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Full text of "Informationsdienst Sozialarbeit (1972 - 1980)"

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0?.i  effektiven  Formen  des  Selbstschutzes  und  der  Gegenwehr  zu  kommen; 
es  ermoglichen,  nicht  allein  Opfer  der  bkonomischen  und  politischen 
Repression  zu  sein. 

Dazu  sollten  wir  im  einleitenden  Plenum  bis  etwa  12  Uhr  zunachst  ein- 
mal  Erfahrungen  austauschen,  urn  dann  in  kleineren  Arbeitsgruppen  ge- 
nauer  auf  unsere  Arbeitsbedingungen  und  MSglichkeiten  der  organisier- 
ten  Zusammenarbeit,  sowie  der  Unterstiitzung  betroffener  Gruppen  und 
Einzelner  einzugehen. 
Folgende  Arbeitsgruppen  sind  vorgesehen: 

1.  Staatliche  Juqendpolitik  in  Bezua  auf  Jugendzentren 

Anhand  eines  Berichtes  um  die  Entwicklung  und  Auseinandersetzungen 
in  einem  selbstverwalteten  Jugendzentrum  werden  die  staatl ichen  Re- 
striktionen  und  Probleme  der  gegenwartigen  Jugendzentrumsarbeit  dar- 
gestellt  und  diskutiert. 

2.  Staatliche  Finanzierungspolitik  und  Probleme  der  Juaendverbandsarbeit 
Hier  geht  es  um  die  Analyse  der  SparmaBnahmen,  Umverteilungen  und  Be- 
schrankungen  in  der  politischen  Jugendarbeit  der  Verbande  und  um  die 
MSglichkeiten  von  Bildungsarbeitern  und  Jugendgruppen,  emanzipatorische, 
interessenorientierte  Ansatze  gegen  verbandsbornierte  Anspriiche  zu 
behaupten. 

3.  MaBnannicn  der  BAA  cieoen  Jugendarbeitslosigkeit 

Die  Anstrengungen  der  Bundesanstalt  fur  Arbeit,  die  Jugendlichen  Ar- 
beitslosen  von  der  StraBe  zu  bekommen,  dieneneher  der  Verschleierung 
des  AusmaBes  und  der  Ursachen  von  Jugendarbeitslosigkeit,  als  daB  sie 
den  Betroffenen  wirksame  Hilfe  bringen  kbnnten.  Neben  einer  Einschat- 
zung  der  FordermaBnahmen  der  BAA  und  der  Interessenkoalitionen  mit 
Verbanden  und  Betrieben  sollen  auch  Beispiele  von  Synthese-Projekten 
von  beruflicher  und  politischer  Bildung  vorgestellt  werden. 

4.  Erfahrungen  von  Arheitsloseninitiat.iven 

Die  bisherigen  Erfahrungen  mit  Arbeitsloseninitiativen  sollen  im  Hin- 
blick  auf  die  Organisierbarkeit  und  MSglichkeiten  der  Interessenswahr- 
nehmung  von  arbeitslosen  Jugendlichen  genauer  diskutiert  und  MSglich- 
keiten der  Kooperation  mit  anderen  Bereichen  gesucht  werden. 

5.  Zum  Zusamnenhanq  von  qewerkschaffrlicher  und  Juger]^7f"trVms  -Arbeit 
Bislang  ist  die  Jugendzentrumsbewegung  weitgehend  isoliert  von  der 
gewerkschaftl ichen  Jugendgruppenarbeit  verlaufen,  obwohl  es  in  der 
Lehrlingszentrenbewegung  durchaus  Beruhrungspunkte  gab  und  auch  heute 
an  einigen  Orten  ein  engerer  Zusammenhang  besteht.  Welche  Erfahrungen 
liegen  vor  und  wie  kann  eine  Zusammenarbeit  zwischen  beiden  Bereichen 
verbessert  werden? 

6.  Betriebliche  und  gewerkschaftl iche  Auseinandersetzungen  um  Aus- 
hildungSDlatze  nnri  Obernahme  yon  lehrlinqen _ 

Die  Jugendarbeitslosigkeit  ist  mindestens  ebenso  ein  Problem  fur  die 
arbeitenden  Jugendlichen  im  Betrieb.  Die  Forderung  nach  qualifizierten 
Ausbildungsplatzen,  gegen  Personalabbau  und  fur  Obernahme  derausge- 
bildeten  Lehrlinge  in  ihrem  Beruf  wird  nicht  am  Verhandlungstisch  ent- 
schieden  werden.  Bei  der  gegenwartigen  Unentschlossenheit  der  Gewerk- 
schaften  kommt  es,  wie  die  Beispiele  von  BASF  und  MERCK  zeigen,  ent- 
scheidend  auf  die  Aktivitaten  der  Jugendlichen  im  Betrieb  an,  ob  diese 
Forderungen  durchgesetzt  werden  konnen  oder  nicht. 


JNFORMATIONSDIENST 
SOZIALARBEIT 


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14 


Offenbach  im  Oktober  1976 
Einfachnummer  -  Preis  4,-- 


Dieser  Informationsdienst  Sozialarbeit  v/ird  im  Sozialistischen  Buro 
von  Gruppen,  die  im  S'oziali'sationsbereich  arbeiten,  herausgegeben. 
Der  Info  dient  der  Kommuni  Ration  und  Kooperation  von  Genossen,  die 
mit  sozi'ali'stischem  Anspruch  im  Feld  der  sozialen  Arbeit  tatig  sind. 

Folgende  H'efte  sind  noch  erlial  tlich: 

Heft  l:S'chwerpunktthema:  Fursorgeerzi'ehung(72  S./DM  3,--) 

Heft  2:Schwerpunktthema:  Sozialarbeit  in  Institutionen(8o  S./DM  3,--) 

Heft  5:S'cfiwerpunkttn'ema:  Funktion  der  Sozialarbeit(lo4  S./DM  5,—) 

Heft  6:Schwerpunkttliema:  Jugendhilferecht(72  S./  DM3,  —  ) 

Heft  7:Schwerpunktthema:  Jugendfiilfetag-Sozialistische  Aktion(DM  4, — ) 

Heft  8:Sch'werpunktthema:   Reform  und  Reformismus  als  Problem  prak- 

ti'scner  Politik  i.d.  Sozialarbeit  (DM4,  —  ) 

Heft  9:Sch'werpunktthema:  Sozialarbeit  in  Jugendzentren(96  S./DM  5,--) 

Heftlo:Schwerpunktthema:   Knast  und  Sozialarbeit  (64  S./  DM  3,5o) 

Heftll:Schwerpunktthema:  Stadtteilbezogene  Sozialarbeit  I   (DM3, 5o) 

Heftl2:Schwerpunkttfiema:  Stadtteilbezogene  Sozialarbeit  II   (DM  4,  —  ) 

Heftl3:Schwerpunk"tth'ema:  Jugendarbeit  und  Jugendarbeitslosigkeit(DM  5, 


Herausgeber:  Sozial  i'stisches  Biiro 

6o5  Offenbach  4,  Postfach  591 

Verleger:         Verlag  2ooo  GmbH  Offenbach 

Erste  Auflage:  Oktober  1976,  5ooo  Exemplare 

Alle  Rechte  bei  dem  Herausgeber 

Vertrieb:         Verlag  2ooo  GmbH,  6o5  Offenbach  4 
Postfach  591,  Hohe  Str.  28 
Postscheck  Frankfurt  Nr.   61o41-6o4 

Preis:  Einzel exemplar  DM  4,— 

bei  Abnahme  von  mindestens  lo  Stuck  2o%  Rabatt 
Weiterverkaufer(Buchladen,Buchhandel)  4o%  Rabatt 
jeweils  zuziiglich  Versandkosten 

Beilage:  O-Nummer  von  pad. extra  Sozialarbeit 

Verantwortlich:  Redaktionskollektiv  Info  Sozialarbeit 
Presserechtlich  verantwortlich:  Glinter  Pabst  Offenbach 
Druck:  Hbo-druck  Bensheim 


INFO  SOZIALARBEIT,     Heft  14 


INHALT 

Vorbemerkung  zu  dieser  Ausgabe 

Bodo  Hager: 

Soziale  und  politische  Aspekte  der  Psychiatrie 

Gerhard  Kafitz: 

Dossier  zur  Psychiatrie-Enquete 

Arezzo  -  Bericht  von  einer  Reise 

Herbert  Nagel: 

Was  heiBt  Selbsthilfe? 

Entstehung  und  Praxis  der  Sozialtherapie  Ffm.   e.V. 

Patientengruppe  Sozialtherapie  Frankfurt: 

Von  Beziehungskapital isten  und  Beziehungsproletariern 

Bernd  Kreuzberg: 

Arbeit  in  der  Heidelberg  Free  Clinic 

Chuck, Heidelberg  Free  Clinic: 

Welchen  politischen  Sinn  haben  alternative  Projekte? 

Michael   Honig: 

"Han  kann  nicht  mit  alien  Methoden  urn  Emanzipation  kampfen!' 
Ein   Interview  mit  Chuck  und  Werner  von  der  Heidelberg  Free 
Clinic  am  7.3.1976 

Bernhard  Achterberg: 

Fragen  zum  Selbstverstandnis  von  "Anti-Psychiatrie" 

Uschi   EBbach-Kreuzer: 

Social   Work:   Eine  studentische  Selbsthilfeorganisation 


Material i  en/Kl ei  nanzeigen 

Den  Widerstand  organisieren! 

Manifest  des  SB  zum  Pf ingstkongress  1976 

Lokale  SB-Gruppen/Kontaktadresse 


Seite    3 

Seite     5 

Seite  9 
Seite  17 

Seite  21 
Seite  28 
Seite  31 
Seite  35 

Seite  39 

Seite  49 

Seite  57 
Seite  75 

Seite  79 
Seite  81 


m*. 


BROSCHOREN  DES  SB  -  HERBST  1976 

ALLE  NEUEN  UND  NOCH  LIEFERBAREN  TITEL 


•  Referendar  &  Junglehrer  Buch,  DM  8  •  Thesen  des  SB,  DM  5  •  Hil- 
debrandt/Olle;  Ihr  Kampf  ist  unser  Kampf  -  Ursachen,  Verlauf  und 
Perspektiven  der  Auslanderstreiks  1973  in  der  BKD,  DM  1o  •  Ax- 
macher:  Kritik  der  Berufsausbildung,  DM  7  •  Redaktionskollektiv 
"express":  Spontane  Streiks  1973  -  Krise  der  Gewerkschaftspoli- 
tik,  DM  6  t  Politisches  Ende  der  EVA?  Dokumentation  zum  Medien- 
verstandnis  der  Geverkschaften,  DM  3  •  Betriebsratswahl  Merck 
1972;  Eine  Dokumentation,  DM  k   ■  Informationsdienst  Arbeiterbil- 
dung:  Thema  "Lohnpolitik",  DM  3  •  Informationsdienst  Arbeiter- 
bildung:  Thema  "Bildungsarbeit  mit  Lehrlingen";  DM  5  •  Portugal  - 
Auf  dem  Weg  zum  Sozialismus?  Analysen  und  Dokumente,  DM  8  •  Das 
Gesundbeitsvesen  in  Portugal,  DM  h   •  Eckl:  Klassenkampfe  in  Chile, 
DM  10  •  Dokumente  zur  Entwicklung  in  Chile  (vor  dem  Putsch  von 
1973),  DM  5  •  Klassenkampfe  und  Repression  in  Italien.  Am  Bei- 
spiel  Valpreda,  DM  5  •  Kofler/Buro:  Vom  Handelskapitalismus  zum 
Neoimperialismus  der  Gegenwart.  Eine  Einfuhrung  in  die  Entvick- 
lung  der  burgerlichen  Gesellschaft,  DM  5  •  Conertj  Die  politi- 
schen  Grundrichtungen  innerhalb  der  deutschen  Sozialdemokratie 
vor  dem  Ersten  Weltkrieg,  DM  5  •  Schafer:  Die  Kommunistische  In- 
ternationale und  der  Faschismus,  DM  8  •  Bedingungen  und  Perspek- 
tiven der  Stadtteilarbeit,  DM  U   •  van  Spall:  Ubersicht  deutsch- 
sprachiger  Periodika  der  unabhangigen  sozialistischen  Linken, 
DM  2,5o  •  Projektstudium  am  Beispiel  Heimerziehung,  DM  8  •  J6- 
dicke:  Arbeitermadchen  im  Jugendzentrum,  DM  1*  •  Knastalltag  am 
Beispiel  Mannheim.  Der  "Mannheimer  Gefangnisskandal",  DM  7  • 
Kunstreich:  Ontersuchung  zur  Rolle  des  Sozialarbeiters  in  der 
Klassengesellschaft  am  Beispiel  der  Jugend-  und  Familienfursor- 
ge,  DM  1o  •  Fuhrke:  Staatliehe  Sozialpolitik,  DM  8  •  REIHE  ROTER 
PAUKER:  Unterrichtseinheit  (UE)  Verhaltenssteuerung  -  Abweichen- 
des  Verhalten,  DM  h   t  UE  Arbeit,  DM  U  •  UE  Lehrlingsausbildung 
in  der  BRD,  DM  3,5o  •  Materialien  zur  Arbeitsfeldanalyse  des  Leh- 
rerberufs,'DM  k   •  Materialien  zur  Geschictate  der  politischen  Leh- 
rerbewegung  I,  DM  2.5o  -  II  DM  5  -  III,  DM  It  •  Materialien  zur 
Schulbuchproduktion:  Analyse,  Tendenzen,  Alternative^  DM  k   • 
UE  Arbeiterliteratur,  DM  5  •  Modelle  zur  Sexualerziehung,  DM  1  • 
UE  Indianer,  DM  It  t  PLAKAT-BAUERNVERLAG :  Alavi :  Theorie  der  Bau- 
ernrevolution,  DM  It  •  Rechtziegler :  Westdeutsche  Landwirtschaft 
im  Spatkapitalismus,  DM  5  •  Bauer  was  nun?  Beitrage  zur  Agrar- 
frage  in  der  BRD,  DM  It  •  Kemper:  Marxismus  und  Landwirtschaft, 
DM  5  •  Bergmann:  Agrarpolitik  und  Agrarvirtschaft  sozialistischer 
Lander,  DM  1o  •  Hampicke:  Kritik  der  burgerlichen  Agrarokonomie , 
DM  6  •  Agrarprobleme  und  Bauernkampfe  in  Westeuropa,  DM  8 
Lieferung  gegen  Vorauszahlung  (portofrei)  •  Der  Bestellung  ist 
der  Gegenwert  in  Briefmarken,  Bargeld  oder  als  Verrechnungsscheck 
beizufugen  •  Bestellungen  sind  zu  richten  an  Verlag  2ooo  GmbH, 
6o5  Offenbach  It,  Postach  591 ^^^^^^^^ 


VORBEMERKUNG  ZU  DIESER  AUSGABE 


Im  Februar  1976  trafen  sich  in  Gottingen  rund  vierzig  Sozialarbeiter, 
Studenten,  Psychologen  und  Arzte,  urn  darliber  zu  diskutieren,  wie  der 
INFO  "Psychiatrie"  aussehen  sollte.  Wir  einigten  uns  auf  vier  Fragen, 
auf  die  die  Beitrage  antworten  sollten: 

-  Welche  Erfahrungen  haben  wir  bei  dem  Versuch  gemacht,   innerhalb  der 
Anstaltspsychiatrie  eine  fortschrittliche  Arbeit  zu  machen? 

-  Welche  Erfahrungen  haben  wir  bei  dem  Versuch  gemacht,  eine  Alterna- 
tive zur  Psychiatrisierung  zu  entwickeln? 

-  Welche  Strategien  im  Umgang  mit  Staat  und  Behbrden  haben  wir  ent- 
wickelt,  urn  alternative  Modelle  politisch  durchzusetzen  und  zu  sta- 
bilisieren? 

-  Was  heiBt  eigentlich:   in  der  Psychiatrie  politisch  arbeiten? 

Diese  Fragen  zeigen  ganz  deutlich,  daB  die  ursprlingliche  Absicht,  die 
kritische  Arbeit  von  Sozialarbeitern  in  den  verschiedenen  psychiatri- 
schen  Bereichen  darzustellen,  keine  groBe  Rolle  mehr  spielte.  Der 
INFO  ist  nun  zu  einer  Sammlung  theoretischer  Texte,  Erfahrungsberich- 
ten  und  Selbstdarstellungen  geworden,  die  vornehmlich  von  alternati- 
ven,  von  auBerinstitutionellen  Projekten  berichten. 
Dabei   hat  sich  ein  Konzept  herausgebildet,  das  auBerlich  in  der  Ab- 
folge  der  Texte  sichtbar  wird  (man  sollte  sie  auch  nacheinander  le- 
sen);  vor  allem  aber  treten  -  ungeplant  -  eine  Reihe  von  zentralen 
Problemstellungen  hervor,  die  in  den  verschiedenen  Beitragen  durchaus 
unterschiedlich  angegangen  werden,   zu  denen  auch  durchaus  unterschied- 
liche  Erfahrungen  vorliegen. 

Sozialarbeiter  in  der  Psychiatrie  mbgen  von  dieser  Konzentration  auf 
auBerinstitutionelle  Arbeit  enttauscht  sein,  denn  von  ihren  Problemen 
■jst  explizit  nicht  die  Rede.  Die  Herrschaftsmechanismen  Totaler  Insti- 
tutionen  sind  indessen  nicht  auf  die  Verwaltungsapparatur  der  Psychia- 
trie beschrankt:  gerade  die  alternativen  Ansatze  zeigen,  daB  die  Re- 
qeln  der  Herrschaftsausubung  nicht  nur  fremdgesetzt,  sondern  integraler 
Bestandteil     unserer  Verbal tensmbgl ichkei ten,  Werte  und  unseres  poli- 
tischen Selbstverstandnisses  sind.  Es  findet  also  in  diesem  INFO  - 
obgleich  es  auf  den  ersten  Blick  so  scheint  -  keine  Spezialisierung  auf 
Probleme  der  Psychiatrie  und  auf  Probleme  alternativer  Arbeit  statt; 
vielmehr  steht  das  Rollenverstandnis  linker  Sozialarbeiter  zur  De- 
batte.   Die  Moral  dieses  INFO:  politisch  verstandene  Sozialarbeit  ist 
zua11ererst  Arbeit  an  meinem  eigenen  Verhalten  gegenliber  dem  "Klien- 
ten".  Ha'tten  wir  uns  wieder  nur  mit  Anstaltspsychiatrie  beschaftigt, 
ware  wieder  nur  die  Objektivitat,  die  Anstalt  oder  sonst  was  SuBer- 
liches  schuld. 

nie  Entwicklung  und  Verankerung  alternativer,  selbstorganisierter  Be- 
rLlfstatigkeit  ist  im  Bereich  psychiatrischer  Arbeit  offenbar  weiter 


-   3 


fortgeschn'tten  als  in  anderen  Bereichen  der  Sozialarbeit.  Auch  im 
Ausland  ist  die  Psychiatrie  der  vornehmliche  Bereich  der  Entwick- 
lung  von  alternativen  oder  Selbsthilfezentren.   Das  ist  aktuell  von 
Bedeutung,  seit  auf  dem  Frankfurter  PfingstkongreB  "Rotarbeif    pro- 
klamiert,  zur  Bildung  alternativer  Berufsstrukturen  aufgerufen  wurde. 
Dennoch  bieten  die  Texte  nur  wenig  "technische  Hilfe".   "Alternative 
Berufspraxis"  ist  immer  noch  zu  oft  ein  studentischer  Traum;  aber 
die  Zeiten  fiir  Reformmodelle  sind  schlecht  und  der  Widerstand  der 
Sozial administration  barter  denn  je.  Wieviel  CleverneB,  Kenntnisse, 
Durchhaltevermbgen,  wieviel  Arbeit  an  der  eigenen  Existenzangst,  Aus- 
einandersetzung  mit  dem  prekaren  politischen  Status  solcher  Projekte 
notwendig  ist,   kommt  im  Ganzen  des  INFO  zu  schwach  zum  Ausdruck. 

Damit  hangt  ein  charakteristisches  Paradox  zusammen.Wer  alternative 
Arbeit  aufbauen  will,  darf  nicht  blauaugig,  er  muB  ein  Profi  sein. 
Er  muB  sich  auskennen  mit  den  Anerkennungs-  und  Finanzierungsinstan- 
zen,  mit  Offentlichkeitsarbeit  und  Biindnispolitik  -  zugleich  aber 
muB  er  authentisch  die  antiinstitutionellen  Interessen  und  Bedurfnis- 
strukturen  vertreten  kbnnen,  das  heiSt:  doch  wieder  kein  Profi  sein. 
Er  muB  dem  "Klientel"  des  alternativen  Projekts  gegenubereine  Identi- 
ty finden,  die  personal  und  nicht  abstrakt-fachmannisch  ist,  er  muB 
also  offen  und  selbstreflexiv  arbeiten.  Was  Herbert  Nagel   uber  seine 
Probleme  mit  "Klienten"   in  der  Sozial therapie  Frankfurt  schreibt.  mag 
wahrlich  nicht  nur  ihm  so  gehen:   "Ich  behandelte  ein  Problen  des  an- 
deren,  wahrend  er  vielleicht  einfach  ...  mit  mir  kommunizieren  wollte. 
Diese  Paradoxie,  professionell     sein  zu  mussen  -  zugleich  aber  sich 
auf  die  Personen,  die  ins  Zentrum  kommen,  einlassen  zu  konnen.  das  ist 
besonders  bei  politischen  Absichten  schwer  zu  losen.  Bleibe  ich  m  t 
Hi^er  Definition  des  Problems  nicht  immer  auf  einer  mterpersonellen 
e      sS  e  ?  wSs  muB  ich  tun,  wenn  ich  weiB,  daB  9es-Usch.ftlich. 
Gewalt  eben  nicht  mit  der  Auflbsung  interpersonal ler  Krisen  und  Ver- 
standigungsbarrieren  sich  verfluchtigt?  Man  mochte  manchmal   e  nfach 
aufstehen  und  den  Leuten  sagen,  was  Sache  ist,  was  sie  tun  sollen, 
was  dran  ist.. . 

Alle  diese  Probleme  werden  in  diesem  INFO  keineswegs  gelbst,  zweifel- 
los  aber  diskussionsfahig  gemacht  und  einen  Schritt  weiter,  das  mei- 
nen  wir  schon,  geklart. 

Dieser  INFO  SOZIALARBEIT  ist  in  Abstinnnung  mit  dem  Arbeitsfeld  GeT 
Sheitswesen  im  Sozial istischen  Buro  entstanden;  demnachst  erscheint 
im  INFO  GESUNDHEITSWESEN  ein  eigenes  Heft  zum  Thema     Psychiatrie  . 
Dieser  INFO  ist  nicht  von  einer  AKS-Gruppe  erstellt  worden  (wie  die 
meisten  anderen  Nummern),  sondern  von  einer  Mehrzah     von  Einzelperso- 
nen  und  Gruppen,  die  fast  ausnahmslos  zum  ersten  Mai  mit  dem  Soziali- 
stischen  Bliro  zusammengearbeitet  haben. 


Bernhard  Achterberg 
Michael-Sebastian  Honig 


Bodo  Hager: 

SOZIALE  UND  POLITISCHE  ASPEKTE 
DER  PSYCfflATRIE 


Die  starke  Zunahme  psychischer  Krankheiten  und  Behinderungen, 
(2er  Ausdruck  "psychische  Krankheiten"   soil   an  dieser  Stelle  nicht 
weiter  erlautert  werden.)   sowie  die  bffentlich  zugegebene  Vernach- 
lassigung  der  Psychiatrie  stellen  ein  wachsendes  sozial-  und  gesund- 
heitspol  ltisches   Problem  dar    (vgl.    Praambel    zum  Bericht   iiber   die   La- 
qe  der   Psychiatrie   in  der  BRD.    Bonn    1975,    S.    *0  .    Es  wird   verstarkt 
durch  die  Tatsache,  daB  die  Psychiatrie  fast  ausschlieBlich  medizi- 
nisch  bzw.  cheniotherapeutisch  orientiert  ist,  wahrend  die  gesell- 
schaftspolitischen  und  menschlichen  Aspekte  der  psychiatrischen  Be- 
handlung  nur  geringe  Bedeutung  erlangt  haben.  Die  offenkundigen    LUk- 
l<en  im  pra'ventiven  Bereich  psychischer  Hygiene,  den  komplementaren 
Diensten  und  gemeindenahen  Beratungsstel  len  (besonders  fiir  die  Rand- 
qruppen  und  die  landliche  Bevblkerung)  und  die  fast  ausschlieBlich 
kurative,  von  den  Lebens-  und  Arbeitsbedingungen  der  Patienten  ab- 
strahierende  Betreuung  weisen  auf  eine  Unter-  und  Fehlversorgung  in 
diesem  Sektor  des  Gesundheitswesens  hin. 

Innerhalb  der  Institutionen  der  Psychiatrie  ist  ein  "gesellschafts- 
bezogenes  psychiatrisches  Denken  und  eine  kritische  Oberprufung  und 
Veranderung  der  therapeutischen  Methoden  und  der  bestehenden  Organi- 
sationsformen"  (vgl.  §  3  der  Satzung  der  Deutschen  Gesellschaft  fiir 
soziale  Psychiatrie  (DGSP)J  weitgehend  abhangig  von  dem  Engagement 
der  pf|eger  und  Rrzte,  die  in  den  psychiatrischen  Institutionen  un- 
mittelbar  auf  die  Patienten  einwirken. 

nie  disziplinierende  Funktion  der  Psychiatrie  hat  eine  lange  Tradi- 
tion.   In  Zeiten  zugespitzter  politischer  Kampfe,  wenn  sich  die  herr- 
scheiide  Klasse  bedroht  fu'hlt,  ja  schon  im  Gerangel   burgerlicher  Par- 
teien,  wird  die  Psychiatrie  bzw.  die  psychiatrische  Terminologie  als 
nolitische  und  ideologische  Waffe  mit  dem  Ziel  eingesetzt,  die  Glaub- 
wurdigkeit  und  Ernsthaftigkeit  des  Gegners,  das  heiBt:   ihn  als  Per- 
son    zu  zerstbren. 

Unter  sozialpsychologischen  Gesichtspunkten  ist  der  Begriff  der 
Randgruppe  unter  dem  Abgrenzungs-  und  AusstoBungsbedurfnis  der  Mehr- 
heit  zu  betrachten.  Die  Grenze  zwischen  der  Gesellschaft  und  der  Rand- 
aruppe  der  psychisch  Kranken  wird  nicht  nur  durch  die  Stellung  im  Pro- 
duktionsprozeB  gezogen,  sondern  vor  allem  im  Vorurteil  der  Ausgren- 

Die  Psychiatrie  ist  ebenfalls  wie  die  Sozial flirsorge  eine  gesell- 
cchaftliche  Dienstleistung  mit  ausgepragter  bewuBter  Individualisie- 
lurtg  der  Klientel.  Als  Wissenschaft  entwickelte  die  Psychiatrie  ihre 
Theorien  unter  den  Bedingungen  der  Totalen  Institution  Irrenhaus, 
las  heiBt:  unter  Ausklammerung  der  Lebenszusammenhange  der  Patienten. 
naB  nicht  somatische,   sondern  psycho-soziale  Faktoren  krank  machen, 
■st  von  der  Psychiatrie  bisher  kaum  zur  Kenntnis  genommen  worden. 

-  5  - 


4  - 


Der  steigende  Anteil  der  "Alterspsychotiker  und  Alterssenilen'in  den 
psychiatrischen  Klim'ken  straft  offenkundig  das  rehabilitative  Selbst- 
verstandnis  der  Psychiatrie  LLigen  und  la'Bt  sie  vielmehr  als  eine 
gesellschaftliche  Instanz  zur  Selektion  und  Kontrolle  der  nicht  sel- 
ten  durch  den  ProduktionsprozeB  unbrauchbar  gewordenen  Individuen 
erscheinen,  die  als  moralisch  minderwertiges  Gut  zu  mdglichst  gerin- 
gen  Unkosten  verwahrt  werden.   Das  Prinzip  der  VerwahrungsfUrsorge 
ist  charakteristisch  fiir  die  deutsche  Anstal tspsychiatrie. 

Das  nach  wie  vor  bestimmende  Paradigma  in  der  Psychiatrie  gent  weit- 
gehend  von  einem  Krankheitsbegriff  der  "gestbrten  Leistung  des  Orga- 
nismus"  aus.   In  den  letzten  fiinfzehn  Jahren  sind  Untersuchungen  durch- 
gefuhrt  worden  (etwa  die  Midtown  Manhattan-Study;  die  Mannheimer  Stu- 
die),  die  einen  Zusanmenhang  zwischen  soziodkonomischen  und  seeli- 
schen  Erkrankungen,  insbesondere  bei  unteren  sozialen  Schichten,  auf- 
weisen  konnten.  Es  wird  hervorgehoben,  da[3  die  Diskriminierung  und 
Benachteiligung  dieser  Schichten  in  der  gesundheitl ichen  und  wohl- 
fahrtsstaatlichen  Betreuung  auch  in  der  Krankheit  ihren  weiteren  Ver- 
lauf  nimmt  und  diese  schlieSlich  zu  einer  unabanderl ichen  Verschlech- 
terung  seelischer  Gesundheit  flihrt. 

Das  medizinische  Krankheitsmodell   schlagt  aber  auch  den  Erfahrungen 
ins  Gesicht,  die  der  Arzt,  der  Krankenpf leger  und  der  Sozialarbeiter 
mit  dem  Elend  der  rechtlosen  Patienten  in  den  Anstalten  machen.  Ge- 
rade  die  Sozialarbeiter,  die  in  der  Psychiatrie  bislang  unterrepra- 
sentiert  sind,  muBten  von  ihrem  Fachverstandnis  her  am  ehesten  die 
Mi  sere  der  psychiatrischen  Versorgung  kritisieren.  Sie  konnten  fach- 
liche  wie  politische  Forderungen  fur  eine  Psychiatrie  im  Interesse 
der  groBen  Mehrheit  der  Bevblkerung  erheben. 

Die  Patienten  in  den  psychiatrischen  Kliniken  sind  weitreichenden 
Regulations-,  Bestrafungs-  und  Belohnungsregeln  unterworfen.  Kluge 
bezeichnete  den  ProzeB  der  sozialen  Kontrolle  der  Patienten  als  eigent- 
liche  "Psychiatrisierung"  Oder  als  "brutale  Realitat".  Da  unter  die- 
sen  Umstanden  die  psychischen  Erkrankungen  im  giinstigen  Fall  nur  in 
die  Latenz  gedrangt  werden  und  die  Patienten  bei  geringfiigigen  psy- 
chischen und  physischen  Belastungen  auBerhalb  der  Anstalt  sehr  bald 
in  diese  zuruckkehren,  ist  der  Ausdruck  "Drehturpsychiatrie'    gerecht- 
fertigt   (vgl.    Enquetezur   Lage  der  Psychiatrie   in  der  BRD   -  Zwischen- 
bericht  der  Sachverstandigenkommi ssion  vom  19.   Oktober   1973;    ferner 
Material ien  9  &   10  des   Bundesmini steriums   fur   Jugend,    Familie  und 
GEsundheit   (BMJFG)    ,  Stuttgart  1973).   So  rufen  die  Isolation  der 
Patienten  in  kunstlicher  Passivitat,  Monotonie  und  Abhangigkeit  den 
groBeren  Schaden  in  der  jeweiligen  Person! ichkeitsstruktur  hervor 
Die  weitere  Folge  der  zwangsweise  eintretenden  Hospital isierung  ist 
zweifellos  eine  schrittweise  Entsozialisierung.  Der  Psychiatneen- 
auete  ist  zu  entnehmen,  daD  liber  30  %  der  Patienten  langer  als  zehn 
Jahre  in  der  Anstalt  bleiben  und  lediglich  9  %  die  Institution  mner- 
halb  von  zwei  Jahren  wieder  verlassen.   Kritische  Psychiater  bekennen^ 
heute  freimutig,  da6  der  chronische  Verfall  sogenannter  "Psychotiker 
mit  Sicherheit  als  ein  "Kunstprodukt  der  Psychiatrie"  zu  werten  ist 
(Richter,    Horst-Eberhard:    Lernziel    Sol idaritat.    Reinbek   197<t,S.    239). 

Die  Totale  Institution  Irrenhaus  bedient  sich  eines  Kommunikations- 
systems,  das  die  verschiedenen  Berufsgruppen  in  einer  hierarchischen 


Ordnung  und  nach  Funktionen  voneinander  isoliert.  Unter  diesen  Um- 
standen wird  die  Behandlung  der  Patienten  durch  ein  therapeutisches 
Team  unmbglich,  da  ein  demokratisches  und  kooperatives  Arbeiten  ver- 
hindert  wird.   Dabei   spielt  die  uneingeschrankte  Machtposition  der 
medizinischen  Berufe  eine  wesentliche  Rolle.   Neben  dem  Prinzip  der 
hierarchischen  Gliederung  ist  noch  das  ausgepragte  Bestreben  der  In- 
stitutionsfiihrung  nach  Sicherheit  und  Ordnung  zu  nennen. 
Da  Sicherheit  und  Ordnung  sowie  das  reibungslose  Funktionieren  auf 
der  einen  Seite.und  menscnliches  Handeln  gegeniiber  den  Patienten 
auf  der  anderen  Seite  ganz  unterschiedl  iche  Erwartungen  und  Hand- 
lungsweisen  hervorrufen  mu'ssen,  sind  Rollenkonflikte  und  Identifika- 
tionsschwierigkeiten  mit  der  Institution  die  Folge.   So  mu'ssen  die 
professionellen  Ziele  und  Werte  in  einer  standigen  Auseinandersetzung 
gegen  die  patientenfeindliche  Struktur  der  Institution  durchgesetzt 
werden.   Langfristig  flihrt  dies  zu  einer  Kraifteverzehrung,  Abwertung 
nd  Umdefinition  der  sozialpadagogischen  und  therapeutischen  MaBnah- 
men  zugunsten  des  Sicherheits-  und  Ordnungsprinzips  der  betreffenden 
Einrichtungen. 

Dieser  Konflikt  bedeutet  erhebliche  Verhaltensunsicherheiten,  psychi- 
sche  Belastungen  und  Entta'uschungen,  die  durch  die  wenigen  positiven 
Erfahrungen  im  Praxisbereich  kaum  aufgewogen  werden.  Wie  gravierend 
dieses  Problem  ist,  macht  sich  in  der  Anstaltspsychiatrie  durch  die 
hone  Zahl   unbesetzter  Stellen  und  durch  die  starke  Fluktuation  des 
Personals  bemerkbar. 

Eine  demokratisierende  Berufspraxis  in  den  Institutionen  der  psychia- 
trischen Versorgung  kann  daher  nur  dann  einen  Sinn  haben,  wenn  sie 
das  spezielle  Aktionsfeld  der  Anstaltspsychiatrie  liberschreitet.  Dies 
hieBe  aber  auch:  sich  nach  "unten  hin"  zu  sol idarisieren,  die  Diskri- 
minierung der  Schwa'chsten  mitzutragen  und  dem  Druck  der  gesellschaft- 
1  ichen  Krafte,  die  den  sozialen  Randstatus  der  psychisch  Kranken  be- 
wirken  und  festigen,  auch  politisch  entgegenzutreten. 


9.  Jahrfanc 


Krltlache  Blatter 
BUI  Nordrhein- 

Uestfalen 


Vlert el  Jshreizai  tachrift 


71-ltachrift   krltiecher  Christen   und  Zeitgenossen :    Berichtet  und  kommentiert 
basisnahe  Oemeindearbeit,  Kirchenpolitik,   Jugendarbeit ,   Arbeitslosigkeit, 
Betrlebskampfe,   politische  Repression,   Befreiungskampfe   i.   d.    3.   Welt   ... 

Rudaktion:   Querenburger  Hbhe  287,   *630 
Preis; 


akampfe 
ochum  1,    Tel.:   02J4/70  14  65 


Jahresabonnement  DM  15, -i   fiir  Lehrlinge,   Schiiler,   Studenten, 
Ersatzdienstleistende  u.   a.   DM  7,50 


KoPto : 


Nr.  333  00  120  (AMOS)  bei  der  Stadt.  Sparkasse  Bochum 


Materialien  der  AG  SPAK 


Arbeitsgemeinschaft  Sozialpolitischer  Arbeitskreise  in  der  BRD 
Materialien  zu  Theorie  und  Praxis  der  Arbeit  im  Reproduktionsbereich 


M19 
M20 


M21 


M 
M24 

D3 


Materialien  zur  alternative!!  Okonomie  I 

Ein  Reader  verschiedener,  alternativ  zur  bestehenden  Lebens-  und 
Wirtschaftsform  entwickelter,  auch  praktizierter  Modelle;  eine  Kri- 
tik  an  den  dargestellten  Modellen.  -  196  S.,  DM  6,50 

Empirie  einer  Subkultur  -  Obdachlosensiedlung  Miihltal 
Diese  Arbeit  stellt  die  Lebensformen  von  Obdachlosen  als  ein  subkul- 
turelles  Interaktionsfeld  dar,  das  sich  in  den  Zusammenhang  vorindu- 
strieller  Kulturtraditionen  einordnen  laSt  und  mitunter  durchaus 
positiv  vom  Verhalten  des  ..Normalbiirgers"  abweicht.  -  220  S.,  DM  8,50 

Materialien  zur  Arbeit  mit  psychisch  Kranken  I 

Erfahrungsberichte  und  Selbstdarstellungen  zur  Arbeit  in  Landeskran- 
kenhausern,  zur  Selbstorganisation  der  Betroffenen,  zu  Kontakt-  und 
Gruppenzentren  auBerhalb  von  Anstalten,  zu  Selbsterfahrung  und 
Meditation.  -  1 22  S.,  DM  5,- 

Materialien  zur  Arbeit  mit  Obdachlosen  III 

Selbstdarstellungen  und  Arbeitsanalysen  von  Projektgruppen,  die  in 
Obdachlosensiedlungen  Oder  im  Stadtteil  Kinder-,  Jugend-  und  Erwach- 
senenarbeit  machen.  -  246  S.,  DM  7,50 

Zur  Praxis  von  Vorschul-  und  Schiilerarbeit  mit  Obdachlosenkindern 

Eine  Zusammenstellung  von  Material  und  konkreten  Anregungen,  die  auf 
den  Erfahrungen  einer  Initiativgruppe  beruhen.  Der  theoretische  Teil  ist 
kurz  gehalten;  ausfiihrlich  warden  praktische  Moglichkeiten  der  Rand- 
gruppensozialisation  aufgezeigt.  -  160  S.,  ca.  50  Abb.,  DM  7,80 

Dart  Willi  lernen? 

Diese  Dokumentation  gibt  den  MiEmut  einiger  engagierter  Padagogen 
iiber  einen  Modellversuch  der  Stadt  Munster  im  Rahmen  des  Volkshoch- 
schulprogrammes  zur  Erlangung  des  Hauptschulabschlusses  fur  arbeits- 
lose  und  „sozial  auffallige"  Jugendliche  wieder.  Sie  will  Ergebmsse 
und  Einschatzungen  dieser  Erfahrungen  verwertbar  machen  fur  zukunftige 
Projekte  dieser  Art  sowie  Moglichkeiten  und  Grenzen  verdeutlicnen,  die 
der  Arbeit  in  und  mit  offentlichen  Institutionen  gesteckt  sind.  -  •-'• 
DM  3,50 


-  ca.  70  S., 


Erhaltlich  in  vielen  linken  Buchladen.  -  Bestellungen  beim  Verlag  nur  gegen  Voraus- 
zahlung  (plus  Porto:  DM  -70  fur  1  Ex.,  DM  -,30  fur  jedes  weitere)  auf  das  Konto 
der  AG  SPAK  Nr.  17651  -  104  beim  Postscheckamt  Berlin  West. 

AG  SPAK  -  Publikationen  -,  Friesenstr.  13,  1000  Berlin  61 


Gerhard  Kafitz: 

DOSSIER  ZUR  PSYCHIATRIE-ENOUETE 


Nach  mehr  als  vierjahriger  Arbeit  hat  eine  vom  Deutschen  Bundestag 
eingesetzte  (Commission  die  "Enquete  zur  Lage  der  Psychiatrie  in  der 
Bundesrepublik  Deutschland"  vorgelegt,   Die  Verbffentl ichung  hat  eine 
erhebliche  Resonanz  in  der  Presse  gefunden:  der  skandalbse  Zustand 
der  psychiatrischen  Versorgung  und  die  Massenhaftigkeit  psychischen 
Elends  wurde  zum  ersten  Mai   in  groBem  MaB  publik.   Dennoch  ist  die 
Enquete  voller  widersprLichl  icher  Tendenzen;  vor  allem  hat  sich  letzt- 
endlich  die  traditionelle  Psychiatrie  dorch  gegen  die  psychothera- 
peutischen  Bestrebungen  behaupten  konnen.   Der  Text  will  die  Enquete 
zum  Zwecke  eigener  LektLire  mit  dokumentarischem  Material   strukturie- 
ren.Eine  empfehlenswerte  Lesehilfe  fur  das  massige  Werk  geben 
A.   Finzen  und  H.  Schadle-Deininger  in  der  Reihe  "Werkstattschriften 
zur  Sozialpsychiatrie"   (Heft  15,   128  Seiten,  4.-  DM;  Vertriebsan- 
schrift:   SiidstraBe  25,  3050  Wunstorf,  H.   Schadle-Deininger). 
Die  folgende  Dokumentation  hebt  vor  allem  auf  die  Entstehung  und  die 
wesentlichen  Aussagen  der  Enquete  ab,   legt  das  besondere  Augenmerk 
jedoch  auf  die  nach  wie  vor  problematische  Fassung  der  Begriffe 
"Krankheit"  und  "Therapie". 


Fnt.stehung  der  Enquete 

Am  5.  Marz  1970  brachten  di.e  Abgeordneten  Picard  u.a.  und  die  Fraktion 
der  CDU/CSU  ihren  Antrag  zur  "Situation  der  Psychiatrie  in  der  BRD"  ein 
mit  einer  sehr  differenzierten  Begrlindung  und  klaren  Forderungen 
(Dezentralisierung,  Regional isierung,  Behandlungsmedizin,  Sozial- 
psychiatrie als  Kernpunkte  der  Psychiatrie,   soziale  Verkriippelung  in 
nsychiatrischen  Krankenhausern  abschaffen)   und  dem  Vorschlag,  den  An- 
trag an  den  GesundheitsausschuB  zu  liberweisen.   Dieser  AusschuB  sollte 
eine  Anhbrung  von  Psychiatern  aus  dem  Bereich  der  psychiatrischen 
Landeskrankenhauser',  der  Universitatskliniken  und  aus  der  Verwaltung 
vornehmen,  urn  die  Untersuchung  abzugrenzen  und  urn  die  Mbglichkeit 
der  personellen  Zusammensetzung  einer  Kommission  zu  erbrtern,  die  die- 
Untersuchung   nun  vornehmen   kann.    (Antrag  der  Abgeordneten   Picard 
a.    und  der   Fraktion  der  CDU/CSU   zur  "Situation  der   Psychiatrie    in 
Her    BRD",    Drucksache  M\/klh,    in:    Soz ialpsychiatr i sche    Informat ionen 
,0/]  1-1972,    S.    17-19.    Begrundung   des  Antrags   S.    19-1(2.) 

Am  3./4-   April   1970  fand  in  der  psychiatrischen  Klinik  der  Universi- 
j-St  Hamburg  ein  sozialpsychiatrischer  KongreB  mit  dem  Leitthema 
"Ruckkehr  der  psychisch  Kranken  in  die  Gesellschaft?"  statt,  der  die 
r  hurtsstunde  des  "Mannheimer  Kreises"  war.    (Dorner/Plog :  Sozial- 
psychiatrie.   Neuwied    1972) 


18.1.71   wurde  die  "Aktion  psychisch  Kranke"  gegriindet 


ein  Verein 
""    ' Reform  der  Versorgung  psychisch  Kranker.  Die  Aktion  hat  das  Schwer- 


gewicht  ihrer  Arbeit  in  unmittel barer  Wirkung  im  parlamentarisch- 
politischen  Feld,  wobei   sie  auch  auf  der  Ebene  der  Landerparl amente 
aktiv  werden  und  Kontakte  zu  den  Uberbrtlichen  Tragern  der  Sozial- 
hilfe  und  den  freien  Krankenhaustragern  herstellen  will.  Der  Aktion 
wurde  die  gesamte  organisatorische  Vorbereitung  und  Durchfuhrung  der 

Enquete  Ubertragen.    (In  den   Heften  der   Zeitschrift  "Sozialpsychia- 
trische    Informationen"    (zitiert  als  Sozpslnfo)    sind  Vorgeschichte 
und  HitergrUnde  der  Enquete,   Zusammenfassung  und  Arbeitsweise  der 
Sachverstandigenkommission  dargestellt  worden.    Die  Zeitschrift  er- 
scheint   seit    1971    und  wl  rd  von  Mitgliedern  der  Deutschen  Gesell- 
schaft   fur   Soziale  Psychiatrie  sowie  Mitarbeitern  des  Mannheimer 
Kreises  gestaltet.)  .      .        c      . 

Die  konstitutierende  Sitzung  der  Sachverstandigen-Koramssion  fand 
am  31  8  71   in  Bonn  statt.  Zu  der  Zusammensetzung  der  Sachverstandi- 
gen-Kommission meint  die  Redaktion  der  "Sozialpsychiatrischen  Infor- 

mationen":  .  ,  ,  ,    . 

Vie  diese  Liste  der  Kommiesionsmitglieder  eigentlich  zustande  kam 
wird  wohl  immer  das  Geheimnis  einiger  weniger  bleiben.   1st  ein  sol 
ches  Ubergewicht  der  Vniversitatspsychiatrie  zu  rechtfertigen?  Mtis- 
sen  in  einem  solchen  Gremium  Psychiater  wirklich  unter  sich bleiben, 
sind  sie  fur  alls  Fragen  "Sachverstandige"?  Wo  bleiben  die  Psycholo- 
qen,   SoUologen,  Padagogen,   Verwaltungsfachleute  und  Rechtsejcperten, 
die  selbst  in  den  Arbeitsgruppen  klagliah  repr&sentiert  sind?  Was 
far  eine  Funktion  hat  die  einzige  Hchtakademikerin  und  einzige  Frau 
in  dieser  Korrmiesion?  Gab  es  fur  den  gesamten  Pflegebereich,  der 
mit  der  Versorgung  psyohisoh  Kranker  doah  viel  unmittelbarer  ais 
Krzte  konfrontiert  ist,  wirklich  keine  qualifizierte  Sachverst&ndi- 
aena   die  der  Bundestag  und  sein  AusschuB  doah  offenbar  gefunden  hat- 
te/wenn  er  die  zWeite  Halfte  der  Anhorungen  mit  eben  solchen  niant- 
/ir-'ptlichen  vsuchiatrischen  Mitarbeitern  bestritt? 
Z  19  10  1973  wurde  als  Drucksache  7/1124  des  Dt.  Bundestag^  der 
Zwischenbericht  der  Sachverstandigen-Kommission  zur  Erarbeitung  der 
Enquete  uber  die  Lage  der  Psychiatrie  in  der  BRD  verbffentHcht. 
(Zwischenbericht  der  SachverstMndigenkommission  zur  Erarbeitung 
der  Enquete  uber  die  Lage  der  Psychiatrie   in  der   BRD;   Drucksache 
7/II24  des  Deutschen  Bundestages,    in:   Sozpslnfo  19-1974,   5.   ii  l°-i 

Zu  dem  Konflikt.  7wischen  der  AG  "Psvr.hntherapie"  und  der  Sachver- 
Tta'ndiqen-kommission:  vot  Erscheinen  des  /wiscnenherichts  bis  zum_ 
Hauptbericnt 

Der  Vorstand  der  Deutschen  Gesellschaft  fur  Psychotherapie,  Psychoso- 
raatik  und  Tiefenpsychologie  (DGPPT)  richtete  am  10.11   1973  ein  Schrei 
ben  an  das  Bundesministerium  fur  Jugend,  Faimlie  und  Gesundheit 
(BMJFG).  Dort  heiBt  es  u.a.: 

"Wir  sind  zutiefst  beunruhigt,  dali  die  zahlenmaBig  starkste  G™PPe 
von  psyahisch  Kranken,  die  man  als  psychtneurotiech  und  p^ehoeam 
tisch  Kranke  bezeichnet,  in  der  EnquSte  erschreckend  "f^f^* 
berttcksichtigt  worden  ist.  Diesen  eklatanten  Mangel  unter  B*£*™ 
tung  des  gegenwartig  verbindlichen  Organisationsplanes  der  fW*te 
noch  beheben  zu  wollen,   halten  wir  filr  ausgeschlossen,   da  dieser  ver- 
sorgungsbereiah  in  der  Sachverstandigen-Kommission  personell  una 
sachlich  unzureiahend  vertreten  ist.  " 


lo  - 


Die  Initiative  der.  DGPPT  wurde  vom  Vorstand  der  Allgemeinen  Arztli- 
chen  Gesellschaft  flir  Psychotherapie  unterstiitzt.  Zu  Beginn  des  Jah- 
res  1974  wurden  die  Arbeitsgruppen  "Psychotherapie/Psychosomatik" 
konstituiert  und  nahmen  ihre  Tatigkeit  auf.  Es  wurde  im  Laufe  des 
Jahres  zunehmend  die  Gefahr  sichtbar,  daB  sich  die  zwei  Teile 
(Psychiatrie  und  Psychotherapie/Psychosomatik)  im  Hauptbericht  ihrem 
Inhalt  nach  nicht  zu  einera  in  sich  geschlossenen  widerspruchsfreien 
Bericht  wlirden  zusammenfligen  lassen.  Die  Vertreter  des  Bundesgesund- 
heitsministeriums  (BMJFG)  erklarten  Anfang  1975  mit  Nachdruck,  daB 
der  Deutsche  Bundestag  als  Auftraggeber  einen  in  sich  blindigen,  wi- 
derspruchsfreien Bericht  erwarte.  Es  soil  nicht  verschwiegen  werden, 
daB  der  EinigungsprozeB  gelegentlich  am  seidenen  Faden  hing.  SchlieB- 
lich  kam  man  zu  der  Oberzeugung,  daB  es  mbglich  sein  mu'Bte,  den 
Hauptbericht  in  seiner  Gesamtheit  zu  harmonisieren. 


Wichtige  Aussagen  der  Enquete 

1 .  Grundforderung 

"Die  Sachverstandigen-Kommission  hat  bereits  im  Zwischenbericht  mit 
Nachdruck  gefordert,   daB  die  Beseitigung  grober  inhumaner  MiBstande 
unbedingt  jeder  Neuordnung  der  Versorgung  psyahisch  Kranker  und  Be- 
hinderter  vorauszugehen  hat.   Sie  halt  es  fur  selbstverstandlich,   daB 
in  den  vorhandenen  Einriahtungen  filr  die   Versorgung  psyahisch  Kran- 
ker und  Behinderter  ein  ausreichender  Standard  zur  Befriedigung  hu- 
maner  GrundbedUrfnisse  gewdhrleistet  ist.   Dazu  gehdren  ausreichende 
sanitare  Ausstattungen,    ein  ausreichender  Bereiah  filr  das  personli^ 
che  Eigentum  und  die  persBnliche  Kleidung  sowie  eine  Inneneinrich- 
tung,   die  den  heutigen  Anspriichen  einer  Krankenhausunterbringung 
entspricht."   (Enquete,  S.  A08) 

2.  Rahmenbedingungen  einer  Neuordnung  der  Versorgung 

"Die  Sachverstdndigen-Kommission  ist  der  Ansiaht,   daB  folgende  Prin- 

zipien  den  Charakter  von  Rahmenbedingungen  besitzen: 

Das  Prinzip  der  gemeindenaken  Versorgung ; 

das  Prinzip  der  bedarfsgerechten  und  umfassenden  Versorgung  aller 

psyahisch  Kranken  und  Behindertenj 

das  Prinzip  der  bedarfsgerechten  Koordination  aller  Versorgungsdien^ 

das' Prinzip  der  Gleiahstellung  psyahisch  Kranker  mit  kSrperlich  Kran- 
ken."  (Enquete  S.  408) 

3.  Zum  Bedarf 

"Die  Charta  der  Weltgesundheitsorganisation  besahreibt  Gesundheit 
als  ein  Zustand  vollkorrmenen  korperlichen,  psyahischen  und  sozialen 
Wohlbefindens,  nicht  nur  definiert  durch  die  Abwesenheit  von  Krank- 
neit  oder  Behinderung.  "...  "Wie  Urttersuchungen  aus  den  USA  und  Ka- 
nada  gezeigt  haben,  kbnnten  -  nach  dieser  Definition  -  nur  rund 
20  %  der  Erwachsenen-BevSlkerung  als  gesund  bzw.  als  besahwerdefrei 
bezeichnet  werden."   (Enquete  S.   66) 


-  11  - 


"Erhebungen  tiber  den  Anteil  verhaltensauffdlliger,    leistungsbeein- 
trachtigter  und  behinderter  Kinder  und  Jugendlioher  liegen  in  grSs- 
serem  Umfang  nur  fur  das  Schulalter  vor.    Sie  stimmen  darin  ubereyn, 
daB  bei  20  -  26  %  aller  Sehulkinder  Auffalligkeiten  vorhanden  sind, 
die  zvmindest  in  irgendeiner  Form  einer  Klarung  bedUrfen. 
In  einer  Untersuahung  von  Kohlsche&i  Uber  die  Haufigkeit  von  Verhal- 
tenaauffdlligkeiten  und  Leistungsbeeintrachtigungen  im  Sahulanfan- 
qerjakrgang  einer  GroBstadt  wurde  festgestellt,   daB  16, S  %  im  Laufe 
des  ersten  Sehuljahres  erheblioh  auffallig  warm.    6,0  %  vom  Sohul- 
besuoh  zuruekgestellt  und  8,  7  %  einer  Sondereinriohtung  zugefuhrt 
wurden."   (Enquete,    S.   235) ■ 

4.   Die  gegenwartige  Versorgung 

Die  Bestandaufnahme  und  Analyse  der  gegenwiirtiger,  Versorgung  psy- 
chisch  Kranker  und  Behinderter  in  der  BRD  zeigt  die  katastropnale 
Unterversorgung  in  diesem  Bereich  des  Gesundheitswesens  auf. 

A.   Finzen,  ein  Mitglied  des  "Mannheimer  Kreises",  veranschaulicht 

diese  Aussage:  .  .  v„„m-n+ 

"Betrachten  wir  unter  diesem  Gesiahtspunkt  noeh  einmal  die  ^utf 
der  psyahiatvischen  Krankenversorgung  in  unserem  Lande,   dt-ebrutale 
ReaUtat,  vie  E.  Klme  (in:  Psychiatrische  Praxis  1     1974,  S.  130  - 
132)  sie  genannt  hat",   (ein  Ausdruck,  den  auch  das  MdB  Picard  uber 
nimmt)    "und  Uberlegen  wir  uns  dabei,   was  alles  hmzunehmen  wir  vn 
Alltaq  unserer  Praxis  gelernt  haben.    Has  bedeutet  es  etwa, 
-wenn  Hartmann  und  Meyer   (in:   Nervenarzt  46,    1974     SI  -  8)   tonoh- 
ten     dat$  ein  GroBteil  der  daueruntergebrachten  Sshizophrenen,   die 
noon  wahrend  des  letzten  Jahrzehnts  aufgenommen  sind,  me  einer 
ernstlichen  koneequenten  und  intensiven  Behandlung  untevzogen  war- 
den sind?  Ware  das  auf  ivgendeinem  Gebiet  der  KSrpermedizm  vorsteU 

h-ZHn  Hartmann  (Habilitationssehrift  1974)  und  Sahulte  (Bundestage- 
druaksaohe     474/17,    1970)  Ubereinstirnmend  feststellen,  daB  rund  die 
mlfte  der  sohizophrenen  Langzeitpatienten  Uberwiegend  aus  sozialen 
Grunden  in  der  Anstalt  verbleiben?  Varum  ausgereohnet  vn  ohnehm 
Uberfullten  psychiatrisahen  Krankenhaus?  Varum  dart  meist  auf  ge- 

schlossenen  Stationen? ;  ,,„„„,    „    j.  ±„th- 

-  wenn  Bempv  ( Verkstattschriften  UNK  Tubingen  1/1974)  feststellt, 
daB  95  %  alter  geriatrisahen  Patienten,   die  in  em  70  km_  entferntes 
Psychiatrisches  GroBkrankenhaus  verbracht  wurden,  dort  «»™£      „. 
von  3  Uonaten  verstarben,   ein  Drittel  davon  in  weniger  als  10  Tag  en. , 

-  was  bedeuten  die  groBen  Sale,   die  unwohnlichen  TagesrSume,   die  Ab- 
schneidung  von  iedem  Besitz,   auch  von  Gegenstdnden  des  tag  lichen  tie 
darfs  und  eigener  Kleidung,  die  zahlreiche  chronisch  Krarike  irmer 
Zch  Mnnehmln  mussen?    (s.   Foudraine:   Wer  ist  ausHolz?  f™\2afrt_ 

-  was  bedeutet  die  unausgefullte  Leere  des  Tagesablaufs  der  langfri 
stig  hospitalisierten  Patienten  in  den  meisten  unserer  Krankennau 

"-und  was  bedeutet  es  letztlich,  daB  die  Psychiatrisahen  GroBkranken- 
hauser  in  unserem  Lande  zum  groBen  Teil  nur  deshalb  funktionieren, 
weil  ihre  Patienten  fur  sie  arbeiten  -  Arbeitstherapie  nennen  WW 
das   "   (Finzen:   Zur   Kritik  an  der   Psychiatrie:   Politik  mit  P5^"'^" 
Kranken,   Refarmkosmetik  statt  Strukturreform,    in:   Sozpslnfo  Zt-iy/M, 
S.   9ff.) 


12  - 


5.   Die  nicht-stationare  fachliche  Betreuung 

Ober  diesen  Bereich  gibt  es  bei  der   'Bestandsaufnahme'   der  Enquete 
wenig  zu  berichten.   Der  Teil  B  der  Enquete  "Neuordnung  der  Versor- 
gung psychisch  Kranker  und  behinderter"   (Enquete  S.   189-317)   liefert 
einen  Orient! erungsrahmen  fiir  die  kunftige  Versorgung. 

Es  werden  beschrieben: 

-  allgemeine  nichtprofessionelle  und  professionelle  Beratung, 

-  Btratungsstellen  mit  besonderen  Aufgaben, 

-  der  praktische  Arzt  und  der  Arzt  fiir  Allgemeinmedizin, 

-  ambulante  Dienste, 

-  stationare  und  halbstationare  Dienste, 

-  komplementare  Dienste  (Obergangsheime,  Wohnheime,  Einrichtungen 
fiir  Schwerst-  und  Mehrfachbehinderte,  beschiitzende  Wohngruppen  und 
Wohnungen,  Familienpflege,  Tagesstatten,  Patientenclubs), 

-  spezielle  rehabilitative  Dienste, 

-  Behindertenzentren, 

-  Versorgung  besonderer  Altersgruppen   (Versorgung  psychisch  auffal- 
liger,  gestbrter  und  behinderter  Kinder  und  Jugendlicher;  Versorgung 
psychisch  kranker  alter  Menschen), 

-  Versorgung  geistig  Behinderter; 

-  Dienste  fiir  spezielle  Patientengruppen  (Suchtkranke,  Suicidgefahr- 
dete,  psychisch  kranke  Straftater,  Epilepsie-Kranke,  Hirnverletzte, 
NichtseBhafte), 

-  Psychotherapeutisch-psychosomatische  Dienste, 

-  Blindelung  der  bedarfsgerechten  Dienste  in  geographischen  Bereichen, 

-  Koordination  und  Planung. 

Besonders  wichtig  erscheinen  die  Ausfiihrungen  liber  die  "Psychosozia- 
le  Arbeitsgemeinschaft"   (Enquete  S.   311  f.),  die  H.E.   Richter  in 
seinem  Buch  "Fllichten  Oder  Standhalten"  ausfiihrlich  referiert. 


Kritische  Einschatzung  der  Enquete 


1 .   Positive  Aspekte 

-  Bestandsaufnahme  der  katastrophalen  Lage  der  psychisch  Kranken  und 
Behinderten  in  der  BRD  geleistet; 

-  Bedeutung  von  Sektorisierung  (Standardversorgungsgebiet)  und  "the- 
rapeutischen  Ketten"   (Beratung,  ambulante  Dienste,   komplementare 
Dienste  .halbstationare,  stationare,  rehabilitative  Dienste)  aufge- 
zeigt; 

-  Flille  von  Informationen  im  Anhang  (Untersuchungen,  Gutachten, 
Informationsreisen,  Anhbrungen); 

-  einzelne  Punkte  wie:  Argumente  gegen  kustodiale,  passivierende 
Psychiatrie  (Enquete  S.   19)  und  Beschreibung  psychosozialer  Arbeits- 
gemeinschaften   (Enquete  S.   311). 

7.   Kritische  Einwande 

Die  Tatsache,  dafi  nach  der  Definition  der  Weltgesundheitsorganisation 
nur  20  %  der  Bevblkerung  als  gesund  zu  bezeichnen  ist  (Enquete  S.66), 
da!3  31  t  der  Schulanfanger  als  verhaltensgestbrt  bzw.   leistungsge- 
stbrt  zu  bezeichnen  sind  (Enqu§te  S.  235),  und  da(3  50  %  der  Patienten, 

-   13  - 


die  zum  praktischen  Arzt  kommen,  "funktionelle  Stbrungen"  aufweisen, 
wird  der  Definition  von  "Gesundheit"  angelastet,  da  das  mediziniscn- 
psychiatrische  Versorgungssystem  diese  Patientenmassen  nie  verkraf- 
ten  kbnne. 

Vorschlage  zur  psychohygienischen  Versorgung  fehlen  weitgehend. 

Es  wird  zum  Ausdruck  gebracht,  daB  durch  Sektorisierung  und  "thera- 
peutische  Ketten"  die  Lage  der  psychisch  Kranken  und  Behinderten  ent- 
scheidend  verbessert  werden  kbnne.  _  ■LM^at. 

Erich  Wulff  meint,  daB  "ohne  daB  die  Therapeuten  sich  dessen  bewulit 
werden,   sioh  ihre  therapeutisehen  Ziele  oft  auf  die  Dimensionen  von 
AnaepaBtheit  und  Devianz  einengen,    ihre  therapeutisohen  MaBnahmen  _ 
auf  Verhaltenskontrolle"  und  weiter:   "eine  Alternative  kann  auch  %oh 
ihnen  heute  nicht  anbieten.    Vm  sie  Uberhaupt  ausarbeiten  zu konnen, 
ist  ale  erstes  eine  kritisohe  Distant  zur  eigenen  Praxis  ™*™-£- 
Je  wirksamer  und  unangefochtener  die  terminologischenPeohtfertigxm 
gen  sind,   desto  unproduktiver  wird  die  Konfliktdynamik  psychiatri- 
scher  Reformen.    Statt  sioh  mit  Begriffen  zu  beruhigen, gilt  esVieL 
mehr,   Situationen  herbeizufuhren,   die  die  genannten  Widerspruche 
offenlegen  und  bis  zur  VnertrSglichkeit  verscharfen"     Er >chWulff. 
Therapeutische  Gemeinschaft  und   Sektorprinzip  -  Konf 1 I kte   be,    psy 
chiatrischen  Reformen,    in:   Jahrbuch  fur  Knt.sche  Medizin  Bd.    1, 
S.   43   -  53,   Argument-verlag   1976) 

las  arztliche  Honopol  der  Behandlung  psychischer  Stbrungen  blieb  im 
wesentlichen  unangetastet,  es  wurde  auf  Fachpsychotherapeuten  ausge- 
wenet    Das  medizinische  Handat  (das  die  in  der  Bestandsaufnahme  ge- 
na    ten  KtrophSlen  ZustHnda  getragen .hat)  wird  zum  therapeuti- 
sehen Mandat.  Was  "Therapie"  ausmacht,  wird  mcht  gesagt. 
Bauer  sagt  dazu:   "Mehr  Personal  wird  von  alien  Seiten  gefordert  und 
hesser  ausqebildet  soil  es  zudem  sein.    Wie  dieses  Personal  ausge 
bildet  seinsollte  und  von  wem  und  welohe  Berufsgruppen  welehe the- 
lVpeutischen  Aufgaben  wahrzunekmen  haben,   daruber  liegt  ^njedo^h 
salon  Wieder  im  Streit.    Kommt  man  gar  erst  zu  der  Frage    was  psy 
r-niatrische  Therapie  nun  eigentlich  sei  und  Welches  Ziel  man  mit  inr 
veTfoUe     lird  del  Dissensfast  total  und  selbst  kleine  gemeinsame 
ZnnZrkmTenzlTsohen  den  Beteiligten  nur  noah  schwer  gefunden  wer- 
den  "   (Bauer:   Zur  gegenwart igen   Lage  der   Psych, atrie    In  der   BRD,    m. 
Meue  Praxis   1/1975,   S.    25"35) 

3.  Perspektiven 

Gesundheitswesen,  Wdagog1k..Soziala|teit  und  Jugendhllfe  kSni«n  aus 
der  EnquSte  lernen.  Sektorisierung,  "therapeutische  Ketten  ,  Koope 
rationsformen  im  Sinne  des  Teams  werden  auch  dort  gefordert. 
»Alle  Forderungen  und  Hoffnungen,   die  auf  eine  angemessene  plarmas 
sige  Gestaltung  sozialer  Hilfen  zielen,   bleiben  dcmitjtopisoh    ja, 
die  schwierigsten  Aufgaben  Werden  vielfaoh  den  "**"^^f  "j 
Kraften  iiberlassen,  wofur  die  Beimerziehung ,   der  Strafvollzug  und 
die  psychiatrisohe  Versorgung  die  peinlicksten .BeUge Men.  Statt 
des  Ausgleichs  sozialer  Ungleichheit  soheint  die  ^rJnlUng  gesell 
sohaftlieher  und  persOnlicher  Vnterprivilegierung  die  der  &™%Z 
beitgestellte  Aufgabe  zu  sein".    (Hans  Eyferth:   Chaos  als  Sy     eJ 
Zur   Lage  der  Sozial padagogi k  und  Sozialarbe, t ,    .n:   Neue  Praxis  Z/iy/&, 
S.   87  ff.) 


Auf  der  Basis  der  in  der  Enquete  erarbeiteten  Vorschlage  m'UBte  eine 
Kooperation  dieser  Praxisfelder  einsetzen,  urn  konkrete  Vorstellungen 
liber  Planungs-  und  Leitungsfunktionen  zu  erarbeiten. 
Notwendig  ist  auch  die  Zusammenarbeit  mit  der  Gewerkschaft  OTV,  die 
1972  eine  14-seitige  "Stellungnahme  zur  Versorgung  der  seelisch  Kran- 
ken und  der  geistig  Behinderten"  verbffentlicht  hat  und  darin  u.a. 
die  Forderung  nach  Umgestaltung  der  Psychiatrischen  GroBkrankenhau- 
ser  und  den  Aufbau  einer  bevblkemngsnahen  psychiatrischen  Kranken- 
versorgung  gefordert  hat.   Die  DTV  sagt  darin:   "   Die  Gewerkschaft  OTV 
will  mit  dieser  Stellungnahme  einen  Beitrag  leister  zu  einer  baldi- 
gen  und  grundlegenden  Reform  der  Versorgung  der  seelisch  Kranken  und 
der  geistig  Behinderten.  Sie  bietet  alien,  die  bereit  sind,  dieses 
Ziel   zu  unterstlitzen,  ihre  Mitarbeit  an..." 

DaB  10-12  %  der  Bevblkerung  eine  fachliche  Betreuung  benbtigen,   ist 
nicht  auf  die  Mangel  des  medizinisch-therapeutischen  Versorgungs sy- 
stems zuruckzufiihren.   Es   ist  notwendig  zu  analysieren,  weshalb  Fami- 
lie,  Schule,  Sozialarbeit  und  Psychiatrie  den  riesigen  Bedarf  nicht 
bewaltigen  konnen,  bzw.   produzieren.   Vor  allem  muB  eine  breite  Dis- 
kussion  liber  den  "Therapie-Begriff" ,  die  Rolle  der  "professionellen 
Heifer"  einsetzen,  damit  technokratische  Lbsungen  verhindert  werden, 
wo  unter  dem  Deckmantel   "Therapie"  sublimere  Urterdruckurg  fortge- 
setzt  werden  kann. 

Meines  Erachtens  ist  eine  einheitliche  abschlieBende  WUrdigung  der 
Psychiatrie-Enquete  kaum  mbglich.   Dem  Durchbruch  zu  dem  Konzept  ge- 
staffelter  gemeindenaher  und  vor  allem  ambulanter  Dienste  steht  die 
kurzatmige  Fortschrittlichkeit  eines  psychosomatischen  Ansatzes  ge- 
qenLiber,  der  als  Einzelfallhilfe  der  nervenarztlich-stationaren  Be- 
handlung, gegen  die  man  sich  eben  noch  wandte,  doch  zu  a'hnlich  ist. 
Was  Gemeindepsychiatrie  im  vollen  Sinne  dieses  Ausdrucks  heiBten 
mu'Bte,  ist  zu  teuer  und  erforderte  auch  wohl   zuviel  Snderung  im  her- 
kbmmlichen  medizinischen  Versorgungs-  und  Hierarchiesystem. 

FUr  dieses  widerspriichliche  Bild  symbolisch  ist  die  auBere  Gestalt 
der  Enquete:  ein  Monstrum  von  weit  mehr  als  1   000  Seiten,  in  dem  vie- 
le  hbchst  wichtige  und  aufschluBreiche  Analysen,   Informationen  und 
Stellungnahmen  zu  lesen  sind  -  nur:  wer  wagt  sich  an  die  massiven 
Bande  uberhaupt  heran?  So  kann  der  Impetus,  der  durchaus  in  dieser 
Enquete  sich  niedergeschlagen  hat,  mangels  Leserschaft  nicht  einmal 
bekannt,  geschweige  denn  wirksam  werden. 


Wer  sucht  schon  seit  langerem  die  Moglichkeit,  sich  als 
mitverantwortlicher  Motor  in  einer  im  Aufbau  begriffenen 
Arbeitsgemeinschaft  zu  engagieren!   Zielvorstellung: 

-  Aufbau  einer  stabilen  Kerngruppe  interdisziplinarer 
Orientierung  im  sozialen  Engagement 

-  Schritt-  und  teilweise  Verlagerung  der  bisherigen 
beruflichen  Ta'tigkeit  in  selbstorganisierte  Arbeit 
der  Gruppe 

-  Kauf  bzw.  Pacht  eines  geeigneten  Anwesens. 
Kontaktadresse:  Telefon:  0211/624452     


SOZIALMAGAZIN  will  einen 
Kommun  ik  a  t  i  o  ns  -1  us  amine  n- 
hang  zwischen  Sozial- 
padagogen  und  Sozialar- 
beitern  aus    verschiedenen 
Arbeitsbereichen  her- 
stellen,    indem  es 

•  neue  Praxis-Ansatze 
vorstellt 

•  Praxis    theoretisch 
aufarbeitet 

•  Ansatze  offentlich 
macht,    die  bisher  unpu- 
bliziert  sind,    bzw.    die 
keine  Chance  haben,    pu- 
bliziert   zu  werden. 

•  theoretische  Beitrage 
zur   Diskussion  stellt. 
SOZIALMAGAZIN  braucht 

)   deshalb  die  Leser  als 
Autoren:    als    Informations- 
trager,    als    Theoretiker, 
als   Kritiker.         j,»**V»** 


Dazu  erscheinen  als 
standige  Rubriken 
in  SOZIALMAGAZIN: 

•  Projekte   -   Selbstdar- 
stellungen  aus   der  Praxis 

•  Modelle  -  exemplari- 
sche  Aufarbeitungen  von 
Alternativen  zur  tradi- 
tionellen  Sozial-Arbeit: 
Gruppendynamik,  Familien- 
therapie,  Asthetische 
Erziehung,  Gemeinwesen- 
arbeit    ... 

•  Magazin  aktuell   -  die 
Redaktion  wertet  alle 
Fach-    und   Verbandszeit- 
schriften  aus  und  fafit 
die  wichtigsten  Informa- 
tionen  zusammen.    Dazu: 
sozialpolitische  Nach- 
richten,    die  in   anderen 
Median  oft  nicht  er- 
scheinen   (diirfen) 

•  Medienteil   -   vollstan- 
diger  Uberblick  iiber  alle 
Neuerscheinungen. 
Rezensionen 

•  Enzyklopadie  der  So- 
zial-Arbeit:   In  dieser 
standigen  Rubrik  werden 
neue  Fachbegriffe  bzw. 
vichtige   Termini    stich- 
wortartig   erklart 


Themen   aus  den  ersten 
Hef ten: 


•  Das   Elend  der  Kinder 
Uber   die    offene   und  ver- 
steckte  Gewalt   im  Alltag 
von  Kindern?    Thesen,    Mate- 
rialien   . . .    Auswege 

•  MeustruktuHerune   der 
sozialen  Dienste 
"Reform  von  Oben"   soil  die 
Aktivitaten  der  Basis  ein- 
binden,   kanalisieren.    So- 
zialarbeiter  berichten 

•  Taaebuch  aus  dem  Knast 
Selbsterfabrung  eines  Scraf- 
gefangenen,    der  darum  ge- 
kampft  hat,    in  drei  Jahren 
Knast  nicht  kaputt  zu  gehen 

•  Solldaritat   lernen. 
Leben    lernen.    Kampfen    ler- 


nen. ArbeitsvorschiSge   und 
Perspektiven   aus  dem  Unab- 
hangigen   Jugendzencrura  Korn- 
straBe    in   Hannover  -   ein 
Bericht  von  Alvona  Diemer 
•     Has  wir  bei  den  Nonnen 
erlebten.  tiber  die   Zustande 
in  einem  Erziehungsheiro, 
uber  ihre  Versuche,    dem 
Helm  zu  entkommen  und   ihre 
Situation  zu  verandern, 
berichten  Madchen   aus   dem 
Dortmunder  Viucenz-Heim 


— — —— — — <W 

ICh  mochte  die  neueZeitsch',inSozmM«Q*ziNkennBnlarnen  und  beatelle 


>M,a<tTr*^***a— •••■••■•— MIMM> 

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einjahresabonnement 
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Wenn  ich  nach  Erhalt  des  ersten  Heftes  feslsteJIe,  daQ  mil  das  Magazin  ment 
gefSllt,  achicke  ich  thnen  di«  unbezahlte  Rechnung  zurljck  und  der  Fall  191  tur 

mich  erledigt. __ 


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AREZZO  -  BERICHT  VON  EINER  REISE 


Den  folgenden  Text  entnahmen  wir  dem  FS-Info  Psychologie  der  Uni 
Konstanz.   Der  Autor  war  leider  nicht  zu  erfahren.    Urspriinglieh  war 
ein  weit  umfangreicherer  Teit  mit  Informationen  aus  der  Entwicklung 
in  Sachen   "Antipsyahiatrie"  in  Frankreiah,   Belgien,   Niederlande, 
Italien,    GroR-Britannien  und  USA  geplant.    Das  war  aus  Platz-  und  z.T. 
Arbeitsgrunden  nicht  mSglich.    Geblieben  sind  Hinweise  auf  England  in 
den  Texten  von  B.    Achterberg  und  U.    EBbach-Kreuzer,    und  eben  dieser 
Text,    dessen  Informationen  dock  fur  Vergleich  und  Verallgemeinerung 
besonders  geeignet  erschienen. 

In  Italien  gibt  es  seit  Beginn  der  sechziger  Jahre  eine  Bewegung, 
die  sich  in  der  Zwischenzeit  zur  besta'ndigsten  Herausforderung  tra- 
ditioneller  Psychiatrie  entwickelt  hat:  die  Demokratische  Psychiatrie 
Wahrend  bei  uns  vorwiegend  theoretisiert  wird   (abgesehen  von  be- 
schrankten  praktischen  Versuchen,  siehe  z.B.   Psychiatrische  Praxis, 
Heft  1,  1975)  und  grundsatzliche  Alternativen  von  der  Staatsgewalt 
verhindert  werden  (siehe  die  Geschichte  des  Sozialistischen  Patien- 
tenkollektivs  Heidelberg),  entwickelt  sich  in  gewissen  Regionen  und 
Provinzen  Italiens  eine  umfassende  soziale  Psychiatrie,  die  nicht 
mehr  nur  als  vorlaufiges  Experiment  bezeichnet  werden  kann.   Ihre  Er- 
folge  kb'nnen  nicht  einer  anfangl  ichen  B  geisterung  irgendwelcher 
Pioniere  zugeschrieben  werden,  wie  Basaglia  (vgl.:  Die  negierte  In- 
stitution, Frankfurt  1968)  einer  war;  es  geht  um  mehr.   Die  bedeu- 
tendsten  Zentren  der  Bewegung  sind  zur  Zeit  die  Sta'dte  Triest, 
Arezzo,  Ferrara  und  in  der  Region  Emilia-Romagna  zu  finden.  Wahrend 
der  Semesterferien  war  ich  drei  Wochen  in  Arezzo  (Mittelital ien, 
Region  Toscana);   ich  mochte  hier  kurz  iiber  meine  Erfahrungen  be- 
richten. 


Hniqe  Paten  zur  Klinik 

Die  Gesamtzahl  der  Patienten  des  Provinzkrankenhauses  Arezzo  liegt 
bei  ca.  400  (Stichtag  10.3.1976:  401;  171   Frauen,  230  Manner).   Die 
Betreuung  erfolgt  durch  13  Srzte,  vier  Sozialarbeiter  und   insgesamt 
300  Pfleger  (incl.  Teilzeitkrafte).  Die  Zahl  der  in  der  Klinik  tat- 
sachlich  anwesenden  Pfleger  betragt  pro  Turnus  ungefahr  45;  daraus 
1al3t  sich  ableiten,  in  welch  groBzilgigem  AusmaB  den  Pflegern  Erho- 
lung  zwischen  den  Dienstzeiten  zugestanden  wird.  Tagsliber  stehen 
einem  Pfleger  acht  Patienten  gegenliber  (von  der  Gesamtzahl  sind  jene 
vierzig  abzuziehen,  die  in  sogenannten  "Famil ienhausern"  leben). 
Die  Patienten  sind  getrennt  geschlechtlich  in  insgesamt  acht  Hausern, 
die  sich  iiber  ein  sehr  weitla'ufiges  Areal  verteilen,  untergebracht. 
In  flinf  Hausern  leben  Langzeitpatienten   (Mindestaufenthalt  ein  Jahr, 
2ahl   1975:  363),  die  drei  anderen  iibernehmen  Kurzzeitpatienten  und 

-  17  - 


die  ambulante  Behandlung.   Einer  Statistik  des  Jahres  1975  kann  man 
folgende  Zahlen  entnehmen:  Durchschm'ttsalter  Manner  49,7  Jahre, 
Frauen  55,4  (73,9  %  der  Langzeitpatienten  sind  liber  45  Jahre  alt). 
Durchschnittsaufenthalt  Manner  18,6  Jahre,  Frauen  22,1   (50  %  der 
Langzeitpatienten  leben  schon  zwischen  16  und  30  Jahren  in  der  An- 
stalt).  Soziale  Zusammensetzung  (samtliche  Patienten,  1973): 
Bauern  22,6  %,  Arbeiter  26,1  %,  Hausfrauen  ("casalinghe",  d.h.  Frauen 
ohne  Berufsausbildung)  24,4  %,  Arbeitslose  und  Invaliden  15,3  %, 
Pensionierte  2,9  %,  Freiberuf 1 iche  0,8  %,  Ubrige  7,2  %.  Die  psychia- 
trische  Klinik  in  Arezzo  (Stadt  ca.  80  000  Einw.)   ist  die  einzige  in 
der  von  der  Koalition  der  Kommunistischen  und  Sozialistischen  Partei 
gefuhrten  gleichnamigen  Provinz  (ca.   230  000  Einw.).   Es  handelt 
sich  somit  nicht  urn  eine  "Eliteklinik",  deren  Reformarbeit  etwa 
durch  die  Selektion  der  Patienten  ermbglicht  wUrde. 
Die  Zielsetzungen  der  Demokratischen  Psychiatrie  und  zugleich  ihr 
Beitrag  zur  Veranderung  der  gesellschaftlichen  Verhaltnisse  sind: 
Verhinderung  des  institutionellen  Ausschlusses,  Bekampfung  der  Ideo- 
logic, die  inn  tragt  und  Auslosung  des  Befreiungsprozesses  all  derer, 
die  von  ihm  betroffen  oder  bedroht  sind. 


Abbau  der  Institution 

Um  langfristig  den  AusschluBprozeB  zu  verhindern,  mlissen  vorerst 
einmal  die  offenen  und  versteckten  Gewalt-  und  Machtmechanismen,  die 
im  traditionellen  Verstandnis  aus  dem  Zweck  der  Anstalt  abgeleitet 
werden,  tatsachlich  aber     in  erster  Linie  ihren  Fortbestand  garantie- 
ren  (Teufelskreis:   Entmlindigung  der  Patienten  -  Fuhrungsanspruch 
der  Institution),  analysiert  und  bekampft  werden.  Konkret  bedeutet 
dies  in  Arezzo: 

-  Absoluter  Verzicht  auf  physische  Gewalt:   Isolierzellen,  Zwangs- 
jacken,  Bettriemen  wurden  abgeschafft; 

-  Ablehnung  der  ublichen  Versetzung  von  einer  "fortgeschrittenen 
Abteilung  in  die  nachst  untere  bei  zunehmender  Regression: 

eine  solche  P'axis  ist  gekennzeichnet  durch  die  Funktionen  der  Dis- 
ziplinierung  ("wenn  er  unruhig  ist,  gehort  er  in  die  Unruhigenab- 
teilung";  zwei  Abteilungen  in  Arezzo  hatten  denn  auch  diesen  Namen) 
und  der  Verteilung  von  Privilegien  ("er  verdient  es,  auf  eine  offene 
Abteilung  zu  kommen");  zudem  ist  sie  ein  wesentliches  Element  der 
wohlbekannten  Anstaltskarrieren.  Die  Demokratische  Psychiatrie  wirkt 
in  Arezzo  seit  1971;  es  ist  bis  heute  gelungen,  das  Gefalle  zwischen 
den  Abteilungen  weitgehend  auszugleichen.  Wenn  man  eine  beliebige  Ab- 
teilung besucht,  begegnet  man  den  verschiedensten  Krankheitsbildern 
auf  alien  mbglichen  Entwicklungsstufen. 

-  KOntinuierliche  Offnung  der  Anstalt  nach  auBen:   im  Lauf  der  letzten 
flinf  Jahre  wurden  samtliche  Abteilungen  gebffnet,  heute  kann  jeder- 
mann  jederzeit  an  jeden  Ort  gehen.  Es  klingt  unglaublich,  aber  es 
ist  wahr,  und  ich  habe  mich  davon  uberzeugt,  daB  nicht  irgendwelche 
versteckten  und  subtilen  Kontrollmechanismen  die  verschlossenen  Turen 
ersetzen.  Der  Mythos  von  der  Gefahrlichkeit  psychiatrisch  Intermer- 
ter  ist  in  Arezzo  erfolgreich  bekampft  und  widerlegt  worden.  B.es°n_ 
ders  beeindruckend  war  fur  mich  die  Beobachtung,  wer  nun  tatsachlich 
von  dieser  Freiheit  Gebrauch  macht.  Es  ist  nicht  so,  daB  alle  in  die 
Stadt  strbmen;  vielnehr  findet  so  etwas  wie  ein  ProzeB  adSquater 
Selbsteinschatzung  der  Patienten  statt.   Es  geht  nur  der  aus,  der 


-  18  - 


eben  in  der  Lage  ist,  z.B.   in  der  nachsten  Bar  sein  Bier  zu  bestel- 
len  und  zu  bezahlen  und  dabei  vielleicht  noch  etwas  zu  schwatzen. 
Bei  denen,  die  soziale  F'a'higkeiten  solcher  Art  im  Moment  nicht  ver* 
fligbar  haben,  entwickelt  sich  offensichtlich  kein  BedUrfnis,  in  die 
Stadt  zu  gehen,  sie  begnligen  sich  mit  Spaziergangen  im  sehr  groB* 
ziigigen  Klinikareal.  Mit  anderen  Worten:  es  ist  noch  nie  etwas  vor- 
gefallen,  was  die  Reformgegner  als  Argument  fiir  die  Freiheitsbe- 
schrankungen  anbringen  kbnnten. 

Diese  Aufwertung  der  Stellung  des  Patienten  verlangte  insbesondere 
von  den  Pflegern  groBe  Anstrengungen.  Ober  den  Wandel   im  Selbstbild 
dieser  Leute  kbnnte  man  ein  Buch  schreiben.  Stellvertretend  ist  die 
Aussage  zweier  Pfleger:   "Fruher  akzeptierten  wir  die  Folle  des  Wdah- 
ters,   der  die  Gesellschaft  vor  dem    'Ivren'  schtttzt,   heute  kampfen 
wir  auf  der  Seite  der  Vatienten  gegen  ihre  AussohlieBung" ',    ".  . .  reoht 
unerwartet  muliten  wir  die  Offnung  der  Abteilung  verkraften,    wir 
WuBten  nicht,   wie  wir  uns  verhalten  sollten.    . . .   Die  Pfleger  wurden 
von  den  Bediirfnissen  und  Problemen  der  Patienten  riahtiggehend  iiber- 
rannt;   schlullendlich  erhielten  die  Anliegen  der  Patienten  mehr  Be- 
deutung  als  jene  der  Pfleger.    Unter  der  alten  Fuhrung  war  das  anders, 
ja  karri  zuerst  der  Pfleger,   dann  der  Patient." 

DaB  die  Reform  bisher  derartige  Fortschritte  erzielte,  ist  vor  allem 
der  Einstellung  und  Wandlungsfahigkeit  des  Pflegepersonals  zu  ver- 
danken.    Ihm  konrnt  in  Arezzo  auch  die  Bedeutung  zu,  die  es  aufgrund 
der  Nahe  und  des  Kontakts  zu  den  Patienten  verdient. 


fiebt  den  Patienten  mehr  Macht! 

Die  Uffnung  nach  auBen  geht  Hand  in  Hand  mit  der  Demokratisierung 
der  Entscheidungsprozesse  innerhalb  der  Klinik.  Gemeinsame  Versamm- 
lungen  der  Hrzte,  Pfleger  und  Patienten  werden  auf  Abteilungsebene 
alltaglich  durchgefuhrt;  die  gesamte  Klinik  trifft  sich  zweimal  wb- 
chentlich  in  der  Vollversammlung. 

Die  Demokratische  Psychiatrie  sieht  die  Ursache  der  Regression 
in  einem  (fiir  das  Bestehen  der  traditionellen  Klinik  notwendigen) 
Machtverlust  des  Patienten.   Der  Hille,  in  Arezzo  das  Machtgefalle 
zwischen  Rrzten,  Pflegern  und  Patienten  auszugleichen,  zeigt  sich 
am  deutlichsten  in  den  gemeinsamen  Versammlungen,  deren  wichtigstes 
2iel  darin  liegt,  die  in  den  symbolhaften  ("irren")   Handlungen  ein- 
zelner  zum  Ausdruck  kommende  Angst,  Aggression  und  Regression  einem 
kollektiven  Verstandnis  zuzuflihren  und  sie  zur  Institution  in  Be- 
ziehung  zu  setzen.  Man  versucht,  genieinsam  in  den  vorerst  unverstand- 
lichen  Akten  der  anderen  die  dahinter  verborgenen  Bedlirfnisse  zu 
erkennen  und  damit  den  institutionellen  VeranderungsprozeB  in  Gang 
zu  halten.   Die  Erfahrung  des  Patienten,  auf  institutionelle  Entwick- 
lungen  entscheidenden  EinfluB  ausliben  zu  kbnnen,  flihrt  zu  einer  Soli- 
dan'tat  und  Dynamik,  die  auch  "hoffnungslos"  Regredierte  miteinbe- 
zieht. 

Die  Teilnahme  an  den  Versammlungen  ist  freiwillig,  anwesend  ist  im 
Durchschnitt  etwa  ein  Viertel  der  Patienten,  wobei  wiederum  ungefa'hr 
die  Halfte  aktiv  mitmacht.  Aber  der  stimulierende  Effekt,  den  das 
Erlebnis  gemeinschaftlichen  Handelns  und  Entscheidens  auslbst,  laBt 


-  19  - 


sich  bei  denen,  die  einfach  nur  dasitzen,  sehr  gut  beobachten.  Be- 
sprochen  wird,  was  die  Patienten  gerade  vortragen,  die  Diskussionen 
entstehen  spontan,  Entwicklung  und  Ausgang  sind  jeweils  ungewiB. 
An  Stoff  fehlt  es  nie,  in  gemischter  Reihenfolge  werden  organisato- 
rische  Fragen,  Aktivita'ten  und  persbnliche  Anliegen  (insbesondere 
Grlinde  der  Einweisung  und  Entlassung,  Schwierigkeiten  der  wiederein- 
qliederung,  Probleme  in  der  Familie  und  am  Arbeitsplatz)  diskutiert. 
Die  Beziehungen  zwischen  Krzten,  Pflegern  und  Patienten  werden  zur 
Sprache  gebracht,  Kritik  wird  geauBert,  der  sich  die  Betroffenen 
ernsthaft  stellen.   Die  Rrzte  sind  sehr  aktiv,  versuchen  aber,  jede 
Beeinflussung    zu  vermeiden. 

Wenig  diagnostische  Arbeit,  keine  "klassischen"  Therapien 

Diagnosen  werden  in  Arezzo  ganz  klein  geschrieben.   Deshalb  gibt  es 
auch  keine  Zusammenstellung  von  Auftretenshaufigkeit  und  Verteilung 
der  verschiedenen  Krankheitsbilder  in  der  Klimk.   Selbstverstandl  ich 
konstatieren  die  Rrzte  (fur  sich),  daB  z.B.   in  einem  Fall  das  vor- 
liegt,  was  man  ublicherweise  als  Schizophreme  bezeichnet  Oder  daB 
bei  einem  anderen  Patienten  jene  Merkmale  auftreten,  die  gemaB  Lehr- 
buch  den  Manisch-Depressiven  entsprechen.  Medikainente  machen  solcne 
Feststellungen  notwendig.  Aber  man  ist  sich  bewuBt,  welche  sozia  en 
Folqen  Diagnosen  haben  kb'nnen.   Und  was  nutzt  es  dem  Patientenseioer, 
wenn  er  weiB,  daB  er  "schizophren"  ist?  Die  Einstellung,  die  in 
Arezzo  in  solchen  Dingen  vorherrscht,  zeigt  sich  am  besten  in  der 
Aussage  eines  Pflegers:    "Fruher  sagte  man:  Patient  X  ist  schizophren, 
Schizophrene  reden  wirres  Zeug,   also  redet  X  wirres  Zeug.    Die  Folge 
war    daB  sich  niemand  um  X  kilmmerte.   Seute  versuche  ich,  die  tatien 
ten  zu  verstehen  und  eine  personliche  Beziehung  zu  ihnen  aufzubauen. 
Und  dabei  hilft  es  mir  recht  wenig,   daB  ich  weiB,der  andere  ist      _ 
'schizophren',   dieser  Titel  bringt  unsere  Beziehung  auch  mcht  wel- 
ter. " 

Die  bei  uns  iiblichen  Therapieformen  sind  in  Arezzo  nicht  vertreten, 
was  nicht  auf  das  spate  Erwachen  der  Psychologie  in  Italien  zuruck- 
fuhrbar  ist.  Auch  die  Analytiker,  die  sonst  das  Feld  beherrschen, 
sind  nicht  anzutreffen.  Das  Fehlen  spezifischer  therapeutischer 
Techniken  beruht  auf  einer  grundsatzlichen  Entscheidung  der  Rrzte 
und  ihrer  Mitarbeiter  in  Arezzo:  Technisches  Wissen  bedeute  ™>cht- 
zuwachs  fur  den,  der  es  anwenden  kann  und  verunmogl iche  daher  ko   lek- 
tive  Auseinandersetzung  und  Kritik;  der  Abbau  von  Statuspnvilegien 
und  die  Befreiung  des  Patienten  aus  seiner  Objekt-Rolle  wurden  eben- 
falls  verhindert.   Die  Therapie  in  Arezzo  besteht  aus  dem  tntfal- 
tunqs-  und  Darstellungsraum  fur  den  einzelnen  und  der  gemeinschatt- 
lichen  Aktion.   Innerhalb  dieses  Rahmens  sind  nun  al  erdings  jene 
Variablen,  die  fur  den  Aufbau  einer  tragfahigen  B^ehung  notwendig 
sind,  in  einem  HbchstmaB  vertreten:  "emotionale  Warme",  Akzept!eren 
der  Persbnl ichkeit,  Selbstkongruenz  der  Rrzte  und  Pf leger    Die Mug 
lichkeiten  zur  Gestaltung  seiner  Umwelt  vermitteln  dem  P^nten 
Erfolgserlebnisse,  dadurch  werden  die  Selbstsicherheit  erhoht.  Fremd 
und  Selbstverstarkungsprozesse  in  Gang  gesetzt.  Dies    »"»"""» 
ohne  daB  jemand  als  Verhaltens-  oder  Gesprachstherapeut  mit  wissen 
schaftlichem  Anspruch  auftritt. 


2o 


Herbert  Nagel: 

WAS  HEISST  SELBSTHILFE?  - 

ENTSTEHUNG  UND  PRAXIS  DER  SOZIALTHERAPIE 

FRANKFURT  E.V. 


"Kontakt-Zentrum"  steht  groli  Uber  unserem  Jahresbericht  1975;  der 
offizielle  Name  lautet:  Sozialtherapie  Frankfurt,  Frankfurter  Verein 
zur  Rehabilitation  psychosozial  Geschadigter  und  zur  Prevention 
psychischer  Erkrankungen  e.V.  DaB  der  offizielle  Name  etwas  zuru'ck- 
tritt,  ist  kein  Zufall,  sondern  hangt  damit  zusammen,  daB  das  Zentrum 
tatsachlich  mehr  und  mehr  Mittelpunkt  unserer  Aktivitaten  geworden 
ist.  Darin  liegen  unsere  MSglichkeiten,  aber  auch  unsere  Grenzen. 


Wer  sind  wir,  was  tun  wir? 

Wir  sind  etwa  50  Personen,  die  mehr  oder  weniger  regelma'Big  etwas  mit 
dem  Zentrum  zu  tun  haben.  In  diesem  Zentrum  liegen  drei  groBe  Raume 
Parterre,  aukerdem  gibt  es  zwei  kleine  Wohnraume  und  Ku'che  zum  Woh- 
nen  fur  Notfalle  und  zum  Obernachten.  Dort  lebt  eine  Wohngemeinschaft 
aus  ehemaligen  Patienten.  Geoffnet  haben  wir,  solange  jemand  da  ist, 
der  Lust  zum  Reden  hat  -  sicher  aber  taglich  von  16  -  22  Uhr.  Einen 
SchTUssel  hat  so  ziemlich  jeder,  der  eine  gewisse  Zeit  im  Zentrum 
war  und  einen  Schlussel  haben  will  -  und  wer  keinen  bekommt,  dem 
sagt  man  warum. 

Als  festen  Termin  haben  wir  nur  den  Mittwochabend  20  Uhr;  das  Plenum. 
Dahin  kommt,  wer  will,  wichtige  Dinge  werden  dort  diskutiert  und  be- 
schlossen.  Zu  festen  Terminen  gibt  es  daneben  noch  die 

-  Offentlichkeitsgruppe,  die  die  Tatigkeit  im  Zentrum  nach  auBen  hi n 
zu  vermitteln  versucht,  Flugblatter  verteilt,  in  Leserbriefen  nicht 
nur  zu  Fragen  der  Psychiatrie  Stellung  nimmt  und  hie  und  da  einen 
Informationsstand  im  Stadtteil  errichtet; 

-  eine  Selbsterfahrungsgruppe,  die  geschlossen  ist; 

ebenfalls  geschlossen  ist  die  Interaktionsgruppe,  die  einzige  Libri- 
qens  mit  therapeutischer  Begleitung;  sie  will  gruppendynamische  Spiel- 
erfahrungen  ermoglichen  und  trifft  sich  Freitagabend; 

Donnerstagabend  setzt  sich  eine  Gruppe  zusammen,  die  uber  Formen 
der  Selbsthilfe  diskutiert. 

Alle  anderen  Gruppen  treffen  sich  mehr  oder  weniger  kontinuierlich 
zum  Malen  und  Basteln  je  nach  Lust  und  Laune.  Sonst  trifft  man  sich 
oben,  trinkt  Kaffee,  redet,  unternimmt  etwas  oder  auch  nicht. 

Anqestellte  besitzen  wir  nicht  -  weder  zum  Putzen,  noch  fur  die  Ver- 
waltung,  keinen  Arzt,  keinen  Sozialarbeiter,  keinen  Therapeuten.  An- 
fangs  war  das  wohl  eher  eine  Frage  fehlender  Geldmittel  -  heute  dis-  . 
kutieren  wir  daruber,  ob  das  nicht  ein  Vorteil  ist:  allein  deswegen 
schon,  weil  man  uns  nicht  nehmen  kann,  was  wir  nicht  haben. 

Viele  von  uns  wohnen  im  Nordend,  in  der  Nahe  des  Frankfurter  Zen- 
trums,  bald  die  Halfte  war  in  der  Psychiatrie,  einige  fur  Jahre.  Man- 

-  21  - 


che  halten  sich  liberwiegend  im  Zentrum  auf ,  andere  weniger  oft; 
einige  leben  von  Sozialhilfe,  andere  studieren  noch  Oder  arbeiten; 
es  gibt  also  groBe  Unterschiede  der  persb'nlichen  Geschichte  und  der 
sozialen  Stellung. 

Das  Zentrum  ist  jetzt  etwas  mehr  als  ein  Jahr  alt.  So  wie  es  sich  in 
diesem  Jahr  entwickelt  hat,  war  es  durchaus  nicht  von  den  ehemaligen 
Initiatoren  geplant.  Auf  eine  Formel  gebracht     kbnnte  man  sagen: 
aus  dem  Plan  einer  alternativen  Berufspraxis  von  angehenden  Arzten, 
Psychologen,  Sozialarbeitern  und  Soziologen,  die  durch  neue  Formen 
der  Kooperation  mit  Betroffenen  neue  Formen  der  Therapie  entwickeln 
wollten,  wurde  tendenziell   ein  Modell  der  Selbsthilfe  von  Betroffe- 
nen.  Diese  Ver'a'nderung  gegen  das  ursprlingl  iche  Konzept  ging  nicht 
ohne  Auseinandersetzungen  vor  sich;  sie  flihrte  zur  Verunsicherung 
einer  Reihe  alterer  Gruppenmitgl ieder,  die  sich  zuriickzogen;  Knsen 
gab  es  uberhaupt  viele.   DaB  Selbsthilfeorganisationen  meist  durch 
Initiative  von  auBen  entstehen,  ist  im  Augenblick  eine  Tatsache.  Des- 
halb  diirften  auch  die  Auseinandersetzungen  zwischen  Initiatoren  und 
Betroffenen,  die  ihre  Sache  selbst  in  die  Hand  nehmen  wollen,  nicht 
zufallig  sein. 

Die  Entstehungsgeschichte  des  Zentrums 

Im  Spatsommer  1975  setzten  sich  im  Rahmen    der  Arbeitsgemeinschaft 
Sozialpolitischer  Arbeitskreise  (AG.SPAK)  Studenten  der  Medizin, 
der  Sozialarbeit,   Padagogik  mit  einigen  Sozialarbeitern  und  angehen- 
den Krzten  zusammen.  Sie  kritisierten  ihr  Studium  (z.B.  die  Ausklam- 
merung  der  Psychosomatik  aus  dem  Medizinstudium  oder  die  bloBe  rest- 
stellung  statistischer  Zusammenhange  zwischen  Schichtzugehbrigkeit 
und  Krankheit),  ohne  in  diese  Zusammenhange  praktisch  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt  ihrer  Veranderung  eingreifen  zu  kb'nnen.  Fur  Arzte,  so- 
zialarbeiter  und  Berufspraktikanten  bestand  auBerdem  der  Wunsch, 
nicht  mehr  als  isolierte  Einzelne  ihre  Arbeitsbedingungen  hinnehmen 
zu  mussen,  sondern  neue  Formen  der  Praxis  und  gemeinsame  Verarbei- 
tung  von  Erfahrungen  zu  finden  (alternative  Berufspraxis).  So  for- 
mulierten  wir  das  Ziel,  neue  Formen  der  Therapie  und  Behandlung 
nicht  nur  in  theoretischer  Form,  sondern  auch  in  einer  gemeinsamen 
Praxis  auBerhalb  der  bestehenden  Lehreinrichtungen  zu  erarbeiten. 
Die  Arbeit  der  Gruppe  war  also  zu  diesem  Zeitpunkt  der  Diskussion 
ahnlich  geplant,  wie  die  Heidelberger  Free  Clinic  ihre  Arbeit  be- 
schreibt:   als  engagierte,  solidarische  Selbstorgamsation  von 
"Menschen  mit  einer  erworbenen  beruflichen  und  sozialen  Legitima- 
tion"   (Vgl.    die  Dokumentation   der   Free   Clinic:    Wir    sind   zur   Diskus- 
sion  bereit;    Selbsthilfe  durch  Sel bstorganisat ion.    5.    16-22), 

die  sich  kurz  vor  oder  nach  Beendigung  ihres  Studiums  daruber  Gedan- 
ken  machen,  wie  sie  damit  "etwas  anderes  anfangen  kbnnen,  als  sicher 
zu  versanden  und  zu  resignieren"   (a.a.O.).  Wir  wollten  mit  Leuten 
zusammenarbeiten,  die  von  ihrer  Sozialisation  und  ihren  bkononnschen 
Mbglichkeiter  her  nicht  daran  gewbhnt  sind,  Probleme  diskutieren  zu 
kbnnen  und  die  von  ihren  Arbeitsbedingungen  her  dazu  gedrangt  wer- 
den,  Schwierigkeiten  mbglichst  unauffallig  zu  bewaltigen,  bis  ott 
nur  die  Psychiatrie  als  Ausweg  bleibt.   Wir  wollten  verhindern,  dab 
sie  der  Institution  'Psychiatrie'  mit  ihren  Einweisungs-  und  Katego- 
risierungsverfahren  so  machtlos  ausgeliefert  sind  wie  bisher;  wir 

-  22  - 


wollten  an  der  Art  und  Weise  etwas  andern,  wie  sie  nach  der  Entlassung 
als  einzelne  dem  Zwang  ausgesetzt  sind,  wieder  alleingelassen  - 
meist  noch  einige  Stufen  unter  ihrer  Ausbildung  -  ihre  Arbeitskraft 
verkaufen        mussen,  und  wir  wollten  verhindern,  daB  sie  die  Fahig- 
keit,  diese  Disqual ifizierung  zu  ertragen,  auch  noch  als  einziges 
Zeichen  ihrer  Gesundung  ansehen  zu  mussen  (aus:   Bericht  uber  die  Ent- 
stehung   der  Gruppe,   Winter   1 971*)  - 


Plan     eines  Konmunikationszentrums 

Als  ein  Arbeitszusammenhang,  der  eine  Verbindung  von  Institutionali- 
sierung  und  verschiedenen  politischen  Tatigkeiten  zulaBt,  begannen 
wir,  die  Einrichtung  eines  Kommunikationszentrums  zu  planen. 
Da  wir  Kontakt  zu  einigen  ttrzten  und  Sozialarbeitern  des  Kbppern  hat- 
ten,  das  fur  Einweisungen  aus  dem  Frankfurter  Bezirk  Nordend  zustan- 
dig'ist  und  da  viele  der  Gruppe  im  Nordend  wohnten,  beschlossen  wir, 
in  diesem  Gebiet  Raume  flir  ein  Kommunikations-  und  Beratungszentrum 
zu  suchen.  Ein  weiterer  Grund,  den  Standort  ins  Nordend  zu  legen, 
war  die  Tatsache,  daB  das  Nordend  noch  genugend  liberschaubare  Struk- 
turen  besitzt  (Einkaufszentrum,   Kneipen,  relative  Geschlossenheit) , 
andererseits  genugend  zerstbrt  ist,  urn  auch  anonym  und  in  Ruhe  gelas- 
sen  dort  zu  wohnen. 

Wir  warben  Mitglieder,  schrieben  Bettelbriefe,  entwickelten  Vorstel- 
lungen  daruber,  was  wir  im  Zentrum  anbieten  wollten,  entwarfen  Frei- 
zeitangebote,  planten  "zur  Therapie  hingeleitende  Gruppen",  nahmen 
Kontakte  zu  Therapeuten  auf  und  sammelten  Material   zur  Information 
der  Dffentlichkeit  uber  die  Lage  der  psychisch  Kranken  im  Raum  Frank- 
furt. Als  wir  Ende  1974  recht  plbtzlich  in  der  Marti n-Luther-StraBe 
qeeignete  Raume  fanden,  schlossen  wir  einen  Mietvertrag,  obwohl  wir 
gerade  mal  die  Miete  flir  zwei  Monate  hatten. 

fiemeindenahe 

Nach  einer  muhevollen  und  ernuchternden  Renovierung  der  Raume  saBen 
wir  nun  Anfang  Februar  -  Papier  und  Malzeug  unauffallig  bereit  -  und 
warteten  auf  die  Bevolkerung,  wa'hrend  wir  daruber  stritten,  ob  ge- 
meinsames  Kaffeetrinken  und  Malen  eine  revolutiona're  oder  'sozial- 
arbeiterische'  Tatigkeit  sei. 

Zuerst  kamen  die  Nachbarn  -  wir  hatten  wa'hrend  der  Renovierung  Infor- 
mationszettel   an  die  Scheiben  geha'ngt.  Sie  fragten  nichts  -  viel- 
leicht  hatten  sie  Angst  -  und  wir  fragten  sie  nichts,  denn  wir  hat- 
ten sicher  Angst;  aber  sie  schenkten  uns  alte  Mbbel ,  Vorhange,  einen 
kriihlschrank,  Stiihle,  alte  Couches  -  manchmal   kommt  das  noch  heute 
uor     Hatte  sich  nicht  inzwischen  die  Dffentl ichkeitsgruppe  gebildet, 
so  druckte  sich  auch  bei  uns  die  Nahe  zur  Gemeinde  nur  in  Metern  aus. 


nberhaupt  gestalteten  sich  die  Nachmittage  der   'Dienstgruppen   ,  die 
■ir  an  vier  Nachmittagen  der  Woche  eingerichtet  hatten,  sehr  viel 
Anders  als  geplant.  Sicher  kam  es  vor,  daB  jemand  aus  der  Nachbar- 
crhaft  oder  auch  aus  der  Klinik  vorbeikam  und  bei  Schwierigkeiten 
/Arbeit    Ausbildung,  Kontakte)  urn  Rat  fragte;  manchmal   kam  es  auch 
ior    daB  die  Anwesenden  dazu  etwas  sagen  konnten,  sehr  oft  uberstie- 
qen'aber  die  Schwierigkeiten  und  die  in  die  Bezugspersonen   (  Guten 


Tag,  wer  ist  denn  hier  der  Leiter?")  gesetzten  trwartungen  deren 
zeitliche  Mbglichkeiten,  Kenntrn's  und  Engagement.   Oft  hatte  ich  den 
Eindruck,  Schwierigkeiten  wurden  nur  erzahlt,  urn  Sonderrechte  und 
Sonderbeziehungen  zu  besonders  machtig  erscheinenden  Bezugspersonen 
zu  beanspruchen;  was  nicht  heiBt,  daB  die  Schwierigkeiten,  die  er- 
zahlt wurden,  nicht  auch  da  waren. 

Erst  allmahlich  merkte  ich,  daB  diese  Verh'a'ltnisse  von  Zutrauen  und 
Macht,  Abhangigkeit  und  Luge  von  mir  als  Bezugsperson  in  gleichem 
MaBe  produziert  wurden,  wie  ich  darunter  litt  und  gegenuber  der  her- 
kbmmlichen  Psychiatrie  und  meinem  theoretischen  Wissen  in  Erfolgs- 
zwang  geriet.   Ich  meinte,  der  herrschenden  Psychiatrie  eine  auszuwi- 
schen,  indem  ich  lernte,  rait  den  Problemen  des  anderen  besser,  freier, 
offener,  weniger  verlegen  umgehen  zu  kbnnen;   ich  tat  damit  genau  das 
selbe,  was  der  Arzt  in  der  Klinik  tut;   ich  behandelte  ein  Problem 
des  anderen,  wahrend  er  vielleicht  nur  einfach  vermittels  eines  Pro- 
blems mit  mir  kommunizieren  wollte. 

Aber  ich  hatte  dieses  Problem  nicht  allein;  Konkurrenz  schlich  sich 
unter  den  Bezugspersonen  ein  und  Angst  vor  Oberforderung.   Zu  diesem 
Zweck  wollten  wir  unsere  Erfahrungen  und  Fehler  an  einem  Sonderter- 
min  besprechen;  dabei   kamen  wir  auf  den  Gedanken  der  Supervision. 
"Ein  Psychology  ist  einer,  der  nichts  anderes  kann.  weil   er  an  der 
Uni   nichts  anderes  qelernt  hat."   [GilaT 

Ein  Teil  unserer  Dienstgruppe  bestand  auf  Supervision  und   plante 
sogar  eine  Ausbildung  als  Therapeuten,  die  anderen  fragten  sich,  ob 
die  vier  Stunden  wb'chentlicher  gemeinsamer  Erfahrung  wirklich  die 
Notwendigkeit  einer  Supervision  oder  gar  einer  therapeutischen  Aus- 
bildung begrlinden  kbnnten. 

Wir  stritten  uns,  trugen  unsere  Oberlegungen  dem  Plenum  vor  und  ern- 
teten  heftigste  Vorwiirfe  seitens  der  ehemaligen  Patienten.   Ober  die 
Heftigkeit  der  Kritik  war  ich  damals  ziemlich  entsetzt;  rlickblickend 
meine  ich,  daB  damals  gegen  das  ursprungliche  Konzept  entscheidende 
neue  Obereinkunfte  und  Ansatze  fur  ein  Selbstverstandnis  der  Gruppe 
formuliert  wurden.  Deshalb  will   ich  einige  Passagen  aus  einem  Papier 
zitieren,  das  unsere  damaligen  Oberlegungen  kritisierte  und  die  Ober- 
schrift  tragt: 

"An  die  Selbstevfahrungsgruppe  ohne  Patienten. 

Was  ich  damit  sagen  will  ist,   daB  ich  die  Vermutung  babe,   daB  vhr 
euch  in  der  Abgrenzung  von  dem   'Patienten'  viel  weiter  abgrenzt,   als 
ihr  selbst  wollt,   und  daB  die  Reaktion,   die  ihr  provoziert,  MiB- 
trauen  und  Angst  ist.    Ihr  erlebt  Patienten  irgendwo  als  Bedrohung, 
entweder  fiir  euch  oder  fiir  sich  selbst.   Ihr  mochtet  den  Schonraum 
eurer    'Normalitat'  benutzen,   um  mit  euren  Kngsten  besser  umgehen  zu 
konnen.    Wollt  ihr  damit  sagen,   daB  normale  Leute  fiir  euch  nicht  be- 
drohlich  sind?  Wollt  ihr  damit  sagen,   daB  ein  Verruckter  euch  vn 
grSBere  Bedrangnis  bringt  als  ein  Normaler?  Ich  habe  den  Eindruck, 
daB  ihr  etwas  Uber  die  Bedrohlichkeit  der  Normalitat  nachdenken  soil 
tet,    z.B.    iiber  die  Gefahren  eines  normalen  Seminars  oder  die  Gefahren 
einer  normalen  Frau  oder  die  Gefahren  eines  normalen  Mannes.    ■■■ 

Ich  weiB  nich  genau,   nach  welchen  Kriterien  ihr  beschlossen  habt, 
wer  in  die  Gruppe  kann  und  wer  nicht.   Ich  weiB  nur  etwas  von     ohne 
Patienten'  .damit  haben  wir  itn  Zentrum  zum  ersten  Mai  eine  sozuxie 


24  - 


und  sichtbare  Manifestation  der  Patientenrolle  und  der  Therapeutenrolle 
durchgesetzt.   Das  heiBt:  ein  Patient  weiB,   daB  er  Patient  ist,   Weil 
er  therapiert  wird  und  weil  es  aulierdem  Therapeutenbereiche  gibt,   zu 
denen  er  keinen  Zutritt  hat.    Das  Konzept  der  emotionalen  Krisen,   d.h. 
die  Vorstellung,   daB  fiir  oeden  von  uns  eine  Situation  entstehen  kann, 
in  der  er  allein  nicht  mehr  kann  und  die  Vorstellung,   daB  er  diese 
Schwierigkeiten  durahstehen  kann,    ohne  Diskriminierung  und  Stigmati- 
sierung,   sondern  mit  der  solidarischen  Hilfe  der  anderen,   denen  es 
gerade  besser  geht,   ist  damit  gestorben. . . "  Werner  R. 

Als  Folge  dieser  Diskussion  beschlossen  wir     in  unserer  Dienstgrup- 
pe, daB,  wer  eine  Ausbildung  machen    will,  es  tun  solle  -  als  seine 
Privatsache  auBerhalb  des  Zentrums.  Kurze  Zeit  spa'ter  zogen  sich 
diejenigen,  die  eine  Supervision  bzw.  Ausbildung  wollten,  aus  unse- 
rer Gruppe  und  aus  dem  Zentrum  zurlick. 

DaB  es  im  Umgang  miteinander  in  unserem  Zentrum  oft  viele  Komplika- 
tionen  gibt,   ist  unleugbar.   Es  stimmt  auch,  daB  es  in  der  Art,  wie 
einzelne  mit  Problemen  umgehen,  groBe  Unterschiede  gibt,  nur  -  die 
Fahigkeit  oder  Unfahigkeit,  diese  Unterschiede  einzugestehen,  gegen- 
seitig  sich  deutlich  zu  machen  und  liber  sie  zu  kommunizieren,  durf- 
te  doch  wohl  mehr  mit  eigenen  Problemen  zusammenhangen  als  mit  etwai- 
gen  objektiven  Schwierigkeiten  des  Umgangs  mit  psychisch  Kranken. 

Andererseits  halte  ich  diese  Art  von  Professional isierung  nicht  fiir 
zufa'llig.  Es  waren  fast  ausschlieBlich  Studenten  der  Psycho-logie  und 
angrenzender  Gebiete,  die  so  argumentierten.   Als  ich  kurze  Zeit  spa'- 
ter einen  alten     Bekannten,  Lehrer  an  der  Universitat  im  einschlagi- 
gen  Fachbereich,  um  finanzielle  UnterstLitzung  bat,  teilte  er  mir 
interessiert  aber  bedauernd  mit,  er  kbnne  das  Zentrum  nicht  unter- 
stiitzen,  es  sei  zu   'unprofessionelT  . 


rntwicklung  des  Zentrums  zur  Selbstorqanisation 

Nicht     zuletzt  durch  den  Riickzug  einer  ganzen  Reihe  ehemaliger  Initi- 
atoren,   vor  allem  aber  wegen  der  sommerlichen  Urlaubszeit  iibernah- 
men  ehemalige  Patienten  immer  mehr  die  Aktivitaten  des  Zentrums. 
SchlUssel  wurden  vervielfaltigt  und  untereinander  verteilt.   Das  Zen- 
trum wurde  taglich  gebffnet. 

Im  gleichen  MaBe,  indem  ehemalige  Patienten  die  Aktivitaten  im  Zen- 
trum libernahmen,  veranderten  sich  die  Beziehungen  untereinander,  sie 
wurden  enger.   Konflikte  wurden  persbnlicher  ausgetragen.  Man  begann 
etwas  mehr,  gemeinsam  zu  leben.  Das  Zentrum  erhielt  tendenziell  Cha- 
rakterzlige  einer  Familie  mit  Vor-  und  Nachteilen,  auch  mit  dem  MiB- 
trauen  Neuem  gegenuber. 

ng  des  Zentrums  zu 
von  ab,  wie  unser 
zustande  kam  und 
ntrumserbffnung  Kon- 
ufgenommen  hatten 
ierten,  entstand 
n  und  ehemalige  Pa- 
Sozialarbeitern  aus 
ik,  bei  der  Entlas- 


Tn  einer  etwa  paradoxen  Weise  hing  die  Entwicklu 
Formen  der  Selbsthilfe  und  Selbstorganisation  da 
Kontakt  zum  Psychiatrischen  Krankenhaus  Kbppern 
sich  entwickelte.  Da  wir  gleichzeitig  mit  der  Ze 
takt  mit  Rrzten  und  Sozialarbeitern  in  Kbppern  a 
und  auch  von  ehemaligen  Patienten  Kontakte  exist 
Marz  1975  eine  Gruppe,  in  der  sich  Bezugspersone 
tienten  aus  Frankfurt  mit  Arzten,  Patienten  und 
Kbppern  zusammensetzten,  um  Probleme  in  der  Klin 


sung,  der  Wohnungs-  und  Arbeitssuche  zu  besprechen.   Leider  loste 
sich  im  Laufe  des  Jahres  diese  Gruppe  auf.   Die  Griinde  daflir  haben 
wir  noch  nicht  ganz  kla'ren  kbnnen.  Vielleicht  war  Kbppern  zu  went 
weg  von  Frankfurt  (ca.  30  km  Autobahn),  vielleicht  auch  war  die 
Schwierigkeit  zu  groB,  innerhalb  der  Klinik  Arzt     zu  sein  und  auBer- 
halb  etwas  anderes;  vielleicht  auch  waren  Krzte  und  Sozialarbeiter 
dariiber  enttauscht,  daB  ihnen  das  Zentrum  und  ihr  Kontakt  im  Zen- 
trum  nicht  die  erwartete  Unterstlitzung  brachte.  Aber  auch  viele 
Patienten  aus  Kbppern  blieben  nach  einiger  Zeit  weg.  Das  mag  an  dem 
groBen  Widerspruch  zwischen  der  Klinik  und  unserer  Gruppe  liegen,  wo 
auBer  der  Mbglichkeit  zu  Kontakten  und  einigen  wenigen  vorbereiteten 
Freizeitaktivitaten  keine  festen  Gruppen  angeboten  werden,  nichts 
vorgeplant  und  auch  nichts  schiitzend  uberwacht  wird. 

Vergl ichen  mit  einer  Klinik  oder  einem  Heim  hat  die  Struktur  unseres 
Zentrums  den  Nachteil,  daB  niemand  sicher  sein  kann,  fur  seine  Pro- 
bleme  auch  wirklich  einen  'Berater'  zu  finden  (sei  es  durch  ein  Ge- 
sprach,  durch  eine  Spritze  oder  durch  Psychopharmaka) .   Sicher  gibt 
es  Arzte  unter  den  Mitgliedern  des  Zentrums  und  Therapeuten;  aber 
ob  sie  da  sind,  und  wie  sie  sich  dann  verhalten,  hangt  von  ihrer 
Lust  und  Zeit  ab  bzw.  von  dem  Kontakt,  den  man  zu  ihnen  sucht  oder 
auch  nicht  sucht;  jedenfalls  ist  ihr  Verhalten  nicht  durch  einen 
Anstellungsvertrag  geregelt;  es  gibt  keinen  festen  Verantwortungs- 
bereich.   Daher  soil  die  Tatsache,  daB  wir  uns  wirklich  oft  helfen 
und  daB  am  Rande  des  Zentrums,  von  den  anderen  meist  unbemerkt,  oft 
nur  einmalige  Ratschlage,  Hinweise,  kleine  Vermittlungshilfen  an  alle 
mbglichen  Leute  gehen,  nicht  dariiber  hinwegtauschen,  daB  viele  -  und 
vor  alien)  altere  Besucher  -  nach  einmaligem  Besuch  wegbleiben,  viel- 
leicht, weil  es  zu  chaotisch  ist,  weil   sie  keine  'Ansprache'  finden 
oder  weil  nichts  angeboten  wird.  Selbst  wenn  es  uns  schon  manchmal 
gelungen  ist,  jemanden  zu  halten,  der  sonst  in  die  Klinik  ha'tte 
gehen  mussen,  so  waren  manchmal  die  Probleme  einzelner  fiir  uns  zu 
groB  oder  undurchschaubar  -  oder  besser:  unertraglich.   Einzelne 
rieten  zu  einer  Therapie,  halfen  dabei,  einen  Therapeuten  zu  finden; 
einige  Male  wuBten  wir  auch  nicht,  was  wir  machen  sol  Hen,  hatten 
vielleicht  noch  nicht  einmal   Lust  zu  einem  Besuch  in  der  Klinik: 
"Warum  sollen  wir  jemanden  besuchen,  wenn  wir  ihn  nicht  mbgen;  das 
soil  en  und  kbnnen  nur  die  tun,  die  ihn  mbgen!"  Ich  halte  es  fur  wich- 
tig,  daB  ich  das  weiB,  ohne  sta'ndig  mit  Schuldgefuhlen  herumlaufen 
zu  mussen.  Vielleicht  muB  ich  als  einzelner  akzeptieren,  was  ich 
langfristig  in  einer  Gruppe  nicht  einfach  hinnehmen  muB. 

Aber  es  gibt  eben  Probleme,  die  wir  als  Gruppe  von  Laien  und  Betrof- 
fenen  nicht  Ibsen  kbnnen;  es  gibt  Leute,  die  ihre  Probleme  so  behan- 
deln,  daB  sie  fiir  uns  zu  schwierig  sind.  Deutlicher  und  mit  einiger 
Brutal i tat,  deren  Griinde  nicht  nur  bei  uns  liegen:  wer  dauernd  auf 
akute  Hilfe  angewiesen  ist,  dem  kbnnen  wir  als  Zentrum  -  im  Augen- 
blick  wenigstens  -  nicht  grundsa'tzlich  helfen.   Wer  nicht  in  der  La- 
ge  ist,  wenigstens  den  Versuch    zu  machen,  auf  Abhangigkeitsw'unsche 
von  einem  ubermachtigen  Arzt  oder  von  einer  uberwaltigenden  Institu- 
tion zu  verzichten,  urn  so  einen  ersten  Schritt  zu  tun,  Zutrauen  zu 
sich  selbst  zu  finden,  sich  nicht  fiir  krank  erkla'ren  zu  lassen  oder 
sich  selbst  fiir  krank  zu  erkla'ren,  dem  kbnnen  wir  nicht  helfen,  weil 
es  keine  gemeinsame  Basis  fiir  ein  gemeinsames  Handeln  gibt.  So  gibt 
es  keine  Garantie  auf  eine  'Ansprache'   im  Zentrum,  keine  Garantie 
auf  die  Ausblendung  der  Probleme  anderer,  keine  Heilungsgarantie. 


Wie  die  Gruppe  hilft,  wenn  sie  hilft 

Dieser  Nachteil  macht  aber  auch  gleichzeitig  den  Vorteil  aus,  den 
die  Gruppe  bietet.  Wenn  man  hier  einen  trifft,  mit  dem  man  uber  ein 
Problem  sprechen  oder  auch  dagegen  etwas  tun  kann,  dann  darf  man 
sicher  sein,  daB  er  es  nicht  tut,  weil   er  per  Bezahlung,  Beruf  usw. 
dazu  verpflichtet  ist,  sondern  weil  er  etwas  davon  hat  und  daB  man 
es  auch  selber  ist,  von  dem  er  etwas  hat.   So  wird  man  im  Zentrum, 
mehr  als  in  der  Klinik,  mit  der  gesellschaftl ichen  Wirklichkeit 
konfrontiert,  mit  den  Auswirkungen  des  eigenen  Verhaltens  -  selbst 
wenn  die  Gruppenstruktur,  durch  gegenseitige  Kritik,  Gruppengespra- 
che  und  allmahliche  Erfahrung  die  Brutalitat  der  Gesellschaft  und 
ihre  Umgangsformen  nicht  voll   ins  Zentrum  eindringen  laBt.  Solange  die 
gesamtgesellschaftl ichen  Griinde  dafu'r  fortbestehen,  ware  ein  absolu^ 
ter  Schonraum  auch  nur  eine  Illusion  -  eben  geschlossene  Abteilung. 

Da  es   im  Zentrum  keinen  Therapeuten  gibt  und  Bezugspersonen,  an  die 
man  sich  anhangen  kann,  die  auch  mit  der  Zeit  dieser  Art  von  ungleich- 
ma'Biger  Kommunikation  satt  haben,  ist  man  gezwungen,  entweder  sich 
allein  weiterzuhelfen,  oder  aber  neue  Kontakte  zur  Lbsung  von  Schwie- 
rigkeiten  einzugehen,  neue  Formen  zu  finden.  Aus  diesem  Grunde  ste- 
hen,  wenn  Schwierigkeiten  einzelner  im  Mittelpunkt  stehen,  auch  weni- 
ger  vergangene,  unbewaltigte  Probleme  zur  Debatte,  sondern  hbchstens 
deren  augenblickliche  Auswirkungen.  Das  heiBt:  aktuelle  Probleme. 

Die  Aufgabe  der  Gruppe  besteht  weniger  darin,  Erfahrungen  d,er  Ver- 
qangenheit,  unbewuBte  Wiinsche  und  Mechanismen  aufzudecken:     was  die 
Gruppe  kann,   ist  vielmehr,  Wiinsche  und  Mbglichkeiten,  deren  Erfiil- 
lung  dem  einzelnen  in  seiner  Isolation  auch  dann  Schwierigkeiten  be- 
reiten,  wenn  er  sie  mit  Hilfe  einer  Therapie  entdeckt,  leichter  und 
eben  nicht  als  einzelner  in  die  Wirklichkeit  umzusetzen.  Daher  blei- 
ben  auch  nur  die,  denen  die  Gruppe  wirklich  hilft:  wer  hier  Schwie- 
rigkeiten hat,  der  hat  sie  sicherlich  auch  anderswo.  Wem  die  Gruppe 
nicht  hilft,  der  geht  weg,  schlimmstenfalls  zuruck  in  die  Klinik. 
"Es  gibt  keine  Bindungen  an  einen  Therapeuten,  keine  finanziellen 
Abmachungen,   keine  offiziellen  vertraglichen  Verpfl ichtungen" 
(vgl-   M.L.Hoeller:    Sel bsth i I fegruppen    in  der   Psychotherapie. 
in:    Praxis  der   Psychotherapie,   Bd.    20,    Heft   It,    Berlin    1975) 
Eine  Selbsthilfegruppe,  die  ihren  Mitgliedern  nicht  hilft,  zerfallt; 
tendenziell  ist  also  das  Zentrum  immer  vom  Zerfall  bedroht  und  es 
existiert  nur,  weil  das  so  ist.  Man  bleibt  zusammen,  weil  es  einem 
hilft,   und  solange  es  einem  hilft.   Die  Hilfe  kann  auch  darin  beste- 
hen,  daB  der  einzelne  merkt,  daB  er  mit  dem  Zentrum  allein  nicht 
weiterkommt.   Deshalb  besteht  auch  die  Gefahr,  daB  auf  das  Zentrum 
scheiBt,  wem  es  ganz  schlecht  geht,  so  wie  der  leicht  drauf  scheiBt, 
dem  es  nach  Kriterien  biirgerlicher  Durchsetzungsfahigkeit  als  einzel- 
nem  wieder  gut  zu  gehen  beginnt  (bis  zuro  nachsten  Mai).  Das  Zentrum 
besteht  nur,  solange  und  in  dem  MaBe,  wie  es  seinen  Mitgliedern  hilft. 

narin  liegt  ein  Grund  fiir  den  sta'ndigen  ProzeB  der  Umorganisatioh 
von  Anfang  an,  dafiir,  daB  wir  so  viele  Dinge  begonnen  und  nicht  zu 
Ende  gefiihrt  haben.  An  guten  Tagen  der  Kritik  sagen  wir  dazu:  warum 
auch  nicht  -  wir  tun  es  doch  nicht  fiir  andere,  sondern  fiir  uns. 


-  27 


Patientengruppe  Sozialtherapie,  Frankfurt: 

VON  BEZIEHUNGSKAPITALISTEN  UND 
BEZIEHUNGSPROLETARIERN 


Es  ist  nicht  leicht,  liber  das  Bezugspersonen/Patienten-Verhaltnis 
zu  schreiben,  wenn  man  selbst  mittendrin  steckt.  Ich  bin  Patient. 
23  Jahre,  mannlich,  davon  4  Jahre  Psychiatrie. 
Wir  schreiben  unseren  Beitrag  in  einem  Bauernhaus  bei  Marburg.  Hit 
mir  zusammen  sind  Manfred,  Michael  und  Hans-Jiirgen.  Ich  bin  Thomas. 
Wir  sind  allesamt  Patienten.  Aber  wir  machen  jetzt  Urlaub.  Auch  Pa- 
tienten  mlissen  mal  ausspannen. 

Allerdings:  Hier  sind  wir  gar  keine  Patienten.  Es  gibt  kein  absolu- 
tes Patientsein.  Wenn  man  so  richtig  in  den  Machenschaften  des  Zen- 
trums  drinhangt,  ist  dies  die  entscheidende  Frage.  Bin  ich  Patient? 
Und  so  kam  es  dazu,  daB  die  Bezugspersonen/Patienten-Problematik 
monatelang  der  Hauptinhalt  der  gemeinsamen  Auseinandersetzungen  wur- 
de: 

Das  Zentrum  ist  eine  Ladenwohnung  mit  fiinf  Zimmern.  Das  Zentrum  kann 
aber  aufgefaBt  werden  als  ein  kompliziertes  Geflecht  von  tells  gesun- 
den  und  teils  pathologischen  Beziehungen  im  Sinne  von  befnedigend 
Oder  unbefriedigend.  Netzwerk  von  Luge  und  Ehrlichkeit  und  von  Aut- 
deckunq  und  Verschleierung.  Zwang  ebenso  wie  auch  Befreiung.  Am 
Leben  gehalten  heute  weniger  durch  den  Anspruch  als  durch  Gernhaben 
in  den  verschiedensten  Formen  und  Abstufungen.  Dies  ist  kurz  eine 
Beschreibung  des  heutigen  Zustands.  Sozialtherapie  in  ihrer  chaoti- 
schen  Form:  Automatische  Therapie  durch  Eintauchen  in  wie  auch  immer 
geartete  Zusammenhange. 

Denn  das  Zentrum  war  ca.  ein  halbes  Jahr  nach  seiner  Eroffnung  ent- 
eiqnet  worden.  Kein  Wunder,  wenn  man  das  Zentrum  als  Produktions- 
mittel  von  Gesundheit  oder  Krankheit  begreift.  Es  wurde  den  Studen- 
ten  aus  der  Hand  genommen.  Tm  Sommer  fing  das  an.  Die  ersten  von 
der  Patientenklasse  lieBen  sich  Schlusselkopien  von  der  Eingangstur 
machen.  Die  Initiatoren  waren  von  sich  aus  nicht  auf  die  Idee  gekom- 
men,  das  Zentrum  in  die  Hande  der  "Betroffenen"  zu  geben.  Obwohl  ein 
Geqenmodell  zur  herkbmmlichen  Psychiatrie  beabsichtigt  war,  hatten 
sich  die  alten  Verhaltnisse  reproduziert.  Der  Schlusselbund  war  wie- 
der  da,  und  es  wurde  erst  aufgeschlossen,  wenn  die  Dienstgruppe  otti- 
ziell  begann. 

Die  Bezugspersonen  faBten  also  ihre  Anwesenheit  im  Zentrum  als 
Dienst  auf.  Dienst  am  Nachsten  scheint  mir  von  vornherein  verdacn 
tiq  zu  sein.  Das  Dienst-  und  Pf lichtgefiihl  sprach  damals  aus  alien 
Gesichtern,  auch  aus  denen  der  Patienten.  So  taten  denn  die  Bezubos 
(eine  sarkastische  Verschmelzung  von  "Bezugsperson'  und  p}ac^°   ' 
d  Red  )  das  ihre:  Sie  gaben  sich  progressiv  und  menschl ich.  Die 
Patienten  taten  auch  das  Ihre:  sie  gaben  sich  progressiv  und  normal 
und  vor  allem:  schimpften,  um  den  Intellektuellen  zu  schmeichein, 
auf  die  totale  Institution,  die  sie  aber  nicht  allzu  schnel I  verias- 
sen  wollten. 

-  28  - 


Es  war  also  festzustellen:  Die  Bezubos  waren  unfahig  (und  nicht 
will  ens)  echte,  das  heiBt  verantwortliche  therapeutische  Verhalt- 
nisse einzugehen.  Andererseits  hatten  sie  Angst  vor  den  Patienten 
und  warfen  uns  unsere  Beziehungswiinsche  wie  die  Erbslinde  vor.  Viel- 
leicht  hatten  sie  Angst,  daB  die  Geisteskrankheiten  ansteckend  sind. 
Sie  furchteten,  daB  sie  von  den  Schizokokken  befallen  wlirden.   So 
kam  es,  daB  die  gesellschaftlichen  Verhaltnisse  auBerhalb  der  Psy- 
chiatrie exakt  reproduziert  wurden.  Und  da  vor  allem  die  Beziehungs- 
situation  entlassener  Patienten.   Hinzuzufiigen  ist,  daB  die  Zahl  der 
Bezubos  groB,  die  der  Patienten  klein  war.  AuBerdem  muB  gesagt  wer- 
den, daB  ehemalige  Patientinnen  im  Zentrum  kaum  integriert  sind. 
Die  Frauenfrage,  die  Frage  also,  wieso  Patientinnen  zu  Bezubo-Frauen 
kaum  einen  Bezug  finden,   ist  jetzt  end! ich  im  ersten  Stadium  der 
Diskussion.  Endlich  auf  dem  letzten  Plenum  ist  die  andere  Bombe 
geplatzt.   Wir  haben  uns  lang  und  breit  liber  Bumsen  im  Dunstkreis  der 
Sozialtherapie  unterhalten.  Auf  dem  Plenum  ein  absolutes  Novum. 
Bei   uns  wiederholen  sich  Zwa'nge  aus  schizophrenogenen  Familien. 
Tabus,  die  allerhochstens  hinter  vorgehal tener  Hand  gebrochen  wer- 
den, um  mal  zu  libertreiben.   Die  Tatsache,  daB  auch  Patienten  sexuel- 
le  Bedurfnisse  haben,  konnte  also  erst  jetzt  im  groBen  Kreise  be- 
sprochen  werden.   Die  meisten  dieser  Tabus  und  Zwa'nge  werden  bei   uns 
aber  im  Unterschied  zur  Kleinfamilie  aufgelbst.  Die  Patienten  waren 
dabei  die  treibende  Kraft.   Ober  zu  wenig  Mitbestimmung  der  Patien- 
ten kann  sich  keiner  der  Initiatoren  beklagen. 

Was  halt  nun  die  Bezugspersonen  im  Zentrum,  wo  ihnen  doch  dauernd 
die  angestammten  Positionen  und  auf  kurz  oder  lang  die  Bezubo-Rolle 
genommen  wird?  Vielleicht  gerade  das.  Geld  kriegt  niemand,  wir  ha- 
ben keine  einzige  Planstelle.   Berufspraxis  ist  es  auch  bei  fast  nie- 
mand mehr.    In  der  Psychiatrie  arbeiten  wollen  nur  noch  die  wenig- 
sten.  Beim  letzten  GroBplenum  kam  raus:  die  meisten  Bezubos  betrach- 
ten  ihre  Anwesenheit  im  Zentrum  nicht  mehr  als  Dienst.   Ich  glaube, 
es  ist  jetzt  endlich  so  weit:  Die  Bezubos  fangen  an,   im  Zentrum 
Therapie  zu  suchen.  Sie  erwarten  jetzt,  daB  auch  einmal  die  Patien- 
ten auf  die  Bezubos  eingehen.  Die  Austauschbarkeit  der  Therapeuten- 
und  Patientenrollen  ist  in  Sichtweite.   Die  Tendenz  des  Zentrums 
geht  derzeit  in  Richtung  auf  eine  Selbsthilfegruppe  aus  Patienten 
und  Nichtpatienten.  Fr'uher  wechselte  die  Bezugspersonenbesetzung 
standig.   Es  kamen  haufenweise  Leute,  die  was  "mit  Patienten  machen 
wollten".  Diese  Sorte  Linke  stieB  in  beiden  Lagern,  das  heiBt,  dem 
harten  (hartna'ckigen)   Kern  von  Bezubos  und  Patis  (!)  zunehmend  auf 
Widerstand.   Das  liegt  auch  in  den  auBeren  Bedingungen  des  Zentrums 
begrundetWir  stehen  eigentlich  dauernd  vor  dem  Bankrott.  Gelder 
mlissen  beantragt  werden,  die  Wohnung  muB  dauernd  und  zwar  billig  in 
Stand  gehalten  werden.   Die  existentielle  Not  -  bei  einem  ZuschuB 
von  10  000  DM  im  Jahr  -  schweiBt  schon  auch  ein  biBchen  zusammen. 
Allzuviele  Theoretiker,  die  zum  Staubwischen  keine  Lust  haben,  ver- 
kraftet  das  Zentrum  nicht. 

r-jn  anderer  Aspekt,  wieso  jetzt  eine  Selbsthilfegruppe  aus  ganz  Ka- 
□utten  und  weniger  Kaputten  mbglich  scheint:  Die  Studenten  und  un- 
cere  Laienarbeiter  sind  natiirlich  in  der  Mehrzahl   Intellektuelle, 
ctudieren  Medizin,  Sozialarbeit  und  so  weiter,  dlirfen  sich  schon 
=  1    in  aller  Ruhe  auf  Arbeitslosigkeit  einstellen.   Kiirzlich  machte 
ine  Lehrerin  aus  der  Dffentlichkeitsgruppe  das  erste  Staatsexamen. 


29 


Wir  feierten  sie  mit  einem  Trinkspruch:   "...  und  nehmen  dich  hier- 
mit  auf  in  unseren  erlauchten  Kreis  von  Sozial  hilfsempfangern  und 
Frlihrentnern." 

Man  kann  also  erkennen,  daB  objektiv  eine  Annaherung  der  Standpunk- 
te  stattfindet.  Die  Studenten  sehen  sich  vieler  ihrer  Illusionen 
beraubt.   Die  Patienten  werden  zunehmend  stabiler  -  dies  vielleicht 
gegen  den  unbewuBten  Willen  der  Bezubos.  Die  Klassen  nahern  sich 
einander  an.  Ob  die  Rollenverteilungen  sich  aufheben  lassen,  ist 
noch  ungewiS.   Denn  es  stent  die  Beziehungsfrage  im  Raura  -  und  das 
scheint  sehr  gefahrlich  zu  sein.  Man  kann  diese  Abwehr  auch  positiv 
verwerten.  Denn  bei  der  Bearbeitung  dieser  Abwehr  kommen  ganz  ent- 
scheidende  Zusammenhange  ans  Tageslicht.   Wir  beginnen  uns  zu  fragen, 
worauf  es  bei  einer  Beziehung  eigentlich  ankommt.  So  zeigte  sich, 
als  beim  Plenum  endlich  die  Sexualitat  auf  den  Tisch  kam:  Auch  die 
Frauen  aus  den  Frauengruppen  ha  Hen  sich  lieber  an  die  starkeren 
Manner.   Dies  gilt  wohl  umgekehrt  auch  flir  die  Bezuboma'nner.  Wenn 
manche  Linke  den  Patienten  verordnen,  sich  nicht  nach  oben  zu  orien- 
tieren,  sondern  mit  den  Kaputten  solidarisch  zu  sein,  dann  wird 
etwas  gefordert,  was  die  Bezubos  selbst  nicht  leisten.   Ein  Stuck, 
sich  nach  unten  zu  orientieren,  vermeiden  sie  jedenfalls  tunlichst. 

LetztenEndes  wird  im  Zentrum  das  "Glaskasten"-Gef'Jhl  der  Patienten 
bearbeitet.   FaBt  man  diesen  Zustand  von  totaler  Isolation  als  Nie- 
derschlag  einer  lebenslang  erfahrenen  Unsol idaritat  auf,  so  wird 
im  Zentrum  Sol idaritat  in  ihrer  psychischen  Dimension  bearbeitet. 
Wir  machen  unsere  Gesprache,  Aktionen  hauptsachl ich  am  Arzt/Patient- 
Verha'ltnis  fest.  Wir  meinen,  daD  die  immerwahrende  Wiederholung  die- 
ses Verha'ltnisses  nicht  etwa  die  Krankheit  behebt,  sondern  sie  lm- 
mer  wieder  neu  erzeugt.   "Wer  schwach  ist,  braucht  einen  Arzt,  einen 
Therapeut,  eine  Bezugsperson  usw."  Als  ich  damals  an  der  Uni   so 
richtig  in  Schwierigkeiten  kam,  dachte  ich  gar  nicht  daran,  bei 
normalen  Personen  Hilfe  zu  finden,  also  Kommilitonen.   Vielmehr  dach- 
te ich,  nur  ein  Psychiater  kb'nne  mir  noch  helfen.  Aber  ein  Psychia 
ter  ist  eine  kunstliche  Person,  die  vom  Leid  der  anderen  lebt.  Er 
wies  mich  in  die  Klinik  ein,  und  ich  war  vier  Jahre  weg  vom  Fenster. 

Obwohl  die  Sol  idaritat  im  Zentrum  zunimmt,  miissen  wir  uns  klar  sein, 
daB  es  auch  hier  flrzte  und  Patienten  gibt,   Beziehungskapitalisten 
wider  Willen,  die  Bezugspersonen  -  und  Beziehungsproletaner,  die 
Patienten  genannt  werden,  und  sich  selbst  so  nennen.  Wieso  heiBen 
Patienten  eigentlich  nicht  Patienten-Personen?  Dannt  alles  beim  ai- 
ten  bleibt,  miissen  die  Rollen  immer  wieder  reproduziert  werden. 
Aber  das  ist  eine  negative  Schilderung.   Sie  beschreibt  die  mogliche 
(Re-)Produktion  von  Krankheit  im  Zentrum. 

Wir  sind  alle  irgendwo  zwischen  Gesundheit  und  Krankheit.  Den  Au^en- 
stehenden  muB  dazu  gesagt  werden,  daB  wir  hier  immer  wieder  von 
einer  Lahmung  befallen  werden.   Dann  traut  sich  memand,  einen  Scnntt 
vor  Oder  auch  nur  zuru'ck  zu  wagen.  Dann  reden  wir  uber  mchts  C-)> 
obwohl  wir  reden,  und  wir  tun  dann  auch  sehr  wenig.   Wie  in  so  einer 
faustdick  schizophrenen  Familie.   Das  ist  aber  auch  der  Real  1  sinus. 
Die  Lbsung  liegt  wohl  darin,  mehr  zu  geben  und  mehr  anzunehmen. 
Vielleicht  ist  es  uns  mbglich,  freigiebiger  zu  werden,  mehr  vonein 
ander  zu  beziehen,  nicht  zu  sparen,  sondern  zu  leben.  Wir  mussen  auT- 
passen,  daB  die  Leute  im  Zentrum  sich  nicht  freiwillig  in  das  Ver- 
wertungssystem  psychischer  Krankheit  einordnen  (eingliedern!). 


Bernd  Kreuzberg: 

ARBEIT  IN  DER  HEIDELBERG  FREE  CLINIC 


Ich  bin  Diplom-Psychologe  und  arbeite  im  Therapieprogramm  der  Hei- 
delberg Free-Clinic.   "Arbeiten"   -  das  heiBt  etwas  anderes  als  an- 
derswo,  beispielsweise  in  bffentlichen  Erziehungsberatungsstellen, 
in  Psychiatrischen  Landeskrankenhausern  oder  ahnlichen  Institutio- 
nen.   Die  Free  Clinic   (FC)   ist  keine  Klinik  im  Ublichen  Sinn,  mit 
personaler  Hierarchie,  Stationen,  Betten,  Visiten,  mit  chemischen 
und  kbrperlichen  Zwangsjacken  (sprich  Tabletten,  Spritzen,  Isolier- 
raumen). 

ATI   dies  gibt  es  hier  nicht.  Die  Free  Clinic  ist  eine  Ambulanz,  in 
der  Menschen  al lgemein-medizinisch  und  psychotherapeutisch  betreut 
werden.   Daneben  gibt  es  die  Mbglichkeit  juristischer  Beratung,  ein 
differenziertes  Prophylaxe-Programm  ("Gruppenprogramm")  mit  Encoun- 
ter-, Bioenergetic-,  Gestalt-,  Massage-,  Meditationsgruppen  usw. 
AuBerdem  hat  die  Free  Clinic  eine  spezielle  Beratungsstelle  flir 
Frauen. 

Die  Mitarbeiter  der  FC  sind  -  sofern  sie  Vollzeitmitarbeiter  sind  - 
qleichgestellt,  d.h.  sie  haben  alle  bei  Entscheidungen  gleiches 
Stimmrecht,  sie  haben  gleiches  Gehalt  (unabhangig  von  der  Arbeit 
und  von  der  Ausbildung  650.-  DM).   "Arbeiten"  -  d.h.   in  der  FC  nicht 
nur  therapeutisch  arbeiten,  sondern  auch  Organisatorisches,  Ausein- 
andersetzungen  rait  Cehbrden  fu'hren,  Offentlichkeitsarbeit. 

nas  Therapie-Programm 

Das  Therapeutische  Team  besteht  derzeit  aus  drei  Psychol ogen  und 
zwei  Arzten.  Wir  machen  Einzeltherapien  (vor  a 11  em  Gesprachs-  und 
Gestaltspsychotherapien),  Krisenberatung  in  akuten  Notfa'llen,  Nach- 
betreuung  flir  ehemalige  Psychiatrie-Patienten  und  ehemalige  Drogen- 
abha'ngige,  Motivations-  und  Entzugsgespra'che  mit  Fixern  und  anderen 
Drogenabhangigen,  kurzzeitige  Beratungsgesprache  und  langfristige, 
intensive  Gruppentherapie  von  einem  Jahr  Dauer. 
Das  psychotherapeutische  Programm  versteht  sich  als  eine  Erganzung 
zur  medizinischen  Praxis  und  arbeitet  eng  mit  dieser  zusammen. 
Unser  Ziel   ist  es,  fruhzeitig  eine  psychotherapeutische  Behandlung 
bzw.  Betreuung  fur  Jugendliche  anzubieten,  deren  besondere  psychi- 
sche  Probleme  sowie  deren  soziale  Kontakte  eine  Drogengefahrdung 
nahelegen    Damit  wollen  wir  ein  "Absacken"   in  kbrperliche  und/oder 
psychische  Abhangigkeit  und  die  damit  einhergehenden  Folgen  verhin- 

Mit^ugendlichen,  die  bereits  "abgesackt"  sind,  versuchen  wir  eine 
langfristige,  intensive  Therapie  im  Sinne  einer  sozialen  Rehabili- 
tation durchzuflihren.   Im  Falle  von  Drogenabhangigkeit  beraten  wir 
die  Jugendlichen  Uber  die  Mbglichkeiten  eines  kbrperlichen  Entzugs 
und  die  Weitervermittlung  an  Therapiehbfe  fur  drogenabhangige  Ju- 
gendliche. 

-  31  - 


Der  dn'tte  Schwerpunktbereich  unserer  Arbeit  besteht  in  der  Nachbe- 
treuung  von  Psychiatrie-Entlassenen  bzw.  Ex-Usern  (die  einen  Entzug 
hinter  sich  haben)  mit  dem  Ziel,  einen  Ruckfall  und  erneutes  Absak- 
ken  zu  verhindern. 

Unser  Klientel   im  Therapie-Programm 

Wir  arbeiten  vor  allem  mit  Klienten,  die  gerade  bzgl.   psychotherapeu- 
tischer  Versorgung  benachteiligt  sind:  Angehbrige  sogenannter  Rand- 
gruppen,  Arbeitslose,  Nicht-Versicherte,  Lehrlinge  -  allgemein:  so- 
zial  Unterprivilegierte.  Unser  soziales  Selektionsprinzip  geht  damit 
in  eine  andere  Richtung  als  dies  ublicherweise  in  der  Gesundheitsver- 
sorgung  der  Fall   ist. 

Das  bedeutet  gleichzeitig,  daD  wir  nicht  die  Sprachdifferenziertheit 
bzw.  Verbal isationsfahigkeit  unserer  Klienten  als  Voraussetzung  der 
"Therapie-Fa'higkeit"  ansehen,  sondern  schichtspezifische  Lernruck- 
sta'nde,  Sozialisationsmangel  und  die  Verhinderung  bestimmter  Erfah- 
rungen  durch  therapeutische  MaBnahmen  abzubauen  versuchen. 

Therapiekonzeption 

Wir  sind  derzeit  noch  ein  gutes  Stuck  davon  entfernt,  ein  einheitli- 
ches  Tiierapiekonzept  zu  haben.  Die  Diskussionen  daruber  laufen  und 
was  ich  im  folgenden  darstellen  werde,  sind  einige  Erfahrungen  und 
Oberlegungen  aus  meiner  Sicht  der  Dinge. 

Zunachst  verstehe  ich  Therapie  nicht  primar  als  Anwendung  bestimmter 
Techniken,  die  Symptome  verandern  oder  beseitigen  und  den  Klienten 
damit  wieder  "funktionstuchtig"  machen  soil  en.  DaB  der  Klient  -  ver- 
einfacht  gesagt  -  seine  Symptome  "aufgibt",  d.h.  bereit  ist,  sich  zu 
verandern,  eingefahrene  Verhal tensmuster  durch  neue  zu  ersetzen  ver- 
sucht  (konkret:  aufhbrt  zu  trinken,  fixen  usw. )  ist  gewissermaBen 
Voraussetzung  zur  Therapie.  Dieses  Aufgeben  selbstzerstbrerischer 
Verhaltensweisen  ist  eine  der  Hauptarbeiten,  die  der  Klient  leisten 
muB  -  und  der  er  oft  langanhaltenden  Widerstand  entgegensetzt. 

Ein  GroBteil  der  Therapie  nimmt  damit  die  Arbeit  am  "Widerstand"  in 
Anspruch  und  das  BewuBtmachen  jener  (Lern-)Mechanismen,  die  zu  einer 
"Verhartung  des  Subjekts"  als  Mechanismus  der  Anpassung  an  die  ver- 
harteten  Verhal tnisse,  zu  einer  Entfremdung  von  sich  selbst  und  zur 
Unfahigkeit  gefu'hrt  haben,  diese  Verhartung  und  Entfremdung  aus  eige- 
ner  Kraft  heraus  aufzuheben. 

Wenn  es  also  um  die  Auflbsung  von  "Verhartung"  gehen  soil,  so  darf 
Therapie  nicht  nur  als  instrutnentelles  Handeln  begriffen  werden,  son- 
dern muB  in  ihren  sozialen  Aspekten,  d.h.  als  soziales  Handeln  be- 
griffen werden.  Damit  erst  wird  es  ermbglicht,  Kommunikationsmuster 
und  Herrschaftsaspekte  innerhalb  der  Therapie  (also  zwischen  Thera- 
peut  und  Klient)  und  innerhalb  der  Institution  durchschaubar  zu  ma- 
chen und  zwar  fur  beide:  Klient  und  Therapeut. 

Besonders  kritisch  ist  meiner  Ansicht  nach  gerade  immer  wieder  die 
Zielbestimmung  (was  soil  verandert  werden?),  da  hierbei  die  "Privat- 
ethik"  des  Therapeuten  zu  einem  wesentlichen  Machtfaktor  werden  kann. 
Ich  versuche,  die  Ziele  (und  auch  die  Erwartungen)  vor  allem  zu  An- 
fang  der  Therapie  aber  auch  spa'ter  immer  wieder  mit  dem  Klienten  zu 
diskutieren  und  deutlich  zu  machen.  Dabei  erfa'hrt  der  Klient  auch 


-  32 


meine  Vorstellungen  und  Erwartungen  -  aber  eben  als  meine  und  nicht 
als  allgemein  verbindliche,  die  nicht  infragegestellt  werden  diirfen. 
Im  Gegenteil:   Ich  versuche  zu  jedem  Zeitpunkt  der  Therapie,  unsere 
Beziehung  zu  thematisieren  und  u.U.   infrage  zu  stellen. 

Als  Therapeut  sehe  ich  mich  nicht  als  eine  objektive  und  neutral e 
Autoritat,  sondern  als  ein  GegenUber  mit  eigenen  Meinungen,  Gefiihlen, 
Erfahrungen,  eigener  sozialer  Lerngeschichte,  die  in  jedem  Augenblick 
in  das  therapeutische  Geschehen  mit  eingehen  und  folglich  problemati- 
siert  werden  miissen. 

Therapie  wird  damit  flir  mich  zu  einer  Begegnungssituation,  in  der  ge- 
meinsames  soziales  Lernen  stattfindet.  Der  Klient  lernt  meine  Sicht 
der  Dinge  kennen,  ohne  den  Zwang,  diese  fur  sich  zu  ubernehmen;  er 
lernt,  seine  Sicht  der  Dinge  dem  gegenliberzustellen,  ohne  dafiir  be- 
straft  zu  werden.   Ich  lerne,  seine  Sicht  der  Dinge  aus  seiner  Sicht 
zu  sehen  und  Erfahrungen  mit  ihm  zu  teilen. 


Geltenlassen  von  Erfahrungen 

Ich  sehe  Verhalten  als  Funktion  von  Erfahrungen  an;  auch  sogenanntes 
"abweichendes"  bzw.   "zu-therapierendes"  Verhalten   (auf  die  Proble- 
matik  dieser  Begriffe  mbchte  ich  an  dieser  Stelle  nicht  eingehen 
-  auch  schon  deshalb,  weil  das  Indikationsproblem,  also  wann  Thera- 
pie und  wann  nicht,  flir  mich  selbst  noch  ungelbst  ist). 
"Problem" -Verhal ten  wird  nicht  als  "Defizit"  oder  "ExzeB"  definiert 
(zumal  gar  nicht  klar  ist,  in  Hinsicht  auf  was  Verhalten  defizita'r 
oder  als  exzessiv  definiert  werden  kann),  sondern  wird  als  berech- 
tigter  Ausdruck  und  mbglicherweise  einzig  mbgliche  Form  der  Person 
angesehen,  auf  (oft  unertragliche)  Umweltgegebenheiten  zu  reagieren. 
Es  geht  flir  mich  folglich  nicht  darum,  Erfahrungen  auszulbschen, 
umzupolen  und  Verhalten  zu  kontrollieren  (d.h.  wegzukonditionieren 
oder  Alternativverhalten  anzukonditionieren)  oder  auch  flir  alles 
seine  GrLinde  zu  finden  und  damit  zufrieden  zu  sein.   Sondern  ich  ver- 
suche, Erfahrungen  zu  akzeptieren  und  Verhalten  als  Resultat  von 
Erfahrungen  anzusehen.   In  der  Therapie  versuche  ich  nicht,  die  (mug- 
licherweise  durch  bestimmte  gesellschaftl iche  Agenten  als  inadaquat 
bezeichneten)   Lbsungsmbglichkeiten  des  Individuums  zu  negieren/be- 
strafen/kontrollieren,  sondern  neue  Lbsungsmbglichkeiten  sichtbar 
zu  machen;  so  daB  das  Individuum  in  die  Lage  kommt,  wieder  frei  zwi- 
schen verschiedenen  Mbglichkeiten  wahlen    zu  kbnnen.  Das  ist  sicher- 
lich  eine  hohe  Anforderung  an  den  Klienten,  insofern  er  kreativ 
sein  muB,  urn  sein  Verhal tensspektrum  zu  erweitern.  Anders  gesagt 
heilit  das:  Bei  Kenntnis  der  eigenen  Lage  (BewuBtsein  uber  sich  selbst) 
andere  Ausdrucksmbglichkeiten  zu  finden  versuchen,  andere  Reak- 
tions-  und  Aktionsmbglichkeiten  auszuprobieren  (wagen)  und  sich  Be- 
dingungen  zu  schaffen,  die  solche  Verhaltensweisen  ermbglichen. 

Damit  keine  MiBverstandnisse  auftreten:  Es  sollen  nicht  die  negati- 
ven  EinfluBfaktoren  der  Umwelt  negiert  werden  oder  der  Klient  da- 
qegen  imunisiert  werden  !   Im  Gegenteil:  Das  Individuum  soil   in  die 
Lage  versetzt  werden,  sich  aktiv  mit  seiner  Umwelt  auseinander  zu 
setzen. 

Der  Kontrollcharakter  der  sozialen  Umwelt  darf  nicht  ersetzt  werden 
durch  einen  therapeutischen  Kontrollmechanismus,  wie  dies  traditio- 
nellerweise  z.B.  durch  sogenannte  "Etikettierungen"   (als  "neurotisch", 

-  33  - 


"soziopathisch",  "schizophren"  usw. )  geschieht.   Derartige  Massif  1- 
zierungen  haben  keine  reale  Fundierung,  sondern  sind  ein  Mythos 
und  zugleich  Ausdruck  gesellschaftlicher  Sanktionen,  die  ira  psychia- 
trischen  Bereich  oft  zur  Legitimierung  bestimmter  medikamentbser 


trischen  Bereich  oft  zur  Legitimierung  uC:>i, ...... -v. — 

y'ergewaltigungen  und  von  "nicht-therapiefahig"  benutzt  werden. 

Ich  gehe  davon  aus,  daB  jeder  berechtigt  ist  zum  "Kranksein",  "Aus- 
geflipptsein"  usw.,  und  daB  solche  Erscheinungen  bei   Offenlegung 
und  Hinterfragen  des  gesellschaftlichen  Kontextes  ihre  Berechtigung 
haben.  Ausgeflipptsein  ist  unmittelbarster  Ausdruck  von  Leber  unter 
unertraglichen  Bedingungen  und  gleichzeitig  ein  Versuch,  diesen  zu 
entkommen.  Es  gilt,  diese  Bedingungen  zu  verandern,  nicht  das  Aus- 
geflipptsein. 

Probleme  der  Institutional isierung  und  Professional isierung 

Obgleich  ich  versuche,  die  Klienten  in  ihrem  gesamten  Lebensbezug 
und  vor  dem  Hintergrund  ihrer  gesellschaftlichen  Realitat  zu  sehen, 
sind  mir  jedoch  gleichzeitig  die  Grenzen  therapeutischen  Arbeitens 
deutlich.  Zwar  trennen  wir  die  Klienten  nicht  von  ihren  realen  Le- 
bensbereichen  (wie  es  in  der  stationaren  Psychiatrie  der  Fall   ist), 
aber  wir  haben  auch  keinen  unmittelbaren  Zugang  zu  diesen  Berei- 
chen.  Nicht  wir  gehen  zu  unseren  Klienten,  sondern  sie  kommen  zu 
uns.  Allerdings  kommen  zu  uns  Leute,  die  (laut  Statistiken)  u'berli- 
cherweise  keine  arztli'che  oder  psychotherapeutische  Hilfe  aufsuchen 
wu'rden.  Unser  Angebot  gilt  gerade  denjenigen,  die  sonst  u'berall  zu 
kurz  kommen. 

Wir  leben  nicht  mit  unseren  Klienten  zusammen  und  erfahren  ihren  Le- 
bensbezug daher  nicht  unmittelbar,  sondern  vermittelt.  Ein  weiteres 
damit  zusammenhangendes  Problem  sehe  ich  in  der  Einbeziehung  der 
sozialen  Umwelt,  d.h.  von    fczugspersonen,  EUern,  Lehrern,  Arbeit- 
gebern,  Freunden.  Wir  werden  in  Zukunft  sta'rkere  Versuche  in  dieser 
Hinsicht  machen  mussen,  obgleich  unsere  bisherigen  Erfahrungen  (bei- 
spielsweise  was  die  Mitarbeit  von  Eltern  betraf)  entta'uschend  wa- 
ren.  Die  Vorurteile  waren  starker.  Unsere  Klienten  ihrerseits  sind 
untereinander  isoliert.  Versuche,  in  der  Free  Clinic  eine  Patienten- 
Vollversammlung  zu  machen,  sind  gescheitert.  Vom  Ideal  einer  "Sol i- 
darisierung"  sind  wir  derzeit  weit  entfernt.  Wir  sehen  jedoch  die 
Mbglichkeit,  neue  Wege  zu  gehen,  z.B.   therapeutische  Wohngemein- 
schaften,  Patienten-Clubs  oder  autonome  Gruppen. 

Die  Begrenztheit  von  Therapie  sehe  ich  auch  darin,  daB  viele  Berei- 
che  trotz  Therapie  unverandert  bleiben  -  z.B.  Wohn-  und  Arbeitsver- 
haltnisse.  Dem  stehen  zum  Teil  groBe  Erwartungen  der  Klienten  ge- 
genuber,  alle  Probleme  "ge"lbst,  alle  Bedurfnisse  erfiillt  zu  bekom- 
men.   Der  Wunsch    nach  radikaler  Anderung  innerhalb  kurzester  Zeit 
ha'ngt  meiner  Auffassung  nach  eng  mit  der  Klassenlage  zusammen:  Je 
radikaler  diese  ist,  desto  radikaler  ist  der  Anderungswunsch  des 
Betroffenen. 


-  34 


Chuck,  Heidelberg  Free  Clinic: 

WELCHEN  POLITISCHEN  SINN  HABEN  ALTERNATIVE 
PROJEKTE? 


Ich  glaube,  daB  Gegenmodelle  heute  einen  entscheidenden  Beitrag  zur 
Oberwindung  des  gesellschaftlichen  Status  quo  leisten  kbnnen  und 
mussen. 

Sie  stellen  ein  dringend  benbtigtes  Instrumentarium  dar,  mit  dessen 
Hilfe  neue  Wei  sen  des  menschlichen  Zusammenlebens  experimentell   er- 
probt  und  tendenziell   realisiert  werden  kbnnen.   Damit  kbnnen  auch 
politische  Auseinandersetzungen  (die  ja  immer  von  Zielsetzungen, 
das   heiSt:  von  Traumen  ausgehen)  auf  einer  direkter  erfahrbaren, 
weniger  abstrakten  und  damit  auch  weniger  systemimmanenten  Ebene 
stattfinden.   DaB  sie  nicht  das  Allhei Imittel  darstellen,   versteht 
sich  von  selbst. 

Wir  halten  es  fiir  falsch,  simplifizierend  und  gefahrlich,  nur  zwei 
Extremansatze  fur  mbglich  zu  halten,  wie  dies  in  der  derzeitigen 
Diskussion  oft  geschieht: 

-  Alternativmodelle  als  Vorwegnahme  einer  Utopie  (mit  der  -im-  oder 
expliziten  Erwartung,  die  Beispiele  wu'rden  ohne  nennenswerten  Wider- 
stand  im  Schneeballprinzip  immer  neue  Modelle  hervorbringen  und  so 
in  kiirzer  Zeit  auf  friedlichem  Wege  zu  einer  total  en  Veranderung 
der  Gesellschaft  fuhren); 

-  Alternativmodelle  als  eskapistische  Gl Lick  im    Winkel-Ideologie 
kleinbiirgerlicher  Individuen,  die  "echte"  politische  Arbeit  scheuen 
und  so  -  ob  bewuBt  oder  nicht  -  eine  affirmative  Funktion  fur  die 
Reaktion  erfiillen. 

Die  erste  Position  wird  von  den  naiv-gottvertrauenden  Ausgefl ippten, 
die  zweite  von  den  orthodoxen  Politikos  mit  den  zusammengebissenen 
Za'hnen  vertreten. 

Wenn  wir  an  dieser  Welt  leiden  und  etwas  tun  wollen,  damit  sich  die 
Dinge  andern,  dLirfen  wir  weder  Starr  noch  naiv  sein.  Das  erfor- 

dert  eine  ganze  Menge  einer  neuen  Art  von  Mut;  auf  der  einen  Seite: 
Verzicht  auf  die  Identitatsstutze  des  Dogmas,  auf  der  anderen  Seite: 
Verzicht  auf  die  trligerische  Sicherheit  eines  altgewordenen  Babies 
mit  groBen  Augen.   Dem  Verzicht  entsprechen  Selbstakzeptieren, 
Selbstverantwortlichkeit  und  die  Fa'higkeit,  ohne  das  Gesicht  ver- 
lieren  zu  mussen,  Kritik  ertragen  zu  kbnnen. 

Gegenmodelle  diirfen  daher  nicht  nur  strukturell  und  in  ihrer  unmit- 
telbaren Wirkung  nach  auBen  gesehen  werden,   sondern  es  ist  genauso 
wichtig,  den  begleitenden  ProzeB  der  BewuBtseins-  und  Verhaltensan- 
derung  der  daran  Beteiligten  zu  verfolgen. 

Darin  sehen  wir  eine  Mbglichkeit,  daB  es  nach  Erreichen  des  Zieles 
(namlich  der  Rnderung  gesellschaftlicher  Machtverhaltnisse)  nicht 
plbtzlich  ganz  anders  aussieht  als  in  den  "Traumen",  und  Zynismus 


35  - 


an  deren  Stelle  tritt.  Urn  auf  eine  Gesellschaftsordnung  hinzuarbei- 
ten,  in  der  die  Herrschaft  des  Menschen  liber  den  Menschen  und  die 
Herrschaft  menschgeschaffener  Strukturen  liber  den  Menschen  auf  ein 
Minimum    geschrumpft  sind,  miissen  wir  zuerst  den  gegenwa'rtigen  Zu- 
stand  und  die  Effizienz  der  bisher  angewandten  oder  in  Zukunft  an- 
zuwendenden  Mittel  analysieren.  Unsere  Analyse  des  Jetzt-Zustandes 
flihrt  zu  zwei   Paradoxien,  die  sowohl  fiir  das  kapitalistische  System 
als  auch  -  zunehmend  deutlicher  -  fiir  die  staatssozialistischen  Sy- 
steme  gelten;  beiden  gesellschaftlich-bkonomischen  Systemen  liegt 
namlich  ein  technokratisches  Welt-  und  Menschenbild  zugrunde. 

1.  Es  ist  flinf  Minuten  vor  zwblf,  und  zwar  nicht  nur  fiir  einzelne 
Klassen  oder  Individuen,  sondern  fiir  die  gesamte  Menschheit. 

2.  Bei  produktiver  Anwendung  des  erreichten  technologischen  Niveaus 
ist  "Freiheit  von  ..."  und  damit  "Freiheit  zu  ..."  zum  ersten  Mai 
keine  wehmlitige  Utopie  mehr,  sondern  eine  reale  Chance  fiir  den  iiber- 
wiegenden  Teil  der  Menschen. 

Zu  1:  Die  Perfektionierung  des  materialistisch-industriellen  Sy- 
stems hat  zu  einem  Novum  gefuhrt.  Die  derzeit  aktuellsten  Bedrohun- 
qen,  zum  Beispiel  die  zunehmende  Lebensfeindlichkeit  unserer  Umwelt, 
die  Gefahr  einer  Auslbschung  der  Menschheit  durch  einen  thermonu- 
klearen  Krieg,  die  zunehmende  Entmenschung  und  Robotensierung  von 
Menschen  bedrohen  nicht  nur  mehr  -  wie  zu  Krisenzeiten  der  Vergan- 
qenheit  -  fast  ausschlie&lich  die  schwacheren  Individuen  und  Vol Iker, 
sondern  prinzipiell  uns  alle.  Privilegierte  Individuen  oder  Nationen 
(z  B    die  BRD)  kbnnen  sich  zwar  voraussichtl ich  noch  etwas  langer 
halten  und  vielleicht  auch  auf  subjektiv  weniger  unangenehme  Art  und 
Weise  kaputt  gehen.  Aber  bedroht  sind  wir  alle:  jedes  privilegierte 
Individuum  und  jede  privilegierte  Nation,  ob  wir  uns  dessen  nun 
schon  bewuBt  sind  oder  nicht. 

Damit  ist  zumindest  prinzipiell  eine  andere  Verlaufsform  der  Rnde- 
runq  gesellschaftlicher  Machtverhaltnisse  denkbar  als  fruher,  wo 
sich  die  Privilegierten  immer  mit  einiger  Sicherheit  darauf  verias- 
sen  konnten,  mit  heiler  Haut  davon  zu  kommen. 
Solidaritat  ist  deshalb  heute  fur  "Privilegierte"  nicht  mehr  eine 
unverbindliche  Leerformel ,  sondern  eine  Lebensnotwendigkeit. 

Zu  2-  Wir  machen  heute  die  Geburtswehen  einer  neuen  Mbglichkeit  der 
Organisation  des  menschlichen  Lebens  durch  -  mit  alien  Risiken.  Es 
ist  mbglich  geworden,  fiir  alle  eine  Befriedigung  ihrer  Grundbedurf- 
nisse  zu  garantieren,  wenn  wir  die  Technologie  fiir  uns  statt  gegen 
uns  arbeiten  lassen.  Darliberhinaus  gehen  wir  in  der  Free  Clime  da- 
von aus,  daB  Menschen  vor  a  11  em  deshalb  mehr  als  andere  wollen 
(Macht,  Besitz,  Ansehen)  und  brutal  darum  kampfen,  weil   sie  (be- 
wuBt oder  nicht)  Angst  haben,  anderenfalls  ohnmachtig,  arm  und  ab- 
gelehnt  zu  sein. 

Wenn  nun  auch  noch  durch  die  Automation  der  objektive  Zwang  zu  ent- 
fremdeter  Arbeit  und  entwUrdigender  Arbeit  hinfallig  wird  und  damn 
auch  das  sinnentleerte  Leistungsethos,  datin  haben  Menschen  die  echte 
Chance,  ihr  Leben  in  einer  Form  zu  erleben,  in  der  sie  nicht  mehr 
auf  die  Ersatzbefriedigung  immer  neuer  industrieller  gadgets  und 
Symbole  angewiesen  sind.  Dabei  gehen  wir  davon  aus,  daB  der  Mensch 


-  36 


ein  Wesen  ist,  das  Selbsterfullung.Kreativitat,  Warme  und  Solidari- 
tat sucht.  Und  daB  Homo  Faber  und  Homo  Ludens  sich  nicht  gegensei- 
tig  ausschlieBen. 

Ausgehend  von  diesen  beiden  Hypothesen  beharren  wir  auf  der  Reali- 
tat  der  historischen  Chance,  die  heutige  Auseinandersetzung  urn  un- 
sere Zukunft  anders  verlaufen  zu  lassen, als  das  in  der  Vergangen- 
heit  mbglich  war. 

Noch  einmal:  das  bedeutet  nicht,  naiv  zu  meinen,  "alternativ     zu 
leben"  reiche  schon,  und  alles  andere  wird  sich  von  selbst  ergeben. 
Wir  wissen,  daB  Privilegierte  (Individuen  wie  Nationen)  nicht  ohne 
Druck  ihre  Privilegien  aufgeben,  selbst  wenn  es  sich  dabei  offen- 
sichtlich  nur  um  Pseudoprivilegien  handelt  und  Alternativen  vorhan- 
den  sind  (wir  erleben  tagtaglich  an  uns  selbst,  wie  schwer  wir  uns 
tun,  Verhaltensweisen  aufzugeben,  von  denen  wir  genau  wissen,  v/ie 
zerstbrerisch  sie  fiir  uns  selbst  sind).  Wir  alle,  nicht  nur  die  Pri- 
vilegierten, haben  das  System  verinnerlicht. 

Die  notwendige  Auseinandersetzung  wird  aber  umso  weniger  destruktiv 
und  sadistisch  sein  mlissen,  je  mehr  es  gelingt,   bewuBt  zu  machen, 
daB  der  angestrebte  neue  Zustand  nicht  bedrohlich  zu  sein  braucht, 
sondern  eher  das  Gegenteil   ist.  Weiterhin:  daB  es  eine  Frage  des 
simplen  Oberlebens  ist,  auf  Zustande  hinzuarbeiten,  die  bisher  be- 
stenfalls  den  Inhalt  von  Traumen  darstellen  konnten. 

Eine  Funktion  von  Gegenmodellen  ist  es,  zu  dem  notwendigen  ProzeB 
des  Werte-Umwertens  erprobte  Ansatze  beizusteuern  und  in  die  gesell- 
schaftliche  Diskussion  einzubringen.  Sie  kbnnen  dazu  helfen.das 
dumpfe  Geflihl   zu  verhindern,  daB  man  den  Ast  absagt,  auf  dem  man 
sitzt.   Diese  Sorte  Angst  haben  -  bis  auf  die  "Verdammten  dieser 
Erde",  die  offensichtlich  nichts  mehr  zu  verlieren  haben  -  fast  alle 
Menschen  in  den  zivilisierten  Landern.   Das  ist  bei   vorurteilsloser 
Betrachtung  u.E.  eine  unleugbare  Tatsache  -  auch  wenn  grundsatzli- 
che  quantitative  Unterschiede  und  unterschiedliche  BewuBtseinsfor- 
men  bestehen. 

Wir  gehen  davon  aus,  daB  wir  mehrgleisig  Politik  machen  miissen  und 
daB  die  Gegnerschaft  zwischen  "politisch  Arbeitenden"  und  "alterna- 
tiv Arbeitenden"   -  die  in  der  BRD  mehr  als  in  anderen  westlichen 
La'ndern  besteht  -  iiberwunden  werden  muB.  Es  besteht  fiir  uns  kein 
Zweifel   daran,  daD  herkbmmliche  politische  Arbeit  (Veranderung  be- 
stehender  Machtverhaltnisse  durch  organisierten  Kampf)  weiterhin 
notwendig   ist.  DaB  aber  auch  dabei   nur  gewonnen  werden  kann,  wenn 
uber  der  Verbissenheit  des  Kampfes  der  urspriingl  iche  Traum,  die 
Basis  des  Kampfes,  nicht  verloren  gent,  wenn  auch  hier  die  Ka'mpfen- 
den  sich  Liber  ihre  eigene  Motivation  (und  nicht  nur  die  derjenigen, 
fiir  die  sie  zu  kampfen  vorgeben)  klarwerden,  wenn  sie  erkennen,  daB 
es  nicht  um  den  triumphierenden  Sieg,  sondern  um  die  Veranderung 
selbst  geht.  Die  Trennung  zwischen  "politischer"  und  "alternativer" 
Arbeit  kann  immer  nur  tendenziell   sein  und  muB  nach  und  nach  ver- 
schwinden.  Jeder  Ansatz  benbtigt  den  anderen.   Erfahrungen  und  Resul- 
tate  des  einen  werden  direkt  oder  indirekt  den  anderen  beeinflussen. 
Gegenmodelle  treffen  ein  System,  das  sein  statisches  Welt-  und 
Menschenbild  nach  folgendem  argumentativem  ZirkelschluB  verteidigt: 
Die  Dinge  sind  nun  einmal   so  wie  sie  sind  und  deshalb  ist  es  muBig 

-  37  - 


zu  versuchen,  sie  zu  verandern.  Gegenmodelle  leisten  Arbeit  zur  ex- 
perimentellen  Oberwindung  des  gesellschaftl ichen  Oberbaus  und  brin- 
gen  damit  ein  kulturrevolutiona'res  Element  in  die  politische  Aus- 
einandersetzung.  Selbst  wenn  die  Ergebnisse  dieser  Arbeit  vora  Sy- 
stem assimiliert  werden,  verandern  sie  es; 

-  sie  kbnnen  durch  Ausbreitung  (dies  jedoch  nur  rait  Unterstutzung 
durch  "konventionelle"  politische  Krafte)  zu  einem  direkten  gesell- 
schaftlichen  Hachtfaktor  werden; 

-  sie  bieten  eine  Chance,  daB  Machtauseinandersetzungen  produktiver 
verlaufen  und  geben  damit  einfach  mehr  Mut  fur  den  politischen 
Kampf. 

Am  berUhmten  Tag  X  der  Veranderung  der  gesellschaftlichen  Machtver- 
haltnisse  wird  der  neue  Mensch  nicht  von  einem  Moment  zum  anderen 
aus  dem  Boden  gestampft  werden  kbnnen,  selbst  wenn  die  gesellschaft- 
lichen Voraussetzungen  dafur  geschaffen  wurden.  Ob  Revolutionar 
oder  nicht:  wir  alle  haben  -  wenn  auch  in  unterschiedlichem  MaBe  - 
das  Wertsystem  der  kapitalistisch-technokratischen  Welt  verinner- 
licht.   Wenn  nicht  schon  Strukturen  und  Erfahrungen  bestehen,  auf 
die  man  zuriickgreifen  kann,  um  sie  dann  weiterzuentwickeln,  ist 
die  Gefahr  groB,  daB  sich  zwar  die  Machtverhaltnisse  geandert  haben, 
aber  das  System  der  Lebensfeindlichkeit  weiterbesteht.   Alternativ- 
modelle  sind  heute  ein  Weg,  um  zu  erreichen,  daB  der  Sieg  morgen 
nicht  nur  ein  Pseudosieg  wird. 

Gegenmodelle  kbnnen  sich  auf  alien  Gebieten  bilden,  wo  eine  Ausein- 
andersetzung  mit  Werten  unserer  Gesellschaft  moglich  ist,  also  qua- 
si  in  alien  Lebensbereichen  (die  Perversion  unserer  Welt  zeigt  sich 
nicht  so  sehr  in  den  groBen,  dramatischen  Ereignissen,  sondern  in 
der  Folge  der  tagl ichen  Begebenheiten). 

Ansatze  bieten  sich  vor  allem  dort  an,  wo  das  System  schon  jetzt 
den  offenen  Bankrott  erkla'ren  muBte,  bzw.  diese  Tatsache  nur  muhsam 
verschleiern  kann.  Oder  aber  in  Nischen,   in  die  sich  das  System 
nicht  hineinwagt  bzw.   zumindest  vorubergehend  aufgibt. 

Was  diese  Experimente  inhaltlich  einigt,  ist  zuerst  einmal  die  radi- 
kale  Ablehnung  der  Gesamtheit  des  Bestehenden.   Dariiberhinaus  muB 
im  qegenwartigen  Zeitpunkt  ein  weitgehender  Plural ismus  legitim 
sein:   unter  der  Voraussetzung,  daB  Ergebnisse  und  Erfahrungen  ausge- 
tauscht  und  uberprlift  werden  konnen, und  flexibel  notwendige  Rnderun- 
gen  vollzogen  werden  kbnnen, und  daB  eine  Zusammenarbeit  mit  alien 
fur  eine  Veranderung  des  status  quo  arbeitenden  Kraften  besteht. 
Ohne  diese  Zusammenarbeit  kommt  es  zu  einer  trUgenschen  Idylle. 


38 


Michael  Honig: 

"MAN  KANN  NICHT  MIT  ALLEN  METHODEN  UM  EMANZIPATION  KAMPFEN!' 
_  EIN  INTERVIEW  MIT  CHUCK  UND  WERNER  VON  DER  HEIDELBERG 
FREE  CLINIC  AM  7.  MARZ  1976  - 


Chuck:  Eine  wichtige  Sache,  die  wir  in  den  Konflikten  mit  der  Stadt 
gelernt  haben,  war,  daB  ein  unheimlicher  interner  ProzeB  in  der 
Gruppe  nbtig  ist,  um  den  Konflikt  nach  auBen  ausfechten  und  durch- 
stehen  zu  kbnnen.  Unsere  Taktik  nach  auSen  und  unsere  Taktik  nach 
innen  hin  haben  sich  sehr  stark  beeinfluBt,  das  heiBt:  wie  wir  mit- 
einander  umgingen  und  wie  Entscheidungsprozesse  zustande  gekommen 
sind. 

Werner:  Ein  gutes  Beispiel  ist  unser  Erster  Offener  Brief. 

Chuck:  Ich  hatte  den  Brief  zuerst  al  1  ein  geschrieben.  Der  wurde  dann 
angegriffen  -  ich  wurde  da  echt  zur  Schnecke  gemacht;  zum  ersten 
Mai.  Mir  war  das  irgendwie  peinlich,  denn  ich  zieh'  so  Sachen  gerne 
allein  durch.  Und  da  haben  wir  uns  dreimal  getroffen,  um  den  Brief 
zu  ku'rzen,  grammatikalisch  und  stilma'Big  zu  bearbeiten  und  am  SchluB 
muBte  ich  zugeben:  der  war  jetzt  echt  besser  geworden,  als  wenn  ich 
das  allein  gemacht  hatte.  Klarer,  konsequenter  in  der  Aussage.  Das 
war  sehr  wichtig,  auch  fur  mich. 

Werner:  Chuck  meinte,  jetzt  sei  es  Zeit,  aktiv- zu  werden.  Wir  miiBten 
das  jetzt  machen  (den  offenen  Brief),  mu'Bten  Unterstutzung  kriegen, 
Offentlichkeit.  Die  andere  Sache  war  aber,  daB  wir  nicht  provokativ 
werden  wollten. 

Chuck:  Das  wichtigste  war  die  Idee:  In  der  Sache  fest  bleiben,  auch 
mit  dem  Risiko  des  Scheiterns,  aber  nicht  zu  eskalieren;  d.h.  meine 
Interessen  zu  vertreten  und  darauf  zu  bestehen,  aber  mich  nicht  auf 
ein  Spiel  einlassen,  bei  dem  es  darum  geht  zu  gewinnen.  Ker  gewinnt? 
Wer  triumphiert? 

Werner:  Dabei  bin  ich  mir  aber  nie  so  ganz  sicher,  ob  das  nicht 
doch  irgendwo  ein  Machtspiel  bleibt. 

Chuck:  Mir  ist  aber  wichtig,  daB  das  bewuBt  bleibt.  In  diesem  Sinne 
bin  ich  auf  die  letzte  Presseerklarung  sauer.  Ich  bin  da  auf  Dich 
sauer  und  ich  bin  auf  mich  sauer.  Du  hast  gesagt:  "Jetzt  reicht's, 
wir  haben  soviel  geschluckt,  jetzt  zeigen  wir  auch  mal..."- 

Werner:  Es  ging  nicht  urns  Gewinnen  allein. 

rhuck-  Urns  Gesicht  wahren,  uns  selbst  gegenuber.  De  facto  haben  wir 
Hamit'mehr  den  Schwanz  eingezogen,  als  wenn  wir  sie  in  dieser  Form 
nicht  geschrieben  und  verbffentl icht  hatten.  Es  war  eine  Handlung, 
die  der  Taktik  widersprach,  nicht  zu  provozieren,  nicht  ein  Macht- 
spiel daraus  zu  machen. 

-  39  - 


Michael:  Was  kann  man  damit  erreichen?  Wijrdet  I  hr  sagen,  da.G  alle 
politischen  Auseinandersetzungen  nach  dem  Muster  von  Machtspi.elen 
begriffen  und  gehandhabt  werden  konnen? 

Chuck:  Bisher  war  das  al lermeistens  der  Fall.  Um  zu  verhindern,  daB 
ein  Systemwechsel  nicht  eine  Neuauflage  der  alten  Machtverhaltnisse 
bedeutet,  muB  der  Stil  der  Auseinandersetzungen  jetzt  anders  werden. 

Werner:  Woran  wir  uns  in  dieser  Auseinandersetzung  irgendwie  orien- 
tiert  haben,  war  Wyhl .  Das  war  fur  uns  ein  Vorbild.  Man  hat  immer 
versucht,  uns  in  eine  bestimmte  Ecke  abzudrangen:  "Ihr  treibt  ab", 
Oder  so  Unterstellungen;  mir  haben  sie  vorgeworfen:  "Du  hast  im^ 
SPAK-Konstanz  mitgearbeitet,  und  das  ist  eine  ganz  linke  Arbeit" 
usw.  Das  haben  wir  versucht  aufzufangen  und  da  ganz  ruhig  drauf  ein- 
zugehen,  bzw.  die  Absurditat  der  "Anschuldigungen"  aufzudecken. 

Michael:  Was  der  O.B.  Zudel  eigentlich  fur  Interessen  in  dem  Kon- 
flikt? 

Chuck:  Die  unterschiedlichsten,  nur  richtig  weiB  das  keiner.  Zum 
Beispiel  das  Oberschulamt  (CDU)  hatte  ihm  montert,  daB  wir  Atteste 
ausschreiben,  mit  denen  wir  "praktisch  die  Subversion  an  den  Schu- 
len  betreiben".  Wir  hatten  da  mal  ein  Attest  fur  'nen  Schuler  ge- 
macht,  der  -  ich  kann  mich  erinnern  -  so  reingekommen  ist  und  ge- 
sagt  hat,  er  halt's  nicht  mehr  aus  mit  seinem  Turnlehrer,  er  hat 
Angst,  vom  Reck  zu  fallen  oder  vom  Barren  und  sich  war  zu  brechen 
und  so,  und  er  halt  das  nicht  mehr  aus.  Ob  wir  ihm  das  nicht  atte- 
stieren  kbnnten,  daB  er  nicht  mehr  in  den  Turnunterricht  gehen  kann. 
Und  wir,  naiv  wie  wir  eben  sind,  haben  das  genauso  reingeschrieben. 
Die  Schule  hat  ans  Oberschulamt  geschrieben,  das  Oberschulamt  an 
den  0  B  Zundel ,  -  da  kommt  die  spezifische  Heidelberger  kommunal- 
politische  Szene  mit  ins  Spiel  -  O.B.-Wahlen,  Mehrheitsverhaltnisse, 
sozio-bkonomische  Struktur  -  und  man  darf  nicht  vergessen,  daB  das 
qanze  sich  in  einer  Zeit  der  allgemeinen  gesel lschaftl ichen  Restau- 
rierung  abspielte.  Die  andere  Sache  ist  die  ganze  Heidelberger  Ver- 
qangenheit,  die  da  hochkommt.  Also  die  Frauengruppe,  die  in  Heidel- 
berg so  mit  Hauserbesetzungen  und  so  -  das  ruft  so  bestimmte  Asso- 
ziationen  wach.  Die  ist  dann  plbtzlich  bei  uns  mit  dabei.  Daruber 
hinaus  noch  ein  weiterer  Grund,  den  wir  vermuten:  Im  Zuge  der  soge- 
nannten  Altstadt-"Sanierung"  soil,  wie  wir  geruchteweise  gehbrt  ha- 
ben, das  Haus,  in  dem  sich  die  Free  Clinic  befindet,  z.T.  abgeris- 
sen  werden.  Wenn  das  so  ware, und  die  Free  Clinic  dann  noch  best'u'nde, 
mUBte  die  Stadt  ihr  Ersatzrauml ichkeiten  verschaffen  und  das  durf- 
te  ziemlich  schwierig  sein,  weil  es  unseres  Wissens  nach  in  Heidel- 
berg kein  vergleichbares  Gebaude  mehr  gibt,  auBerdem  ware  es  so 
teuer  und  politisch  unbequem.  Also  liegt  der  Gedanke  nah,  -daB  man 
uns  schon  bevor  es  soweit  ist  entweder  zur  Aufgabe  treiben  will 
oder  uns  auf  eine  andere  Weise  das  Wasser  abzugraben  versucht  - 
dann  stunde  halt  das  Haus  einige  Zeit  leer  und  kbnnte  dann  in  Ruhe 
abgerissen  werden.  Also  der  Konflikt  nur  als  unauffalliger  Zug  in 
einer  langerfristigen  Planung?  Und  wir  "konkurrieren"  dann  mit  an- 
deren  Institutionen  der  Jugendarbeit,  vertreiben  ne  "Massenideolo- 
gie"  mit  Encounter-gruppen  und  was  weiB  ich  noch,  und  das  wird  ge- 
fahrlich,  da  lugt  dann  das  Gespenst  des  SPK  um  die  Ecke,  und  damit 
entsteht  von  vornherein  ein  feindlich  aufgeheiztes  Klima  in  der  Of- 
fentlichkeit. 

-  4o  - 


Michael:    Und   O.B..   Zundel  s    Konzept   war   jetzt,    Euch   auf   das    Erbe     von 
Release  festzulegen   und   Euch   so  vom  Kern   Eurer  Arbeit,   was    ihr 
Arbeit  mit  gefahrdeten  Jugendl ichen  nennt,   abzuschneiden. 

Chuck:   Damit  betreibt  er  eine  Politik,  die  derzeit  Liberal  1   in  der 
Sozialarbeit  betrieben  wird:  Ghettoisierung.  D.h.,  daB  hier  in  der 
Free  Clinic  nur  noch  eine  bestimmte  Art  von  Menschen  sein  darf,  sich 
aufhalten  kann,  abgeschlossen  von  der  Beriihrung  mit  anderen.  Das 
kann  man  ja  auch  in  seinem  Brief  gut  nachlesen:   Da  kam  dann  das  Ar- 
gument, "normale",   "nur"  vernal tensgestorte  Jugendliche  wiirden 
durch  die  Gegenwart  von  Konsumenten  illegaler  Drogen  "verfuhrt"  - 
einfach  absurd.   Bei  uns  -  solche  Sache  wurde  in  der  Diskussion  wirk- 
lich  aufgebracht,  man  hbre  und  staune  -  sei  es  ja  so  sauber  und  es 
herrsche  eine  so  angenehme  Atmosphare  (im  Klartext:  eigentlich  viel 
zu  gut  flir  unsere  "eigentl  ichen"  Klientel,  die  "Drogen"leute  - 
also  sei  das  suspekt) 

Michael:    Dabei    kommt   er  doch    in  die   Klemme,    weil    ihr   nach  Richtlinien 
gefordert  werdet,   wo  von   Prophylaxe  und   so  die  Rede   ist,    ihr   seid 
auch  als   Jugendberatungsstel le  anerkannt.   Was  der   O.B.    in  dem  Miet- 
vertrag  mit  euch  nicht  anerkennen  will. 

Chuck:  Der  O.B.  versuchte,  sich  zuerst  als  oberste  wissenschaftli- 
che  Autoritat  auf  unserem  Arbeitsgebiet  -  wo  er  keine  Ahnung  hat  - 
zu  prasentieren  und  von  dieser  Haltung  muBte  er  eben  runter. 

Werner:   Das  Timing  der  ganzen  Sache  war  aber,  das  muB  man  auch  se- 
hen,   sehr  gunstig  fur  uns.   Der  offene  Brief  kam  gerade  raus,  als 
wir  erfuhren:  Frau  Focke  (Bundesminister  fur  Familie,  Jugend  und 
Gesundheit)   kommt  nach  Heidelberg,  um  sich  Projekte  anzuschauen, 
die  von  ihrem  Ministerium  gefordert  werden.   Zu  derselben  Zeit, 
aber  unabhangig  voneinander,  fing  auch  der  Konflikt  an.  Das  war 
auch  ein  wichtiger  Punkt:   Ebermann  (Drogenbeauftragter  des  Landes 
Baden-Wurttemberg.in  Heidelberg  lebend,  und  vom  O.B.   gerne  als 
hbchste  Autoritat  angeflihrt)   kam  hierhier,  mit  der  Focke.   Die  Focke 
blieb  1  anger  als  geplant,  die  blieb  nicht  nur  eine  viertel-  sondern 
eine  dreiviertel   Stunde  und  trank  auch  ihren  Tee,  obwohl   sie  anfang- 
lich  keinen  trinken  wollte  und  flihlte  sich  dann  hinterher  unheim- 
lich  wohl   und  war  angetbrnt  von    unserer  "Atmosphare". 

Chuck:   Sie  kam  mit  nem  unheiml ichen  Ballast  beladen  bei  uns  rein, 
denn  ihr  Besuch,  funfter  in  Heidelberg  an  diesem  Tag,   hatte  nen  ner- 
venaufreibenden  Hintergrund:  Anklindigung  ihres  Besuches  durch  die 
Heidelberger  SPD,  "Ausladung"  durch  Zundel,  Absage  durch  ihren  per- 
sonl ichen  Referenten,   Krach  in  der  Heidelberger  SPD,  die  deshalb 
beinahe  auseinanderkrachte,  nach  vielen  hin  und  her  stellte  sich  die 
SPD  dann  geschlossen  hinter  uns  und  gegen  ihren  Parteigenossen 
Zundel,  Druck  von  der  SPD  auf  Frau  Focke  -  Telefonate,  Brief,  Ce- 
spriiche,  Hektik,  GerUchte  -  na  ja,  das  war  der  Hintergrund,  mit  dem 
heladen  sie  bei  uns  ankam.  Und  am  SchluB  ging  sie  dann  ganz  relaxed 
raus.   Unten  im  GroBen  Raum,  wo  wir  miteinander  redeten,   ist  noch 
Her  Luftballon  vom  Jan  (dem  2jahrigen  Kind  eines  Mitarbeiters)  ge- 
nlatzt,  und  der  Sicherheitsbeamte  ist  zusammengezuckt.  Nicht  nur 
der  Sicherheitsbeamte  librigens,  wir  alle  waren  fur  einen  Moment  auf- 
qeschreckt,  weil  wir  nicht  wuBten,  was  los  war,  der  Raum  war  auch 

-  41  - 


so  proppevoll  mit  Leuten;  diese  sich  so  "knallartig"  auflbsende 
Spannung  hat  auch  mit  dazu  beigetragen,  da6  die  allgemein  unheim- 
lich  gespannte  Atmospha're  sich  lockerte. 

Werner:  Das  war  schon  zimlich  nervend.  Nun  merkte  sie  aber  auch, 
daB  die  Ra'ume  nicht  so  waren,  wie  man  ihr  das  erza'hlt  hatte.  Die 
Atmospha're  in  dem  Therapieraum  ist  aber  auch  echt  gut! 

Chuck:  Und  wir  haben,  auch  wenn  wir  uns  intern  darUber  nicht  so 
klar  sind,  eine  gewisse  Ausstrahlung  als  Gruppe.  Und  das  Haus  (das 
wir  dazu  gemacht  haben,  was  es  jetzt  ist  -  am  Anfang  war  das  nur 
ne  alte,  vbllig  abgefuckte  Fabrik)  auch,  sowas  wirkt  eben  schon. 
Und  davon  gehe  ich  bei  der  Strategie  aus,  daS  unsre  Gegenllber  auch 
Menschen  sind  und  auf  sowas  reagieren. 

Werner:  Zundel   hatte  doch  versucht,  sie  auszuladen.  Als  das  dann 
doch  nicht  lief,  wurde  sie  vor"informiert",  wir  wUrden  hier  "expan- 
dieren"  und  Arbeit  machen,  die  mit  der  Fbrderungsgrundlage  durch 
ihr  Ministerium  nichts  mehr  zu  tun  hatte.  Da  haben  wir  das  eben 
erkla'rt:  Wir  haben  hier  nicht  ausgeweitet,  wir  haben  unsere  Ta'tig- 
keit  differenziert.  Das  hat  ihr  echt  geholfen,  nicht  nur,  sich  gut 
zu  fu'hlen,  sondern  auch  inhaltlich  zu  akzeptieren,  was  wir  hier  ma- 
chen. Das  hat  die  Wendung  gebracht:  sie  hat  selbst  gesagt  -  klar, 
Differenzierung,  die  ist  nbtig  und  die  machen  das  hier! 


Focke  nun  auch  eine  echte  Argumentations- 


Werner:  Ich  habe  selten  einen  Politiker  gesehen,  der  so  eindeutig 
Stellung  genommen  hat  fUr  ein  Projekt.  Auch  jetzt  wieder,  nachdem 
sie  diese  Dokumentation  gekriegt  hat  ("Wir  sind  zur  Diskussion  be- 
reit!",  Dokumentation  zur  Auseinandersetzung  zwischen  der  Heidel- 
berg Free  Clinic  und  dem  Heidelberger  O.B.  Zundel  urn  einen  Mietver- 
trag  fur  die  Free  Clinic),  einen  persbnlichen  Brief  schreibt  und 
den  Besuch  von  ihren  relevanten  Mitarbeitern  angekundigt  hat  und 
ganz  eindeutig  versucht,  diese  Sache  durchzukriegen. 

Chuck:  Ja,  das  hat  mien  auch  sehr  gewundert  und  beeindruckt. 

Werner:  Natiirlich  hat  sie  daflir  auch  andere  Grlinde  und  es  ware  naiv 
anzunehmen,  ihr  ganzes  Engagement  sei  nur  dadurch  gekommen,  daB  es 

ihr  bei  uns  so  gut  gef iel .  Aber  immerhin Was  uns  auch  besta'tigte: 

der  zusta'ndige  Sachbearbeiter  der  Landesregierung  sagte  uns: 

er  fa'nde  es  unheimlich  gut,  wie  er  hier  Informationen  erhalt,  die 

sachlich  und  umfassend  sind. 

Michael:  Mich  erstaunt  das  unheimlich,  daB  solche  Leute  das  tlber- 
haupt   zugeben. 

Chuck:  Das  ist  was,  wo  fur  mich  ne  Grundsatzsache  reinkommt:  Die 
Weise,  wie  ich  mich  schildere;  zum  einen  gehe  ich  da  nicht  naiv- 
optimistisch  ran  und  plaudere  liber  meine  "privatesten"  Phantasien. 


Aber  ich  gehe  davon  aus,  daB,  wenn  mein  Gegenllber  nicht  ein  vbllig 
verknbeherter  Typ  ist,  es  immer  noch  in  ihm  drinsteckt,  daB  er  ir- 
gendwann  mal  angefangen  hat  als  ein  Typ,  der  Tra'ume  hatte.  Ich  muB 
aber  vorsichtig  sein,  inwieweit  ich  mich  drauf  verlasse.  Also 
nicht  naiv,  so:  alle  Menschen  sind  Brlider,  aber  auch  nicht  das  Ge- 
flihl    vermitteln,   ich  nab  a'ngstlich  was  zu  verbergen. 

Michael:    Du   nimmst    ihn  ernst.    Du   gehst  nicht  auf    I hn   zu  als  auf  die 
Marionette  des    Kapltals. 

Werner:   Er  ist  schon  ein  Buhmann.  Aber  er  ist  nicht  der  Buhmann, 
als  der  er  immer  hingestellt  wird,  der  liberhaupt  nicht  mehr  Mensch 
ist.   Der  nur  noch  ne  Puppe  ist,  die  zu  tanzen  hat,  ne  Marionette. 

Chuck:  Bei  Zundel   ist  das  fur  mich  schwerer,  er  ist  flir  mich  so  ne 
Art  "Angstgegner"   -  da  laufen  bei  mir  ne  ganze  Menge  persbnlicher 
Filme  und  Unsicherheiten.   Ich  fuhl '  mich  da  schlecht  in  der  Weise, 
daC  ich  irgendwie  manchmal  nicht  mehr  weiB,  was  eigentlich  mein 
Ziel  war,  daB  ich  mich  total  eingeschleimt  flihle,  daB  ich  mir  wah- 
rend  der  Verhandlung  das  Gesetz  des  Handelns  und  auch  des  Denkens 
vorschreiben  lasse.   Bei  dem  kann  ich  nichts  mehr  machen  mit  "offen" 
Oder  "menschlich".  Es  ist  aber  jetzt  besser  als  frliher,   ich  komm' 
mir  nicht  mehr  so  ohnmachtig  vor. 

Werner:  Es  war  sehr  wichtig,  dap  wir  uns  grlindlichst  vorbereitet  ha- 
ben auf  das  erste  la'ngere  Gesprach  mit  dem  O.B.  Wir  sind  mit  vier 
Leuten  hingegangen.und  wir  haben  echt  die  Situation  durchgespielt 
mit  alien  Argumenten,  vor  und  riickwarts. 

Chuck:  Und  ich  habe  die  Situation  und  meine  Art  zu  reagieren  psy- 
chodramatisch  durchgespielt  und  Handlungsalternativen  erprobt. 

Werner:  Und  wir  haben  eine  bestimmte  Sitzordnung  gehabt  in  der 
Sitzung.   Es  gab  bestimmte  Taktiken,  wie  wir  uns  gegenseitig  unter- 
stutzten  und  uns  auch  auf  Fehler  hinwiesen.  Das  ist  wirklich  so  ge- 
laufen,  wir  haben  das  echt  so  gemacht.  Und  es  war  sehr  wichtig. 

Chuck:  Fur  mich  ist  es  sehr  wichtig, vor  so  ner  Sache  genau  zu  chek- 
ken:  was  will   ich  wirklich  erreichen?  Und  mich  dann  nicht  ins 
Schleimen  bringen  lasse. 

Werner:  Ja,  das  haben  wir  auch  ziemlich  deutlich  rausgebracht, 'das 
war  eine  echt  wichtige  Sache  fur  uns. 

Chuck:   Ich  habe  die  Situation  vorher  durchgespielt  mit  Transaktions- 
analyse.   Daran  ist  fur  mich  nichts  Lacherliches.  Was  fur  mich  nam- 
lich  in  der  ganzen  Auseinandersetzung  sehr  stark  reinkam  ist  mein 
"Skript".  Bei  mir  besteht  das  in  diesem  Fall  darin,  daB    ich  auf 
einen  bestimmten  Punkt  hinsteuere,  wo  ich  scheitere  und  dann  selbst- 
aerecht  sagen  kann:  "Seht  ihr,  ihr  seid  bbse,  ihr  seid  schuld,  daB 
die  Free  Clinic  kaputt  geht"!   DaB  ich  in  ner  Verhandlung,  ganz  egal 
wie  die  sachliche  Lage  aussieht,  auch  irgendwie  auf  so  ne  Situation 
zusteuere,  unbewuBt  die  Weichen  stellen  helfe  fur  ein  Ergebnis,  das 
dann  dieses  selbstgerechte  Scheitern  bedeutet. 


43 


Werner:   Ich  seh  darin  Ubrigens  kein  Verkaufen  unserer  Position.   Es 
ist  eine  Form,  unsere  Position  zu  vertreten,  die  uns  nichts  nimmt 
von  uns  selbst. 

Chuck:   Has  ist  mein  Ziel?  Hit  nem  Verbalradikal ismus  komme  ich  nicht 
weiter.  Das  bringt  mir  nichts,  das  bringt  mir  vielleicht  das  GefLihl, 
daB  ich  nicht  nachgegeben  habe,  aber  dabei  wild  um  mich  gestrampelt 
habe  und  am  SchluB  unterliege  ich  und  habe  das  GefLihl :  Das  bringt 
ja  doch  alles  nichts,  so  ungefahr. 

Michael:    In   der   Niederlage   resignierst   Du,    oder   Du   kommt   ganz   groG 
raus. 

Chuck:  Ja,  selbstgerecht. 

Michael:    Die  anderen  sind   schuld,   die  Marionetten  des   Kapitals  oder 
sonst   was  Objektives.    Du    bist   es  nicht  gewesen. 

Chuck:  Selbstgerechtigkeit  ist  etwas  Gefahrl  iches.   Sie  ftlhrt  na'mlich 
nicht  nur  zu  keiner  Vera'nderung,  sondern  ist  auch  eine  Sache,  an 
die  man  sich  klamniert,  auch  wenn's  noch  so  destruktiv  ist. 

Werner:   Ich  habe  in  der  Auseinandersetzung  nicht  an  SelbstbewuBt- 
sein  verloren.  Das   ist  fur  mich  wichtig.   Ich  wollte  zwar  in  der 
Auseinandersetzung  offensiver  sein,  teilweise  habe  ich  doch  das  Ge- 
fLihl gehabt,  wir  reagieren  zuviel.  Das  war  schon  meine  Angst  dabei. 

Chuck:  Wir  konnten  das  noch  nicht  aufarbeiten.  Aber  die  Arbeit  la'uft 
doch  ganz  anders  weiter  als  vorher,  und  es  war  fur  alle,  die  neu 
dabei   sind,  eine  unheimlich  wichtige  Erfahrung.   Es  war  fur  viele 
das  erste  Mai,  wo  sie  sich  klar  wurden,  wo  sie  uberhaupt  sind.   DaB 
das  unsere  gemeinsame  Sache  ist  hier,   keine  Institution,  die  von  al- 
leine  weiterla'uft.   Aber  jetzt  haben  wir  den  Vertrag  endlich,  seit 
Anfang  letzter  Woche.  Jetzt  geht's  um  die  Auslegung.  Und  da  mu'ssen 
wir  uns  genau  uberlegen,  wie  wir  da  die  Auseinandersetzung  fUhren. 

Michael:    Im  Grunde   habt    i hr   ein     unheiml iches  Schwein.    Ihr   habt 
die  Focke  auf   Eurer   Seite,    die   CDU-Landesreg ierung  gibt   Euch  Geld, 
ihr  habt  den   Drogenbeauf tragten   tiberzeugt,    ihr   habt   eine  durchweg 
sehr   positive   Resonanz    in  der    Fachpresse  und   eine  gute  Tages-   und 
wochenpresse.    Ich  denke  jetzt  an  die  vielen   kleinen,    nicht   so  pro- 
minenten    soz ialpadagogischen   Modelle,    die  dieselben  admini st rat  I  - 
ven,    politischen   und   finanziellen   Widerstande   zu   uberwinden    haben. 
Was   konnen  die  von   Euch   lernen7 

Werner:  Sie  konnen  auf  jeden  Fall  mehr  mit  Offentl ichkeitsarbeit 
machen,  auch  wenn  das  die  Gefahr  des  Sich-Verkaufens  und  der  Public- 
Relations    um  ihrer  selbst  willen  in  sich  birgt.  Das  ist  na'mlich 
der  groBe  TrugschluB,  daB  sie's  nicht  konnen.  Wir  haben's  im  Jugend- 
wohnkollektiv  in  Konstanz,  wo  ich  gearbeitet  habe,  a'hnlich  gemacht. 
Wir  hatten  einen  groBen  Artikel   in  der  Brigitte,  zwar  kein  Fernse- 
hen,  aber  mehrmals  Rundfunk,  die  Zeitung  usw. 

Chuck:  Du  darfst  Medienarbeit  in  der  bilrgerlichen  Presse  nicht  nur 


44  - 


dem  Gegner  uberlassen.  Berichtet  wird  mit  Sicherheit.  Nur  ist  die 
Frage:  wie?  Es  ist  natiirlich  auch  die  Frage,  wo  hb'rt's  auf.  Also 
mit  Bayernkurier  oder  der  Welt,  da  war  nichts  drin.   Der  Stern  ist 
schon  die  Grenze. 

Werner:   Ich  fand  es  wirklich  phenomena 1 ,  daB  wir  noch  in  der  Kon- 
fliktphase  es  geschafft  haben,  Presse-Adressen  zu  sammeln  und  die 
Leute  zu  verstandigen,  was  da  la'uft.  Das  heiBt,  gleich  am  Anfang 
haben  wir  die  wichtigsten  Adressen  rausgesucht  usw.  Wir  haben  alle 
unsere  alten  Kontakte  aufgefrischt.  Und  es  gibt  geniigend  Leute 
beim  Fernsehen  oder  anderswo,  die  daruber  gern  berichten. 

Michael:    Das    hort    sich  jetzt   so  an,    als   wenn  ne  gute  Medienarbeit 
wichtiger   ware  als   ne  politische  SolidaritSt. 

Chuck:  Bis  zu  nem  bestimmten  Grad  wu'rde  ich  das  sagen.   In  nem  be- 
stimmten  Stadium  von  ner  Auseinandersetzung:  ja.   Wobei   ich  nicht 
finde,  daB  das  eine  das  andere  ausschlieBt.  Aber  sich  nur  darauf  zu 
verlassen,  auf  der  linken  Szene  irgendwie  eine  Solidarita't  zustan- 
dezukriegen  und  die  Medienarbeit  in  der  biirgerlichen  Presse  usw. 
daruber  zu  vernachla'ssigen,   ist  einfach  ineffektiv  und  meines  Er- 
achtens  Ausdruck  eines  "Verl iererspiels".  Das  eine  darf  das  andere 
nicht  ausschlieBen. 

Werner:  Fur  uns  war  zum  Beispiel  die  Frage:   sollen  wir  auf  die  SPD- 
Wahlveranstaltung  kommen,  als  die  Podiumsdiskussion  mit  der  Focke 
war,  zu  der  wir  eingeladen  waren,  sollen  wir  dahin  gehen?  Da  hieB 
es:  wir  sollten  das  nicht  machen,  well i  also  SPD,das  ist  ein  reak- 
tionarer  Haufen.  Und  da  kam  ganz  klar  die  Ru'ckfrage:  ja,  mit  wem 
konnen  wir  uns  uberhaupt  solidarisieren.  Sag  mir,  wo  die  Linke  so 
stark  ist? 

Chuck:  ...wo  sie  nicht  einfach  eine  Gemeinschaft  von  Verlierern 
ist,  die  sich  halt  trotzig  zuruckzieht  und  so'nen  verzweifel ten 
Endkampf  macht,  aber  im  Grunde  nichts  andern  kann. 

Werner:   Unsere  Politik  ist  nicht  der  Weg  durch  die  Institutionen, 
aber  der  Weg  durch  andere  biirgerliche  Instanzen,  die  Medien  zum 
Beispiel. 

Chuck:   Dabei    ist  aber  eine  Sache  wichtig:  DaB  wir  mit  massiven  Wi- 
dersta'nden  in  uns  selbst  und  bei  unseren  "eigenen"  Leuten  rechnen 
mu'ssen.   Was  uns  unheimlich  genervt  hat,  war  von  auBen  angeschossen 
zu  werden:   Ihr  KompromiBler!  Das  hat  mich  sehr  getroffen.  Unsere 
Taktik  setzte  auch  voraus,  daB  wir  uns  immer  wieder  in  dem  was  wir 
erreichen  wollten,  in  unserem     Ziel,   in  Frage  stellten,  kritisch 
unter  die  Lupe  nahmen,  um  uns  dann  aufs  Neue  zu  bestatigen  darin, 
d  h.  auch,  Weg  und  Ziel  immer  wieder  zueinander  in  Relation  setzen. 
Sonst  kommt  irgendwann  mal  der  Punkt,  wo  man  meint,  jetzt  mllsse  mans 
aber  mal  "zeigen",  weil  man  genug  "geschluckt"  habe  und  mit  so  einem 
"Zeigen"  -  aus  dem  Motiv  des  gedemu'tigten  Stolzes  heraus  -  landet 
man  m.E.   eben  meistens  auf  dem  Bauch. 

Wie  lange  halt  man  so  ne  Taktik  durch,  wann  ist  das  Ma3  vol  I,  das 
man  gerade  noch  ertragen  kann  -  als  ein  "ehrlicher"  Mensch,  der  em 
Ruckgrat  hat, das  nicht  aus  Gummi   ist?F'u'r  die  "Psyche"  ist  eine 

-  45  - 


solche  Taktik  viel    schwieriger  als  eine  konfrontative  Haltung  iiti 
klassischen  Sinn  und  sie  erfordert  eine  neue  Art  von  "Mut". 
Da  kommt  ftir  mich  so  etwas  rein  wie  ein  ProzeB  der  "Umwertung  der 
Werte".    Und  dabei  muB  ich  mir  imraer  wieder  die  Frage  stellen,  was 
will   ich  wirklich,  was  erhebe  ich  zum  Symbol  des  "Erfolges".  Und 
da  muB  ich  mich  immer  gegen  das  durchsetzen,  v/as  mir  in  meiner 
Sozialisation  als  "Erfolg"  eingetrichtert  worden  ist  bis  zur  total 
verinnerlichten,  nicht  mehr  hinterfragten  Selbstversta'ndl  ichkeit  - 
auch  wenn's  noch  so  beknackt  und  widerspriichl  ich  ist. 

Werner:  Auch  wenn  wir  den  Konflikt  verloren  ha'tten,  so  gab's  doch 
da  ein  Ereignis,  das  war  so  phanomenal,  das  es  allein  schon  einen 
unheimlichen  "Erfolg"  darstellt.   Das  war  in  der  entscheidenen  Situa- 
tion, als  die  Verhandlungsdelegation  von  der  ersten  verhandlung 
mit  der  Stadt  zurlickkam,   in  der  diese  uns  das  Ultimatum  gestellt 
hatten:  Entweder  ihr  unterschreibt  bis  zum  10.2.  den  Vertrag  in  der 
vorliegenden  Form  (was  das  Ende  der  Free  Clinic  bedeutet  hatte) 
Oder  es  gibt  offenen  Krieg   (Ra'umungsklage) .   Es  war  also  eine  exi- 
stentiell   bedrohliche  Situation,  wir  waren  sowieso  schon  unheimlich 
gestreBt.und  nach  der  normalen  Tagesarbeit  versammelten  wir  uns 
dann  gegen  7  Uhr  abends  alle,  die  Delegation  berichtete  und  die 
Diskussion  ging  dann  urn  die  Frage,  unterschreiben  wir  Oder  unter- 
schreiben  wir  nicht,  welche  Konsequenzen  -  persb'nlich  und  fUr  die 
Free  Clinic  -  ergeben  sich  daraus  etc.    ...Nun,   ich  kann  mich  an 
keine  Sitzung  erinnern,  und  ich  mach  solch'eine  Arbeit  schon  wirk- 
lich lange     -  gewdhnlich  verlaufen  ja  solche  Sitzungen,  wo  es  urn 
existentielle  Entscheidungen  gent,  chaotisch,  hektisch,  aggressiv 
und  mit  unheiml ichem  Gruppendruck  -  die  in  einem  solchen  Feeling 
von  gegenseitiger  Offenheit  und  Vertrauen,  Angstfreiheit  und  Ge- 
borgenheit  verlief.    ...   also  echt,  mir  gent's  richtig  gut,  wenn  ich 
nur  daran  zuriickdenke. 

Chuck:  Die  groBe  mystische  Episode  der  Free  Clinic   ... 

Werner:  Das  war  so  ne  Sitzung,  wo  alle  hinterher  mit  einem  unheim- 
lich guten  Gefuhl  rausgegangen  sind.  Jeder  konnte  seine  flngste, 
seine  Gefuhle  .. . 


Chuck: 


es  war  keine  Gruppendruck-Sache 


Werner:  Jeder  konnte  aussprechen,  was  er  wollte,  drei  Stunden  lang 
wirklich  absolut  gute  Diskussion,  mit  Erlebnissen. . . 


Chuck:    ...   Aussprechen  zu   kbnnen,  was  man  s 
wo  man  sich  gewbhnlich  meint,  daflir  schamen 
angstlich  verbergen     zu  mlissen,  als  jemand 
Hngsten"  verfangen  ist.  DaB  es  moglich  war, 
Angst, von  den  anderen  abgelehnt  zu  werden, 
dann,  als  wir  merkten,  dai3  die  meisten  von 
ten,  ohne  falsches  Hurrah-Heldentum  wirklic 
SchluB  waren  wir  viel   starker,  als  wenn  wir 
seitigem  moral ischen  Druck:  "Wir  mussen..." 


o  im  Hinterkopf  hat  und 
und  es  vor  den  anderen 
der  in  "kleinburgerlichen 
sich  wirkl ich  ohne 
hier  offen  zulegen,  und 
uns  ahnliche  Angste  hat- 
h  mutig  zu  sein.   Zum 
das  Ganze  unter  gegen- 
durchgepeitscht  ha'tten. 


Werner:  Also  auch  das  politische  Selbstverstandnis  wurde  dabei  dis- 
kutiert,  von  jedem  einzelnen. 


46 


Chuck:  Also  fur  mich  war  das  zum  ersten  Mai    eine  Sache,  wo  ich  klar 
und  deutlich  merkte,  dad  mir  meine  Gruppenerfahrungen  konkret  was 
bringen  und  nicht  nur  so'n     Psychoflip  sind. 

Werner:   Ich  wiirde  auch  insgesamt  sagen,  daB  unser  "Weltbild"  -  das 
ist  jetzt  so  ein  lacherlich  groBartiges  Wort  -  unsere  Vorstellungen 
von  Auseinandersetzungen  eben  prinzipiell   nicht  diese  aggressive 
und  verbale    Art  ist,  sondern  wirklich  der  Versuch,  den  anderen  zu 
verstehen.   Und  damit  auch  ganz  anders  mit  ihm  umzugehen. 

Chuck:  Wobei   uns  klar  ist,  daB  "Versta'ndnis"  nicht  bedeutet:  okay, 
ich  tu  alles,  was  Du  willst,  ja  ich  versteh  dich,  wenn  Du  mir  eine 
runterhauen  willst:   ich  versteh  Dich,  jaja.  Sondern  auch  meine  ei- 
genen  Bedu'rfnisse  zu  verstehen  und  zu  denen  auch  zu  stehen.  Aber 
was  fur  mich  halt  sehr  wichtig  ist,  ist  die  Frage,  bis  zu  welchem 
Punkt  es  moglich  ist,  reinzufressen,  und  wie  man  das  eben  dadurch 
a'ndern  kann,  daB  man  umwertet.  Das  bedeutet  fur  mich  auch:   ich  muB 
mich  in  der  Arbeit,  die  ich  hier  nache,  auseinandersetzen  mit  mei- 
nem  eigenen  Wertsystem.  Und  zwar  nicht  nur  in  soziobkonomischen 
Kriterien,  sondern  auch,  was  mich  betrofft,  in  meinen  Definitionen 
von  Stolz,  Wiirde  usw.  Ob  das  auch  Sachen  sind,  die  ich  so  blind 
Ubernehme,  wie  sie  mir  anerzogen  sind,  und  ob  ich  Widerspriichl  ich- 
keiten  darin  sehe,   Zum  Beispiel,  wenn  ich  stolz  bin,  kriege  ich 
einen  auf  den  Deckel.  Was  mache  ich  mit  diesem  Widerspruch?  BewuBt- 
heit  darUber  zu  erlangen  und  sich  nicht  von  blinden  Reaktionen  hin- 
und  herschleudern  zu  lassen  bedeutet  nicht,  nur  zu  reagieren,  son- 
dern langer  handlungsfahig  zu  bleiben. 

Michael:    Das    ist   eine  ganz  andere  Art   politlsch  zu   agieren,   als  das 
jn  der    linken   Szene   sonst  Qbl  ich   ist. 

uerner:  Zum  Beispiel  das  Thomas  WeiBbecker-Haus.  Das  ist  eine  ganz 
andere  Art.  Das  ist  ein  Wohnkollektiv,  das  sicherlich  viel  starker 
unter  Druck  stand  als  wir.  Mag  sein. 

Chuck-   Und  aus  einer  beschisseneren  Situation  raus;  wir  hier  du'rfen 
nicht  vergessen,  daB  wir  jetzt  unseren  Konflikt  aus  einer  relativ 
geschiitzten  Position  heraus  machten. 

uiprner-  Aber  auf  der  anderen  Seite  gabs  hier  am  Anfang  auch  diese 
wausdurchsuchungen,   Bullen  sind  hier  genauso  rumgelaufen  mit  Ma- 
rhinenpistolen  und  es  ist  auch  damals  nicht  so  reagiert  worden,  wie 
^as  Georg-von-Rauch-Haus,  Oder  wie  das  Thomas-WeiBbecker-Haus  drauf 
°eagierte.   Obwohl  diese  Reaktionen  durchaus  verstandlich  und  be- 
rechtigt  sind. 

/■h.irk-  Also  fur  mich  sind  die  Gruppenerfahrungen  und  die  Ideologie, 
CVp  sie  zum  Beispiel   in  der  Humanistischen  Psychologie  zum  Ausdruck 
■    Lmi     sehr  wichtiq,  und  ich  glaube,  die  haben  uns  Uber  die  Jahre 
Ken    Iprag      Und"uns  einen  Ruckhalt  gegeben,  wobei   ich  nicht 
eliBwi flange  es  noch  mit  uns  weitergeht.und  ob  nicht jrgendwann 
m     die  einzige  ehrliche  und  konsequente  Haltung  dann  bestehen 
vJird,  bewuBt  und  bffentlich  zuzumachen. 


47 


Bernhard  Achtcrberg: 

FRAGEN  ZUM  SELBS1  VERSTANDNIS  VON  "ANTI-PSYCHIATRIE"  I 


Zeitschriff  fiir  politische  Okonomie 
und  sozialistische  Politik 


Ursula  Schaile- Der  Arbeitskampfder 
Druckarbeiter  in  der  Tarif  runde  1976 

Hildebrandt/Olle/Schoeller 

National  untersthiedlkhe 

ProduktionsbedinaungenalsSchrankeeiner 

gewerkschaftlifhenlnternationalisierung 

Manfred  Deu  tsch  man  n  *  Das  Elend 
systemtheoretisiherKrisenanalyse 

UlrkhKrause 
DieallgemeineStruklurdesMonopols 

Peter  Dudek  •  Engels  und  das  Problem 
derNaturdialektik 

Diefenbach/Grb'zinger/lbsen 

Wartenpfuhl/Wengenroth 

Wie  real  ist  die  Real  until  y  se  ? 

Altvater/Hoffmann/Semmler 
Zum  Problem  derProfitrutenabredinung 


Einzelheft 
DM9.- 

imAbo 
DM7.- 

Rotbudi 
Verlag 


Unterdriickung  +  T&uschung  =  Entfremdung 
Unterdriickung  +  Gewahr-Sein  =  Zorn 
BcfroiuiiK  =  Gcwahr-Sein  +  Konflikt 


]  Entfremdung 


Die  oben  stehenden  Formeln  entnehme  ich  Claude  Steiner  (1),  der  in 
seinen  Prinzipien  radikaler  Therapie  einen  Ansatzpunkt  zur  Diskus- 
sion  setzt,  der  mir  sehr  sinnvoll  erscheint:  "Das  erste  Prinzip 
radikaler  Psychiatric  ist,  daB  be i  Fehlen  der  Unterdruckung  die  Men- 
echen,  entsprechend  ihrer  wirklichen  Natur  ...,  welche  auf  ihre 
Sel bsterha 1 tung  und  Arterhaltung  gerichtet  ist,  in  Harmonie  mitein- 
ander  und  mlt  der  Natur  leben  wurden.  Unterdruckung  ist  der  Zwang 
auf  Menschen  durch  Gewalt  oder  Drohen  mit  Gewalt,  und  ist  die  Quel- 
le aller  menschl ichen  Entfremdung. 

Die  Bedingung  menschl ichen  Lebens,  die  "Seelenhei 1 ung"  (=Psychiat r ie, 
o  A.)  not ig  macht,  ist  Entfremdung.  Entfremdung  ist  das  Gefuhl  in 
einer  Person,  daB  man  nlcht  Tail  der  menschl  ichen  Gesellschaft  ist, 
daB  man  selbst  oder  alle  anderen  tot  sind,  daB  man  nicht  verdient  zu 
leben,  oder  daB  jemand  einem  den  Tod  wiinscht.  ...  Entfremdung  ist 
die  Essenz  aller  psychiatr ischen  Zustande.  Dies  ist  das  zweite  Prin- 
zip radikaler  Therapie:  Alles,  was  psychiatr i sch  diagnost iz iert  wird, 
i st   falls  es  nicht  eindeutig  organischen  Ursprungs  ist,  eine  Form 
der  Entfremdung. 

nas  dritte  Prinzip  radikaler  Psychiatrie  lautet,  daB  jede  Entfrem- 
dung das  Ergebnis  einer  Unterdruckung  ist,  iiber  die  der  Unterdriick- 
te  in  Tauschung  oder  Myst i f i kat ion  belassen  wird.  ...  Das  Ergebnis 
(dieser  Tauschung)  ist,  daB  die  Person,  statt  ihre  Unterdruckung 
zu  spuren  und  darauf  wiitend  zu  sein,  beschlieBt,  daB  seine  /  ihre 
schlechten  Gefuhle  sein/ihr  eigener  Fehler  sind.  ...  Das  Ergebnis  ... 
:st  die  Person  ftlhlt  sich  entfremdet." 

Ich'habe  diesen  Text  zitiert,  weil  ich  weitgehend  mit  ihm  uberein- 
otimme  Falls  der  Einwand  erhoben  wird  (und  der  wird  sicher  erhoben) , 
hier  sei  mit  dem  Entfrenidungsbegriff  unmarxistisch,  undialektisch 
„der  "urn  die  bkonomische  Dimension  verkiirzt"  umgegangen,  so  gestehe 
irh  ein  daD  mich  dieser  Einwand  in  diesem  Zusammenhang  nicht  son- 
dprlich  interessiert.  Wichtig  ist  die  Erkenntnis,  daD  psychisches 
ripnd  ein  Produkt  von  Entfremdung,  Entfremdung  ein  Produkt  von  Un- 
tprdruckung  ist.  DaB  diese  Unterdruckung  in  ihrem  Kern  Produkt 
Hkonomischer  Verhaltnisse  ist,  wird  von  Steiner  zwar  nicht  ausge- 
cnrochen,  aber  auch  nicht  zuriickgewiesen.  In  der  Perspektive,  lm 
eEnnen  der  gesel  lschaftl  ichen  Ursachen  psychischen  Elends  ergibt 

-  49  - 


sich  hieraus  keirt  Unterschied.   Insofern  nehme  ich  Steiners  Aussagen 
weiterhin  als  Ausgangspunkt,     um  das  Selbstversta'ndnis  von  "Anti- 
Psychiatrie'VSelbsthilfe/Sozialtherapie  oder  wie  auch  immer  zu  hin- 
terfragen:  Also,  so  weit  es  geht,  mefn  eigenes  Selbstversta'ndnis  zu 
hi nterf ragen . 


2.   Solidaritat 


Und 


Warum  tust  Du,  was  Du  tust? 

In  der  Aufbauphase  des  Krisenzentrums  "K  1  K"   (2)   in  Gbttingen,  in 
dem  wir  versuchen,  unsere  Vorstellungen  von  nichtprofessioneller, 
solidarischer  Hilfe  umzusetzen,  haben  wir  verschiedene  Gespra'chs- 
situationen  durchgearbeitet.  Als  hierbei   einige  Male  die  Situation 
auftrat,  daB  KiK-Arbeiter  gefragt  wurden,  "was  raacht  ihr  hier  Uber- 
haupt?  Was  soil  das?  Was  habt  ihr  davon?  ..."  reagierten  etliche 
mit  Aggression  und  Arger.   Hinter  dieser  Fassade  tauchte,  nur  miihsam 
verborgen,  groBe  Unsicherheit  auf.  Einige  versuchten,  etwas  wie 
"helfen  wollen"  auszudru'cken,  und  waren  gekra'nkt,  als  lhnen  das 
nicht  abgenommen  wurde.   Ich  finde  die  Frage  verdammt  berechtigt. 
mich  hat  diese  Unsicherheit  etlicher  Mitstreiter  doch  ganz  schbn 
nachdenklich  gemacht. 
Wenn  also  ein  Gesprach  Uber  unsre  Griinde  und  Ziele  nbtig  ist,  so 
will   ich  versuchen,  meine  eigenen  Motive  vorzukramen.  Vielleicht  ist 
das  ein  Startpunkt  fUr  so  ein  Gesprach: 

Ich  mache  ziemlich  viel   Beratungs-  und  Therapiearbeit;  sehr  oft  ma- 
che  ich  das  einseitig.also  nicht  auf  gegenseitiger  Basis  wie  im 
Co-Counseling  (s.u.),   sondern  mit  Leuten,  von  denen  ich  nicht  bera- 
ten    werde;  mich  auch  nicht  darum  hemline.  AuBerdem  beteilige  ich 
mich  am  Aufbau  des  Krisenzentrums.   Ich  bin  also  gern  in  Situationen, 
wo  ich  als  Berater,  Therapeut  oder  sonstwie  unterstlitzend  aktiv  wer- 
den  kann,  wo  dies  von  mir  gewUnscht  Oder  gar  erwartet  wird.   Warum??? 

a.  Faszination 

Die  Auseinandersetzung  mit  Problemen  und  Krisen  anderer  reizt  mich 
irmier  wieder.   Es  ist  nicht  Neugier  (Geschichten,  die  ich  uber  Dritte 
hbre,   interessieren  mich  sehr  wenig;  sie  belasten  mich  eher,  ich  fu'h- 
le  mich  hilflos,  weil   ich  doch  nichts  machen  kann).  Es  ist  eher  der 
ProzeB  des  Durcharbeitens,  des  Daran-Arbeitens;  das  "gemeinsame  Be- 
miihen";  der  intensive  Kontakt,  der  dabei   entsteht;  es  ist  die  Mbg- 
lichkeit,  mich  zu  engagieren,  Rtfch  einzusetzen. 

b.  der  Uunsch,  qebraucht  zu  werden 

Ich  weiB  von  mir,  daB  mir  viel  daran  liegt,  "ntitzlich"  zu  sein,  ge- 
braucht  zu  werden.  Die  Griinde  hierfllr  liegen  ziemlich  tief  in  mei- 
ner  Selbstentfremdung;  darin,  daD  ich  mich  kaum  je  um  meiner  selbst 
willen  akzeptiert  fiihle.  Wenn  ich  mich  in  Beratung  o.a.  engagiere, 
dann  komme  ich  mir  nicht  so  sinnlos  vor;  dann  glaube  ich  eben,  daD 
andere  mich  akzeptieren. 

c.  Lernen  und  Kontakt 


Jeder  Mensch  ist  einmalig,  trotzdem  haben  wir  etwas  miteinander  zu 
tun.  Zu  Deinen  Problemen  gibt  es  Verwandtes  in  mir;  in  meinen  Schwie- 
rigkeiten  wirst  Du  einiges  von  Dir  wiederfinden. 


Jede  Beratungs-  und  Therapiearbeit  -  aber  besonders  die  "undogmati- 
schen"  oder  "humanistischen"  oder  "existenzialistischen"  Ansa'tze 
der  "Antipsychiatrie"  -  besteht  zum  wesentlichen  Teil  daraus,  diese 
Verbindung  lebendig  werden  zu  lassen.  Gerade,  wenn  ich  als  leben- 
dige  Person  anwesend  bin,  und  nicht  nur  als  Klischee  oder  Berufs- 
rolle,  kann  ich  vermeiden,  den  anderen  meinen  Trip,  meine  Erfah- 
rung,  meine  Lbsungen  oder  Ratschlage,  meine  Werturteile  aufzuzwin- 

gen. 

Umgekehrt  lerne  ich  in  jeder  Begegnung  (und  besonders  in  Beratungs- 
arbeit)  etwas  Liber  mich,  z.B.:  Frliher  habe  ich  auch  in  der  Bera- 
tungsarbeit  oft  versucht,  Leute  zu  beruhigen  oder  zu  trbsten,  wenn 
sie  weinten.  Heute  verstehe  ich,  daB  ich  sie  damit  in  meinem  Inter- 
esse  manipuliert  habe.  DaB  ich  Angst  vor  Weinen  hatte.  Ich  lernte 
also"  etwas  liber  meine  Angst.  Umgekehrt:  Da  ich  es  lernte,  konnte 
ich  spa'ter  weniger  manipulativ  sein,  konnte  jederzeit  akzeptieren, 
daB  der  andere  das  Recht  und  die  Chance  auf  seine  eigenen  Tra'nen 
braucht.  Wenn  ich  Deine  Angst  (Wut/Enttauschung/...)  wahrnehme, 
schwingt  meine  Angst  (Wut/Enttauschung/...)  in  mir  mit.  Ich  lerne 
sie  kennen  und  komme  in  etwas  mehr  Kontakt  mit  Dir  und  mit  mir. 

H.  Gemeinsamkeit 

Ich  weiB,  wie  oft  es  mir  dreckig  geht,  ich  auf  Depressionen  fest- 

ha'nge,  auf  dem  Geflihl,  nicht  geliebt  zu  werden,  dem  Wunsch,  mich 

selbst  zu  tbten,  auf  starker  Selbstable 

Ich  weiB,  wie  oft  mir  dabei  ein  Gesprachspartner  gefehlt  hat,  je- 

mand,  bei  dem  ich  in  und  mit  all  dieser  ScheiBe  akzeptiert  bin;  je- 

mand,  der  mir  zuhbrt,  wenn  ich  darliber  sprechen  mbchte,  aber  mich  nicht 

bedrangt,  wenn  ich  nicht  sprechen  mbchte. 

Manchmal  bin  ich  stolz  darauf,  mit  allem  "alleine  fertig  geworden" 

zu  sein  und  dabei  "viel  gelernt  zu  haben".  Aber  ich  denke,  das  ist 

ein  alberner  Stolz. 

Deswegen  mbchte  ich  gerne  in  einer  Bezugsgruppe  sein,  wo  genug  Chan- 

cen  sind,  solche  Gesprachspartner  zu  finden.  Ich  mbchte  mir  - 

wenn  es  geht  -  solche  Gesprachspartner  nicht  kaufen  (obwohl  es  sicher 

noch  lange  Zeit  nbtig  sein  wird,  professionelle  Therapeuten  zu  haben. 

Ich  selbst  arbeite  teilweise  auch  professionell ).  Ich  mbchte  auf 

keinen  Fall  an  einen  Gesprachspartner  gelangen,  der  aus  Mitleid, 

ocjer  um  anderen  zu  helfen,  mir  zuhbrt.  Sondern  ich  mbchte,  daB  mein 

Gesprachspartner  sich  deswegen  engagiert,  weil  er  weiB,  daB  ihn 

meine  Probleme  etwas  angehen,  daB  sie  potentiell  auch  seine  sind, 

daB  das  Elend  gemeinsam  ist,  und  daB  er  zu  anderen  Zeiten  auch  in 

Aer   umgekehrten  Situation  ist  oder  sein  konnte. 

Gerade  deshalb  hat  auch  der  andere,  der  Gesprachspartner,  die  Chance, 

etwa  fur  sich  selbst  zu  lernen.  Der  Grundgedanke  ist,  daB  wir  uns 

aeqenseitig  weiterhelfen. 

niese  Gegenseitigkeit,  diese  Gemeinsamkeit  der  Betroffenheit,  ist 

fur   mich  ein  wichtiger  Bestandteil  zum  Herstellen  der  Mbglichkeit 

von  Solidaritat. 

p  Solidaritat 

u«  Solidaritat  von  anderen  Formen  des  Zusammengehbrigkeitsgefuhls 
Sterscheidet,  ist  ihr  Gerichtet-Sein  auf  ein  Ziel.  Solidaritat  ist 
Gemeinschaft  des  Handelns. 


51 


Wenn  wir  unter  Solidaritat  speziell  die  Solidaritat  der  UnterdrUck- 
ten  verstehen,  oder  der  sich  befreienden  Menschheit,  so  ist  das  Han- 
deln  aus/in  dieser  Solidaritat  ein  bestimmtes:  Der  genieinsame  Ver- 
such,  sich  aus  Elend,  Unterdrlickung,  Entfremdung  zu  befreien. 
Voraussetzung  hierfiir  aber  ist  das  gemeinsame  BewuBtsein  von  der 
Gemeinsamkeit  des  Elends  der  Unterdrlickung,  der  Entfremdung. 
Insoweit  unsere  Angste,  unsere  Schwachen,  unsere  Krisen  aber  Aus- 
druck  und  AusfluB  unseres  Entfremdet-Seins  sind,  also  unseres  Un- 
terdruckt-Seins,  also  unserer  gesellschaftl  ichen  Existenz,  inso- 
weit ist  es  also  auch  wichtig,  daB  wir  in  unseren  Angsten  usw. 
nicht  vereinzelt  bleiben,  daB  wir  uns  in  ihnen  und  mit  ihnen  nicht 
als  einzelne  kaputte  Individuen  erleben.  Egal,  ob  wir  solche  Verein- 
zelung  dadurch  ausdriicken,  daB  wir  unser  "Kaputt-Sein"  wie  einen 
Makel  zu  verbergen  suchen,  oder  ob  wir  es  wie  einen  Orden  vor  uns 
hertragen  und  damit  herumstolzieren,  in  beiden  Fallen  steht  dahin- 
ter  das  BewuBtsein,  es  gent  hier  um  "mein  Problem",  mit  dem  letzt- 
lich  ich  fertig  zu  werden  habe.  Ich  brauche  hier  nicht  noch  einmal 
aufzufuhren,  was  die  Gesellschaft  alles  tut,  um  uns  in  dieser  Ver- 
einzelung  zu  halten.  Nicht  nur  die  gesamte  psychiatrische  Praxis 
und  der  Hauptteil  von  therapeutischer  und  Beratungs-Arbeit  sugge- 
rieren  dieses  Bild.  Auch  der  subtile  Terror  des  taglichen  Leistungs- 
druckes,  der  Zwang,  o.k.  sein  zu  mussen,  machen  Leiden  zu  etwas 
Unpassendem,  Argerlichen  .  Wenn  ich  ein  braves  Kind  sein  will,  werde 
ich  diesen  Makel  verbergen.  Wenn  ich  ein  unartiges  Kind  sein  will, 
dann  zeige  ich  alien  zum  Trotz  -  "bah"  -  wie  kaputt  ich  bin;  und 
bin  stolz  darauf. 

Beides  ist  weit  entfernt  (fast  gleich  weit)  von  dem,  was  ich  shier 
als  Gemeinsamkeit  des  Elendes,  und  damit  als  Basis  fur  mbgliche 
Solidaritat  ansprach. 

Insofern  ist  auch  der  Slogan  "Aus  der  Krankheit  eine  Waffe  machen" 
dann  irreflihrend,  wenn  er  verstanden  wird  als  Aufruf  an  eine  kleine 
Minderheit  von  "Kranken".  Vol  1 ig  richtig  ist  der  Aufruf  naturlich, 
wenn  damit  unsere  gemeinsame  tagtagliche  Krankheit/Entfremdung/ 
Unterdrlickung,  wenn  damit  unser  Leiden  und  die  Erfahrung  unseres 
Leidens  gemeint  ist. 

Die  gemeinsame  Erfahrung  dieses  Leidens  allerdings  ist  eine  Waffe. 
Denn  sie  ist  ein  letztlich  unabweislicher  Ruf  nach  Veranderung, 
nach  menschenwLirdiger  Existenz. 


Ich  hoffe,  daB  gerade  aus  dem  letzten  Punkt  deutlich  geworden  ist, 
daB  ich  zwischen  meinem  Engagement  in  Antipsychiatrie/Selbsthilfe 
einerseits  und  meinem  Selbstbild,  ein  politisch  bewuBt  handelndes 
Subjekt  zu  sein,  andererseits  kein  Widerspruch  besteht.  Ich  erlebe 
mein  Handeln  in  diesem  Bereich  als  libereinstimmend  mit  meinem  poli- 
tischen  Wollen.  Denn  letztlich  setzt  mein  politisches  Wollen  an 
meiner  Erfahrung  von  Elend  an.  Und  darum  geht  es  hier. 


3.  Rollen/Etikette/  Schubladen/Diagnosen 

oder:  "mit  Dir  ist  etwas  los;  komm  zu  mir,  ich  kann  Dir  helfen" 
Eingangs  habe  ich  aus  Steiners  Aufsatz  (s.o.)  zitiert:  "Alles,  was 
psychiatrisch  diagnostiziert  wird,  ist,  falls  es  nicht  eindeutig  or- 
ganischen  Ursprungs  ist,  eine  Form  der  Entfremdung."  Wahrend  der 
Grundgedanke  schon  von  Freud  stammt,  daB  es  nicht  "Kranke"  und"Ge- 


-  52 


sunde"   ira  psychischen  Bereich  gibt,  sondern  nur  unterschiedl iche, 
von  der  persbnlichen  friihkindl  ichen  Erfahrung  abhangige  Antworten 
auf  Bedingungen  und  Konflikte  der  Entdeckung,  wahrend  schon  Frieda 
Fromm-Reichmann  (3)   1950  davon  spricht,  daB  es  nur  ein  Kontinuum 
von  Menschen  mit  unterschiedl icher,  aber  auch  unterschiedlich  be- 
lastender  Erfahrung  gibt,   ist  dieser  Gedanke  doch  erst  weitaus  spa- 
ter  konsequent  weitergedacht  worden.    Insbesondere  die  Position  von 
Thomas  Szasz,  dessen  wesentliches  Werk  "The  hyth  of  Mental   Illness" 
schon  Anfang  der  60er  Jahre  erschien,  aber  erst  um  1970  wirklich 
Eingang   in  die  europaische  -  und  noch  etwas  spater  die  deutsche  - 
Diskussion  fand,  war  hierfUr  wichtig.   Szasz  weist  den  psychiatri- 
schen  Krankheitsbegriff  vollsta'ndig  zuriick,  fiir  ihn  ist  man  nicht 
psychisch  krank,   sondern  man  wird  von  der  Gesellschaft  als  krank 
bezeichnet  -  abgestempelt!   -,  wenn  man  gegen  bestimmte  Normen  ver- 
stbBt.   Diese  Normen,  etwa  soziale,  ethische  oder  auch  einfach  ge- 
setzliche,  sind  aber  Herrschaftsnormen.   Insofern  hat  Szasz  als 
wohl  Erster  erkannt,  welche  Unterdruckung,  welche  Gewalt  in  dem 
psychiatrischen  Krankheitsbegriff  liegt.   Menschen,  die  an  ihren 
Konflikten  leiden  -  dies  ist  die  Bestimmung  von  Szasz  fiir  jene,  die 
von  anderen  als  psychisch  krank  bezeichnet  werden.  Den  Versuch, 
ihnen  eine  "objektive"  Krankheit  anzudichten,  bezeichnet  Szasz  als 
"Oberbleibsel  des  Glaubens  an  Damonen  und  Hexen".   (4) 

Ich    selbst  finde  es   sehr  schwer,  mich  wirklich  und  vol  1  ig  an  dieses 
Denken  zu  gewbhnen.  Wie  leicht  schleichen  sich  die  alten  Begriffe 
ein!   Und  wenn  sie  nicht  aus  dem  Mund  konwien,   im  Kopf  ist  ein  Rest 
von   ihnen  da.    In  London  lernte  ich  einen  Typ  kennen,  der  beim  ersten 
Gesprach  vol  1 ig  unten  war,  keinen  Ueg  mehr  sah.  Wir  haben  uns  lange 
unterhalten,   ich  war  ziemlich  betroffen  von  der  Ausweglosigkeit, 
die  er  spurte.  Am  na'chsten  Tag  sah  ich  ihn  wieder.  Von  all   seinen 
qroBen  Problemen  hatte  sich  das  kleinste  gelbst.   Das  reichte,  um 
ihn  uberschwenglich,  jubelnd  und  ausgelassen  zu  machen.  Er  rannte 
nur  kurz   ins  Zimmer,  erzahlte  mir,  wie  gut  es  ihm  ging,  rannte 
schon  gleich  weiter,  weil   er  gar  keine  Zeit  hatte.    Ich  bin  noch  damit 
Deschaftigt,   immer  klarer  und  sicherer  zu  lernen,  daB  es  eben  nicht 
"manisch-depressiv"   ist,  sondern,  daB  er  halt  auf  seine  Erfahrung 
reagiert,  und  zwar  so,  wie  es  ihm  gema'B  ist,  zu  reagieren.  DaB  es 
keinen  "Schizophrenen"  gibt,  habe  ich,  glaube  ich,   inzwischen  ge- 
schnallt.  Einige  meiner  Freunde  in  London,  mit  denen  ich  viel   zusam- 
men  gemacht  habe,  sind  -  wie  ich  irgendwann  vbllig  beilaufig  erfuhr 
_  0ffiziell   als  "schizophren"  abgestempelt.  Naja. 

<;nweit,  so  schlecht.  Aber  die  Schwierigkeiten  fangen  erst  an.  GewiB 
.°t  es'schwer,  sich  dies  eingefahrene  Ka'stchen-  und  Schubladen- 
n!nken  abzugewohnen.  Aber,  selbst  wenn  es  gelange.  genugte  das 
„frht     Denn  Tatsache  ist,  es  gibt  Ungleichhenten,  es  gibt  unter- 

h  edliche  Rollen.  Wenn  sich  jemand  an  mich  wendet,  weil  er  Proble- 
S       Konflikte,  Krisen  erlebt,   in  denen  er  meine  Zuwendung,  meine 
ftMfmerksamkeit.  meine  Zeit  haben  mbchte,  in  denen  er  sogar  mbchte, 
,aicb  meine  qelernten  Fahigkeiten  einsetze,  um  ihm  bei   seinem  Wie- 
d/l  Klar-Kommen  Unterstutzung  zu  geben,  dann  ist  die  Situation  un- 
d?oich     InTewisser  Weise  bittet  er  mich,  ein  Stuck  Verantwortung 
illThn  zu  ubernehmen.   Gut,  den  Spruch  von  Perls,  daBjeder  fur  sich 
fUr  ntwortlich  ist     h  ben  wir  alle  schon  gelernt.  Naturlich  stimmt 
^^auch    Irotzdem  iibertragt  in  jeder  Beratungssituation  jemand  em 

-  53  - 


Stuck  Mitverantwortung  auf  jemand  anderes;  und  in  Krisensituationen 
1st  dies  Stlick  oft  ganz  schdn  groB.  Ich  halte  es  fur  absoluten  Mist, 
dies  zu  verleugnen.  Es  ist  gleichzeitig  eine  Feigheit  des  Beraters 
(oder  wie  Du  ihn  nennen  willst),  und  eine  Mystifikation  fur  den  Betrof- 
fenen.  Geben  kbnnen  und  nehmen  kbnnen  sind  wichtige  Teile  solidari- 
schen  Handelns.  Hierzu  gehbrt  auch  die  Bereitschaft,  Mitverantwor- 
tung zu  Ubernehmen,  wenn  und  soweit  ich  1.  darum  gebeten  bin 
(keinen  Zentiraeter  weiter)  und  2.  ich  dazu  bereit  bin  (und  keinen 
Zentiraeter  weiter). 


Politik  der  Diagnose 

Es  ist  also  rait  dem  hier  vertretenen  Anspruch  durchaus  vereinbar, 
Verantwortung  zu  ubernehmen,  es  ist  sogar  notwendiger  Bestandteil. 
Um  nicht  unter  der  Hand  zum  Experten  zu  werden,  der  "weiB,  was  rait 
dem  andern  los  ist",  versuche  ich,  das  BewuBtsein  der  Gememsamkeit 
der  Betroffenheit  wach  zu  halten.  (Daruber  habe  ich  ja  eben  etwas 
mehr  gesagt.)  Ich  denke,  daB  dieses  BewuBtsein  mich.  meine  Eitel- 
keit  und  mein  Expertentum  einigermaBen  im  Zaume  halten  kann. 
Ein  wichtiger  Punkt  hierbei  ist  die  bewuBte  Ablehnung  jeder  Psycho- 
Diagnostik.  (Ich  mbchte  hier  nicht  eingehen  auf  die  medizinische 
Diagnostik.  Da  gibt  es  auch  wichtige  Probleme,  das  Abstempeln  von 
Menschen  zu   "Fallen"  ist  sehr  krass.  Andererseits  gibt  es  auch  die 
Notwendigkeit.  Denn  Kbrperschaden  sind  wohl  doch  real  und  haben  nun 
mal  oft  Funktionsstbrungen  aller  Art  zur  Folge.) 
Auch  im  besten  Falle,  auch  bei  groBter  Vorsicht  und  bei  bestem  Wil- 
len  ist  Psychodiagnostik  ein  Weg  zur  krassen  Selbstentfrentdung  und 
Mystifikation  des  anderen,  der  damit  zum  Dulder,  zum  Geduldigen, 
lateinisch-  patiens,  also  zum  Patienten  und  zum  Fall  wird.  Sobald 
ich  anfange,  aus  dem  Verhalten  des  anderen  Mengenangaben  oder  Kate- 
qorien  zu  machen,  ist  es  eben  nicht  mehr  einfach  sein  Verhalten, 
sondern  ein  Indikator  fUr  irgend  etwas,  fur  irgendeine  Sache,  die 
als  Fremdkorper  in  seinem  Kopf  ist.  Diese  Fremdkbrper  bekommt  man 
und  verliert  man  wie  eine  Taschenuhr  oder  eine  Darmg_rippe.Sie  heis- 
sen  Neurose,  Psychose,  Psychastienie  Oder  Psychopathie.  Und  immer 
wieder  versuchen  Hirnchirurgen,  diese  Fremdkorper  herauszuoperieren. 
Sobald  ich  diagnostiziere,  diagnostiziere  ich  Etwas.  Dies  Etwas 
wird  damit  als  Sonderteil  des  anderen  abgespalten,  ihm  entfremdet. 
(Der  Psychiator  darf  das.  Aber  wenn  Du  selbst  einen  Teil  von  Dir 
entfremdest  und  abspaltest,  und  Du  bist  unvorsichtig  genug,  das  of- 
fen  zu  sagen,  dann  bist  Du  "schizophren". ) 


A.   Alternativen 

a.  fiewahrsein 

Es  ist  nicht  immer  wichtig,  daB  ich  verstehe,  was  in  Dir  vorgeht, 
wenn  ich  mit  Dir  an  Deinen  Problemen/Konfl ikten/Krisen  arbeiten  will 
Wichtig  ist,  daD  Du  es  verstehst.  Aber  oft,  sogar  allermeistens  ist 
es  eben  dafUr  doch  wichtig,  daB  auch  ich  verstehe.  Dies  wird  ja 
auch  von  den  halb  progressiven  Psychologen  und  Therapeuten  als  Aus- 
rede  benutzt,  eben  doch  mit  Diagnostik  zu  arbeiten. 
Welche  Alternative  gibt  es? 
Zun'a'chst  das  Zuhbren  (nach  Frieda  Fromm-Reichmann  die  wichtigste 


-  54  - 


Tugend  des  Therapeuten.)  Wenn  Du  mir  erza'hlst  und  erklaYst,  was  in 
Dir  vorgeht,  wird  es  Dir  selbst  auch  klar.  Das  ist  der  Grund,  wes- 
wegen  das  einfache  Zuhbren  so  hilfreich  sein  kann.  Es  ist  auch  das 
Prinzip  hinter  Rogers'  nondirektiver  Therapie. 
Aber  nicht  nur  mein  Intel lekt  und  meine  Ohren  sind  Mittel  zum  Ver- 
stehen,  sondern  mein  ganzer  Kbrper.  Es  ist  immer  wieder  erstaunlich, 
wie  viel  Freud  selbst  schon  erkannt  hat.  Von  ihm  stammt  schon  die 
fundamentale  Einsicht,  daB  das,  was  in  mir  hochkommt  und  vorgeht, 
wenn  ich  Dir  begegne,  Dir  zuhbre,  der  wichtigste  SchlUssel  zum 
Verstehen  ist.  Wenn  •'cli  nrn.  Dir  spreche,  werde  ich  Deine  Spannung 
in  mir  spliren  -  oft  sogar  genau  dort,  wo  Du  sie  erlebst.  Je  besser 
ich  in  Kontakt  mit  meinen  eigenen  GefUhlen,  mit  meinem  eigenen  Kor- 
per  bin,  desto  wacher  kann  ich  miterleben,  was  in  Dir  geschieht. 
Damit  entsteht  aber  auch  eine  neue  Unmbglichkeit:  Wenn  ich  mit  Dir 
an  Deinen  Problemen/usw.  arbeite,  r.iuB  ich  also  ganz,  mit  voller  Auf- 
merksamkeit  bei  Dir  sein,  zugleich  aber,  ebenfalls  mit  ganzer  Wach- 
heit,  meinen  eigenen  Kbrper  und  seine  Antworten  spiiren. 
Naturlich  geht  das  nicht. 

Aber  der  Weg  geht  in  diese  Richtung.  Ich  kann  lernen,  etwas  mehr 
gewahr  zu  sein,  was  zwischen  uns  und  in  mir  geschieht. 

h.  pie  Gruppe 

Ich  habe  eben  angesprochen,  daB  ich  gern  in  einer  Situation  sein 
mbchte,  wo  ich  einen  engagierten  Gesprachspartner  finden  kann,  wenn 
ich  ihn  brauche.  Und  auch  darum  engagiere  ich  mich  selbst. 
wenn  ich  nun  mit  anderen  an  ihrer  Situation  arbeite,  insbesondere, 
wenn  es  um  das  Durchstehen  von  Krisensituationen  geht,  danri  werden 
0ft  auch  meine  eigenen  Probleme  ganz  schon  hochgewlihlt.  Damit  kann 
ich  aber  in  der  aktuellen  Situation  meist  den  anderen  nicht  anspre- 
chen,  denn  der/die  ist  ja  gerade  schwer  mit  der  eigenen  Situation 
bescha'ftigt.  Deswegen  ist  mir  wichtig,  dieses  Engagement  in  einer 
Gruppe  zu  tun,  damit  ich  dann  auch  den  Gesprachspartner  fiir  meine 
Sache  habe,  damit  ich  auch  mit  meinen  Rngsten,  mit  der  Enttauschung 
Dei  MiBerfolgen  und  Riickschlagen  nicht  allein  gelassen  bin. 
Vielleicnt  kbnnen  wir  in  solchen  Gruppen  auch  lernen,  anders  mit- 
einander  umzugehen.  Das  wurde  heiBen,  daB  wir  auch  fiir  uns  selbst 
mehr  Ehrlichkeit  lernen.  Und  mehr  Akzeptieren  unserer  Schwachen  und 
Schwierigkeiten. 

Bei  der  Gruppe  COPE  in  London  habe  ich  ein  biBchen  davon,  was  viel- 
leicht  mbglich  ist,  erlebt.  Und  ich  habe  gelernt,  wie  wichtig  und 
wie  schwer  so  einfache  Dinge  sind,  wie  seine  Wiinsche  a'uBern,  oder 
Mein  sagen. 


c     co-Counseling  (wechselseitige  Beratung) 

ebenfalls  in  London  bei  COPE  lernte  ich  ein  Konzept  kennen,  das 
e!|Ch  in  Deutschland  erst  ganz  allmahlich  ausbreitet- 
nu  und  ich  -  wir  beide  haben  Probleme/Konflikte/Kri 

haben 


sen.  Wir  beide 
aber  auch  die  Mbglichkeit,  einander  zuzuhbren.  Warum  brauche 


•rh  als  Therapeuten  einen  bezahlten  Experten?  Wir  kbnnen  lernen,  uns 
Jpaenseitig  zu  helfen.  Das  heiBt  also:  Wir  helfen  uns  selbst 


gegen 


denn  warum  soil  en  wir  alle 


uir  Uben  und  lernen  erstmal   in  Gruppen,  

£lhler  nochmal  machen,  die  andere  schon  ausprobyt  haben?  Wir  er- 
kSren  uns  nicht  zu  Experten,  wir  geben  keine  gut  gemeinten  Rat- 

-  55  - 


schlage,  wir  moral isieren  nicht.  Wir  nehmen  uns  einfach  ernst. 

Wollen  wir  es  so  machen:  wir  treffen  uns  jede  Woche  zwei  Stunden, 

eine  Stunde  gehb'rt  Dir  und  Deinen  Problemen,  die  andere  mir  und 

meinen  Problemen'  Und  wenn  Not  an  Mann  (oder  der  Frau)  ist,  dann 

treffen  wir  uns,  so  schnell  es  geht. 

Ich  denke,  daB  dies  Konzept  einen  sehr  wichtigen  Schritt  in  die  rich- 

tige  Richtung  bedeutet: 

Psychisches  Elend  ist  keine  Krankheit  und  keine  Autopanne.  Es 

braucht  keinen  Experten  oder  Techniker.  Es  gehbrt  nicht  in  Anstalten. 

Sondern  es  ist  Teil  unseres  Lebens,  unseres  Alltags.  Und  da  gehbrt 

es  hin. 

"Hbr  mal,  Genosse!  Das  klingt  ja  alles:     sehr  nett.  Aber  das  ist  doch 
ganz  schbn  utopisch!"  -  "Ja,  und?" 


Anmerkungen: 

(1)  Claude  Steiner:  Radical   Psychiatry,  Principles.   In:  The  Radical 
Therapist  (Penguin  Bocks,   1974) 
KlK  heiBt:   Kontakt  in  Krisen 

Frieda  Fromm-Reichmann:  Principles  of  Intensive  Psychotherapy, 
Chicago  and  London,  1950 

Thomas  Szasz:   Der  Mythos  von  der  seelischen  Krankheit,   in: 
Keupp  (Hrsg.j:  Der  Krankheitsmythos  in  der  Psychopathologie, 
MUnchen,  1972 


(2) 
(3) 

(4) 


Welche  Genossen 

haben  Erfahrung  in  der  Organisation 

von  Selbsthilfegruppen 

im  psychosozialen  Bereich(Antipsychiatrie)? 

Wir.zum  Teil  Mitarbeiter 
an  einer  Selbsthilfe  und  Beratungs- 
organisation,  waren  an  einem  Erfahrungs- 
austausch  interessiert! 

AF  Sozialarbeit-Antipsychiatrie 
c/o  Heinz  Klauder 
Gronerstr.  15/  Telf.o551  -  46128 
34  Gbttingen 


Uschi  Efibach-Kreuzer: 

SOCIAL    WORK: 

EINE  STUDENTISCHE  SELBSTHILFEORGANISATION 


Als  ich  1973  meine  Arbeit  in  der  "Arztlich-psychologischen  Bera- 
tungsstelle  flir  Studenten"  in  Gbttingen  aufnahm,  sollte  ein  Teil 
meiner  Tatigkeit  darin  bestehen,  eine  studentische  Selbsthilfeor- 
ganisation  vorzubereiten.  Diese  Selbsthilfeorganisation  heiBt  "Soci- 
al Work"  und  existiert  inzwischen  und  verfugt  liber  Erfahrungen  von 
2  1/2  Jahren.  Das  Social  Work  besteht  aus  thematisch-orientierten 
Selbsthilfegruppen  und  einem  Kontakt-  und  Informationszentrum.  Es 
arbeitet  inzwischen  zum  grc'Bten  Teil  autonom,  ohne  die  standige  Mit- 
arbeit  von  Professionellen.  Es  verfugt  uber  Raume  (eine  3  1/2  Zim- 
mer  Dachwohnung)  im  Haus  der  studentischen  Beratungsstelle. 

Ich  mbchte  versuchen,  anhand  der  Darstellung  dieser  Selbsthilfeor- 
ganisation, Themen,  Probleme  und  Widerspruche  zu  diskutieren,  von 
denen  ich  glaube,  daB  sie  typisch  sind  fur  Selbsthilfeorganisationen 
Uberhaupt: 

-  Typische  Unterschiede  zwischen  professioneller  Therapie  und  Selbst- 
hilfe sowie  die  Frage  nach  Erfolgsmbgl ichkeiten  der  Selbsthilfe; 

-  Konfliktzonen,  die  sich  aus  der  Organisationsform  ergeben  :  Veran- 
kerung  im  Universitatsbetrieb; 

-  das  komplizierte  Verha'ltnis  zwischen  "Selbsthelfern"  und  "Exper- 

-  die  Traditionen  von  Selbsthilfe  (vor  all  em  der  angel sachsischen 
Lander),  die  fur  die  Konzeption  des  "Social  Work"  wichtig  waren. 


Wie  begann  es? 

Es  begann  mit  einem  Flugblatt,  in  dem  meine  Koll 
Grundung  von  Selbsthilfegruppen  aufriefen: 
"DaB  die  Universi tat,  50  wie  sie  heute  organisie 
psychische  Konflikte  aktual  i  siert,  hauptsa'chl  ich 
der  Sexual itat,  der  Arbeit,  der  Soz ial kontakte, 
qeweMe,  Konkurrenz  produziert  und  daB  der  stude; 
fig  durch  Isolation,  Zerspl i tterung  und  Fremdbes 
zeichnet  ist,  all  dies  erfahren  wir  taglich  in  d 
Studenten.  Vor  einem  Jahr  schrieb  eine  Gruppe  au 
Erfahrungen: 

Wjr  sitzen  in  uberfullten  Horsalen  und  Seminarr 
schen  geftillt  sind,  die  wir  nicht  kennen  und  auc 
nen  konnen  unter  diesen  Umstanden.  Wir  sitzen  en 
zU  wissen,  wer  der  andere  neben  uns  ist,  was  er 
horen  uns  Monologe  von  Professoren,  Assistenten 
ten  uber  Themen  an,  von  denen  sje_  glauben,  daB  s 
en  muBten.  Wir  konnen  unseren  Lebenszusammenhan 
organisieren,  da  die  fast  stundl ich  wechselnden 


egen  und  ich  zur 

rt  ist,  massenhaft 

in  den  Bereichen 
daB  sie  Angst,  Lan- 
nt i  sche  Al Itag  hau- 
timmung  gekenn- 
en  Gesprachen  mit 
s  GieBen  uber  i  hre 

aumen,  die  mit  Men- 
h  nicht  kennenler- 
g  beieinander  ohne 
fuhlt  und  denkt.  Wir 
und  alteren  Studen- 
ie  un_i  interessie- 
g  nicht  verniinftig 
Lehrinhalte,  die  un- 


57  - 


seren  Interessen,  Bediirfnissen  und  Problemen  Jeweils  SuGerlich 
bleiben,  unseren  Al 1  tag  vollig  zerspl i ttern.  -  Wir  haben  uns  nach 
langem  Suchen  in  Zimmer  pressen  lassen,  die  klein  und  zu  teuer  sind, 
die  uns  voneinander  isolieren,  so  daD  wir  abends  die  Platzangst 
kriegen,  weil  wir  niemand  kennen,  mit  dem  wir  sprechen  konnen.  Dann 
irren  wir  durch  die  Stadt,  trinken  uns  einen  an  oder  gehen  in  ir- 
gendeine  Diskothek,  wo  wir  jedoch  das,  was  wir  dort  gesucht  haben, 
auch  nicht  finden. 

Angesichts  dieser  Situation  ist  es  fur  den  einzelnen  Studenten  wich- 
tiger  als  je  zuvor  geworden,  sich  mit  anderen  Studenten  zu  informel- 
len,  privaten  Gruppen  zusammenzuf inden,  sei  es,  urn  Erfahrungen  aus- 
zutauschen,  zusammen  zu  arbeiten,  freie  Zeit  zusammen  zu  verleben, 
ganz  einfach,  urn  dem  isolierenden  Durck  der  un iversi tSren  Verhait- 
nisse  nicht  vOllig  ausgeliefert  zu  sein. 

Wir  Mitarbeiter  der  "Krzl ich-psychologischen  Beratungsstel le  fur 
Studenten"  untersttitzen  diese  student ischen  Initiativen.  Wir  haben 
aber  auch  mi tbekommen,  dab  Gruppenbi Idung  schwer  ist  und  viele  An- 
sStze  scheitern.  Mit  unserem  Vorschlag,  eine  studentische  Selbst- 
hi lfeorqanisation  zu  initiieren,  wollen  wirweitere  Gruppenbi Idungs- 
prozesse  untersttitzen.  Wir  stellen  uns  dabei  Gruppen  mit  themati- 
scher  Orientierung  vor  wie  z.B.:  Partnerkonf i ikte  und  Sexual  i  ta't ; 
Uohngemeinschaften;  Soz ial isat ion  in  der  Kleinfamilie  (eigene  Ent- 
wicklung,  Verhaltnis  zu  den  Eltern);  politische  Arbeit  und  Emanz i - 
pation;  Arbeits-  und  Kommun i kat ionsstrukturen  in  Seminaren;  Prti- 
fungen  und  PrUfungsangst  usw.  Die  Gruppen  sollen  HSgl ichkei ten  des 
Kennenlernens  bieten.  Die  Gruppenmi tgl ieder  konnen  darUberhinaus 
versuchen,  in  qemeinsamer  themat i scher  Arbeit  und  Sei  bsterfahrung 
die  individuelle  Misere  im  Zusammenhang  mit  der  sozialen  Realita't 
-  Hochschule,  Priifungen,  Berufswah)  -  auf zuarbei  ten  und  zu  vera'n- 
dern. 


Dieser  Versuch 
die  Organisier 
ist,  sondern  s 
entwickeln  sol 
trad  i  t  ionel ler 
Gruppen,  in  de 
organisation  g 
tagl ichen  Arbe 
I  ichen  Therapi 
tagsproblemat  i 
sowie  Fragen  d 
klammert. 


hat  insofern 
ung  und  Gesta 
ich  durch  d  ie 
1 .  Von  daher 

'Therapeuten 
nen  wi  r  arbei 
ibt  uns  auch 
it  in  der  Ber 
eformen  nur  d 
k  erreicht  wi 
er  Organisier 


exper imente 
itung  der  Gr 

Tei lnahme  a 
verstehen  wi 
sondern  a 
ten.  Die  Tei 
die  Mogl ichk 
atungsstelle 
er  individue 
rd:  hochschu 
ung  des  Al I t 


1  len,  offen 
uppen  nicht 
1 ler  Gruppe 
r  uns  auch 
Is  Mitgl ied 
lnahme  an  d 
eit  der  Ube 
,  wo  haufig 
1 l-psychisc 
lpol  it  ische 
ags  werden 


en   Charakter,   als 

vorstrukturiert 
nmi tgl ieder  erst 
nicht    im   Sinne 
er  der   jewei 1  igen 
er   Selbsthilfe- 
rprtlfung  unserer 
mit  den    herkomm- 
he  Teil    der  Al 1- 

Zusammenhange 
gewohnl ich  ausge- 


Wer    Interesse  an  der  Sei bsthi 1 feorqan isat ion   hat:   Am  Mittwoch, 

30 .1.1 97^*  findet  urn  20.15  ein  Treffen    in  der   Beratungsstel  le,    Niko- 

lausberger  Weg    17   statt. 

Die  Mitarbeiter  der    'Arztl  ich-psychologischen   Beratungsstel le1 : 
Iris   Bartz,    Uschi    EBbach,   Manfred   Kuda,   Margret  Kuda-Ebert,   Heinz 
Schaub,    Eckhard   Sperling. 

Weitere  Mitarbeiter:  Almuth  Massing    (Psychiatrische  Klinik)   und 
Hans    Riebensahm    (Lektorat   filr   Sprecherz  iehung)  ." 


58  - 


Auf  dieses  Flugblatt  hin  kamen  ca.  350  Studenten:   Politisch  unorga- 
nisierte  Linke,  kontaktsuchende  Einzelne,  Patienten  der  Beratungs- 
stelle  usw.  Auf  diesem  ersten  Plenum  wurde  erstaunlich  gut  -  trotz 
der  groBen  Anzahl  der  Anwesenden  -  u'ber  die  Koneeption  des  Vorhabens 
diskutiert.   Formuliert  wurde  vor  allem  der  alte  Widerspruch,  auf 
der  einen  Seite  das  psychische  Leid  des  Einzelnen  nicht  wirklich 
verandern  zu  konnen  ohne  die  Umwalzung  der  gesellschaftl  ichen  Ver- 
ha'ltnisse,  auf  der  anderen  Seite  die  Notwendigkeit,  in  der  vorhan- 
denen  Wirkl ichkeit  halbwegs  leben  zu   konnen  oder  politisch  zu  arbei- 
ten. Der  Versuch  der  Studentenbewegung,  politische  Arbeit  und  per- 
sbnliche  Emanzipation  zu  verbinden,  wurde  in  Erinnerung  gerufen, 
geriet  jedoch  zum  Appell.   Kein  Wunder,  denn  was  sich  1974  an  linker 
Politik  an  den  Hochschulen  zeigte,  waren  Parteiaufbauorganisationen, 
in  denen  Diskussionen  liber  psychische  Konflikte,  organisations-be- 
dingte  Machtbeziehurgen  kaum  Platz  hatten.  Daneben  gab  es  kleine 
Restgruppen  der  Studentenbewegung,  ansonsten  herrschte  Apathie, 
eine  "linke  Offentl ichkeit"  gab  es  kaum  noch.  Dennoch:  Es  wurde  der 
Wunsch  formuliert,  in  diesen  Sei bsthi Ifegruppen  dem  Zusammenhang 
zwischen  AuBen  und  Innen,  zwischen  Hochschule,  Alltag  und  psychi- 
schem  Leid  nachzugehen. 

Auf  diesem  Plenum  organisierten  sich  14  Gruppen  mit  den  folgenden 
Themen:   Prufungsangst;  Sexualitat  (4  Gruppen);  Uohngemeinschaften; 
Partnerkonf 1 ikte;  Gruppe  ohne  Thema  (3  Gruppen);  Probleme  nichtaka- 
demischer  Kinder  an  der  Uni;   politische  Situation  an  der  Uni;  Ar- 
beitsstbrungen;  Psychiatrie  in  Gbttingen.  Einige  Gruppen  wXirden  in 
den  ersten  Sitzungen  von  mir  und  einigen  Kollegen  geleitet,  urn  Start- 
hilfe  zu  geben,  einige  Gruppen  liefen  von  Anfang  an  ohne  therapeuti- 
sche  Hilfestellung.  .Dieses  Plenum  fand  dann  jeweils  zu  Beginn  des 
Semesters  statt,  es  wird  inzwischen  ausschlieBlich  von  Studenten 
getragen,  und  auch  die  Gruppen  arbeiten  ohne  "Experten".  Doch  dazu 
spa'ter. 

Im  Laufe  des  Sommers  wurde  dann  die  leerstehende  Wohnung  im  Dachge- 
schoB  der  Beratungsstelle  zum  Zwecke  eines  Kontakt-  und  Informations- 
zentrums  von  einer  Gruppe  von  Studenten  und  mir  eingerichtet.  Das 
qelang  zum  Teil  liber  Spenden,  zum  Teil  erhielten  wir  auf  Antrage  hin 
Mobel   Liber  die  Kliniksverwaltung,  der  die  Beratungsstelle  angeschlos- 
sen  ist,  und  u'ber  das  Studentenwerk.   Es  wurde  ein  Plakat  entworfen, 
auf  dem  u.a.   in  groBen  Lettern:  Probleme  -  Kontakte  -  Selbsthilfe 
stand.  Wir  nahmen  Kontakte  zum  Asta  auf,  berichteten  in  deren  Infos 
liber  uns  und  lieBen  in  den  Lokalzeitungen  liber  uns  berichten.  Ein 
Taq-  und  Nachtdienst  wurde  eingerichtet,  wbchentlich  einmal   trafen 
sich  alle  Dienstleute  und  Vertreter  aus  den  Gruppen,  um  Erfahrungen 
auszutauschen.  An  diesen  wochentl ichen  Sitzungen  nahmen  auBer  mir 
lange  Zeit  der  Leiter  der  Beratungsstelle  und  -  periodisch  -  ein 
weiterer  Kollege  teil . 


ugrua  Selbsthilfe?  -  Die  Idee  und  wo  sie  herkommt 

7unachst  einmal:  was  ist  eigentlich  eine  Sei  bsthi  Reorganisation?: 
rs  handelt  sich  um  sich  selbst  organisierende  Gruppen,  deren  Mit- 
niieder  sich  ohne  Experten  in  einem  meist  genau  eingegrenzten  sozial- 
psychischen  Bereich  gegenseitig  helfen  und  Entlastungen  bneten.   In 

-  59  - 


der  Regel   handelt  es  sich  um  Individuen  mit  gleichen  Problemen  und 
gleichen  Interessen,  die  sich  regelma'Big  zu  Gruppengesprachen  oder 
gemeinsamen  Aktionen  zusammenf inden  und  deren  Kontakt,  Kommunikation 
und  Vertrauen  sich  eben  Liber  diese  gemeinsame  Problematik  herstellt. 
Einige  Sel bsthilfeorganisationen  sind  eingetragene  gemeinnutzige 
Vereine  mit  Statut  und  Vorstand.   Dieser  Organisationsform  liegt 
meistens  der  Bedarf  an  bffentlicher  finanzieller  Unterstutzung  zu- 
grunde,  was   in  der  Regel  eine  Kontrolle  des  Geldgebers  zur  Folge 
hat -oft  eine  entscheidende  Konf  1  iktzone.  Die  meisten  Sel  bsthilfe- 
organisationen sind  jedoch  informelle  Gruppen.  Sie  sind  meist  offen 
fur  neue  Mitglieder  und  verfUgen  Uber  ein  selbst  erarbeitetes  Vor- 
gehenskonzept.  Oft  bestehen  Kontakte  zu  Experten,  die  bei  Problemen 
oder  akuten  Notfa'llen  zu  Rate  gezogen  werden. 

Michael   Lukas  Moeller  hat  eine  FUlle  von  Material  Uber  bestehende 
Selbsthilfegruppen,  vor  allem  in  den  USA,  zusammengetragen  (1).   Er 
verweist  auf  die  wohl   alteste  und  am  meisten  verbreitete     Selbsthil- 
feorganisation  liberhaupt:   Die  "Alcoholic  Anonymous",  die  1935  gegrun- 
det  wurde.  Auch  in  der  BRD  gibt  es  inzwischen  in  zahlreichen  Sta'd- 
ten  die  "Anonymen  Alkoholiker" ,  deren  Hauptaufgabe  ist,  Alkoholiker 
vom  Alkohol   zu  befreien  bzw.   diejenigen,  die  einen  Alkoholentzug 
hinter  sich  haben,  davor  zu  schutzen,  ruckfallig  zu  werden.  Neben 
den  AA  nemt     Moeller  u.a.   die  Narcatica  A.   (Medikamentensuchtige) , 
Gamblers  A.    (Spiel suchtige) ,  Overeaters  A.  und  Fatties  A.    (Fett- 
sUchtige),  Suicids  A.   (Selbstmordgefahrdete),  Schizophrenics  A. 
(Schizo,jhrene),  Syanon  und  Daytop  (2  Organisationen  flir  Rauschgift- 
suchtige),  Stutterers  A.   (Stotterer),  Antirape  Groups   (Frauen- 
gruppen  speziell   zum  Schutz  vor  Vergewaltigungen) ,  Parents  without 
Partners  (alleinstehende  Mutter  oder  Vater)  usw.  Moeller  macht 
auBerdem  auf  eine  Selbsthilfegruppe  aufmerksam,  von  der  er  zu  Recht 
sagt,  da.J  die  dort  geleistete  Prevention  von  jeder  Form  traditio- 
neller  Therapie  gar  nicht  geleistet  werden  kb'nne:   Die  "Childbeaters 
Anonymous".   "Miitter,  die  anfallsartig  ihre  Kinder  schlagen,  haben 
eine  telefonische  Krisenintervention  eingerichtet  ...  Sie  hatten  in 
ihrer  Gruppenarbeit  entdeckt,  daB  sie  den  Impuls  zu  schlagen,  an 
leichtesten  Anzeichen  der  Stimmung,  des  Verhaltens  und  der  Phanta- 
sie  schon  Stunden  vorher  spliren.    In  diesem  Stadium  ruft  eine  Mutter 
eine  andere  an  und  kann  durch  telefonische  Aussprache  die  destruk- 
tive  Handlung  verhindern.   Eine  so  einfache  und  angemessene  Preven- 
tion, die  wenigstens  das  grobste  verhlitet,  kann  sich  nur  aus  der 
Auseinandersetzung  mit  der  konkreten  Lebenssituation  ergeben,  die 
in  Selbsthilfegruppen  starker  zur  Sprache  kommt"   (2). 

Die  konkrete  Lebenssituation  ist  auch  Inhalt  einer  Alten-Kampfgrup- 
pe  in  den  USA,   die  sich  in  Anlehnung  an  die  Black  Panthers  "Grey 
Panthers"  nennt.   Sie  besteht  aus  alten  Leuten,  die,  einer  Biirger- 
initiative  vergleichbar,  flir  die  Verbesserung   ihrer  Situation,  vor 
allem  in  den  Altenheimen  kampfen,   Demonstrationen  veranstalten,  um 
gegen  ihre  Gettosituation  aufmerksam  zu  machen;  eine  Gruppe,  die  in 
der  BRD  z.Zt.  undenkbar  ware. 

Ebenfalls  eher  politischen,  nach  auBen  wirksamen  Charakter,  haben 
die  verschiedenen  Selbsthilfegruppen,  Zirkel,  Wohngemeinschaften  in 
England,   speziell   in  London.    (3)  Es  handelt  sich  um  ein  Netz  von 
nichtstaatlichen  Sozialhilfestellen,  deren  Ziel  es  ist,  sozial  und 
psychisch  in  Schwierigkeit  geratenen  Personen  akute  Hilfe  zu   lei- 


-  6o  - 


sten,  oft  auch  nur  ein  "Safe  Place"  zu  schaffen,  um  jemanden  vor 
dem  Zugriff  der  Polizei  oder  vor  Zwangseinweisung  in  Nervenkliniken 
zu  schiitzen.   In  London,  wo  bisher  Hausbesetzungen  von  der  Dffent- 
lichkeit  weit  weniger  sanktioniert  werden  als  in  der  BRD,  gibt  es 
zahlreiche  besetzte  Hauser,  die  als  Anlaufstellen,  BUros  Oder  Schlaf- 
unterklinfte  dienen.  Eine  der  wichtigsten  dieser  Gruppen,  "Cope", 
verfiigt  vor  allem  liber  einen  Tag-  und  Nachttelefondienst.   Die  Leu- 
te,  die  dort  Dienst  tun,  sind  zum  Teil   berufstatig,  zum  Teil   leben 
sie  von  Sozialhilfe.  Offensichtlich  sind  die  vielfaltigen,  netzwerk- 
artigen  Kontakte  durch  die  Atmosph'a're  einer  typisch  Londoner  Sub- 
kultur  gepragt,  was  sehr  bestimmend  fiir  die  gute  Zusammenarbeit  und 
den  Zusammenhalt  dieser  Gruppen  zu  sein  scheint.  EinfluBreich  waren 
und  sind  vor  allem  die  therapeutischen  Versuche  der  Antipsychiatrie, 
wie  sie  Cooper  und  vor  alien  Laing  und  seine  Mitarbeiter  entwickelt 
und  in  Kingsley  Hall   in  London  praktiziert  haben.  Die  Antipsychia- 
trie hat  die  Konzeption  der  Selbsthilfe  insofern  gefordert,  als 
sie  das  Arzt-Patient-Gefalle  in  Frage  stellte,  sowie  auf  die  iibli- 
chen  Etikettierungen:  krank/gesund,  psychotisch/normal   verzichtete 
und  stattdessen  den  Ausdruck  und  das  Durchleben  aller  individuellen 
Gefuhle  und  Denkweisen  -  eben  auch  der  "psychotischen"   -  unter- 
stutzte  und  ernstnahm.   Der  Versuch,   in  Kingsley  Hall  ein  Haus  - 
keine  Klinik  -  zu  schaffen,  in  der  Psychotiker  zusanmen  mit  einigen 
Rrzten  leben  und  ihr  Leben  dort  selbst  organisieren,  hat  bii  alien 
Schwierigkeiten  und  Konflikten  immerhin  die  Kommunikation  und  gegen- 
seitige  Unterstutzung  der  Patienten  untereinander  gefordert  und 
diesen  ProzeB  selbst  zu  einem  Therapeutikum  gemacht.   (4) 


Selbsthilfe:  den  Alltag  in  die  eigenen  Hande  nehmen  statt  ihn 
vorwalten  zu  lassen 

Die  Diskussion  uber  Selbsthilfeorganisationen,  die  in  der  Bundes- 
republik  gerade  zaghaft  beginnt  (5),  nahm  in  den  angel sachsischen 
La'ndern  bereits  in  den  60er  Jahren  ihren  Anfang.   Empirische  und 
theoretische  Arbeiten  uber  Selbsthilfegruppen  entstanden  vor  allem 
im  Bereich  der  Sozialarbeit  mit  Randgruppen  und  Jugendlichen  sowie 
im  Bereich  der  Hochschule.    (6)  Die  Frage,  warum  gerade  in  dieser 
Phase  der  sozial  en  und  politischen  Entwicklung  westlicher  Nationen 
Selbsthilfegruppen  sich  zu  entwickeln  beginnen,  ist  sehr  kompliziert, 
und  ich  kann  an  dieser  Stelle  nur  einige  Vermutungen  daruber  anstel- 
len     Zunachst  einmal   ist  die  Beteiligung  von  "Micht-Professionellen" 
im  Bereich  "sozialer  Dienstleistungen"  nichts  Neues,  sondern  ist 
durch  die  Entstehung  hochspezial isierter  Berufe  lediglich  zuruckge- 
drangt  worden.  Was  frliher  in  der  GroBfamilie  oder  uber  die  Nachbar- 
schaftshilfe  selbstversta'ndlich  war,  z.B.  die  Erziehung  der  Kinder, 
die  Pflege  der  Alten,  die  Behandlung  von  leichten  Krankheiten  usw., 
wird  heute  von  Institutionen  -  Kindergarten,  Altenheime,  Kliniken  - 
Miernonmen.   Institutionen,  die  oftmals  durch  unzureichende  Versor- 
nima     hohe  Kosten  sowie  durch  bUrokratisch-unmenschliche  Beziehungs- 
?ormen  qekennzeichnet  sind.  So  wird  man  die  Entstehung  von  Selbst- 
hilfeqruppen  als  einen  Versuch  der  Rlicknahme  historisch  verloren 
„lDanqener  "natUrlicher  Beziehungsgeflechte"  begreifen  konnen.   (7) 
nie  Selbsthilfebewegung  kann  als  ein  Ausdruck  des  Protests  gegen 
~ne  zunehmende  Verwaltung  und  Kontrolle  des  Alltags  verstanden 
werden,  als  Ausdruck  des  Wunsches  nach  Selbstbestimmung  und  Selbst- 

-  61  - 


organisation.  Vattano  sieht  die  Entschehung  von  Selbsthilfegruppen 
als  einen  Teil  der  Power  to  the  people-Bewegung.  als  em  lichen 
der  Entwicklung  von  mehr  Demokratie. 

Die  Misere  der  Hochschule  und  des  studentischen  AT  1  tags- ■ - 

An  den  Hochschulen  der  Bundesrepubl ik  ist  in  den  letzten  J«hren, 
analog  zu  alien  anderen  gesellschaftlichen  Bereichen  ein  Veriust 
an  Demokratie  zu  beobachten,  der  die  Arbeits-  und  Lernbedingungen 
in  hohem  MaBe  beeintra'chtigt  und  ein  Klima  geschaffen  hat,   in  dem 
sich  eine  FUlle  von  psychosozialen  Konflikten  aktualisiert  .   uie 
"Enttauschungskette  Elternhaus,  Schule,  universitat"   (8)  bringt  vie- 
le  Studenten  oft  in  ausweglose  Situationen.  die  durch  Dekompensa- 
tion,  psychosomatische  Beschwerden,  Sexual-  und  Arbeitsstorungen, 
UbermaBige  Hrufungsangst  usw.  gekennzeichnet  sind.  Der  Zusanroenhang 
von  Hochschulstruktur  und  der  Aktualisierung  psychischer  Kontmte 
ist  kompliziert,  spezifisch  studentische  Stbrungen  nur  wenig  er- 
forscht  (9).    Im  Folgenden  seien  nur  die  wichtigsten  Konfliktzonen 
genannt,  die  meiner  Meinung  nach  die  Misere  des  gegenwartigen  stu- 
dentischen Alltags  ausmachen. 

1  Das  heutige  Angebot  an  Lehrpersonal  und  Studienplatzen  hat  TO! 
Erweiterungen  in  den  letzten  Jahren  dem  rapide  anwachsenden  Bedurf- 
nis  nach  einer  Hochschulausbildung  nicht  standgehal ten     Die  Folge 
sind  Massenveranstaltungen,  zum  Teil  verbunden  rait  ^r  RUckkehr 

zum  rrontalunterricht.  in  denen  die  Studenten  kauni  NWJWAtlttn  ha- 
ben,  Lehrinhalte  und'deren  Vermittlung  mitzubestimmen  sowie  sinnvol I 
und  relativ  angstfrei  zu  lernen.  Das  bedeutet.  daB  die  Moglichkei- 
ten,  sich  liber  gemeinsame  Arbeit  in  den  Lehrveranstaltungen  kennen- 
zulernen,  stark  eingeschrKnkt  sind.  Die  folge  sind  jjolierung    das 
GefUhl  der  AnonymitSt  .sowie  bei   vielen  Studenten  einTTe7ita?kung 
ihrer  Kontaktstorungen. 

2  Staat  und  University  haben  auf  den  Widerspruch  zwischen  BedUrf- 
nis  nac    Hochschulbildung  und  realem  Angebot  .it  Reg  emen  lerunge 
reagiert.  Studienzeitverklirzungen,  Verscharfung  der  Leistungsanfor 
derungen  in  vielen  Fachern  sowie  Humerus  clausus  **  J"]"**™' 
die  sich  versta'rkend  auf  Probleme  der  PnJfungsangst,  ^*Ii5^£- 
rungen  und  allgemeine  LeistungsUb^r^^erung  auswIrkenTTer  Numerus 
S    der  bereits  in~3e!TstjiuTen  enorme  Konkurrenzkonstellationen 
entstehen  la'Bt,  verscharft  durch  das  Ausweichen  auf  abge  egene 
FScher  d«  ohnehln  schon  vorhandene  Motivationsproblem  vi el  er  Stu- 
denten.      h.  die  Unsicherheit  in  Bezug  auf  Studien-  und  Berufswahl. 
Lanoe  Wartezeiten  erzeugen  daruber  hinaus  Erwartungen  an  Stud i urn 
t5?!wSf!  "e  gesellschaftllch  nicht  eingelbst  werden  konnen.  Die 
Folge  Sind  EnttSuschungen  und  die  Unsicherheit  daruber.  ob  sich 
lances  Marten  und  die  Lntbehrungen  wahrend  des  Studiuras  Uberhaupt 

ohnen.  Die  steigende  Arbeitslosigkeit  bei  Hochschulabsolventen 
vor  allem  Lehrer,  Sozialwissenschaftler,  auch  Naturwissenschaftler) 
gibt  diesen  Zweifeln  ihre  reale  Berechtigung. 

3  Die  wahrend  der  Studentenbewegung  erreichten  EinfluBmbglichkei- 
ten  auf  Forschung  und  Lehre  (Drittel pari  tat  usw.)  sind  den  Studen- 
ten und  dem  Mittelbau  inzwischen  entzogen.   Hinzukommen  Radikalen- 
erlaS  und  Berufsverbote  -  Realita'ten,  die  nach  einer  Phase  des  En- 


62 


gagements  und  der  Mitbestimmung  ein  Klima  der  Resignation  und 
Apathie.  zum  Teil  der  Unsicherheit  und  Angst  geschaffen  haben. 

4.  Ilinzukommt  ein  Faktor  der  studentischen  Sozialisation,  der  exi- 
stiert,  seitdem  es  Hochschulen  gibt:  die  relativ  lange  Ausbildungs- 
zeit.  Der  Student  befindet  sich  standig  in  dem  Widerspruch,  auf 
der  einen  Seite  noch  keinen  Beruf  zu  haben  und  damit  materiell  ab- 
ha'ngig  zu  sein  (entweder  von  den  El  tern  oder  von  staatlichen  bzw. 
privaten  Stipendien),  sich  auf  der  anderen  Seite  jedoch  in  einem 
Ausbildungssektor  zu  befinden,  der  vom  sozialen  Prestige  her  allge- 
raein  hoch  eingescha'tzt  wird  und  sowohl  mit  gesellschaftlichen  Anfor- 
derungen  (hohe  Dual  ifikation,  "Spitzenkra'fte"  usw.)  als  auch  mit 
Versprechungen(materielle  Absicherung,  Ansehen)  verbunden  ist.  Die- 
ser  Widerspruch,  noch  nichts  zu  sein,  doch  sehr  viel  zu  werden, 
flihrt  ha'ufig  zu  Unsicherheiten  in  Bezug  auf  die  soziale  Identitat. 
die  von  GefUhlen  eigener  Minderwertigkeit  bis  zu  ideal isierenden 
SelbstUberschatzungen  reichen. 


ch  der  Sexual  ita't  und  Part- 
Eltern.  Die  Mbglichkeiten, 
therapeutischen  Einzel- 
en  zu  helfen,  sind  wegen 
eschra'nkt.  Hinzukommt  eine 
gen  Studenten,  die  erst 
ere  therapeutische  Insti- 
icidale  Studenten').  Hier 
Vorurteil  gegenliber  psychi- 
en  gegenliber  Institutionen, 


Hinzukommen  spezifische  Probleme  im  Berei 
nerschaft  sowie  Ablbsungsprobleme  von  den 
diese  Konflikte  in  der  Beratungsstelle  in 
oder  Gruppengespra'chen  anna'hernd  bewa'ltig 
geringer  personeller  Besetzung  stark  eing 
hohe  Dunkelziffer  von  behandlungsbedurfti 
gar  nicht  in  die  Beratungsstelle  oder  and 
tutionen  gehen  [das  gilt  vor  allem  flir  su 
ist  vermutlich  das  immer  noch  vorhandene 
scher  Krankheit  wirksam  sowie  das  MiBtrau 
die  diese  behandeln. 

Dieter  Spazier  und  Jbrg  Bopp  haben  in  ihrem  Such  "Grenzubergange. 
Psychotherapie  als  kollektive  Praxis"  deutlich  gemacht,  daB  sich 
psychotherapeutisch  orientierte  Beratungsstellen  an  der  Universitat, 
die  bestenfalls  "gegen  die  pathogenen  Auswirkungen  einer  unertrag- 
lichen  Hochschul situation  bei  den  Patienten  therapeutisch  angehen" 
(10)  ihrem  eigenen  Charakter,  namlich  Institution  zu  sein,  nicht 
entziehen  konnen.  Vielmehr  weisen  die  Autoren  sehr  deutliche  Paral- 
lelen  zwischen  Hochschulstruktur  einerseits  und  Institution  ande- 
rerseits  auf.  Ebenso  wenig,  wie  es  z.B.  dem  Studenten  moglich  ist, 
den  Dschungel  Universitat  zu  Uberblicken,  ebenso  wenig  vermag  er 
Einsicht  in  die  Entscheidungsprozesse  einer  Beratungsstelle  zu  ge- 
winnen.  Die  Patienten  bleiben  untereinander  vereinzelt,  es  bleibt 
heim  individuellen  Leid,  was  nur  in  der  therapeutischen  Gruppe  an- 
na'hernd anders  ist;  diese  Real  ita't  entspricht  der  Isolierung  im  Mas- 
senbetrieb  Universitat.  Eine  weitere  Parallele  ist  die  Vermeidung 
Her  Aufklarung  Uber  das  methodische  Vorgehen  gegeniiber  den  Patien- 
ten Das  hat  zur  Folge,  daB  der  Therapeut  flir  den  Patienten  zum 
Madier  werden  kann,  was  wiederum  eine  Fortsetzung  der  Situation  an 
der  Universitat  ist,  wo  die  Dozenten  sich  "als  Besitzer  eines  uner- 
meBlich  groBen  und  schwer  zuganglichen  Wissens  in  Szene  setzen", 
m)   Die  mangelnde  Mitbestimmung  der  Patienten  -  in  der  Heidelber- 
Lr  Beratungsstelle,  wo  Spazier  und  Bopp  arbeiten  ,wird  ein  Mitbe- 
c+immungsmodell  erprobt  -  entspricht  der  RUcknahme  von  Entscheidungs- 
mHnlichkeiten  der  Studenten  im  Universitatsbetrieb.  Und  schlieBlich 
bleiben,  so  Spazier  und  Bopp.  die  Zusammenhange  von  Gesellschaft 

-  63  - 


und  Krankheit  flir  den  Patienten  einer  Beratungsstelle  verdunkelt, 
was  wiederum  der  Realitat  an  der  Hochschule  entspricht,  wo  die  Ideo- 
logie  wertfreier  Wissenschaft  immer  noch  ihre  Bluten  treibt.   So  ist 
eine  Beratungsstelle  unvermeidbar  eine  Institution,  d.h.   "ein  Haus, 
das  mit  Fremden  angeflillt  ist"   (Rohde). 


...  und  waruni  Selbsthilfe  dem  entgegenwirken  kann 

Demgeg  en  liber  haben  Selbsthilfeorganisationen  -  und  das  war  eine  der 
wichtigsten  Oberlegungen  bei  der  Gr'undung  des  Social  Work  -  die 
Chance,  sich  dem  Charakter  einer  Institution  weitgehend  zu  entzie- 
hen,  d.h.,  sie  vermbgen  das  Therapeut/Patient-Gefalle, sowie  die 
Ideologie  von  der  Krankheit  als  individuel  lem  Versagen  zu     vermei- 
den.   Der  Vorteil  des  Social  Work  liegt  also  darin,  daB  jemand,  der 
Hilfe  braucht,   sich  nicht  an  Institutionen,   professionelle  Thera- 
peuten,  die  ihm  haufig  als  anonym  und  schwer  erreichbar  erscheinen, 
wenden  mull,  sondern  an  Laien,  zu  denen  sich  wegen  des  gleichen  Er- 
fahrungszusammenhangs  oft  leichter  Vertrauensbeziehungen  herstellen 
lassen.  D.h.   in  dieseni  Fall:  Der  Schritt,  ins  Social   Werk  zu  gehen, 
sei  es  in  eine  Selbsthilfegruppe  Oder  zu  dem  dort  anwesenden  dienst- 
habenden  Studenten,  urn  liber  seine  psychischen  Probleme  zu  sprechen, 
ist  mitunter  leichter,  als  sich  in  der  Beratungsstelle  anzumelden. 
Es  gibt  dort  keinen  Therapeuten,  der  ihm  aufgrund  seiner  Berufsrolle 
in  der  Regel  als  "gesund"  und  kompetent  entgegentritt,  der  lhn  eti- 
kettiert  als  behandlungsbedlirftigen  Kranken.   Stattdessen  treffen 
sich  dort  Menschen  mit  ahnlichen  Erfahrungszusammenhangen.  mit  ahn- 
lichen  Konflikten,  mit  dem  Versuch,  diese  erst  einmal  zu  artikulie- 
ren  und,  wenn  mbglich,  zu  gemeinsamen  Lbsungen  zu  kommen.    Ich  will 
das  nicht  ideal isieren.   Eine  Selbsthilfeorganisation  ist  bei  weitem 
kein  Garant  flir  egalitare  Beziehungen,  sie  ist  auf  keinen  Fall  frei 
von  der  Gefahr,   in  sich  selbst  eben  jene  institutionelle  Gewalt  her- 
zustellen,  gegen  die  sie  sich  wendet  (z.B.  dann,  wenn  die  Gruppen- 
initiatoren  oder  die  Dienstleute  sich  wie  "kleine  Therapeuten"  zu 
flihlen  beginnen).   Dennoch:  Selbsthilfeorganisationen  haben  eine  Chan- 
ce, Herrschaft,  Macht  und  Angst  prozesshaft  zu  iiberwinden,  well   sie 
mit  dem  Ballast  "Institution"  nicht  befrachtet  sind. 
Selbsthilfeorganisationen  zeigen  vor  allem  im  Bereich  der  Drogenab- 
hangigkeit  zum  Teil   betrachtl iche  Erfolge.   Scheff  spricht  von  einer 
Heilungsrate  von  55  %  bei  der  Release-Gruppe  "Syanon".    (12)  Daruber 
hinaus  ist  die  Chance,  in  einer  Selbsthilfeorganisation  ein  anderes 
Verstandnis  von  Krankheit  -  namlich  Ergebnis  gesell schaftl icher 
Realitaten  (Familie,  Universitat  usw.)   -  zu  entwickeln,  zumindest 
gegeben,  wenngleich  die  Erfahrungen  der  bisherigen  Arbeit  zeigen, 
daB  die  Vermittlung  gesellschaftl icher  und  individuel ler  Miseren 
schwierig  ist. 

Die  Selbsthilfegruppen 

Das  Social  Work  besteht,  wie  gesagt,  aus  Selbsthilfegruppen  und 
einem  Kontakt-  und   Informationszentrum.   Beide  Arbeitsbereiche  ste- 
hen  insofern  in  Zusammenhang,  als  sich  die  meisten  Gruppen  in  die- 
sem  Kontaktzentrum  treffen  und  sich  darliberhinaus  Teilnehmer  die- 
ser  Gruppen  dort  oft  aufhalten.  Die  Selbsthilfegruppen  werden  je- 


64 


weils  am  Anfang  des  Semesters  in  einem  Plenum  gegrundet,  zu  dem 
liber  ein  Flugblatt  eingeladen  wird. 

Es  gibt  Gruppeninitiatoren,  die  sich  zu  einem  bestimmten  Thema,  z.B. 
Partner probleme,  Wohngemeinschaft,  Rollenspiel,  Studium  und  Univer- 
sitat usw.  Gedanken  gemacht  haben  und  sich  auf  dem  Plenum  vorstel' 
len.   Die  Gruppen  laufen  meistens  liber  1   -  2  Semester.   Die  Gruppen 
bestimmen  selber,  wieviel  Teilnehmer  sie  haben  mbchten,  ob  sie  of- 
fen  sind  flir  jeden  usw.  Sie  sind  also  autonom,  bestimmen,  wie  sie 
vorgehen  und  was  sie  machen  wollen,  wie  oft  sie  sich  treffen  usw. 
Gerat  eine  Gruppe  in  eine  schwierige  Phase,  so  hat  sie  die  Mbglich- 
keit,  einen  Mitarbeiter  der  Beratungsstelle  zu  bitten,  ein  paar 
Sitzungen  an  der  Gruppe  teilzunehmen.   Das  ist  zu  Anfang  des  Beste- 
hens  der  Gruppen  manchmal   vorgekommen,  in  der  letzten  Zeit  nicht 
mehr.  Mugl ichkeiten  gegensei tiger  Supervision  bestehen  darin,  daB 
sich  wbchentlich  einmal   Vertreter  der  einzelnen  Gruppen  treffen,  urn 
ihre  Erfahrungen  auszutauschen.  An  diesem  Treffen  nahmen  ich  und 
der  Leiter  der  Beratungsstelle  lange  Zeit  teil,   inzwischen  trifft 
sich  das  Gruppenforum  ohne  uns.  Dabei  gab  es  immer  das  Problem,  daD 
die  einzelnen  Gruppen  die  Tendenz  haben,   sich  voneinander  zu  isolie- 
ren,  sich  nach  innen  abzuriegeln;  deshalb  war  das  gemeinsame  Tref- 
fen oft  nur  von  wenigen  Gruppenteilnehmern  besucht.  Vielfaltige 
Appelle  nutzten  wenig,  was  dazu  fiihrte,  daB  oft  unbekannt  blieb, 
was  in  den  Gruppen  passierte. 


Drei   Aufgaben  des  Gruppeninitiators 

Wir  haben  im  Laufe  der  Arbeit  vor  allem  drei  wichtige  Aufgaben  des 
Gruppeninitiators  definieren  kbnnen: 

1.   Er  sollte,  vor  alien  Dingen  zu  Anfang,  die  Gruppe  insofern  struk- 
turieren,  als  er  konkrete  Vorschlage  zu  dem  jeweiligen  Thema  macht, 
urn'  der  G'ruppe  Angst-Entlastung  zu  geben.   Fur  einige  Gruppen  haben 
wir  z.B.  Strukturierungsvorschlage  erarbeitet:  Zum  Thema  "Sexual itat" 
qab  es  einige  Gruppen,  die  sich  pornograf isch-aufklarerische  Filme 
vom  Institut  flir  Sexualforschung  Hamburg  besorgten,  die  in  einer 
der  ersten  Gruppensitzungen  gezeigt  wurden;  danach  wurde  versucht, 
uber  die  Geflihle  und  Empfindungen,  die  jeder  einzelne  hatte,  zu 
sprechen.  Am  Anfang  einer  Gruppe  mit  dem  Thema  "Kontaktschwierig- 
keiten"   kbnnte  z.B.    stehen,  daB  der  Gruppeninitiator  die  verschie- 
denen  Kontakte,  die  sich  im  studentischen  All  tag  ergeben  (Hbrsall, 
Seminar,  Mensa,  Kneipe  usw.)  schildert,  urn  so  einen  Einstieg  in  das 
Thema  zu  finden.   Eine  solche  Strukturierung  hat  sich  erst  im  Laufe 
der  Arbeit  als  unbedingt  notwendig  erwiesen,  da  in  vielen  Gruppen 
in  ahnl icher  Weise  immer  etwa  Folgendes  passierte:   Die  Teilnehmer 
kommen  zusammen  mit  bestimmten  Erwartungen  und  Bedlirfnissen:  bei- 
sjielsweise  liber  ihre  Kontaktstbrungen  oder  ihre  sexuellen  Proble- 
me sprechen  zu  kbnnen,  liilfe  von  anderen  zu  bekommen,  Kontakte  zu 
erweitern  usw.  Da  anfangs  in  jeder  Gruppe  aufgrund  des  mangelnden 
Kennens  un tereinander  Angst  entsteht,  sind  die  Erwartungen  nicht  ad 
hoc  zu  erflillen.   So  stand  dann  auch  am  Anfang  jeweils  die  Frage: 
uie  kbnnen  wir  uns  kennenlernen,  urn  eine  Atmosphare  zu  schaffen, 
die  das  Reden  Liber  Probleme  liberhaupt  erst  ermbglicht.   Es  erwies 
sich  dabei  als  schwierig,  diesen  ProzeB  des  Kennenlernens  ohne  ein 
Vorgehens-Konzept  zu  gestalten.  Oft  geriet  der  Appell :   "Wir  wollen 
uns  kennenlernen"  zu  einem  zahen  Kreisen  urn  sich  selber,  rief  Angstf 

-  65  - 


Langeweile  oder  Aggressivitat  hervor.  Aus  diesen  Erfahrungen  er- 
wuchs  die  Konsequenz,  die  Gruppen  weit  mehr  nach  flexiblen  Projek- 
ten  zu  strukturieren,  wobei  neben  thematischen  Vorschlagen  auch  ge- 
meinsame  Unternehmungen  stattfanden,  z.B.  gemeinsam  ein  Wochenende 
wegzufahren. 

2  Eine  weitere  Aufgabe,  die  der  Gruppeninitiator  erfullen  sollte, 
ist  die  Siindenbockentlastung.  D.h. :  Wenn  die  Gruppe  -  und  das  pas- 
siert  beinahe  regelhaft  mindestens  einmal  -  ein  solches  MaB  an  Ent- 
tauschung,  Aggressivitat  oder  Angst  entwickelt,  daB  sie  diese  Ge- 
fiihle  nicht  mehr  bewa'ltigt  und  sie  auf  das  schwachste  Mitglied  der 
Gruppe  delegiert,  sollte  der  Gruppeninitiator  eingreifen,  indem  er 
diesen  ProzeB  verbal  isiert  oder  sich  selbst  zum  Siindenbock  macht, 
indem  er  die  Meinung,  Haltung  des  Sundenbocks  noch  Ubertrifft  und 
damit  die  jeweiligen  Gefuhle  auf  sich  zentriert. 

3.  Der  Gruppeninitiator  soltle  darauf  achten,  dalJ  die  Teilnejimer 
im  Sinne  der  themenzentrierten  interaktionellen  Methode  "ich  sagen 
statt  "man",  d.h.  jeweils  von  ihren  authentischen  Gefuhlen  sprechen 
statt  sich  an  vorgegebene  Klischees  zu  halten  oder  die  Gefuhle  an- 
derer  zu  interpretieren. 

Das  Rotationsprinzip:  jeder  kann  diese  Aufgabe  wahrnehmen 

Wenn  eine  Selbsthilfegruppe  befriedigend  verlauft,  so  werden  diese 
drei  Funktionen  allmahlich  auch  von  den  anderen  Teilnehmern,  je  nach 
Situation,  ubernommen  werden  konnen.  Hier  liegt  auch  der  wicntigste 
Unterschied  zu  alien  professionellen  therapeutischen  Gruppen: 
Wahrend  sich  dort  ausschl ieBl ich  der  Therapeut  bestimmter,  fur  den 
Erfolg  des  Gruppenprozesses  notwendiger  Techniken  bedient,  die  aulier- 
dem  Liber  die  drei  genannten  Funktionen  hinausgehen  bzw.  sich  auch 
von  ihnen  unterscheiden,  soil  en  in  Selbsthilfegruppen  diese  Funktio- 
nen nach  dem  Rotationsprinzip  von  alien  Teilnehmern  ubernommen  wer- 
den. Die  Erfahrungen  aus  den  einzelnen  Gruppen  bestatigen,  dau  lmmer 
dort,  wo  das  annahernd  geschieht,  ein  Gruppenklima  der  Offenheit  und 
des  Wohlgefiihls  zu  finden  ist.  Es  wurde  immer  dann  schwieng,  wenn 
sich  aus  der  Gruppe  heraus  -  und  das  muBte  nicht  unbedingt  der  Grup- 
peninitiator sein  -  ein  "Gruppenflihrer"  herausschalte,  dessen  Domi- 
nanzproblematik  offensichtlich  war.  Oft  kann  sich  eine  Gruppe  gegen 
derlei  Dominanz  nicht  wehren.  In  einer  Selbsthilfegruppe,  an  der 
ich  auf  deren  Wunsch  hin  zweimal  teilnahm,  stellte  sich  z.B.  heraus, 
dafi  der  Gruppenfuhrer  nur  deshalb  so  schwer  zu  entmachten  war,  well 
er  mit  sehr  subtilen  Andeutungen  der  Gruppe  androhte,  daB  er,  falls 
man  inn  entthronen  wolle,  die  ganze  Arbeit  -  und  er  tat  viel  fur 
die  AuBenarbeit  der  Gruppe  -  hinschmeiBen  wurde.  Das  Gruppenklima 
anderte  sich  erst,  als  einige  in  der  Gruppe  aktiver  wurden,  neue 
hinzukamen  und  der  "Gruppenfuhrer"  die  Gruppe  verlieB. 

Selbsthilfegruppen  fbrdern  Autonomie  statt  Abhancjigkeit 

Selbsthilfegruppen  sind  also  weit  mehr  als  professionell-therapeu- 
tische  Gruppen  auf  die  Aktivita't  aller  Teilnehroer  angewiesen.  Exi- 
stenz  und  Erfolg  von  Selbsthilfegruppen  sind  abhangig  von  der  Be- 


66 


reitschaft  der  Teilnehmer,  von  ihren  authentischen  Erfahrungen  zu 
sprechen,  den  anderen  zuzuhbren,  jemanden  gegebenenfall s  zu  entla- 
sten  und  Fahigkeiten  zu  entwickeln,  stagnierende,  angstmachende 
Situationen  zu  bewaltigen.  Das,  was  in  der  traditionellen  Therapie 
am  Ende  des  therapeutischen  ProzeBes  stehen  soil:  Die  Kompetenz 
zur  Selbsthilfe  wird  hier  von  Anfang  an  zu  einem  Schwerpunkt  des 
Prozesses  selbst.  Darin  liegen  die  Chancen,  egal i tare, statt  wie  in 
der  professionellen  Therapie  asymmetrische  Beziehungen  herzustellen. 
Lukas  Moeller  spricht  vom  "Auff orderungscharakter" ,  der  in  den 
Selbsthilfegruppen  liegt:  "Die  Gruppentherapie  ist  therapeutenzen- 
triert  und  niobil  isiert  dadurch  Abhangigkeitstendenzen,  Passivita't 
und  Regression.  In  der  Selbsthilfegruppe  fehlt  der  Therapeut,  an 
den  man  sich  anlehnen  bzw.  anhangen  kann.  Durch  die  Auf f orderung , 
sich  selbst  zu  helfen,  werden  statt  Abhangigkeitstendenzen  Autono- 
mietendenzen  aktualisiert.  Der  psychodynamische  ProzeB  in  einer 
Selbsthilfegruppe  steht  also  unter  ganz  anderen  Bedingungen,  folgt 
ganz  andern  Gesetzen  ...  Wahrscheinlich  sind  aus  diesem  Grunde  die 
Interaktionen  direkter  und  harter,  tiefe  Regression  seltener  und 
das  Gruppenerlebnis  mehr  von  aktuellen  Problemen  und  weniger  von 
vergangenen  Beziehungen,  etwa  zu  den  Elternf iguren  bestimmt"  (13). 

Auch  Vattano  betont,  daB  in  den  meisten  Selbsthilfemodellen  die 
pjoenyerantwortung  (responsibility)  eine  groBe  Rolle  spielt,  d.h. 


Hie  Aktivita't  des  Einzelnen  ,sich  zu  verandern,  wird  mobil  isiert, 
z.T.  auch  mit  Hilfe  moral ischer  Kodices,  wie  z.B.  bei  den  Anonymen 
Aikoholikern  (14). 


qplbsthilfegruppen  regulieren  sich  selbst 

Das  Vermeiden  tiefer  Regression  ist  auch  als  ein  wichtiger  Selbst- 
schutz  von  Selbsthilfegruppen  zu  verstehen.  Die  Erfahrungen  unserer 
Selbsthilfegruppen  haben  gezeigt,  daB  die  Angst  und  Vorbehalte  von 
Seiten  vieler  Professioneller,  aber  auch  von  Seiten  der  Studenten 
unbegrundet  sind:  DaB  namlich  Selbsthilfe  gefahrlich  sei,  weil  dort 
ein  Fachmann  fehle,  um  schwere  Dekompensation,  psychotische  Schlibe, 
Suicidal itat  usw.  aufzufangen.  Es  herrscht  offensichtlich  eine  gut 
funktionierende  Selbstregulation  in  diesen  Gruppen,  so  daB  man  eher 
sagen  kann,  daB  in  ihnen  zu  wenig  als  zuviel  passiert.  Das  wird  be- 
statigt  durch  vergleichende  Untersuchungen  in  den  USA,  wo  Selbst- 
hilfegruppen und  Therapiegruppen  verglichen  werden,  u.a.  im  Hinblick 
auf  krisenhafte  Verlaufe.  Ein  Ergebnis  ist:  "Das  Schlechteste,  was 
nassiert,  war  nicht,  daB  zuviel  passierte,  sondern  zu  wenig."  (15) 
Auf  der  anderen  Seite  ist  mir  der  Ruf  nach  dem  "Fachmann"  einsich- 
tin  und  ich  nehme  ihn  ernst.  Denn  die  in  der  Selbsthilfe  geforderte 
Autonomie  ist  eine  Zumutung.  Das  Fehlen  der  Mbglichkeit  tiefer  Re- 
gression, wie  sie  z.B.  in  der  Psychoanalyse  geschehen  kann,  ist  ein 
Manael  In  der  Selbsthilfe  wird  von  den  Beteiligten  etwas  Paradoxes 
Lprlanqt:  sie  sollen  das  bereits  (tendenziell )  sein,  was  sie  erst 
wprden  wollen:  autonom.  Diese  Zumutung  ist  m.E.  auch  der  Grund  da- 
fNr  daB  trotz  des  immensen  psychosozialen  Leids,  das  therapeutisch 
vBiiig  unterversorgt  ist,  Selbsthilfeorganisationen  nur  sehr  zbgernd 
sich  zu  entwickeln  beginnen. 


67 


Typische  Unterschiede  zwischen  Therapie-  und  Selbsthilfeqruppen 

Stanley  Dean  hat  in  Anlehnung  an  N.  Hurvitz  typische  Unterschiede 
zwischen  professional ler  Therapie  und  Selbsthilfe-Gruppen  zusammen- 
gestellt,  von  denen  ich  die  wichtigsten,  die  sich  auch  als  Ergebnis 
unserer  Arbeit  formulieren  lassen,  herausstellen  mbchte: 


Traditionelle  Psychotherapie 

1.  beruflicher,  autorisierter 
Therapeut 

2.  Honorar 

3.  therapieorientierte  Atmos- 
phare  (PsychiaterbLiro, 
Klinik  usw. 

4.  Psychiater  wird  als 
"normal"  wahrgenommen, 
identifiziert  sich  nicht 
mit  dem  Patienten 

5.  Therapeut  ist  kein  Rollen- 
vorbild,  setzt  keine  person- 
lichen  Beispiele 

6.  Therapeut  ist  unkritisch, 
nicht-urteilend,  neutral, 
aufmerksam 

7.  die  Patienten  b'ffnen  sich 
einseitig  dem  Therapeuten 
gegenliber,  Enthlillungen 
sind  geheim 

8.  Patienten  erwarten,   nur 
Hilfe  zu  bekommen 

8.  Der  Therapeut  akzeptiert 
...  die  Krankenrolle,  ent- 
lastet  den  Patienten, 
schiebt  die  Schuld  auf  die 
Ursachen 


Selbsthilfeqruppen 

nichtprofessioneller  Leiter, 

Gruppenparitat 

frei 

nichttherapieorientierte  Atmos- 

phare  (Kirchen-  und  Gemeinde- 

raume,  Stadtteiltreffpunkte  etc.) 

Peers  sind  gleichermaBen  leidend, 

identifizieren  sich  untereinander 


Peers  sind  Rollenvorbilder,  miissen 
sich  gegenseitig  Beispiele  geben 

Peers  sind  aktiv,  urteilend,  unter- 
stiitzend,  kritisch,  redend 

Peers  bffnen  sich  gegenseitig, 
Enthiillungen  werden  geteilt 


Patienten  miissen  auch  Hilfe 

geben 

die  Patienten  weisen  die  Krankheits- 

rolle  zurlick,  halten  Mitglieder 

flir  verantwortl  ich  (16) 


Das  Verhaltnis:   "Selbsthelfer'V'Experte"  oder: 
wie  flihle  ich  mich  im  Social  Work? 


Es  war  fur  mich  von  Anfang  an  ein 
Beratungsstelle,  entwickelte  ein 
also  etwas,  von  dem  man  gemeinhin 
die  Studenten  -  das  selber  entwic 
Ziel  sein  sollte,  mich  uberfllissi 
ein  Dilemma:  denn  wer  wird  schon 
dem  Social  Work  gegenliber  waren  s 
stehungsgeschichte:  ein  Schwanken 
Haltung  (kbnnen  die  das  denn  auch 
mit  dem  Drang,  Liberal  1  "fachkundi 
(17)  und  einem  etwas  gekrankten  L 
'ach,  die  kommen  ja  ohne  mich  aus 
leichte  Empbrung  darliber  verbarg, 
was  meiner  Tatigkeit  zumindest  ah 
und  Geld  aufbringen  muB,  urn  es  zu 


.  Widerspruch:   ich,  Angestellte  der 
Selbsthilfekonzept  fiir  Studenten, 
rannimmt,  da|3  die  Betroffenen  - 
keln.    Ich  initiierte  etwas,  dessen 
g  werden  zu  lassen.   Und  das   ist 
gern  iiberfllissig?  Meine  Gefuhle 
tets  so  ambivalent  wie  seine  Ent- 
zwischen  liberbesorgt-skeptischer 
wirklich  alleine?),  verbunden 
g"  Hilfestellung  geben  zu  wollen 
inks-liegen-Lassen  im  Sinne  von: 
,  wobei   sich  oftmals  dahinter 
daB  die  Studenten  da  etwas  tun, 
ml  ich  ist,  wofiir  ich  jedoch  Zeit 
lernen;   (allerdings  auch  Geld  da- 


68 


fiir  bekomme,  daB  ich  es  praktiziere).  Und  selbst  wenn  ich  innerlich 
bereit  bin  oder  sogar  den  Wunsch  habe,  meine  Therapeutenprofession 
im  Social  Work  hintanzustel  len,  sie  la'Bt  sich  nicht  abstreifen  wie 
eine  zweite  Haut,  weil  es  immer  Studenten  im  Social  Work  gibt,  die 
diese  Rolle  an  mir  sehen  wollen  und  befremdet  darauf  reagieren, 
wenn  ich  beginne,  von  mir  zu  erzahlen. 


Kontakt-  und  Informationszentrum 

Das  Kontakt-  und  Informationszentrum  besteht  aus  einer  zusammen- 
ha'ngenden  Wohnung  mit  3  1/2  Zimmern  und  einer  KLiche  im  Haus  der 
universitaren  studentischen  Beratungsstelle.  Je  nach  Kapazitat  ist 
dieses  Zentrum  entweder  Tag  und  Nacht  oder  bis  Mitternacht  gebffnet 
und  jeweils  von  mindestens  einem  Diensthabenden  besetzt.  In  dieser 
Wohnung  ist  auch  ein  Telefon.  Das  Zentrum  soil  etwa  folgende  Mbg- 
lichkeiten  bieten: 

1.  Wenn  sich  jemand  in  einer  akuten  Konfliktsituation  befindet,  soil 
er  die  Mbglichkeit  haben,  mit  dem  dort  Anwesenden  zu  sprechen  oder 
inn  anzurufen.  In  auBerst  schwierigen  Fallen  besteht  die  Mbglich- 
keit der  Kontaktaufnahme  mit  einem  Mitarbeiter  der  Beratungsstelle. 

2.  die  Sel bsthi 1 f egruppen  kbnnen  sich  im  Kontakt-  und  Informations- 
zentrum  treffen. 

3.  In  den  Raumen  sol len  Mbglichkeiten  vielfaltiger  Kontakte  gegeben 
werden:  Musik  machen,  malen,  spielen,  Feste  feiern  usw.  Dariiber 
hinaus  kbnnen  Uber  den  Austausch  von  Adressen  Kontakte  spezifischer 
Art  geschaffen  werden:  Studenten  mit  gleicher  Fachrichtung,  die  sich 
zu  genteinsamen  Studien  zusammenf inden  oder  eine  Examensgruppe  bil- 
den,  die  Organisierung  von  Ferienfahrten,  Wohngemeinschaften  usw. 

4.  In  Arbeit  ist  eine  Art  Infqrmationskartei i,  die  es  dem  Studenten 
ermbglichen  soil,  sich  durch  den  Dschungel  der  Universitat  besser 
zurecht  zu  finden,  d.h.  die  jeweils  Diensthabenden  sollen  liber 
Bafbg-Bestimmungen,  Wohnheimplatze,  Numerus-clausus-Modal  ita'ten, 
Studiengange  und  Examensbestimmungen,  Therapiembgl ichkeiten  in  Gbt- 
tingen  usw.  Informationen  bereitstehen  haben.  AuBerdem  sind  Kontak- 
te zu  einigen  Assistenten  verschiedener  Fachbereich  aufgenommen 
worden,  die  in  besonderen  Fallen  von  Arbeits-  und  Examensschwierig- 
keiten  mit  dem  Social  Work  zusammenarbeiten.  Hinzu  kommen  Einzel- 
hilfeleistungen,  so  daB  in  einigen  Fallen  ein  Student  des  Social 
Work  jemandem  dabei  behilflich  war,  seine  Examensarbeit  fertigzu- 
stellen.  Das  heiBt:  das  Kontakt-  und  Informationszentrum  ist  sowohl 
eine  Art  Auskunftbliro  als  auch  Anlaufstelle  fiir  akute  Kriseninter- 
vention  sowie  Zentrum  fiir  vielfaltige  Tatigkeiten  und  Kontakte. 


i^nnflikte:  das  Problem  "offenes  Haus" 

Fine  Erfahrung  ist,  daB  gerade  der  letzte  Bereich  in  der  Selbstdar- 
stellung  nach  auBen  offensichtlich  vernachlassigt  wurde,  so  daB  im- 
mer wieder  das  Image  entstand,  das  Social  Work  sei  ausschlieSlich 
Anlaufstelle  fur  "Ausgeflippte".  Dieses  Problem  wurde  dadurch  er- 
schwert,  daB  sich  phasenweise  Drogensiichtige,  arbeitslose  Jugendli- 
cne  mit  schweren  Al koholproblemen,  zum  Teil  auch  "Knackies"  im 
social  Work  aufhielten  und  das  Klima  weitgehend  bestimmten.  Diese 
Situationen  sind  jeweils  in  doppelter  Hinsicht  problematisch:  Zum 

-  69  - 


einen  gefahrden  sie  die  Existenz  des  Social  Work  Jberhaupt.   Der 
halbinstitutionelle  Charakter  des  Social  Work  -  auf  der  einen  Seite 
eine  studentische  Selbsthilfeorganisation  ohne  standige  Kontrolle 
von  Seiten  der  Universitat,  auf  der  anderen  Seite  Teil  des  Umver- 
sitatsbetriebes  (Raume)   -  ermbglicht  zwar  eine  Handlungsautonomie, 
die  sich  jedoch  nur  relativ,  in  einem  bestimmten  Spielraum  bewegen 
kann.   Zu  ernsthaften  Konfl iktzuspitzungen  ist  es  bisher  nicht  ge- 
koimien.   Der  zweite  schwierige  Punkt  ist,  daB  sich  viele  Studenten, 
die  neu  ins  Social  Work  koramen,  von  einem  solchen  Kl  ima  abgestoiien 
fuhlen     Diese  Probleme  sind  immer  wieder  diskutiert  worden     Antangs 
bestand  die  Konzeption,   nichtstudentische  Jugendliche  nur  dann  ins 
Social   Work  zu   integrieren,  wenn  sich  Studenten  bereit  fanden,  nnt 
ihnen  sozial-therapeutisch  zu  arbeiten.   Diese  Versuche  Sind,  was 
langfristige  Arbeit  angeht,  gescheitert.  Was  gelang,  waren  akute 
Kriseninterventionen:   Es  passierte  einige  Male,  daB  Jugendliche,  von 
Zuhause  weggelaufen,  im  Social  Work  landeten.   Die  Hilfestellung,  die 
wir  geben  konnten,  war,  herauszufinden,  in  welcher  Situation  sich 
der  Jugendliche  befand.   Das  muBte  moglichst  schnell   geschehen,  da 
wir  uns  sonst  strafbar  gemacht  hStten.   In  der  Regel  gelang  es,  gleich 
am  nachsten  Tag  einen  Termin  bei  der  "Kontaktstelle  fur  Jugendliche 
in  Gbttingen  zu  bekommen,  die  sich  speziell  urn  Probleme  von  Jugend- 
lichen  kummert.   In  einem  Fall   konnte  anschlieBend  ein  familien-the- 
rapeutisches  Gesprach  stattfinden,  was  deshalb  leicht  moglich  war, 
weil  der  Leiter  der  Beratungsstelle,  Eckhard  Sperling,  eine  tami- 
lientherapeutische  Abteilung  an  der  Universitat  leitet. 


Der  "Dienst" 

Das  Arbeitsfeld  "Diensf'war  immer  der  problematischste  Bereich  im 
Social  Work.  Auf  der  einen  Seite  bestand  bei  vielen  Studenten,  die 
sich  urn  Dienst  bereitfanden,  ein  diffuses  Gefiihl  von  Oberforderung. 
das  sich  jedoch  oft  nur  in  der  Angst  vor  dem  nicht  Vorhersehbaren, 
vor  dem,  was  an  einem  Abend  auf  sie  zukommen  konnte,  auBerte.  In 
der  Regel  war  es  oft  umgekehrt:  Es  gab  Zeiten,  wo  nur  wemge  Studen- 
ten das  Social  Work  deshalb  aufsuchten.  weil  sie  ein  konkretes  Pro- 
f«  besprechen  wollten.  Der  zweite  Grund  fur  die  Schwiengkeit 
1  St  mines  Erachtens  darin,  daB  die  Diensthabenden  unter  sich  nur 
weniq  Kontakt  haben.  In  der  Anfangsphase  bestanden  engere  Kontakte 
durch  gemeinsam  veranstaltete  Wochenenden  auf  dem  Land,  wo  wir  uber 
die  Konzeption  des  Social  Work  diskutierten,  gemeinsam  kochten,  aBen 
und  tranken.  Das  kontinuierlich  zu  gestalten  ist  oft  deshalb  schwie- 
ria  weil  die  Dienstleute  fast  jedes  Semester  wechseln  und  wir  uns 
standiq  neu  auf  die  Suche  nach  Interessenten  machen  mussen.  Ein  oft 
diskutierter  Plan  wird  nun  in  Angriff  genommen  werden:  Die  Grundung 
einer  Art  Balint-Gruppe,  die  von  mir  und  Bernhard  Achterberg  gelei- 
tet  wird  In  dieser  Gruppe  sollen  die  Dienstleute  die  Moglichkeit 
haben,  uber  ihre  Gefuhle,  Kngste  usw.  zu  sprechen,  die  sie  speziell 
wahrend  ihrer  Arbeit  im  Social  Work,  mit  Leuten,  die  sie  urn  Rat  bit- 
ten, haben.  Diese  Gruppe  soil  auBerdem  ein  Stuck  Selbsterfahrung 
ermbglichen  und  die  Beziehung  zwischen  den  einzelnen  Dienstleuten 
klaren  helfen.  Eine  weitere  Einrichtung  ist  ein  Erstgesprachstrai- 
ninq  das  von  Bernhard  Achterberg  eingerichtet  worden  ist.  Die  Zu- 
sammenarbeit  mit  dem  "KiK"  (18),  das  gerade  in  der  Aufbauphase  ist, 
ist  eingeleitet;  das  "KiK"  ist  vor  alien  Dingen  als  Anlaufstelle 


-  7o  - 


fur  nicht-studentische  Beviilkerungsgruppen  konzipiert. 

Die  theoretischen  Diskussionen,  die  wir  zwischendurch  immer  wieder 
flihrten,  kreisten  in  der  Regel   urn  folgenden  Punkt:   Es  wurde  als  ein 
Mangel   empfunden,  daD  die  gemachten  Erfahrungen  in  den  Gruppen  und 
im  Kontaktzentrum  nicht  ausreichend  nach  auBen,   in  die  Hochschule 
hineinwirkten.  Oft  wurde  das  Social   Work  als  eine  Art  Insel   erlebt, 
die  sich  urn  die  universitare  Misere  kaum  kummert.  Das  ist,  meiner 
EinschStzung  nach,  richtig  und  falsch  zugleich.   Es  ist  richtig,  weil 
es  uns  bisher  tatsachlich  nicht  gelungen  ist,  liber  sicherlich  wich~ 
tige  Entlastungen  vom  Universitatsbetrieb  hinaus  zu  nach  auBen  wirk- 
samen  Aktionen  zu  gelangen,  die  die  Hochschulmisere  selbst  in  Angriff 
nehmen;  was  wiederum  kein  Wunder  ist  bei  der  derzeitigen  politischen 
Situation.   Diese  Einschatzung  ist  jedoch  insofern  falsch,  als  ich 
meine,  daB  die  Moglichkeit  der  Selbsterfahrung,  die  Moglichkeit,  Liber 
die  eigene  Misere  zu  sprechen,  die  sich  dann  in  der  Regel  als  kollek- 
tive  herausstellt,  die  Anstrengung,  zu  ein  wenig  anderen  Kontakten, 
als  sie  an  der  Universitat  vorherrschen.zu  gelangen  sowie  der  Ver- 
such,  den  Universitatsbetrieb  ein  Stuck  weit  zu  unterlaufen,  durch- 
aus  politische  Dimensionen  in  sich  birgt. 


Anmerkungen: 

(1)  Vorgestellt  in  einem  Seminar  uber  Selbsthilfegruppen  auf  den 
Lindauer  Psychotherapiewochen  1975  und  zusammengefaBt  unter  dem 
Titel   "Selbsthilfegruppen  in  der  Psychotherapie" ,  in:   Praxis  der 
Psychotherapie,  Bd.   20,  Heft  4,  Berlin  1975.   Eine  weitere  Arbeit 
von  Moeller  liber  Selbsthilfegruppen  ist  fur  die  Juli-Nr.  von 
"Psychologie  heute"   (Beltz-Verlag)  angekundigt.  Sie  lag  bei  Re- 
daktionsschluB  noch  nicht  vor. 

(2)  M.L.   Moeller,  Selbsthilfegruppen,  a.a.O.   S.   4 

(3)  Einen  Teil  der  folgenden  Informationen  verdanke  ich  Bernhard 
Achterberg,  Gbttingen,  der  mehrere  Male  in  London  war  und  im 
"Cope"  mitgearbeitet  hat,   sowie  Barbel    Konrad,  Gbttingen,  die  in 
diesem  Jahr  in  London  war  und  das  Cope  und  das  Synanon  besucht 
hat.   C.O.P.E.  heiBt:  Community  Organisation  fore  People's/ 
Psychiatric  Emergencies 

(4)  Vgl.  die  Arbeiten  von  Laing  und  Cooper  sowie,  speziell  uber 
Kingsley  Hall,  Mary  Barns,  Meine  Reise  durch  den  Wahnsinn, 
Munchen  1973 

(5)  1974  gab  es  auf  der  Jahrestagung  der  "Deutschen  Gesellschaft  fur 
Soziale  Psychiatrie"  in  Andernach  ein  Seminar  zum  Thema  "Selbst- 
hilfegruppen" (Leitung:   Klaus  Dbrner,  Hamburg).   1975  fand,  wie 
gesagt,  zum  gleichen  Thema  ein  Seminar  in  Lindau  statt. 

ic\  ugi.  Vattano,  Anthony  J.,  Power  to  the  people:  Self-help-groups, 
v       in:   Social  Work,  Vol.   17  (4),  Manila  1972,  S.   7-15.  Scheff,  Tho- 
mas J-,  Reevaluation  Counseling:  S  cial   Implications,  in  Journal 
of  Humanistic  Psychology,  Vol.   12  (1)  Waltham  1972,  S. 58-71 
Kutz,  Alfred  H.,  Self-Help-Organizations  and  Volunteer  Participa- 
tion in  Social  Welfare,  in:  Social  Work,  Vol.   15  (1),  1970. 
Dean,  Stanley  R.,  Self -Help-Group  Psychotherapy:  Mental  Patients 
Rediscover  Will   Power,   in:  The  International  Journal  of  Social 
Psychiatry,  Vol.   17  (1),   1971. 
Berzon,  Betty  und  Lawrence  N.  Solomon,  The  Self-Directed  Thera- 

-  71  - 


peutic  Group:  Three  Studies,   in:  Journal  of  Counseling  Psycho- 
logy, Vol.    13   (4),  Dubuque  1966 

(7)  Vgl     z  B.  Thomas  J.   Scheff,  der  Liber  eine  Form  der  therapeuti- 
schen  Selbsthilfe,  die  "Peer  Self-Help  Psychotherapy  Groups" 
sagt:   "PSHPG  would  seem  to  offer   'artificial'   social   networks 
to  replace  the  natural    networks  (class,  extended  families, 
neighbourhood  cliques,  etc.)  that  are  fast  disappearing  in  the 
Western  World",  a.a.O.   S.   60 

(8)  Eugen  Mahler,  Psychische  Konflikte  und  Hochschulstruktur, 
Frankfurt/M.    1971,  S.   34 

(91  Vgl.   Eckhard  Sperling/Jurgen  Jahnke,  2   ischen  Apathie  und  Pro- 
test    Bd     1   u.    2,   Bern   1974;  Eugen  Mahler,   Psychische  Konflikte 
und  Hochschulstruktur,  a.a.O.;  Horst-Ulfert  Ziolko  (Hrsg.) 
Psychische  Stbrungen  bei   Studenten,  Stuttgart  1969;  Michael   L. 
Moeller/J.W.   Scheer,  Psschotherapeutische  S  udentenberatung, 
Stuttgart  1974. 

(10)Spazier/Bopp,  Ffm.   1975,  S.  76 
11  Spazier,  Bopp  ,  Grenzuberga'nge. .  ./a.a.O.  S.  78 

(12)Vgl.  Thomas  0.   Scheff,  [Revaluation  Counseling 

(13)M.L.  Moeller,  Selbsthilfegruppen   ...   S.   10 

(14)Vgl.   A.   J.   Vattano,   Power  to  the  people   ...   S.    14 
15  Berzon,  Betty  an  Lawrence  N.   Solomon,  T  e  S  lf-Directed 
Therapeutic  Group,  a.a.O.   Seite  491    (Ubersetzung  von  rair) 

(16)Hurvitz,  N.,  Similarities  and  differences  between  peer  self-help 
psychotherapy  groups  and  professional  psychotherapy.  9ehalten 
auf  dem  76.  Jahrestreffen  der  "American  Psychol.   Assoc.   1968   in 
San  Francisco,  referiert  in:   Dean,  S.,  Self-Help  Group  Psycho- 
therapy ...  a.a.O.   S.    146  (Obersetzung  von  mir) 

(17)M  L    Moeller  vergleicht  diese  Haltung  zutreffend  imt  der 

"overprotective  mother".   Vgl.:  Selbsthilfegruppen  a.a.O.   S.   6. 

(18)  "KiK"  hei(3t  "Kontakt  in  Krisen",  vgl.   Aufs.  Achterberg 


a.a.O.S.  60 


AUSGEWAHLTE  LITERATUR 


A.Oie  Theoretischen  Hintergrlinde 

Brlickner  P6t6r* 

Zur  Sozialpsychologie  des  Kapitalismus,  Frankfurt  1972  (eva); 

Goffman,  Erving: 

Asyle,  Frankfurt  1972  (suhrkamp  theone) 

Stigma,  Frankfurt  1969  (suhrkamp  theorie) 

Interaktionsrituale,  Frankfurt  1974  (suhrkamp  theorie) 

(Alle  Schriften  von  Goffman,  der  einen  soziologischen  Ansatz  ver- 

tritt,  befassen  sich  vor  allem  nit  der  Frage,  was  zwischen  den  Men- 

schen  ablauft,  wie  "abweichendes"  Verhalten  entsteFt  und  behandelt 

wird.  Durch  die  zahlreichen  Beispiele  und  eine  sehr  klare  Sprache 

gut  lesbar.) 


-  72 


Laing,  Ronald  D. 

Phanomenologie  der  Erfahrung,  Frankfurt  1972,  (edition  suhrkamp) 

Das  geteilte  Selbst  (k&w,  neuerdings  auch  als  billiges  Tb) 

Das  Selbstund  die  Andern  (k&w) 

Politik  der  Familie  (k&w) 

(Laing  wird  von  vielen  als  der  bedeutendste  Theoretiker  in  der  Be- 

grlindung  der  Antipsychiatrie  angesehen.  Er  wendet  -  als  ausgebilde- 

ter  Analytiker  -  existentialistisches  Denken  radikal  auf  jene  Berei- 

che  menschlichen  Verhaltens  an,  die  bi'sher  als  krank  abgestempelt 

werden.  Vgl.  etwa  auch  die  psycholog ischen  Aussagen  von  Sartre.) 

Parow,  Eduard: 

Psychotisches  Verhalten  und  Umwelt.  Eine  sozialpsychologische  Inter- 

suchung,  Frankfurt  1972 

Szasz,  Thomas: 

Geisteskrankheit  -  ein  moderner  Mythos.  Frankfurt  1973 

(Szasz  hat  sich  am  konsequentesten  mit  dem  Problem  gesellschaftl icher 

Herrschaft  und  UnterdrJckung  im  Psychiatrie-Bereich  befaBt.  Er  kommt 

zu  dem  SchluR,  da|3  es  Geisteskrankheit  im  klassischen  Sinne  nicht 

gibt,  sondern  daB  Patienten  etwas  von  der  Gesellschaft  gemachtes 

sind.) 

Eine  gute  Zusammenfassung  uber  die  Ideengeschichte  dieser  Ansatze 

bietet: 

BLihler,  Charlotte/Allen,  Melanie: 

Einfuhrung  in  die  humanistische  Psychologie,  Stuttgart  74  (Klett: 

Konzepte  der  Humanwissenschaften) 


B.   Praxis-Berichte,  Konzepte  (z.T.  mit  wesentlichen  theoretischen 
Reitragen  kombiniert. ) 

Cooper,  David: 

Psychiatrie  und  Anti-Psychiatrie,  Frankfurt  1971   (edition  suhrkamp) 

Basaglia,  Franco  (Hrsg.): 

Die  negierte  Institution,  Frankfurt  1971    (edition  suhrkamp) 

Moeller,  Michael   L.: 

Selbsthilfe-Gruppen  in  der  Psychotherapie,  in:  Praxis  der  Psychothe- 

rapie  20/4  (Berlin  1975) 

Spazier,  Dieter  &  Bopp,  Jbrg: 

Grenzuberga'nge.   Psychotherapie  als  kollektive  Praxis,  Frankfurt 

1975  (edition  suhrkamp) 


-  73  - 


BERUFSVERBOTE 

und  polititische 

DISZIPLINIERUNGEN 

im  Bereich 
Sozialarbeit  und  Erziehung 


Preis:  DM  2,~ 

Bezug:  FHSS-Komitee  gegen  Berufsverbote.Gol  tzstr. 43/14,  1  Berlin  30 


MATERIALIEN/KLEINANZEIGEN 


I  Bl ickpunkt  Auslander,  auf  50  S.  Untersuchungen  Uber  die  Situation 
auslandischer  Arbeiter   in  der  BRD  und  anderen  Staaten,  Berichte 
von  Initiativen,  Nachrichten  etc.  Gegen  Voreinsendung  von  DM  3.- 
zj  beziehen  bei  Centre  EuropSen  Iinmigres  c/o  SCI  Rbmerstr.   324, 
53  Bonn. 

I  Aktion  Jugendhaus  Wertheim  -  Dokumentation  eines  uber  6  Jahre  dau- 
ernden  Kampfes  urn  ein  selbstverwaltetes  Jugendhaus,  Erfahrungen 
und  Einschatzungen.   Gegen  Vorauszahlung  von  DM  3.50  auf  das  Konto 
Aktion  Jugendhaus  Sparkasse  Wertheim  Nr.   380  637  9  (Stichwort: 
Doku),  Muhlenstr.   7,   598  Wertheim 

I  Mietrecht  fur  Mieter  -  Juristische  Ratschlage  zur  Selbsthilfe  - 
210  S.   Gegen  Voreinsendung  von  DM  4.-  +  -.60  DM  Porto  zu  bestellen 
bei:   Bernd  Vetter,  Haynstr.    1,   2  Hamburg  20 

I  Politische  Plakate  u.    Postkarten  -  Katalog  anfordern;  Wohlthat- 
sche  Buchhandlung,  Rheinstr.   11,   1   Berlin  41 

i  Pastor  Bollmann  notgedrungen  oder  die  Veranderung  der  Welt  in 
Bitterstedt,  Werkbuch  zur  Darstel lung  des  gesellschaftl ichen  Macht  - 
kampfes  in  der  Kirche.  Herausgegeben  von  der  ESG  Hamburg,  Grindel- 
allee  9,  2  Hamburg  13 

i  Griines  Heft  zum  Berufsverbot  -  Aktion  Mr.   2  -  Berichte,   Stellung- 
nahmen,  Aktionen  und  Material  ien.   Bezug:  Aktion  Siihnezeichen, 
Jebenstr.    1,   1   Berlin  12 

Da(3  Du  untergehst, wenn  Du  Dich  nicht  wehrst,  das  wirst  Du  doch  ein- 
sehen  -  Nachrichten  aus  einem  westdeutschen  Gefangnis  -  ein  Bericht 
Liber  die  Inhaftierung  von  Gertrud  Will;   52  S.,   DM  2.-;  Bezug: 
Frauenoffensive,  Josephsburgstr.    16,  8  Mlinchen  80 
Emanzipatorische  Arbeiterbi  ldunq   "Zusammen  Leben  -  Zusammen  Lernen", 
eine  Dokumentation  uber  den  Versuch  selbstbestimmter  Arbeiterbil- 
dung  im  Rahmen  eines  "selbstverwal teten"  Volkshochschulheims. 
Gegen  Voreinsendung  von  DM  4,50  (Scheck  o.   Briefmarken)   zu  bestel- 
len bei:    Renate  Rover,  Sachsenring  6,   5  Kb'ln  1. 
Johanna  -  Duisburger  Zeitschrift  fiir  Jugend,  Kultur  und  Politik, 
u.a.   ein  Interview  mit  dem  Drogenexperten  Andrew  Weil;  Bezug: 
Heiner  Wostefeld,   Lutherstr.    1,   41    Duisburg  1. 
Medi en-Material :  a)  MPZ  Nr.    1   Zur  Theorie  und  Praxis  politisch- 
padagogischer  Medienarbeit;   Nr.   2  Gewerkschaftl iche  Medienarbeit; 
fjr.    3  Zur  Medienarbeit  mit  Jugendl  ichen  im  Freizeitbereich; 
Bezug  und  weitere  Informationen  uber  Medienpadagogik-Zentrum  Ham- 
burg e.V.,  Grindelhof  59c,  2  Hamburg  13;  b)  Material ien  zur  Medien- 
arbeit entwicklungspol  itischer  Gruppen;  Bezug:   Zentrum  flir  audovi- 
siuelle  Offentlichkeitsarbeit,  Clemensstr.   120,  8  Mlinchen  40; 
c)  Video-Praxis  -  Erfahrungsberichte  mit  und  Liber  Videoarbeit  am 
Institut  fur  Publizistik  in  Miinster,  40  S.,   DM  2.50;  gegen  Vorein- 
sendung von  DM  2.50  zu  beziehen  liber:   Karl-Ulrich  Burgdorf, 
Pangelantonweg  1 1 ,   44  Miinster. 


75  - 


I  Alternative  AdreBbuch   '75  -  Uber  360  Adressen  und  Projekte  finden 
sich  nach  Postleitzahlen  geordnet  in  dem  griinen  Handbuch,  das   zum 
Selbstkostenpreis  von  DM  6,48  Liber  Heike  Hesse,  Darmstadter 
Landstr.    180,  6  Frankfurt  70,   PScHKto  Frankfurt  335309-602  zu  be- 
ziehen  ist. 

I  Kreuzberger  Stadtteil zeitung  uber  die  Probleme  von  Obdachlosen,  die 
Auseinandersetzungen  mit  der  Sozialblirokratie,  die  Arbeit  von  Ini- 
tiativgruppen  und  den  Kampf  der  Mieter  im  Stadtteil;  Bezug: 
Ulrike  Urban,  Fuggerstr.  33,  1   Berlin  30. 

0  Schorndorfer  Blattle  -  die  Zeitung  des  JZ  Hammerschlag;  den  ersten 
Jahrgang   (Nr.   1   -   10)  gibt  es  flir  DM  6.-  in  Briefmarken  bei 
Ernst  Bartl,  Langestr.   25,   7060  Schorndorf. 

0  Gegen  Knast  -  Zeitung  des  Informationszentrums  fur  Gefangenengrup- 
pen;  Bezug  IFG  c/o  Inga  Schaefer,  Brandenburger  Str.   32, 
48  Bielefeld  1. 

STELLENANGEBOTE/STELLENSUCHE 


I  7ivildiensts telle  im  Bereich  der  kirchlichen  Jugendarbeit  zum 
Jan  /Febr.   Wl  Th  Darmstadt  frei.  Die  Stelle  ist  an  em     Zivil 
dienstmodell   (Gruppentreffen  und  Beratung)  angesch  ossen  und  ble- 
tet  auch  die  Mbglichkeit  zur  Ableistung  eines /nerkennungsj.  res; 
Informationen:   Sozialer  Friedensdienst.  Kiesstr.    18,  61   Darmstadt. 

•  Rpwahmngshilfe  Nienburg  sucht  Sozialarbeiter;  Kontakt: 

M    Alterauge,  Goetheplatz  5,   307  Nienburg/Weser,  Tel.:   05201/13812 
I  Sozialarbeiter  fur  knmmunales  Juqendzentrum  fur  sofort  gesucht  - 
mdqlichst  mit  Berufspraxis.    Information  05221/54420 

•  Ktschule  im  Hochtaunuskreis  hat  Planstelle  fur  Schulpsvcholoqen. 
in  Aussicht.  Anfragen  unter  Chiffre  9/12  an  Sozialistisches  Buro 

•  GeSht'werden  2  Genoss(inn)en  fur  den  Ayfpau  eines  Jugend-  und 
SnLmikationszentrums  (Hauptschiiler-  und  Berufsan  angeraroeit 
Polit-  und  Gewerkschaftskurse);  erwunscht  sind  politische  und  prak- 
tische  Erfahrungen  in  der  Jugend-/Gewerkschafts-  und  Orgamsations- 
arbeit    sowie  der  AbschluB  als  Sozialarbeiter/-padagoge  grad. 
Bewerbungen  an:  SJD-Die  Falken,  Walderseestr.   100,  3  Hannover  1, 

•  WohngeSelnSft  in  Diisseldorf  sucht  dringend  7;iyildienstleisten- 
HCn  fiir  Kinder-und  Jugendarbeit  im  Stadtteil;  Tel.:   0211/392994 

.  ftTbiitsTase  HauptschullehreriM25  J)  sucht  in  der  Region  Dortmund- 
Haqen  -  Miinster  Arbeit,  insbes.  mit  Hauptschulabgangern  und  jugend- 
lichen  Arbeitslosen.  Angebote  unter  Chiffre  9/15  an  Sozialistisches 

•  Sozialpadaqoqin_irjipl_L  sucht  Stelle  im  Raum  Frankfurt  mbglichst  in 
einer  Beratungsstelle  Oder  im  Rahmen  eines  Projekts  mit  Jugendli- 
chen.   Nolli   Demmer,  Florsheimer  Str.   9,  6  Frankfurt. 

•  Suche  Stelle  als  Sozialarbeiter  ab  April  77  (Examen  Febr./Marz  77). 
Studienschwerpunkt:  Gemeinwesenarbeit  und  Familienberatung.  Bin 

25  J.   alt,  verh.,  wohnortunabhangig.   Praxiserfahrungen:   Praktikum 
in  der  Faf'u  und  in  einem  Jugendzentrum  in  Selbstverwaltung;  7-mo- 
natige  Tatigkeit  in  einem  Wohnkollektiv  fur  straffallig  gewordene 
Jugendliche  und  in  einem  Jugendzentrum  in  Selbstverwaltung  seit 
15  Monaten.   Abgeschlossene  Mechanikerlehre. 


76 


•  Volkswirt  f Dip] )  mit  Padagogik  im  Nebenfach  und  praktischer  Erfah- 
rung  in  der  Bildungsarbeit  sucht  Stelle  in  der  auBerschulischen 
Erwachsenen-  Oder  Jugendbildungsarbeit.  Zuschriften  unter  Chiffre 
9/17  an  Sozialistisches  Buro. 

I  Sozialpadaqoge  (Dipl)  und  Sozial therapeut  sucht  zum  Januar  1977 
Stelle  (auch  Teilzeitarbeit)  in  der  Beratungsarbeit,  Bildungsar- 
beit oder  Fortbildung  sozial padagogischer  Berufe;  F.  Buer,  Waren- 
dorferstr.  138,  44  Munster. 

I  Padaqogin  ("Dipl)  mit  1.  Lehrerexamen  sucht  Stelle  in  der  Auslander- 
arbeit,  Frauenarbeit,  Jugendarbeit  oder  Erwachsenenbildung;  Team- 
arbeit  Bedingung;  Dorothea  Staudinger,  Sofienstr.  6,  74  Tubingen. 

•  Zwei/Drei  Diploiiisozialpadagoqikstiidenten  mit  langerer  Praxiserfah- 
rung  in  der  Kinderarbeit  wollen  "alter"  werden  und  suchen  Mbglich- 
keit zur  kollektiven  Praxis  im  Bereich  der  politischen  Jugendbil- 
dung  fur  ihr  Hauptpraktikum  (6  Monate),  Tips  und  Angebote  bitte 

an  Schiilerhort  Mlinzgasse  7,  74  Tubingen. 
|  Erzieherin,  23  J.  mit  drei jShriger  Beruf serf ahrung, sucht  ab  Januar 

1977  neue  Stelle  in  Heidelberg  (z.Zt.  in  Sonderschule  tatig); 

Susanne  Bulka,  Beutingerstr.  25,  71  Heilbronn. 
I  Sozialarbeiter  (3)  suchen  ab  Dezember  1976  Berufspraktikantenstel- 

len,  mbglichst  im  Bereich  Bildung,  Beratung,  Freizeit,  GWA,  in 

NRW  oder  Raum  Heidelberg;  Kontaktadresse:  Lutz  Reich,  Parkstr.  10, 

405  Mbnchengladbach  1. 
I  s^j<;he  Berufspraktikantenstelle  im  Raum  Hannover  -  Bremen  -  Liine- 

burger  Heide;  Dieter  Braun,  Memeler  Str.  11,  2132  Visselhbvede. 


MATERIAL  I EN/ERFAHRUNGSBERICHTE  GESUCHT 


I  "Jugendarbeitslosigkeit":  Gegenbkonomie,  Genossenschaftsbewegung, 

Selbstorganisation  -  Ute  Wlirtz,  Steinfurterstr.  35,  44  Munster. 
I  "Jugendzentren  als  Beispiel  zur  Politisierung  des  All  tags". 

Dieter  Hupka,  Goethestr.  13,  404  Neuss. 
I  "Theaterspiel  als  Methode  im  politischen  ErkenntnisprozeB  Jugend- 

licher".  Beate  Miiser,  Leimbachshbfer  Str.  7,  6418  Hiinfeld  17. 
|  "Amerikanische  GWA/Basisorganisationen  in  USA/Hollandische  GWA/ 

Italienische  Stadtteil arbeit/GWA  und  Stadtteilarbeit  in  der  BRD". 

Biete  Unkostenerstattung  und/oder  Materialaustausch. 

Rainer  Burgey,  Sudetenstr.  2,  355  Marburg. 
I  "Schiller-  und  Lehrlingstheater".  Christa  Hesse,  Nordstr.  32, 

44  Munster. 
I  "Al ternativen  zur  Heimerziehung".  K.  Ekhoff,  Schwachhauser  Heer 

Str.  103,  28  Bremen. 
|  "Evangelische  Jugendarbeit  (Projekte,  Konzeptionen)". 

Hilde  Sordon,  Ruschhausweg  186,  44  Munster. 
I  "Bildungsurlaub  in  der  BRD  -  Gesetzestexte,  Ausfiihrungsbestimmun- 

gen  etc.".  Rolf  Brede,  Hauptstr.  66,  5411  Weitersburg. 
I  Suche  Material  und  Adressen  flir  Diplom-Arbeit:  "Al ternativen  zur 

Heimerziehung";  Christine  Crohn,  Kirchbauerschaft  40a,  4401  Nord- 

walde. 
I  Der  BDP/BDJ  plant  die  Herausgabe  eines  Verzeichnisses  von  selbst- 

organisierten  Bildungs-  und  Tagungsstatten  sowie  Zeltplatze  und 

bittet  urn  entsprechende  Adressenangaben  (eilt). 

Telefon:  0611/777  010. 

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ARBEITSFELDMATERIALIEN 
ZUM  SOZIALBEREICH 


DEN  WIDERSTAND  ORGANISIEREN! 

MANIFEST  DES  SB  ZUM  PFINGSTKONGRESS  1976 


Monika  Fuhrke: 
STAATLICHE  SOZIALPOLITIK 


Eine  Untersuchung 

zur  Entwicklung  des  Systems 

der  Sozialen  Sicherheit  im  Kapitalismus 

Offenbach  im  April  1976  -  Preis  acht  Mark 


Der  PfingstkongreB  des  Sozial  istischen  Bliros  hat  gezeigt,  daB  sich  die 
Basis  im  Kampf  gegen  politische  Unterdriickung  und  dkonomische  Ausbeu- 
tung  verbreitet  und  daB  es  wirksame  Ansatzpunkte  der  Gegenwehr  gibt. 
Der  KongreB  hat  gezeigt,  daB  die  Linke  in  der  Bundesrepubl ik  sich 
nicht  einschuchtern  la'Bt,  daB  sie  fahig  ist,  in  solidarischer  und  kon- 
struktiver  Diskussion  Handlungsmbglichkei ten  gegen  die  Repression  zu 
erarbeiten  und  daB  sie  bereit  ist,  diese  auch  unter  den  schwierigen 
Bedingungen  der  Unterdriickung  in  sozial  istische  Praxis  und  in  ihren 
Lebens-  und  Arbei tsbereichen  umzusetzen. 

Das  Arsenal  der  politischen  Unterdriickung  ist  von  den  Herrschenden  in 
der  Bundesrepublik  in  den  letzten  Jahren  gescharft  und  ausgebaut  wor- 
den  -  von  der  standigen  Diffamierung  aller  entschiedenen  Demokraten 
iiber  juristisch  kaum  faBbare  Diszipl inierungen  in  Betrieben  und  Ver- 
waltungen,  in  Schulen  und  Krankenhausern  und  selbst  in  manchen  Ge- 
werkschaften  bis  hi n  zu  den  offenen  Berufsverboten,  der  Anwendung  der 
sogenannten  Gewaltparagraphen  und  den  Verscharfungen  im  politischen 
Strafrecht  und  Strafvollzug. 

Im  Namen  der  "freiheitlich-demokratischen  Grundordnung"  werden  So- 
zialisten  und  Kommunisten  und  -  wie  kbnnte  es  in  einem  sich  ausbrei- 
tenden  Klima  von  Angst  und  Denunziation  anders  sein  -  zunehmend  auch 
unbequeme  Liberale  und  linke  Sozialdemokraten  politisch  verfolgt.  Hier 
gilt  es,  den  Anfangen  zu  wehren  und  nicht  erst  dann  Protest  anzumel- 
den,  wenn  es  bereits  zu  spat  ist.  Liberale  und  Sozialdemokraten,  so- 
weit  sie  Demokratie  noch  ernst  nehmen,  sind  genauso  zum  Widerstand 
aufgerufen  wie  Sozial  isten  und  Kommunisten.  Bisher  wenden  sich  Sozial- 
demokratie  und  Gewerkschaften  nur  dann  gegen  UnterdruckungsmaBnahmen, 
wenn  Mitglieder  ihrer  Organisationen  allzu  offensichtl  ich  betroffen 
sind.  Wenn  sich  jetzt  fiihrende  Funktionare  der  soziall  iberalen  Par- 
teien  aus  AnlaB  der  bevorstehenden  Bundestagswahl  von  den  Berufsver- 
boten zu  distanzieren  versuchen,  so  dlirfen  wir  uns  dadurch  in  unserem 
Widerstand  gegen  Repression  nicht  beeintrachtigen  lassen.  MaBstab  un- 
seres  Handelns  kbnnen  nicht  Erklarungen  von  Parteien  sein,  sondern 
nur  Veranderungen  in  der  politischen  Praxis. 

Im  Ausland  wa'chst  die  Kritik  an  der  politischen  Repression  in  der  BRD. 
Dort  weiB  man  aus  bitteren  Erfahrungen,  daB  ein  Land,  das  entschiede- 
ne  Demokraten  zu  inneren  Feinden  aufbaut  und  dann  verfolgt,  auch  nach 
auBen  eine  reaktionare  Politik  betreibt.  Das  westeuropaische  Ausland 
furchtet  Vormachtanspruche  der  BRD  und  deren  zunehmende  Bestrebungen, 
demokratische  Bewegungen  -  und  damit  insbesondere  Kommunisten  und  So- 
zialisten  -  auch  in  anderen  Landern  machtpol itisch  abzublocken.  Die 
westdeutsche  Linke  steht  so  in  einer  Front  mi t  alien  demokratischen 
Gruppierungen  in  Europa  und  in  der  Abwehr  der  politischen  Unterdruk- 

kung. 

Der  Kampf  gegen  politische  Unterdriickung  und  bkonomische  Ausbeutung 
wird  nicht  allein  durch  einen  KongreB  geleistet.  Die  dffentliche  Dar- 
stellung  der  vielen  Formen  von  Repression,  die  breite  Diskussion  der 
Abwehrmbglichkeiten,  eine  bffentliche  Manifestation  gegen  alle  Unter- 


■m 


ilige11 
fe 
risier- 


S™^  Und  fUr  D™°kratie  reichen  nicht  aus.  Vnelmehr 
neqenarbeitPn     "r.hangmsvollen  Uirkungen  der  Repression  nur  d.nn  ent 
ganisieren     S«h»?h  "^  ^  Widerstand   Uber  diesen   KongreB  hinaUS  or 
Pro  eB  der  Oraani       ^  '!*"  Pf in9stkongreB  fur  uns   nur  ein  Schn"  1» 
•tomb  der  Organlslerung  der  Gegenwehr  gegen  alle  Formen  der  Repres 

Arbeilsplatz'erfnlf "  ^  R*^i0n  muB  in  erster  Unie  am  jeweiM9 
fur  BetroTfLr  r!h9  ^ln  d-er  Irlf°™tion  der  Kollegen,  in  der  Hil« 
tem  Widerltand:   Bedr°hte'   ft^t)iche  und   nicht  zuletzt   in  org* 

indlrik?  Be'troffpn  erfor*rt  fina^ielle  Unterstutzung  der  direkt  u,, 
rufsposition  vllZt  und  Gefa^deten.   Jeder,  der  uber  eine  feste  Be 
leisten     -  Wir  alll'     »*  «uf9efordert.  finanzielle  Unterstutzung  » 

tltsfonds  be  annt    bu^h  ^S-?T  Kongre*  die  GrUndun9  elnes  S°   ■        he 
Aktivltaten  'HUSndM  Falle  b«°nderer  Not,  aber  auch  pol]^s!rS0t 

arbeir   zu  finanH     6  Rept\essi'°n  «nd  Projekte  selbstorgani sierter     K° 
Anti  iw«    ■       ?1eren  Slnd-  Aus  dem  bisheriqen  Spendenauf  konmen  der 
St     k"     r       ^ar tTZ  ^"/oziaiistischen 'Zll 'werden  als  GruJ 
es  ist  ein  If  ,,-     n  F-°nds  eln9ebracht.  Das  ist  nicht  viel,  a»e' 

dieses  s"    id  ts  onds"  ^r'  F  ?l?eP  SP-d^tion  zugunS  k. 

tiven  auf     sirh        IS         -Z  Gleichzeitig  fordern  wir  die  polltlS^n-. 
gen  so  fest     u  n  n,       8n  uberscha"baren  Arbeits-   und  Wohnzusammenhan 

pol   tischSiH  V°n  Repre5si0"  "nd   ihrer  Folgen  benotigt  auch  die 
pre  s  onsmaB  ahIPA   Je!l19e^   die  durch  Berufsverbote  und  andere  Re 
ArbeUskraf?  ka       h       ■  d™.Arbei'tsProzeB  hinausgeworfen  wurden.   I^e 

iven 


an 


men  aus  dem  ArbeitsprozeB  hinausgeworfen  wurden.  J 
nn  der  1so  lerenden  und  individual isierenden  Wirku 
keiten  und  Arbeit^lfl bel.tslosigkeit  entgegensteuern.  Ihre  FKMfl 
Organisierun  un  PnlM"™1  ZU  einem  Instrument  der  kollektiven 
Initi  run  0  cher  orh  erUnfl  Werden"  "  wir  ™fen  d«halb  auf  und 
Freizeitproiekte  fur  ^h  f1°r9anisierter  "Rotarbeit"  wie  Lern-  un° 
Stadtteilen Ht  i       arbeitsl°se  Schulabganger,  soziale  Projekte  m 

ss ill  SiS- '*<«& fesssagr 

len,   KuftXeit  usw  9  V°"  emanziPatorischen  Unterrlchtsmodel- 

pressive  S^I^V^lff  iSC?W  Unterdruckung  erfordert,  d.B  r« 
die  Offent  11  hke ?t  eb  a  ht  "^  lscha«lichen  Bereichen  zuglei'h  a 
kann,  er  habe  vo  allS™  r^'  dami  *  niema"d  noch  einmal  sage" 
versucht  S       „       uel         f  ^^   Die  Politik  der  RePreSSlLni' 

pulieren.  Desha  b  mS  sen  wir  gLSIwJ*1!?^  Me1nung  fUr  S1'C^  '" 
-  Aktive  Bekampfung  von  Repression °ffefnt\^ke\t  herstellen! 
besondere  mit  der  Linken  in  llll  "  erfordert  die  Zusanimenarbeit  in 
Demokraten  und  Sozia  is?en  in  h  eUp0p^'  da  die  Diszlplinierung  vo" 
Wir  rufen  sie  auf!  mi  uns  U       Bund«republ  ik  auch  sie  bedroht- 
und  dkonomische  AusSeJtung  zu  ka^pfen9696"  politische  Unterdruckung 

ERFAHRuKgEN  KlE  HIEREENTSTr,^Tr[!EM  PFINGSTKONGRESS  GEWONNENEN 
BEREICHEN  DER  BUNDESREPUB   Tk     S  ^1^  ARBEITSMOGLICHKEITEN   IN  ALLEN 
SETZEN!   DIESER  KONGRESS  Sar  N..S  ^RA,KTISCHE  POLITISCHE  ARBEIT  UMZU- 
KAMPF  GEGEN  DIE  UNTERDRoJkUNG  FORT'         ""''   SETZEN  WIR  GEMEI 


si:  assssss? sind » ^^- a^  s«zi.n««gs 

bei   Bank  fur  G™ei-.J.-„?f^k?nt°  Frankfurt  Nr.    ?q««n.finR  nrier  GiroW"1 


BUro  Offenbach"     o      c      S SK  --    '     ,." 

n«r?5?k  fUr  Gemei"w  rtscha??  nffr^kfUrt  Nr'    295680-605  oder  GlroWjt 
DARITATSFONDS  wlr«chaft  Offenbach,  Nr.  17413263  -  Kennwort:   SOLI 


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