damit der offen
disziplinierende und abschreckende Charakter der Jugendhilfe Priori-
tat.
Seit zwei Jahren registrieren wir eine erhebliche Kiirzung von Mit-
teln und Personal sowie eine sp'u'rbare Einschrankung der Arbeitsbe-
dingungen. Zusammen mit den Disziplinierungen, Entlassungen, Nicht-
einstellungen und Berufsverboten bedeuten diese MaBnahmen die bkono-
mische und politische Grundlage einer Entwicklungstendenz in der
Jugendfiirsorge ^eren negativer EinfluB auf die Lage der Kinder und
Jugendlichen in der Bundesrepublik sich bereits jetzt abzeichnet.
Die kontinuierlichen Planungen verschiedener Landerministerien (Hes-
sen, Berlin, Bayern) zur erneuten Einrichtung von geschlossenen Hei-
men und die Bereitstellung von Forschungsmitteln zur Vorbereitung
der neuen JugendfursorgemaBnahme "Erziehungskurs" sind hierfur eindeu-
tige Indizien. Um den Zwangscharakter und die Gewaltfbrmigkeit der
geschlossenen Heime zu verschleiern, wird in einigen Landern diese
MaBnahme als Einrichtung einer "padagogisch-therapeutischen Inten-
sivabteilung" (Bayern) Oder als "heilpadagogische Intensivbetreuung"
(Hessen) verschleiert. Die WiedereinfLihrung der geschlossenen Heime
waren im vorgelegten Referentenentwurf als "Sozial -therapeutische
Jugendzentren" ebenso geplant wie die EinfUhrung der "Erziehungskur-
se". Eine Einschatzung dieser MaBnahmen sind im Rahmen der vorerst
beendeten Jugendhilferechtsdiskussion ebenso notwendig wie zur Kenn-
zeichnung der Entwicklungstendenzen in der Jugendflirsorge.
Die Frage nach dem Zustand des Jugendfursorgesektors hinsichtlich
der strukturellen Reaktionsweisen gegeniiber sozialen Konflikten
und die Analyse der Funktion zur Anwendung kommender MaBnahmen sol 1-
te zwei Faktoren genauer benennen:
• in welcher Weise werden die den sozialen Konflikten zugrunde lie-
genden Lebensumstande der betroffenen Kinder und Jugendlichen aufge-
noramen. Mit welchen Mitteln und Zielen erfolgt eine Entwicklungsfbr-
derung unter Berlicksichtigung existentieller Bediirfnisse und Inter-
essen' als Ausdruck herrschender Handlungsprinzipien zur Einlbsung
des Postulats einer Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesell-
schaftlichen Tuchtigkeit.
t Welchen EinfluB haben die gesellschaftlichen Kampfe insbesondere
die Heimkampagnen, Schliler-, Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegun-
gen auf die Reformdiskussion genommen und den Zustand innerhalb der
Skala von JugendfiirsorgemaBnahmen verandert.
Dabei erscheint es zum Verstandnis fur den derzeitigen Zustand und
die Entwicklungstendenzen in der Jugendflirsorge hilfreich, die we-
sentlichsten politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre zu
skizzieren.
110
- Ill
^A.
1. VON DER HEIMKAMPAGNE ZUR REFORMDISKUSSION
Als 1968 in Berlin und 1969 in Hessen und Bayern die bffentlichen
Auseinandersetzungen liber die Zustande in den bundesdeutschen Heimen
begannen, war noch nicht vorauszusehen, daS damit ein bundesweiter
DiskussionsprozeB iiber die Funktion der bffentlichen Erziehung, die
Rolle der staatlichen und privaten Trager der Jugendhilfe in eine
bundesweite Diskussion iiber eine Strukturreform des Jugendhilfe-
rechts unter Einbeziehung des politisch bkonomischen Systems der BRD
einmlinden wlirde. Die anfanglich vor allera von Studenten des sozial-
padagogischen Bereichs initiierte Kritik an den katastrophalen
Verhaltnissen in den Erziehungsheimen erfaBte bald auch die in der
Jugendhilfepraxis tatigen Erzieher, Sozialpadagogen und Sozialar-
beiter. Sehr schnell entwickelte die Diskussion ein BewuStsein davon,
daB bestehende gesetzliche Grundlagen, Organisations- und Entschei-
dungsprinzipien, das Verhaltnis bffentlicher und privater Trager der
Jugendhilfe und den praktizierten Erziehungsmethoden nicht von den
politischen Grundlagen der BRD abzutrennen sind, sondern ihren un-
mittelbaren Ausdruck in den herrschenden Strukturen des Jugendhilfe-
apparates finden.
Nachdem sich 1969 im gesamten Bundesgebiet eine Vielzahl von Basis-
aktivitaten gebildet hatten (Arbeitskreise kritischer Sozialarbei-
ter, Kindergruppen, Jugendwohnkollektive, Randgruppenprojekte usw.),
war es 1970 mbglich, den 4. Jugendhilfetag in Niirnberg mit seiner
Prasenz etablierter Jugendhilfefunktionare als breites und bffentli-
ches Forum zur organisierten Anklage gegen den Straf- und Diszipli-
nierungscharakter bffentlicher und privater Jugendhilfe zu nutzen.
Das organisierte Auftreten der ausschlieBlich fur den 4. Jugendhil-
fetag gegrundeten "Sozialistischen Aktion" jagte dann auch den Funk-
tionaren einen gehbrigen Schrecken ein. Unmittelbar nach dem 4. Ju-
gendhilfetag berief am 10. Jul i 1970 die damalige Bundesmim stern n
fur Jugend, Familie und Gesundheit, Kathe Strobe!, eine 12-kopfige
Sachverstandigenkommission ein, urn die offizielle Reformarbeit
weiterzuflihren. Es ging der Bundesregierung und den Tragern der Ju-
gendhilfe darum, die offensive Anklagestrategie der Linken durch
ein eigenes Reformprogramm zu stoppen und die gro&e Gruppe der un-
zufriedenen Kritiker auf die offiziellen Reformkonzepte zu verpflich-
ten und von den radikalen Gesellschaftsveranderern zu isolieren.
Am 26. April 1973 legte die Sachverstandigenkommission einen Dis-
kussionsentwurf (DE) zur Reform des Jugendhi lferechts vor, den das
Bundesfamilienministerium in 20 000 Exemplaren verteilte. Der mit
dieser OffentlichkeitsmaBnahme erweckte Anschein einer beabsichtig-
ten Einbeziehung der von diesem Reformgesetz betroffenen Sozialar-
beiter und Jugendlichen erfolgte jedoch nicht. Die Diskussion wurde
allein auf der Ebene der freien und staatlichen Spitzenverbande der
Wohlfahrtspflege, Jugendverbande und Experten geflihrt. Sie erbrachte
ca. 150 Anderungsvorschlage.
Die Legitimation einer breiten Basisdiskussion zur geplanten Jugend-
hi If erechtsrefomi durch die Sozialarbei ter sollte der 5. Jugendhil-
fetag vom 8. bis 11. September 1974 in Hamburg erbringen. Dessen
Forum wollte das Bundesfamilienministerium unter organisatocischer
Leitung der Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe (AGJ) zur Akklamation
112
des seit Jahren notwendigen Reformwerks benutzen. Den vorliegenden
AbschluB der offiziellen Arbeiten bildete der Referentenentwurf
(RE) des BMJFG vom 27. Ma'rz 1974, dem am 1.4.1974 eine 127-seitige
Begrundung, herausgegeben von der "Bundesarbeitsgemeinschaft der
Landesjugendamter und Uberbrtl ichen Erziehungsbehbrden" folgte.
In seinen Ansprlichen, Rechten und Leistungen bedeutete der Refe-
rentenentwurf (RE) einen erheblichen Ruckschritt gegenliber Teilen
des Diskussionsentwurfs (DE). Bereits die General klausel des § 1,1
DE war vom "Recht auf Erziehung und Bildung" in ein partielles "Recht
auf Erziehung" zuriickgestutzt worden. Der notwendige Ausbau der Ju-
gendhilfe zu einem integrierten Bestandteil des Bildungssys terns war
damit bereits auf der Ebene des Reformanspruchs an den Interessen
konservati ver bis reaktionarer Vertreter der Aufrechterhaltung einer
Trennung von Jugendhilfe und Bildungsbereich gescheitert.
Darin eingehende Interessen von Caritas, Diakonischem Werk und CDU/
CSU sowie rechter Teile der SPD und FDP lassen sich exemplarisch
an der Stellungnahme des bayerischen Staatsministeriums flir Unter-
richt und Kultus zum RE des JHG verdeutlichen. Dabei muB beachtet
werden, daB diese Auffassung bereits den Versuch des RE ablehnt, die
seit 1922 bestehende Trennung von Jugendpflege und Jugendflirsorge
dadurch zu lockern, daB auBerschulische Erziehungs- und Beratungsbe-
reiche (Elementarerziehung, Hilfen f'Jr schuipf 1 ichtige Kinder, -
§ 28, 29 RE; Elternbildung, Familienberatung - § 40 RE) zu bundes-
einheitl ichen Aufgaben der Jugendhilfe erklart werden, wie das in
einigen Bundeslandern (Berlin , Hessen) bereits der Fall ist.
Das bayerische Staatsministerium stlitzte sich auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.1967 in dem sowohl das Subsidiari-
tatsprinzip den'freienHragern der Jugendhilfe das Handlungsprimat
gegenLiber dem Staat sicherte als auch die Bundesgesetzgebungskompe-
tenz im Bereich der Jugendhilfe auf die Jugendpflege und Jugendfur-
sorge beschrankte.
Urn MiBverstandnissen liber seinen Standort vorzubeugen, interpre-
tierte Bayern den noch gu'ltigen Tenor des Urteils erneut.
"Jugendpflege wurde im Urteil ... im herkomml ichen Sinne verstanden,
namlich als eine Form der vorbeugenden Fiirsorge. In dem Urteil wi rd
ausdriickl ich bemerkt, da(3 die Jugendpflege 'Anpassungsschwier igkei ten,
die mancher Jugendliche bei der Einordnung in die Gesellschaft ha-
be ' ... iiberwinden hi lft, dadurch eine spatere Gefahrdung aus-
schlieBtund kiinftige FursorgemaSnahmen iiberflussig macht". (5)
Die in den Auseinandersetzungen mit den wirtschaftlichen und politi-
schen Verhaltnissen der BRD der Studenten-, Schuler-, Lehrlings- und
Jugendzentrumsbewegung eingeleiteten und erkampften Snderungen im
Selbstverstandnis, in den Kompetenzen und Arbeitsschwerpunkten der
Jugendpflege veranlaBten Bayern zur Formulierung folgender Konsequenz.
"Aufgrund der Wandlung der Jugendpflege in eine starker bildungsbe-
zogene Jugendarbeit ist sie nicht mehr vorbeugende offentliche Fiir-
sorge. Die Bundeskompetenz zur Gesetzgebung im Bereich der Sffentli-
chen Fiirsorge ers,treckt sich nicht auf sie". (6)
Die Sorge dieser Auffassung von Jugendhilfe gilt zwei wesentlichen
Gefahrenmomenten. Zum einen soil der EinfluB einer "Vielfalt von
Gruppierungen und Aktivita'ten'also der zunehmenden Poll tisierung des
- 113 -
gesamten Jugendbildungsbereichs auf die Jugendflirsorgeeinrichtun-
gen verhindert werden. Die nach wie vor bestehende Dominanz der gros-
ser! Spitzenverbande der freien Wohlfahrtspflege konnte dadurch in
ihrer Legitimation als gesellschaftlich relevantester Trager b'ffent-
licher Erziehung in Frage gestellt und die an christlichen Erziehungs-
vorstellungen gebundene Praxis in den Einrichtungen einer permanenten
Kritik unterzogen werden.
Zum anderen kbnnte eine Ausweitung der Jugendhilfe in Bundeskompe-
tenz auf vor-, auBerschulische sowie Erwachsenenbildung die Lander-
hoheit auf gesetzgeberischen Gebiet des Schul- und Teilen des Bil-
dungswesens unterlaufen. So beklagte dann auch Bayern die angebli-
chen Ziele des Referentenentwurfs.'
"Die Jugendhilfe soil kunftig auch gegenuber Schule und Beruf nicht
bloS unterstiitzende, sondern auch korr igierende Erziehungsauf gaben
haben... Die Jugendhilfe des behordlichen Tragers wird so zu einer
beherrschenden Sozia 1 isations i nstanz". (7)
Mit dieser Stellungnahme verdeutlichte Bayern jedoch nur die reaktio-
narste - in der Jugendhilfepraxis jedoch vorherrschende - Position.
Wie sich spa'ter zeigen wird, steht sie stellvertretend fur gesell-
schaftspolitische Auffassungen , die im Jugendfursorgesektor dominie-
ren.
Die Offenheit der Argumentation stand jedoch den 1974 propagierten
Reformabsichten der Bundesregierung entgegen. So postulierte das
BMJFG in seiner Begriindung zum RE die Anspriiche des neuen JHR als
"ein modernes Erziehungsgesetz und seiner Form nach (als) ein Ge-
setz der helfenden Leistungsverwal tung fur junge Menschen'... mit
dem Erziehungsanspruche durch erzieher ische Hilfen begriindet, ge-^
sichert und durchgesetzt werden. Nicht nur einzelne Gruppen von Kin-
dern oder Jugendlichen brauchen neben Elternhaus und Schule weitere
erzieher ische Hilfen, vielmehr mussen alle jungen Menschen und El-
tern zumindest die Chance erhalten, bei den vielfal t igen erzieheri-
schen Problemen, die sich ihnen stellen, beraten und unterstiitzt zu
werden. Auf diese Ueise wird Jugendhilfe zu einem notwendigen und
unverzichtbaren Erzi ehungsfeld neben Elternhaus, Schule und Berufs-
ausbildungsstatte, Sein Fundament mul3 gegenseitige Erga'nzung und
Kooperation, nicht aber Vorrangdenken sein." (8)
2. AUFBAU DES GESETZENTWURFS UND
UND VORGESEHENE JUGENDFURSORGERISCHE MASSNAHMEN
Der Aufbau des Gesetzentwurfs war durch eine Trennung in "allgemeine
Leistungen und besondere Leistungen" der Jugendhilfe gekennzeichnet.
Sie basierten auf einem "Rechtsanspruch auf Jugendhilfe", die ein-
setzt, "sobald dem Trager der Jugendhilfe... bekannt wird, da(3 die
Voraussetzungen daflir vorliegen". (9)
Die "allgemeinen Leistungen" waren in drei Aufgabenschwerpunkte
untergliedert:
I allgemeine Hilfen fur Kinder (fruhkindl iche Erziehung, Elementar-
erziehung, besondere Hilfen flir schulpflichtige Kinder);
I allgemeine Fbrderung junger Menschen (auBerschulische Jugendbil-
dung, politische Bildung, internationale Begegnungen, kulturelle
Bildung, naturwissenschaftlich-technische Bildung, soziales Enga-
114 -
gement, Geselligkeit, Spiel, Sport und Erholung, Ausgleich sozia-
ler Benachteiligung) ;
I Fbrderung der Erziehung in der Familie (El ternbildung, Familien-
beratung, Unterstutzung alleinstehender Elternteile, Unterstutzung
werdender Mutter, Hilfe bei Auslibung der Personensorge, besondere
Verpf lichtung, Beratung, Unterstutzung und Behandlung)
Die "besonderen Leistungen der Jugendhilfe" waren an den Rechtsgrund-
satz liber "gerichtliche Entscheidungen" gebunden.der Ziele und Funk-
tionen von JugendhilfemaSnahmen dieser Art unmiBverstandlich definier-
te. "1st der Jugendliche nicht gewillt oder nicht in der Lage, das
Angebot einer nach diesem Abschnitt angezeigten Hilfe anzunehmen
und an ihrer Ausfuhrung mitzuwirken, kann das Vormundschaf tsger icht
anordnen, daD die erforderl iche Hilfe gewahrt wird." (§ W] RE)
Die folgenden zwei Aufgabenschwerpunkte erfafiten
I Hilfen in Pflegestel len und Heimen (Erziehung in einer Pflegestel-
le; Vermittlung von Pflegestellen; Aufnahme in ein Kinderheim
oder Wohnheim ) ;
I Hilfen bei Gefahrdung oder Stbrung der Entwicklung (Diagnose und
Gesamtplan; offene und halboffene Hilfen - sozialpadagogische
Einzel-, Gruppen- oder Familienarbei t, heilpadagogische Behand-
lung, Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie-; Erziehungskurse;
Erziehungsbeistand; Hilfe auBerhalb der eigenen Familie; Hilfe in
einer anderen Familie; Hilfe in einer Einrichtung; Hilfe in einer
Wohngemeinschaft; Hilfe in einem sozial-therapeutischen Jugend-
heim) .
3 ZUR FUNKTION DER SPALTUNG IN "NORMALE", GEFAHRDETE UND
ENTWICKLUNGSGESTORTE )UGEND DURCH DAS JUGENDfflLFESYSTEM
Der Katalog jugendfiirsorgerischer MaBnahmen sollte damit erweitert
und in alien Teilen an die Mdglichkeit vormundschaftsgerichtlicher
Eingriffe gebunden werden. Die eindeutige Definition der MaBnahmen
als "Hilfe bei Gefahrdung oder Stbrung der Entwicklung" im Gegen-
satz zur "allgemeinen Fbrderung junger Menschen" nahm das herrschen-
de politische Prinzip des Verha'l tnisses von Jugendpflege zur Jugend-
fursorge auf. Im Mittelpunkt steht die Auffassung von einer Jugend,
die einerseits als sogenannte "normale", fbrderungswiirdige Jugend er-
faSt wird, andererseits als "dissoziale" oder gefahrdete und ent-
wicklungsgestbrte Jugend der Flirsorge bedarf. Die Verlagerung der
Konfliktursachen in die individuelle Verantvwrtlichkeit der Jugend-
lichen und die Manifestation eines Verschuldensprinzips sind zwei
bewa'hrte Instrumente zur Legitimation von Zwang und Gewalt durch ju-
gendflirsorgerische MaBnahmen.
Der dritte Jugendbericht der Bundesregierung 1972 hatte hier bereits
eine Art sozialisationstheoreti sche Systematisierung von zwen Haupt-
formen der Konflikte von Jugendlichen geliefert.
"Erstens gehoren dazu die mehr oder weniger in alien kompl izierten,
hochentwickelten Gesel lschaf ten auftretenden Anpassungskonf 1 i kte Ju-
aendlicher beim Hi neinwachsen in diese Gesel I schaf ten. Sie sind eng
verbunden mit dem Anspruch Jugendlicher auf eigene Lebensformen;
Vernal tenswei sen und Ori entierungen. Dies fiihrt zumindest von einem
hestimmten Punkt an zu Konflikten mit der Erwachsenenwel t . Solche
115 -
Konflikte konnen latent bleiben oder manifest werden und sich in
unterschiedl ichen Formen als 'Rebellion1, als Drangen auf Verande-
rung, als sozialer Riickzug, als Entfremdung und Ablehnung oder als
jugendliche Subkultur auBern.
Davon zu unterscheiden sind zweitens jene Konflikte, die sich aus
Benachtei 1 igungs- und Deklassierungsprozessen ergeben und sich in
den verschiedensten Formen von Di ssozial i tat und Kr imi nal i tat a'us-
sern. Sie stehen nicht selten in einem engen Verursachungszusammen-
hang mit dem Ausfall elementarer Erziehungsleistungen und treten in
schichtspezif isch d i f ferenzierten Formen auf." (10)
Auf der einen Seite liegt dieser Kategorisierung ein Jugendbegriff
zugrunde.der von einer quasi naturwiichsigen Anpassungskrise der Ju-
gend wahrend der Phase des Hineinwachseris in die Erwachsenengenera-
tion ausgeht und damit zu verhindern sucht, da(3 "Konf I i ktverhal ten
und ... Konf 1 iktverarbei tung von Jugendl ichen ... als Ausdruck pro-
blematischer und historisch ilberwindbarer gesamtgesel 1 schaf tl icher
Verhal tnisse (begriffen) oder sie gar in Zusammenhang mit den aus
der kapi tal isti schen Produkt ionsweise resul t ierenden Antagoni smen,
Abhangigkeitsverhal tnissen und Herrschaf tszwangen (gebracht wird)".
(11)
Dagegen wird ein anderer Teil der Jugend mit Konflikten identif iziert,
deren Form als Dissozial itat und Kriminalitat erscheint, deren Ursa-
che dennoch auf Sozialisationsdefizi te der Familie reduziert bleiben.
Nach erfolgter Abtrennung dkonomischer, sozialer und politischer
Bedingungen von Lebensumstanden und Entwicklungschancen bleibt das
Ziel der mit dieser Jugend befaBten Jugendflirsorge nur n'och der Aus-
gleich von Defiziten und die Vermeidung und Linderung von Gefahr-
dungen oder die Ausgl iederung von Stbrungen.
Diese Auffassung deckt sich nun auch mit der bereits zitierten Po-
sition des bayerischen Staatsmiriisteriums, nach der "manche Jugend-
liche bei der Einordnung in die Gesellschaft Anpassungsschwierig-
keiten" haben und hier die auBerschulische Jugendarbeit jugendpfle-
gerische Aufgaben zur Vermeidung von Gefahrdungen erhalt. Pflege
der Jugend leitet sich aus einer Zielvorstellung ab zur Aufrechter-
haltung bestehender Verhal tnisse und einer Absage an aufklarerische
und interessenorientierte Konfliktstrategien von Jugendarbeit. In
der Erwartung der Trager von Jugendhilfe, daB Jugendliche die jugend-
pflegerischen Angebote konsumieren und sich nicht offensiv an den
eigenen Interessen, Bedurfnissen und Forderungen orientiert mit ih-
nen auseinandersetzen, drlickt das herrschende Verstandnis von Jugend-
pflege "als eine Form der vorbeugenden Fursorge" (12) aus.
Folgerichtig kritisierte Bayern am Referentenentwurf."ebensowenig
gehoren alle jene Gebiete in dieses Gesetz, die, wie'die ' Hi 1 fen zur
Unterstutzung und Erganzung der Schul- und Berufsausbi ldung ' (§ I
Abs. 2 JHG) Oder Aufgaben der Elementarerziehung ( § 28) dem Er-
ziehungs- und Bi ldungsbereich zugehoren und dadurch nicht in die
verfassungsrechtl iche -Zustandigkei t des Bundes, die offentliche Fur-
sorge gesetzlich zu regeln, fallen."
116
" DIE BEHANDELN UNS, ABER WIR KONNEN DIE NICHT BEHANDELN"
4. ZUR KRITIK AM REFERENTENENTWURF ALS KRITIK
AN DER HERRSCHENDEN FUNCTION VON JUGENDFURSORGE(14)
Zur Vorbereitung der sozialpadagogischen Basis auf dem 5. Jugendhil-
fetag in Hamburg bildeten sich in mehreren Stadten Vorbereitungs-
gruppen um in einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Grund-
konzeption der geplanten Reform und seiner einzelnen Teile eine dif-
ferenzierte Stell ungnahme zu erarbeiten, an der sich die Diskussio-
nen in Hamburg orientieren sollten. Erneut bildete sich die'Sozia-
listische Aktion 5. Jugendhilfetag'und Libernahm die organisatori-
sche Strukturierung.
Aber es kam anders.
"Am 29.5. 1 974 wird nach massiver Hetze gegen die Sozial i s tische Ak-
tion und unter dem Vorwand einer vermuteten Strategie der Chaotisie-
rung des 5. DJHT durch die Sozial ist i sche Aktion der 5. Deutsche
Jugendhi lfetag abgesetzt.
Mit dieser Absage, die von der AGJ mit einer Dif famierungskampagne
gegeniiber der Sozial ist i schen Aktion ... eingeleitet wurde, hatte
die AGJ, als eine vom Bundeshaushal t abhangige Institution, die ihr
zur VerfCgung stehenden Mittel inst i tut ionel ler Gewalt angewendet,
um die 'Fachbasis' mundtot zu machen. Dieser Gewalt sollte die brei-
te Solidaritat der Betroffenen entgegengesetzt werden. Gemeinsam
mit dem Bund demokrat ischer Jugend und den Jungdemokraten forderte
die Sozial isti sche Aktion alle Basi sgruppen, Jugendverbande, Sozial-
arbeiter, Wi ssenschaf t ler zur Teilnahme an der konst i tu tierenden
Tagung ' jugendpol i t isches Forum1 auf". (15)
Der Liber die Reformdiskussion eines neuen Jugendhi lferechts hinaus-
reichenden antikapitalistischen Auseinandersetzung auf dem JupoFo
uber Ziele und Aufgaben einer sozialistischen Jugendpolitik war die
konzentrierte Kritik am Gesetzentwurf vorausgegangen. Die wichtig-
sten Inhalte stellen in einer Zusammenfassung die bisher konsequen-
teste und von einer breiten fachlichen und politischen Qffentlich-
keit beachtete Kritik an der vorherrschenden Funktion der Jugend-
hilfe im blirgerlichen Staat dar.
Wei terer Ausbau der mit Eingriffen verbundenen FursorgemaBnahmen
"Die Zerstorung der
und Jugendl ichen, di
zuletzt auch iiber in
zepte betrieben, die
blenden und auch ein
Stadtteil , Schule un
Ein wesentl iches Str
Storung der Entwickl
nen Systemzusammenha
scha'rfung zugeordnet
rakter'nicht ausreic
eingreifende ('wirks
wei se die 'fachl iche
ihr emanzipatorische
sozialen Ident
e ja in erster
dividual isierei
deren spezifi
e aktive Betei
d Betrieb am '
ukturmerkmal d
ung1) ist, daB
ng stehen und
sind. Wenn 'H
hen1 , sind stS
amere'!) 'gebo
Beratung1 (§
s Potential".
itat der proletar ischen Kinder
Linie betroffen sind, wird nicht
nde und gruppendynami sche Kon-
sche Sozial isationserfahrungen aus-
ligung ihrer Bezugsgruppen in
Hi Ife1 -ProzeB nicht vorsehen ...
er ( ' Hi 1 fen bei Gefahrdung oder
sie in einem relativ geschlosse-
einander im Sinn zunehmender Ver-
ilfen1 mit geringem Sanktionscha-
rker in die Rechte der Betroffenen
ten1. Dadurch verlieren beispiels-
52 RE) und die ' Wohngemeinschaf t '
16)
- 117 -
Ausbau des "psycho-sozialen" Diagnose-Systenis gegen den Wil len und
die Entscheidungen der betroffenen Kinder und Jugendlichen
"Eine Moglichkeit, den Betroffenen die sie
dungen weitgehend abzun ehmen und sie als
MaBnahmen zu qual if i zieren ('die behandeln
nicht die behandein! ' ) , bietet sich an in
sozial-technokratischen Diagnose- und Zuwe
lige Kinder und Jugendliche werden, um sie
zunachst als Individuen identi f iziert und
cho-sozialen Diagnose1 eventuell auch eine
unterworfen. Diese entscheidet uber die Zu
zur Gruppe der ' Entwicklungsgefahrdeten un
Festlegungen hinsichtlich der 'gebotenen H
betreffenden Entschei-
Objekte admini strati ver
uns , aber wi r kSnnen
Form eines ausgekliigel ten
isungsverfahrens. Auffal-
in den 'Griff zu bekommen,
nach % 55 RE einer 'psy-
r besonderen ' Begutachtung '
ordnung des Betroffenen
d -gestorten1 und trifft
ilfen'". (17)
Da das System der Begutachtung und Diagnose bereits auf eine reiche
Erfahrung in Aufnahme- und Durchgangsheimen sowie Kinder- und Ju-
gendpsychiatrischen Anstalten (sogenannten Kliniken) zuriickgreifen
kann, seien die Berichte von zwei betroffenen Jugendlichen exempla-
risch zitiert.
"Ja, z.B. bei meinem Heimatjugendamt ist von einer Psychologi n ei n
Gutachten uber mich gemacht worde^ und zwar hat die nur mit meinen
Eltern gesprochen, ich bin da gar nicht zu Worte gekommen und darauf-
hin ist dann uber mich ein Gutachten geschrieben worden. Und ich hab
daraufhin mein Kind nicht bekommen, was jetzt noch im Heim ist. Wir
werden selber wie Kinder behandelt, obwohl ich selber schon ein
3ja'hriges Kind habe, ja. Man lSBt mich gar nicht versuchen, auf eige-
nen FuBen zu stehen. Ich ha'nge da in so einer Abhangigkei t drin, ja,
und da kann ich einfach nichts dran andern."
"Ich war mal drogenabhangig, und ich wollte in ein Therapi ezentrum
zur Entziehungskur und da hab' ich vom Jugendamt das Einverstandn i s
bekommen, jedoch muBte ich aufs Jugendamt gehen, und dort haben sie
mir gesagt, daB sie mich fur zwei-drei Stunden fur ein arztliches
Gutachten in eine psychiatr i sche Klinik bringen muGten, und da bin
ich mitgegangen und da haben sie mir dann eroffnet, daB ich aufgrund
eines Paragraphen dort bleiben mUBte und da ist mein Vertrauen zum
Jugendamt vollig zerstort worden." (l8)
Wie notwendig dieser Komplex in der zukiinftigen Auseinandersetzung
um die TeiV'reform" des Jugendhilferechts in der Jugendfiirsorge Be-
achtung finden muB, darauf weist eine Meldung in der FR vom 31.7.1975
hin, Unter der Oberschrift "Hilfe bald fruher mbglich - psycho-so-
ziales Langzeitprogramm fiir Kinder und Jugendliche" wird Liber die
Plane der Bundesregierung berichtet.
". . .gefahrdete Kinder und Jugendliche (sollen) fruher ermi ttel t wer-
den, damit auch moglichst friih mit einer Beratung, oder, wenn notig,
mit einer Behandlung begonnen werden kann. Diesem Zwecke solle das
von ihr angekundigte ' psycho-sozia le Langzeitprogramm' dienen, das
aus einem Verbundsystem von Ersten Hilfen bestehe." Es wird also mit
einer Art Ermittlungsverfahren zur Frliherkennung psycho-sozialer Ge-
fahren und Stbrungen zu rechnen sein, mit dem die schulpsychologi-
schen Beratungsdienste, Kinder- und Jugendpsychiatrischen Einrich-
tungen und die Erziehungs-, Jugend- und Elternberatungsstellen be-
- 118
auftragt werden. Die Entwicklung zu Beratungszentren mit einem mehr-
dimensionalen Therapieangebot ist bereits im Entstehen. "Zur Zeit
sind zwei uberregional e Beratungszentren ... in Regensburg, Eich-
statt-Mar ienstein ... im Bau. Ein weiteres ... ist in Memmingen im
Entstehen. Erste Vorgespracfie fiir weitere Beratungszentren in Wurz-
burg, Bayreuth und Augsburg wurden gefuhrt", lautet eine exemplari-
sche Meldung aus Bayern. (19)
DaB diese Zentren in CDU/CSU geflihrten Bundesl andern gezielt in die
"freien" Hande der konfessionellen Verbande gelegt werden sollen
ist ebenso klar, "...das Ministerium (Bayern) verweist auf das vor
al lem in der Jugendhilfe bewahrte Prinzip, daB sich der Staat auf
eine anregende und unterstutzende Funktion beschranke. Die Initia-
tive der freien Wohlfahrtsverbande ... habe Vorrang". (20)
Wir wollen dennoch nicht bestreiten, daB sich auf der Grundlage indi-
viduell auBernder psychischer Verhaltens- und Entscheidungskonflikte
von Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern als AnlaB Oder Aus-
loser einer Beratung, eine Aufklarung Liber gesellschaftliche Zustan-
de im Sinne bewuBter Wahrnehmung von auBeren Ursachen der erlebten
Probleme entwickeln lieBe, Diese Annahme basiert auf der Erfahrung
einiger Beratungsstel len, daft die Betroffenen das sonst erlebte
GefLihl der eigenen Schuld, des Versagens und der Hilflosigkei t im
Laufe des Beratungsprozesses verloren, wenn der gesamte Lebenszusam-
menhang in die Beratungsarbeit aufgenommen wurde. Die Leute erkannten
vielfach, daB die sonst bei ihnen auftretenden Schuldgeflihle erst
durch eine Kette von negativen Erfahrungen in den spezialisierten
Amtern und Stellen durch die entfremdete Bearbeitung eines Teilaspekts
ihrer meist elenden Lage produziert wurden.
Durch die neue Erfahrung war es ihnen manchmal - wenn liberhaupt -
mbglich, an der notwendigen Problembewaltigung mi tzuarbeiten und da-
fur aktiv einzutreten. Ober die Grenzen und Behinderungen dieser Ak-
tivitaten durch eine Beratungsstelle mit sozialstrukturell orien-
tiertem Konzept gibt fol gender Berichtsauszug Auskunft:
"Dort, wo es liberhaupt einige wenige Ansatze gegeben hat, daB die
Betroffenen selbst beginnen, ihre Interessen durchzusetzen, hat es
nicht nur Schwi er igkei ten bei den Betroffenen selbst gegeben, sondern
auch unverstandl iche Reaktionen von inst i tut ionel ler Seite ... Erstaun-
ti ch dabei ist, wie schnell sich offensicht 1 ich die betreffenden Be-
horden von einigen kritischen HuBerungen bedroht fuhlen".
Ober die Ursachen dieses Zustandes und die prinzipiel len Grenzen fiir
Veranderungsmbglichkeiten im professionellen Rahmen zeigt eine ande-
re Textstelle:
"...der bloBe Appell, Ratsuchende, bzw. Teile der Kreuzberger Bevol-
kerting sollten aktiviert werden, an der Beseitigung strukturel ler
Mangel (Sani erungsf ragen , Isolation von Familien, Arbei ts los igkei t
usw ) innerhalb entsprechender politischer Gremien mi tzuwi rken, (war)
einseitig und illusionar ... dies zunachst deshalb, well sich vie-
le Familien in einer Lebenss i tuat ion befinden, die es ihnen weit-
aehend unmbglich macht, an gesel 1 schaf tspol i t i schen Veranderungen
mitzuwirken. Fiir diejenigen, deren vorrangige Schwier igke 1 1 es ist,
ihre Existenz zu sichern und zu erhalten, stehen meistens die eige-
nen Probleme im Vordergrund. ...ihre Erfahrung besteht ja gerade
riarin von politischen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlos-
sen zu sein und bestehende Inst i tut ionen erleben sie haufig als
119 -
ihnen feindlich gesonnen. Dieses Gefiihl von Ohnmacht und Ausgeschlos-
senheit i st bei den Betroffenen oft so bestimmend, daG es nur
schwerlich durchbrochen werden kann." (21)
Je starker nun eine Beratung durch die Spezialisierung des Angebots
durch wissenschaftliche Fachkrafte (Psychologen, Therapeuten, Arzte)
gekennzeichnet ist, je geringer werden die eigenen Mbglichkeiten
beurteilt, an der Bewaltigung des Problems mitzuwirken. Wenn zum
allgemeinen Anstieg der spezialisierten Qual ifikation der Mitarbeiter
von Beratungsstellen eine weitere Spezialisierung (Differenzierung)
in der Methode erfolgt und die betroffenen Kinder und Jugendlichen
in einem Beratungs- Oder BehandlungsprozeB sogar verschiedenen Be-
gutachtungsverfahren unterworfen werden (im RE als mehrdimensionale
Diagnose vorgesehen), verstarkt sich das Gefiihl der totalen Abhangig-
keit, der Unmundigkeit und ein Identitatsverlust ist die zwangslau-
fige Folge.
Die Einbeziehung aller Lebensbereiche als Alternative zu isoliert
betrachteten Lebensa'uBerungen (Einzelkonflikten) in der Beratung
wiirden jedoch auf dem Gebiet der psycho-sozialen Diagnose Einrich-
tungen erfordern, die von spezialisiert arbeitenden Kliniken und
psychologischen Diensten getrennt sind Oder letztere in eine stadt-
teilorientierte Sozialisationsberatungsstelle integrieren. Mit kei-
ner dieser Mbglichkeiten ist zu rechnen.
wichtigster Angriffspunkt des geplanten psycho-sozialen Langzeit-
programms ist deshalb die beabsichtigte Diagnose einer psychischen
Gefa'hrdung Oder Stbrung als Grundlage einer Zuweisung von Kindern
und Jugendlichen zu einem Krankheitszustand, der sie nebeh dem zu-
nehmenden Individualisierungsdruck noch weitgehender der Willkur
und den ZwangsmaBnahmen der Jugendfursorge ausliefern wiirde.
Die bereits jetzt von fortschrittlichen Kollegen der Jugenda'mter
praktizierte Methode des weitgehenden Schutzes der Kinder und Ju-
gendlichen vor Einweisungen in Kinder- und Jugendpsychiatrische
Kliniken muB auf dieser Grundlage einer Kritik an der Funktion die-
ser Beobachtungs- und Diagnoseverfahren ausgebaut werden.
• GEGEN DIE REDUZIERUNG DER FAMILIENERGANZENDEN BERATUNGS-
INHALTE AUF INNERFAMILIALE KONFLIKTE
ZUR EFFEKTIVIERUNG DER FAMILIENERZIEHUNG
DiesesKonzept beinhaltet deswegen eine Verscharfung der Kontrolle,
weil der Beginn "fachlicher Beratung" und die damit verbundene
"therapeutische Behandlung" bei "Verhal tensauf fall igkei ten, Ent-
wicklungsstbrungen und Erziehungsschwierigkeiten" einsetzt und da-
durch allein das Problem des gestbrten Erziehungsprozesses der die
Eltern oder andere Erziehungs- oder Bildungsinstanzen (insbesondere
die Schulen) belastet und in den Mittelpunkt des Beratungsin'teres-
ses stellt.
• GEGEN DAS FEHLENDE VORSCHLAGSRECHT DER JUGENDLICHEN
BEIM EINSATZ EINES ERZIEHUNGSBEISTANDES
UND
DIE VERSCHARFUNG DER BERICHTSPFLICHT GEGENUBER DEM TRACER
DER JUGENDHILFE DURCH DIE GESETZLICH VERANKERTE PFLICHT
ZUR MITTEILUNG UBER "JEDEN UMSTAND .... DER ANLAB GEBEN
KONNTE, WEITERE HILFEN ZU GEWAHREN" (§ 58 RE)
120
Damit sollte an einem zentralen Punkt des persbnlichen Verhaltnis-
ses zwischen dem betroffenen Jugendlichen und Erziehungsbeistand die
Grundlage fur die Entwicklung einer solidarischen Vertrauensbezie-
hung verhindert werden.
• GEGEN DIE ZUNEHMENDE REPRESSION IN DER HEIMERZIEHUNG,
DESSEN HOCHSTE STUFE DAS "SOZIAL-THERAPEUTISCHE JUGENDHEIM'"
SEIN SOLL (§ 64 RE)
"Wenn die f lankierenden MaGnahme
kraft' der eigenen Familie nicht
Fijrsorgeerziehung 0 Erzi ehungshi
zum Zuge. Ihre Aufgabe besteht da
gendlichen soweit zu 'festigen',
gegliedert werden konnen. Zu die
Bindungen (nicht etwa die zu son
gepflegt. Urn die ' Wi rksamkei t ' d
werden wesentliche Grundre tspo
gerichtlich angeordnete "Hi 1 fen"
der Freiheit der Person (Art. 2,
der FreizLigigkeit (Art. 11, Abs.
der Wohnung (Art. 13 des GG). (§
n zur Unterstutzung der 'Erziehungs-
mehr 'helfen', koramt die klassische
Ifen auSerhalb der eigenen Familie')
rin,die auffalligen Kinder und Ju-
daG sie wieder ins Elternhaus ein-
sem Zweck werden auch die familiaren
stigen Bezugsgruppen! ) besonders
ieser 'Hilfen' zu gewahr leisten,
sitionen des Betroffenen" (22) flir
eingeschrankt. So die Grundrechte
Abs. 2, Satz 2 des Grundgesetzes) ,
1 des GG) und der Unverletzlichkeit
47 RE)
5. STRUKTURELLE BARRIEREN GEGEN DIE ZUSAMMENARBEIT
DER KOLLEGEN IM JUGENDPFLEGE- UND JUGENDFURSORGESEKTOR
Die in vielen Teilen differenzierte Kritik an der Jugendhilferechts-
reform hatte einen Umfang an bffentlichen Stellungnahmen erbracht
(23), wie er nach der Restauration burgerlicher Jugendhilfe nach
1949 noch nicht vorhanden war. Die im JupoFo zusammengeschlossenen
Initiati vgruppen und Jugendverbande waren sich einig in der Ein-
schatzung der politischen Hintergriinde der von der Bundesregierung
geplanten Reform; "weil die Verschlechterung der Lebensverhaltnisse
fur die Arbeiterklasse den Nachwuchs von gefiigigen und arbeitsfahi-
gen Lohnarbeitern gefahrdet." (24) "Diese Bestrebungen haben zum
Ziel, die Loyalitat der Kinder und Jugendlichen zum BRD-Kapi ta 1 i smus
und zum Staat ideologisch und d iszi pi inarisch besser zu sichern.
Konflikte im Bereich der Sozialarbeit zu befrieden und damit der ra-
dikaleri politischen Kritik am Jugendhi 1 fesystem, die der behordli-
chen Jugendhilfe die Sel bstorgani sat ion der von Deklass ierung be-
drohten Jugendlichen entgegensetzte, die Spitze zu brechen". (25)
Auch in der Einschatzung iiber die Auswirkungen eines in Kraft tre-
tenden JHG bestanden klare Vorstellungen. Es "sieht MaGnahmen vor,
die allesamt auf die burokrat i sche Bevormundung der Jugendlichen
hinauslaufen ... (es) ist gegen die Interessen der arbeitenden Ju-
gend gerichtet (und) behindert die Erkenntnis und die politische
Durchsetzung dieser Interessen. Es zielt darauf ab, die Sozialarbei-
ter, Erzieher und Lehrer noch direkter als bisher zur Durchsetzung
der'bUrgerlichen Erziehung und Schikanierung gegen die arbeitende Ju-
gend einzusetzen". (26)
121
Die Barrieren bei der Oberwindung der Trennung von Jugendfiirsorge
und Jugendpflege " " "
Das JupoFo stellte in der Tagung vom 6. bis 8.12.1974 in Frankfurt
mit ca. 2 500 Teilnehmern - darunter etwa 500 Jugendlichen (27) -
vier Arbeitsschwerpunkte in den Mittelpunkt der Diskussion:
- Arbeitssituation und Jugendarbeitslosigkeit
- Familienkonflikte und -flucht von Jugendlichen
- Freizeitsi tuation und Selbstorganisation von Jugendlichen
- Jugendhilferecht
Dabei zeigte sich die Schwierigkeit, die innerhalb der Jugendhilfe-
praxis bestehende und immer wieder mit organisatorischen und diszi-
plinarischen Mitteln von den verbandlichen Oder staatlichen Biirokra-
tien durchgesetzte Trennung zwischen Jugendpflege und Jugendfiirsorge
aufzuheben. Bezogen auf die massiven Behinderungen einer Jugendar-
beit - insbesondere in den staatlichen Freizeitheimen -,deren histo-
risch neu entwickeltes Interesse der Aufnahme von Konflikten der Ju-
gendlichen in Familie, Schule, Ausbildung, Arbeit, auf rechtlichem
Sektor und der materiellen Sicherung der Existenz gait, ha'tte das
JupoFo die Frage nach der Entwicklung von Bedingungen einer geziel-
ten Zusammenarbeit zwischen Kollegen des Jugendpflege- und Jugend-
fiirsorgesektors unter den bestehenden Verhaltnissen zu einem Ar-
beitsschwerpunkt machen mu'ssen.
FLir viele Jugendliche bedeutete die historisch neue Mbglichkeit einer
offenen und solidarischen Diskussion in den Freizei teinrichtungen
oft die Aktualisierung ihrer Konfl^kte aus dem Gesamtfeld ihrer Er-
fahrungen am Ort ihrer Freizeit. Insbesondere die Jugendzentrumsbe-
wegung und die neuen Erfahrungen mit Formen der Selbstorganisation
und Selbstverwaltung hatte nach 1972 auch auf die traditionellen Frei-
zeiteinrichtungen (Hauser der offenen Tut) einen splirbaren EinfluB
hinsichtlich der Inhalte und Aktivitaten genommen. Jugendliche woll-
ten immer haufiger als Notlosung in den Freizeiteinrichtungen Liber-
nachten, weil sie es bei den Eltern nicht mehr aushielten Oder raus-
geschmissen wurden, auf keinen Fall aber in ein Heim wollten. Weiter-
gehende Forderungen richteten sich auf die gleichzeitige und lang-
fristige Nutzung von Jugendfreizeiteinrichtungen als Wohngemein-
schaft. Zumindest spielte in der Diskussion am Ort die existentnel-
le Oberlegung eine Rolle, zwischen Wohnen und Freizeit eine enge
Verbindung herzustellen und die erlebte entfremdende Isolierung zwi-
schen zentralen Bereichen des taglichen Lebens zu durchbrechen.
Ebenso traten zunehmend andere Probleme in den Mittelpunkt der Frei-
zeitdiskussion. Jugendgerichtsverfahren sollten und muBten vorberei-
tet und die Jugendlichen in der Verhandlung wenigstens durch die An-
wesenheit der Jugendarbeiter unterstlitzt werden. Arbeitssuche, An-
trage auf Arbeitslosengeld oder -hilfe, sowie Sozialhilfe waren
ebenso Gegenstand der Aktivitaten in den Freizei tstatten, wie die
Organisierung von Veranstal tungen und die Diskussion liber den Zusam-
menhang individuel ler Probleme mit den konkret erlebten Verhaltnis-
sen im Wohngebiet als sinnlich erfahrbarer Ausdruck gesel lschaftli-
cher Vernal tnisse.
Es handelte sich hier urn Ansatze einer gemeinsamen L5sung aktueller
sozialer Konflikte zwischen Jugendlichen und Jugendarbeitern, die
auf beiden Seiten subjektive Formen eines ausgeweiteten und durch
Solidarita't getragenen Handlungsfeldes entwickeln halfen. Dabei war
den Jugendarbeitern klar, daB die auftauchenden Forderungen der Ju-
122
gendlichen, traditionelle Inhalte der Freizeitgestaltung Uberschritten
und in die Kompetenz ebenso traditionel ler Form der Jugendfiirsorge
fiel. Eine Reihe von Erfahrungen von Kollegen der Freizeitheime mit
den Jugendpflegern der Jugendamter stellte sie vor unliberwindbar
scheinende Probleme. Sie erhielten wederdie Kompetenz noch die er-
forderlichen Mittel, den Forderungen der Jugendlichen eine materiel-
le Grundlage zu verschaffen.
Die strukturellen Hintergrlinde fur die Aufrechterhaltung der Tren-
nung beider Jugendhilfebereiche werden am Beispiel dieses Erfahrungs-
sektors exemplarisch deutlich.
Insgesamt war auch in den Freizeitstatten eine Dffnung der Diskussion
fur kollektive Probleme mbglich geworden. Sie sensibilisierte die
5ozialarbeiter und Sozialpadagogen fur den inneren Zusammenhang ver-
schiedener Probleme der Jugendlichen auBerhalb der Freizeit mit der
Freizeit. Der Begriff des Lebenszusammenhanges der Jugendlichen
druckt diese Entwicklung aus.
Entscheidende Bedeutung in dieser Entwicklung erhalt die Erfahrung,
da(3 die kunstlich aufrechterhaltende Aufspaltung von Lebensbereichen
- die die Jugendlichen zumindest in einer zeitlichen Abfolge als
zusammenhangend erleben, deren einzelne Erfahrungsbereiche indes
durch spezialisierte gesellschaftliche Einrichtungen behandelt wer-
den und dadurch auch im BewuBtsein in einzelne Teile zerfallen
(hier Freizeit, dort Arbeit, Schule oder Jugendamt usw. ) - durch die
Aktualisierung und gemeinsame Aktivitaten zu lockern und punktuell,
d.h. zeitlich begrenzt, aufhebbar ist. Da es sich jedoch nur urn erste
Ansatze und Versuche handelte, die strukturellen Barrieren zu unter-
laufen und in Ei nzelfallen die Trennung beider Bereiche zu lockern,
war es schwer, daraus strategische Forderungen zu entwickeln, zumal
die betroffenen Jugendlichen in den meisten Fallen gezwungen waren,
trotz Unterstutzung durch Jugendarbeiter, die Institutionen der Ju-
gendfiirsorge (Jugendgerichtshilfe, Jugendamt, Fami lienfursorge, So-
zialamt usw.) aufzusuchen und sich damit der durch gesetzliche Rege-
lungen gesicherten Arbeitsteilung des Staates zu unterwerfen.
In diesem Verbund institutioneller Kompetenzen auf arbei tsteiliger
Grundlage kommen zwei Problemkomplexe zum Tragen, die eine politi-
sche Diskussion in der gewollten Richtung behinderten:
i Bei "vorwiegend in der Jugendarbeit und ... im Freizei tbereich an-
setzenden Jugend ini t i at i ven ... wi rd meist die 'Freizeit' als beson-
derer Lebensbere ich abgetrennt, und die in der Freizeit unmittelbar
qeauBerten Bedurfnisse und Interessen der Jugendlichen werden abso-
lut gesetzt ... Bei Organ isat ionen und Institutionen der Jugendar-
beit bzw. Padagogen diirfte dieselbe Neigung (die erlebte Aufspaltung
von Lebensbereichen) in der Arbeitsteilung begrundet sein, die ihr
Handlungsfetd aufspaltet, sowie in inst i tut ionel len und politischen
Schranken, die ihre berufliche Arbeit einengen..." (28)
| Fur die Sozialarbeiter der Jugendfiirsorge kommt erschwerend hinzu,
daB die blirokratischen Bindungen ihrer Handlungsvollzuge im Kon-
text des gesetzlich fixierten MaBnahmenkatalogs, sie daran hindern
(sollen) an Erfahrungsprozessen der Jugendlichen teilzunehmen. Ihre
komDetenz vermittelt sich durch die Definition einer Konfliktlage
der Jugendlichen als "Schwierigkeit, Auffal ligkei t, Stdrung, Gefahr-
dung, Verwahrlosung, Kriminalitat", die es mit vorgeschrnebenen
- 123 -
"Hi 1 fen" und MaBnahmen zu beheben gilt. Die Frage nach einer konkre-
ten solidarischen Unterstu'tzung von Jugendlichen und Arbeiterfami-
lien durch Sozialarbeiter der Jugendflirsorge darf daher nicht dabei
verharren, wie unter extensiver Ausnutzung bestehender Gesetze, zur
Verfligung stehender Informationen und Kenntnisse der i nternen Macht-
verhaltnisse in den Institutionen, die Betroffenen optimal beraten,
materiel 1 unterstiitzt und vor akuter Gefahr einer ZwangsmaBnahme
geschutzt werden konnen. Vielmehr sollte darauf hingearbei tet wer- _
den, daB die historisch erka'mpften Ansatze einer Zusamraenarbeit zwi-
schen den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe und des Bildungs-
sektors wiederaufgenommen und die Frage der Berlicksichtigung des
engen Bezugs zwischen den einzelnen Erfahrungssektoren der Sozialisa-
tion noch differenzierter beantwortet wird.
6. RECHTLICHE, POLITISCHE UND ORGANISATORISCHE HANDLUNGS-
BEDINGUNGEN INNERHALB DER JUGENDFURSORGE
"Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leibl ichen,
seelischen und gesel 1 schaf 1 1 i chen Tiicht igkei t". Dieser Rechtsgrund-
satz des § 1 JWG ist seit mehr als 50 Jahren der Generalanspruch
staatlicher Jugendhilfe. Staatliche Jugendamter und Trager der
"freien" und privaten Jugendhilfe sollen mit jugendfiirsorgerischen
Mitteln die Realisierung des Rechts auf Erziehung garantieren, wenn
der "Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfullt
wird" .
§ 4 JWG weist der Jugendflirsorge eine Reihe von Pflichtaufgaben zu,
die bereits eine ebenso 50jahrige Tradition seit Inkrafttreten des
Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1924(29)haben und "das Kernstiick des
Aufgabenbereichs des Jugendamtes" sind. (30)
§ 4 JWG "Aufgaben
1 . der Schutz der
2. die Mi twi rkung
3. die Mi twi rkung
Erziehungshi lfe
k, die Jugendgeric
gesetz,
5. die Mi twi rkung
chen Arbei tern
6 . die Mi twi rkung
Kriegsbeschadig
7. die Mi twi rkung
sondere bei der
(30)
des Jugendamtes sind
Pflegekinder gem. der §§ 27 - 36,
im Vormundschaf tswesen gem. der §§ 37~5^ a>
bei der Erzi ehungsbei standschaf t , der freiwilligen
und der Fiirsorgeerziehung gem. den §§ 55_77,
htshi lfe nach den Vorschriften des Jugendger ichts-
bei der Beaufs icht igung von Kindern und jugendli-
nach naherer landesrecht 1 icher Vorschrift,
bei der Fiirsorge fur Kr iegerwaisen und Kindern von
ten,
in der Jugendhilfe bei den Pol izei behorden, insbe-
Unterbri ngung zur vorbeugenden Verwahrung, ..."
§ 5 JWG formuliert "weitere Aufgaben", die eine formale Verbindung
der Jugendpflege und Jugendflirsorge darstellen, jedoch die inhaltli-
che und organisatorische Trennung beider Bereiche nicht aufheben.
Hinsichtlich der Auswirkungen beider Arbeitsbereiche der Jugendhilfe
auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen besteht dadurch
ein Gegensatz. Die innerhalb der Jugendflirsorge im Mittelpunkt ste-
henden Kontroll- und EingriffsmaBnahmen fuhren bei einem groBen Teil
der Kinder und Jugendlichen zu Trennungen von ihren Familien, wahrend
124
die Jugendpflege darauf gerichtet sein soil, die Entwicklung derJugend
durch Freizeitangebote, Jugenderholungs- und Sportprogramme sowie
politische Bildung zu fbrdern. Die oft strengen Kompetenzabgrenzun-
gen verhindern die zwingende Notwendigkeit einer inneren Verzahnung
von Jugendpflege und Jugendflirsorge, obwohl "schon der Kommentar
Fiedeberg-Pollichkeit zum RJWG von 1922 betont, daB die Hi 1 fen flir
die gesetzlich vom Jugendamt besonders zugewiesenen Kinder und Ju-
gendlichen ... sinnvoll gar nicht geleistet werden konnen, ohne daB
genugend Einrichtungen der allgemeinen Jugendfbrderung zur Verfligung
stehen. Darliberhinaus liegt es auf der Hand, daB ein Teil der Not-
fa'lle gar nicht einzutreten brauchte, wenn hinreichende Einrichtun-
gen und MaBnahmen der allgemeinen Jugendhilfe zur Verfligung stlin-
den". (31) Es wird hier deutlich, daB den Tragern der Jugendhilfe
ebenso wie den Verfassern des 3. Jugendberichtes klar ist, wie eng
auf der konkreten Ebene der Existenz sozialer Probleme beide Jugend-
hilfebereiche inhaltlich zusammengehb'ren.
§ 5 JWG "(1) Aufgabe des
der Jugend erforderl ichen
zu fordern und gegebenenf
1 . Beratunq in Fraqen der
2. ~~
3.
Hi lfen fur Mutter und
Pflege und Erziehung
pf 1 ichtigen Kindern au
4. erzieherische Betreuun
Jugendlichen im Rahmen
5. allgemeine Kinder- und
ung von Kindern und Ju
6. rre izei thi 1 fen, politi
7. Erziehungshi lfen wahre
und Berufsta't igkei t ei
des El ternhauses,
8. erzieherische MaBnahme
derja'hrige ..."
Jugendamts ist ferner, di
Einrichtungen und Verans
alls zu schaffen, insbeso
Erziehung
Kind vor und nach der Geb
on Sauglingen, Kleinkinde
Berha I b der Schul e,
g von Sauglingen, Kleinki
der Gesundhei tshi 1 fe,
Jugenderholung, sowie er
gendl ichen im Rahmen der
sche Bildung und internat
nd der Beruf svorberei tung
nschlieBlich der Unterbri
e fiir die Wohlfahrt
taltungen anzuregen,
ndere fur
urt ,
rn und von schul-
ndern, Kindern und
zieherische Betreu-
Fami 1 ienerholung,
ionale Begegnung,
, Beruf sausbi 1 dung
ngung auGerhalb
n des Jugendschutzes und fiir gefahrdete Min-
§ 6 JWG pra'zisiert und erweitert die §§ 4 und 5 urn den Grundsatz,
daB "Hi lfen zur Erziehung fur einzelne Minderjahrige dem erzieheri-
schen Bedarf entsprechend rechtzeitig und ausreichend zu gewahren
sind" und Unterbri ngungen auBerhalb der eigenen Familie (Heim, ande-
re Familie, "oder einer anderen Einrichtung") den "notwendigen Le-
bensunterhalt" einschlieBt (Heinikosten, Pflegegeld, Sozialhilfe) .
nip Funktion der ambulanten Beratung im System Jugendfursorge
Ein zentraler Komplex jugendfursorgerischer Ta'tigkeit ist in der
Beratungspflicht enthalten. Durch das JWG werden den Jugendamtern
dennoch keine naher definierten Inhalte der Beratung vorgeschneben.
Allein die "Beratung in Fragen der Erziehung" (§ 5, Abs. 1, Nr. 1
1UG1 verpflichtet die Jugendamter allgemein. Auf welche erziehen-
^rhen Probleme diese Beratung bezogen sein und mit welchem Verstand-
nis von den Entstehungsursachen psychischer Konflikte der Kinder,
i,,Lnd1ichen die Sozialarbeit darauf reagieren solL.bleibt unklar.
]pde Verbindung zwischen individuell auftretenden ErznehungsschwTe-
^keiten und den sozialstrukturell vorhandenden Bedingungen. die
Jsychi sche und soziale Konflikte entstehen lassen und begdnstigen,
- 125
wird in den gesetzliche
Jugendamtsleitungen an
stiert punktuell in kon
jekten als Reformansatz
ist die Tatsache, daB d
milienfursorgearbeit vo
zung mit gesellschaftli
Verelendungserscheinung
n Grundlagen und Arbeitsanweisungen der
die Sozialarbeiterbasis vermieden. Sie exi-
zeptionellen Aussagen der modellhaft in Pro-
e arbeitenden Gruppen. Politisch entscheidend
ie allgemeine Ebene der Jugendamts- und Fa-
-n offensiven Prozessen der Auseinanderset-
chen Hintergriinden sozialer und psychischer
en ausgespart bleibt.
Ein weiteres Element der Beratungstatigkeit ist die Trennung zwi-
schen "Beratung in Fragen der Erziehung" und der sogenannten "form-
losen Betreuung". In den Arbeitsstatistiken der Jugendamter und Fa-
mi lienfiirsorgen werden alle Beratungen in erzieheri schen, schuli-
schen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bereichen als "formlose
erzieherische Betreuung" erfaBt, die nicht durch eine gesetzliche
oder erzieherische AufsichtsmaBnahme begleitet sind (Heimunterbrin-
gung, Vormundschaft, Pflegschaft, Beistandschaft, Pflegekind). Fur
die formlose Betreuung ist die "Freiwilligkeit und das Zusammen-
wirken mit den Erziehungsberechtigten kennzeichnend" . (32)
Diese Aufgabe wird den "Fachkraften des Jugendamtes" zugeschrieben.
(33) Dagegen wird die "Beratung in Fragen der Erziehung" qualitativ
hoher eingestuft, weil "eine allgemeine Beratung von Eltern und an-
deren Erziehern durch soziale Fachkrafte des Jugendamtes in Form
methodisch angeleiteter Einzelfallhilfe sowie durch institutionali-
sierte Elternbildung" erfolgt. (34)
Die hbchste Stufe "qualifizierter Beratung" wird nach diesem Ver-
standnis in den Erziehungsberatungsstel len und "erganzend'en Einrich-
tungen (Spieltherapiegruppen, heilpadagogi schen Kindergarten, Hor-
ten)" (35) gesehen.
Beide Tatigkeiten werden im 3. Jugendbericht und den Jugendberichten
der Lander als "eine der wichtigsten Aufgaben der dffentlichen Ju-
gendhilfe" eingestuft. In dieser Einschatzung fehlt jedoch ebenso wie
im JWG und den Geschaftsverteilungsplanen, Arbeitsanweisungen und
Ausfuhrungsvorschriften eine Aussage Liber die Verlaufsprozesse und
Kriterien, die in die Beratung und "formlos,e Betreuung" an die Beur-
teilung des Zustandes in Familien und die erforderl ichen MaBnahmen
angelegt werden mu'ssen. Ob ein Hausbesuch, ein Gesprach im Amt, mit
der Lehrerin, dem Ausbilder oder anderen Institutionen nun der "all-
gemeinen Beratung" zugerech.net wird oder Teil der "formlosen Be-
treuung" ist, bleibt fur die betroffenen Eltern, Mutter, vater, Kin-
der und Jugendlichen gleichgul tig. Fiir sie ist entscheidend, ob die
Aktivitat des Jugendamtes eine Unterstutzung zur Beseitigung wirt-
schaftlicher Not, beengter Wohnverhal tnisse, Arbeitslosigkei t, eine
erzieherische Entlastung und ein Beitrag zum Verstandnis sozialer
Belastungssituationen und persb'nlicher Interessen ist oder ihnen
die Folgen unzumutbarer Existenzbedingungen auch noch vorgeworfen
werden.
Auf dieser Stufe der Berucksichtigung sozialer Krisensituationen,
Interessen und Bediirfnisse der Betroffenen wiirde noch nicht einmal
die Frage nach mb'glichen Unterstiitzungen von Selbstorganisationsan-
satzen erfaBt werden.
Der Unterschied zwi schen einer Beratung und einer "formlosen Betreu-
ung" ist dennoch nicht nur ein formaler. Beide Handlungsformen der
126
JugendfLirsorge beinhalten zwar das Element sogenannter Freiwillig-
keit der Betroffenen, von den angebotenen Hilfen Gebrauch zu machen,
jedoch entsteht oft aus der unverbindlichen Beratung ein Obergang
zur "formlosen Betreuung".
Dazu ein Beispiel:
Schwanzt ein Schiiler in der Schule und geht er nach einem Gesprach
mit dem Sozialarbeiter im Amt oder seiner Wohnung wieder zur Schule,
wird die Aktivitat als Beratung eingestuft. Der "Fall" ist erledigt.
Kommen weitere Meldungen oder stellt sich bereits bei der ersten Be-
sprechung mit den Eltern oder dem Schiiler heraus, daB zusatzliche
Probleme bestehen (im wirtschaftlichen Bereich, bei der Erziehungs-
arbeit, auf strafrechtlichem Gebiet u.a.) entwickelt sich eine form-
lose Betreuung. Eine unbefristete Aktenfuhrung wird eingeleitet und
periodische Kontrollbesuche sind anschlieBend die Regel . Nehmen die
Schwierigkeiten zu, vergrdBern sich die Probleme, wird die Lage der
Familie bedrohlicher (Mietschulden, Kreditschulden, "chronisches
Schulschwanzen" oder "standiges Stbren des Unterrichts" , Arbeitsbum-
melei usw.)wird eine ErziehungsmaBnahme eingeleitet, wenn die Eltern
nicht mehr kbnnen, die Schule nicht mehr will, der Arbeitgeber es
satt hat oder die Verwahrlosung droht.
Die MaBnahme steht also nur scheinbar im Gegensatz zur Beratung und
"formlosen Betreuung". Formalisiert erscheint sie in den Arbeits-
statistiken als Pflichtbetreuung. Sie geht auf MaBnahmen zuriick,
die das Jugendamt auf der Grundlage des JWG ergriffen hat und zur
langfristigen Betreuung bis zum erfolgreichen AbschluB ("Erziehungs-
erfolg") verpflichtet.
Damit wird deutlich, daB es einen inneren Zusammenhang zwischen.
Beratungen, "formlosen Betreuungen" und MaBnahmen im Sinne zunehmen-
der Verscharfung gibt.
Der Zwang der JugendfLirsorge, sich an der "erzieherischen Grund-
richtung" der hamilie zu orientieren
Die Grundrichtung des Handelns ergibt sich aus dem Zusammenwirken
rechtlicher, politischer und organisatorischer Faktoren.
Die JugendfLirsorge basiert ebenso wie die Jugendpflege auf dem po 1 i -
tischen Prinzip der Orientierung einer jeden Jugendhilfeaktivitat
an der "Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftl ichen
Tiichtigkeit". Die herrschende Definition gesellschaftlicher Tiich-
tigkeit als regierungsamtl iches Ziel jeder Erziehung bezieht sich
denn auch auf die "Hauptaufgabe der Familie ... den heranwachsenden
Menschen in die Lage zu versetzen , sich in der gesel lschaftl ichen
Wirklichkeit zu orientieren und ihm die Fahigkeiten zu vermitteln,
die er benbtigt, urn ein inn selbstbefriedigendes, auf die Gemeinschaft
hin orientiertes Leben zu fu'hren." (36)
Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist der status quo einer burger-
lich verfaSten Gesellschaft, in die es hineinzuerziehen gilt.ohne
nach den Veranderungsnotwendigkeiten zu fragen. Erziehungspoli tisch
?st die JugendfLirsorge durch § 3 JWG ("Erganzungserziehung ) dazu
verDflichtet, die "von den Personensorgeberechtigten bestimmte Grund-
richtunq der Erziehung... bei a 1 len MaBnahmen . . . zu beachten...
n e Grundrichtung wird strukturiert vom . . . uberlieferten und welt-
Jin von der Gesellschaft bejahten Leitbild der im Grundsatz lebens-
127
langen ehelichen Geraeinschaft einem neuen, zunehmend anerkannten
auf Gleichberechtigung und Partnerschaft beruhenden Rollenverstand-
nis von Mann und Frau, einem Verstandnis in der El tern-Kind-Bezie-
hung.das altersma'Big hierarchische Gestaltung durch Partnerschaft,.
durch Einra'umung von Mitsprache und Mitbestimmung und durch Aufge-
schlossenheit fiir die vorhandenen Spannungen, Konflikte, Interessen-
unterschiede und fur Hilfen zu deren Lbsung bzw. Kompromisse zwi-
schen Eltern und Kindern ersetzt". (37)
Diese Position entha'lt als Widerspriichl i chkei t blirgerlicher Familien-
politik die ideologische Verzerrung einer historisch notwendigen,
in politischen Auseinandersetzungen erkampften Dffnung der Existenz-
formen in der Kleinfami lie fiir kollektive Lebensformen zu einer an-
geblichen Entwicklungstendenz in Selbstverstandnis und Entschei dungs-
praxis der Familien.
Historisch notwendig wurde die Offnung, denn die sich seit Ende der
50iger Jahre ausweitende Produktion hatte sowohl den zusatzlichen
Einsatz der Arbeitskraft der Frauen erfordert und zu einer zunehmen-
den Vergesellschaftung friihkindlicher und Elementarerziehung gefuhrt
(Krippen, Kitas, Horte) als auch die Anforderungen an die allgemeine
Qualifikation der Arbeitskraft durchdas Bi ldungssystem (Vorschule,
Schule, Berufsausbildung) erhbht. Die in diesem EntwicklungsprozeB
entstandene Auseinandersetzung urn Erziehungstheorien und -praktiken
brachte auch Bedingungen und Funktion der Kleinfami 1 ie in die Dis-
kussion.
Die starker aufbrechenden und erkennbar gewordenen Widerspruche zwi-
schen der hterarchisch organisierten Familie, deren Handlungsmuster
und -inhalte durch die bkonomischen Ausbeutungsverhaltm'sse bestimmt
sind (autorita'r verfaBte Sozialstruktur der Famil ienbeziehungen als
Folge von bkonomischen Machtverhaltnissen) und den sich ausweitenden
Sozialerfahrungender Kinder und Jugendlichen auBerhalb der Familien,
fuhrten zu starkeren Erziehungskonflikten. Die Entfremdung zwischen
den Famil ienmitgliedern widersprach auf der einen Seite dem stnkten
Zwang zur Unterordnung der Kinder und Jugendl ichen,da eine emotio-
nale Stabilitat als Voraussetzung zur Erfullung gesetzter Forderun-
gen nach Gehorsam durch den unpersbnlichen, gehetzten und funktio-
nellen Charakter der Beziehungen nicht mehr in gleicher Weise gege-
ben war.
Auf allgemeiner Ebene gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ent-
wickelte Forderungen nach Kollektivierung der Lebensbeziehungen mach-
te sich jedoch nur an personell begrenzten und konkreten Gruppen
fest. Sie hatten immer nur begrenzten EinfluB auf gesellschaftliche
Teilbereiche. Ebensowenig wie die Forderungen und Einrichtungen von
Jugendwohnkollektiven fur gefliichtete und spa'ter legal entlassene
oder verlegte Heimjugendliche einen Urabruch in der Heimerziehung ver-
ursachten, ebensowenig fiihrte die Kritik an der Funktion der Klein-
fami lie und die private Einrichtung von Wohngemeinschaften zu einer
Anderung der Familien - oder Jugendpolitik.
Dazu ware Voraussetzung gewesen, daB die in gesel lschaftlichen Pro-
zessen der Erziehung durch Familie, Schule, Ausbildung, Freizeit
usw. erreichbaren Informationen auf die bkonomischen und politischen
Grundlagen jeder Art und Form sozialer Beziehungen und psychischer
Reaktionsweisen zuru'ckgefuhrt werden. Erst die Aneignung dieser In-
- 128
formationen im Verlauf aktiver Konfrontation der Kinder und Jugend-
lichen mit den konkreten Erscheinungen gesellschaftlicher Zustande
kbnnte eine Perspektive zur Veranderung erbffnen.
Eine Erziehung
gung der erzieh
tung fur Sozial
in den Familien
in Einklang zu
tat darauf geri
chern (durch Ko
die Funktionsfa
nun zum Einsatz
men kommt, ergi
Funktionsablauf
zu gesellschaftlicher TU
erischen Grundrichtung b
arbeiter der Jugendfurso
mit den vorfindbaren Ve
bringen. Damit ist die j
chtet, die Funktionsfahi
ntrolle, Beaufsichtigung
higkeit der Gesellschaft
von Beratungen, formlos
bt sich aus dem Grad der
e.
chtigkeit unter Berlicksichti-
einhaltetalso die Verpflich-
rge, die auftretenden Konflikte
rhaltnissen in der Gesellschaft
ugendfursorgerische Aktivi-
gkeit der Familien zu si-
und Eingriffe), urn darliber
aufrechtzuerhalten. Ob es
en Betreuungen oder MaBnah-
Gefahrdung gesellschaftlicher
Jug endfursorqe als Hilfsorgan des Staates zur Durchsetzung und
EVhaltunq der ^eproduktTonsbedingungen der ArbeiterbevblkeruiTg
Ein weiteres Element zur Strukturierung von Handlungsablaufen ist
der Charakter von Kooperationen zwischen verschiedenen Bereichen
der Jugendhilfe und mit anderen Institutionen des Erziehungs-,
Bildungs- und Ausbildungssektors. Formal wird die Kooperation als
Amtshilfe definiert. Rechtsgrundlage ist der § 10 JWG ("Beistands-
leistung").
"Die Behorden des Bundes, der Lander, der Selbstverwa 1 tungskorper ,
die Organe der Vers icherungstrager und die Jugendamter haben sich
qegenseitig und die Jugendamter einander zur Erfullung der Aufgaben
der Jugendwohl fahrt Beistand zu leisten ..."
Im Kommentar zum JWG von Riedel werden die wichtigsten Institutionen
aufgezahlt, "es kormnen insbesondere in betracht Ersuchen an Arbeits-
amter Einwohnermeldeamter , Finanzamter , Trager von Sozialhilfe-
leistungen, Gerichte, Gesundhei tsbehorden ..., Gewerbeaufs ichtsbehor-
den, andere Amter, Pol izei behorden, Schule, Trager der Sozialversi-
cherung, Standesamter , Straf regi sterbehorden u.a. ..." (38)
Das Vernal tnis der Jugendamter und Fami lienflirsorgen zu anderen
Institutionen bestinmt sich somit aus dem Interesse der Verwaltung,
die Organisationsablaufe effektiv zu gestalten. Dazu sind Informa-
tionen aus den Bereichen notwendig, mit denen Kinder, Jugendliche
und deren Erziehungsberechtigte Kontakt haben (s.o.). Der Umfang
der Informationen bestimmt sich aus dem gesetzlichen Auftrag der
JuaendfLirsorge (Kompetenz Durchfiihrung der Aufgaben) hinsichtlich
apt Aufsicht und Kontrolle erzieherischer Entwicklung in der Fami-
lie und des reibungslosen (konfliktarmen) Ablaufs von Lern- und Ar-
hPitsDrozessen sowie der Einhaltung von Rechtsnormen (Legal verhal-
tln) auBerhalb der Familie. Der Umfang der Informationen ist daruber
hinaus von den strukturel len Bedingungen und Interessen der zur Amts-
hilfe verpflichteten Institutionen begrenzt. .,,_,.._
Das Jugendamt fragt z.B. bei den Schulen schnftlich (z T. nit Vor-
Hrucken) nach Punktlichkeit des Schulbesuchs, dem sozialen Verhal-
™ Zr Schuler, der Mitarbeit der Eltern und dem Leistungsstand
S schule ist zur Auskunft verpf lichtet. Der Umfang und die Quali-
?s? der Auskunft wird jedoch begrenzt durch das allgemeine Interes-
se der Schulen an der Einhaltung der Schulpflicht, der Beachtung
129
von Schul- und Klassenordnung, der Bewail tigung des angebotenen Lehr-
stoffs, der UnterstLitzung der Schliler durch die Eltern. Schul gesetze
und Ausfu'hrungsvorschriften sind so aufgebaut, daB eine Intervention
von auBen in die strukturel len Bedingungen der Schule entweder un-
mbglich ist oder durch formal isierte Delegationen und Gremienarbeit
verhindert wird. (39) Dort, wo die Schulen ein Interesse an der Be-
teiligung der Jugendamter haben, sind die Bereiche genau vorge-
schrieben. Sie beziehen sich Liberwiegend auf Verhaltenskonflikte der
Schliler (40), dereri Entstehungsursachen in der Person des Schlilers
oder den Familienverhaltnissen gesehen werden.FLir erzieherische
Schwierigkeiten ist das Jugendamt zustandig. Dem entspricht die
Funktion und der Aufbau des JWG,
Die Sozialarbeiter der Jugendfiirsorge haben also nicht zur Erfor-
schung der Ursachen von Konflikten beizutragen und auf eine Rnderung
des gesellschaftlichen Zustandes hinzuwirken, sondern die entstan-
denen Probleme rait geeigneten MaBnahmen zu verringern, zu lindern,
zu beschwichtigen, zu ersticken oder zu isolieren. In diesem Sinne
kommt der Jugend- und Familienfiirsorge die Funktion eines Hilfsorgans
fiir mehrere andere Institutionen zu. Auszlige aus Richtlinien, Dienst-
blattern, Rundschreiben und Berichten der vergangenen Jahrzehnte
sind ein historisches Spiegelbild dafur.
1929
"Die Familienfiirsorge ... steht ... alien Zweigen der Verwaltung
fiir soziale Aufgaben im Einzelfall zur Verfiigung ... (sie)^ wi rkt ...
durch fursorgerische Begutachtung auf Anforderungen anderer Dienst-
stellen mit ... Die Fursorge fur Schuler al ler Schularten auf erzie-
herischem und wi rtschaf 1 1 ichem Gebiet obliegt der Familienfiirsorge...
sie steht den Schul lei tern und den Lehrkraften zu personl icher Zu-
sammenarbeit zur Verfiigung. Schulversaumni sse von Schiilern.bei denen
die Gefahr einer Verwahr losung vorzul'egen scheint, werden gem.
Dienstblatt ... vom' 10.10.1925... an die Fafu gemeldet." (41)
1939
"Die Abteilung Fami 1 ienfursorge soil ferner der orgam sator i sche
Apparat sein, der dem Wohlfahrts- und Jugendamt zur Uberwachung
der Durchfuhrung der behordlichen MaBnahmen jederzeit zur \/erfugung
steht". (42)
1950
"Die Fami 1 ienfursorge ... wird auch von den ubrigen Abteilungen des
Bezirksamtes fur fursorger i sche Hilfe in Anspruch genommen oder
gutachtl ich gehort." (43)
1962
"In den Beziehungen der Familienfiirsorge zu den Gesundhei ts- , Schul-,
Arbeits-, Justiz-, Wohn'ungs- und Versorgungsbehorden g e n 0 g t
die allgemeine Verpf 1 ichtung des Jugendamtes zur Amtshilfe und Bei-
standsleistung nach Art. 35 GG und § 10 JWG". (44)
Die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen der Jugendfiirsorge und
anderen Bereichen lassen also formal isierte Kooperationen zu. Gleich-
zeitig soil durch strukturelle Ajpsicherungen der jeweiligen gesell-
schaftlichen Sektoren mit gesetzlichen, organisatorischen und dis-
- 130
ziplinarischen Mitteln verhindert werden, daB sie zu Veranderungen
des status quo benutzt werden. Die zunehmenden Disziplinierungen
und Berufsverbote auch im Bereich der Jugendfiirsorge sind ein poli-
tischer Ausdruck dieser AbsicherungsmaBnahmen.
Gescha'ftsverteilungsplan - ein Instrument zur Bindung der Sozialar-
beiter an d Funktion des JWG und den burger! ichen Staat
Ein weiteres Instrument zur Einhaltung der gesetzlichen Aufgaben und
erziehungspoli tischen Grundsatze in den dargestel lten Grenzen sind
der Gescha'ftsverteilungsplan und die organisatorischen Arbeitsprin-
zipien in den Sozialburokratien.
Der Gescha'ftsverteilungsplan (GVP) ist auf unterster Ebene des Hand-
lungsvollzugs jedes Angehbrigen des bffentlichen Dienstes die kon-
krete und verbindliche Umsetzung allgemeiner Rechtsgrundsatze und
Aufgaben in Arbeitsanweisungen. Die Aufrechterhaltung einer Uber
50-jahrigen Tradition jugendfiirsorgerischer Kontroll- und Eingriffs-
arbeit muB sich also auch in den Gescha'ftsverteilungspla'nen nachwei-
sen lassen.
1929
"Die Familienfiirsorge hat die voile Sachbearbei tung ... fiir dieje-
nigen Arbei tsgebiete des Wohlfahrts- und Jugendamtes, die uberwie-
gend fursorger i schen Charakter tragen ... Schutz der Pf legekinder ,
Unterbr i ngung in Anstalts- und Fami 1 ienpf 1 ege, Fursorge fiir gewerb-
1 ich tatige Kinder und Jugendliche ... Kruppel fiirsorge, Psychopathen-
fiirsorge, Jugendger i chtshi lfe, Schutzauf si cht - und Fursorgeerziehungs-
sachen ... Strafent lassenenfiirsorge, Pf legeamtsaufgaben". (45)
1949
"Schwererziehbare mannliche Jugend
fursorger ische Beratung und Betreuung schulentlassener mannl icher
Jugendlicher und Minderjahr iger . Einleitung und Mitwirkung bei der
Durchfuhrung von MaBnahmen, die zur Abwendung der Verwahrlosung und
zur Einordnung bei bereits bestehender Asozialitat geeignet sind
(Erziehungsberatung, Unterbringung, Arbei tseinsatz, freiwillige
Schutzaufsicht) . Mitwirkung bei vormundschaf tsger i cht 1 ichen und
fami 1 ienrechtl ichen MaBnahmen, bei Antragen auf Sorgerechtsentzie-
hungen, Mitwirkung bei Personensorgerechts- und Ver ken rsrege lung
rach Ehescheidungen. Fiirsorgeerziehung, Schutzaufsicht, freiwillige
Heimunterbringung ..." (46)
Fur die im "Pflegeamt" zur Betreuung "gefa'hrdeter/'Madchen einge-
setzten Fursorger hieB es:
i' Durchfuhrung von HwG-Priifungen (HwG - ha'ufig wechselnder Ge-
<;chiechtsverkehr, d.V.) fiir das Landesgesundhei tsamt . Einleitung
Ln vorbeugenden MaBnahmen aufgrund des Gesetzes zur Bekampfung von
r^rhlechtskrankheiten (gesundhei tsbehordUche Kontrol le) .vormund-
rhaftsaerichtliche MaBnahmen (Pf legeschaf ts- und EntmUndigungsver-
fahren) bewahrende MaBnahmen und Asozialen-Betreuung (Heim- und
ffWS*W K^li'ifflnoeh eberso wie die Jugendfursor-
1 fUr dilmannliche Jugend als selbstandige Arbei tsbereiche. Nur
fie sjrache ist nicht mehr so unverhullt. Aus "AsozlalltK" wurde
- 131 -
"Qissozialita't", aus der Schutzaufsicht die Erzi ehungsbei stand -
schaft und der Arbeitshausunterbringung die Verpflichtung zur unzu-
mutbaren Obernahme jeder "zumutbaren Arbeit".
So liest sich die Arbei tsanwei sung an die Sozialarbeiter der seit
Mitte der 50iger Jahre in West-Berlin bezeichneten "FamilienfUr-
sorge flir mannliche Jugendliche" von 1973 wie folgt:
". . .Fortfiihrung der von der Jugendger ichtshi If e begonnenen Nachbe-
treuung jugendger icht 1 ich verurtei Iter MinderjShriger ... Pflege
des Kontaktes mit Minderjahrigen die in einem Heim untergebracht
sind. Mitwirkung bei der Eingl i ederung von Minderjahrigen, die aus
einem Heim fur Schwererzi ehbare Oder einer Haftanstalt entlassen
wurden, insbesondere der Sicherstel lung einer geeigneten Unterkunft
und einer geeigneten Arbei tsstel le. Ausubung von Erzi ehungsbei stand-
schaften ... fursorger i sche und padagogische Einzel- und Gruppen-
beratung der Erziehungsberecht igten ... Unterstutzung des Vormund-
schaftsgerichts in Angelegenhei ten der Personensorge ... Beaufsichti-
gung der Mu'ndel und Pfleglinge, insbesondere durch Hausbesuche hin-
sichtlich der Unterkunft, Verpflegung und Erziehung. Beratung der
Vormunder, Pfleger und Beistande, ggf. Meldung festgestel I ter Man-
gel und Pf 1 ichtwidrigkeiten an das Vormundschaf tsger icht . Bemuhen
urn Abstellen dieser Mangel ..." C«8)
Umfang und Formulierungen der in den Geschaftsverteilungspla'nen fur
den einzelnen Sozialarbeiter genannten Aufgaben wird zwischen den
Jugendamtern unterschiedlich sein, "so zeigt die heutige Reaiitat
der Jugendamtsarbeit ein auGerordentl ich heterogenes BiVd. Die ver-
schiedenartigsten, einander z.T. widerstrei tenden Elemente sind
nebeneinander wirksam. Neben erzi eherischen Tatigkeiten Btehen sol
che der Verwaltung, neben Leistungen und Angeboten gibt es Eingrif-
fe " C»9)
Das'heterogene Bild bezieht sich jedoch m'cht auf unterschiedliche
Inhalte der Aufgaben, sondern allein auf formale Differenzen in
den Kompetenzen zwischen einzelnen organisatorischen Abteilungen
des Jugendflirsorgesektors.
Der Vergleich zwischen 1929 und 1973 macht deutlich, daB der repres-
sive und gewaltsame Charakter in der dugendfursorge durch das Ge-
setz angelegt ist und dadurch die Erhaltung der bereits erwahnten
Tradition gesichert wurde. Gegen diesen Zustand in der taglichen
Arbeit Widerstand zu leisten, bedeutet erst einmal ,sich dessen be-
wuBt zu sein und die Funktion und Wirkung des eigenen Handel ns und
dem anderer Kollegen zu erkennen.
Das Prinzip der Einzelverantwortung, hierarchischen Entscheidungs-
struktur und Diszipl inierung
Die Einzelverantwortung jedes Sozialarbeiters flir seinen Bezirk
und seine "Falle" zwingt ihn zu seiner Stellungnahme und Entschei-
dung. Die Bindung der Arbeitsvol Izuge an diese Einzelverantwortung
auf der Grundlage des Geschaftsverteilungsplans und des JWG wird
durch die Zeichnungsbefugnis und das dienstliche Kontroll- und An-
ordnungsrecht der Vorgesetzten erzwungen. Die Zeichnungsbefugnis be-
deutet die individuelle Zeichnungspflicht im Instanzenzug der hier-
archischen Ebenen liber die jeweiligen Fachvorgesetzten bis zum po-
- 132 -
litischen Wahlbeamten als oberstem Leiter. Konfli ktsituationen ent-
stehen durch Kompetenzuberschrei tungen (Wahrnehmung von Aufgaben,
die nicht im GVP fur die bezeichnete Stelle beschrieben werden),
Oberschreitung der Zeichnungsbefugnis (Nichteinhal tung der Instan-
zen) Oder MiBachtung von Weisungen und Anordnungen. In diesen Kon-
fliktsituationen kommt als letzte Instanz die eigenstandige Gerichts-
barkeit des biirgerlichen Staatsapparates - die Disziplinarordnung -
zum Vorschein und Einsatz.
Diese "festgefugten" burokratischen Strukturen geben den Vorgesetz-
tenebenen eine weitgehende Mbglichkeit der Kontrolle uber Arbeits-
qange und -inhalte. Die Pflicht zur Aktenflihrung und die nur dadurch
mSgliche und zu kontroll ierende Zeichnungsbefugnis verbunden mit
dem Anordnungsrecht der Vorgesetzten macht es mbglich, die inhalt-
lichen Positionen der Sozialarbeiter gegeniiber den sozialen Konfli kt-
situationen der Betroffenen zu beobachten und darauf zu interve-
nieren. Der Verlauf eines Gesprachs zwischen einem Sozialarbeiter
und der Amtsleitung der Jugendflirsorge im Januar 1977 anhand eines
Gedachtnisprotokolls steht als Beispiel flir das Prinzip.
Der Sozialarbeiter hatte eine gerichtliche Anfrage erst nach einer
Erinnerung des Gerichts beantwortet. Die Amtsleitung forderte den
Vorgang zur Ei nsichtnahme.
Die Amtsleitung erbffnete dem Kollegen, daB sie an folgender Erkl'a-
rung fur die verspatete Berichterstattung gegeniiber dem Gericht
AnstoB nahm: "Die verspatete Beantwortung der Anfrage bitten wir zu
entschuldigen. Trotz durchgefuhrter Gesprache mi t der Fami 1 ie waren
wir aufgrund der sich verschlechternden materiellen Lage der Bevol-
kerung und dem sich daraus ergebenden erhohten Arbei tsanfal 1 nicht
in der Lage, den Bericht frilher zu fertigen".
Die Amtsleitung vertrat den Standpunkt, daB es sich hier urn eine
klare politische AuBerung handelt, die nur mit dem ideologisch ver-
festiqten Standpunkt des Kollegen zusammenhinge und objektiv falsch
cpi Diese Einschatzung sei durch nichts zu belegen. Man konne nicht
von'der sich verschlechternden Situation der Bevblkerung sprechen.
Fs handeltesich bei dem Hintergrund einer solchen Aussage urn eine
vulqar-marxistische Interpretation der Verelendungstheorie. Diese
lich verschlechternde Situation der Bevblkerung zu sehen sei Wunsch-
Hpnken Bei einer solchen ideologisch verfestigten Sichtweise wurde
^bersehen, daB bei den Familien eine ganze Reihe psychologischer und
nSdaqogischer Probleme bestunden. Die Amtsleitung forderte den Kol-
1«en auf, derartige AuBerungen in Zukunft in Stellungnahmen des
jugendamtes nach auBen zu unterlassen.
nie Kritik an einer verspateten Bearbeitung (Erinnerung) "unvertret-
haren BefUrwortungen von Sozialhilfe", einem zu spa ten Eingnff in
Hie Fami ™erhaltnisse, einer zu einseitigen Ste ungnahme fUr
2 i .nlndlichen und qegen die Eltern, fur die Familie und gegen die
i^oendfdr org! Bnahm n9und Beschwerden aus der Bevblkerung und an-
i instiStionen sind die bekannten Beispiele Angst auslosender
iZZl durch die hierarchische Vorgesetzteninstanz und wer en on
Hpn Kollegen gefurchtet. Da die Kritik durch Vorgesetzte und Lei-
Jungsebenen in den wenigsten Fallen auf die Grunde eingeht , die zu
- 133 -
einem "auffalligen Verhalten" des Sozialarbeiters fiihrten, bleiben
politische und bkonomische Grundlagen der Jugendfursorgearbeit aus-
qespart und verstarken den individuellen Druck auf den Sozialarbei-
ter Das Geflihl des eigenen Versagens und Verschuldens wird gerade
dadurch produziert, daB die Einzel verantwortung im taglichen Ar-
beitsvollzug in eine individuelle Rechenschaftspflicht einmundet,
wenn aus der Arbeit Konflikte entstehen. Die Bindung der Rechen-
schaftspflicht an die Vorgesetztenebene la'Bt ein Machtgefalle ent-
stehen, daB durch die Disziplinarbefugnis der Vorgesetzten lhren ma-
teriellen Ausdruck findet.
Die Reduzierung der Kritik von oben auf innerbiirokratische Befugnis-
se und Funktionsablaufe im Kontext von Machtbefugnissen soil sicner-
stellen, daB gesel lschaftspolitische Ursachen dieser Strukturen
und damit die Veranderungsmbglichkeiten abgetrennt bleiben. Urn das
Geflihl des individuellen Versagens und der eigenen Schuld gar mcnt
erst aufkommen zu lassen, wird eine geregelte, geordnete und pflicht-
bewuBte Erledigung der Arbeit als Ziel propagiert und gefordert.
Jugendamtsleiter haben das Recht, alle Vorgange ansichzuziehen, die
Richtung der Bearbeitung zu bestinmen. Im "kollegialen" Kontakt mit
dera zustandigen 5ozialarbeiter handelt es sich nach dem Sprachge-
brauch einer "partnerschaftlichen Zusammenarbei t" urn Vorschlage,
MeinungsauBerungen , Hinweise oder Ratschlage. 1st der zustandige
Kollege im konkreten Fall anderer Meinung und nicht bereit, den
"gewiinschten" gerichtlichen Eingriff (Personensorgerechtsentzug,
nachfolgende Heimunterbringung, Fursorgeerziehung) vorzunehmen,
Hausermittlungen durchzufiihren, Sozialhilfebefiirwortungen in der
Hb'he abzulehnen, seine Vermittlerrolle wahrzunehmen usw. verandern
sich "wohlgemeinte Vorschlage" in Entscheidungen oder dienstlicne
Anordnungen.
Da sich disziplinarische Konsequenzen aus der Oberschreitung gesetz-
licher und politischer Grenzen innerhalb der Jugendfursorge am deut-
lichsten an bffentlich ausgetragenen Konflikten aufzeigen lassen,
sei folgendes zitiert:
"... Ihnen (sind) innerhalb der Fami 1 ienfilr5orge Kreuzberg voruber-
gehend ... Aufgaben ubertragen worden, damit Sie konzentriert Sozial-
arbeit mit Gruppen von Lehrlingen, Jungarbei tern, Schulern und mit
sozialen Randgruppen ... leisten ... konnen. . . . es besteht Veran-
lassung, Sie darauf hinzuweisen, daB Sie in Ihrer Funktion als Sozial-
arbeiter der Fami 1 ienftirsorge Kreuzberg tatig geworden ... sind und
nicht als Sozialarbei ter beim "Jugendzentrum Kreuzberg1 e.V. Die
Identif ikation Ihrer beruflichen Tatigkeit mit Ihrer Zugehor igkei t
zum Kollektiv 'Jugendzentrum' (Georg-von-Rauch-Haus , d.V.) findet
da ihre Grenze, wo Ihre Verpf 1 ichtungen der Dienstbehorde gegenuber
erfiillt werden mussen. ... (es) muB ... von Ihnen respekt i ert^werden ,
daB Sie in einem of fentl i ch-rechtl ichen Oienst- und Treueverhal tnis
zum Land Berlin stehen. . . wi r erwarten, daB Sie kiinftig in Schreiben
und Unterredungen anlaSlich Ihrer Tatigkeit als Sozialarbei ter die
kritisierten Bezeichnungen unterlassen. Es muB betont werden, daB die-
ser Hinweis beamtenrecht 1 iche Bedeutung hat". (50)
An diesem Schnittpunkt der Konfrontation von Arbeitsbasis und Lei-
tungsebene kristallisiert sich das Argument von der Erfolglosigkeit
des Widerstandes gegen die starren burokratischen Strukturen heraus.
134 -
Dabei wird die Widerspriichlichkeit zwischen den burokratischen
Prinzipien der Organisation von Jugendfursorge und dem ihr zugrunde
liegenden Anspruch einer demokratisch verfaBten, an Gerechtigkeit
orientierten und Entwicklungsmbglichkeiten sichernden Arbeit ebenso
unterschlagen wie die punktuell erfolgreichen Auseinandersetzungen
der Basis gegen Disziplinierungspraktiken und die notwendige Beant-
wortung der richtigen Frage nach Zielen und Bedingungen einer offen-
siven Jugendfursorgearbeit. Die Sensibilisierung und Offnung der
Diskussionen in manchen Jugendamtern flir soziale und politische Grund-
lagen der Jugendfursorgearbeit widerlegt die einseitige Position von
der Allmacht des Staatsapparates,der sich in alien Lagen unter Ein-
satz der ihm zur Verfugung stehenden Gewaltmittel durchsetzen kann.
Die entstandenen Konflikte der vergangenen Jahre hatten inner Ver-
suche von Kollegen der Basis zur Grundlage, sowohl die inneren Struk-
turen der Sozialblirokratien anzugreifen bzw. zu kritisieren als auch
ein Verhaltnis der Jugendfursorgearbeit nach auBen herzustellen. Die
Kritik an der Heimerziehung, Funktion von Sozialarbeit, Modellbewe-
qung, die Unterstutzung von Jugendinitiativen (Jugendzentren und
Wohnkollektive) , die Einbeziehung von Sozialisationstheorien usw.
waren in verschiedenen Stadten punktuell und gut organisiert, Themen
in Arbei tsbesprechungen und Grundlage von Kollegendiskussionen und
Aktivi taten. Sie brachten andererseits den Begriff und Inhalt der
"Fachl ichkeit der Jugendfursorge" in die Auseinandersetzungen.
pie Fachlichkeit der Jugendfursorge
Zwischen den burokratischen Bedingungen von Zustandigkeit, Eigenver-
antwortung, Hierarchie und dem Strafinstrument der Disziplinarord-
nung liegt die sogenannte "Fachlichkeit".
Mit Fachlichkeit wird nach offizieller Auffassung die Verpflich-
tung jedes Sozialarbeiters bezeichnet, die Jugendfursorgearbeit nach
fachl ich-s achlichen Gesichtspunkten zur Erf'ullung gesetzlich fixier-
ter Aufgaben durchzufiihren und sich dabei an dem "Recht jeden Kin-
des auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen
Tiichtigkeit" zu orientieren. Ebensowenig wie zur Durchfiihrung von
Beratungen und "formlosen Betreuungen" oder einer Definition von
Gefahrdungen, Stbrungen oder Verwahrlosungen Kriterien gesetzlich
fixiert sind, die sich auf die Lebensumstande der Betroffenen be-
ziehen wurden, ebensowenig existieren Angaben iiber die Wirksamkeit
der Jugendfursorgeangebote und MaSnahmen zur Einlbsung des Rechts-
anspruchs auf Erziehung zum einen und zur Beseitigung entstandener
Konflikte zum anderen.
Im ProzeB des Kontaktes zwischen Sozialarbeitern und Famnien^kommen
.,„„ or7wunaen weraen son. uie juujchi.uu^ ->.- ■■—•-- -
Trl auch innerhalb burokratisch organisierter Jugendfursorge der
doch auc
- 135
Unsicherheitsfaktor.zu dessen Ausschaltung sich die offentl ichen
Arbeitgeber gerade um eine Weiterentwicklung und Verscha'rfung der
DisziplinierungsmaBnahmen bemiihen. Diese Subjektivitat bewuBt wahr-
zunehmen bedeutet fur die Linken innerhalb des Jugendfursorgebe-
reiches die positive Identif ikation mit Widerstandsformen innerhalb
und auBerhalb des Arbeitsbereiches.
Zur Vermeidung von Willkur und zur Verringerung oder Vermeidung der
repressiven Wirkung der Ougendfiirsorge ist ein Entscheidungs- und
Kontroll instrument von unten - der Jugendamtsbasis - zu entwickeln,
mit dem sie in Konfliktsituationen sich nicht nur der Amtsleitung
gegeniiber zur Wehr setzen, sondern auch Forderungen offensiv vertre-
ten kann.
Die grbBte Bedeutung erhalt diese Forderung gegenuber offenen Zwangs-
maBnahmen wie den familienrechtl ichen Eingriffen, den anschlieBen-
den Heimunterbringungen sowie den FursorgemaBnahmen. Argument! eren-
de Verfechter dieser MaBnahmen weisen deren Zwangscharakter auch
nicht zurlick, halten ihn vielmehr wegen der "drohenden Verwahrlo-
sung" oder der akuten Gefahrdung des Kindes oder Jugen dl ichen fur
gerechtfertigt. Unter Hinweis auf die konkret vorliegenden Symptome
der "Verwahilosung und Gefahrdung" ist es ihnen auch mbglich, die
Fachlichkeit ihres Standpunktes unter Beweis zu stellen und jeden
Vorwurf von Willkur zuruckzuweisen.
Die oft vorliegenden Forderungen von El tern, Miittem oder Va'tern,
das "zu schwierige Kind" oder den "aufsassigen, faulen und herumtrei-
benden" Sohn im Heim unterzubringen, weil sie mit ihnen "nicht mehr
fertig werden" , sind zusatzliche Argumente zur Rechtfertigung die-
ser Entscheidungen. Es bestarkt sie sogar in der Meinung, im
"wohlverstandenen Interesse des Klienten" zu handeln. Diese Forderun-
gen driicken gleichzeitig die WidersprLichlichkeit innerhalb der Le-
benszusartmenhange der Betroffenen aus, da sich aus dem Machtverhalt-
nis der el terl ichen Gewalt gegenuber den Kindern und Jugendl ichen
gegensa'tzliche Interessenlagen entwickeln, denen gegeniiber die Sozial-
arbeiter in der Jugendfursorge Stellung zu nehmen haben. Anders als
in der Jugendarbeit sind die Sozialarbeiter der Jugendfursorge in
den meisten Fallen gezwungen, sowohl auf die Position der Eltern als
auch die Position der Jugendl ichen in einem zusammenhangenden Ar-
beitsprozeB einzugehen. Wenn Eltern z.B. ihren Sohn aus der Wohnung
werfen wollen, weil sie sich dessen Verhalten nicht langer "bi'eten"
lassen, von ihm kein Kostgeld erhalten, obwohl das Arbeitsamt keine
Arbeitsstelle vermittelt, der Sohn aber nicht ausziehen will, da er
kein Geld hat, ihm eine Wohnung fehlt, er aber nicht in ein Heim
will, stehen sich die Interessen der Eltern und die des Jugendl ichen
oft unvereinbar gegenuber. Die Sozialarbeiter sind in diesen Situa-
tionen wegen fehlender alternativer Angebote und eines unbedeutenden
Einflusses auf die sozialen Beziehungen des Jugendlichen in einer
hilflosen oder ausweglosen Situation.
Unter diesen Bedingungen zeichnet sich die Anwendung des Begriffs
von der "Fachlichkeit" dadurch aus, daB sie auftretende Erscheinungen
von "Verwahrlosung und Gefahrdung" nach "objektiv feststel lbaren"
Zustanden in den persbnlichen^und familialen Verhaltnissen definiert
und als Voraussetzung fur die Einleitung einer "fachlich gebotenen"
- 136 -
MaBnahme ansieht. "Objektiv festste
oder Jugendlicher die Schule schwan
keiten zeigt, nicht arbeitet, die E
sich nicht um sie kummern (vernachl
handeln, Unwirtschaftlichkeit und E
die Wohnung verdreckt ist usw. "Seh
nicht?, ist der Jugendliche etwa ni
ken gegen einen familienrechtlichen
ziehungsmaBnahme uberrascht zuruckg
11 bar" ist danach, daB ein Kind
zt, faul ist, Verhaltensauffallig-
tern ihre Kinder allein lassen,
assigen), sie schlagen und miB-
rziehungsunfahigkeit der Eltern,
en Sie denn diese Gefahrdung
cht verwahrlost?" , werden Beden-
Eingriff oder eine Flirsorgeer-
ewiesen.
Damit werden zwei entscheidende Fragen erst gar nicht gestellt.
Nicht, weil ihre Beantwortung unbequem und schwierig ist, sondern
weil sie Konsequenzen im Selbstverstandnis und Handeln nach sich
Ziehen wLirden.
a) Warum ist ein Kind oder Jugendlicher gefahrdet oder nach birger-
licher Auffassung verwahrlost?
b) Wie kann die Gefahrdung unter Beachtung der sozialen und psychi-
schen Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern,
die liberwiegend aus Arbei terverhal tnissen kommend, abgewendet wer-
den?
Die Fragen nach den sozialen und politischen Ursachen von "Gefa'hr-
dung und Verwahrlosung" w'urde taglich neu zu der Feststellung f'Jhren,
daB Familie, Schule, Betrieb und Freizeit unter Lebensumstanden der
Arbei terbevbl kerung soziale und psychische Konflikte und Krisen pro-
duzieren.die der einzelne "Kl lent" nicht zu verantworten hat.
Wenn wir uns in der Jugendfursorge auf diesen Standpunkt stellen,
sind wir gezwungen, unsere Kenntnis von den gesellschaftl ichen Ur-
sachen sozialer und psychischer Krisen standig zu vertiefen, um ein
differenziertes Verstandnis zu erhalten. Wir stehen dann vor der
Notwendigkeit, den ProzeB der Erziehung, Bildung, Ausbildung, Krimi-
nalitat und den EinfluB der Freizeitinhalte und -formen, die intellek-
tuelle, soziale und psychische Lage der Kinder und Jugendlichen di-
rekter zu erfassen. Wir kbnnen das nur im unmittelbaren Kontakt
mit den genannten Bereichen. Das erfordert ein zunehmend tieferes
Eindringen in die konkreten VeFha'ltnisse.insbesondere der gesell-
schaftlichen Erziehungseinrichtungen, Schulen und Ausbildungsstatten.
Handlungsleitende Elemente mussen die aktuellen Konflikte der Fami-
lien Kinder und Jugendlichen sein und deren Interessen, Forderun-
aen .und Meinungen zu den Konflikten. In diesem Kontext der sozialen
Laqe der Betroffenen und der politischen Vernal tin sse gesel lschaft-
licher Institutionen kbnnen die auftretenden "Erziehungs-, Schul-
und Arbeitsschwierigkeiten" nicht mehr in diskriminierender Weise
den Betroffenen zum Vorwurf gemacht werden. Vielmehr off net diese
Betrachtungsweise erst die Diskussion fur die Frage nach alternati-
on Anqeboten und MaBnahmen der Jugendfursorge zur Vermeidung oder
Verringerung ubereinstinmend festgestellter Gefahrdung und "Verwahr-
losung".
niese zweite Frage nach der Abwendung von Gefahrdungen erfaBt zwei
Seiten der Reaktionen gesel lschaftlicher Institutionen auf Notla-
ifmt welchen erzieherischen, materiellen und politischen Mitteln
wird auf Konflikte der Eltern, Kinder und Jugendlichen reagiert
(Familie Kita, Schule, Ausbildung, Jugendfreizeitheim, He!m usw.)
- 137
und welchen Anteil haben diese Reaktionen an den "Schwierigkeiten",
wie sie von den .Jugendamtern wahrgenommen Oder ihnen gemeldet wer-
den?
b) Mit welchen MaBnahmen reagiert die JugendfLirsorge auf die
"Schwierigkeiten"?
Jedes Mittel erzieherischen, materiellen und politischen Einflusses
ira Prozess der lebensgeschichtlichen Entwicklung muB auf seine Wirk-
samkeit der Erziehung zur "leiblichen, seelischen und gesel Ischaftli-
chen TLichtigkeit" hin untersucht werden. Eine Tuchtigkeit freilich,
die die Entwicklung menschlicher Fa'higkeiten nicht an ihrer Verwert-
barkeit flir den kapi tal istischen ProduktionsprozeB miBt, sondern die
Postulate bu'rgerlicher Erziehungsziele - Selbsta'ndigkei t, Ich-Sta'r-
ke, Kooperationsbereitschaft, Kommunikations-, Kritik-, Konflikt-
und Leistungsfa'higkeit - aus ihrer bLirgerlich ideologischen Umklam-
merung herauslbst und mit dem Inhalt einer Erziehung unter dem Pri-
mat der klassenspezifischen Interessen der Arbei terkinder und -ju-
gend fLillt, die in einer offensiven Konfrontation mit den Machtver-
haltm'ssen und der Entwicklung von Solidarita't und Kollektivitat
vertreten werden mlissen.
Die Frage wird dann lauten: Sind mit der Anwendung der praktizierten
erzieherischen, materiellen und politischen Mittel unter Berlicksich-
tigung der Lebensumstande in den jeweiligen Familien flir die betrof-
fenen Kinder und Jugendlichen die gesetzten Erziehungsziele u'ber-
haupt erreichbar oder stehen sie ihnen diametral' entgegen - haben sie
also nicht eher auf die Entwicklung von Fa'higkeiten unter den herr-
schenden Verha'ltnissen eine zerstbrende wirkung?
In den Auseinandersetzungen von Sozialarbeitern der JugendfLirsorge
mit ihren Amtsleitern spielt diese Problematik bereits wa'hrend der
Alltagsarbeit eine zentrale Rolle.
Wenn liber Jugendliche Meldungen vorliegen, daB sie die "Schule schwan-
zen, mehrfach von der Polizei an jugendgefahrdenden Orten aufgegrif-
fen wurden, Diebstahle begehen, sich herumtreiben, von zu Hause
abhauen, aggressiv, sexuell -auffa'llig und rem'tent sind, nicht ar-
beiten gehen, sich keine Arbeit suchen, kein Kostgeld abgeben" dann
nimmt der Druck auf Sozialarbeiter zu. Die Meldungen werden in den
Akten gesarmielt. Das ist Pflicht. Sie gehen bei den Amtslei tungen
ein, werden von ihnen verteilt und beachtet. Es sind Beweismateria-
lien flir die Existenz einer "drohenden oder bereits eingetretenden
Verwahrlosung".
Der Druck auf Sozialarbeiter entsteht durch den Zwang des JWG, vorge-
schriebene "Erziehungshilfen" anzubieten, durch die Arbei tsanwei sung
des GVP, die regional vorhandenen Einrichtungen der "freien" und
bffentlichen Tra'ger der Jugendhilfe zu benutzen, MaBnahmen einzulei-
ten und durchzufu'hren und durch die Rechenschaftspflicht Liber Art,
Umfang und Zeitaufwand bei der Bewaltigung der Aufgaben.
Dem Druck so zu begegnen, daB sich der subjektive Anspruch einer
Arbeit im Interesse der Jugendlichen realisiert, erfordert die Aus-
einandersetzung mit den Entstehungsursachen der "Auffal ligkei ten"
und die Folgen einer Anwendung jugendfLirsorgerischer ZwangsnaBnah-
men (familienrechtlicher Eingriff, Heimunterbringung, freiwillige
Erziehungshilfe, Fursorgeerziehung) flir die zuklinftige Lage der Ju-
138 -
gendlichen. Die Frage nach den gesellschaftlichen Einfllissen auf
das Verhalten, Lernen und Leben der Jugendlichen muB gestellt wer-
den. In diesem ProzeB der Auseinandersetzungen wird die politische
Funktion der "Fachl ichkeit" im Hinweis der Jugendamtslei ter, Stadt-
rate oder Dezernenten auf das "Gebot sachlich-fachlicher Entschei-
dungen" liber die zu wa'hlenden MaBnahmen deutlich.
Es gent den Jugendamtsleitungen und konservativen Vertretern der
JugendfLirsorge nun darum, die Konsequenzen der negativen Bestandsauf-
nahme Liber die Folgen traditioneller Angebote und MaBnahmen der Ju-
gendfLirsorge aus der Diskussion herauszuhalten. Es soil verhindert
werden, daB Alternativen zu den Angeboten und MaBnahmen erforder-
lich sind und die Kritik an der herrschenden Jugendamtspraxis durch
die Basis der JugendfLirsorge eine Voraussetzung fur Veranderungpro-
zesse ist.
In den vergangenen zwei Jahren massiver SparmaBnahmen und Personal-
kurzungen wurde den Argumenten von links nicht nur mit dem Vorwurf
fehlender "Fachlichkeit" begegnet, sondern zunehmend darauf hinge-
wiesen, daB sich die politischen Verhaltnisse geandert hatten und
nach einer ausflihrlichen Diskussionsphase wir uns mit den Verhalt-
nissen abfinden mlissen.
Eine Untersuchung der "Deutschen Zentrale flir Vol ksgesundheitspf le-
ge e.V." aus dem Jahre 1975 ist ein Beispiel daflir, daB die sich
zuspitzenden Widersprliche zwischen Sozialarbeitern und Amtslei-
tun gen in der Zwischenzeit Gegenstand "wissenschaftlicher Forschung"
wurden und Argumente zur Diffamierung von Widerstandsformen als unqua-
lifizierte Arbeit und Ausdruck personlicher Schwierigkeiten der So-
zialarbeiter liefern sollen.
"Die modern ausgebi Ideten Sozialarbeiter werden als renitent und
unpraktisch bewertet von ... ^0 % der Amtslei ter in Jugendamtern ...
die zunehmend pess imist i schere Beurteilung des Arbei tserfolges zeugt
weniger von einer groBeren wi ssenschaf t 1 ichen Oistanz als von beruf-
\ ichen Anpassungsschwi er igkei ten der jungen Sozialarbeiter ... die
Haufigkeit der Auseinandersetzungen mit den Vorgesetzten nimmt de-
stomehr zu je junger der Sozialarbeiter ist ... es haufen sich die
Falle, in denen er Konflikte in die Behorde hineintrSgt statt Kon-
f 1 ikte zu losen". (51)
"Sie sind etwas u'berhebl ich, zu theoretisch und zu wenig an der Pra-
xis orientiert, wollen die Gesel 1 schaft verandern, ordnen sich nicht
gern unter und wollen die I nnenstruktur der Smter andern." (52)
ANMERKUNGEN
(1) Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 7/74, Offenbach S. 38
(?) Referentenentwurf zum Jugendhilfegesetz vom 1.4.1974, S. 3
3 Trankfurter Rundschau (FR) vom 27.12.76 unter der Uberschrift
"Bald bessere Jugendhilfe"
JSl Erwin Jordan (Hg.), Jugendhilfe, Beitrage und Material ien zur
Reform des Jugendhilferechts 1975 Beltz, S. 310
(6) a.a.O., S. 310
7 a.a.O. S. 309 ff
(8) Referentenentwurf S. 3
- 139 -
S. 151
Aktuelle und histori-
(9) § 21 Referentenentwurf
(10) 3. Jugendbericht der Bundesregierung, S. 99
(11) Erziehung und Klassenkampf 15/16 S. 33,1974
(12) Erwin Jordan a.a.O., S. 310
(13) "Die behandeln uns, aber wir konnen die nicht behandeln" - aus
Info Sozialarbeit Heft 7, S. 39
(14) Texte zur Jugendhilfsrechtskritik, Hg. Verlag Jugend und Poll -
tik, Dez. 1974, S. 5
(15) Info Sozialarbeit Heft 9, S. 60
(16) a.a.O., S. 53
(17) ebenda
(18) Info Sozialarbeit Heft 7, S. 38
(19) Suddeutsche Zeitung (SZ) vom 23.8.76 unter der Oberschrift
"Die Jugend nicht alleine lassen"
(20) ebenda
(21) Jahresbericht 1975 der Familienberatungsstelle des DPWV
"Treffpunkt und Beratung" in Berlin-Kreuzberg, S. 59/60
(22) Info Sozialarbeit, Heft 9, S. 55
(23) Die wichtigsten Stellungnahmen konnen in E. Jordan nachgelesen
werden
(24) Info Sozialarbeit Heft 9, S. 70
(25) Erziehung und Klassenkampf Heft 15/16,
(26) Info Sozialarbeit Heft 9, S. 70
(27) a.a.O., S. 60
(28) Manfred Liebel , Produkti vkraft Jugend,
sche Aspekte der Arbeiterjugendfrage im Kapitalismus,
Verlag Jugend und Politik, Frankfurt 1976, S. 18
(29) Das RJWG war bereits am 9.7.1922 von SPD und Zentrum gegen die
Stirrmen von USPD und KPD verabschiedet worden, trat jedoch erst
am 1.4.24 aus vorwiegend okonomischen Grlinden (Inflation 21/23)
in Kraft. Vgl. Gefesselte Jugend - Fursorgeerziehung im Kapita-
lismus
(30) Riedel, Hermann, Kommentar zum Jugendwohlfahrtsrecht 1971,
Beck' sche Textausgabe, S. 63
(31) 3. JugendbeHicht
(32) a.a.O. S. 56
(33) ebenda
(34) ebenda
(35) ebenda
(36) Familienbericht 2. der Bundesregierung 1975, S. XXVII
(37) a.a.O., S. VIII
(38) H. Riedel a.a.O., S. 71
(39) Vgl. Schulverfassungsgesetze der Lander
(40) AusfLihrungsvorschriften fur die Berliner Schule sind trotz der
erfolgten Ablosung durch das Schul verfassungsgesetz ein tref-
fendes Beispiel fur den Schuldvorwurf der Schule gegen Schuler
in Konfliktsituationen und die Festlegung der Jugendflirsorge auf
die Behandlung von Familienkonflikten
(41) Dienstblatt VII Nr. 68 vom 3.6.29 - Richtlinien fur die Familien-
fursorge
(42) Dienstblatt VII Nr. 47 vom 15.2.1939
(43) Dienstblatt Teil IV 1950 Berlin, S. 34-40
(44) Der Rundbrief. Fachliches Hi tteilungsblatt des Senators fiir
Jugend und Sport/Berlin 1963, S. 5
(45) Dbl. VII Nr. 68 v. 3.6.29
140
(46) Geschaftsverteilungsplan eines Berliner Jugendamtes 1949
(47) ebenda
(48) Geschaftsverteilungsplan eines Berl iner Jugendamtes 1973
(49) 3. Jugendbericht, S. 32
C 50) Kampfen, Lernen, Leben, Dokumentation des Kollektivs Georg-von'
Rauch-Haus Berlin-Kreuzberg, S. 192, 3. Auflage Dez. 1972
(51) Erzieherzeitung Heidelberg Heft 9/1976, S. 17 ff
(52) zitiert nach Info Sozialarbeit Heft 15/1976
Wt> babtn tin neves &Vth*
FRIEDE DEN HUT TEN
KRIEG* DEN
PALASTEN!
Wir siod Uhrlmge,
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Georg yon Rauch- a^m
gebt esweiter,
unter stiltzt uns!
Haus- Kollektiv
- 141
Ulrike Radhofer, Westberlin
ARBEIT IM JUGENDZENTRUM - WAS 1ST DRIN?
DAS 1ST SCHON? DASS UNS DAS HAUS
GEHORT! DANN GIBT'S KEINEN STREIT!
WEIL JA JEDEM ETWAS GEHORT!
Hinter mir liegen zwei Jahre Arbeit als Sozialpadagogin in einem
Jugendzentrum. Das waren zwei Jahre, die fur mich nicht allein ge-
kennzeichnet sind durch Schwierigkeiten, Fast-Resignation, Krisen,
in denen ich tatsachlich nicht mehr wuBte, wer ich bin und was ich
kann - sondern auch durch wichtige prsbnliche und politische Erfah-
rungen, durch ein langsames Entwickeln von offenen, direkten Bezie-
hungen zu den Jugendlichen. Was das fur mich bedeutet hat, kann ich
noch nicht alles in Worte fassen. Ich habe mich jetzt, am Ende der
zwei Jahre, nicht resigniert aus der Arbeit zuruckgezogen, sondern
ich gehe wegen einer neuen Arbeit, bei der ich hoffe, viel zu ler-
nen.
ICH WILL NICHT NUR DEN DRECK VERFLUCHEN -
LASST UNS DEN ROTEN FADEN SUCHEN !
Ich mdchte rait diesem Artikel keinen der Erfahrungsberichte schrei-
ben, in denen nur der Alltag beschrieben, die Frustration herausge-
lassen wird. Solche Berichte sind wichtig fiir die, die sie schrei-
ben; ich kann sie mittlerweile nicht mehr lesen. Ich mb'chte viel-
mehr mit diesem Artikel Mut machen. Er richtet sich an Leute, die
in ahnlichen Einrichtungen arbeiten, die, ebenso wie ich, liber
schlechte Arbeitsbedingungen, zu wenig Geld, zu wenig Planstellen,
Intoleranz der Machthaber usw. stb'hnen. Ich mbchte in diesem Arti-
kel Liberlegen, welche Mbglichkeiten drin sind bei dieser Arbeit.
Ich mbchte anderen Mut machen, daB sie' nicht im Al 1 tag ersaufen,
sondern wieder einen roten Faden sehen.
SO SIEHT'S AUS BEI UNS:
Zunachst einige Informationen zur Situation: Das Jugendheim ist ein
"Haus der Offenen Tiir" in der Tragerschaft der Ev. Kirche. Es liegt
in einer Stadt am Nordrand des Ruhrgebiets - da wo der Pott am
dreckigsten und am unterprivilegiertesten ist. Hier haben sich die
Zechen-Stillegungen in den 60-er Jahren wesentlich harter bemerk-
bar geraacht als in den groBen Stadten wie Dortmund, Bochum, Essen,
die Liber eine bessere wirtschaftliche und kulturelle Infrastruktur
verfugen.
Konkret - in dem Stadtteil, wo unser Jugendheim liegt, sieht das
so aus:
142
Im Verlauf der Kohlenkrise wurden vier Schachtanlagen geschlossen,
damit fielen traditionelle Arbeits- und Ausbildungsplatze weg. Durch
neue Arbeitsstellen, teilweise in anderen Stadten, durch Abwande-
rung und Oberalterung wurden jahrzehntelang gewachsene Strukturen
durcheinander gebracht, teilweise zerstbrt. Fur Jugendliche ist es
schwer, in ihrer direkten Umgebung einen Arbeitsplatz zu finden -
die groBen Lehrwerkstatten der Zechen und der Gelsenberg wurden ge-
schlossen. Die Wohnungen sind durchschnittlich zu eng, zu klein -
wenn auch in schbnen, fiir das Ruhrgebiet typischen Siedlungen mit
kleinen Hausern, Garten. Sie bieten den Jugendlichen kaum Mbglich-
keiten zum Ruckzug. Im Stadtteil und in der naheren Umgebung gibt
es nur Haupt- und Sonderschulen, keine weiterfiihrende Schule. Es
gibt keine NHS hier, keine Stadtbucherei . Das einzige Kino liegt
in Stadtmitte (mit Filmen wie 'KungFu', ' Schulmadchenreport' ) . Es
gibt in der N'a'he keine Buchhandlung, kein Jugendcafe, keine Bera-
tungsstelle. Da fur gibt's noch Analphabeten - Jugendliche, denen
man nur beigebracht hat, ihren Namen richtig zu schreiben. Klar,
daB die Flasche naher ist als die Tageszeitung. Und wer sich u'ber
Sachbeschadigungen aufregt, der hat die massenhaften Personenbe-
schadigungen noch nie bewuBt wahrgenommen.
In diesem Stadtteil liegt unser Jugendheim. Wir probieren eine Art
der Selbstverwaltung aus, wie sie sich innerhalb der letzten vier
Jahre entwickelt hat. Sie ist nie schriftlich fixiert worden als
Satzung o.a., ist auch immer in Veranderung. Zur Zeit ist es so,
daB ein aus der Arbeit gewachsenes Team die Planung und Durchflih-
rung der Veranstaltungen und Programme ubernommen hat. Neben mir,
drei Honorarmitarbeitern und (seit kurzem) einem Zivildienstlei-
stenden sind das ca. 15. Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18
Jahren.
Die soziale Zusammensetzung hat sich im Laufe der Zeit verschoben:
die "Aufbaugeneration" (mehrheitlich Gymnasiasten) hat mittlerweile
der "2. Generation" Platz gemacht, die fast ausschl ieBlich aus
Hauptschiilern und Lehrlingen besteht. Im Team werden alle wichtigen
Entscheidungen getroffen: Programm, Raumvergabe, Personalfragen,
Schllisselgewalt. Konflikte, die auftreten, wenn Entscheidungen des
Teams den Ansichten des Tragers widersprechen, mussen durchgestanden
werden und sind wichtige Lernprozesse fiir die Jugendlichen. Unser
Programm besteht aus Offenen Veranstaltungen (Diskothek, Tee-Aben-
de, Filme, Musik, Theater, Festivals), offenen Projektgruppen (Thea-
ter, je nach Stimmung noch Zeitung, Musik, Werken, Seminare), Feten,
Wochenend-Tagungen und Fahrten, Eltern-Gesprach, Eltern-Tanz, und
was sich spontan noch so ergibt. Wir haben aber immer mehr Projekte
im Kopf als raumliche und finanzielle Mbglichkeiten. Die Jugendli-
chen, die erfahren, daB hier kein formal es Konzept der Selbstver-
waltung zugrunde liegt, sondern daB sie hier wirklich Raume und
Mbglichkeiten fiir sich, fur ihre Bedurfnisse finden, arbeiten mten-
siv mit Die angeblich so motivationslosen Hauptschuler und Lehr-
linge, selbst die "Halbstarken" , packen mit an, well sie wis.sen:
DAS IST UNSER HAUS -
HIER SCHMEISST UNS KEINER RAUS!
Ich will im folgenden nicht nur Tagebuchnotizen aneinanderreihen,
sondern erst bestiramte Linien verdeutlichen, also das formulieren,
143
was ich im Laufe der Arbeit gelernt habe:
Ich halte es fur sinrwoll, im Jugendzentrum zu arbeiten, und zwar
sowohl aus inhaltlichen, politischen Oberlegungen heraus als auch
unter dem Gesichtspunkt, was einem eine solche Arbeit persbnlich
bringt. Folgende Punkte will ich in diesem Zusammenhang festhal-
ten:
GEMEINSAM LEBEN
Arbeit im Jugendzentrum kann heiBen, einen Schritt in Richtung "Ge-
raeinsames Leben" zu tun, der Vereinzelung und Privatisierung der
Arbeiterjugendlichen entgegenzuwirken. Die Jugendlichen, die ins
Jugendheim kommen, sind dabei , sich von Zuhause zu Ibsen. Sie haben
ahnliche Schwierigkeiten in der Schule, im Betrieb, zu Hause. Diese
Schwierigkeiten werden in diesem Land meistens privat "gelbst",
durch Flucht in die eigenen vier Wa'nde, Isolierung in Ehe und Fami-
lie, Vereinzelung. Diese MSglichkeit ist den Jugendlichen noch ver-
wehrt. Das Jugendheim ist fur sie ein Zufluchtsort, der sie eben
nicht nur vereinzelt la'Bt, sondern wo sie Freunde treffen, denen es
a'hnlich geht, mit denen sie gemeinsam ihre Freizeit organisieren
und ihre Schwierigkeiten angehen kbnnen. Diese Erfahrung ist z.B.
bei geneinsam verbrachten Wochenenden, bei Fahrten sehr wichtig.
Bei einer kontinuierlichen Arbeit im Jugendheim Uber Jahre hinweg
mu'Bte man versuchen, diese Erfahrung nicht nur auf die paar Jahre
zwischen 11 und 18 zu beschra'nken, sondern weitere Mbglichkeiten
gemeinsamen Lebens zu finden.
" ICH KANN WAS! "
Durch die Arbeit im Jugendheim kann das SelbstbewuBtsein von Arbei-
terjugendlichen gestarkt werden: Sie arbeiten in der Selbstverwal-
tung, organisieren Feste, Veranstaltungen, Fahrten, sie machen mit
anderen Musik, sie spielen Theater, sie experimentieren mit neuen
Medien. Sie werden akzeptiert, so wie sie sind, sie erfahren: "Ich
kann was. Man, hbrt mir zu. Ich bin nicht der letzte Dreck, wie die
Alten und der Meister meinen." Wir haben die Erfahrung gemacht, daB
viele Jugendliche, die im Jugendheim bewuBter, selbstbewuBter wurden,
auch woanders, z.B. in der Schule, anders auftraten, sich nicht
mehr so vie! bieten lieBen. Das ist fiir mich ein ganz wichtiger
Punkt, vielleicht der rote Faden der Arbeit.
UNSERE KULTUR
In diesem Zusammenhang is
dung, insbesondere politi
Arbeit gefbrdert werden:
Musik, ihre Bewegungen en
nur auf kommerzielle Vorb
Krimihelden: Abba, Status
ihnen diese Gesellschaft
spielen und Musikmachen s
Lage, ihre Hoffnungen und
finden, die die Vorausset
- 144 -
t mir eins deutlich geworden: BewuBtwer-
sche BewuBtwerdung, kann liber kulturelle
Wenn die Jugendlichen ihre Sprache, ihre
tdecken. Wenn sich die Jugendlichen nicht
ilder beziehen, wie Rockgruppen, Stars und
Quo, Kung Fu und Kojak (was anderes hat
ja kaum zu bieten), wenn sie beim Theater-
ich selbst wiedererkennen, ihre eigene
Traume - dann kbnnen sie eine Identitat
zung fur politisches BewuBtsein ist.
DANN GEHT AUCH MAL WAS ZU BRUCH ...
Arbeit im Jugendheim ist nur mbglich, wenn man die schwierige "offe-
ne Arbeit" bewuBt akzeptiert und dazu stent. Natlirlich macht die
Disko nicht immer SpaB, wenn die Musik drbhnt, wenn man mal wieder
Schlagereien schlichten und sich mit Besoffenen herumstreiten muB.
Mulmig wird's auch in der Magengegend, wenn geschlossene Jugend-
"Banden" mal wieder ausprobieren, wie weit sie gehen kbnnen in dem
Laden, ohne herausgeschmissen zu werden. Ich meine allerdings, daB
diese Konflikte ausgetragen werden mlissen. Wir haben dabei nicht
Starke demonstriert (das ware bei meinen 156 cm auch eher lacherlich) ,
aber weil wir die meisten Jugendlichen gut kennen und sie Vertrau-
en zu uns haben, weil sie wissen, daB wir sie akzeptieren, lieBen
sich die meisten Schwierigkeiten Ibsen. Allerdings sind wir auch
nicht bei jedem zerbrochenen Stuhl ausgeklinkt, mit der Zeit ent-
wickelt man da eine gesunde Apathie (nur als ein paar Idioten mal
zwei Feuerlbscher im Saal geleert hatten und wir zwei Tage lang
schrubben muBten, da war ich ganz schbn sauer) .
Die SchlieBung der offenen Veranstaltungen kam fiir uns nie ernst-
haft infrage, denn nur aus der offenen Arbeit heraus la'Bt sich inten-
siv mit Jugendlichen arbeiten. Nur Gruppenarbeit, ohne offenes An-
gebot, ist nicht interessant fur Jugendliche, da werden sie nur
spezialisiert als Bastler, Musiker, Diskutierer usw. angesprochen.
Aber sie wollen auch tanzen, Bekannte treffen, neue Leute kennen-
lernen, 'ne Perle oder 'nen Typ anmachen, oder auch sich nur die
Musik reinziehen.
Offene Arbeit ohne gleichzei tige intensive Arbeit in Gruppen und Pro-
jekten bleibt oberflachlich. Arbeit in Gruppen und Projekten ohne
offenes Angebot wird auf die Dauer langweilig und schlaft ein.
ICH WILL SO SEIN, ME ICH BIN
Fiir Leute, die in Jugendheimen arbeiten, ist es wichtig, daB sie
ihre eigene Person in die Arbeit einbringen, daB sie nicht anonym
bleiben. Die Jugendlichen erwarten in den Mitarbeitern Leute, zu
denen sie mit ihren Schwierigkeiten kommen kbnnen, die ihnen zuhbren.
Aber die Mitarbeiter sollten sich nicht nach einem bestimmten "So-
zialarbeiter-Vorbild" verhalten, sondern sich so geben, wie sie sind.
Wenn sie sich nicht gerne gewaltsam auseinandersetzen, sollten sie
nicht unbedingt Starke demonstrieren, sondern andere Wege finden.
Wenn sie nicht so ausflippen kbnnen wie manche Jugendlichen, wild
tanzen usw., sollten sie das lassen. Und wenn sie mude, erschbpft,
qereizt sind, Liebeskurmier haben, sollten sie das nicht unbedingt
Uberspielen. Die Jugendlichen, mit denen wir zu tun haben, sind sehr
sensibel und merken sofort, wenn man ihnen etwas vormacht. "Am
besten finde ich dich, wenn du so bist, wie du wirklich bist, und
nicht etwas vorspielst. Das ist Theater, und nicht mal besonders
gutes", sagte mir Holger, ein Lehrling, von dem ich viel gelernt
habe.
WAS KANN ICH
rv,™ aehbrt aber auch, daB man seine eigenen spezifischen Fahigkei-
?en in die Arbeit einbringt, sei es nun Musik machen, Theater spielen,
- 145 -
werken, malen, Gesprache flihren. Das Medium, das mir liegt, ist
z.B. Theater im umfassenden Sinn, also Bewegungs-, Rollen-, Spon-
tanspiele usw. Ein solches Medium darf natiirlich nicht nur das per-
sbnliche, leicht belachelte Hobby des Mitarbeiters bleiben, sondern
solTte sich in mbglichst vielfaltigen Forraen.durch die Arbeit Zie-
hen.
Im folgenden will ich eine Woche beschreiben , die das bisher Ge-
sagte illustrieren soil. Die Woche ist nicht mit alien Einzelheiten
so hintereinander abgelaufen, aber alles, was ich jetzt beschrei-
be, ist einmal vorgekommen.
AM SONNTAG FANGT DIE WOCHE AN ...
Am Sonntag fallt es mir am schwersten, arbeiten zu gehen; jahrelang
gewohntes Freizeitverhal ten wird durchbrochen. Dabei ist am Sonntag
Theatergruppe, also das, was mir am meisten SpaB macht.
Also los, auch wenn's schwer fallt. Heute haben wir einen Inten-
siv-Termin, weil wir viel proben mlissen. Die Theatergruppe ist ein-
geladen worden, auf dem Kirchentag in Berlin zu spielen. Wir werden
"Klassenlotterie - oder: ...und ich geh' doch nicht nach Harstadt"
spielen, ein Stuck zu Berufsberatung und Jugendarbeitslosigkeit, das
wir alle zusammen gemacht und eingeubt haben. Wir haben es schon oft
gespielt, aber jedesmal anders, denn die Szenen werden auf der
Grundlage eines Stuck-Geriistes improvisiert; es gibt immer wieder
was Neues zum Lachen. Das Stuck steht, wir besprechen'nur noch ein
paar Einzelheiten. Dann geht's an die neue Produktion: StraSenthea-
terszenen zum Thema "Arbeitsmarkt" . Wir probieren, kritisieren,
schmeiBen alles ein paar Mai urn, nach vier Stunden sind wir immer
noch nicht zufrieden, aber in Berlin wird's schon klappen.
Alle freuen sich auf Berlin, auf das Spielen dort. Ich habe gemisch-
te Geflihle: Ich freue rnich auch, aber ich habe, wie immer vor grbBe-
ren Aktionen.i Angst, was da wieder alles passieren kann. Wenn nun
jemand verloren geht, oder sich Hasch andrehen und dann erwischen
la'Bt, oder wenn wir einen Auto-Unfall haben... Diese Angste sind
noch nie wahr geworden, aber ich habe sie trotzdem immer.
MONTAG
Abends ist Team-Sitzung. Ein wichtiger Tagesordnungspunkt ist die
Vorbereitung des kommenden Sommer-Festivals. Volker fragt, ob "wie-
der nur politische Gruppen" spielen werden oder ob wir nicht mal
'ne bekannte Rockgruppe holen kbnnen, Scorpions oder so. Es gibt
eine spannende Diskussion: Warum machen wir Feste, Festivals?
Geht's nur darum, daB die Leute abschalten, konsumieren oder kbnnen
wir ihnen auch Alternativen zeigen? Soil auf unseren Festen auch
vom beschissenen Alltag die Rede sein, und was man dagegen tun
kann?
Micha fragt sehr erregt: "Ihr seid doch Linke hier im Team, sagt
ihr, ihr wollt doch was verandern. Jetzt sag1 mal .Michael , was
heiBt denn flir dich 'links'?" Michael wird nachdenklich, zbgert,
weiB nicht, was er sagen soil. Micha la'Bt nicht locker: "Was willst
- 146
du denn hier verandern?" Eine anstrengende Diskussion spielt sich
ab keiner mag die alten Formeln gebrauchen. Wir stellen fest, daB
auch "linke Lieder" gedankenlos, wie Fahrtenlieder geleiert werden
kbnnen. Wir merken: Uns fehlen noch viele Argumente, urn zu erklaren,
was wir andern wollen und wie.
Nach der Sitzung sagt Micha, daB er Michael so festgenagelt hat,
weil inn auf dem Putt sieben Mann auf einmal herausgefordert haben,
die wissen wollten: "Was soil das heiBen, du bist links?" - "WeiB-
te, und dann stehste da, und weiSt nicht, wasse sagen sollst. WiBt
ihr eigentlich, wie das ist?"
DIENSTAG
Auf die Spontan-Theatergruppe mit den 11-1 3-jahri gen freue ich mich.
immer. Erst toben wir durch den Saal , machen Bewegungsspiele. End-
lich kann man sich frei bewegen, ohne gleich an irgendeine Tlir zu
stoBen! Dann besprechen wir, was wir heute spielen wollen. Themen
wissen die Madchen und Oungen genug: "Wenn man beim Rauchen er-
wischt wurde, was dann passiert." "Wenn ein Madchen einen Freund
hat, und die Eltern merken das." - "Wenn der Vater arbeitslos^
wird, was dann in der Familie passiert." - "Wenn ein Madchen einen
Jungen kennenlernen will oder umgekehrt, und sich nicht traut." -
"Wenn ein Madchen 'nen Gastarbeiter als Freund hat." - "Werbung,
Werbefernsehen."
Wir bilden kleine Gruppen, die iiberlegen sich eine Geschichte, und
spielen sie den anderen vor. Danach sprechen wir darliber: Was hat
uns gut gefallen, was war weniger gut? "Bei der ersten Gruppe fand
ich gut, daB man alle verstehen konnte." - "Ja, und die Mutter hat
nicht nur rumgeschrien, die hat auch mit den Kindern diskutiert."
"Bei der zweiten Gruppe fand ich doof, daB die alle nur ausgeflippt
sind beim Schule-Spielen. Das stimmt doch gar nicht in Wirkl ichkeit."
Wir lernen gemeinsam, neu zu sehen , wahrzunehmen; die Wirkl ichkeit ,
die beschissene und die, die wir uns wlinschen. Mir fallt auf, daB
die, die bisher eher schiichtern waren, aufgeweckter werden und teil-
weise umwerfend gut und witzig spielen.
Abends- Seit ein paar Wochen la'uft dienstags abends ein Seminar
zum Thema "Faschismus-Alltag im Dritten Reich, Hitler, Was geht
uns das heute an?"
Wir haben uns zu diesem Seminar entschlossen, weil das Tragen von
Nazi-Symbolen zunimut, liber Juden-"Witze" gedankenlos gelacht wird,
Hit er bei einigen (wie vielen?) als Vorbild gilt. Aber kaum je-
mand weiB etwas uber diese Zeit. Wir haben an jedem Dienstagabend
eine Menge Jugendliche da, Hauptschuler und Lehrlinge, die mehr
wssen wollen! und die an diesem Abend viel kapieren Wir horen kei-
ne Referate an, sondern haben Leute eingeladen, die diese Zeit selbst
erlebt haben und die darliber erzahlen kbnnen: Widerstandskampfer,
eheraliqe KZ-Haftlinge, aber auch Erna, 53 Jahre alt: Sie war zur
HitTer-Zeit ein junges Madchen, begeistert von den Nazi-Ideen,
RDM Funk? onSHn Nach dem Krieg hat sie erfahren mussen, wie sie
betroqen wSrde, hat einen bitteren LernprozeB mitmachen mussen.
Je klingt erregt, als sie sagt: Ic erzah e Euch das,
o-i ihr nicht mehr darauf hereinfallen durft. Es ist so leicnt,
funge Leu?e zu begeistern, politisch zu verfuhren. Ich kriege Angst,
- 147 -
wenn ich die Entwicklung heute sehe. Ich war in Brokdorf, habe die
jungen Polizisten gesehen, den Terror gegen Demonstranten, Anders-
Denkende. Beschafft Euch Informationen! Glaubt nichts, was ihr nicht
selber sent!"
MITTWOCH
Nach der Disko habe ich notiert:
Heute wieder viel Al kohol-Konsum. Die meisten kommen schon besoffen
ins Jugendheim. Ich muBte flir Hacki den Krankenwagen holen, er war
vollgedrohnt von Drogen und Alkohol zugleich. Pit, einer vom Team,
liegt vollgedrohnt hinten auf dem Rasen ("Mein Alter will mich
rauswerfen") .
Schlagerei zwischen Horsti und einem anderen noch rechtzeitig ge-
schlichtet. Eine Scheibe in der benachbarten Schule wird eingeschla-
gen. Der Hausmeister holt die Polizei, die wieder abziehen muB,
weil sich naturlich kein "Schuldiger" findet. Der eine Polizist sagt,
als er wieder abfahrt: "Was hat dieses Jugendhaus eigentlich noch
mit der Kirche zu tun? Sehen Sie sich doch 'mal die Typen hier an!"
Ich rege mich auf, schreie ihn fast an: "Was meinen Sie, wenn die-
ses Jugendhaus nicht ware!" In einem unbewachten Moment wird die
Eintrittskasse geklaut.
Und trotzdem - die Leute brauchen die Disko - wir machen weiter.
DONNERSTAG
Disko fiir die Kleinen. Das macht SpaB, da ist noch viel los, es 1st
nicht so festgelegt in den Bewegungen und Verhaltensweisen wie bei
den GroBen. Und man kann auch mal 'ne andere Scheibe auflegen, nicht
nur Abba und Bay City Rollers. Das Grips-Lied spielen wir oft, da
singen viele mit:
"Doof gebor'n wird keiner,
doof wird man gemacht,
und wer behauptet, doof bleibt doof,
der hat nicht nachgedacht."
Drei Mutter kommen vorbei , wollen sich mal anschauen, wo ihre Kinder
hingehen. Ich freue mich immer, wenn Eltern kommen, zeige ihnen al-
les, rede mit ihnen. "Is doch schbn hier", meint eine Mutter, "und
unsere Flirsorgerin hat gesagt, das war'n Puff, das Jugendheim."
Hinter der Theke Gesprach mit einem kleinen Jungen, der zum ersten-
mal da ist. "Wem gehdrt das Jugendheim eigentlich?" - "Na ja, den
Jugendlichen hier. Euch alien." "Das ist gut. Dann gibt's ja keinen
Streit, wenn alien etwas gehbrt."
noch offener Treff, hauptsachlich sind "Schuppen-Leute"
oberflachlich als "Halbstarke" bezeichnet. Sie ertra'nken
und ihre Enttauschung in Alkohol und Schlagerei en. Bei
sie sich zuhause. Johann: "Das ist das beste bei Euch,
h was erza'hlen kann, und keiner lacht einen aus."
te habe ich 14 Stunden malocht. Der Schmorri auch."
15. Jugendarbeitsschutzgesetz? Beide lachen.
isse, ich will ja aufhb'rn mit Saufen, ehrlich, aber auffe
kriegste so'n Brand, und da steht immer nur 'n Kasten
Sprudel, was willste da machen."
Abends ist
da, die man
ihren Zorn
uns flihlen
daB man Euc
Wuffi: "Heu
Beide sind
Flinti: "We
Arbeit, da
Bier, kein
- 148 -
SAMSTAG/SONNTAG
Wir machen eine Wochenend-Schulung mit dem Team. Thema: HeiBer
Stuhl. Reihum setzt sich jeder auf den "heiBen Stuhl", und einer
nach dem anderen sagt ihm, was er an ihm gut und was er schlecht
findet. Dies ist keine gruppendynamische Selbst-Zerfleischung,
auch kein oberflachl iches Sensitivity-Aufpappeln. Diese Leute bil-
den ein Kollektiv, das zusanmen arbeiten will - aber sie sehen nicht
nur diese Aufgabe, sie suchen auch Warme in der Gruppe, Zuneigung,
und sie wollen auch Aggressionen zeigen, wenn ihnen etwas stinkt.
An diesem Wochenende wird viel geklart, viel ausgesprochen, was lan-
ge in der Luft lag, aber nie so recht herauskam. Am Ende haben wir
das Gefuhl, daB das gegenseitige Vertrauen grbBer geworden ist.
Niemand wurde in die Pfanne gehauen, mutwillig verletzt, aber es
wurde auch keine Kritik unter den Teppich gekehrt (oh, was kbnnen
die Intellektuellen von diesen Jugendlichen lernen!).
Jumping singt auf der Riickfahrt wieder Arbeiterlieder. Die lernte
er in seiner Familie, nicht erst bei uns. Eins ist von der Rockgrup-
pe "Was tun", die zweimal bei uns gespielt hat, und Jumping singt
das sehr stolz:
"Solidaritat, Kerl , die brauchste,
wenne als Malocher wat erreichen wills,
sagt der alte PUtt-Mann Rudi Faust
auf'm Buckel vierzig Jahre Putt
und zweimal fast verschutt
zu seinem Kumpel Hannes
in der Kneipe an der Ecke..."
NOTWENDIG IST ...
In diesem Bericht fehlt vieles von meinem Jugendheim-Alltag: Die
ermiidenden Auseinandersetzungen mit einzelnen Leuten aus der Ge-
meinde und der Nachbarschaft, die das Jugendheim lieber heute als
morgen schlieBen wollen - Auseinandersetzungen, die nur durch das
hone MaB an Unterstutzung durch den Gemeindepfarrer durchgestanden
werden konnten, der immer seinen breiten Rucken flir uns hinhielt
fund wie oft muBte seine Frau uns im Kirchenchor verteidigen! ). Es
fehlt im Bericht der Rrger liber die sinnlosen Zerstbrungen; der
qroBe StreS (ich war zwei Jahre lang die einzige hauptamtlich Ange-
qtellte)- das Aufreiben in langweiligen Arbeiten wie Geld zahlen,
abrechnen; die Krisen-Zustande nahe der Resignation. Aber all dies
kennen die Kollegen aus eigener Erfahrung. Ich hoffe, daB ich die
Srhwieriqkeiten der Arbeit dennoch nicht zugedeckt habe - und
dennoch ein wenig Mut zu dieser Art von Arbeit gemacht habe, fur
Hie allerdings notwendig ist:
Be radikale Parteinahme fur die Interessen der Arbeiterkmder -
rucksichtslose Bemuhung, ihnen Erfahrungen zu ermoglichen, die
d« stSndige "Du bist nichts und Du kannst nichts" Lugen strafen -
Das dick-kbpfige Festhalten an einer Arbeit, mit der man sich bei
«"h"nnd-OrdnGng"-Schreieni nur unbeliebt machen kann.
DIESER BEITRAG ERSOflEN ZUM^RSTENJIAL
IN DER ZEITSCHRIFT
amos
K.RITISCHE BLATTER
AUS WESTFALEN
"Amos" berichtet aus dem kirchlichcn Bereich - Jugend- und Stadt-
.,ilarheit \KW-Bewegung - Antimilitarismus etc.
Bet! ;: Red^ln "Amos". Querenburger Hche 287, 463 Bochum
Gunther Soukup, Westberlin
SELBSTBESTIMMUNG UND DER WEG DORTHIN
- Ein Beitrag zur Bestimmung des Aktionsradius von Berufspadagogen
im Vorfeld von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung -
ZWEI IRRTUMER
Soultzerin/Vogesen, 1968, Kritische Padagogen aus Berlin haben es
erreicht, ein repressionsfreies, weil geschickt finanziertes Feri en-
lager zu organisieren. Die Mehrheit der Jugendlichen, werdende Fach-
arbeiter, Oberschliler und Fachschliler nutzt die Chance zur Selbstbe-
stimmung. Der Zusammenbruch der vorgeplanten Versorgung erzwingt
Selbstversorgung, Selbstorganisation ist die Folge der materiellen
Notigung, fur sein warmes Essen selbst zu sorgen. Eine woche vor
Lagerende findet in einem der Zweierzelte das unfreiwillig mitgehbr-
te Gesprach zwischen zwei 16jahrigen Madchen aus Kreuzberg statt:
"S'mal, wann bist'n du nach hause jekomm? Ha det jarnich mitgeknecht. "
"Ach, ScheiBe, war wieder urn flinfe." Pause. "Man, det konn die doch
jarnich mit uns machen, daB wir die janze Nacht wegbleiben du'rfen!'
Die beiden Madchen verlieBen bald darauf das Lager und trampten nach
Hause. Fur sie war der Wegfall von Aufsicht und Kontrolle eine repres-
sive Zumutung.
Didaktikumsbesuch in einer Schulklasse in Berlin Kreuzberg. Mentorin
und Studentin einer 9. Hauptschulklasse begriissen Sch'u'ler und Gaste,
die Studentin erb'ffnet den Unterricht, indem sie das Thema der Stun-
de nennt. Dann agieren die SchLiler selbstandig. Sie arbeiten uber
das Thema Welt-Ernahrung. Sie haben Auftrage unter sich verteilt
und jetzt berichten sie, erklaren mitgebrachte Tabellen und Bilder
Wie selbstverstandlich hat einer die Gesprachsleitung ubernommen, je-
der der spricht, steht auf. Er spricht zu seinen Mi tschulern, nicht
zur Lehrerin. Einmal nur greifen die Padagogen ein, namlich als die
SchLiler von der Diskussion der Ernahrungsfrage auf die naheliegende
Diskussion des Problems der Geburtenkontrol le u'berwechseln. Die In-
tervention zwingt die Klasse zum vorgegebenen Stoff zuriick. Die Be-
sucher' haben einen zwiespa'ltigen Eindruck. Das Erscheinungsbildder
Klasse la'Bt Selbstbestimmung und Selbstorganisation vermuten, einige
Aspekte deuten auf eine Dressurlei stung der Klassenlehrerin. Sie be-
sta'tigt, daB das Verhalten der Schuler das Ergebnis eines mehrjahri-
gen Trainings ist. Eine Theorie liegt ihrer ungewbhnlichen Didaktik
nicht zugrunde, sagt sie. Sie hielte es fur menschlicher.
Beide Beispiele markieren nahelpgende und weitverbreitete padagogi-
sche Irrtiimer. wahrend im ersten Beispiel alien Lagerteilneh-
mern ohne Ansehen ihrer Herkunft und ohne Beachtung der ubrigen Le-
benswirklichkeit der Teilnehmer die Fahigkeit und Bereitschaft zur
Selbstbestiirmung zudekretiert wurde, verdeutlicht das zweite, daB
von Interessen abgelb'ste Konditionierung nur die formal e Vorausset-
zung von Selbstbestimmung, doch immerhin diese, hervorzubringen
vermag.
- 15o
Lassen wir einmal auSer Acht, daB in beiden Fallen die Padagogen in
subjektiv bester Absicht handeln. (Lassen wir ferner auBer Acht, daB
man angesichts der obrigkei tl ich-ruckstandigen Art zu Lehren in
deutschen Schulstuben das zweite Beispiel schon als Utopie zu wer-
ten geneigt ist - obwohl es eigentlich nur aufzeigt, wie eine unse-
rem politischen System in etwa gema'Be Schuldidakti k aussehen kbnnte.)
Wie aber la'Bt sich Selbstbestimmung uberhaupt Lehren und Lernen?
ES GIBT NICHT V1EL WISSEN,
DAS MACHT VERSCHAFFT,
ABER ES GIBT VIEL WISSEN,
DAS NUR DURCH MACHT
VERSCHAFFT W1RD. B.Brecht
Die Chancen, im Verlauf des Sozialisationsprozesses jene F'ahigkeiten
und Leitbilder zu erwerben, die Voraussetzung von Selbstbestimmung
und fur die Selbstorganisation derDurchsetzung eigener und kollekti-
ver Interessen erforderlich sind, sind ebenso ungleich verteilt, wie
die ungleiche Herrschaftsverteilung in der Gesellschaft dies erfor-
dert. (Zu den Fahigkeiten zahlen u.a.: Sich mit Gleichen oder starker
Benachteiligten solidarisieren zu konnen, Erfassung von Machtverhalt-
nissen und Zusammenh'a'ngen, Planungsvermb'gen, Durchsetzungsvermbgen,
Belastbarkeit, Frustrationstoleranz, Wendigkeit.) Es ist deshalb im
Regelfall unmbglich, ohne eine Kette von Lernprozessen (die nicht in-
dividuell, sondern nur in Gruppenzusammenhangen erfolgen konnen)
zur Selbstbestimmung und Selbstorganisation der eigenen Gruppen-
und Interessenzusammenha'nge vorzustoBen. Dabei haben aufstiegsorien-
tierte Arbeiter und Angestellte (also auch Erzieher) .resignierte
Arbeiter und deklassierte Gruppen je verschiedene Schwierigkeiten.
O
^il die weitaus grbBte Menge der Menschen - scheinbar als Folge der
Arbeitsteilung, tatsachlich aber wegen ungleicher Machtverha'ltnisse -
zur passiven Hinnahme der fur sie berei tgestel lten (oder auch verwei-
oerten) Arbeitszusammenha'nge gezwungen ist, erscheint es ihnen als
selbstverstandlich, daB auch in alien anderen Bereichen uber lhre
KbDfe hinweg liber sie bestimmt wird. Selbst dort, wo sich die Macht-
unterlegenen kampferisch organisieren, tritt dieser Vorgang noch_
Pinna 1 auf. (Dies ist der richtige Ansatzpunkt der Padagogik Freires)
Dennoch sind diese Gruppen das am besten geeignete Lernfeld fur
Selbstbestintniings-"Tugenden", insofern in ihnen zumindest virtuell
ein Wechsel von FLihrung und 'Bestimmung' angelegt ist.
1 Klassiker der Arbeiterbewegung wuBten stets urn diesen Zusammen-
hana S e erkannten durchaus, wie sehr die Einubung der Be errsch-
£" in die Sender, des Ober-Sich-Bestimmenlassens zum Klotz am
Bein Ses esellschaftlichen Fortschritts werden muBten Marx Ent-
hi! lunaen uber den KommunistenprozeB zu Koln MEW Bd.8 5.41 2) zu
t seiner Zeit: "Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Burgerknege
schaft zu befahigen..."
- 151 ■
Rosa Luxemburg (Politische Schriften Frankfurt/Wien 1968 Bd. II,
Seite 162): Die Proletariermassen mlissen lernen, aus toten Maschi-
nen, die der (Capitalist an den Produktionsprozess stellt, zu denken-
den, freien, selbsttatigen Lenkern dieses Prozesses zu werden. Sie
mlissen das Verantwortungsgeflihl wirkender Glieder der Allgemeinheit
erwerben..." (Diese Satze stammen - und das ist zu bedenken - aus
einer historisch-revolutionaren Situation.) Sie zeigen einen Zusam-
menhang auf, der auf unsere Fragestellung konstituierend einwirkt:
Menschen lernen im Regelfall nur das, was ihre soziale Situation
von ihnen an neuen Fahigkeiten und Fertigkeiten fordert. Die Defini-
tion dessen, was ihnen nu'tzlich oder weniger nlitzlich zu lernener-
scheint, wird primar durch die Anforderungen des Oberlebens in ihrer
je spezifischen Lage bestirmit, sekunda'r durch mehr oder weniger reaT
listische Wlinsche und Hoffnungen flir eine eigene 'bessere' Zukunft.
Nur durch die Teilhabe an einer fortschrittlichen Bewegung ent-
stehen Hoffnungen auf die Verbesserung der Lage aller oder der Klas-
se.
Selbstbestimmungslernen fur sich selbst kann es nicht geben. Es wird
in der Realisierung von Bed'u'rfnissen, Hoffnungen und Interessen ge-
lernt - oder gar nicht. Es wird allerdings auch nicht an Interessen
gelernt, die die Lerner aufgrund poli tisch-soziologischer Analyse
eigentlich haben mu'Bten, sondern im Kampf urn die Durchsetzung der
jetzt vorfindlichen und der im ProzeS bewuBt werdenden Interessen
und Ziele.
Lernprozesse, die die Individuen als flir ihre zentralen (existenz-
sichernden) Interessen nachteilig definieren, werden direkt oder m-
direkt abgewe hrt. Bei spiel:
Drei Banklehrli
ger: "Das war j
und Lernen und
wenn wir nicht
flrger in der Fi
biSchen gemotzt
Ferien selbstve
mu'Bt verstehen,
bei euch wlirden
nge eine Woche nach einem "emanzipatorialem" Zeltla-
a eine ganz dufte Zeit da im Lager. So mit Freiheit
Diskutieren und so. BloB jetzt mu'Bt ihr verstehen ,
mehr zur Gruppe kommen. Wir hatten noch nie so viel
rma, wie in den letzten acht Tagen. Wir haben nur ein
, weil so ein paar Sachen im Betrieb, die vor den
rstandlich waren, es einfach nicht mehr sind. Ihr
aber wir mlissen das Jahr schon noch rumbringen. Und
wir jedesmal wieder aufgeladen."
Je ungesicherter und miserabler die soziale und materielle Lage eines
Menschen oder einer Gruppierungtatsachlich ist, desto starker ist
die Tendenz zur Hinnahme von Fremdbestimmungen. Extrem ist dies in
Anstalten der Fall, in denen die Insassen zu Karteikarten, Nummern
und statistischen Einheiten zusammengeschrumpft werden. (Ober die
Schwierigkeit, die so hergestellten Haltungen von oben aufzubrechen,
berichten Basaglia et al: Die negierte Institution) Selbst lautstar-
ke Proteste gegen Fremdbestimmung sind dabei zunachst kein Indiz flir
die Bereitschaft und die Fahigkeit zur Selbstbestimmung/-organisation.
Die Geborgenheit der Abhangigkeit ist letztlich in solcher Lage im-
mer noch ertraglicher, als eine Unabha'ngigkeit, die mit Unsicherheit
verknlipft ist. Erst bei Versagen der Obrigkeit im Versorgungs- und
Sicherheitszusammenhang wird tatsachlich Aggression ausgelbst - wie
die Analyse vieler Rebellionen zeigt - dochweder notwend'ig, noch auto-
matisch Selbstbestimnung.
- 152 -
Q
Diese Thesen sollen verdeutl ichen, daB der Spielraum zur Festlegung
von durch Berufspadagogen zu erreichenden Zielenim
Hinblick auf Selbstbestimmungslernen enger begrenzt ist, als diese
gern annehmen. Es ist zudem auffallig, daB die erfolgreichsten Ver-
suche der Befahigung von Betroffenengruppen meist von Sozialarbeitern
und Erziehern n e b e n und auBerhalb ihrer haupt-
amtl ichen Berufsrolle durchgefiihrt wurden. Dies mag damit zu tun ha-
ben, daB die Gesetzmassigkei t der burokratischen Apparate, von denen
die Angehb'rigen der padagogischen und sozialen Dienste selbst fremd-
bestimmt abhangig sind, solche Versuche verhindert - auch indem sie
'ihren Beschaftigten Interessenlagen aufzwingt, die ihnen selbst eine
entfaltete Selbstbestimmungspotenz des ' Klientels' als fiir sich un-
vorteilhaft definieren lassen. Der Kampf flir mehr Selbstbestimmung
durch die Betroffenen ist daher auch immer einer fiir mehr Selbstbe-
stimmung am Arbeitsplatz der Sozialarbei ter und Sozialpadagogen.
Fatalerweise neigen Erzieher (im weitesten Wortsinn) dazu, die eige-
nene Defizite und Diskrepanzen zwischen Ansprlichen und Lebenspraxis
mbglichst unangefochten bestehen zu lassen, die Anspruche aber auf
die Jugendl ichen, Kinder, Eltern usw. zu ubertragen. Ersatzweise
sollen dann die 'Klienten', objektiv oft in noch ungunstigerer Lage,
Kampfe durchstehen, die von den Erziehern selbst gemieden worden
sind. DaB sich die Betroffenen zu dieser Art von 'Kastanien aus dem
Feuer holen' nur einmal und nicht wieder losschicken lassen, sollte
sich von selbst verstehen.
Berufserzieher konnen in ihrer Berufsrolle nicht als Avahtgarde des
Fortschritts agieren. Sie konnen aber im Vorfeld selbstbestimmter
Interessendurchsetzung und selbstorganisierter Kampfe zur Herausbil-
dung von Fahigkeiten beitragen, die den Betroffenen in spateren Si-
tuationen als nutzliche Verhaltensmodelle und Konf 1 iktstrategien
zur Verfligung stehen. Das setzt zuweilen auch die Bereitschaft vor-
aus, in Rechnung zu stellen und zu ertragen, daB die Betroffenen
auch und gerade gegen sie lernen.
Das Lernziel Selbstbestimmung kann auch unerreichbar bleiben, wenn
die Initiatoren einschlagiger Projekte und Vorhaben in schbner Pa'da-
aoaentradition Ziel und Weg verwechseln, d.h. die Tatsache verleugnen,
daB zur Erreichung von Zielen Schritte unabdingbar sind, die gegan-
nen und geubt sein mussen, bevor der nachste getan werden kann. Ob-
wohl in bestimmten Situationen die verbffentlichte Zuschreibung, daB
eHne Gruppe oder eine Person zu einer bestimmten Handlung fahig sei
obwohl das noch sehr fraglich sein mag - von groBen motivierenden
Wert sein kann, ist es ein absurder Irrtum, zu meinen, lediglnch
durch positive Zuschreibung, gutes Zureden oder di_e ^P^ ehlung^be-^
st
den.
wie
Zie
den
mung zu verhi
ersten
^Schadenfrohes Padagogikergemurmei
das fiihrt mit der Selbstbestimnung.)
ZUJhritt abzunehmen, oder aber inn ungedeckt und unvorterei-
en L *z lassen, die ihn uberfordern mussen
'" 5122* ^sL^cik^emunnel: Da kbnnt ihr ja mal sehn, wohln
- 153 -
Nach dieser groben Bestimmung der gesellschaftlich gesetzten Grenzen
fur den Versuch, im Rahmen professioneller sozialer und padagogischer
Tatigkeit Selbstbestimmung bzw. ihre Voraussetzungen "lehrbar" zu
machen, seien einige Erfahrungssatze festgehalten, die sich im Ver-
lauf vieler Projekte, die explizit Oder implizit Selbstbestimmung
oder auch Selbstorganisation zum Ziel hatten, akkumuliert haben:
I Die wichtigste Voraussetzung fiir Selbstbestimmungslernen ist die
Lerngruppe:
- die Existenz gemeinsamer Ziele und Interessen, eine Gruppenperspek-
tive in Richtung auf die Durchsetzung solcher Interessen.
- die Entfaltung eines ausreichenden Wir-Gefuhls in einer solchen
Gruppe durch gemeinsame Erlebnisse, Aktionen und deren Reflexion.
(Nach wie vor ist der den Gruppenpadagogen (seit Lewin) eigenen Hoff-
nung, man kdnne durch Demokratisierung des Micro-Bereichs der Ge-
sellschaft zur gesel lschaftlichen Veranderung vorstoBen, mit Skepsis
zu begegnen. Es ist andererseits nicht zu sehen, wie ohne eine brei-
te Kampagne der Einiibung von SelbstbewuBtsein und Selbstbestimmung
in Gruppen gesamtgesellschaftliche politische Veranderungen eine
soziale Basis finden soil en. Doch gerade die Herstellung der Mbglich-
keit zu so breit angelegten Kampagnen unter gegenwa'rtigen Bedingun-
gen - und noch dazu unter Einsatz beruflicher Arbeitskraft von Pada-
gogen wird zunehmend be- und verhindert. Dies konnte bedeuten: Wir
sind (?) (waren) auf dem richtigen Weg).
- ein erkennbarer und unleugbarer Erfolg solcher Aktionen in Richtung
auf die Gruppenziele und -hoffnungen (nur durch wahrgenommenen Erfolg
ist eingeiibte MiBerfolgserwartung und Resignation tendenziell an-
greifbar).
Brecht: Schbnster aller Zweifel aber
Wenn die geschwachten Unterdruckten
an die Starke ihrer UnterdrUcker
nicht mehr glauben
- Gruppenerfolge kbnnen - von'Zufallen abgesehen - nur das Resultat
sorgfaltiger Vorbereitung von Kampagnen und Aktionen sein. Die Last
dieser Vorbereitungen liegt in der Ausgangslage vol! bei den Gruppen-
griindern, sie kbnnen sie zu diesem Zeitpunkt nicht mit dem Hinweis
auf die Notwendigkeit selbstbestimmten Gruppenhandelns zuruckweisen.
• Auch in Lerngruppen des dargestellten Typs lernen nicht alle Mit-
glieder zugleich gleiche Aspekte selbstbestinmten Handelns. Inner
gibt es qua Sozialisation oder aufgrund von Vorerfahrungen Unter-
schiede in Anspruch und Qualifikation zur Mit- und Selbstbestinmung.
Die sich herausbildenden gruppeneigenen Fiihrer mu'ssen einerseits an
die Stelle der (Profi-)Gruppengrunder treten, andererseits bleibt es
die Aufgabe der Griinder, die schweigende Mehrheit vor der gruppen-
eigenen 'Herrschaft' zu schlitzen. Dies kann z.B. in der Hilfestel-
lung bei der Entstehung oppositioneller Untergruppen erfolgen.
• Auch in Gruppen des Reproduktionsbereichs (andere wird es in die-
sem Zusammenhang kaum geben) spielen die Mitglieder die gleichen Kon-
kurrenzkampfe und Statusrangeleien weiter, die ihnen der berufliche
Sektor aufzwingt. Es ist fiir die Gruppenentwicklung kein Vorteil,
wenn eine Gruppe gehindert wird, eine Phase intensiver Konkurrenz-
kampfe im Inneren auszutragen. Erst nach einer Ausbalancierung in-
154
terner Machtverhaltnisse entwickelt sich in der Regel ein Arbeits-
und Aktionspotential nach drauSen. Es bleibt aber Aufgabe der Grun-
der oder Teamer der Gruppe, den unterlegeneren Grupperaii tgliedern
die Kenntnis und Fahigkeit zu vermitteln, die sie benbtigen, urn Fiih-
rer abzulbsen. Dies bedeutet, daB man tendenziell nicht Flihrung ab-
schafft sondern im Verlauf des Prozesses viele oder alle zur Ober-
nahme von Fiihrungsfunktionen befahigt. Dies setzt die Freisetzung
von Kritik an Griindern und FLihrern v o r a u s . Jedes Mitglied
muB erfahren haben und wissen, daB Kritik nicht zur Isolation flihrt.
| In den seltensten Fallen stimmen die erstgenannten Gruppenziele
mit den tatsachlich angestrebten Uberein. Diese Ideologie-Praxis-Dis-
krepanz ist immer wieder Gegenstand der Gruppendiskussion. Der ideo-
logisch-notwendige Charakter solcher Verschleierungen muB zwar
einerseits akzeptiert bleiben, die Benennung der tatsachlichen Inter-
essen und Ziele tragt erheblich zur Entspannung der Gruppe nach innen
bei (Beispiel: Es ist ein Fortschritt,i wenn etwa Erzieherschliler
nicht mehr behaupten, sie wiirden Erzieher, weil sie die Kinder lie-
ben sondern sagen, daB ihnen dieser Job von seinen Konditionen her
qefS'llt oder wenn Eltern nicht mehr sagen, sie wollen den neuen Aben-
teuerspielplatz lediglich urn der Erweiterung des Aktionsspielraumes
aller Kinder ihrer Nachbarschaft willen durchsetzen, sondern sich
und anderen eingestehen, daB sie inn auch wollen, urn bfter mal von
i h r e n Kindern entlastet zu werden. DaB solche Offenheit auch ein
wenig normativ-inquisitorisches Gruppenklima voraussetzt - welches
selbst wiederum nur ein Resultat des Prozesses sein kann, ist einer
der vielen gruppendidaktischen Zirkelschllisse, die sich nicht im ra-
schen Durchgang losen lassen. (Inmerhin ist in die Erfahrung der Men-
schen unserer Gesellschaft eingegraben, daB jedes unbedachte offene
Wort zur Waffe im allgemeinen Konkurrenzkampf werden kann.)
Die gruppeninterne Verbffentlichung unverschleierter Absichten und
Interessen tragt aber wesentlich dazu bei, daB die Gruppe sich rea-
listische Ziele setzt, zu deren Erreichung die Krafte und das Enga-
gement auch tragfa'hig genug sind.
ulr aus seiner Berufsrolle heraus mit Gruppen arbeitet, die in der
nurchsetzung ihrer Interessen Selbstbestimmungs- und Selbstorgamsa-
tionsfahigkeiten erwerben sollen, muB sich auf ein langfnstiges En-
aaaement einlassen. Er sollte andererseits versuchen.sich selbst
von der Gruppe so unabhangig zu halten oder zu machen (etwa nndem
Ian das nachste Projekt schon beginnt, wenn dne Ablosung von der er-
sten Gruppe In Sicht gerat) .damit sein affekt ives Bedurfms ihr, nicht
Haran hindert, sich Schritt fur Schritt uberfluss^er zu machen.
Um^ie eigenen Wirkungen richtig einschatzen zu konnen ist Kommuni-
kation mit Dritten und das Vorhandensein eines wie auch immer provi-
sorischen MeBinstrumentes nutzlich.
SenziSngen in Jerlozialen Lage der Gruppenangehbngen verursach-
- 155 -
ten) Unterschiede in der Ausgangslage und im optimal Erreichbaren
bedacht werden, ist die folgende Orientierungshilfe (ein Extrakt aus
vielen Erfahrungen und in Anlehnung an ein analytisches Modell Mol-
lenhauers entstanden) mbgl icherweise brauchbar:
a.) Die Gruppe ist in Reaktion auf einen Grundreiz (eine antizipier-
te Interessenlage) zustandegekommen. Die versammelten Einzelnen sind
zunachst Objekte der Tatigkeit der Veranstalter. Diese Reaktion auf
einen Grundreiz liegt natlirlich dann nicht vor, wenn die Gruppen
Zwangsgruppen sind, wie etwa im Heim oder in der Schulklasse. Es ist
gunstiger, in solchen Institutionen Gruppen quer zur Zwangsgruppen-
struktur zu bilden. (Der Grundreiz zieht dann Menschen mit einer ahn-
lichen Interessenrichtung an.)
In dieser Lage sind zunachste Beziehungen zwischen den Beteiligten
herzustellen. Die Besonderheiten und speziTischen Fa'higkeiten sollten
im Gruppenprogramm erkennbar werden. Das setzt die Animation zu man-
nigfachen Aktionsfonnen voraus. (Wer wenig redet, mag viel tanzen.
Wer nicht tanzt, kann sich in handwerklicher Arbeit darstellen und
dabei reden usw. ) Es sind diejenigen Fa'higkeiten und Fertigkeiten
gruppenbffentlich zu machen und den Gruppenzielen nutzbar zu ma-
chen, die spa'ter in das Selbstbestimmungspotential eingehen. Die da-
mi t verbundene Aufwertung der Teilnehmer verstarkt die Gruppenkoha-
sion.
b.) Obernahme von technisch-organisatorischen Funktionen in der Grup-
pe durch Beteiligte (wird erst durch die vorangegangenen Verdffent-
licheungen mbglich).
In der Obernahme solcher Detail funktionen profilieren sich die ersten
Ansatze zum Aufbau gruppeneigener FLihrung. Mit GewiSheit setzen sich
in dieser Phase solche Gruppenmitglieder durch, die im Verlauf ihrer
bisherigen Sozialisation Erfahrungen im Durchsetzen ihrer Interessen
und FLihrungsanspruch entwickeln konnten. Im weiteren Verlauf des Pro-
zesses wird ihre Fuhrung des bfteren in Frage gestellt werden. Dies
kann sowohl mit einer Aufteilung von Fiihrungsfunktionen, mit der Ab-
setzung der eher noch selbsternannten Fuhrer oder mit ihrem Weggang
(ggf. mit Anhangern) enden. Dennoch bedu'rfen diese allerersten Fu'h-
rungsversuche von Gruppenmitgliedern in den ersten Phasen der Anlei-
tung und Unterstu'tzung durch die (oder den) Teamer, selbst dann,
wenn die Fuhrer ihren FLihrungsanspruch dadurch demonstrieren und
legitimieren, als sie ihn in der Auseinandersetzung g e g e n die
Professionellen erwerben und behaupter. DaB dies fur die Teamer emo-
tional schwer zu verkraften ist, versteht sich von selbst.
c.) Taktische Mitbestinmung:
Im ProzeB der Definition und Artikulation der zu vereinheitlichenden
also als gemeinsam definierbaren Interessen und Ziele erweitert sich
auch der Bereich, in welchem die Gruppe Aufgaben an ihre Mitglieder
delegiert.
Es bleibt Aufgabe der Teamer, den Zusarmienhang der Aufgabenstellungen
mit den Gruppenzielen zu verdeutlichen und die Gruppe an ihre Kon-
troll- und Unterstiitzungspfl icht (Das Wort 'Kontrolle' darf hier nicht
miBverstanden werden. Hier kann es nicht urn Rechtfertigungs- oder
- 156 -
Strafprozeduren gehen, sondern darum, dal3 derjenige, der Arbeit
macht, (oder einen Gruppenauftrag aus welchen Grlinden auch immer
nicht erftillen kann) ein Echo auf sein Handeln erhalt, das iw
ersten Falle Anerkennung und Ermutigung zu neuer AufgabenLibernahme gibt
und - im zweiten Falle - nicht inquisitorisch, sondern solidarisch -
nach den Hintergrlinden fragt. Nur so hilft die Gruppe dem einzelnen,
sich als Ursache von Wirkungen zu erleben sowie am Beispiel der mit
der Durchfuhrung von Aufgaben beauftragten Mitgliedern jene Verant-
wortlichkeit der Gruppe zu setzen, die zugleich Lernmodell fur die
wenigen Aktiven wird. (Erst wenn die selbstverstandlich geworden ist,
ist die Voraussetzung fur Verbindl ichkeit von Beschllissen gegeben.
Diese sind aber unabdingbar fur den Obergang zur...
d.) strategischen Mitbestimmung. Diese setzt die Fahigkeit der Grup-
pe zur Erfassung der Risiken und die bewuBte Bereitschaft zu ihrer
Obernahme voraus.
In dieser Phase kommt der Arbeit der Teamer vor allem die Aufgabe
zu die in der Gruppe Schwa'cheren und Zuruckbleibenden zur Artikula-
tion ihrer Einwande und Bedenken, zur Kritik an den gruppeneigenen
Fu'hrern zu bewegen. Dies geschieht in der Kritik der Planung der vor-
angegangenen Aktivitaten der Gruppe und in der Herausarbeitung der
Diskrepanzen zwischen Planung und Durchfuhrung sowie in der Offenle-
gung der Ursachen des Kontrastes zwischen Plan und Aktion. Ziel:
Sta'rkung der inneren Demokratie der Gruppe. Befahigung anderer Mit-
glieder zur Fuhrung. Die Ausweitung des Flihrungs- und Leitungspoten-
tials in der Gruppe ist Voraussetzung von
e.) Selbstbestimmung, wenn man darunter nicht nur die Fahigkeit der
gruppeneigenen Flihrer versteht, ihre Absichten und Planungen durch-
zusetzen.
In dieser Phase sollten die Professionellen in Leitungsfunktionen
UberfVu'ssig sein, weil diese von der Gruppe arbeitsteilig wahrgenom-
men werden. Sie kbnnen entweder in Form einer beratenden Mitglied-
schaft dabeibleiben, (was schwierig ist) oder aber aus der direkten
Beziehung zur Gruppe zur'u'cktreten (was oft schwerfallt) .
Selbstorganisation kbnnte in dieser Abfolge bedeuten, daB die Grup-
oe sich kraft Einsicht in grbBeren Zusammenha'ngen organisiert (ge-
werkschaftlich, politisch, Interessenverband) oder aber die erworbe-
nen Fa'higkeiten und Kenntnisse zur Ausweitung der Aktionsfahigkei t
in die Breite einsetzt.
daB ein tatsachlicher Zugewinn an
Es muB noch einmal betont werden,
Entscheidungsgewalt (Macht im Sinne Brechts) weitaus gravierendere
Wirkungen entfaltet, als alle padagogisch-didaktischen Hilfskonstruk
tionen.
i'l'bstbestiiimungsfahigkeiten kbnnen leider ebenso verlernt werden,
wie die meisten anderen auch. Dies geschieht insbesondere dann, wenn
ah Transfer-Lernen nicht stattgefunden hat (also eine Obersetzung
I ,? andere soziale Situationen nicht angebahnt und geubt werden
konnte)? wenn die objektiven gesellschaftlich-politnschen Bedingungen
- 157 -
der Entfaltung der Fahigkeiten direkt und ungebrochen entgegenstehen
oder eine Kette nicht reflektierter Mifrerfolge zur Resignation treibt.
Es 1st auch daran zu erinnern, daf3 selbstverstandlich gewordene er-
kampfte Rechte- auch solche zur Selbstbestimmung - leicht zur Last
werden. In dieser Lage kbnnen wenige Interessenten i h r e Chance
ergreifen, liber andere zu bestimnen.
Frim; J me I wtirtie bos und wild,
tin shr-bsi es hicr mil diesem Bild.
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Man siciil CS hicr. wie rut «C sind.
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TENDENZ: AUSBILDUNGSVERBOT
Die Gesinnungsschnu'ffelei hat in Berlin auch schon den Ausbildungs-
sektor zum Objekt gemacht. Bisher sind uns nur Falle der politischen
Oberprlifung von Berufspraktikanten bekannt, seit Neuestem trifft es
auch die Studenten der FHSS in Berlin, wie folgender Bericht zeigt:
"Wir sind Studenten der Fachhochschule fiir Sozialarbeit und miissen
innerhalb unseres Studiums im 4. Semester zwei Praktika ableisten.
Die Gesamtschule Charloitenburg (Schillerstr.) hatte zwei Praxis-
stellen angeboten. Daraufhin bewarben sich zwei Studenten urn diese
Stellen.
8 Wochen spa'ter fand ein "Bewerbungsgesprach" statt, das sich im
Ablauf, der Zusammensetzung der Kommission und den inhaltlichen Fra-
gen erheblich von der bisherigen Praxis der Einstellungsgesprache
unterschied:
- Anwesend waren Herr Klotz, Personalchef im Bezirksamt Charlotten-
burg, der Direktor der Gesamtschule und Frau Scharfenberg als Ver-
treterin des Personal rates.
- Die Kommission weigerte sich, das Gesprach mit beiden Bewerbern
gleichzeitig zu fiihren.
- Die Diskussion spitzte sich bei beiden Studenten an der Frage zu,
- 158 -
warum sie trotz abgebrochenem Lehrerstudium ausgerechnet Sozialarbeit
an der Schule gewahlt ha'tten.
Die beiden Studenten verwiesen auf empirische Untersuchungen und
eiqene Erfahrungen wahrend eines Praktikums als Lehrerstudenten, in
dem sie feststellen muBten, wie sehr repressionsfreier, padagogischer
Anspruch und die Wirklichkeit des Schulalltags in Widerspruch gene-
ten Das BewuBtsein, zumindest die Ahnung der individuellen Perspek-
tivlosigkeit (Arbeittlosigkeit, Lehrstellen, die nicht ihren Vorstel-
lungen entsprechen usw.) erzeugen bei den Schulern Desinteresse und
Aggressionen, die wiederum Konflikte produzieren, zu deren Lbsung
die Lehrer nur wenig beitragen kbnnen. Wir meinen, in dieser Situa-
tion ist die Versuchung fur jeden Lehrer groB, den entstehenden Kon-
flikten mit Sanktionsmbglichkeiten zu begegnen. Im Gegensatz dazu
Stent der Sozialarbeiter weder unter dem Zwang, bestimmte Lehrin-
halte vermitteln zu miissen, noch hat er Sanktionsmbglichkeiten.
Urn seine Funktion erfiillen zu kbnnen, ist er auf die freiwillige Mit-
arbeit der Schliler angewiesen.
Das Bezirksamt war offensichtlich anderer Meinung: Unsere beiden
Kommilitonen wurden ohne Begr'u'ndung abgelehnt. Dem zustandigen
Dozenten der Fachhochschule wurde auf Nachfrage mitgeteilt, das
Bezirksamt weigere sich, Praktikanten einzustellen, die den "Betriebs-
frieden der Schule stbren und sich bei anstehenden Konflikten einsei-
tig mit den Schiilern solidarisieren wurden".
Das "padagogische" Selbstverstandnis von Direktor und Personalchef,
das sich schon in den Fragen darstellte, offenbarte nun ohne Zuru'ck-
haltung, was von den Sozialarbei tern und Lehrern in der Schule erwar-
tet wird: In enger Zusamnenarbeit fur ein mbglichst "harmonisches
konfliktfreies Schulklima zu sorgen" das heiBt, im Zweifelsfall fiir
die Institution und gegen die Schliler.
Wenn die padagogisch-politische Begrtindung fur uns auch absolut vor-
rangig ist, wollen wir doch kurz die juristische Seite erwahnen.
Eine Ablehnung aus padagogischen und/oder politischen Grunden ist bei
Blockpraktikanten nicht mbglich, da wir
a) unsere fachl icheljual if ikation erst erwerben sollen und
b) eine Ablehnung aus politischen Grlinden einem mbglichen Ausbil-
dungsverbot gleichkame.
Wir wehren uns gegen eine Praxis, die auf kaltem Wege unbequeme Mei-
nunqen ausschlieBen will. Aus unseren bisherigen Erfahrungen nnt dem
Rechtsstaat fiirchten wir, daB das im Augenblick noch ungesetzliche
Vorgehen des Bezirksamtes legalisiert und zur Regel wird. Die Berufs-
verbote wurden dann urn einen entscheidenden Schritt vorverlagert:
nie Finstellungsbehbrden muBten nicht langer den Rechtsstaat und
seine Organe bemuhen, das Aussprechen von Berufsverboten wird dann
der WillWir und subjektiven Interpretation Einzelner uberlassen.
(aus einem Flugblatt)
nie beiden Studenten haben inzwischen andere Praktikumsplatze in
Snandau bekolen. Sie werden Klage fuhren gegen das Bezirksamt wo-
bei s"ch - falls sie gewinnen - an ihrer jetzigen Situation wohl
nichts mehr andern wird.
(aus "anstoB")
159
Klaus Traube
VON EINEM, DER DIE BDRGERLICHEN
FREIHEITSRECHTE ERNST NIMMT
Klaus Traube, der selbst von den angebliohen "Verfassungsschutzern"
heimgesuoht wurde, beschreibt die Geschiehte von Hans Roth.
Hans Roth ist dem Verfassungsschutz und den Kultusburokratien unbe-
quem geworden und jemand, der die Grund- und Freiheitsrechte ernst
nirnntj kann schlechterdings nicht Lekrer werden, seine Bewerbungen
werden regelma&ig abgelehnt.
Es ist aber auoh die Geschiehte eines Padagogen, der in all den
Jahren Consequent urn seine Rechte kdmpft und sich nicht - weil es
oft bequemer ist - arrangiert hat.
Wir drucken den Beitrag von Klaus Traube nicht ab, weil ihn
"Die Zeit", "Stern" und "Frankfurter Rundschau" nicht bringen, son-
dern weil das Beispiel von Hans Roth, der dann als Sozialarbeiter
im Jugendzentrum arbeitete, Mut macht, sich nicht unterkriegen zu
lassen.
Es sollte auoh Hinweis und Aufforderung sein, sich aktiv an der
Unterstiitzung des Russell-Tribunals zur Repression in der BRD zu
beteiligen. (siehe Info Heft 17)
Anfang Jul i nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbe-
schwerde des Dekanatsjugendwartes Hans Roth aus Limburg gegen die
"Weigerung des Landes Hessen" an, "alle im Besitz des Landesamts
fUr Verfassungsschutz befindlichen Akten liber den Beschwerdefuhrer
dem Verwaltungsgericht Kassel vorzulegen."
Die Geschiehte begann 1969, als der 27-jahrige Jurastudent und
Oberleutnant der Reserve Hans Roth zu einer "Ernstfal lu'bung" einbe-
rufen wurde. Der Sohn aus politisch aufgeschlossenem Haus - der
Vater gehbrte zu den Grlindungsmitgliedern der CDU - war stark be-
riihrt worden von der seinerzeit heftigen Diskussion urn die Verab-
schiedung der Notstandsgesetze und erlebte nun als Kompaniechef
die Aufstellung von Anti-Demonstranten-Zugen. In einem Unterricht
zu "Befehl und Gehorsam" erza'hlte er seiner Kompanie rundheraus,
daB ein Befehl zum Einsatz im Innern dem Grundgesetz widerspricht
und auch den Grundsatzen der inneren F'u'hrung.
Da war ein Einschnitt, Hans Roth nennt ihn seine politische Mensch-
werdung. Die Arbeit an seiner rechtsphilosophischen Dissertation
um das Thema Recht und Menschenwlirde flihrte zur Auseinandersetzung
mit der Rolle der Bundeswehr beim inneren Notstand. Er schickte
seinen Wehrpass zuriick und wurde ohne Antrag und ohne das gesetz-
lich vorgeschriebene Verfahren als Wehrdienstverweigerer anerkannt,
gleichsam ernannt. Er brach das Jurastudium in Wiirzburg ab, enga-
gierte sich in der Jugendarbeit mit Milieugeschadigten und begann
- 16o -
1970 in Giessen Erziehungswissenschaften zu studieren, Hauptfacher
evangelische Theologie und politische Bildung.
Er engagierte sich hochschulpol itisch, so als Sprecher der Fach-
schaft Gesellschaftswissenschaften. Zwei seiner Professoren, der
Theologe Hahn und der als Schulbuchautor bekannte Hi 11 i gen, schrie-
ben in einem Spiegel -Leserbrief am 18.10.73: "Roth hat wahrend
seines Studiums in Giessen eine engagiert demokratische Position
vertreten, aber keinen Aktionismus gegen die universi tare oder
grundgesetz! iche Ordnung In persbnlichen Gesprachen konnten
wir nicht nur sein feinsinniges li terarisches Empfinden kennenler-
nen, sondern eine humane und padagogische Grundeinstellung, wie man
sie'sich bei mehr Studenten wiinschen wurde." Und die Theologin Pro-
fessor Dorothee Soelle schrieb von Roth als einem "freiheitlichen
Sozialisten, der die Position eines demokratischen Sozialismus ver-
tritt. Das bringt ihn in klaren Gegensatz zu den Positionen der
DKP". Hans Roth selbst nennt sich in einem Schreiben an das Ver-
waltungsgericht Kassel "libertarer Sozialist, der dem fortschritt-
"lichen Burgertum zuzurechnen ist und ein starkes Interesse an der
Erhaltung der burgerlichen Freiheitsrechte in unserem Land hat."
Roth schloB sich keiner hochschulpoli tischen Gruppe an, war aber
Mitbegriinder einer Burgerini tiative fur die SPD vor der 1974er
Landtagswahl in Hessen und flirtete 1971 mit der Kandidatur flir
den Konvent der Giessener Universit'a't auf Listen zweier kurzlebiger,
parteiunabhangiger, sozialistischer Gruppen. Deren eine war die
Verbindung "Sozialistische Front Giessen - Spartakus" ,' nicht zu
verwechseln mit dem heute der DKP nahestehendem MSB-Spartakus; er
wurde noch vor der Wahl von dieserListe gestrichen, weil den Wort-
fLihrern eine Erklarung Roth's der Solidaritat mit den aufst'a'ndi-
schen Arbeitern in Pol en nicht paBte.
Roth war also nicht einer, vor dem man die Verfassung zu schlitzen
hatte, eher einer der vielen Intellektuel len unter den Studenten,
die sich damals engagierten flir die Einlbsung ihrer Meinung nach
unerfullter VerheiBungen der Verfassung. Einem konservati ven Staats-
versta'ndnis mag er somit Massen unbequem gewesen sein. Zuvor aber
war er unma'Big unbequem, als er mit der Offiziers-Laufbahn brach.
Das zeigt jedenfalls die einzigartige Reaktion, ihn, der keinen An-
trag gestellt hatte, als Kriegsdienstverweigerer anzuerkennen unter
Umgehung des gesetzma'Bigen Verfahrens, das sicher Aufsehen erregt
natte.
Roth erfuhr Widrigkei ten, die er dieser Affa're zuschrieb. Es wur-
den ihm Warnungen von seiner politischen Unzuverlassigkei t hinter-
hracht man schlug ihm ein Stipendium aus. Er muBte das Lehrer-
^tudium mit Fabrikarbeit finanzieren. Diese Konfrontation mit der
Rpalitat des Arbeiterlebens bestimmte wesentlich die Wendung von
christlich-humanitaren zu sozialistisch-humanitaren Anschauungen.
Trotz dieser Erschwernis beendete er 1974 das Studium "Mit Aus-
leichnung". Er hatte sich bereits in der Nahe des ihm als Referen-
Har zugewiesenen Schulorts eingerichtet, als er wenige Tage vor
fjr auf den 1.8.74 angesetzten Vereidigung telefomsch gebeten
Jurde, zwei Tage spa'ter zu einem Gesprach ins Regierungsprasidium
Kassel zu kotimen.
161
Man muB nun erinnern, daB damals in Hessen, wo zur gleichen Zeit
die SPD Wahlkampfanzeigen in alien Tageszeitungen verbffentlichte
mit dem Motto "Hessen muB frei bleiben von Bespitzelung und Schnu'f-
felei", sogenannte Anhbrungen zur Verfassungstreue von Bewerbern
fur den b'ffentlichen Dienst noch nicht allgemein bekannt waren. So
erscheint es glaubhaft, wenn Hans Roth berichtet, er sei zwar etwas
verdutzt aber ohne weiteren Arg am 25. Jul i nach Kassel gefahren.
Dort erwarteten ihn zwei Beamte, die inn fast zwei Stunden anhbr-
ten - so hei'Bt das amtlich -,ihn also die Kreuz die Quer nach
seinen politischen Anschauungen ausfragten. Und sie hielten ihm
aus einer liber ihn angelegten Akte vor:
Flugblatter belegen seine Kandidatur 1971 filr Konventswahlen, ein-
mal auf der Liste "Sozialistische Front GieBen Spartakus", ein
andermal auf der Liste BUMS. Jawohl , BUMS! Und im gleichen Jahr 1971,
so berichtete die Oberhessische Presse, hat er in einem Vortrag
vom "System organisierter Friedlosigkeit" gesprochen - sie berich-
tete nicht, daB Roth damit den Leiter der hessischen Stiftung fiir
Friedensforschung Senghaas.zitiert hatte. Von Roths "Kriegsdienst-
verweigerung" war aber nicht die Rede. Ende: Herr Roth mbge seinen
Schul dienst nicht antreten, er werde vom Kultusminister hbren.
In den na'chsten vier Wochen hbrte Roth zwar nichts vom Kultusmini-
ster, der aber urn so mehr vom empbrten radikalen Demokraten Roth.
Tags darauf schrieben ihm vier Professoren des Fachbereichs Reli-
gionswissenschaften, beschwerten sich liber die Verhbr-Prozedur -
ohne vorherige Information, ohne Beistand, ohne Protokoll - und
uber das Aktenstlick, "das auf in einem freiheitlich-demokratischen
Rechtsstaat unerhbrte Uberwachung schlieBen la'Bt". In kurzer Folge
erhielt der Kultusminister weitere Protestbriefe, so vom Dekan des
Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und vom Landesverband der
Jungdemokraten. Er konnte wei ter lesen: ein von Roth angefertigtes
Gedachtnisprotokoll der "Anhbrung" in einer padagogischen Zeitschrift,
eine vom sozialliberalen Asta am 11.8. zum Fall Roth herausgegebene
Dokumentation, Presseerklarungen dieses AStA und des Landesverban-
des der Jungdemokraten am 14. und 15.8. - und so manches in der
hessischen Presse.
Das reichte. Der Kultusminister nahm sich des Falles an, iiberprufte
die Anwlirfe gegen Roth und verfugte dessen Einstellung. Doch so
einfach ging's nun auch nicht. Wie ASTA und Presse aufdeckten, wi-
dersetzte sich der Regierungspra'sident, gab die Akte nicht welter,
bis der Kultusminister energisch etn zweites Mai verfugte. Einen
Monat nach der "Anhbrung" wurde Hans Roth in das Beamtenverhal tms
auf Widerruf iibernommen . Fast ein Jahr dauerte es, bis der Regie-
rungspra'sident ihm im Juni 75 in jener Un-Sprache bescheinigte,
da,: 'an seinem Verhaltnis zu den verfassungsma'Sigen Prinzipien
Zwei.->1 als nicht vorliegend erachtet werden." Noch langer muBte
Roth insistieren, bis er im September das offizielle Protokoll der
Anhbrung erhielt.
Aber Roth bekam nun seine Widerborstigkeit mannigfach zu spu'ren.
■ Der Kultusminister, der sein Verhaltnis zur Biirokratie ohnehin
strapaziert hatte, stellte gleichzeitig mit dem Einstellungsbe-
scheid fest, daB Roths Gedachtnisprotokoll "in krassem Gegensatz
zu der objektiven Darstellung des Regierungspradienten" stehe und
"erneut Oberlegungen uber die Frage der Einstellung veranlaBt."
- 162
Der Schulleiter wollte von dem "verkappten Maoisten" nichts wis-
sen, der Leiter einer anderen Schule erklarte sich schlieBlich be-
reit, ihn zu nehmen. Zufallig unterrichtete dort Roths Freundin,
die von dessen Versetzung erfuhr durch eine Diskussion des Lehrer-
kollegiums uber diese Laus im Pelz. Der Vorsitzende der Giessener
CDU, jetzt Oberburgermeister der Stadt Lahn, erklarte Roth zum Links-
radikalen, seine Einstellung zum bffentlichen Skandal , wie auch
die El tern der SGhuler Roth's am 31.8.74 in der Giessener Allgemei-
nen Zeitung lesen konnten. Den solcherart aufgebrachten Eltern muB-
te der Schulleiter am 11.9.74 erklaren, daB Roth kein Linksradika-
ler sei und daB. solange er Schulleiter sei, "keine Hexen verbrannt
werden."
Roth konnte nun erahnen, was ihn weiter an Brandmarkung und beruf-
lichen Hindernissen erwarten werde. Vielleicht kann nur der, dem
Ahnliches an kaltschnauziaer Ausspielung von Amtsmacht widerfahren
ist, die Riicksichtslosigkeit gegen sich selbst begreifen, mit der
Roth nun sein Recht suchte: am 10. Oktober 1974 erhob er Klage gegen
das Land Hessen auf Vernichtung seiner Verfassungsschutzakte, nahm
also einfach die VerheiBung des Rechtsstaates ernst, den Burger
gegen den Staat zu schlitzen. Aber Roth ist kein Naiver, er wuBte,
daB er allein gestellt einen jahrelangen MusterprozeB begann gegen
einen denkbar Libermachtigen Gegner, noch dazu gegen den einziq mbq-
lichen Arbeitgeber eines zuklinftigen Lehrers.
Ehe der Klage stattgegeben wurde, muBte Roth beweisen, daB er auf
dem Verwaltungsweg die Vernichtung der Akte nicht erreichen kann.
Nach fast zwei Jahren, im August 76, kam es dann zur Verhandlung
beim Verwaltungsgericht Kassel. Der Leiter des hessischen Landesam-
tes fur Verfassungsschutz legte die Roth sei t der Anhbrung bekann-
ten drei Dokumente vor und erklarte zunachst, es seien keine weite-
ren Akten vorhanden. Peinlich nur, daB die Dokumente in Erfullung
der preuBischen Aktenordnung mit den Seitenzahlen 26-30 versehen
worden waren. Das Gericht verlangte die Vorlage der gesamten Akte;
als dies verweigert wurde, forderte es vom Innenminister, durch eides-
staatliche Versicherung an Hand des konkreten Inhalts der Akten
qlaubhaft zu machen, daB die Verweigerung gerechtfertigt ist. Der
Staatssekretar gab kurz darauf diese eidesstattliche Versicherung
ab aber statt sich auf den konkreten Inhalt zu beziehen, stellte
er'kurzerhand fest, daB Akten des Verfassungsschutzes "ihrem Wesen
nach geheim gehalten werden mlissen." Daraufhin verpfl ichtete das Ge-
richt den Innenminister in einem Zwischentjesc.heid am 9.9.76, die ge-
samte Akte vorzulegen. Auf die Berufung des Innenmimsters hin hob
der hessische Verwaltungsgerichtshof diesen BeschluB des Verwaltungs-
nprichts auf. Dagegen richtet sich Roth's Verfassungsbeschwerde.
Im abgetrennten Teil der Klage entschied das Verwaltungsgericht
Kassel durch ein vielbeachtetes Urteil vom 13.1.77, daB die bereits
worqelegten Aktenstucke vom Landesamt fur Verfassungsschutz zu ver-
nirhten seien. Das sehr ausflihrliche, in seiner Art in der Bundes-
reoublik einmalige Urteil wurdigt zunachst Hans Roth, der uberzeu-
aend dargelegt" habe, daB die fraglichen" Akten wegen ihrer Zufallig-
TJlt einen bereits fur die damalige Zeit nicht zutreffenden Eindruck
uprmitteln". Das Gebot der Vernichtung wird damit begrUndet, daB
^Akten fur die Erfullung des Schutzauftrages nicht mehr relevant
find und mit dem Grundsatz der Verhal tnisrraBigkei t, nach dem bei
- 163 -
Beschrankung von Grundrechtspositionen nur das unbedingt Notwendi-
ge angeordnet werden durfe. Das Gericht verweist dabei auf das "aus
der Menschenwurde ableitbare Prinzip der Freiheit von Furcht."
Daruber hinaus aber argumentiert das Gericht generell, daB eine
Mitwirkung des Verfassungsschutzes bei der Prufung der Verfassungs-
treue von Bewerbern fiir den bffentlichen Dienst bereits durch das
hessische Verfassungsschutzgesetz ausgeschlossen sei.
Naturlich hat der Innenminister auch gegen dieses Urteil Berufung
eingelegt; iiber sie ist noch nicht entschieden. Marburger Partei-
freunden, unter ihnen Roth's als FDP-Stadtverordneter aktiven An-
walt Peter Becker, erlauterte er Ende Febru^r, er habe nichts gegen
das Urteil einzuwenden, branche aber hbchstinstanzliche Absicherung.
Die Pressekommeritare zu diesem Aufsehen erregenden Urteil fielen
aus wie vorauszusehen. Die Frankfurter Rundschau wahlte als Dber-
schrift "Mutige Richter", der FAZ erschien das Urteil "bedenklich"
und laut Bayern Kurier erbffnet es "den Staatsfeinden den Weg in
den Staatsdienst. "
Es ist acht Jahre her, seit Hans Roth seiner Kompanie Verfassungs-
unterricht gab, seit drei Jahren prozessiert er, und er muB sich noch
auf Jahre einrichten. Wie lebt einer, der den Rechtsstaat so radikal
beim Wort nimmt?
Wahrend der Referendarzeit standig aggressivem Mi'Btrauen ausgesetzt,
hatte Roth bald nach der ersten Welle in die dffentlichkei t getra-
genen Protestes gelernt, sich zuriickzuhalten. Da hatte es Anrufe
beim Schulleiter von Eltern gegeben, die ihr Kind nicht von diesem
"Kommunisten" unterrichtet wissen wollten, jemand lieB seir Kind
Stenographie lernen, "damit es im Unterricht alles mitschreiben
kann". Im Lehrerkollegium war Roth so sehr Unperson, daB seine
Freundin seit der Versetzuna an einen anderen Schulort dort ihre
Beziehung verschweigt. Das Kcllegium setzte beim Schulleiter 5 Mo-
nate lang die Zuruckhaltung eines Briefes durch, in dem zwei Schul-
klassen den Kultusminister baten, Roth nach Ablauf der Referendar-
zeit als Lehrer behalten zu durfen.
Die Behbrden reagierten mit Nadelstichen, wie etwa die Vorga'nge
urn Roths zweite Staatsprufung zu Ende der Referendarzeit im Januar
76 verdeutlichen: Den Auftakt bildete eine Mitteilung des Regie-
rurigsprasidenten, zwei Wochen vor der Prufung, daB Roth mangels
freier Planstelle nicht eingestellt werden kbnne. Weiter die Nach-
richt, daB wegen des "exponierten Falles", abweichend von der u'bli-
chen Regelung ein vom Regierungsprasidenten nominierter Beamter den
Vorsitz fuhrt'. Weiter die Nachricht,daS, entgegen der Pru'fungsord-
nung, einem etwaigen Antrag auf Zulassung von Gasten nicht entspro-
chen werden kbnne. Weiter wird der als Prufer vorgesehene Betreuer
seiner Examensarbeit - die verschwunden war und blieb - durch einen
Roth Unbekannten ersetzt. Der zahe Roth behielt die Nerven, wie_
die Noten "sehr gut" fur sowohl die schriftliche als auch die mund-
liche Prlifung ausweisen. Das brachte nur die Gesamtnote "gut" we-
gen der in den Unterrichtsstunden beobachteten "didaktischen Ein-
seitigkeit", wie der im Sonderverfahren bestellte Vorsitzende fest-
stellte; zwei Professoren, die trotz Vorwarnung die Zulassung als
Gaste beantragt hatten, ha'tten zu dieser Feststellung etwas sagen
164 -
kbnnen, ware ihnen nicht ohne weitere BegrLindung die Zulassung ver-
weigert worden.
Seit Ende der Referendarzeit im Januar 76 ist Roth nicht mehr Leh-
rer. Er bewirbt sich regelmassig, in seinem Hauptfach Theologie man-
gelt es an Lehrern. Im Mai 76 stellte ihn die evangelische Kirche
in Limburg auf Drangen mehrerer Professoren als Sozialarbeiter fur
die Jugendbetreuung ein. Aber Roth wird in Kurze arbeitslos sein,
er hat gekundigt. Warum?
Man las in der Nassauischen Landeszeitung vom 20.5.77, tags drauf
werde in Limburg ein Friedensfest veranstaltet von der internatio-
nalen katholischen Friedensbewegung "Pax Christi" und dem Bistum
Limburg. Es f'a'nden dabei auch StraBendiskussionen statt zum Thema
"Kriegsdienstverweigerung oder Militardienst" , an denen sich u.a.
der "Oberleutnant der Reserve und Kriegsdienstverweigerer Hans Roth"
beteilige. Aber tags drauf las man in der gleichen Zeitung unter
der Oberschrift "Nicht mit Hans Roth", daB diese Diskussion abge-
blasen war. Roths politische Vorgeschichte hatte ihn nun auch in
Limburg eingeholt, wo er - gewarnt durch Erfahrungen und durch die
Vorgesetzten - ein Jahr lang jeden privaten, beruflichen oder gar
bffentlichen Bezug auf eben diese Geschichte vermieden hatte. Er
hatte auch zunachst die Beteiligung an der StraBendiskussion abge-
lehnt und sich erst nach langerem Drangen breitschlagen lassen.
Ich haben den streitbaren Hans Roth kurzlich kennengelernt. Er blick-
te so grimmig, wie ich das erwartete von einem der sich seit Jahren
standig bei ungesicherter Existenz seiner Haut wehrt und der dabei
nicht auf Partei, Gruppe, Kegelclub, Nachbarschaft, Kollegen, nur
auf wenige Freunde zahlen kann. Den grimmigen Blick hi el t er durch,
bis von den Sommerferien geredet wurde; da wird er, wie jedes Jahr,
wandern - halt jemand, der sich mit 34 Jahren noch kein Auto leisten
kann. Offenbar verhilft die sukzessive Beschaftigung mit einer Dis-
sertation urn Recht und Menschenwurde, mit Theologie und mit sozia-
len Randgruppen zu der Gelassenheit, nicht rundum zu schlagen,
wenn man gebissen wird, und zu der Wurde, seinerseits inner wieder
die Za'hne zu zeigen. Es bleibt ihm ein schwer auf zuarbei tender Rest:
Hans Roth ka'mpft gegen Burokratie und Verfassungsschutz nicht urn
abstraktes Recht, sondern urn seine konkrete Wurde, aber er setzt
sich dabei zwangslaufig auch fur die ein, denen er ein bedrohlicher
Aussatziger bleibt, ein "Kommunist", dem man seine Kinder nicht an-
vertrauen kann.
Auch der Verfassungsschutz hat im ProzeB nicht behauptet, Roth sei
linksradikal, Kommunist, Verfassungsfeind; der Regierungsprasident
muBte ihm Verfassungstreue bescheinigen. Wie denn machen es die
amtlich oder selbsternannten Huter unserer freiheitlichen demokra-
tischen Grundordnung nur, Unbequeme wie Hans Roth - letztlich eine
halbe Generation Studenten - mit der Aura politischer Aussatzig-
ke t zu umgeben? Nun, neben solchen bffentlichen Schimpfkanonaden
wie die zitierten des Giessener CDU-Vorsitzenden gibt es subtilere
Methoden, wie die auf gute Sitten haltende FAZ anlaBlich eines
vierspaltigen Kommentars zum Kasseler Urteil demonstnerte: In
I ner urafanglichen Eingabe an das Venraltungsgencht hatte Roth auf-
gezeigt und belegt, warum er kein Kommunist ist, in Gegenteil schar-
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fe Auseinandersetzungen mit Kommunisten gefuhrt hat. Aber der red-
liche Roth stellte darin auch fest, daB viele ihm bekannte Kommu-
nisten die biirgerlichen Freiheitsrechte, das Grundqesetz ebenfalls
ernst nehmen. Diese Passage pickte die FAZ treffsicher als einziges
Charakteristikum der politischen Einstellung Roth's heraus und stel-
lte dahin, ob jemand mit solcher Arschauung wohl ein "geeigneter
Lehrer fur politische Bildung und evangel ische Theologie ist?"
Das sitzt hierzulande, wo doch, ob nun aus Bild oder Bayernkurier,
jeder weiB, was Pluralismus ist und daB ein anstandiger Mensch
nicht mit Kommunisten umgeht.
Max Gu'de schrieb ku'rzlich, am 5. Juli, in der Stuttgarter Zeitung
unter der Oberschrift "Wir brauchen Vertrauen in die Freiheit" .
von den armen Burokraten, die ihr Bild vom Kommunismus "gleich einer
tibetanischen Gebetsmlihle reproduzieren." Und weiter: "Man fragt
liberal 1, ob unser Staatsschutzrecht auf den gemeinsamen legitimen
Grundlagen des freien Europa beruht, das die Abwehr einer konkreten
Gefahr voraussetzt, oder ob bei uns ein RLickfall in nationalsozia-
listische Unterdrlickung der Gesinnung stattfindet". Und schlieBlich:
"Wenn man liest, daB seit 1972 etwa funfhunderttausend bis sechs-
hunderttausend Bewerber einer politischen Zuverlassigkeitspriifung
unterzogen worden sind, so weiB man, daB diese Prufungen in ihrem
Ergebnisunglaubwlirdig gewesen sein miissen."
Max Glide mag wissen, wovon er spricht: als gehemaliger CDU-Abgeord-
neter, der dem BundestagsausschuB fur Strafrechtsreform vorsaB,
als ehemaliger General bundesanwalt und als heutiger Betroffener,
der seinem Sohn im Kampf gegen Berufsverbot die Stange halt.
Wieviele muB es noch betreffen, bis unsere obrigkeitsstaatlich
orientierte Tendenzwende gestoppt wird?
KLEINANZEIGEN
Suche Adressen und Material zum Thema "Therapeutische wohngruppen
innerhalb oder auBerhalb psychiatrischer Institution^ bzw. Uber-
gangs- oder Resozialisierungswohnheim" . Gabi Dingerdissen, Mader-
gasse 3, 74 Tubingen , . 1Q7ft
Zentrale Fortbildung der Arbeiterwohlfahrt Januar - Jum iy/o
anfordern: AWO, P-stfach 1149, 53 Bonn
Mainzer Sozialreport Nr. 2 berichtet Liber 38 Seiten uber Jugend-
zentren, weitere Themen: Privatisierung, Prostitution. 115 seiten.
Gegen Voreinsendung von DM 3,5o bei Albert Hbhner, Rhabanusstr. 14
65 Mainz zu beziehen.
Tagung des Gustav-Stresemann-Institut vom 12.-17.12.77 zum Thema
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Gewalt von Kindern und Jugend-
lichen. Nahere Informationen: Haus Lerbach, 5o6 Bergisch Gladbach 2
Ab 1.2.77 Stelle fur Erzieherin in Lern- und Spielstube(Auslander-
und deutsche Kinder) in Darmstadt f rei . Anfragen unter Chiffre 11/21
an Sozialistisches Bu'ro
■ Berufstatige Sozialpa'dagogin (23J) sucht ab 1.1.78 oder spa'ter im
Raum Goslar/Harz WG oder Leute, die Interesse am Zusammenwohnen
haben. Christine v. Ahlften, Schocel redder 13, 23 Altenkolz
REDAKTIONSMITTEILUNG
Auf den Monat genau 5 Jahre sind vergangen. Im November 1972 erschien
das erste Heft des Info Sozialarbeit mit dem Thema "FUrsorgeerziehung".
Vor 5 Jahren haben wir dieses Thema bewuBt geplant, waren doch im
Heimbereich die Widersprliche am scharfsten hervorgetreten(und wurde
hier die Diskussion urn radikale Veranderungen der institutionalisierten
Sozialarbeit mit Vehemenz betrieben.
DaB wir heute wieder diesen Bereich als Schwerpunktthema behandeln,
war nicht bewuBt geplant, aber es ist sicher auch kein Zufall, werden
doch heute wieder Konzeptionen der Heimerziehung diskutiert und umge-
setzt, von denen wir glaubten, sie gehbrten der Vergangenheit an.
Wir stehen nicht vor einer neuen Heimkampagne, aber heute wie damals
ist der Kampf gegen geschlossene Heime - wie pa'dagogisch-therapeutisch
verbramt sie diese uns verkaufen wollen - als Kampf gegen eine per-
vertierte unmenschliche Sozialarbeit aufzunehmen.
Zwischen dem 1. Heft und dieser 18. Ausgabe liegen Jahre des politi-
schen Aufbrauchs der Sozialarbeiter, Jahre der Hoffnuhgen, der Reali-
sierung von Veranderungen, der Enttauschungen und der Niederlagen;
die politische Landschaft hat sich stark verandert, das politische
Geschaft der Linken ist schwieriger geworden.
Mit dem Info haben wir in dieser Zeit versucht.verschiedene uns wich-
tig erscheinende Bereiche zu untersuchen, Erfahrungsprozesse zu ver-
mitteln, Orientierungen zu geben, Unterstlitzungsarbeit zu leisten,
Diskussionsforum zu sein und organisierend zu wirken (Sozialistische
Aktion/Jugendpolitisches Forum/Antirepressionskongress^um nur einige
Beispiele zu nennen, an denen wir mitgearbeitet haben).
Der Leserkreis hat stetig zugenommen, ebenso die aktive Mitarbeit von
Gruppen und Einzelnen im Redaktionskollektiv. Gemessen an unserer
Wirkungsmdglichkeit sollte man dies aber nicht uberbewerten. Viele
Leser haben uns auch wieder den Riicken gekehrt; vielleicht well lhnen
die politische Richtung nicht passte oder nicht klar genug war, viel-
leicht weil sie sich auf ein "Oberwintern" eingerichtet haben, viel-
leicht weil ihnen die Aktualitat fehlte. Letzterem wird nun seit
einem Jahr abgeholfen, monatlich erscheint pad. extra Sozialarbeit,
an deren Aufbau wir uns beteiligen. Hier wird allerdings demnachst
Hie Form der Zusammenarbeit, die verschiedenen Funktionen beider
Publikationsorgane tu diskutieren sein, urn unnbtige Oberschneidungen
Finerdar/der Leser aber gewiB sein, auch in Zukunft werden wir an
den Prinzipien unserer bisherigen Arbeit - Parteilichkeit mit den
Retroffenen - Offenheit in der politischen Diskussion - differenzierte
Ana^se und die Entfaltung sozialistischer Politik als ein Eintreten
Sr Veranderungen in alien gesellschaftlichen Bereichen «ur Emanzi-
pation des Menschen von herrschenden Zwangen - festhalten.
- 167 -
kte
Wir wunschen uns, daB der Info nicht nur gelesen wird, sondern die
Leser noch starker al s bisher aktiv an seiner Gestaltung mitarbeii-
Der Info wird von Praktikern gemacht, es sind keine Zei tungsprof is »
d.h. wir mussen dem mit unterschiedlichen Produktionsweisen Recrnu a
tragen,mal wird der Info von einer ortlichen AKS-Gruppe erarbeitei.
(z.B. Heft 8 " Reform und Reformismus "), mal entsteht er aus.dh!=its-
Zusammenarbeit von Gruppen und Einzelnen, die sich aus einem ArDe
seminar ergibt (z.B. dieses Heft) oder dokumentiert den Diskussioi
prozeB der AKS-Gruppen (z.B. Heft 16 "Gewerkschaftsarbeit")- . .
Dabei muB aber auch einkalkul iert werden, daB ein Heft einmal nicn
wie geplant erscheint. So geschehen mit dem Thema "Altenarbeit •
Die Gruppe, die die Vorarbeiten und die Koordination Ubernehmen so i
te, war letztlich nicht mehr arbeitsfahig. .. h.ten
Damit ist aber das Thema nicht vom Tisch, wir werden auf der risen*
Redaktionssitzung u'berlegen, wie die Realisierung sichergestellt
werden kann. c
Wir legen daher mit dieser Ausgabe eine Doppelnummer vor in der °
fnung, daB die Beitrage auf ein groSes Interesse stoBen.
Das nachste Heft wird dann im 1. Quartal 1978 erscheinen.
Fur das 1. Halbjahr 1978 haben wir uns folgende Arbeitsschwerpun
vorgenommen
I ARBEITSSEMINARE
- Thema: Ausbildungssituation
- Thema: Arbeit in der Fami 1 ienfiirsorge
I INFO SOZIALARBEIT - THEMENSCHWERPUNKTE
- Heft 19: Jugendhilferecht/Auseinandersetzung mit untersc
lichen Konzepten der politischen Organisierung
- Heft 2o: Ausbildungssituation
- Heft 21: Fami 1 ienfiirsorge
- weitere Themen, zu denen mit den Vorarbeiten begonnen wird
Arbeit mit Kindern - Justiz und "Resozialisierung" - Altera
I AKTIONEN
- Hitarbeit an der SB-Initiative gegen kapitalistische Arbeits-
platzvernichtung und Existenzbedrohung
- 6. Deutscher Jugendhilfetag in Koln(im nachsten Heft werden wir
dazu unsere Einscha'tzung und Vorschla'ge fur die Vorbereitung v
legen)
Wer mitarbeiten mochte, wende sich an das Redaktionskollektiv lnf°i
Sozialarbeit im Sozialistischen Bliro, Postfach 591, 6o5 Offenbach
oder an eine der nebenstehenden AKS-Gruppen.
Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit
15. November 1977
hied-
rbeit
THEMEN:
• JUGENDHILFERECHT
* JUGENDHILFETAG 1978 •
* INTERESSEN UND ORGANISATION •
* GENUSSFILZE IM KAMPF UM DIE ARBEITSPLATZE •
• GEWERKSCHAFTSARBEIT IN DEN KIRCHEN *
• KURZBERICHTE/KLEINANZEIGEN*
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