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ARCHIV

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KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE

X7ND

KRIMINALISTIK

MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN

HERAUSeEOEBEN

VON

Prof. Dr. HANS GROSS

SIEBEfiüIlDZWAIZI&STEB BAJD.

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LEIPZIG VERLAG VON F. C. W. VOGEL

1907.

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Inhalt des siebeirnndzwanzigsten Bandes.

Erstes und Zweites Heft

ausgegeben 29. Mai 1907.

Original-Arbeiten. 8«*t»

L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien . . . 1

IL Die LK.y. und die Kommission f. d. Refonn der StP.O. Von

Hans Grofi 112

m. über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in

Preußen. Von Dr. Otto Leers 129

IV. Verbrecher-Lebenslaufe. Vom Geh. Jnstizrat Siefert 155

y. Ein unwahres Gest&idnis. Von Rechtsanwalt Dr. Kroch . . . 176

YL Was sollen wir tun? Von Prof. Dr. B. Freud enthal .... 188

Vn. Kriminalstatistische Vergleiche. Von HansGroß 189

yin. Zurechnungsfähig? Von Dr. Heinrich Svorcik 192

Kleinere Mitteilungen.

Von Ernst Lohsing:

1. Die gefälschte Handschrift 203

Bficherbesprechungen.

Von Hans Groß:

1. Dr. KarlWilmanns: Zur Psychopathologie des Landstreichers 205

2. Carl Stooß: Strafrechtsfälle für Studierende 206

3. Dr. Georg Lelewer: Die strafbaren Verletzungen der Wehr- pflicht in rechtsvei^leichender und rechtspolitischer Darstellung 206

4. Havelock Ellis: Die krankhaften Greschlechts-Empfindungen

auf der soziativen Grundlage 206

5. Dr. Rudolf Wassermann: Beruf, Konfession u. Verbrechen 207

6. Dr. Ewald Stier: Die akute Trunkenheit und ihre strafrecht- liche Begutachtung in besonderer Berücksichtigung der mili- tärischen Verhältnisse 207

7. Hans Landau: Arzt und Kurpfuscher im Spiegel des Straf- rechts. Ein Beitrag zur ärztlichen Frage 208

8. Robert Sommer: Familienforschung und Vererbungslehre . 208

^

IV Inhaltsyerzeichnis.

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Drittes und viertes Heft

ausgegeben 4. Juli 1907.

Original- Arbeiten.

IX. Die drei Mörder Bloemers. Von Dr. med. Panl Poilitz .... 209

X. Über Kindesmord. Von Prof. Dr. W. Graf Gleispacli .... 224

XI. Ans den Erinnerungen eines PoUzeibeamten. Von Hofrat J. Holz 1 271 XII. Über Windelband und den Streit nm das Strafrecht. Von Gerichta-

assessor Constantin von Zastrow *. ... 277

XIII. Ein Beitrag znr Psychologie der Mörder. Mitgeteilt vom Enten Staatsanwalt Oberiandesgerichtarat Pessler 308

XIV. Meuchelmord zweier Friseurlehriinge. Mitgeteilt vom k. k. Staats- anwaltssnbstitut Dr. Bichard Bauer 337

XV. Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur. Von Dr. jnr. Hans Schneickert 841

XVI. Über eine gewisse Form von Erinnerungslücken und deren Elrsatz

bei epileptischen Dämmerzuständen« Von Dr. Clemens Gudden 346

XVII. Einige merkwürdige Fälle von Iirtum über die Identität von Sachen

oder Personen. Von Dr. Albert Hellwig 352

XVIII. Ebinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort Von Dr. med. Eugen

Jakobsohn 362

Kleinere Mitteilungen.

Von Dr. P. Näcke:

1. Dr. P. Möbius. In memoriam 366

2. Dr. L. Woltmann. In memoriam 867

3. Können Augenblicks-Eindrücke forensischen Wert haben? . 367

4. Motive des AbergUubens 368

5. Gefährliche Träume 370

6. Schranken in der Größe des Schätzens, Erkennens und Be- urteilens bei demselben Individuum 370

7. Fdnfühügkeit eines Idioten 371

Bücher besprechungen.

Von Hans Groß:

1. Dr. Friedrich Stein: Zur Justizreform 372

2. L. S. A. M. von Römer: Die Uranische Familie .... 372

3. Carl Kurtz: Die Untersuchungen von Körperverletzungen, insbesondere der tötlichen 378

4. Ernst Zitelmann: Ausschluß der Widerreohtlichkeit . . 373

5. Dr. jur. Karl Weidlich: Die englische Strafprozeßprazis und die deutsche Strafprozeßreform 374

6. Dr. Max Altberg: Vollendung und Bealkonkurrenz beim Meineid des Zeugen und Sachverständigen 374

7. Dr. med. Arnemann: Über Jugendirresein 375

8. Prof. Dr. Max Ernst Mayer: Die Befreiung von Ge- fangenen 375

Inhaltsyerzeichnis. Y

9. Dr. Ed. Löwenthal: Grondzüge zur Reform des Deatschen

StrafrechtB und StrafprozesseB 376

10. Wilhelm Wandt: Völkerpsychologie 876

11. Hans Ostwald: Das Berliner Dimentom 376

12. Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie 877

13. Med. nnd phil. Dr. Georg Baschan: Gehirn und Koltnr 377

14. Dr. med. Emil Lobedank: RechtMchntz und Verbrecher* behandlang 377

15. Prof. Dr. Berthold Kern: Das Wesen des menschlichen Seelen- and Geisteslebens als Grandiifi einer Philosophie des Denkens 378

16. K. A. Wettstein : Die Strafverschickang in deatsche Kolonien 378

17. E. Riggenbach: Vererbnng and Verantwortung 379

18. Dr. G. von Bhoden: Erbliche Belastung und ethische Ver^ antwoitung 879

19. Dr. J. Starke: Die Berechtigung des Alkoholgenasses . . 879

20. Ludwig Gfinther: Ein Hexenprozeß 879

21. Hugo Marx : Rinfflhmng in die gerichtliche Medizhi f&r prak- tische Kriminalisten 380

22. Dr. Gustav Radbruch: Geburtshilfe und Strafrecht . . 882

23. Dr. jur. Oskar Holer: Die Einwilligung des Verletzten . 382

24. Josef Poppenscheller: Die Daktyloskopie als Erkennungs- mittel f&r WechselfSlschungen 383

25. Dr. Erich Wulff en : Georges Manolescu und seine Memoiren 383

26. Robert Gaupp: Wege und Ziele psychiatrischer Forschung 384

27. Rechtsanwalt Rothe: Gegen den GotteslSaterungspara- graphen und Pfarrer Adolf Schreiber: Gegen das Je- auitengesetz 384

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I.

Der Prozess Riehl und Konsorten in Wien.

November 1906.

Vielleicht ans keinem der vielen, sagen wir kurz Knppelei- prozesse ist das ganze Prostitntionswesen so scharf umrissen und zweifellos hervorgetreten, wie aus dem jüngst in Wien verhandelten ; es soll deshalb dieser in vielfacher Richtung belehrende Prozeß möglichst genau dargestellt werden. Bezüglich der Quellen der Darstellung sei bemerkt, daß die Anklage und das Urteil akten- mäßig sind; die Verhandlung selbst ist denBerichten der,, Zeit^ ent- nommen, und durchweg mit amtlichen Daten verglichen und nach ihnen richtig gestellt worden.

Vorsitzender des Gerichtshofes ist Hofrat Dr. Feigl; die Staats- anwaltschaft ist vertreten durch den Substituten Dr. Langer, als Verteidiger fungieren: Dr. Rabenlechner, Dr. PoUaczek und Dr. Hofmockl.

Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und erkl&rt die Ver- handlung ftlr geheim, doch werden 60 Vertrauenspersonen, meist Journalisten, zugelassen.

Auf der Anklagebank sitzen die 45jährige Inhaberin eines öffentlichen Hauses Regine Riehl, die 68jährige Bedienerin Antonia Pollak, der verheiratete vorbestrafte Spenglergehilfe Friedrich König und die Mädchen: Marie Hosch, 20 Jahre alt; Eva Madzia 23 Jahre alt; Sophie Christ, 19 Jahre alt; Josefine Zawazal, 17 Jahre alt; Ernestine Oönje, 33 Jahre alt; Anna Christ, 19 Jahre alt; Marie Winkler, 20 Jahre alt; Marie Pokornj, 24 Jahre alt.

Regine Riehl ist eine untersetzte kräftige Frauensperson. Das dicke Gesicht zeigt die Spuren ehemaliger Schönheit Sie beträgt sich sehr sicher und antwortet im Verhör schlagfertig. Friedrich

irehiT fSr Krininalaiithnipologie. 27. Bd. ^

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I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

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König rj^f.gut gekleidet und sieht aus wie ein Wiener Fiaker. Er roaomVdcnen Bjmpathischen Eindrnok; er soheint seine gegenwärtige Sito'a.tion nioht sehr tragisch zu nehmen. . /'< Antonia Pollak ist verwachsen, ihr Rücken ist tief eingesunken,

/4|e. listigen, unruhigen Augen irren unstet im Saale herum.

***** Die M&dchcn haben zumeist stumpfe, wenig anziehende Oe- ''. sichter, deren kindliche Züge durch die Falten und die Blässe der ..'%/' Verlebtheit seltsam verzogen sind. Vom einfachen blauen Kattun- kleid und dem schwarzen Kopftuch bis zur kostbaren auffallenden Toilette der Demimonde sind alle möglichen Abstufungen der Eleganz vertreten, die stets durch eine besonders grelle Farbe, ein auffallen- des Schmuckstück oder eine Masche mehr markiert ist.

Nach Erledigung der gesetzlichen Vorschriften wird die Anklage verlesen :

Die k. k. Staatsanwaltschaft Wien erhebt gegen:

Regina Riehl, geboren im Jahre 1860 in Wradisch, nach Wien zu- ständig, evang. A. C, verwitwet, Bordellinhaberin, ▼orbestraft, dz. in Haft;

Antonie Pollak, geboren am 4./10. 1838 in Pravonin, zust&ndig nach Wien, mosaisch, verheiratet, Bedienerin, unbescholten, dz. in Haft;

Friedrich König, am 7./7. 1857 in Wien geboren und dahin zu- ständig, katholisch, verheiratet, Spenglergehilfe, vorbestraft;

Marie Bosch, 20 Jahre alt, in Wien geboren und dahin zuständig, katholisch, ledig, Prostituierte, unbestraft;

£vaMadzia,23 Jahre alt, in Cacz geboren, nach Brennau zuständig, katho- lisch, ledig, Prostituierte, vorbestraft (wegen unbekannten Aufenthalts ausge- schieden);

Sofie Christ, 19 Jahre alt, in Groß-Meseritsch geboren, nach BrQnn zu- ständig, katholisch, ledig, Wäscherin, unbescholten;

"Josefine Zawazal, 17 Jahre alt, in Wien geboren, nach Königsaal zu- ständig, katholisch, ledig, Prostituierte, vorbestraft;

Ernestine Gönye, 33 Jahre alt, in Mihaly geboren und dahin zu- ständig, evang. A. C, ledig, Stubenmädchen, unbescholten;

Anna Christ, 19 Jahre alt, in Wien geboren, nach Las zuständig, katho lisch, ledig, Schneiderin, unbescholten;

Marie Winkler, 20 Jahre alt, in Wien geboren, nach Mitter- Arnsdorf zuständig, katholisch, ledig. Private, nnbescholten;

Marie Pokorny, am 31./10. 1882 in Reifnigg-Fresen geboren und zu- ständig, katholisch, ledig, Prostituierte, unbescholten,

die Anklage:

A. Regine Riehl und Antonie Pollak haben in der Zeit vom Jahre 1897 bis zum Jahre 1906 die nachbenannten Personen, über welche ihnen ver- möge der Gesetze keine Gewalt zutsand, eigenmächtig verschlossen gehalten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurflckbehalten ihrer Kleider, an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert und zwar die Juliane Bernhard (1906), Anna Christ (1905), Sofie Christ (1906), Paula Denk (1903—1904),

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 3

Anna Felber (1905), Ottilie Geresch (1897—1900), Amalie Glaser (1904), Angela Qroßmann (1904), AloiBia Hirn (1904—1905), Julie Hlawatochek (1905—1906), Marie Haschek (1905), Marie König (1901—1906), Marie Kotzlick (1903), Anna Krifitof (1902), Marie Lang (1904), Elise Lipp er (1906), ThereseLudwicek (1902— 1903), Rosa Maretschek (1904—1905), Kva Madzia (1903-1906), Elisabeth Menschik (1904), Marie Nemetz (1906), Justine Rohatschek (1899—1900), Theresia Schlager (1902), Marie Starek (1901), Michaelina Stavitzka (1906), Josefine Taub- mann (1901— 1902), Georgine Weinwurm (1899— 1900) und Josefine Zawazal (1906), es habe die Anhaltung Ober drei Tage gedauert, und es haben die Angehaltenen nebst der entzogenen Freiheit noch anderes Ungemach zu leiden gehabt.

B. Friedrich König habe zu der oben unter A, bezeichneten Übeltat der Regine Riehl an Marie König durch Mißhandlung derselben und durch die Drohung, sie der Besserungsanstalt zu abergeben, Vorschub gegeben und Hilfe geleistet.

C. Regine Riehl habe in der Zeit seit 1897 die von den nachbenannten Personen zur Verwahrung übernommenen Kleider und W&schestacke, somit an- rertrautes Gut in einem 100 K. abersteigenden Werte nach deren Austritte aus dem Riehischen Hause denselben vorenthalten und sich zugeeignet und zwar der Paula Denk, Anna Felber, Marie Huscbek, Sofie Janeba, Rosa Maretschek, Elisabeth Menschik, Emilie Nawratil, Malke Ghaje, Neschling, Therese MQnz, Justine Rohatschek, Marie Starek, Josefine Taubmann, Georgine Weinwurm, Josefine Zawazal.

D. Marie Hosch, Eva Madzia, Sofie Christ, Josefine Zawazal, Ernestine Gönye haben durch die am 5. Juli 1906 unter OZ. 15, 16, 17, 18 und 19 dem Untersuchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien unter Eid ge- machten Angaben aber die Einrichtung des Riehischen Hauses, das Leben der Prostituierten in demselben und die Verrechnung des Schandlohnes;

femer Anna Christ durch die am 5. Juli und am 16. Juli 1906 unter OZ. 21 dem Untersuchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien Ober die Frage ihrer Vlrginit&t beim Eintritte, ihrer Behandlung in dem Riehischen Hause und die Umstände, unter denen sie das Haus verließ, gemachten Angaben,

femer Marie Wink 1er am 25. Juli 1906 durch die in OZ. 133 dem Unter- snchungsrichter des k. k. Landgerichtes Wien gemachte Angabe, daß sie ihre Auüseichnungen aber ihren Verdienst der Regine Riehl gezeigt habe, und

Marie Pokorny durch die am 23. Juil 1906 unter OZ. 123 dem Unter- suchungsrichter des k. k. Landesgerichtes Wien gemachte Angabe aber den Verkehr des Josef Piss im Riehischen Hause vor Gericht ein falsches Zeugnis^ abgelegt.

£. Regine Riehl, Antonie Pollak, Marie Hosch haben im Juni und Juli 1906 in Wien durch die Bitte, zu Gunsten der Regine Riehl auszusagen und das Versprechen und die Verteilung von Geschenken die oben sub D be- zeichnete Übeltat durch Anraten, Unterricht und Lob eingeleitet und vors&tzlich Teranlaßt und zwar Regine Riehl die Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ, Ernestine Gönye, Marie Hosch, Eva Madzia, Jesefine Zawazal und Marie Po- korny, Antonie Pollak, die Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ und Ernestine Gönye; Marie Hoschdie Übeltat der Sofie Christ und Josefine

Zawazal.

F. Regine Riehl und Antonie Pollak haben sich im Juni und Juli 1906 in Wien durch Versprechungen von Geschenken und zwar Regine Riehl

1*

4 I. Der Prozeß Riehl und EonBorten in Wien.

bei Aloisia Hirn und M&rie Nemetz, Antonie Pollak bei Josefine Zawazal um ein falsches Zeugnis, so Tor Gericht abgelegt werden soll, beworben.

G. Kegine Riehl habe im Jahre 1905 in Wien die Anna Felber, Marie Hosch, Elisabeth Menschik Tors&tzlich Teranlaßt, mit ihrem Körper ihr un- züchtiges Gewerbe zu betreiben, obwohl sie wußten, daß sie mit einer Tenerischen Krankheit behaftet waren, und zur AusQbung dieser Übeltat Vorschub gegeben und Hilfe geleistet.

H. Regine Riehl habe seit dem Jahre 1897 den nachbenannten Schand- dimen und zwar Marie Billek, Anna Christ, Elisabeth Menschik, Emilie Navratil, Malke Chaje Neschling und Justine Rohacek zur Betreibung ihres unerlaubten Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt gegeben.

I. Antonie Pollak habe seit 1897 in Wien durch Zufahren von Schanddirnen in das Haus der Regine Riehl ein Gesch&ft gemacht.

K. Friedrich König habe seit dem Jahre 1902 aus der gewerbsmäßigen Unzucht der Marie König seinen Unterhalt gesucht.

Hiedurch haben begangen:

Regine Riehl ad A das Verbrechen der Einschränkung der persön- lichen Freiheit nach § 93 St. G.

ad C das Verbrechen der Veruntreuung nach § 183 St. G.

ad E das Verbrechen der Mitschuld an dem Betrüge nach §§ 5, 197, 199a St. G.

ad F das Verbrechen des Betruges durch Bewerbung um falsches Zeugnis §§ 197, 199a St. G.

ad G die Übertretung nach den §§ 5 St. G. und 5 Absatz 3 Gesetz vom 24. Mai 1885 R. G. Bl. Nr. 89

ad H die Übertretung der Kuppelei nach § 512a St. G., strafbar nach §§ 35, 94 (höherer Strafsatz). St. G.

Antonie Föllak ad A. das Verbrechen der Einschränkung der persön- lichen Freiheit nach § 93 St. G.

ad £ das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach §§ 5, 197, 199a St G.

ad F das Verbrechen der Bewerbung um falsches Zeugnis nach §§ 197, 199a St. G.

ad. I. die Übertretung dor Kuppelei nach § 512 d. St. G. strafbar nach §§ 34, 35, 94 (höherer Strafsatz), St. G.

Friedrich König ad B. das Verbrechen der Mitschuld an der Ein- schränkung der persönlichen Freiheit nach §§ 5,93 St. G. und ad K. die Über- tretung des § 5, dritter Absatz Gesetz vom 24. Mai 1885 R. G. Bl. Nr. 89, straf- bar nach §§ 35, 94 (höherer Strafsatz) St. G.

Marie Hosch ad D. das Verbrechen des Betruges nach §§ 197, 199a, St. G. ad F das Verbrechen der Mitschuld an diesen Vergehen nach §§ 5,197, 199a, St. G., strafbar nach §§ 34,202 2o4 St. G.

Eva Madzia, SofieChrist, Josefine Zavazal, Ernestine Gönye Anna Christ, Marie Winkler und Marie Pokorny ad D. das Ver- brechen des Betruges nach §§ 197 und 199a St. G. strafbar nach § 2ü2 St. G. bei den vier erstgenannten überdies nach § 204 St. G.

Beantragt wird;

1. Anordnung der Hauptverhandliing vor dem k. k. Landesgerichte Wien als Erkenntnisgericbte;

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien. 5^

2. Vorfflhrang der beiden gem&O § 175 Z. 4 und 180 St. P. 0. in Haft su belaasenden Beschnldigten Regine Riehl und Antonie PoUak;

3. Vorladung der übrigen Beschuldigten;

4. Vorladung der Zeugen Emil Bader ON. 10, Max Löwy ON. 22, Marie König ON. 23, Theresia Richter ON. 25, Marie Billek ON. 69, Ernst PoUak ON. 30, Johann Seidl ON. 57, Leopold Bader ON. 69, Hedwig Malik ON. 81, Barbara Koplik ON. 89, Marie Spanagl ON. 102, RosaZemann ON. 104, Theodor Staitz ON. 105, Rudolf Michel ON. 117, Pauline Trzil ON. 124, Aloisia Hirn OK. 129, Aloisia Siepschiek ON. 130, Elise Lipper ON. 134, Anna Divin ON. 152, Ottilie Oeresch ON. 154, Filomena Fiedler ON. 155, Marie Qsch wandt ON. 157, Amalie Glaser ON. 157, Franziska Hotovy ON. 161, Anna Kristof ON. 16, Albine Korba ON. 162, Anna Kaluscha ON. 165, Sofie Janeba ON. 166, Marie Uoschek ON. 167, Marie Lang ON. 168, Therese Münz Paschinger ON. 169, Therese LudwicekON. 170, Aloisia Schmidt ON. 184, Ludmilla Rozhon ON, 18, SchUcha ON. 186, Marie Starek ON. 192, Marie Spika ON. 193, Karoline Staadinger ON. 194, Walpurga Yrana ON. 197, Georgine Weinwurm ON. 199, Barbara Woücky ON. 206, Viktoria Zielinska ON. 207, Anna Felber ON. 234, Therese Schlager ON. 235, Angela Großmann ON. 236, Justine Rohacek ON. 237, Rosa Marecek ON. 238, Emilie Nawratil ON. 239, Josefine Taubmann ON. 240, Louise Waas ON. 241, Johann Br^by ON. 272, Anna Altenkopf ON. 277, Karl Josef Weber ON. 278, Marie Skamenik ON. 279, Michaelina Sta?itzka ON. 284 Juliane Bernhard ON. 285, Marie Hruby Leopoldine Baumann ON. 280, Mathias Kohlendorfer ON. 299, Therese KoblendorferON. 300, Ed Alois Müller ON. 301 Marie Müller ON. 302, Ernst Janda ON. 303, Paula Denk ON. 311, Malke Chaje Neschling ON. 312, Elisabeth Menschik ON. 313, Josef Kolazia ON. 329, Johanna Krenn ON. 341, Leopold Haller ON. 355. Marie KoUlik QN. 856, Dr. Husserl ON. 100.

5. Vorlesung gem&ß § 252 Zahl 1 und 4 der Zeugenaussagen.

Cölestine Truza ON. 41, Karl Spanagl ON. 71, Hans Baumann ON. 72, Anna Hauer ON. 79, Karoline Wicher ON. 80, Franziska Remisch ON. 82, Dr. Waldmann ON. 99, Marie Zais ON. 104, Albert Brouschko ON. 106, Amalie BostiUch ON. 107, Ludwig Watzek ON. 108, Anna Scholik ON. 109, Marie NemetzON. 110, Rudolf Brezelnik ON. 118, Regine Blum ON. 132, Dr. Friedrich Hlawitisch ON. 136, Ernst Immerglück ON. 142, Marie Zaulek ON. 199, Friederike Rozehalik ON. 262, Johann Schützner ON. 273, Leopold Kostik ON. 274, Josef Nemes ON. 275, Josef Tybl ON. 276, Paula Kustlik ON. 281, August Rogner ON. 282, Alois Sattler ON. 283, Anna Singer ON. 294, Margarctha Singer ON 295, Karl Morawic ON 305, Anna Morawic ON 306, Heinrich Kohlen- hof ON. 308, Josef Loitzl ON. 342, Ludwig Koller ON. 344, Franz Grün- berger, ON. 373, Franz Schlager ON. 401, Franz Marecek ON. 407, Kari Gschwind ON. 421, Rudolf Webner ON. 422, Franz Billek ON. 424, Ludmilla BiUek ON. 425. des Gutachtens ON. 383, und des Verhörsprotokolls mit Josef Bosch ON. 24.

Gemftß § 252 in fine der Beilagen zur Note der Polizeidirektion Wien ON.

66, der Polizeirelation ON. 126, der NotQ^ der Polizeidirektion Wien letzter Ab-

Bätz ON. 250, des Erhebungsaktes des Polizeikommissariatos IX. ON. 411, der

Strafakten gegen Marie König Bezirksgericht Simmering U 2366/00, Bczirks-

gencht Josefstadt U IV 137106 (ON. 60) und des Bezirksgerichtes Floridsdorf

ü 799 6 (ON, 116) der Note ON. 126, des Schulzeugnisses ON 316, ferner der

6 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Leumandsnoteni Strafkarten und Yorstraferkenntnisse nnd der Ton dem Unter- suchungsrichter angelegten Auszüge aus den Prostitttierten-Yormerkbl&ttern.

Gründe:

Regine Riehl beschäftigt sich schon seit mehr als 20 Jahren gewerbsmäßig mit derlEuppelei. Zuerst betrieb sie dieses Gewerbe in der Form des geheimen Auffahrhauses. Wiederholte gerichtliche Abstrafungen veranlaßtcn sie aber, diese Betriebsart aufzugeben, und Ende der 90iger Jahre eröffnete sie ein toleriertes Haus, das heißt ein nach polizeilichen Yorschriften eingerichtetes, geleitetes und unter polizeilicher Aufsicht stehendes Bordell, das sie bis zu dessen behördlicher Schließung im Juni 1906 zuletzt im Hause Grüne Thorgasse Nr. 24 betrieb.

Über die Art, wie Regine Riehl dieses Geschäft geführt hat, hat der Unter' snchungsrichter eingehende und bis in das Jahr 1897 zurückreichende Er- hebungen gepflogen, die nur durch die Rücksicht auf den Ruf solcher Personen beschränkt waren, welche die Prostitution aufgegeben haben und zu einem ehr- baren Lebenswandel zurückgekehrt sind. £s wurden über das Thema der Setriebseinrichtung und der Behandlung der Prostituierten 72 Zeugen einver- nommen, deren Aussagen im wesentlichen übereinstimmen, sodaß ihr der An- klage zugrunde liegender Inhalt zu keinen Bedenken Anlaß gibt, zumal die beiden Hauptbcschuidigten, welche in starrem Leugnen verharren, in vielen wesentlichen Punkten sich selbst und untereinander widersprechen.

Das Geschäft hatte bedeutenden Umfang, denn die Riehl hielt bis zu 20 Prostituierte und hatte für ihren Zweck ein ganzes Haus gemietet, für das sie einen Jahreszins von 10000 K zu entrichten hatte. Die Räumlichkeiten, soweit sie dem Bordellverkehre dienten, waren mit großem Komfort eingerichtet. Im krassen Gegensatze hiezu standen die sanitätswidrigen Verhältnisse in den Schlaf- räumen der Prostituierten, die in wenigen engen ärmlich ausgestatteten Räumen zusammengepfercht zu zweien in einem Bette schlafen mußten. Es ist dies nicht der einzige Beweis der Habgier der Beschuldigten, die vermöge der rück- sichtslosen Ausbeutung der Bewohnerinnen ihres Hauses aus demselben zweifel- los einen namhaften Gewinn zog.

Mit der Anwerbung junger Mädchen für ihr Haus war eine große Anzahl von Personen verschiedenster Art beschäftigt. Alte Frauen und junge Burschen näherten sich auf der Straße oder im Prater vazierenden Dienstboten, von denen einige die Not oder der Leichtsinn zur Ausübung der geheimen Prostitution ge- trieben hatte, und erboten sich, ihnen einen guten Dienstplatz zu verschaffen. Dienstvermittlungsbureaux sendeten ihr junge Mädchen zu, und sogar in den Spitälern kam es vor, daß einer Patientin von ihrer Leidensgefährtin das Haus Riehl empfohlen wurde. Das Augenmerk dieser Agenten war vorwiegend auf Mädchen gerichtet, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren^ Die Jüngste von allen war nach den Erhebungen Ottilie Geresch, die bei ihrem Eintritte U Jahre 3 Monate zählte. Um die Mädchen leichter in ihre Netze zu locken, hatte sie außen an dem Hause eine große Tafel mit der Aufschrift „Kleider- salon Riehl" angebracht.

Den Neueintretendon gegenüber war das Verfahren der Beschuldigten je nach dem Grade ihrer Verkommenheit ein verschiedenes. Den einen machte sie kein Hehl aus dem Greschäfte, dem sie in ihrem Hause nachzugehen hätten. Andere nahm sie entgegen den polizeilichen Vorschriften, die das Halten Jugend-

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 7

licher Dienstboten in einem tolerierten Hause ausdrAcklich verbieten, vorerst als Dienstboten auf; denn sie konnte damit rechneui daß die bereits sittlich ge- sunkenen Mädchen in Kürze dem demoralisierenden Einflüsse der Herrin und der abrigen Umgebung erliegen würden. In der Tat hat selten ein M&dcben angesichts der Not, die ihm beim Verlassen des Hauses drohte, auf das nach einiger Zeit ge- bteilte Angebot, auch »Dame* zu werden, eine ablehnende Antwort gegeben.

Nun galt es für das Mftdchen das Gesundheitsbuch zu beschaffen, wozu bei Mindeijfthrigen die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter der Bewerberin er- erforderlich ist In mehreren Fällen wurde diese Einwilligung mit größerer oder geringerer Schwierigkeit erreicht, indem die Hiehl oder ihre vertraute Bedienerin Antonie Pollak, unterstützt durch die vorher hiezu abgerichteten Mädchen, die Bedenken der Eltern durch trügerische Vorstellungen über das den Aufnahms- werberinnen. bevorstehende Wohlergehen, zum Teile sogar durch Geldgeschenke zerstreute. Es sind drei Fälle nachgewiesen, in denen die Eltern von der Riehl regelmäßige Zahlungen aus dem Schandlohne ihrer Kinder bezogen. Einer davon, der des Friedrich König, ist hier unter Anklage gestellt, während Josef Hosch und Barbara Kozlik sich vor den kompetenten k. k. Bezirksgerichten wegen Übertretung des § 5 dritter Absatz des Vagabundengesetzes zu verantworten haben werden.

War eine solche wenigstens der Form nach den Vorschriften entsprechende Erledigung der Angelegenheit nicht zu gewärtigen, so behalf sich Begine Riehl mit der Irreführung der Behörden. Sie veranlaßte die Mädchen, über ihre gesetz- lichen Vertreter und deren Wohnort dem Polizeikommissariate unwahre Aus- künfte zu geben, indem sie angeben sollten und dann auch angaben, ihre Eltern seien schon verstorben oder unbekannten Aufenthaltes; in anderen Fällen be- gleitete sie das Mädchen zur Vernehmung und brachte für diese solche Unwahr- heiten selbst vor; auch gefälschte {chriftliche Zustimmungserklärungen wurden gegebenen Falles produziert. Durch solche Umtriebe erreichte sie die sofortige Ausstellung des Gesundheitsbuches, erschwerte und verzögerte aber auch die vorgeschriebene Verständigung der gesetzlichen Vertreter von dem Eintritte der Mädchen und brachte es dahin, daß dieselben manchmal erst Monate später von dem yerhängnisvollen Schritte ihres Kindes oder Mündels Kenntnis erhielten, zu einer Zeit, wo die Verkommenheit des Mädchens schon soweit vorgeschritten war, daß jede Aussicht, es wieder auf rechte Wege zu bringen, ausgeschlossen war, welcher Umstand die gesetzlichen Vertreter veranlaßte, nachträglich zu dem Eintritte des Mädchens ihre Zustimmung zu erteilen.

Eine Einflußnahme im Sinne der Rückkehr zur Ehrbarkeit von selten der Angehörigen suchte die Beschuldigte nach Möglichkeit zu hintertreiben, indem sie vor derartigen Besuchern die Mädchen verleugnete oder, wenn jemand sich nicht abweisen ließ, die gesuchte Person zuerst als Dienstmädchen kleidete und dann nur in ihrer Gegenwart mit dem Besucher sprechen ließ. Wagte es jemand dem Mädchen das Schimpfliche seines Lebenswandels vorzuhalten, so wurde er von der Riehl an die Luft gesetzt.

Das Leben der Prostituierten in diesem Hause gestaltete sich wie folgt Am frühen Morgen, nachdem die Besucher das Haus verlassen hatten, wurden die Mädchen In die zum Teile schon eingangs beschriebenen Schlafräume ge- führt, die sie die Kaserne nannten. Die Türen wurden hinter ihnen von außen versperrt, die Fenster dieser Zimmer waren mit Milchglas versehen und mittelst eiserner Vorlegstangen versperrt. Die Mädchen schliefen dort bis in den Mittag;

8 L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

war das Mittagsmahl, das gemeinsam eingenommen wurde, aufgetragen, so Öffiieten sich die Türen der Kaserne und in Reih und Glied yerließen die M&dchen diesen Baum, in den sie sofort nach Beendigung des Mittagsessens wieder eingesperrt wurden. Sie yerbrachten daselbst den Nachmittag und konnten die Kaserne nur yerlassen, wenn die Wirtschafterin sie holte, weil ein Besucher sie verlangte. Erst Abends wurden sie in den „Salon" geführt, in dem die Fenster in gleicher Weise verwahrt waren wie in den Schlafr&umen.

Dort wurden die Besucher empfangen, die dann mit einem der M&dchen «aufs Zimmer" gingen. Das Zimmergeld von 10 Kronen aufwärts bezahlten sie zu H&nden der Riehl, der Pollak oder einer bevorzugten Prostituierten, der die Riehl durch die Ernennung zur Wirtschafterin einen Beweis ihres Vertrauens und Wohlwollens gegeben hatte. Manche Besucher pflegten nun auch die M&dchen selbst mit dem sogenannten Strumpfgelde zu beschenken, auch dieses mußte aber an die Riehl oder ihre Stellvertreterin abgeführt werden. Der Ver- such eines M&dchens, diese Gabe für sich zu behalten, wurde von der Riehl für Diebstahl erkl&rt und mit Beschimpfungen und Schiftgen bestraft, überhaupt war die Riehl mit großer Energie bemüht wie sie sich ausdrückte Zucht und Ordnung im Hause aufrecht zu erhalten; sie bediente sich dabei der aller- ordin&rsten Schimpfworte, schlug aber auch h&ufig mit der Hand, dem Schür- haken oder mit der Hundepeitsche zu. Die Hausbesorger und Anrainer be- richten, daß sie h&ufig das Wehgeschrei mißhandelter M&dchen auf große Ent- fernung hörten.

Die Garderobe der M&dchen bestand aus zwei Hemden und Unterrock, Strümpfen und einem Paar Atlasschuhe; in der kalten Zeit erhielten sie noch einen Schlafrock. Die Kleider, die sie ins Haus mitgebracht hatten, wurden ihnen beim Eintritte abgenommen und von der Riehl in Sperre genommen.

Der Briefwechsel der M&dchen stand unter strengster Kontrolle; ein- langende Briefe, die der Beschuldigten nicht paßten, wurden unterschlagen und was die M&dchen schrieben, mußte der Riehl vorgelesen werden, fand sie etwas zu beanstanden, so zerriß sie den Brief und diktierte einen neuen, in dem das M&dchen sich glücklich pries, in diesem Hause Aufnahme gefunden zu haben.

Ein Ausgang wurde den M&dchen nicht gestattet; dem Hausbesorger war es aufs strengste eingesch&rft, das Haustor stets versperrt zu halten, für den Fall, daß ein M&dchen entkam, war ihm sofortige Entlassung angedroht. Be- zeichnend für die Wichtigkeit, welche die Riehl dieser Absperrung des Hauses beimaß, war die in den Verträgen mit den Hausbesorgern enthaltene Klausel, laut welcher sie bei Kündigung des Postens sofort die Schlüssel abzugeben hatten.

Unter solchen Umst&nden kam es vor, daß ein M&dchen oft Wochen und Monate lang nichts mehr von der Welt sah, als was zwischen den Milchglas- fenstem und den versperrten Türen lag.

Nur ab und zu wurde denjenigen Prostituierten, die sich die Zufriedenheit ihrer Herrin erworben hatten, gestattet, sich in dem beim Hause befindlichen Garten zu ergehen. Hiebei standen sie aber stets unter der Aufsicht der Riehl oder der Pollak und es wurde mit besonderer Vorsicht darauf gesehen, daß die Türen, die auf die Straße hinaus führen, versperrt waren.

Zuweilen onternahm die Riehl mit einzelnen Prostituierten auch Aus- fahrten; sie besuchte mit ihnen Vergnügungslokale, um die dort verkehrende Lebe weit auf ihr Unternehmen aufmerksam zu machen. Sie belud hiebei die Mädchen mit Schmuck und gab ihnen ihr Geldt&schchen zu tragen, um sie.

1. Der Prozeß Riehl nnd KoDsorten in Wien. 9

wenn sie h&tten ausreißen wollen, beschuldigen zu können, daß das M&dchen Bcbmnck und Geld zu stehlen beabsichtigt habe.

Faßt man diese mit großem Raffinement ersonnenen Vorkehrungen, die mehrfache Sinsperrung, die strenge Beaufsichtigung, die Ausstattung mit einer auf der Straße unmöglichen Garderobe und die Abnahme alles Geldes zusammen, so ergibt aich, daß es einem mit normaler Energie und Intelligenz begabten M&dchcn außerordentlich schwer war, aus dem Hanse zu entkommen. Durch die Unterbindung der Korrespondenz und durch die Verhinderung des persön- lichen Verkehres mit den Angehörigen wurde diese Einsperrung zu einer gänz- lichen Absperrung von der Außenwelt verschärft.

Auch innerhalb des Hauses mußten die Prostituierten sich dem Willen der Regina Rieh! beugen.

Der Ertrag ihres Unternehmens bestand zum Teile auch in dem Erlöse fOr Champagner und Cognac, den sie ihren G&sten zu entsprechenden Preisen aus- sch&nkte. Die M&dchen mußten zu diesem Zwecke die G&ste animieren und selbst auf Kosten der Gäste konsumieren. Sie mußten sich betrinken und im iUnsche noch weiter trinken, selbst wenn ihnen unwohl wurde, sonst gab es Schläge. Der Ekel vor gewissen Perversitäten, die die Besucher von ihnen ver- langten, die Furcht vor dem Schmerze, der damit verbunden war, wurde nicht geduldet; durch Beschimpfung und Mißhandlung wurde ihnen solche Empfindlich- keit ausgetrieben. Die Anna Christ kam in anatomisch-virginalem Zustande in das Hans, sie war daher fOr den Geschäftsbetrieb, wegen des polizeilichen Ver- botes nicht zu brauchen; wahrscheinlich auf Geheiß der Riehl wurde sie daher von Eva Madzia durch Einffihrung des Mutterspiegels defloriert.

Es ist daher naheliegend, daß die Prostituierten mit wenigen Ausnahmen sich in kurzer Zeit enttäuscht sahen und nach Befreiung sehnten, Es waren aber die meisten von ihnen durch das fortgesetzte Nichtstun, durch die häufigen Alkohol« und Sexual- Exzesse derart entkräftet, durch die Mißhandlungen seitens der Riehl, deren Opfer oder Zeuginnen sie gewesen waren, derart eingeschüchtert, daß nur wenige energisch genug waren, ihre Befreiung zu betreiben. Baten sie die Riehl um ihre Entlassung, so wurde ihnen entweder mit Vertröstungen oder unter Hinweis auf ihre angeblichen Schulden mit Beschimpfungen, oder damit geantwortet, daß ihnen irgend ein Gegenstand an den Kopf geworfen wurde. Bei solchen Anlässen pflegte Regine Riehl auch mit Polizei, Schub oder Arbeits- hans zu drohen, und diese Drohungen waren umsomehr geeignet, bei den größtenteils ganz unerfahrenen Mädchen zu verfangen, als sie ja beobachten konnten, wie gut die Riehl mit der Behörde auszukommen verstand. In diesem Kampfe gegen den Wunsch nach Befreiung wurde die Riehl bei Marie König noch von deren Vater unterstützt, von dem schon erwähnt wurde, daß er von der Riehl eine monatliche Rente bezogen hat Diesen ließ sie immer holen, wenn das Mädchen es gewagt hatte, sich gegen die fortgesetzte Einsperrung und Peinigung aufzulehnen. Er erschien, drohte dem Mädchen mit der Abgabe in eine Besserungsanstalt und schlug es solange, bis es mürbe gemacht vor Regine Riehl in die Knie sank und sie bat, sie noch weiter zu behalten. »

Nor dann wurde dem Eutlassungsgesuche stattgegeben, wenn das Mädchen sich als für das Gewerbe minder geeignet erwies, oder wenn seitens seiner An- gehörigen Einschreiten bei der Behörde und Aufdeckung der zur Beschaffung des Gesundbeitsbuches angewendeten Umtriebe drohte. In manchen Fällen knüpfte sich daran die Bedingung, daß das Mädchen sich verpflichtete, Wien zu

10 I. Der Prozeß Hiehl und Konsorten in Wien.

verlassen. Es wurde dann von der Pollak oder einer andern Vertraaensperson auf den Bahnhof gebracht, mit einer Fahrkarte versehen und angewiesen, sich am iiestimmungsorte einer bestimmten Frau zu melden, diese Frau war eine Bordell- besitzerin. Aus dieser Erz&hlung der Angela Großmann und anderer Zeugen ergibt sich, daß die Riehl auch den M&dchenhandel betrieben habe.

Unternahm es ein Mädchen zu fliehen und mißlang der Versuch, so wurde es unter PrQgeln znrQckgebracht. Der Versuch, durch die Besucher des Hauses befreit zu werden, scheiterte an deren Qleichgiltigkeit gegen das Schicksal einer Prostituierten oder der Scheu, durch eine behördliche Anzeige den Besuch eines Bordells einzugestehen. Sich direkt an die Polizeibehörde zu wenden, war un- möglich, denn polizeiliche Revisionen fanden nur äußerst selten statt und bei den ärztlichen Visiten war eine offene Aussprache wegen der Gegenwart der Riehl oder der PoUak ausgeschlossen.

Nur wenige, bei denen die entkräftende Wirkung des Lebens und der Be- handlung im Rieh Ischen Hause nicht eingetreten war, denen vielmehr die Leiden und Enttäuschungen die Schlauheit geschärft und die Tatkraft auf- gestachelt hatten, gelang es, durch die Flucht zu entkommen oder durch Wider- spenstigkeit und Unbotmäßigkeit oder sonst durch ein Verhalten, welches die Riehl Unannehmlichkeiten befürchten ließ, ihre Entlassung durchzusetzen. Die günstigste Gelegenheit hiezu bot sich ihnen, wenn sie nach einer Krankheit das Spital verließen. Um sich diese Gelegenheit zu schaffen, ist die Marie Kotzlik auf den Gedanken verfallen, sich selbst eine Verletzung beizubringen. Aber auch von hier aus gelang es nicht allen, die Freiheit zu gewinnen; denn die Pollak aberwachte bei ihren Besuchen die Fortschritte der Genesung und stand am Tage der Entlassung mit einem Wagen vor dem Tore, um das Mädchen zur Riehl zurückzubringen.

Als ein Mädchen, die Anna Kristof, sich weigerte zurückzukehren, vertrat die Pollak dem diensthabenden Arzte gegenüber die Rechtsanschauung, daß derjenige, der eine Person in das Spital gebracht hätte, auch ein Recht darauf habe, daß ihm dieselbe bei der Entlassung wieder übergeben werde, bie drang mit dieser Ansicht auch durch; das Mädchen wurde ihr ausgeliefert, es mußte nach der Entscheidung des Arztes glauben, daß die Pollak im Rechte sei, er- innerte sich an die Drohungen der Riehl mit der Polizei und ließ sich ins Bordell zurück eskortieren.

In der juristischen Qualifikation dieses Vorgehens der Regine Riehl geht die Staatsanwaltschaft von dem Grundsatze aus, daß, so sehr die Einsperrung und Knechtung von Menschen, wie die Beschuldigte sie betrieben hat, unstatt- haft und verwerflich ist, von einer vorsätzlichen Freiheitsbeschränkung doch nur dann gesprochen werden kann, wenn die betroffenen Personen ihren Entschluß, sich zu befreien oder nicht alles zu tun, was die Riehl ihnen zumutete, in ent- schiedener Weise zum Ausdruck gebracht haben. Eine solche unzweideutige Willensäußerung einerseits und Willensbeugung andererseits ist bei den im Punkte A der Anklage aufgezählten Frauenspersonen festgestellt.

Das den Prostituierten während der Dauer ihrer Freiheitsentziehung angetane Ungemach erblickt die Staatsanwaltschaft sowohl in der rücksichtslosen Aus- beutung als auch in den erlittenen Beschimpfungen und Mißhandlungen und in der Nötigung zu Ekel erregenden oder schmerzhaften Dienstleistungen.

An Antonie Pollak, die in diesen Ausführungen schon mehrmals erwähnt wurde, hatte Regine Riehl eine verständnisvolle Vertraute und eine ergebene

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien. 11

Dienerin, die sie im Betriebe des Gesch&ftes wirksam unterstützte. Im Vorleben der Biehl tancht sie zum ersten Male in den Akten des k. k. Bezirksgerichtes Alsergund ans dem Jahre 1895 .. , auf. Dort ist erw&hnt, daß die Pollak auf dem Gange vor den Zimmern Wache hielt, in denen die von der Riehl ver- anstalteten Orgien gefeiert wurden.

Sie war nur tagsüber im Hause der Riehl bescb&ftigti denn sie hatte im XX. Bezirke eine Wohnung, die sie zum Teile an Bettgeherinnen yermietete. Von diesen hat sie so manche der Riehl zugeführt und wurde von derselben hiefOr entlohnt. Erwiesen ist dies bezüglich der Michaline Stavitska, der Maria Spanagl und der Marie Nemetz. Sie ist daher auch der Übertretung der Kuppelei angeklagt Ihr Dienst bei der Riehl bestand in Gängen nach ausw&rts, der Be- gleitung der M&dchen zu dem Polizeikommissariate, den Besuchen bei den Eltern die sie zur Erteilung der Einwilligung zur Ausstellung des Gesundheitsbuches für ihre Töchter zu bereden hatte, in Besuchen erkrankter Prostituierter im Spitale; auch leitete sie, wie im Falle Ottilie Geresch, die Verfolgung von flüchtigen Prostituierten. War sie im Hause, so überwachte sie entweder die Spaiierg&nge der Prostituierten im Garten, oder sie postierte sich beim Eingänge, empfing dort die Besucher, fertigte den Briefträger ab und verhandelte auch mit den Angehörigen, die mit einer Insassin des Hauses sprechen wollten. In Vertretung der Riehl besorgte sie auch die Abnahme des Strumpfgeldes von den Prostituierten. Therese Ludwicek beschuldigt sie, daß sie sich durch abfällige Bemerkungen über die Riehl in das Vertrauen der Prostituierten eingeschlichen hatte, um so deren Fluchtpläne zu erfahren, die sie sofort der Riehl verriet. Ans alledem geht hervor, daß sie in voller Kenntnis der Verbältnisse im Hause insbesondere des Loses der Prostituierten bei der Überwachung und Einsperrung der Mädchen mit wirksam war, daher auch für das an denselben begangene Ver- brechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit als Mittäterin verantwort- lich zu machen ist.

Mit dem bisher Gesagten ist aber die Leidensgeschichte der Prostituierten noch nicht erschöpft. Denn auch der freiwillig gestattete oder ertrotzte Austritt aus dem Hause war in der Regel noch mit einer empfindliehen Schädigung am Eigentume verbunden. Nicht nur, daß die Riehl von dem einkassierten Scband- lohne und den Strumpfgeldern den Mädchen nichts oder nur geringfügige Be- träge auszahlte ; sogar die mitgebrachten Kleider und Wäschestücke, die sie den Mädchen bei ihrem Eintritte abgenommen und in Verwahrung genommen hatte, die sie daher als anvertrautes Gut in jedem Falle dem austretenden Mädchen zurückzustellen verpflichtet war, behielt sie unter allerlei Vorwänden zurück, auch spätere Reklamationen derjenigen Mädchen, die den Mut dazu hatten, blieben unberücksichtigt. Der Wert des anvertrauten Gutes, das sie in solcher' Weise sich zugeeignet hat, ist noch nicht festgestellt worden, immerhin kann aber, da Josefine Taubmann allein die ihr vorenthaltene Batistwäsche mit 100 K. bewertet, mit voller Sicherheit ein 100 K. übersteigender Wert, somit der Tat- bestand des Verbrechens der Veruntreuung behauptet werden.

Wenn hier nunmehr noch des Weiteren das Schalten der Reglne Riehl in ihrem Unternehmen dargestellt wird, so geschieht dies nicht allein zur Be- gründong der gegen sie wegen zweier Übertretungen erhobenen Anklage; es werden auch Unregelmäßigkeiten der Riehl herangezogen, die sich als bloße PoUzeiflbertretaDgen qualifizieren, um ihre Verantwortung, die Einsperrung der Prosb'toierten habe nur den Zweck gehabt, dem polizeilichen Verbote des Gassen-

12 I. Der Prozeß Riehl und Eonsorten in Wien.

Strichs und Ärgernis erregenden Benehmens der Prostituierten zu genQgen, ins rechte Licht zu setzen. Der Übertretung des Verbotes mindeij&hrige Dienst- boten zu halten, ist schon Erwähnung getan worden. Sie hat diese M&dchen immer erst dann gemeldet, wenn ihnen das Gesundheitsbach ausgestellt war, hat sie aber auch schon Torher in ihrem Hause die Prostitution ausüben, daher, da die vor Ausstellang dieses Dokumentes yorzunehmenden Untersuchungen und Feststellungen ausnahmslose Bedingung der polizeilichen Genehmigung zum Be- triebe der Prostitution sind, in ihrem Hause ein unerlaubtes Gewerbe betreiben lassen und sich in diesen unter Punkt H. der Anklage aufgezählten F&llen der Übertretung der Kuppelei schuldig gemacht.

Aus der Erfahrung, daß die Prostituierten häufig aus dem Spitale nicht mehr zurückkehrten, erklärt sich ihre Bemühung, die Abgabe eines Mädchens an das Spital nach Möglichkeit hintanzuhalten und die Erkrankten entgegen der polizeilichen Vorschrift zu Hause zu behandeln. Dies geschah zum Teile durch Privatärzte, zum Teile durch die Riehl selbst, die Pollak oder die Eva Madzia, die sich primitive medizinische Kenntnisse angeeignet hatten, in einer diesen Kenntnissen entsprechenden Weise.

Den Polizeiärzten gegenüber wurden erkrankte Mädchen bei der Wochen- visite wieder eine Übertretung polizeilicher Vorschriften nicht vorgestellt, sondern verleugnet, indem ihnen angegeben wurde, dieselben seien verreist oder bei ihren Verwandten, während sie sich tatsächlich zur Zeit der Visite in Eisten versteckt auf dem Dachboden oder im Hühnerstall befanden. Sogar soweit ging die Riehl, die im Tenor unter G angeführten Prostituierten dazu zu verhalten, daß sie, obwohl sie mit einer schweren venerischen Krankheit behaftet waren, ihr Gewerbe fortbetrieben und so ihre Besucher der Gefahr der Ansteckung aussetzten. Die Täterinnen können hiefür wegen eingetretener Verjährung nicht mehr verfolgt werden, wohl aber die Anstifterin, welcher angesichts der von ihr begangenen Verbrechen nach § 531c St. G. die strafaufhebende Wirkung der Verjährung nicht zu statten kommt. Alles das drängt zu dem Schlüsse, daß sie die polizeilichen Vorschriften nicht aus Gehorsam gegenüber der Behörde, sondern nur insoweit befolgte, als sie ihr in ihr System paßten, ihre Ab- Schließungsmaßregeln daher auch nicht mit diesen Vorschriften rechtfertigen kann.

•Die Untersuchung der Zustände im Hause lUehl veranlaßt zu haben, ist das Verdienst des Zeugen Emil Bader, der in einer Reihe von Zeitungsaufsätzen einzelne der hier wiedergegebenen Vorgänge zur öffentlichen Kenntnis brachte. Daraufhin entwickelten in ihrem Schuldbewußtsein und der Erkenntnis, daß die Aufdeckung der ganzen Wahrheit für sie ernste Gefahren zur Folge habe, Regine Riehl und Antonie Pollak eine rege Tätigkeit, um dies zu vereiteln. Erstere versuchte den Zeugen Bader mit Geld zum Schweigen zu bringen. Die Pollak versuchte sich an Anna Christ und Terese Richter, die zu jener Zeit nicht mehr im Hause waren, heranzudrängen. Als die Marie König zum Polizei kommissariate geladen wurde, verbarg die Riehl das Mädchen in ihrer Privatwohnung und im Kloset und verleugnete es vor dem Polizeiagenten, dann instruierte sie die Be- wohnerinnen ihres Hauses auf das genaueste, wie sie vor der Polizei und vor Gericht aussagen sollten, beschenkte sie und versprach ihnen Schmuck, Kleider und Geld, wenn sie sie nicht im Stiche ließen, und wirklich erlagen die unter D. der Anklage aufgezählten Beschuldigten dieser Versuchung. Sie machten zum Teile unter Eid vor dem Untersuchungsrichter über die allgemeinen Verhältnisse im Hause der Riehl, über ihre eigenen Schicksale und über den Verkehr des

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 18

Agenten Josef Pisa in dem Hanse der Regine Riehl Äußerst günstige Angaben, die sie aber sp&ter anter dem Drucke des vom Unterfiuchungsrichter anderweitig gesammelten Beweismateriales widerrufen mnßten mit dem Gest&ndnisse, sie hüten Terleitet durch die Riehl und die PoUak bewußt unwahre Aussagen ab- gelegt. Die nunmehr von ihnen gegebene Darstellung steht in voller Überein- stimmung mit den Aussagen der übrigen Zeugen. Auch Marie Bosch, eine der Ton der Riebl bevorzugten Prostituierten, hat sich mit Erfolg in diesem Sinne bei Sofie Christ und Josefine Zavazal bemüht

Einige der Mädchen aber ließen sich durch die Bitten und Versprechungen der Riebl und der PoUak nicht beirren. Die an diesen unternommene Beein- flussung wird 8ub F als Bewerbung um falsches Zeugnis verfolgt.

Hiermit ist zwar die in den Untersuchungsakten gesammelte große Masse von Beweismaterial nicht erschöpft. Das Gesagte genügt aber, um die Anklage zu rechtfertigen.

Wien, am 8. Oktober 1906.

Der k. k. I. Staatsanwalt

Dr. Lux.

Nach YerleBung der Anklage stellt vorerst der Vorsitzende zum Verständnisse des folgenden die Rufnamen fest, die die angeklagten Mädchen im Hanse der Riehl führten. Marie Hosch hieß „Milli^; Sophie Christ „Hansi"; Josefine Zavazal „Viki^ ; Anna Christ „Erna^; Marie Winkler „Kadarnie*; Marie Pokorny „Irma''.

Hierauf beginnt das Verhör mit Regine Riehl.

Präs. : Bekennen Sie sich der Ihnen von der Anklage zur Last gelegten Handlungen schuldig? Angekl. (entschieden): Nein. Präs.: Sie geben also keines dieser Delikte zu? Angekl.: Nein.

Präs.: Wann sind Sie auf den Gedanken gekommen, Inhaberin eines öffentlichen Hauses zu werden? Angekl.: Mein Mann war krank und ich wollte mir einen Nebenerwerb schaffen. Präs.: Wie lange waren Sie verheiratet? Angekl.: Zwanzig bis fünf- undzwanzig Jahre. Präs.: Was war Ihr Gatte? Angekl.: Er war Buchhalter bei Deckert & Homolka. Später war er auch Pro- kurist. — Präs.: Also Sie mußten sich um eine Nebenbeschäftigung umschauen. Und da fiel Ihnen ein . . . Angekl. (stockend): Ich fing ein derartiges Geschäft an. Präs.: Das heißt vorläufig ein geheimes Geschäft, ein sogenanntes Aufführhaus. Waren Sie denn in materiellen Kalamitäten? Angekl.: Ich hatte Verpflichtungen; dann wollte ich auch sparen, damit mejn Mann sieht, daß ich eine gute Wirtin bin. Präs. : Und wie sind Sie gerade auf diese Art von Nebenbeschäftigung gekommen, die doch sonst für Prokuristens- gattinnen nicht geeignet ist? Angekl. (mit einer Handbewegung): Mein Gott! Bekanntschaften. Dann hatte ich auch eine große Woh- nung und war den ganzen Tag allein. Präs.: Aber bitte, sprechen

14 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Sie doch klarl Sie haben die große Wohnung fhr das Aufführhans aufgenommen. Angekl.: Nein, das ist unrichtig. Die Sache war so. Ich hatte ein Fräulein vom Carl Theater, zu der Freundinnen kamen. Präs.: Und zu diesen Freundinnen kamen Freunde? Angekl.: 0 nein. Das war streng verboten. (Heiterkeit.) Aber wie ich einmal zu Ostern mit meinem Mann in meine Heimat ge- fahren bin, hat dieses Fräulein vom Carl Theater sich in meiner Abwesenheit Männer in die Wohnung gebracht. Und dann ... Präs.: Und dann? Angekl.: Dann hat sie mich durch Geldver- spreohungen bewogen, ein AuffQhrhaus zu halten. Hein Mann hat aber davon nichts gewußt. Präs.: Warum haben Sie denn dieses Haus nicht polizeilich gemeldet? Angekl.: Ich habe nicht gewußt^ daß man das tun muß.

Präs.: Sie haben also zuerst in der Liechtensteinstraße ein Haus gekauft, nachdem Sie zahlreiche Beanstandungen mitgemacht und für Ihren Betrieb eine polizeiliche Lizenz erhalten hatten? Angekl.: Ja. Präs.: Hatten Sie sich vorher etwas erwirtschaftet? Angekl.: Nichts, gar nichts. Präs.: Aber Sie haben sich ja selbst damals als wohlhabend bezeichnet. Angekl.: Ist unrichtig. Man sagt ja heute auch, daß ich eine halbe Millionärin bin. Präs.: Was haben Sie denn fttr das Haus in der Liechtensteinstraße be- zahlt? — Angekl.: 25000 Gulden. Präs.: Nun sehen Sie. Woher hatten Sie das Geld? Angekl.: Von meinem Mann. Präs.: Also von dem Mann, der mit Ihrem Gewerbe nicht einverstanden war. (Heiterkeit.)

Präs.: Wann haben Sie die polizeiliche Erlaubnis zur Führung des öffentlichen Hauses erhalten? Angekl.: Vor zehn oder zwölf Jahren. Präs. : Sie haben damals sanitätspolizeiliche Vorschriften zur Kenntnis genommen, daß Sie nicht mehr als zwanzig Mädchen halten dürfen, und Dienstmädchen, die alle großjährig sein müssen. Angekl. : Ich habe auch alle Vorschriften gehalten. Niemals habe ich übrigens zwanzig Mädchen gehabt, und minderjährige Dienst- mädchen mußte ich halten, weil man doch alte Frauen nicht zur Reinigung einer so großen Wohnung verwenden kann. Präs.: Aber eine alte Frau hatten Sie doch. Sie ist im Jahre 1838 ge- boren: Frau Antonie Pollak. Angekl.: Die war ja nicht immer bei mir. Sie hatte ja eine eigene Wohnung. Präs.: Was für Obliegenheiten hatte die Pollak? Angekl.: Sie ging Rechnungen bezahlen. Präs. : Das wird aber eine zu wenig ausreichende Be- schäftigung gewesen sein. Aber kehren wir vorläufig zu Ihnen zurück. Also 9 Sie haben wegen materieller Notlage öffentliche

1. Der Prozeß Riebl und Konsorten in Wien. 15

H&Qser gefflfart? In der Lieohtensteinstraße, in der Mühlgasse und zuletzt in der Grttaen Torgasse. Die Einriobtung dieser Häuser muß Sie wohl anoh viel Geld gekostet haben? Angekl.: Etwa 40000 Kronen. Präs.: Nun, sehen Sie, wir erfahren von immer mehr Geld, das Sie gehabt haben. Und je mehr Geld Sie gehabt haben, desto weniger erklärlich ist es, daß Sie dieses Metier er- griffen haben. Wann haben Sie das Haus in der Grünen Torgasse Übernommen? Angekl.: Vor acht Jahren. Präs.: Was fllr eine Jahresmiete bezahlten Sie? Angekl.: 10000 Kronen.

Präs.: Für wieviel Damen hatten Sie in Ihrem Hause in der Grünen Torgasse Raum bei vollem Belag? Angekl.: Ich hatte fünf Schlafzimmer, aber die Mädchen haben immer zu zweien in einem Bett geschlafen. Präs.: Ahal Angekl.: Ich bitte, sie haben es so wollen. Sie haben sich in den Betten herumgekugelt und sie mir zerbrochen. Präs.: Also, wieviel Mädchen hielten Sie im ganzen? Angekl.: Fünfzehn Mädchen. Davon waren aber immer einige im Spital. Präs.: Und die Wohnung dieser Mädchen, die sogenannte „Kaserne'^, lag im dritten Stock und bestand aus zwei Zimmern, zu denen man durch einen absperrbaren Vorraum gelangte. Im ersten Zimmer waren vier Betten. Also schliefen acht Mädchen darin. Also sagen Sie uns jetzt, wie die Mädchen zu Ihnen gekommen sind? Angekl.: Sie kamen selbst oder wurden von jungen Burschen gebracht. Mein Gott, ich hatte ja ein solches Haus und mußte Mädchen haben. Präs.: Auch ältere Damen haben Ihnen Mädchen gebracht. Angekl.: Wenn Sie mir Namen nennen, Herr Hofrat, werde ich es bestätigen. Präs.: Also, Frau Hoffmann, die Frau Hübl und wohl auch Frau Pollak. Angekl. (energisch): Ich bitte, Frau Pollak hat mir nie ein Mädchen ge- bracht. (Die Angeklagte Pollak schluchzt.) Präs. : Zu Ihren Lie- feranten hat auch Herr Michel und der „geflickte Schani^ gezählt. Angekl.: Ja. Präs.: Haben diese Leute Honorare für ihre Ver- mittlerdienste bekommen? Angekl.: Ja. Gewöhnlich vier Kronen pro Mädchen. Ich bitte, Herr Hofrat, ich habe aber die Mädchen nie im Unklaren darüber gelassen, in welches Haus sie kommen. Präs.: Wie waren denn Ihre Abmachungen mit den Mädchen? Haben Sie gleich beim Eintritt das Honorar usw. mit ihnen vereinbart? Angekl.: Ja, die Mädchen hatten ihre Einnahmen mit mir zu teilen und von ihrer Hälfte den Arzt und mir täglich ftlr die Kost vier Kronen zu zahlen. Aber den Arzt bezahlten sie nicht, weil sie nicht genug verdienten. Präs.: Also die Mädchen verdienten nichts. Angekl.: Nur einige verdienten. Präs.: Merkwürdig,

16 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

daß Sie dann selbst 45000 Kronen Personaleinkommen fatieren konnten. Angekl. (jammernd) : loh habe ja gesagt, daß ich's nieht bezahlen kann.

Prfts. : Wer bat denn die Zimmergelder einkassiert? Angekl.: Meine Damen. Ich habe auf ihre Ehrlichkeit vertraut. Präs.: Wie war es mit der Kleidung? Angekl.: Ich bitte, die Mädchen kamen in furchtbar verwahrlostem Zustand zu mir. Krank und mit Unge- ziefer behaftet. Man mußte sie monatelang reinigen. Ich habe sie erst zu Mensehen gemacht. Präs. : Also bleiben Sie bei der Sache. Die Damen bei Ihnen hatten sehr wenig an. Nach der Anklage nur ein Seidenhemd, Seidenstrttmpfe, Lackschuhe und eine Schürze. Angekl.: 0 bitte, die großen Mädchen hatten Schlafröcke und die klein gewachsenen Matrosenkleider.

Präs. : Also wir haben bereits davon gesprochen, was die Mädchen verdient haben müssen. Angekl.: Ich bitte, Herr Hofrat, das schönste Mädel hat oft Pech gehabt, und es waren nie mehr als zehn Herren in einer Nacht da. Präs.: Wie waren die Hono- rare? — Angekl. (auflachend): Keine Hunderter; die „Glticksherren'' haben einen Gulden gezahlt, die „Italiener'^ auch einen Gulden, die Arzte vom Allgemeinen Krankenhaus drei Gulden, ebenso die Ärzte vom Wiedener Spital, die Herren vom Steueramt natürlich einen Gulden (Heiterkeit) und Stammgäste fünf Gulden. Präs.: Sie sollen den Mädchen aber auch das sogenannte „Strumpfgeld^ abgenommen haben, das sie von den Gästen bekamen. Angekl.: Ja, Herr Vorsitzender, die Mädchen haben ja oft wochenlang nichts verdient. Sie haben das Strumpfgeld freiwillig hergegeben und waren stolz, wenn sie um einen Gulden mehr gebracht haben (Bewegung.)

Präs.: Ist bei der Aufnahme der Mädchen darauf Rücksicht genommen, ob die Mädchen unversehrt waren, oder ob sie schon eine Vergangenheit hatten? Angekl.: Wie meinen Sie das? Präs. : Ich meine, ob man Wert darauf legte, wenn eine noch un- versehrt, oder ob das gleichgültig war? Angekl.: Bei mir waren nie unbescholtene Mädchen. War ein Mädchen krank, wurde sie sofort ins Spital geschickt. Präs.: Es sollen Mädchen, ohne an- gemeldet gewesen zu sein, in Ihrem Hause gewesen sein? An- gekl. : Kein Mädchen hielt sich bei mir auf, das nicht angemeldet war. Es wurde ein Mädchen, das noch nicht angemeldet gewesen wäre, nie einem Herrn vorgestellt. Präs.: Es soll auch vorge- kommen sein, daß kranke Mädchen in Ihrem Hause waren? Angekl. (mit erhobener Stimme): Ich war eine gute, ehrliche Frau

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 17

fbr meine Damen. War eine der Damen an gewöhnlichen Leiden, wie an Halsentzündung, Rippenfellentzündung erkrankt, ließ ieh sie im Hanse von Privatärzten behandeln; sonst wurden sie ins Spital gesehiekt. Präs.: Was ist mit den Kleidern geschehen, die die Mädchen in Ihr Hans brachten? Angekl.: Ein oder zwei Mädchen brachten bessere Kleidung mit ; die übrigen Mädchen waren einfache Mädchen, die Kleider mitbrachten, die unter die Lumpen auf den Boden geworfen wurden. Präs.: Haben die Mädchen über die Kleider, die Sie* von Ihnen bekommen haben, verfügen können ? Angekl.: Ja! Präs.: Wo waren diese Kleider aufgehoben? Angekl.: In den Garderobekasten. Präs.: Sie hatten aber die Sehlfissel zn diesen Kasten, so daß es von Ihrem Willen abhing, ob die Mädchen die Kleider bekommen und ausgehen konnten? Angekl.: Die Mädchen haben sich den Schlüssel holen lassen können; die Pokorny, eine der feinsten Damen, hatte die Schlüssel immer. Die Mftdchen hätten übrigens auch in ihren Hauskleidern Schlaf- rock und B^böschür/e auf die Straße gehen können ; sie wollten aber selbst nicht ausgehen. Präs.: Die Mädchen gingen ja zu Hause nicht im Schlafrock herum. Angekl.: 0 ja, die Pokorny hatte sogar fQnf Schlafröcke.

Der Präsident hält der Angeklagten vor, daß nach Behauptung der Anklage bei der ärztlichen Untersnchung in ihrem Hause nicht alle Mädchen dem Arzt vorgeführt worden sein sollen, daß Mädchen, die noch unversehrt oder krank waren, dem Arzt verschwiegen wurden? Angekl.: Ich habe es niemals zugelassen, daß eine Dame dem Arzt verschwiegen werde; selbst verwahrloste Mädchen warden dem Arzt vorgeführt. Präs.: Mehrere Zeuginnen behaupten aber, daß Mädchen, die krank waren, dem Arzt nicht zugeführt wnrden. Angekl.: Was die Zeuginnen alles sagen! Präs.: Ich muß Ihnen vorhalten, was die Anklage behauptet. Sie sollen Mäd- chen, wenn ärztliche Visite war, am Boden, im Keller, in Kisten und Kasten, sogar im Klosett versteckt gehalten haben? Angekl.: Das ist nicht wahr; ein Fall mit einer Kiste ist vorgekommen; ein entlassener Portier hat aus Rache die Anzeige erstattet.

Präs.: Wir gehen nun zur „Tagesordnung" über, die ftlr Ihre Mädchen gegolten hat. Wann gingen die Mädchen in ihr Schlaf- zimmer im dritten Stock? Angekl.: Gewöhnlich zwischen fünf and sechs Uhr früh. Präs.: Ist das Schlafzimmer von außen zu- gesperrt worden? Angekl.: Anfangs nicht; später wurde das Schlafzimmer wegen der im Hause herrschenden Unruhe zugesperrt, damit die Damen schlafen können. (Bewegung.)

Aichir fttr KrfmfanlMithropologie. 27. Bd. 2

18 L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Präs.: Wann ist das Soblafzimmer aufgesperrt worden? Angekl.: Wenn ärztliche Visite war zwischen 9 und halb 10 Uhr vormittags, sonst gegen 11 Uhr. Die Mädchen machten dann Toi- lette, und zwischen 12 und 1 Uhr war Mittagszeit. Präs.: Wohin gingen dann die Mädchen? Angekl.: Wieder ins Schlafzimmer, die Pokorny war in meinem Zimmer. Präs.: War nachmittags das Schlafzimmer auch abgesperrt? Angekl.: Immer nicht. Wenn jemand geläutet hat ein Gast oder Geschäftsmann wurde das Zimmer zugesperrt, um Aufsehen zu vermeiden. Tagelang war das Zimmer offen. Wenn die Mädchen sich anständig benommen haben es sind ja nicht alle Mädchen fein durften sie sich in allen Zim- mern bewegen. Präs.: Aber Frau Riehl I Auch die Fenster waren versperrt, und zwar mit Schlössern, und außerdem waren noch tlber die Fenster Querstangen gelegt. Angekl.: Eine polizeiliche Kommis- sion, in der sich Herr Hofrat Witlacil befand, hat das ganze Hans kontrolliert und es für gut befunden. Die Angeklagte erzählt dann, daß die Mädchen^ als die Fenster nicht versperrt waren, Offi- zieren, die vis- ä- vis wohnten, Obst zuwarfen. Sie habe deshalb Ketten vorgelegt; die Mädchen hätten die Ketten aufgemacht, so daß sie dann die Schlösser machen lassen mußte.

Präs.: Wenn die Fenster derart verschlossen waren, konnte ja den Mädchen auch keine Luft zugeführt werden. Angekl.: Warum? Die Hoffenster waren offen und auch vom Badezimmer kam Luft herein. (Bewegung.) Die Angeklagte erklärt, daß die Mädchen auch von den Fenstern mit den Knaben eines Lehrlings-Instituts in dem Hause gegenüber unverschämt kokettierten.

Die Angeklagte erklärte, daß sie einzelne Mädchen wegen un- anständigen Benehmens strafen mußte; doch sei es nicht richtig, daß sie die Mädchen mit Scbürhaken oder Hundspeitschen züchtigte. Die Hundspeitsche, ruft die Angeklagte aus, haben die Mädchen zu ganz anderen Zwecken gebraucht. Seit zwölf Jahren habe ich ein ^Haus^^ geführt und nie einen Anstand gehabt. Ich war eine Mär- tyrerin der Damen. Wenn ich das alles getan habe, was man mir zur Last legt, verdiene ich zwanzig Jahre. Präs.: Ist den Damen gestattet worden, allein auszugehen? Angekl.: Einzelnen schon. Viele wollten in ihrer Uniform nicht ausgehen und in den Kleidern, die sie mir noch schuldig waren, konnte ich sie nicht immer allein weggehen lassen. Sie selbst wollten nicht ausgehen. Präs.: Wenn ein Mädchen den Wunsch geäußert hat, aus Ihrem Hause ganz weg- zugehen, haben Sie das gestattet? Angekl.: Ja. Allerdings ist es selten vorgekommen, daß ein Mädchen weggehen wollte. Wenn

I. Der Pi*0£eß Riehl und Konsorten in Wien. 19

ich eine selbst weggeschickt habe, hat sie mich gebeten, sie zu behalten.

Präs.: Sie sollen mit einzelnen Damen VergnOgungsIokale auf- gegaoht haben nnd sie, wie die Anklage behauptet, in raffinierter Weise dadurch an einem Entkommen gehindert haben, daß sie den Mädehen Ihre Geldbörse tragen ließen nnd sie mit Sohmnck be- bilngten. Wären dann die Mädchen entflohen, hätten Sie sie wegen Vemntreanng angezeigt. AngekL: Das ist nicht richtig. Nur die alten Mädchen hatten ihren eigenen Schmuck; den jungen Mädchen habe ich nie einen Schmuck geliehen.

Präs.: Zu welchem Zweck haben Sie Ausfltlge mit Ihren ^Damen*^ gemacht? AngekL: Die Damen wollten ein Vergnügen haben. Präs.: Beim Untersuchungsrichter haben Sie auch hinzugef&gt: zu Reklamezwecken. AngekL: Das ist nicht richtig. Präs.: Ist es richtig, daß auch bei Tag die Ttlren, die von der Wohnung in den Hausflur führten, versperrt waren und daß der Portier den strengen Auftrag gehabt hat, kein Mädchen allein hinauszulassen? AngekL: Das ist nicht richtig. Präs.: Konnte bei Tag ein Mäd- ehen ohne Ihre Zustimmung weggehen? AngekL: Wenn die Tflr offen war, gewiß I Präs.: Es soll nur einzelnen Damen, und zwar den Erbgesessenen Ihres Etablissements, der Spaziergang im Hof und auch nur an Sonntagnaohmittagen erlaubt gewesen sein. AngekL: An bestimmten Tagen war allen Damen der Spaziergang erlaubt.

Präs.: Wie war nun der Verkehr der Mädchen mit der Außen- welt? Durften die Mädehen jederzeit den Besuch ihrer Angehörigen empfangen, oder ist es vorgekommen, daß Mädchen verleugnet worden? AngekL: Es wurden nur solche Mädchen verleugnet, deren Verwandte Plattengenossen oder sonstige zweifelhafte Ele- mente waren. Wenn anständige Besuche kamen, wurde nie ein Mädehen verleugnet. Präs.: Wie stand es mit dem Briefschreiben? AngekL: Mehrere Damen durften ohne Kontrolle schreiben. Es waren aber auch Plattenmädchen bei mir, die, wenn es zu irgend- einer Difierenz zwischen uns gekommen war, sich sofort hinsetzten und an irgendeine Platte geschrieben haben, sie möge zu uns kommen und Krawall machen. Diese Briefe habe ich kontrol- liert. — Präs.: Sie haben also die Briefe durchgeschaut? An- gekL: Nein, es ist mir immer gesagt worden, was darinnen steht Präs.: Das haben Ihnen die Mädchen freiwillig gesagt? AngekL: Nein, ich habe es von anderen Mädchen erfahren, die den Inhalt

des Briefes erfahren hatten. Präs.: Sind einlangende Briefe von

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20 I. Der Prozeß Riehl und Eonsorten in Wien.

Ihnen nicht geöffnet worden? Angekl.: Nur mit Erlaubnis der Mädchen.

Prfis.: Es wird auch behauptet, daß einzelne Mädchen von Ihnen Mißhandlungen zu erdulden hatten, besonders dann, wenn die Mädchen nicht geneigt waren, gewissen Wünschen einzelner Herren zu entsprechen. Angekl. : Niemals. Ich war ja niemals mit im Zimmer, und wenn mir die Mädchen von solchen Sachen erzählt haben, habe ich abgewehrt und gesagt, ich will nichts davon wissen. Präs. : Ist es vorgekommen, daß Sie Eltern von Mädchen, die bei Ihnen waren, Unterstützung gegeben haben? Angekl.: Ja, die Mädchen haben es selbst gewünscht. Präs.: Wieviel haben Sie gegeben? Angekl.: Es war verschieden. Dem König habe ich monatlich 10 bis 15 Oulden gegeben. Präs.: Wieviel dürfte König aus dem Verdienst seiner Tochter erhalten haben? Sie haben in der Voruntersuchung angegeben: Oegen 500 fl. Angekl.: Das weiß ich nicht mehr. Königs Tochter hat haben wollen, daß von dem Gelde auch ihre skrofulöse Schwester unterstützt werde. Präs.: Haben Sie mit der König eine genaue Verrechnung über ihren Verdienst geführt? Angekl.: Ja. Präs.: Haben Sie für jedes Mädchen ein Verrechnungsbuch geführt? Angekl.: Die meisten Mädchen haben auf eine Verrechnung verzichtet. Sie wollten sämtliche Vergnügungen mitmachen und hatten sich ausbedungen, daß sie zum Schluß mit einer schönen Ausstattung von mir ent- lassen werden. Präs.: Mehrere Mädchen haben aber nicht ver- zichtet. Wie wurde mit diesen monatlich die Verrechnung vorge- nommen? — Angekl. (ausweichend): Die Mädchen haben gestohlen und eingebrochen, und ich habe den Schaden ersetzt oder die Eltern unterstützt. Präs.: Sie haben also außer König auch noch andere Eltern unterstützt? Angekl.: Wenn ich sprechen wollte, Herr Hofrat, so würde ich vielleicht nicht hier stehen, wohl aber sämt- liche Eltern der Mädchen; doch das will ich nicht.

Präs.: Wie haben Sie nun mit jenen Mädchen, mit denen Sie gar keinen Anstand hatten, verrechnet? Angekl.: Ich habe ihnen Kleider, Schmuck, Wäsche und Oeld gegeben. Nach längerem Befragen gibt Frau Riehl zu, daß sie für die Verrechnung überhaupt nicht aufgeschrieben hat.

Präs. : Was hat die Pollak bei Ihnen für eine Tätigkeit gehabt, als Sie noch das Aufführhaus hatten? Angekl.: Sie war Bedie- nerin. — Präs.: Sie soll mit Blusen hausieren gegangen sein und bei dieser Gelegenheit Mädchen für Sie akquiriert haben. Angekl.: Derartige Elemente, wie ich sie da bekommen hätte,

I. Der Prozeß Riehl und KooBorten in Wien. 21

konnte ieh damals nicht branchen. loh hatte Damen aus den feinsten und besten Kreisen, auch Baroninnen und Gräfinnen sowie Kttnstlerinnen, die bei mir im Hause verkehrten. Präs.: Dann ist also eigentlich Ihr Etablissement später bedeutend degradiert worden ?

Angekl.: Jawohl I (Heiterkeit.)

Präs.: Gegen Schluß, als die Sache anrttchig wurde, soll es Ihnen unbehaglich geworden sein, und Sic sollen besorgt haben, die Mädchen würden von Dingen erzählen, die Ihnen nicht angenehm wären. Sie sollen den Mädchen Geschenke gegeben haben, um sie zu anderen Aussagen zu verleiten. Angekl.: Das ist nicht wahr.

Präs.: Wie kommt es dann, daß eine Reihe von Mädchen in der Vonmtersuchung unter Eid falsch ausgesagt hat und daß dann die- selben Mädchen freiwillig zum Untersuchungsrichter gekommen sind üod eingestanden haben, falsch ausgesagt zu haben, weil sie durch Sie beeinflußt worden seien? Angekl.: Ich habe, als die Sache ia die Öffentlichkeit gebracht wurde, einzelnen Mädchen infolge ihrer Drohungen Geld gegeben, weil sie erklärten, sie würden sonst in die Redaktionen gehen, um Neues über mich zu erzählen. Ich habe aber niemanden zu falschem Zeugnis verleiten wollen.

Auf Befragen des Verteidigers gibt Frau Riehl an, daß ihr Ein- kommen von der Steueradministration auf jährlich 35000 Kronen gesehätzt wurde und daß ihr eine Steuerleistung von jährlich 1298 Kronen vorgeschrieben war.

Die Bedienerin der Riehl, Antonie Po Hak, erklärt sich nicht schuldig.

Präs.: Was haben Sie bei der Frau Riehl in der Grünetorgasse zu tun gehabt? Angekl.: Ich habe Wege gemacht. Präs.: Wo- hin? — Angekl.: Ins Spital. Jeden zweiten Tag habe ich den Damen, die dort krank lagen, Essen gebracht. Präs.: Sie sollen aneb die Mädchen aus dem Spital mit Fiakern wieder abgeholt haben? Angekl.: Die Mädchen haben selbst darum gebeten. Präs.: Sie sollen im Spital ersucht haben, die Mädchen nach ihrer Grenesung nur Ihnen wieder auszufolgen, so daß die Mädchen un- bedingt wieder zur Frau Riehl zurückkehren mußten. Angekl.: Das ist nicht richtig. Präs.: Sie haben auch Wege zur Polizei gemaeht und sollen dort öfter, um für die Damen das Gesundheits- buch rascher zu erlangen, angegeben haben, daß die Zustimmung der Eltern zu dem neuen Gewerbe der Tochter bereits ein- gelangt sei, ohne daß dies jedoch der Fall war. Angekl.: Das ist nicht wahr. Ich habe mich immer selbst erkundigt, ob die Eltern zustimmen.

22 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Präs.: let Ihnen bekannt, daß bei Tag die Mädchen im dritten Stock eingeeperrt waren? Angekl.: Es war oben offen, und es war auch abgesperrt. Präs.: War nachmittags offen oder abge- sperrt? — Angekl.: Es war nachmittags auch offen. Präs.: Es war aber auch abgesperrt? Angekl.: Wenn die Mädchen ge- schlafen haben, war abgesperrt. Präs.: Während des Schlafens war das Znsperren doch ganz überflQssig. Angekl. (ausweichend) : Ich war nicht so oft dort. Präs. : Haben Sie von der Frau Riehl den Auftrag gehabt, darauf zu sehen, daß die Mädchen nicht fort- gehen ? Angekl. : Ich habe keinen Auftrag gehabt. Die Mädchen haben auch gar kein Verlangen gehabt, fortzugehen. (Heiterkeit.) Präs.: Weil die Mädchen gewußt haben, daß abgesperrt war und daß sie nicht hinauskonnten. Waren die Mädchen so angekleidet, daß sie hätten fortgehen können? Angekl.: Sie hatten den Schlaf- rock an. Präs.: Haben die Mädchen auch andere Kleider ge- habt? — Angekl.: Ja. In den verschiedenen Kasten. Präs.: Und wer hatte die Schlüssel zu den Kasten? Angekl.: Die Frau Riehl. Präs.: Ist es vorgekommen, daß die Mädchen öfter ge- schlagen wurden ? Angekl. (acbselzuckendj : Ich war nicht dabei.

Der Angeklagte FriedrichKönig gibt an, er habe eines Abends erfahren, daß seine Tochter sich im „Institut Riehr befinde. Er ging hin und war mit dem Verbleiben des Mädchens im Hause ein- verstanden, ließ sich aber für den durch das Mädchen erlittenen „Schaden*^ eine monatliche Vergütung von 20 Kronen zahlen. Präs.: Was haben Sie denn ftlr einen Schaden erlitten? Angekl.: Mein Mädel hat sich in früheren Jahren so unanständig benommen. (Heiterkeit.) Ich habe auch meinen Kutscherposten deshalb verloren, mußte übersiedeln und hatte drei Monate keinen Erwerb.

Präs.: Haben Sie nie das Gefühl gehabt, daß es ftlr einen Vater schändlich ist, aus dem Schandlohn seiner Tochter sich bezahlen za lassen? Angekl.: Das Geld haV ich halt braucht Dr. Hof- mokl: Wie groß war ungefähr Ihr Schade? Angekl.: Ungefähr vierhundert Gulden. Staatsanwalt: Haben Sie Ihre Tochter je- mals gefragt, wieviel Schadenersatz sie leisten will? Angekl.: Davon war keine Rede.

Präs.: Das Mädchen war, als es Ihnen den Schaden durch die schlechte Aufführung zugefügt haben soll, noch ein Schulkind. Da durften Sie den Schaden nicht ihr allein anrechnen. Glauben Sie nicht, daß auch die Eltern, die das Kind erziehen, an einem solchen Schaden schuldtragend sind? Der Angeklagte gibt keine Antwort.

L Der Prozeß Riehl und Koneorten in Wien. 23

Yotant Dr. Spitzkopf: Hat die Tochter während der Zeit, wcv sie bei der Riehl weilte, Sie nie besucht? Angekl.: Nein.

Staatsanwalt: Haben Sie die Anzeige gemacht, als Sie Ihre Tochter in das „Haus" der Frau Riehl gaben? Angekl.: Nein. Dr. Rode (zum Angeklagten): Hat Ihnen Frau Riehl jemals anbe- fohlen, wie Sie in ihrem Hause mit der Tochter reden sollen? Angekl.: Nein. Dr. Hofmokl: Hat Ihnen die Tochter jemals ge- sagt, daß sie aus dem Hause der Frau Riehl wegkommen will? Angekl.: Nein, niemals. Dr. Rabenlechner: Sie war ja dort sehr zufrieden.

Nach der Mittagspause werden die sieben Mädchen verhört, die der falschen Zeugenaussage angeklagt sind.

Als erste wird Marie Pokorny vernommen. Sie war unter dem Namen „Irma*" im Salon Riehl vom März 1902 bis Juli 1906. Die Angeklagte bekennt sich schuldig; vor dem Untersuchungsrichter he wüßt falsch ausgesagt zu haben.

Präs.: Sie haben angegeben^ daß der Polizeiagent Piß niemals mit einem Mädchen ;^am Zimmer^ war. Sie haben diese Aussage widerrufen. Warum haben Sie ursprfinglich falsch ausgesagt? Angekl.: Frau Riehl hat gesagt, wenn ich etwas über die Polizei ausplaudere, werde ich eingesperrt. Diese Erklärung wiederholt die Angeklagte mehrmals. Der Vorsitzende unterbricht sie mit der Frage: Hat die Riehl das auch zu anderen Mädchen gesagt? Angekl.: Ja. Die Riehl hat die Mädchen zusammengerufen und zu uns gesagt: „Mädeln, verlaßt mich nicht, verlaßt mich nicht in meinem Unglück. Schonts mir nur die Polizei. Die Polizei und das Gericht halten zusammen, und wenn ihr gegen die Polizei aus- sagt, werdet ihr eingesperrt.**

Präs.: Eine sonderbare Logik I Wer war unter der Polizei ver- standen? — Angekl.: Der „Vertraute** Piß. Er war einmal mit einem dicken Herrn bei der Riehl; das war ein Kommissär. (Heiterkeit.)

Präs.: Der Agent Piß hat aber die Mädchen öfter besucht? Angekl,: Ja. Vors.: Hat er auch Sie besucht? Angekl.: Nein, aber der dicke Kommissär. (Erneute Heiterkeit.)

Präs. (zur Riehl): Was sagen Sie dazu? Angekl. Riehl (wütend): Was die Pokorny sagt, ist alles falsch. Ich hab' ja auch dem Herrn Untersuchungsrichter gestanden, daß der Herr Kommissär bei uns ohampagnisiert hat, aber ich habe seinen Namen nicht ge- nannt« Bitte, ich bin diskret.

Angekl. Pokorny (ruft erregt): Sie haben aber alle Mädeln ge-

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rufen and uns Kleider, Schmuck und Oeld yersprochen und gesagt, wir sollen nichts über das Haus sagen und über die Besuche der Polizei. (Zum Gerichtshof): Frau Riehl nahm, als das Haus ge- sperrt war, mir und drei anderen Mädeln eine Wohnung in der Oberen Donaustraße. Ich habe kein Geld, keine Kleider, keine Wohnung gehabt. Und die Frau Riehl hat gesagt, wenn das Haus wieder geöflFnet wird, so kriegen wir wieder das Geschäft. Riehl : Das ist nicht wahr. Sie hat selbst gesagt, sie geht nicht weg von mir in dem Unglück. Sie hat mich sehr gern gehabt und ich sie auch. (Die Pokorny lacht laut.) Sie hat mehr kommandiert und geschimpft als ich. Sie hatte nämlich eine Vertrauensstellung. (Heiterkeit.)

Riehl (zur Pokorny): Ich hab' Ihnen beim Ausziehen zwölf Kleider gegeben. Staatsanwalt: Das ist schon eine Beeinflussung zu falscher Zeugenaussage.

Präs. (zur Pokorny): Sie haben also nicht aus Furcht allein falsch ausgesagt, sondern auch wegen der Kleider und der Wäsche?

Dr. Pollaczek: Auch aus Mitleid.

Der Verteidiger fordert die Pokorny auf, über eine Szene beim Untersuchungsrichter zu erzählen. Die Pokorny erzählt, daß die Riehl sie während einer Zeugenaussage beim Untersuchungs- richter gestoßen habe und ihr zuflüsterte: Ich bitt*, sag' nichts, sag' nichts von der Polizei. Riehl: Das ist erlogen I Der Herr Unter- suchungsrichter war sehr streng und hätte eine solche Beeinflussung nicht erlaubt. Dr. Pollaczek: Das glauben wir, aber Sie haben es hinter seinem Rücken getan. Präs.: Wir glauben es auch! (Heiter- keit.) — Riehl: Es ist nicht wahr. Was wissen denn Sie, Herr Doktor!

Die Angeklagte Marie Hosch gibt an, durch die Riehl zu einer falschen Aussage verleitet worden zu sein. Sie ist unter Eid ver- nommen worden und gab vor dem Untersuchungsrichter an, daß die Mädchen frei ein- und ausgehen [durften und nach Belieben Geld und Schmuck erhielten, Briefe schrieben und unkontrolliert empfingen. Die Riehl habe die Hälfte vom Schandlohn erhalten.

Präs.: Warum haben Sie diese Aussage gemacht, die Sie am 5. Juli vor dem Untersuchungsrichter ablegten und am 21. Juli widerriefen? Angekl.: Die Riehl hat gesagt, alle Damen müssen das Gleiche aussagen, denn wenn eine anders aussagt, wird sie ein- gesperrt. Der Schwur beim Gericht gelte, der beim Untersuchungs- richter aber nicht. Präs. : Warum haben Sie falsch ausgesagt? Angekl.: Wenn ich nicht mehr bei der Riehl gewesen wäre, hätte

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 25

ich gleioh die Wahrheit gesagt. Der Vorsitzende konstatiert, daß die Angeklagte Hosoh zur Zeit, als sie die falsohe Aussage maohte, Doeh im Hause der Riehl war. ' H

Dr. Pollaozek: Haben Sie sich nioht auch geftirehtet? An- gekl. Bosch: Ja. Ich habe mich vor Schlagen gefürchtet.

Präs.: Sie sollen auch andere Mädchen beeinflußt haben, damit sie falsch aussagen? Die Angeklagte stellt das in Abrede. Sie bestreitet auch, daß sie mit einer Krankheit behaftet gewesen sei, alg sie bei der Riehl war. Sie sei später krank gewesen, aber da- mals in häuslicher Pflege geblieben. Präs.: Das wollten wir wissen. (Zur Riehl): Was sagen Sie zu dieser Aussage? Riehl: Es ist alles nicht wahrl Die Bosch hat mich gebeten, ich soll sie behalten, sie wird brav und anständig sein. (Beiterkeit.) Ich bitte, Herr Hofrat, die Mädeln sagen heute so aus, weil ich im Unglück bin. Sie sind nicht von mir beeinflußt worden, sondern von einer an* deren Seite.

Präs. (streng): Frau Riehl, es geht nicht an, daß Sie hier von einer „anderen Seite*' sprechen. Wollen Sie damit behaupten, daß die Mädchen beeinflußt wurden, falsche Aussagen zu machen? Reden Sie nuri

Frau Eiehl schaut auf ihren Verteidiger Dr. Rabenlechner, der ihr gleichfalls zuruft: Reden Sie nur!

Angekl. Riehl: Die Mädeln wurden von den Redaktionen Tag und Naoht um Angaben über mich bestürmt. Präs. : Was meinen Sie damit? Angekl.: Ich meine das „Extrablatt**. Präs.: Wollen Sie mit Ihrer Behauptung sagen, daß eine bestimmte Person die Erhebungen veranlaßt hat? Angekl. Riehl: Ja, Herr Bader hat auf meine Damen eingewirkt. Herr Bader hat sich fQr die Geschichte sehr interessiert und hat den Mädeln aufgepaßt.

Präs.: Nehmen wir einen Moment, ich betone, nur einen Moment an, daß Herr Bader wirklich Ihr Unternehmen ruinieren wollte. Nehmen wir auch nur einen Moment an, Herr Bader wollte auf die Mädchen einwirken, damit sie gegen Sie aussagen. Da wäre es doeh natürlich gewesen, daß die Mädchen zuerst gegen Sie und dann zu Ihren Gunsten ausgesagt hätten. Ihre Behauptung, Frau Riehl, entbehrt doch jeder Logik.

Präs.: Angekl. Marie Win kl er, Sie sind angeklagt, in einem Punkte falsch ausgesagt zu haben. Sie waren vom 10. Juli 1904 bis zum 2. August 1906 bei der Riehl. Sie haben ursprünglich an- gegeben, daß Sie auf Grund von Abrechnungszetteln, die Sie ver*

26 L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

fertigten, mit der Riehl stets yerreoknet haben. Später haben Sie dem Untersuchungsrichter einen Briefgesoh rieben, in dem Sie ersuchen, „das mit den Zetteln^ wegzulassen, weil es eine falsche Deposition enthalte. Sie haben dann angegeben, daß Sie die falsche Aussage deshalb ab- legten, weil Sie glaubten, daß Sie so eher Glauben finden würden. (Zur Angeklagten, ihr ein Paket Zettelvorhaltend): Haben Sie auch wirklich alle diese Zettel sukzessive auf Grund Ihres wirklichen Verdienstes angefertigt? Angekl.: Ja, sie sind wirklich richtig. Präs.: Nach diesen Aufzeichnungen hätten Sie in der Zeit vom Januar bis Juli 5337 Kronen eingenommen. Dr. PoUaczek: Na, lauter Steuer- beamte waren das nicht. (Laute Heiterkeit.)

Dr. Rabenlechner: Ich will der Angeklagten nicht weh tun^ aber 3000 Gulden in einem halben Jahre, das ist doch zu viel. Frau Riehl (verächtlich): Aber ich bitte, die ohne Zähne und mit der mageren Figur. Ich will sie ja nicht kleiner machen, aber ...

Frau Riehl macht eine bezeichnende Handbewegung.

Dr. PoUaczek (zur Angeklagten Pokorny) : Was haben denn Sie für einen Verdienst gehabt? Angekl. (stolz): Ich bekam von meinen Leuten 100, 150, ja auch 200 Gulden.

Die Angeklagte Josefine Zawazal ist geständig, zu- gunsten der Frau Riehl falsche Angaben vor dem Untersuchungs- richter gemacht zu haben. Sie sei von Frau Riehl zu ihrer falschen Aussage verleitet worden.

Angeklagte Anna Christ erschien freiwillig beim Unter- suchungsrichter, um ihre falschen Angaben zu widerrufen.

Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie in das Haus der Riehl kamen? Angekl.: Siebzehn Jahre. Präs. : Ist es richtig, daß Sie zwei Mo- nate lang ohne ärztliche Visitation im Hause blieben? Angekl.: Jawohl. Präs.: Ist es richtig, daß Sie bei Ihrem Eintritt in das Haus unversehrt waren? Angekl. (fest): Ja, es ist richtig.

Die Angeklagte erzählt, daß ein operativer £ingi*iff an ihr vor- genommen wurde, um sie unbehelligt von der Behörde dem Schand- gewerbe zuführen zu können.

Präs.: Wer hat sie zu der falschen Zeugenaussage veranlaßt, die Sie abgelegt haben?

Angekl.: Die Riehl und die Pollak. Die Riehl ist vor mir ge- kniet und hat gesagt: Ich schwöre dir, Anna, ich werde es dir nie vergessen, wenn du das für mich tust. Wenn du es nicht tust, bin ich ruiniert. Du mußt alles Gute über das Haus sagen.

I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien. 27

«

Pr&8.: Wer bat der Operation beigewohnt? Angekl.: loh kann miob nur an die Riehl erinnern. Irgendein Mftdchen bat mir ein PolBter in den Mund gestopft, weil ieh geschrieen habe.

Frau Riebl (wütend): Dieses Mädel war die häßlichste meiner Damen. (Heiterkeit.) Die hat es notwendig. Es ist natürlich gar nichts wahr, was sie sagt.

Dr. PoUaezek (zur Angeklagten Zawazal): Ist es richtig, daß Frau Riebl der Christ auch gedroht hat? Zawazal: Jawohl. Sie hat gedroht, daß, wenn die Christ nicht anständig aussagt, wird sie sie versebwinden lassen. Frau Riehl (aufschreiend): Das ist ja Wahnsinn! Wie kann man denn einen Menschen verschwinden lassen ? Dr. Follaczek : Sie haben ja auch Mädchen bekannter- maßen verschickt. Frau Riehl (mit Nachdruck): Pardon. Das ist nicht wahr. Ich bin Besitzerin eines öffentlichen Hauses, aber keine Mädchenhändlerin.

Angeklagte Sophie Christ, ein neunzehnjähriges Mädchen, be- zeichnet sieb als Wäscherin.

Präs.: Sie haben vor dem Untersuchungsrichter angegeben, daß Sie nie etwas von unstatthaften Vorgängen bei der Riehl bemerkt haben, daß kein Mädchen in der Freiheit beschränkt war und daß es allen gut gegangen ist. Am 17. Juli widerriefen Sie Ihre Mit- teilungen und erklärten, daß Ihre Angaben unwahr waren. An- gekl.: Frau Riehl hat mich erbarmt, sie sagte: „Hansi, du weißt, ich haV ein Kind, mach' mich nicht unglücklich, du wirst es nicht be- reuen.* — Präs.: Hat Ihnen auch die PoUak zugeredet? An- gekl.: Ja, sie redete mir auch zu; auch die Hosch sagte mir, ich soll gut aussagen.

Angekl. Christ: Ich bitte, Herr Hofrat, bis heute habe ich meine Sachen noch nicht; ich habe nur die Sachen verlaugt, sechs Hemden und sechs Hosen. Riehl: Sie hat Schuhe, Bluse, Kleider be- kommen, mehr als sie mitgebracht hat.

Präs.: Als Zeugin vor dem Untersuchungsrichter sagte die Christ auch, daß sie 35 Gulden als Rest der Abrechnung erhalten hat, das ist ebenfalls nicht wahr. Riehl: Das Mädchen war immer krank, hat also nichts zu bekommen gehabt.

Die Angeklagte ErnestineOönye war vier Jahre lang Stuben- mädchen im Hause der Riehl. Sie hat, wie der Vorsitzende fest- stellt, auch vor dem Untersuchungsrichter die Unwahrheit gesagt, indem sie die Behandlung der Mädchen als tadellos bezeichnete. Nachdem sie aber am 24. August als Beschuldigte vorgeladen wurde, erklärte sie, sie habe falsch ausgesagt.

28 I. Der Prozeß Biehl und KoDBorten in Wien.

Angekl.: Frau Riehl sagte mir, ich soll sie nicht ins Unglück stürzen. Ich habe nicht gewußt, daß die Sache so gefährlich ist.

Als erste Zeugin wird Ottilie G., jenes Mädchen vernommen, das knapp nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres zur Riehl gebracht worden ist. Sie geht jetzt einem anständigen Er- werb nach.

Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie zur Riehl kamen und dort „Dame" wurden? Zeugin: Vierzehn Jahr und drei Monate. Präs.: Wußten Sie, in was für ein Haus man Sie brachte? Zeugin : Anfangs nicht, später erfuhr ich es. Präs. : Hat Ihr Vater gewußt, wo Sie sich aufhalten? Zeugin: Nein, der Vater wußte nicht, in welche Hände ich gekommen war ; bei der Riehl war vom Vater überhaupt nicht die Rede. Präs.: Sie waren damals noch nicht erwachsen ? Zeugin : Nein. Präs. : In welcher Eigenschaft sind Sie in das Haus gekommen? Zeugin: Man sagte mir erst, als Dienstmädchen, aber bald erfuhr ich den wahren Zweck. Präs.: Sie waren noch unbescholten, als Sie zu Frau Riehl kamen? Zeugin: Ja. Präs.: Und wie lange hat es gedauert, bis Sie mit den nötigen Dokumenten versehen waren? Zeugin: Frau Riehl ging zur Polizei und sprach mit einem Herrn Kommissär, und nach zwei bis drei Tagen hatte ich die Sachen.

Die Zeugin erzählt, daß ihr der Polizeiarzt die Dokumente wieder wegnahm, als er konstatiert hatte, daß sie noch unbescholten sei. Frau Riehl redete ihr daraufhin zu, sich mit Männern zu befassen. Sie habe sich aber geweigert, sei von der Riehl fort und erst später, nachdem sie schon einen Liebhaber gehabt hatte, wieder zu ihr zu- rück. Frau Riehl verrechnete mit ihr in der Weise, daß sie vier Kronen täglich für die Kost ansetzte und außerdem die Hälfte des von den Herren bezahlten Geldes behielt. „Strumpfgeld** wurde den Mädchen einfach weggenommen, manchmal sogar mit Gewalt. Das Mädchen ist mit der Riehl aus der Porzellangasse in die Mühlgasse und von hier in die Grüne Torgasse übersiedelt.

Präs.: Haben Sie sich dort frei bewegen können? Zeugin: Nein, alles war zugesperrt. Präs. : Haben Sie Geld bekommen? Zeugin: Nicht einen Heller. Präs.: Ist bei den Verrechnungen etwas für Sie geblieben? Zeugin: Ich war der Riehl immer schuldig. Wofttr? Zeugin: Für Kleidung und Wäsche. Es war ein ewiges Manko. Präs.: Konnten Sie ausgehen? Zeugin: Nur mit Frau Riehl. Präs. : Wurden Sie von der Frau Riehl auch ge- schlagen? — Zeugin: Ja. Einmal bekam ich so arge Prügel; daß ich längere Zeit krank war. Präs.: Weshalb? Zeugin: Weil

I. Der Prozeß Riehl und KoQBorten in Wien. 29

ich Champagner getrunken habe, der nicht mir gehörte. Präs.: Was war das für Champagner? Zengin: Solcher, den die Gäste stehen ließen. Der wurde zusammengegossen und wieder ausge- schenkt.

Die Zeugin erzählt weiter, daß die Ausfahrten, die die Mädchen mit der Riehl machen durften, von dieser als Auszeichnung be- trachtet wurden.

Präs.: Haben Sie Herren mit nach Hause gebracht? Zeugin: Manchmal sind Herren mitgegangen, manchmal sind sie uns auch naehgefahren. Präs.: Haben Sie auch Schmuck bei diesen Fahrten mitbekommen? Zeugin: Ja, die Riehl gab uns Schmuck, damit wir nicht durchgehen können. Auch ihr Geldtäschchen ließ sie uns ans demselben Gründe tragen.

Dr. Rode legt eine Photographie aus der Zeit vor, da die Zeugin bei der Riehl eintrat. Das Bild stellt die Zeugin im Matrosenkleid- ehen vor. Der Vorsitzende bemerkt hierzu: „Da haben wir die Toi- lette im Maison Riehl.^

Auf Befragen des Dr. Rode erzählt die Zeugin^ daß ihr die Haare gewaltsam abgeschnitten wurden. Die Riehl und ein Mädchen hielten sie fest, da sie sich wehrte. Dadurch sollte die G. noch jagendlicher erscheinen. Bei der Übersiedelung in die Grünetorgasse wurden die Mädchen von der Pollak und der Riehl förmlich eskor- tiert. Schließlich berichtet die Zengin noch, daß die Riehl sie adop- tieren wollte. Die Zeugin wollte aber nicht, weil die Riehl sie immer prügelte.

Von der Pollak erzählt die Zeugin, daß sie die Türen zum Schlafzimmer zugesperrt hatte und nur öffnete, wenn ein Herr ein Mädchen sprechen wollte. Das habe die Pollak auf Geheiß der Riehl getan. Diese Vorschrift bestand erst, nachdem mehrere Mäd- chen durchgegangen waren und einige durch einen Sprung aus dem Fenster zu flüchten versuchten.

Präs. (zur Riehl): Wa« sagen Sie zu dieser Aussage? An- gekl. Riehl: Von Anfang bis zu Ende erlogen I Ich habe das Mäd- chen von einer Mädcfaenhändlerin erhalten, nachdem es in einem öffentlichen Hause in Prag nicht aufgenommen wurde. Die Sache hatte nämlich ein Hindernis, weil sie ein Verhältnis hatte. Präs. : Wußten Sie, wie alt die Zeugin war? Riehl: Das habe ich aller- dings vergessen. (Heiterkeit.)

Dr. Pollaezek (zur G.) : Haben Sie sich nie Herren gegenüber über diese Behandlung beklagt? Zeugin: Ja. Aber die Herren sagen immer: Euch Mädeln geht es sehr gut. (Bewegung.)

30 I. Der Prozeß Rlehl und KoDSorten in Wien.

Die Zeugin Georgine W. war ein Jahr bei der Riehl.

Als ich durch Vermittlung einer Frau Neubauer zur Riehl kam ^0 erzählt die Zeugin war ich noch nicht sechzehn Jahre alt. Die Frau Riehl hat die PoUak beauftragt» sofort mit mir zur Polizei zu gehen, ist aber dann selbst gegangen. Dann hat sie mir gesagt^ ich soll sofort meinem Vormund nach Stockerau telegraphieren, und wenn er kommt, soll ich ihm schön die Hand kfissen, ihn um die Zustimmung bitten und sagen, daß ich mir eine schöne Ausstattung ftr meine Hochzeit verdienen werde. (Bewegung.)

Präs.: Was haben Sie verdient? Zeugin: Manchmal dreißig Gulden täglich, öfter mehr, aber nie weniger als zehn Gulden.

Präs.: Wieviel haben Sie also in der ganzen Zeit verdient? Zeugin: Ich glaube 8000 Kronen. Präs.: Wurde mit Ihnen ver- rechnet? — Zeugin: Niemals. Präs.: Und was war mit dem Strumpfgeld? Zeugin: Auch das mußten wir der Riehl geben. Die Riehl hat uns gezwungen ; sie sagte, wir bestehlen sie und werden als Diebinnen behandelt. Präs. : Also nach der Logik der Frau Riehl wären die Mädchen Diebinnen gewesen, wenn sie ihr Eigentum behalten hätten.

Die Zeugin berichtet ferner, daß die Riehl ihr ein Firmkleid schenkte, aber bald wieder abnahm. Präs.: Da haben wir wieder einen Firmling der Frau Riehl. Wie war denn sonst Ihre Kleidung?

Zeugin: Sie bestand aus Unterrock, Babyschfirze, Halbschuhen und gewöhnlichen Strttmpfen.

Präs. : Mit dieser Toilette konnten Sie aber nicht ausgehen. Wie war es, wenn die Riehl mit Mädchen in Vergnügungslokale ging? Zeugin: Da waren wir sehr hObsch gekleidet und hatten Schmuck. Wir haben von solchen Lokalen Herren nach Hause gebracht oder mußten Visitenkarten verteilen. Wir waren dort wirklich nicht zum Vergnügen, sondern zum Geschäft. (Heiterkeit.)

Die Zeugin mußte mit einem andern Mädchen gemeinsam in einem Bette schlafen. Sie wollte wiederholt aus dem Hause der Riehl weg, aber da drohte ihr die Riehl mit der Abrechnung. Die Zeugin zeichnete ihre Einnahmen auf, aber plötzlich waren mehrere Blätter aus diesem Vormerkbuch herausgerissen.

Präs.: Wieviel wären Sie also nach Angabe der Riehl schuldig?

Zeugin: 400 Gulden. Als ich unter der Ausflucht, zu meiner Mutter fahren zu müssen, aus dem Hause kam, begleitete mich die Riehl. Sie gab mir sehr schlechte Kleider von einem andern Mäd- ohen und keinen Kreuzer Geld.

Der Präsident verliest ein Protokoll, das mit der Zeugin im

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 31

Sekretariat der Liga zur Bekämpfung des MädchenhandeU im Jabre 1903 anfgenommen wurde. In diesem Protokolle kommen bereits die meisten der gegen die Riehl jetzt erhobenen Anwürfe vor.

Dr. Rabenlechner: Dieses Protokoll sollte doch einen Zweck haben. Was geschah mit ihm? Präs.: Das ist mir nicht bekannt.

Auf Befragen erklärt die Riehl mit großer Entschiedenheit alle Angaben der Zeugin als Lügen und berichtet, daß dieses Mädchen ▼ollständig verwahrlost war und die Schuhe mit Spagat zugebunden hatte, als sie zu ihr kam.

So verwahrlost war die W., daß der Kommissär auf der Wieden zu mir sagte, als ich das Mädchen vorstellte: „Solche Mädeln bringen Sie uns, da können Sie gleich gehen, so was kann man nicht brauchen.^ Vierzehn Tage später stellte ich die W. wieder vor, aber in sehr schönen Kleidern. Da sagte derselbe Kommissär: „Ja, mit solchen Mädeln können Sie kommen. Das ist ganz was anderes.^^ loh machte ihn darauf aufmerksam, daß das Mädchen schon vor vier- zehn Tagen bei mir war. Darauf sagte der Herr Kommissär zu einem Kollegen: „Schau, was die Riehl ans einem Mädel in vierzehn Tagen machen kann.^' (Bewegung.)

Zeugin Justine R. gibt an, daß sie beim Eintritt in das Haus der Frau Riehl nicht sofort gewußt habe, daß sie sich in einem der- artigen Hause befinde. Präs.: Hat Frau Riehl Ihnen gesagt, als was Sie fungieren sollen?

Zeugin : Ich bin von Frau Riehl aufgenommen worden, daß ich Deutsch bei ihr lernen soll. (Heiterkeit.) Ich bin als Stubenmädel aufgenommen worden. Präs. : Und schließlich sind Sie sich jeden- falls sehr bald darüber klar geworden, daß Frau Riehl Sie nicht zur Verbesserung Ihrer Spraohkenntnisse aufgenommen hat. Wann ist das Gesundheitsbuch genommen worden? Zeugin: Bald danach. Präs.: Ist nicht gefragt worden, ob Ihre Eltern einverstanden sind? Zeugin: Nein. Präs.: Hat Frau Riehl jemals mit Ihnen abge- rechnet? — Zeugin: Ja, zum Schluß hat sie herausgerechnet, daß ich ihr noch gegen 1000 Gulden schuldig bin. Präs. : Sind Mäd- chen geschlagen worden? Zeugin: Ja, weil sie nicht gefolgt haben. Präs.: Hat die Riehl auch von Ihnen verlangt, daß Sie Herren Dienste leisten sollen, vor denen Sie zurückschreckten? Zeugin (rasch): Aber jal Sie hat gesagt: Ein böhmisches Madel muß alles machen! (Heiterkeit.)

Präs.: Hat Ihre Mutter Sie einmal besucht? Zeugin: Ja. Wie sie gekommen ist, hat mich die Frau Riehl rasch in mein 2immer binaufgeschickt, ich soll mich als Stubenmädel anziehen.

32 I. Der Prozeß Riehl und Eonaorten in Wien.

Meiner Mutter ist nnten inzwischen unwohl geworden. Wie ihr wieder besser geworden ist, war ich schon unten bei ihr als Stuben- mädel. — Fr&s. : Hat Ihnen Frau Riehl bei den Ausgängen Schmuck gegeben? Zeugin: Ja. Präs.: Da hätten Sie doch davonlaufen können? Zeugin: Nein, denn dann hätte sie mich wegen Dieb- stahl angezeigt.

Frau Riehl gibt an, daß die Zeugin und deren Mutter gewußt haben, was sie für ein Haus unterhalte. Die Mutter habe sogar Geld von ihr erhalten. Zeugin (erregt): Aber nichteinen Heller! Meine Mutter hat gar nichts gewußt I Sowie die Mutter gekommen ist; hat Frau Siehl Champagner einkaufen lassen, aber die Mutter hat ihn um die Erd' g'haut. Und als mein Vater gestorben ist (weinend), da hab' ich vier oder ftlnf Tage gar nichts davon ge- wußt, weil sie mir die Briefe vorenthalten hat. Frau Biehl be- zeichnet diese Angaben wiederum als erlogen.

Die Zeugin Anna D. wurde als Dienstmädchen aufgenommen. Als sie zum Schluß einen Lohnrest von 4 Gulden haben wollte, er- hielt sie von Frau Riehl Schläge und wurde hinausgeworfen. Sie gibt an, daß einmal ein Mädchen von Frau Riehl und der Haus- besorgerin auf den Eellerstufen mit einem Pracker geschlagen wurde. Frau Riehl entsinnt sich dieser Prfigelei nicht. Sie erklärt, die Zeugin sei ihr aufsässig, weil sie ihr ein paar Mädchen gebracht habe, und nicht daftlr bezahlt worden sei.

Die Zeugin Franziska H. war drei Jahre lang bei Frau Riehl. Sie wurde stets von Frau Riehl sehr gut behandelt und erhielt, als sie wegging, einen Korb mit Wäsche und Kleidern und 15 Gulden. Ihre Mutter war mit ihrem Aufenthalt bei Frau Riehl einverstanden.

Frau Riehl erklärt auf Befragen des Verteidigers Dr. Hofmokl: Wieviel Geld die Eltern der H. von mir erhalten haben, weiß ich nicht, aber sie sind sehr fleißig einkassieren gekommen.

Zeugin Pauline T. war unter dem Namen „Marianne^ f&nf Jahre im Hause der Riehl.

Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie eintraten? Zeugin: Sieb- zehn Jahre. Ich war aber früher bei einer andern Frau und bin durch einen Herrn zur Frau Riehl gekommen. Präs.: Haben Sie denn sofort von der Polizei ein Buch bekommen? Zeugin: Die frühere Frau, Openauer, richtete mich ab, bei der Polizei zu sagen, daß meine Eltern gestorben sind. Präs.: Das war aber eine Lüge? Waren Sie bei der Riehl zufrieden ? Zeugin : Ja.

Die Zeugin erzählt, daß es mit dem Einsperren der Mädchen seine Richtigkeit habe; aus der „Kaserne^ durfte niemand ohne Er-

I. Der Prozeß Riehl and Eonsorten in Wien. 33

laubnis und die Kleider waren in Verwahrung der Frau. Präs.: Haben Sie Briefe an Ihre Eltern gesebrieben? Zeugin: Nein, die Mutter ist immer selbst gekommen.

Präs.: Hat sie etwas erbalten ? Zeugin: Jeden Monat bat die Mutter zebn Gulden erbalten. Präs.: Und Sie? Zeugin: leb habe nicbts bekommen. Präs.: Was hatten Sie denn ausgemacht?

Die Zeugin erzählt nun, daß sie plötzlich „ausgehoben'' wurde, und beim Landesgericht habe sie mit der Riehl ausgemacht, daß sie im ganzen 60 fl. erhalte. Der Vater der Riehl habe ihr aber nur 40 fl. gegeben. Präs.: Wieviel haben Sie verdient? Zeugin: Ziemlich viel. Präs.: Sie hätten also für flinf Jahre 60 fl. be* kommen sollen und von diesen wurden Ihnen noch 20 fl. abgezogen. Wie war's mit dem Strumpf- und Zimmergeld? Zeugin: Das haben die Riehl und die Pollak einkassiert. Präs.: Ist Ihnen von Mißhandlungen der Mädchen etwas bekannt? Zeugin: Dann und wann ist's vorgekommen. Präs.: Wissen Sie etwas von einer Operation an der Erna? Zeugin: Nein. Sie hat mir aber selbst erzählt, daß sie nicht mehr unversehrt war, als sie hinkam. Präs.: Das wurde ihr nämlich anbefohlen.

Angeklagte Riehl: Nicht alles, was die Zeugin sagt, ist wahr. Sie war schon anderthalb Jahre fort von mir und ist wieder ge- kommen. Ihren Eltern habe ich mehr als 10 Gulden monatlich ge- geben, ich habe oft den Zins hergegeben, auch wurden f&r Ver- gnflgungen Ausgaben verrechnet. Sie (die Zeugin) war nicht eines der schlechtesten Mädchen; sie hatte aber die Gewohnheit, zu kokettieren, was ich nicht dulden wollte.

Präs.: Nun, bei Ihrem Geschäft ist das Kokettieren gerade nicht das Schlechteste gewesen. (Heiterkeit.)

Die Riehl gibt weiter an, daß sie den Eltern der Zeugin jeden Monat Geld schickte. Zeugin (gemessen): Gnädige Frau, ich habe Ihnen immer gesagt, daß Sie den Eltern nichts schicken sollen.

Landesgerichtsrat Dr. Spitzkopf (zur Zeugin): Das Geld ist gegen Ihren Willen an die Eltern geschickt worden? Zeugin: Ja. Dr. Spitzkopf: Warum wollten Sie das nicht? Zeugin: Ich habe einen Skandal mit der Mutter gehabt. Verteidiger Dr. Hofmokl: Sollte dieses Geld fllr die Eltern sein oder fQr die Tochter angelegt werden? Frau Riehl: Ich habe dem Vater zebn oder fünfzehn Golden geschickt, wenn er es für Zins oder sonst gebraucht hat.

Präs.: Frau Riehl! Diese Aussagen werden sich im Laufe des heutigen Verbörs noch widerholen. Es erscheint allmählich als ein gewisses System, daß die Eltern bezahlt wurden, damit sie zur Riehl

litUr fOr Kri]nfaiabuitlLn>polagi& 27. Bd. 3

34 I. Der Prozeß Riehl und Eonsorten in Wien.

hielten. Die Mädchen waren damit auf zwei Seiten eiDgesohlossen. Auf der einen Seite gab sich Frau Riehl den Anschein, daß sie Aber die Behörde verfflge, auf der anderen Seite hatte sie die Eltern flir sich; damit waren die Mädchen geliefert.

Staatsanwalt (zur Zeugin): Wußten Sie, daß Ihre Eltern von der Riehl Geld erhielten? Zeugin: Nein. Staatsanwalt: Ich erkläre, daß die Verfolgung der Eltern dieser Zeugin eingeleitet wird.

Präs. (zur Zeugin): Ist es vorgekommen, daß ein Mädchen miß- handelt wurde, weil es durchgehen wollte? Zeugin: Aus diesem Grunde wurden sie nicht geschlagen, nur wenn sie mit der Madame frech waren.

Philomena J. war unter dem Namen „Elsa^ während drei Monaten im Hause Riehl.

Präs.: Durch welche Vermittlung kamen Sie in das Haus? Zeugin: Zwei Männer haben mich dorthin gebracht. Präs.: Können Sie uns die Namen dieser zwei Männer nennen? Zeugin: Dereine war der „g'flickte Schani", den zweiten kenne ich nicht. Präs.: Wissen Sie auch, was die HeiTen für diese Leistungen er- hielten? — Zeuge: Der „geflickte Schani" hat mir gesagt, daß er fünf Gulden bekommen hat. Präs.: Wer hat Sie bei der Polizei angemeldet? Zeugin: Die Frau Riehl. Präs.: Hatten Sie die Zustimmung Ihrer Eltern? Zeugin: Nein. Meine Mutter hat nicht gewußt, daß ich bei diesem Leben bin. Präs.: Warum haben Sie die Polizei angelogen? Zeugin: Die Frau Riehl hat es mir aufgetragen.

Dr. Rabenlechner (zur Zeugin): Haben Sie viel verdient? Zeugin (zögernd): Wenn viel Herrenbesuche kamen, habe ich viel verdient. Dr. Hofmokl: Bitte, Geschäftsgeheimnis. (Heiterkeit.)

Die Zeugin berichtet über ihre jFlucht. Nachdem sie häufig Schläge erdulden mußten, beschlossen drei Mädchen, zu fliehen. Sie entliefen in den Rosakleidern, die sie abends im Salon trugen. Die Zeugin bestach den Portier mit einem Gulden, dem „Strumpfgeld**, das sie auch im Strumpf verborgen hielt. Damals wurde noch nicht so gründlich visitiert; erst durch diesen Fluchtplan kam die Riehl auf die Idee, auch in den Strümpfen der Mädchen nach Geld zu suchen. Die Mädchen flohen zuerst in die Sterngasse, gingen aber dann in die Wohnung der Pollak in die Novaragasse.

Präs.: Das war das Richtigste. (Heiterkeit.)

Zeugin : Die Pollak versprach, den drei Flüchtigen eine Unter- kunft zu verschafl'en, verständigte aber die Frau Riehl, und diese kam bald darauf im Einspänner vorgefahren und nahm die Mädchen

I. Der Prozeß Riebl und Konsorten in Wien. 35

mit. Sie spie der „Steffi" ios Gesicht, beschimpfte und schlug die anderen zwei Mädchen und verlangte ihre Kleidung. Im Hause hescbimpfte sie sie wieder, dann gab die Riehl jeder einen Gulden und sagte nur: ^ Jetzt könnts zum Teufel gehen 1" Auf dem Polizei- kommissariat im 9. Bezirk hat ein Polizeiagent der Zeugin gesagt, sie bekomme kein Buch mehr, weil die Mutter es nicht mehr dulde.

Der Vorsitzende konstatiert aus den Protokollen, daß die Mutter, eine Häuslerin in Böhmen, von dem Lebenswandel .ihrer Tochter nichts wußte.

Die Zeugin erzählt, daß mehrere Mädcheo, die |es im Hause Riehl nicht aushalten konnten, die Flucht ergriffen. Sie erinnere sich an die Flucht der Valerie und der Marianne.

Präs.: Es waren also nicht alle Mädchen zufrieden? Zeugin: Ach Gott, die weggehen konnten, gingen weg.

Verteidiger Dr. Rode (zur Zeugin): Sie haben ja, als Sie Ihre Flucht bewerkstelligten, gewußt, daß der Portier im Hause sich mit Frau Riehl überwerfen habe? Zeugin: Sonst hätte er den Gulden nicht angenommen und ich wäre nicht hinausgekommen.

Dr. Babenlechner: Es liegen Briefe vor, die mit Ihrem Ruf- namen „Elsa^ unterzeichnet sind; darin ist von Quälereien keine Rede, im Gegenteile; ebenso in einem zweiten Briefe. Zeugin : Ich habe nur einen Brief geschrieben. Der vorgezeigte Brief ist gar nicht von mir. Präs.: Dies erklärt sich daraus, daß mehrere Mädchen ^Elsa" hießen. Dr. Babenlechner: Wie hat man sich da aus- gekannt? — Präs.: Der Name wurde nicht gleichzeitig an mehrere verliehen. Wenn eine wegkam, wurde der freigewordene Name auf die Nachfolgerin übertragen. Das Verzeichnis des Untersuchungs- richters zeigt je eine Else aus den Jahren 1901, 1902 und 1903.

Die Zeugin Anna F. ist 21 Jahre alt. Präs.: Wie kamen Sie zur Riehl? Zeugin: Durch eine Frau. Präs.: Wie heißt die Frau? Zeugin (gleichgültig): Ich weiß es nicht. Präs.: Wie lange waren Sie im Hause? Zeugin: Ich weiß es nicht be- stimmt — Präs.: Waren Sie auch im dritten Stock in der „Kaserne*', untergebracht? Die Zeugin schweigt. Präs.: Nun, ist das richtig? Zeugin (zögernd): Ja.

Anna F. erzählt, daß Frau Riehl niemals abrechnete. Wenn die Zeugin sich über den Stand ihres Kontos vergewissern wollte, warde ihr gesagt, sie sei noch eine Menge schuldig.

Präs.: Wurden Sie auch manchmal geschlagen? Zeugin: O ja, wenn ich keck war. Präs.: Sie scheinen aber sonst mit

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86 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

der Behandlung im Hause zufrieden gewesen zu sein. Zeugin (gleichmütig): 0 ja!

Zeugin Aloisia S. war nnter dem Namen Marianne im Hause der Riehl. Als der Vormund davon erfuhr, wollte er ihr das Bneh entziehen lassen. Sie blieb deshalb vierzehn Tage lang unangemeldet bei der Biehl. Diese sagte ihr, sie solle beim Kommissär angeben, ihr Vormund sei unbekannten Aufenthaltes und ihre Mutter sei gestorben.

Präs.: Ihre Mutter lebt aber noeh? Zeugin: Jawohl, Ver- teidiger Dr. PoUaczek: Hat denn die Polizei Ihre Angaben nicht kontrolliert? Zeugin: Ja, aber das hat eben vierzehn Tage ge- dauert.

Sie erzählt, daß sie sich einmal weigerte, einem Herrn, der Ungewöhnliches von ihr verlangte, zu Willen zu sein.

Präs.: Damals wollte die Biehl Sie hinauswerfen? Zeugin: Ja. Mit zerrissenen Schuhen, im Unterrock und ohne Kopfbedeckung. Ich bat sie, zu gestatten, daß ich meiner Mutter durch das Dienst- personal einen Zettel schicke, in dem ich die Mutter um Kleidung bat. Die Biehl verbot aber ihren Bediensteten, mit mir zu reden.

Präs.: Damals faßten Sie den Entschluß, durchzugehen? Zeugin: Ja. Aber von der Biehl konnte man nicht anders durch- gehen als nackt. Ich glaube, daß die Gefangenen hier mehr Frei- heit haben als die Mädchen im Hause der Biehl. Präs.: Sind Sie auch geschlagen worden? Zeugin: Nein. Einmal wollte die Biehl mich prügeln; das war damals, als ich jenen Herrn zurückwies. Aber ich erwischte eine Siphonflasche, die gerade auf dem Eiskasten stand, und spritzte sie damit an, sodaß sie davonlief.

Präs.: Schließlich gelang es Ihnen doch, durchzubrennen? Zeugin: Ich wurde einmal für ein erkranktes Mädchen zu dem Arzt geschickt. Man gab mir drei Gulden mit. Nach ein paar Minuten schickte mir die Biehl ihre Wirtschafterin nach, ließ mir die drei Gulden wieder abnehmen und mir sagen, ich möge gleich nach Hause kommen. Ich aber dachte mir, jetzt bin ich schon aus ihrem Bereich, jetzt kehre ich nicht mehr zurück. So lief ich davon mit sieben Kreuzern in der Tasche.

Präs.: Frau Biehl, was antworten. Sie auf die Aussagen der Zeugin? Angekl. : Es ist alles vom Anfang bis zum Eode er- logen. — Verteidiger Dr. Pollaczek (zur Zeugin): Haben Sie auch Mißhandlungen von Mädchen mitangesehen? Zeugin: Ja. Einmal hat Frau Biehl einer einen Zündstein nachgeworfen. Die Arme war tagelang nachher an der Hüfte geschwollen.

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien. 87

Die Zeugin Marie St. war drei Wochen im Hanse Riebl. Sie best&tigt, daß die Mädchen eingesperrt wurden. Sie selbst ist von dort nur losgekommen, weil sie anläßlich einer polizeilichen Vor- ladung sagte, der Kommissär habe ihr das Buch abgenommen. Die Riebl habe ihr dann die Kleider nicht ansgefolgt. Einmal sei ein Mädehen, als der Arzt erschien, von der Riehl auf dem Boden ver- steckt worden.

Angeklagte Riehl: Herr Hofrat, dieses Mädchen, an das ich mich gar nicht erinnern kann, weiß mehr anzugeben, als Mädchen, die jahrelang bei mir waren!

Die Zeugin Marie S. war ebenfalls nur drei Wochen bei der Riehl. Sie erzählt, daß acht Mädchen in einem kleinen Raum schlafen mußten.

Präs.: Der Raum faßte nach den Erhebungen 76 Kubikmeter Luft, also kommen etwas mehr als 9 Kubikmeter auf jede Person. Im Landesgericht kommen auf jeden Sträfling in den Zellen 18 bis 20 Kubikmeter Luft, also um die Hälfte mehr wie bei der Riehl.

Dr. Pollaczek: Und so was nennt man ein Freudenhaus I (Heiterkeit.)

Die Zeugin erklärt weiter, daß sie nur mit dem Hunde der Frau Riehl ausgehen durfte, damit er an die Luft geführt werde. „Der Hund hat es besser gehabt als die Mädchen.'^

Die Zeugin Marie 0. ist im Alter von siebzehn Jahren durch eine andere Frau zur Riehl gekommen. Sie hat sie beredet, bei der Polizei anzugeben, daß sie (Zeugin) von ihren Eltern nichts wisse nnd schon seit Jahren von ihnen nichts gehört habe. Auf diese Weise habe sie „das Buch^ erhalten. Über die Einsperrung im Zimmer haben sich die Mädchen nicht beschwert, da sie sich vor der Riehl fürchteten.

Präs.: Sind Sie geschlagen worden? Zeugin: Einmal erhielt ich eine Ohrfeige, weil ich einen Rausch gehabt habe. Ich habe aber mit dem Herrn Champagner trinken müssen. Präs.: Müssen? Sie haben ihn aneifern sollen. Dr. Rabenleohner: Mein Gott, wir wissen ja, wie es in solchen Häusern zugeht I (Heiterkeit.)

Präs.: Ist es richtig, daß Sie geschlagen wurden, wenn Sie gewisse Anforderungen gewisser Herren nicht erflillen wollten?

Zeugin : Die Riehl und die Irma haben mich zusammen geschimpft, weil ich mich weigerte. Die Zeugin erklärt, daß sie das Haus ver- ließ, als sie endlich von ihrem Vater übernommen wurde.

Der Hausbesorger Johann Hruby war zweimal als Portier im Hanse Riehl bedienstet. Er wird auf Antrag des Verteidigers Dt. Rabenlecbner beeidet. Das erstemal wurde er im Jahre 1901

38 I. Der Prozeß Blebl und Konsorten in Wien.

von der Frau Riehl in den Dienst genommen. Präs.: Sie haben damals mit der Riehl einen schriftlichen Vertrag geschlossen.? Zeuge: Jawohl. Präs.: Haben Sie eine Bezahlung bekommen? Zeuge: Nein. Ich hatte nur Wohnung und Kost. Meine Frau mußte für das ganze Pensionat Riehl die Küche ftlhren.

Präs.: Konnten die Mädchen aus- und eingehen, und hatten Sie in dieser Beziehung bestimmte Weisungen erhalten? Zeuge: loh hatte den Auftrag, kein Mädchen ohne Begleitung fortgehen zu lassen. Präs.: Was hatten Sie unter der Begleitung zu verstehen? Zeuge: Frau Riehl und Frau Pollak. Präs.: Und was wäre ge- schehen, wenn Sie den Auftrag der Frau Riehl nicht befolgt hätten ? Zeuge: Sie sagte mir, daß sie mich dann hinauswerfen würde.

Präs. : Wie wurde es denn im Salon bekannt, wenn nachts ein Männerbesuch kam? Zeuge: Die Hausglocke stand auch mit einer Glocke im ersten Stock in Verbindung. Wenn unten geläutet wurde, ertönte oben ein Alarmsignal. Präs. : Wer hat denn oben Wache gehalten, damit die Mädchen nicht durchgehen? Zeuge: Solange die Riehl schlief hat eine 'der Damen das Geschäft besorgt. Präs.: Wie war es denn an Sonntagnachmittagen? Zeuge: Die Mädchen wurden da in den Garten eingelassen, doch mußte ich vorher das große Tor schließen. Präs.: Also ganz gefilngnisartigl Wissen Sie, Herr Zeuge, ob im Salon oben viel ohampagnisiert wurde? Zeuge: Um solche Kleinigkeiten habe ich mich nicht gekümmert. Präs.: Warum sind Sie das erstemal von der Riehl entlassen worden? Zeuge: Weil sie einmal im Salon Schmutz fand und sagte, daß ich nachlässig sei.

Präs.: Haben Sie viel verdient? Zeuge : Ziemlich. Präs.: Wie viel denn ungefähr im Monat? Zeuge: 100 Gulden. Präs.: Das ist wohl sehr respektabel. Da kann man einen Schluß daraus ziehen, wie die Einkünfte oben gewesen sind; denn die Herren werden wohl mehr Wert darauf gelegt haben, oben nobel zu sein. (Heiterkeit.)

Der Vorsitzende befragt den Zeugen, ob die Mädchen bei ihren Ausfahrten Männer mitgebracht haben? Zeuge: Männer, bitt' Sie, Männer sind immer gekommen. (Heiterkeit.) Präs. (eindringlieh): Können Sie behaupten, daß die Pollak darauf Einfluß genommen hat, daß die Mädchen gefangen gehalten werden? Zeuge: Aber, das war ja die Hauptmacherin. Angekl. (schreit auf): Gott im Himmel I . . . schrecklich!

Frau Hruby bestätigt im wesentlichen die Angaben ihres Gatten. Sie sagt aus, daß die Pollak öfters die Aufgabe hatte, die Mädchen vor ihren Anverwandten zu verleugnen.

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 39

Präs.: Und wenn eine ans dem Hause hätte fortgehen wollen, h&ite dies die Pollak zugelassen ? Zeugin (mit stark böhmisohem Akzent) : O, die Pollak hat's niemanden fnrtlassen. Der is kane ausknmmen ! (Heiterkeit.)

Frau Hruby war auch zweimal Zeugin von Mißhandlungen von M&dcben. Präs.: Sind Sie selbst auch mißhandelt worden? Zeugin : Ja. Einmal hat mir die Riehl das Fleisch, das die Köchin zu spät gebracht hat, und einmal gar ein gebratenes Hendel an den Kopf geworfen. Frau Riehl bestreitet die Mißbandlungen der Mädchen.

Marie Christ springt erregt auf und schreit: Ja, einmal hat sie mich furchtbar geprügelt, als ich fortlaufen wollte, und einmal hat sie mir das ganze Gesicht zerkratzt.

Verteidiger Dr. Rabenlechner : Wir haben jetzt zwei Tage lang schauderhafte Details über die Mißwirtschaft im Hause Riehl gehört. Ich muß deshalb nachdrücklich darauf hinweisen, daß Frau Riehl doch ein polizeilich toleriertes Haus besaß und daß die Polizei acht Jahre lang nicht nur Gelegenheit hatte, sondern sie auch be- nfitzte, durch Revisionen, die ihr pflichtgemäß oblagen, sich von den wahren Zuständen im Hause zu überzeugen. Diese Revisionen wurden vorgenommen, und von der Polizei wurde Frau Riehl in dieser langen Zeit nicht ein einziges Mal beanstandet. Wir müssen das feststellen, denn wir sind alle zur Feststellung der Wahrheit verpflichtet. Es kamen niedere und es kamen höhere Polizeibeamte ins Haus, sie verkehrten mit Frau Riehl und auch mit ihren Pensionärinnen und nie wurde Frau Riehl bemängelt oder polizeilich beanstandet Es ist Pflicht der Verteidigung, durch den Antrag auf Einvernahme dieser Polizeiorgane Klarheit darüber zu schaffen, ob Frau Riehl diese Frage ist wichtig für ihr subjektives Verschulden nicht vollkommen bona fide gehandelt, und ob sie nicht die be- ruhigende Überzeugung haben konnte, daß sie in Harmonie mit den gesetzlichen Vorschriften vorgehe«

Ich beantrage daher die Vorladung jener Polizeiorgane vom Kommissariat Aisergrund sowie auch von der Polizeidirektion, denen diese Revisionen oblagen. Einzuvernehmen sind danach: Polizei- agenten-Oberinspektor Oberhuber, Polizeiagenten-Inspektor Piß, der speziell über das Verhalten der Mädchen sowie über ihr Leben im Riehlsohen Hause zu deponieren in der Lage ist , ferner Polizeikommissär Zdrubek, der mit der Überwachung der Revisionen beauftragt war, und der Chefarzt kais. Rat Dr. Merta. Der Aegierungsrat Dr. Witlacil ist leider schon gestorben. Diese Herren

40 I. Der Prozeß Riehl und Konsoiten in Wien.

haben sämtlich auch bei jener Kommission fungiert, die die Ab- sperrangsraaßregeln im Riehlschen Hause intendierte. Zur Ein- vernahme des betreffenden Referenten vom Polizeikommissariat Aiser- grund beantrage ich ferner, daß er beauftragt werden möge, die Yorfindbaren Akten über den Fall vorzulegen, aus denen sich er- geben wird, daß alles in bester Ordnung und den gesetzlichen Be- stimmungen entsprechend befunden, ja daß sogar der Zufriedenheit tlber die vorgefundene Ordnung im Hause Riehl gegenüber der Be- sitzerin Ausdruck gegeben wurde. Wenn nun also der Frau Riehl, ich will nicht sagen, der Zoll der Anerkennung, aber doch mindestens die offizielle Zufriedenheit der kompetenten Faktoren ausgesprochen wurde, so mußte für sie ein Gefühl der beruhigenden Überzeugung von ihrer Schuldlosigkeit entstehen.

Da meiner Klientin auch vorgeworfen wurde, in mehreren Fällen Mädchen ohne die vorgeschriebenen Dokumente ihrem Ge- werbe zugeführt zu haben, bitte ich auch um die Vorladung der Arzte Dr. Husserl und Dr. Waldmann, (Präs. : Dr. Husserl ist ohne- dies vorgeladen), die insbesondere auch über jene horrenden Ge- schichten von den vertuschten Erkrankungen Klarheit zu schaffen haben werden. Ich bitte, meinen Anträgen gerade in diesem Mo- ment stattzugeben, damit das Bild der Zustände im Hause Riehl sofort nach dieser Richtung vervollständigt werde.

Der Staatsanwalt überläßt die Entscheidung über die Relevanz der beantragten Zeugen dem Gerichtshofe.

Der Vorsitzende erklärt, daß die Vorladung für heute nicht möglich sei, weil das Programm schon feststeht.

Zeugin Alb ine K. war Stubenmädchen bei Frau Riehl. Frau Riehl habe ihr den Auftrag gegeben, Briefe, die von den Mädchen abgesendet wurden, nicht herauszugeben, sondern zunächst ihr zu zeigen; ebenso mußten ankommende Briefe ihr übergeben werden. Präs.: Mit einem Mädchen, das „die Brünnerin'^ genannt wurde, soll sich einmal eine rohe Szene abgespielt haben. Zeugin: Das Mäd- chen kam einmal weinend aufs Zimmer, und als ich sie fragte, was geschehen sei, erzählte sie, ein Herr habe von ihr etwas Widerliches verlangt. Als sie sich weigerte, sei Frau Riehl, die an der Tür ge- horcht habe, hereingekommen und habe sie mit den Worten : „Du H . . . , glaubst du, daß ich dir umsonst Fressen und Unterstand gebe?" gezwungen, dem Herrn zu Willen zu sein. Frau Riehl stellt den ganzen Vorfall in Abrede.

Zeugin Anna Ch. war fünf Tage im Spital, konnte aber von 4ort nicht von Frau Riehl freikommen, da diese vor ihrer Ent-

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 41

lassaog dem Arzt und der Wärterin telephoniert hatte, das Mädchen

solle nur ihr übergeben werden, da sie es hingebracht habe. Das

Mädchen wurde dann von Frau PoUak abgeholt. Zn Hanse erklärte

die Zeugin der Frau Riehl, daß sie weggehen wolle. Unter wüsten

Sehimpfworten nahm ihr darauf Frau Riehl sämtliche Kleider weg.

Nur mit einem Rock und einer Bluse bekleidet konnte die Zeugin

trotzdem aus dem Hause laufen. Sie eilte auf das Kommissariat im

9. Bezirk, maehte dort die Anzeige, daß ihr Frau Riehl die Kleider

Yorenihalte und schilderte den ganzen Vorfall. Der Beamte, an den

sie gewiesen war, sagte ihr nur: „Na, machen Sie sich nix d'raus

und suchen Sie sich einen anderen Erwerb 1^ worauf er ihr ein

Dienstbotenbucb gab. Frau Riehl will sich an nichts erinnern.

Josef ine T. wurde als Blumenmädchen in einem Vergnügungs- etablissement mit Frau Riehl bekannt. Diese machte ihr später den Antrag, bei ihr einzutreten und sie nahm an. Präs.: Ist Ihnen etwas Yon Mißhandlungen der Mädchen bekannt? Zeugin: Ich bin einmal bei einem Streit von Frau Riehl und mehreren Mädchen so furchtbar geschlagen worden, daß ich mich nicht mehr rühren konnte und mehrere Tage krank zu Bette liegen mußte. Präs.: Sie sollen damals mit der Anzeige bei der Polizei gedroht haben? Zeugin: Ja, aber da ist die Frau Riehl wieder sehr freundlich ge- worden und ich habe keine Anzeige gemacht.

Präs.: Sie sollen dann noch ein zweites Mal geschlagen worden sein? Zeugin: Ja. Es war zwischen uns Mädchen ein Streit wegen der Puderschaohtel, an dem ich aber fast gar nicht beteiligt war. Auf einmal stürzte Frau Riehl ins Zimmer, fiel über mich her, schlug mich und kratzte mich und warf mich dann aus dem Hause hinaus. Präs.: Sie sollen gesagt haben: „Jetzt bleibe ich nicht länger, jetzt gehe ich und mache Anzeige bei der Polizei.^ Zeugin: Ja. Darauf schlug mich die Frau Riehl neuerdings, gab mir mein Kleid, in dem ich gekommen war, und warf mich hinaus. leh war ganz zerschlagen und zerkratzt und ging zur Polizei. Der Polizeikommissär sagte damals einem Beamten: „Laden Sie mir so- fort die Riehl yorl^ Ob sie vorgeladen worden ist, weiß ich nicht. Präs.: Sie haben angegeben, daß die Riehl mit der Polizei sehr gut stand, daß Gaste von der Polizei gekommen sind, die von Frau Biehl sehr gut aufgenommen wurden. Zeugin: Es sind Polizei- agenten gekommen, die von der Frau Riehl sehr gut aufgenommen wurden und denen sie auch mit Wein aufgewaHet hat.

Dr. Rabenlechner: Waren nur Polizeiagenten dort? Zeugin: Frau Riehl hat gesagt, es seien Polizeiagenten. Präs.: Und was

42 I. Der Prozeß RieHl und Konsorten in Wien.

ist weiter gesobehen? Zeugin: Nach zwei Tagen bin ich zu Frau Riehl gegangen, um meine Wäsche zu holen. Sie hat sie mir nicht gegeben, sie ist sofort mit einem Stock auf mich los und bat mich geschlagen ; mehrere Mädchen haben ebenfalls auf mich losgehauen, und ich war froh, als ich wieder draußen war. Als ich auf der Straße war, hat jemand vom ersten Stock aus einer Gießkanne Wasser auf mich herabgegossen. Präs. : Haben Sie überhaupt Ihre Wäsche zurückbekommen? Zeugin: Nein.

Präs.: Wieviel war Ihre Wäsche wert? Zeugin: Gegen 100 Kronen. Ich hatte sehr schöne Wäsche. Frau Riehl stellt alles in Abrede.

Verteidiger Dr. Rabenlechner (zur Zeugin): Wieviel haben Sie als Blumenmädchen täglich verdient? Zeugin: Fünf Gulden. Dr. Rabenlechner: Dann werde ich auch Blumenmädchen. (Heiterkeit.)

Die Zeugin Therese L. gibt an, die Riehl babe gesagt, als sie aus dem Hause austreten wollte: Du kannst schon gehen, aber zu- erst gehe ich zur Polizei, dann kommst du ins Arbeitshaus oder ins Kriminal. Präs.: Sind Mißhandlungen von Mädchen vorgekommen? Zeugin: Die Lisi hat Schläge bekommen. Die Zeugin erzählt, daß bei polizeilichen Revisionen Mädchen versteckt wurden; auch wurden kranke Mädchen vor dem Polizeiarzt verleugnet.

Es wird eine Reihe von ehemaligen „Pensionärinnen" des Sa- lons Riehl vernommen. Jede von ihnen hat dieselben Erfahrungen bei der Riehl gemacht.

Die Zeugin Aloisia St. ist ein auffallend hübsches, erst 19jährige8 Mädchen von schlankem Wuchs. Sie hat im Hause der Riehl den Rufnamen „Carmen'^ geführt und zu den Attraktionen gehört. Zu- geführt wurde sie der Riehl durch einen Mann, den sie im Kaffee- haus kennen lernte. Sie gibt an, daß sie eingesperrt gebalten wurde und nicht ausgehen konnte.

Präs.: Warum haben Sie sich das bieten lassen? Zeugin: loh mußte mich der Hausordnung fügen.

Die Zeugin ist, als sie einmal ins Spital kam, durchgegangen.

Zeugin: Ich war leider sehr häufig krank. Präs.: Weshalb sind Sie aber wieder zurückgekommen zur Riehl, da Sie doch ge- flohen sind? Zeugin (aufschluchzend): Aob, ich wollte mir ja eine Existenz gründen. Aber es ging nur schlecht. Ich konnte mich nicht aufraffen, ich mußte zurück. Jetzt habe ich alle möglichen Krankheiten und bin fürs Leben unglücklich. (Bewegung.)

Auf Verlangen des Verteidigers Dr. Rabenlechner verliest der Vorsitzende mehrere Briefe der Zeugin an die Riehl, die sehr herz-

I. Der Prozeß Riehl und KonsoAen in Wien. 43

lioh gehalten sind. Sie beginnen gewöhnlich mit ^Liebste Tante^ und Bchließen mit ^dankbarst^. Dr. Rabenlechner (zur Zeugin): Sind Sie zu diesen Briefen [auch gezwangen worden? Zeugin: Ft&u Pollak hat mich so beeinflußt.

Der 28jäbrige Speditionsarbeiter Josef Eolazia war im Jahre 1903 kurze Zeit Portier im Hause Riehl.

Präs.: War das Tor immer versperrt? ~ Zeuge: Stimmt. Alles war zug'sperrt. D' Glastür, 's Haustor, der Hof. I haV neamd eini- und außilassen dfirfen. Dr. Rabenlechner: Da konnten ja die Herren auch nicht herein. Zeuge (wurstig): Das ist mir alles eins. (Heiterkeit.) Das war mein Auftrag; is wer hinaus, war 's der Frau Riehl nicht recht, is wer herein, war 's der Frau Riehl net recht, (Zornig.) Der Frau war gar nichts recht. Pr&s.: Wie war Ihr Verdienst ? Zeuge : No, miserabel. Es war im Sommer . . . ka Saigon. Dr. Rabenlechner: Keine Fremden.

Der Zeuge erzählt, daß die Mädchen eines Tages mit der Riehl Streit hatten und alle durchgehen wollten. Ganz aufgeregt sei damals Frau Riehl die Stiege herabgelaufen gekommen und habe ihm zugeschrieen, alles zu versperren und die Mädchen, wenn sie hinabkommen, mit der Hundspeitsche hinaufzupeitschen.

Präs. (zur Riehl): Was sagen Sie zu dieser Aussage? Frau Riehl: Ich kann über den Mann nichts sagen; er und seine Frau waren ganz brav. Aber er hat nicht den richtigen Anstand gehabt. Präs.: Aber Frau Riehl, das ktimmert uns nicht, uns interessiert vielmehr, daß der Zeuge sagt, daß das Hans Riehl nicht anständig war. (Heiterkeit.) Zeuge: Es war mit an Wort nit zum Aus- halten, r wollt' dort bleiben und mir eine Stelle für den Lebens- lauf grtlnden. Es war aber nix! (Heiterkeit.)

Matthias Eehlendorfer und seine Frau waren Hausbe- sorger bei Frau Riehl. Sie bestätigten beide, daß die Riehl einmal nach der Züchtigung eines Mädchens, das entfliehen wollte, gesagt hat: Der h ab' ich jetzt ein paar tüchtige H .... watschen gegeben, die gebt mir nicht mehr durch.

Paula D. ist jetzt 20 Jahre alt. Mit 16 Jahren kam sie zur Riehl. Einmal bekam sie von einer Genossin, mit der sie das Bett teilen mußte, Krätze. Sie lag acht Tage zu Bett und wurde während dieser Zeit dem Polizeiarzt nicht vorgeführt. Als sie dann der PoHzeiarzt sah, sagte er: „Das ist eine Schweinerei." Obwohl sie noch mit der Hantkrankheit behaftet war, mußte sie „verdienen^. Nach der Mittagspause wird Aloisia H. als Zeugin einver- nommen, die unter dem Namen Christel im Hause Riehl war. Sie

44 I. Der ProzeB Ricbl und Konsorten in Wien.

wollte öfters fortgehen, erhielt aber von der Riehl die Erlaubnis nicht, weil sie Geld schuldig sei. Sie kam im Hanse Riehl in andere Umstände, kam in das Spital und wurde von dort durch die Pollak und die Hausbesorgerin Hölzl abgeholt und sofort wieder in das Haus der Riehl gebracht. Präs.: Haben Sie Schläge be- kommen ? Zeugin : Mehr als zu viel bin ich geschlagen worden. Präs.: Warum? Zeugin: Weiß ich nicht. Die Zeugin gibt an, daß sie niemals Geld erhielt. Angeklagte Riehl: Die Dame hat von mir Wein, Obst und Bäckereien bekommen, wie sie im Spital gelegen ist. Ich habe, ihr auch eine schöne Ausstattung f&r das Kind gemacht, sogar mit meinem Namen und Monogramm. (Große Heiterkeit.)

Präs.: Warum mit Ihrem Namen? Riehl: Weil das Kind mein Täufling war. Präs.: Sol Diese Vorkehrung hatte vielleicht eher den Zweck, daß Sie die Wäsche wieder wegnehmen konnten. Die Zeugin gibt noch an, daß das Kind inzwischen gestorben ist.

Die Zeugin Marie L. kam aus dem Spital zur Rieh). Sie war früher in Ungarn. Nur kurze Zeit war sie bei der Riehl. Die hatte die Zeugin im Verdacht, ein Komplott gegen sie zu schmieden. Daher hat die Riehl die Zeugin nach Preßburg geschickt, und zwar mußte der Bruder der Riehl das Mädchen auf die Bahn begleiten, die Fahrkarte lösen und es in den Waggon bringen. Vor der Ab- reise hat die Riehl die Zengin durchsucht, um Geld zu finden, und gab ihr dann eine Krone Zehrgeld. Die Zeugin wurde nicht ge- schlagen, weiß aber, daß andere Mädchen geschlagen wurden.

Angeklagte Riehl: Ich habe das Mädchen aus dem Spital be- kommen und kein Glück mit ihr gehabt, weil die Dame damals noch nicht so schön war, wie sie heute ist. Deshalb hab' ich ihr den Rat gegeben, nach Preßburg zu einer Frau zu fahren; die ist eine Anfängerin gewesen und hat das Mädel noch brauchen kgnnen. Mein Bruder ist aber nicht mitgefahren ; denn der ist ein Geschäfts- mann. (Heiterkeit.)

Die Zeugin EmilieN. ist 18 Jahre alt und gegenwärtig Arbeiterin. Sie wurde durch die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels einem anständigen Berufe zugeführt. Bei der Riehl führte sie den Namen „Grete".

Präs.: Wie lange waren Sie bei der Riehl? Zeugin: Nur vierzehn Tage. Ich wurde von der Frau Hübel hingebracht. Präs.: Aber das erstemal wollte Sie ja die Frau Riehl nicht nehmen. Zeugin (sehr verlegen): Ja . . . ich bitte, ich war damals noch ganz ehrbar. Frau Riehl schickte mich fort und sagte, ich

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 45

müßte vorher mit einem Mann ein Liebesverbältnis anknttpfen.

Denn so gehe es nicht. Ich kam dann wieder und sagte, ich sei

Qoeh immer ehrbar. Dann nahm sie mich.

Präs.: Wie alt waren Sie, als Sie in das Hans Riehl kamen?

Zengin: Sechzehn Jahre.

Angeklagte Riehl : Aber ich bitte, sie ist auch schon auf die Straße gegangen. Zeugin (laut weinend): Das ist nicht wahr, ich war froher solid nnd bin es jetzt auch. Ich dulde das nicht, bitte, Herr Hofrat ... Riehl (mit einer Handbewegung): Na, na. Prfts.: Beschimpfen Sie die Zeugin nicht.

Die Zeugin Rosa M., die nur schlecht Deutsch spricht, wird mit Hilfe eines tschechischen Dolmetschers einvernommen. Zeugin: Ich war frisch und jung und bin bei der Riehl ruiniert worden. Prfts.: Haben Sie auch Schläge bekommen? Zeugin: Ja, einmal, weil ich noch nicht frisiert war, als ein Herr kam.

Der Vorsitzende konstatiert, daß die Zeugin, als ihre Schwester in das Haus der Riehl kam, als Dienstbote gekleidet wurde, damit die Schwester nicht merke, welches Gewerbe die M. ausübe.

Präs.: Haben Sie bei Ihrem Eintritt gewußt, in welches Haus Sie kommen? Zeugin: Am ersten und zweiten Tage nicht. Die Frau, die mich hinbrachte, sagte mir, ich komme auf einen „guten Platz''. Ich wurde auch zuerst in der Küche beschäftigt.

Dr. Rode: Erzählen Sie doch von den Vorgängen, als Sie ein- mal auf Urlaub in Ihre Heimat reisen durften. Zeugin : Ich habe einmal sechs Tage frei bekommen und bin nach Hause gefahren. Bald darauf kam die Pollak. Sie fuhr zu mir nach Brunn. Dr. Rode: Dort wurde die Pollak im Bahnhof als Mädchenhändlerin verhaftet. Zeugin: Ja, aber sie wurde wieder entlassen. Dr. Rode: Der Wachmann hat sie aber gewarnt, und ihre Expedition ftr das Haus Riehl war vereitelt. Frau Pollak (ringt die Hände) : Nein, so was! Das ist ja nicht wahr! Frau Riehl (schiebt die Pollak zur Seite): Aber Herr Hofrat I Das Mädel war ja krank, wie sie zu mir kam, und war ja beim Geschäft lange ehe sie zu mir gekommen ist. Übrigens ist sie ja nur zu mir gekommen, um Deutseb zu lernen. Dr. Pollaczek : Sie müssen so eine Art Berlitz-School gehabt haben. Eine fremde Sprache wurde allerdings in Ihrem Hause für viele der Mädchen gesprochen. (Bewegung.)

Die Zengin Elisabeth Str., ein sehr hübsches Mädchen, ist gegen- wärtig Easaiererin. Auf eine Frage des Vorsitzenden sagt sie: loh bin von meiner Mutter an die Riehl um fünf Gulden verkauft worden. Präs.: Ist es richtig, daß Mädchen vor der ärztlichen

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Visite verborgen gehalten wurden? Zeugin: Ja, das ist riehtig. Sie wurden im Speisesalon verborgen gehalten. Präs.: Ist es richtig, daß sie mit den Gästen zechen mußten? Zeugin: Ja, wir mußten Champagner mit ihnen trinken. Die anderen Damen werden es sagen, wie betrunken ich oft war. Ich bin oft hinausgegangen, habe mich niederlegen wollen mit meinem wtlsten Kopf. Aber ich wurde wieder in den Saal zurückgetrieben. Riehl (ruft): Das ist schrecklich! Zeugin (fortfahrend): Manchmal bin ich eine Stunde in meinem Zimmer gelegen. Dann mußte ich wieder in den Salon hinein. In der Früh' hat man mich dann in die Kaserne hinauf- geführt, so weg war ich. Dr. Rode: Was ftir Preise wurden den Gästen angerechnet? Zeugin: Je nachdem die Leute waren. Ich habe auch fünfzig Gulden fbr eine Flasche Champagner verlangt. Der übrig gebliebene Wein wurde zusammengeschüttet und wieder verkauft Dr. Rode: Guten Appetit 1

Die Zeugin erzählt dann, daß sie sich einmal von einem Herrn mit einer Peitsche blutig schlagen lassen mußte. Sie wurde dann zu einem Arzt geschickt und mußte abends wieder in den Salon.

Zeugin: Ich bin auch einmal von der Riehl mit einem Messer geschlagen worden. Dr. Rabenlechner: Also ein Mordversuch; fehlen nur mehr die Einmauernngen.

Dr. Rode fragt die Zeugin nach den Besuchen des Agenten Piß. Zeugin: Der Agent Piß ist öfter hinaufgekommen, ein- bis zweimal in der Woche. Dr. Rode: Was hat er dort getan? Zeugin: Er ist zur Revision gekommen. Dr. Rode: Haben Sie gesehen, daß ihm die Riehl Geld gegeben hat? Zeugin: Ja, sie hat ihm einmal etwas in die Hand gedrückt. Es müssen drei oder vier Silbergulden gewesen sein. Dr. Rode: Haben Sie auch ge- sehen, daß er der Riehl gezahlt hätte? Zeugin: Niemals. Er hat sich unterhalten, aber nie gezahlt.

Dr. Rode: Was nennen Sie: sich unterhalten? Zeugin: Er hat dort Wein getrunken und mit der Frau geplaudert. Dr. Rode. Also mit einem Wort : Er hat die Revision durchgeführt, wie einer, der die Revision nicht ernst nimmt*

Die nächste Zeugin Angela G. wollte, nachdem sie einige Zeit bei der Riehl war, aus dem Hause entlassen werden. Die Riehl wollte dies nur unter der Bedingung gestatten, daß das Mädchen nach Budapest reise, um in ein ähnliches Haus einzutreten. Sie ließ sich zum Bahnhof bringen, fuhr aber nur eine Station weit und kehrte dann nach Wien zu ihren Verwandten zurück.

Elise L. ist durch die Hügel zur Riehl gebracht worden, Ihr

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 47

Vater wußte nichts von diesem Aufenthalt. Als Elise fort wollte, wurde sie von der Riehl an den Haaren gezerrt und an die Salon- tflr angeschleudert.

Riehl : Das Mädel hat nichts getaugt loh hfttte ihr erst Zähne machen lassen müssen. (Heiterkeit.) Eine andere Frau hätte sie gar nicht genommen, weil sie keine Zähne hatte. Sie hat ja heute noch keine.

Votant L6R. Spitzkopf^ Warum schaffen Sie sich solches Material an? (Heiterkeit.) Präs.: Frau Riehl, Sie sprechen hier gegen Ihre Mädchen in einem scharfen Tone, der auf vieles schließen läßt. Riehl: Ich muß sagen, was wahr ist.

Malke ChajeN. war vier Tage ohne Buch bei der Riehl. Ihr Vater wollte die Zustimmung nicht geben. Bei der Polizei gab sie an, sie hale nur einen Vormund, der werde wahrscheinlich ein- willigen. Ihr Vater ist nämlich nur nach jüdischem Ritus, nicht nach dem bürgerlichen Gesetz verheiratet und gilt vor dem Gesetz nur als Vormund. Als die Einwilligung verweigert wurde, kam Polizei, um sie zn holen. Da wurde sie in einem Kasten versteckt. Dann scbiokte die Riehl sie weg und gab ihr 10 Kronen.

Riebl: Sie hatte sich selbst in den Kasten versteckt, sie wollte nicht fort von mir. Die Winkler, die damals die Kastentür zuhielt, bestätigt dies.

Juliana B. wurde durch einen gewissen Michel in das Haus Kiehl gebracht, unter Vorgabe, daß sie einen Dienstbotenposten er- halte. Das Mädchen gibt an, vier Tage in einem Zimmer ein- gesperrt gewesen zu sein, sodaß es ihr nicht einmal möglich war, auf den Anstandsort zu gehen. Das Essen wurde ihr auf das Zimmer gebracht. Die Mutter des Mädchens erhielt erst später Nachricht von dem Verbleib ihres Kindes und gab nicht die Er- laubnis fbr den weiteren Aufenthalt.

Sowohl die Riehl als auch die Pollak bestreiten die Angaben der Zeugin. Die Riehl beruft sich auf die Angeklagte Gönye, mit der die Juliana in einem unversperrten Zimmer geschlafen habe. Die Gönye bestätigt zwar diese Angabe der Riehl, muß aber auf Befragen des Präsidenten zugeben, daß dem Mädchen das Essen in das versperrte Zimmer gebracht wurde.

Die Angeklagte Riehl ruft mit schluchzender Stimme aus: Man glaubt mir hier nichts 1 Ich müßte närrisch sein, wenn ich das alles getan hättet Ja, da wäre ich eine Närrin gewesen!

Der Vorsitzende konstatiert aus einem Akt des Bezirksgerichtes Floridsdorf, daß die Mutter der Zeugin eine Abgängigkeitsanzeige

48 I- Der Prozeß Rieh] und KonBorten in Wien.

bezüglich ihrer Tochter erstattete, als das Mädchen im Hanse der Riebl war. Diese Anzeige führte zur Auffindung des M&dchens.

Zeuge Leopold Haller war im Sommer 1905 sechs Wochen Hausmeister bei der Riehl. Er durfte keine M&dchen aus dem Tore hinauslassen. Briefe fbr die M&dchen wurden von der Frau Biehl übernommen. Nicht einmal die Dienstboten durfte er auf die Straße lassen. Präs.: Wer hat dann die Einkäufe gemacht? Zeuge: Nur die „lange Tini^ ; das war die einzige, die ich hinauslassen durfte.

Der Zeuge erzählt weiter, daß einmal ein furchtbares Geschrei aus dem Badezimmer zu hören war. Er sagte der Frau Riebl: „Da bringen s' eine uml'' Die Frau gab ihm den Schlüssel, er eilte hinauf und sab, wie eines der Mädchen von dem anderen furchtbar geschlagen wurde. Die Riehl kam auch hinzu und rief der 6e* sclilagenen zu: „Geschieht Dir schon recht, Kanaille, weil du fort hast wollen!*'

Präs.: Zur Aufklärung dieses Falles sei erwähnt, daß das ge- schlagene Mädchen einmal fliehen wollte, aber daran gehindert wurde. Seitdem wurde allen der Spaziergang im Garten yerboten. Das erbitterte die anderen Mädchen, und sie rächten sich an der Veranlasserin dieser Maßregel.

Riehl: Ich will nur bemerken, daß ich diesen Herrn (auf den Zeugen weisend) entlassen habe, weil er rabiat und ein Trinker war»

Sanitätsaufseher Karl Weber wohnte vom Mai 1904 bis Mai 1905 in der Habngasse Nr. 12 in einer Wohnung, von deren Fenstern aus man in den Hofraum des Riehischen Hauses blicken konnte. Er wurde auf die Zustände im Hause Riehl aufmerksam, als wieder- holter Tumult von dort seine Nachtruhe störte. Einmal beobachtete er, wie Frau Riehl ein Mädchen bei den Haaren zog. Das Mädchen jammerte laut. Er rief hinüber, man solle doch endlich Ruhe halten. Die Riehl gab ihm eine ordinäre Antwort.

Der Zeuge erzählt weiter : Am nächsten Tag ging ich selbst zur Riehl, traf sie gerade im Hausflur und machte ihr Vorstellungen. Sie antwortete mir mit dem Zitat aus „Götz von Berlichingen".

Die Skandale waren so häufig, daß ich an die kleinen Ruhe- störungen schon gewöhnt war. Einmal aber gab es wieder großen Tumult. Ich hörte zanken, dann das Klatschen von zwei Ohrfeigen und die weinende Stimme eines Mädchens, das rief: ^Lassen Sie mich doch gehn, ich kann ja nichts dafQrl^ Da meine früheren schriftlichen Anzeigen bei der Polizei nichts genützt hatten, ging ich nun persönlich zum Kommissär des Bezirkes. Er sagte mir nur: „Da ist nichts zu machen, die Polizei muß sich mit anderen Dingen

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 49

befassen als mit solcheD EleinigkeiteD.^ Daraufhin anterließ ich jede weitere Aktion und zog aus dem Hause aus.

Präs.: Haben Sie bemerkt, daß sich die Mädchen der Biehl unanständig benommen hätten? Zeuge: Von den Mädchen war ja nur sehr selten etwas zu sehen; sie waren, wie die Nachbarn alle behaupteten y tagsüber eingesperrt. Präs.: Ihr Eindruck ist also, daß nicht das Benehmen der Mädchen, sondern ihre Behandlung durch die Riehl die Skandale veranlaßt hat? Zeuge: Ja.

Die Riehl behauptet, den Zeugen nie gesehen zu haben; was er sage, sei unwahr.

Es werden Protokolle über die Aussagen anderer Zeuginnen verlesen. In einem Protokoll heißt es, die Riehl habe den Mädchen nicht nur das Geld weggenommen, sondern auch die Bonbons, die sie von den Herren bekamen, weil sie dieselben zu Giardinetto ver- wendete. Eine andere Zeugin hat zu Protokoll gegeben, sie habe sieh selbst mit den Fingernägeln Verletzungen beigebracht, um ins Spital zu kommen, weil sie von dort entfliehen wollte.

In einem Protokoll gibt eine ehemalige Insassin des Hauses Riehl ihre Erlebnisse in dem Hause wieder und erzählt, daß ihr Vormund sehr bald seine Zustimmung zu ihrem Aufenthalt in diesem Hanse gab. Dr. Pollaczek : Herr Präsident haben in begreiflicher Zurückhaltung den Namen dieses Vormunds nicht genannt. Ich möchte aber doch hier darauf hinweisen, daß der Vormund der Bürgermeister eines nicht unbedeutenden Ortes in Niederösterreich ist. (Lebhafte Bewegung.)

Dr. Rabenlechner: Warum nennen Sie denn den Namen nicht, Herr Kollege? Dr. Pollaczek: Wir haben doch beschlossen, keine Namen zu nennen. Dr. Rabenlechner: Na, der Bürger- meister verdiente schon angenagelt zu werden.

Dr. Rabenlechner bittet hierauf den Präsidenten um Vorlesung der von ihm vorgelegten Briefe, die ehemalige „Damen'' des Hauses nach ihrer Entlassung an Frau Riehl gerichtet haben.

Die Verlesung dieser Briefe scheitert jedoch schließlich an der, wie der Präsident bemerkt, geradezu unmöglichen Orthographie der Sohreiberinnen. Ein Mädchen schreibt an Frau Riehl: „Ich bitte zu Gott, daß er Ihnen alles Gute vergelte, was Sie an mir getan haben. Die Mutter läßt sich auch vielmals bedanken für alles Gute, was Sie ihr getan haben." Der Brief endigt schließlich mit der Bitte um ein kleines Darlehen . . .

Die Angeklagte Madzia, die nach ihrer Einvernahme durch den Unteranchnngsriehter spurlos verschwunden ist, schreibt an Frau

Axcbfr fBr Kriminalaathropologia 27. Bd. 4

50 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Riehl: „So gut, wie es mir bei Ihnen gegangen ist, werde ich es in der ganzen Welt nicht wieder finden/ Der Präsident bemerkt hierzu: Es wird später auch das mit der Madzia aufgenommene Protokoll verlesen werden, das allerdings wesentlich andere Aus- sagen enthält.

Verteidiger Dr. Babenlechner: Yariabile quidquam est mulier. (Heiterkeit.)

Die Aussage des Zeugen Ernst Pollak wird verlesen, auf dessen Wahrnehmungen hin der Journalist Emil Bader seine Beob- achtungen im Hause Biehl begann. Der Zeuge ist zur Verhand- lung nicht erschienen.

Protokoll:

„Im Sommer 1903 erfuhr ich, daß die Riehl junge Mädchen aus BQrgerfamilien den Herren zur Verfügung stelle. Ich ging hin, und sie führte mir zwei Mädchen in netter Straßenkleidung vor. Ich wählte eine davon und ging mit ihr aufs Zimmer. Dort begann das Mädchen bitterlich zu weinen und klagte mir, sie sei von der Pollak hierher gebracht worden und werde hier gegen ihren Willen festgehalten. Ich wollte sie befreien und sagte, als ich das Zimmer verließ, ich wolle mit dem Mädchen fortgehen. Die Pollak faßte das Mädchen aber gleich beim Arm und zog es fort. Sie sagte: „Das Fräulein muß erst ^in Bad nehmen.^' Darauf ging ich in ein Gaf6, brachte dort meine Beobachtangen zu Papier und trug dann das Geschriebene aufs Kommissariat, wo ich die Angaben auch mündlich ergänzte. Der Kommissar sagte mir: „Die Riehl macht immer solche Geschichten.** Dann hörte ich nichts mehr von dieser Affäre. Vor anderthalb Jahren kam ich in das Haus in der Grüne- torgasse. Ich erkannte die Riehl sofort wieder; sie mich auch. Sie sagte zu dem Mädchen : ^.Das ist der Herr, der mich der Polizei anzeigen wollte." Ich ging mit der Marie König auf das Zimmer; es fiel mir auf, daß sie sehr niedergeschlagen war. Als ich sie dann ein zweites Mal besuchte, schottete sie mir ihr Herz aus. Sie klagte mir über die Sklaverei und Freiheitsberaubung und über die maßlose Ausbeutung und Brutalität, die sie in diesem Hause erdulden müsse.

Ich versprach ihr, mich der Sache anzunehmen und ihr einen Rechtsfreund zu schicken. Ich vroUte jedoch nicht, daß mein Name in der Affäre genannt werde, da ich verlobt bin. So erzählte ich die Sache dem mir bekannten Redakteur Emil Bader, von dem ich wußte, daß er einflußreiche Verbindungen hat. Das nächste Mal fragte ich die König, ob „mein Mann" schon dagewesen sei. Sie

I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien. 51

veraeinte das und sagte, sie habe große Angst vor der Riehl. Sie zeigte mir blaue Flecke, die von den Mißhandlungen der Riehl herrührten. Daraufhin wandte ich mich abermals an den Redakteur Bader, und es gelang uns mit Hilfe der Polizei, die König aus dem Haase zu schaffen. Bader und ich gaben ihr etwas Oeld, damit sie die erste Zeit leben könne. Die Riehl wußte nun, daß etwas gegen rie unternommen werde, und als sie mich wieder sah, sagte sie: ,Was soll ich nun machen; ich kann doch den Bader nicht be- stechen. Wenn ich zugrunde gehe, dann richte ich auch andere zQgrnnde.^ Ich glaube, daß diese Drohung mir galt; denn sie glaubte, daß ich verheiratet bin, und wollte mich meiner Frau als Besacher des Bordells denunzieren I^

Die Riehl erklärt, die Angaben Pollaks seien ein Akt der Rache. Pollak habe ihr selbst nachgestellt, und als sie ihn zurückwies, habe er die Aktion gegen sie begonnen.

Der Zeuge Emil Bader, Redakteur des „Extrablatt^ berichtet:

Ein mir bekannter Herr Ernst Pollak besuchte mich in der Redaktion und bat mich um meine Intervention zur Befreiung der Marie König, genannt Liesel, aus dem Hause Riehl. Er erzählte, dieses Mädchen werde arg mißhandelt und gewaltsam verhindert, sich aus dem Hause zu entfernen. Herr Pollak hatte nicht die Ab- sieht, Material f&r eine Veröffentlichung im „Extrablatt*' zu geben, sondern forderte bloß meine Privatintervention. Ich wendete mich gemeinsam mit ihm an den Verein „Heimat^ und an die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Dieser Verein teilte uns mit, er habe wiederholt Klagen und Beschwerden über die Vorgänge im Hause Riehl eingereicht.

Kurze Zeit darauf erzählte mir Herr Pollak die Lebensgeschichte der Liesel. Sie war von einer Mädchenhändlerin Hofmann auf der Straße angesprochen worden, die sie der Riehl zuführte. Das Mädchen war unberührt, und so mußte sie die Hofmann erst für den „Beruft präparieren. Ein Herr auf der Straße wurde dazu veranlaßt.

Präs.: Glauben Sie, daß dies auf Aufforderung der Riehl geschah? Zeuge Bader: Gewiß; denn die Riehl hatte erklärt, sie könne das Mädchen sonst nicht brauchen. Die Hofmann wartete auf der Straße und ttberlieferte das Mädchen sofort der Riehl.

Bei einem dritten Besuch erzählte mir Herr Pollak, die Liesel beklage sich sehr, weil bisher nichts für sie geschehen sei. Das Mädchen hatte ihm noch mitgeteilt, daß ihr Vater von der Riehl eine monatliche Zahlung erhielt, während es seit vier Jahren keinen Kreuzer erhalten habe. Nun erst entschloß ich mich, der Sache

52 1. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

näherzutreten. Meine ersten Yersnche, von der Straße oder aus den Fenstern benachbarter Wohnungen zu beobachten, waren erfolglos» So mußte ich mich entschließen^ das Haus der Riehl zu betreten, um wahrheitsgetreue Mitteilungen machen zu können. Im Hause sprach ich bald mit der Liesel, der ich Namen und Stand offenbarte. Erst nachdem ich ihr Mißtrauen zerstreut hatte, machte sie mir Angaben, die mir zu meinem ersten Artikel im „Extrablatt^ vom 24. Juni 1906 den Stoff gaben. Das Mädchen erzählte von der „Kaserne^, der Einsperrung, den Mißhandlungen, der Tagesordnung, gleichzeitig aber auch davon, daß sie mit allen Mitteln verhindert werde, sich einem anständigen Lebenswandel zuzuwenden.

Ihr Vater zwinge sie durch Prügel, im Hause zu bleiben, und drohe ihr, sie in ein Arbeitshaus zu bringen, wenn sie das Haus Riehl verlasse. Der Vater zwang sie solange, bis sie niederkniete und die Riehl um Verzeihung bat und sie anflehte, sie nur ja wieder im Hause zu behalten. Als ich sie fragte, ob sie sich nicht einem Gast habe anvertrauen können, erwiderte sie, daß ihr ein Teil alle die Scheußlichkeiten nicht glauben wollte, die wenigen, die ihr glaubten, nichts für sie tun zu können erklärten, weil ihre gesell- schaftliche Stellung sie hindere, in derartigen Dingen etwas zu tun, oder weil sie verheiratet waren und ihre Bekanntschaft mit dem Hause nicht verraten durften!

Ich fragte, warum sie nicht einer der Amtspersonen, die revi- dierten, eine Mitteilung gemacht habe. Das Mädchen antwortete wört- lich: „Frau Riehl steht mit der Polizei auf viel zu gutem Fuß. Sie er- fährt es sicher, wenn ich mich beklage, und der Erfolg wäre nur> daß die Prügel für mich noch viel ärger werden."

Der Zeuge hat sich bei der Liesel auch nach den ärztlichen Revisionen erkundigt. Sie seien sehr mangelhaft geführt worden und finden statt, während sich die Pollak und die Riehl im Neben- zimmer befinden. Mit jäher Bewegung, fährt der Zeuge fort, zeigte mir nun die König, indem sie das Hemd lüftete, große Striemen am ganzen Körper und ausgedehnte Blutunterlaufungen. Nach der Ursache dieser Verletzungen gefragt, erklärte das Mädchen: ^^Im Hause verkehren viele „Prügelherren", für die Hundspeitschen und Ruten zur Verfügung stehen. Die Mädchen werden durch Ver- sprechungen, Drohungen und Mißhandlungen dazu gezwungen, diesen Herren zu Willen zu sein; deshalb sehen wir so aus. Für das Prflgeln besteht ein eigener Tarif, demzufolge sie 50 bis 100 Kronen bezahlen müssen. Wir Mädchen haben aber nur die Prügel davon . . .*•

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 53

Der Zeuge bat 68 vergeblich unternommen, das Polizeikommissariat Alsergrund ftir die Sache zu interessieren. Es waren bereits anonyme Anzeigen dorthin und an die Staatsanwaltschaft gelangt, die ohne Erfolg blieben.

Der Zeuge mußte sich zu einem zweiten Besuch im Hause Riehl entschließen. ^Ich hatte kurz vorher den PoUak getroffen, der mir mitteilte, daß im Hause große Aufregung herrsche, da zwei Mädchen einen Fluchtversuch gemacht hatten. Einem der Mädchen gelang die Flucht, die zweite wurde am Haustor erwischt und formlieh fiber die Stiege hinaufgeprflgelt. PoUak sagte mir auch, die Liesel beginne an ihrer Befreiung zu zweifeln. Als ich meinen zweiten Besuch machte, war ich Zeuge einer widerlichen Szene. Schon als leb in das Haus eintrat, horte ich durch die verschlossene Glastttr lautes Rnfen und Schreien: „Halts Maul, elende E . . . ., ich werde dich und die anderen L . . . schon parieren lernen^. Gleich darauf hörte ioh eine Bemerkung: „Ein Herr ist da!^ und gleich war es still. Im ersten Stock trat mir eine Frau mit allen Zeichen der Erregung entgegen. In der Hand hielt sie eine eiserne Ofenstange. Es war Frau Riehl, die ich zum erstenmal sah.

Der Zeuge Bader ersuchte bei seiner ersten behördlichen An- zeige den Herrn Polizeikommissar Psenicka sofort, das Mädchen nicht durch den dem Prostituiertenreferat zugeteilten Agenten Piß, sondern durch einen anderen Agenten abholen zu lassen, dem aber der Zweck des Auftrages nicht zu verraten sei. Diese Mahnung zur Vorsicht wurde von dem Beamten befolgt. Als der Polizeiagent zum erstenmal im Hause Riehl erschien und die König zu sprechen verlangte, wurde diese verleugnet. Man sagte, sie sei mit einem Herrn ins Kaffeehaus gegangen ; sie war jedoch in einer Kammer im ersten Stock eingesperrt worden. Der Agent kam zum zweitenmal. Man sagte ihm, das Mädchen sei noch nicht zurttckgekehrt, und man wolle nach ihr schicken. In Wirklichkeit hatte man sie in das Klosett im dritten Stock geschafft. Als der Agent wegging, wurde das Mädchen in den vierten Stock gebracht und in die Privatwohnung der Frau Riehl gesperrt. Als der Agent wiederkam und Frau Riehl einsah, daß das Versteckspielen erfolglos sei, wurde die Marie -König in Straßenkleider gesteckt, gleichzeitig aber beauftragt, dem Beamten bei der Vor- stellung zu erzählen, man habe sie eben erst aus dem Kaffee* bans geholt. Man schtlchterte sie mit der Drohung ein, man werde sie ins Arbeitshaus stecken, wenn sie etwas ttber Frau Riehl Un- gflnstiges aussage. Nun erst wurde sie dem Agenten übergeben.

Votant Dr. Spitzkopf: Herr Zeuge, haben Sie einmal 6e-

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legenheit gehabt, mit Herrn Konig zu sprechen? Zeuge: Nur einmal, als sich die Sache seiner Tochter bereits bei der Polizei befand und ich ihm vorhielt, daß er seine Tochter so behandle. Präs.: Hat das Mädchen erzählt, ob die geleisteten Zahlungen der Biehl an ihren Vater eine Abzahlung fbr den angeblichen Schaden war, den seine Tochter ihm als Schulmädchen bereitet hat? Zeuge: Von einem solchen Schaden ist mir nichts bekannt

Dr. Rode : Mußte Marie König, als sie durch Sie befreit wurde, erst an den Oebrauch der Freiheit gewöhnt werden? Zeuge: Das war ganz eigentümlich. Sie war eine Wienerin und hat sich infolge der langen Gefangenschaft in den Straßen gar nicht ausgekannt. Sie bewegte sich auf der Straße gaaz linkisch, stieß an die Passanten an und war schwer zu bewegen, die Fahrstraße zu ttbersehreiten.

Dr. Rode: Ist es Ihnen bekannt, daß das Mädchen einmal einen Zettel auf die Straße warf, mit der Bitte, man möge sie von der Riehl befreien. Zeuge: Das ist richtig, das hat sie mir auch erzählt.

Zeuge ging mit der Liesel und dem Polizeiagenten Piß in das Haus der Rieht. Er forderte sie auf, sich in keine Aus- einandersetzungen einzulassen und sich mit dem zufrieden zu geben, was sie von der Riehl erhalten werde. Während er im Vorzimmer wartete, erhielt die König Schuhe, Hemden und Schürzen und der Zeuge hörte die PoUak der Liesel ins Ohr flüstern, sie solle nach- mittags ins Oafö Scheidl kommen, wo ihr etwas Wichtiges mitgeteilt werde. Seither, deponiert der Zeuge weiter, hat sich die Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels der König angenommen, sie geht einem anständigen Erwerb nach und überall wird ihr das beste Zeugnis ausgestellt. Die Riehl übergab der König, wie sie sagte, 100 Kronen Lohn; es waren aber nur 80 Kronen. Herr Bader er- hielt viele Mitteilungen, manche anonym, andere von Personen in hohen Stellungen, so von einem aktiven Diplomaten und einem höheren Offizier, die nicht genannt werden dürfen.

Herr Bader erzählt den Fluchtversuch eines Mädchens, das nachts vom ersten Stock aus auf die Straße sprang und sich dabei einen Fuß beschädigte. Sie wurde von einem Einspännerkntseher bemerkt und wieder in das Haus zurückgebracht. In derselben Nacht kam ein Dienstmädchen der Riehl zu dem Rayonsposten in der Porzellangasse, dem Wachmann Pobola, und erkundigte sich nach der Adresse des Arztes Dr. Husserl, den sie holen müsse, weil sich etwas im Hause zugetragen habe; was, dürfe sie nicht sagen. Der Wachmann schöpfte Verdacht und verständigte seinen vor-

I.Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. B5

gesetzten Inspektor, der sieh mit ihm zum Hanse der Riebl begab, jedoch nieht eingelassen wnrde, obwohl er sich auf seine amtliche Eigenschaft berief. Erst nach langem Warten erschien die Riehl und rief dem Inspektor zu : „Was machen S' denn für an' Skandal ; '8 is ja nix g'sohehn, ich bin über die Stiegen gYallu, das is das ganze.* Von Dr. Husserl erfuhr der Wachmann jedoch den wahren SachTcrhalt. Es wurde eine Meldung darüber erstattet, über deren Schicksal jedoch nichts bekannt wurde.

Auf dem Wege zum Kommissariat Aisergrund, den er in Ge- sellschaft der König machte, traf der Zeuge die Anna Christ. Sie erzählte, daß sie Blusennäherin war und von der PoUak häufig aufgefordert wurde, im Maison Riehl für Kost, Quartier und Lohn zu arbeiten. Im November 1904 hatte die Christ, die damals 16 Jahre alt war, einen Streit mit ihrer Mutter und trat deshalb bei Riehl .ein, wo sie, vierzehn Tage lang in einem Zimmer eingeschlossen, Blasen nähen mußte. Einmal, als sie bereits im Bette lag, kam Frau Pollak in ihr Zimmer, flüßterte ihr erregt zu, die Polizei sei im Hause, sie möge sich ruhig verhalten. Zugleich drängte sie sie aus dem Zimmer und schob sie in den Italienischen Salon. Sie be- merkte, daß ein Herr im Zimmer war, der sich auf sie stürzte und sie au& Bett warf. Ihr Schreien und ihre Hilferufe blieben unbe- achtet. Einige Tage vorher war das Mädchen in das gemeinsame Schlafzimmer der Damen geführt worden ; sie wurde entkleidet und betrachtet.

Der Zeuge schildert die bekannte Szene im Badezimmer. Nach dem Gewaltakt wurde Anna Christ krank, man brachte sie ins Rndolfsspital. Frau Riehl gab ihr 10 Kronen Lohn.

Frau Riehl erklärt die Angaben des Herrn Bader für falsch. Der Zeuge habe ein Interesse daran gehabt, sie „schwarz zu machen*^. Verschiedene Leute haben ihr erzählt, Bader habe die Sache nach seiner eigener Angabe nur aufgerührt, damit das „Extra- blatt^ eine doppelte Auflage habe. Vors.: Selbst wenn das wahr wäre, ändert es an der Sache nichts.

Polizei-Inspektor Johann Seidel erzählt, daß er auf die Angaben des Herrn Bader hin zur Riehl gegangen sei, um die König zu ver- nehmen. Diese wurde vor ihm verleugnet. Er wollte die Hoseh zur Polizei bringen; die Riehl bestand aber darauf, mitzufahren. Auf dem Kommissariat ließ er die Riehl draußen warten, während er mit der Hosch sprach. Er bemerkte, daß die Riehl wiederholt den Versuch machte, in ihr Haus zurückzukehren, er hinderte sie daran. Er ging dann allein in das Haus der Riehl und fragte die

56 I. Der Prozeß Riohl und Konsorten in Wien.

Pokorny, die ihm öffnete, ob die König da sei. Trotz seiner ein- dringlichen Ermahnung, die Wahrheit zu sagen, verneinte sie es. Die König kam einmal morgens ins Kommissariat. Er ließ dem Redakteur Bader telephonieren, erhielt aber die Auskunft, Bader sei vor 9 Uhr nicht im Bureau. Er wollte die König auf eine Stunde fortgehen lassen; diese aber sagte, sie f&rchte sich, das Kommissariat zu verlassen, man lauere ihr draußen auf. Er sah nach und bemerkte die PoUak, die draußen wartete. Inspektor Seidel schaffte die Pollak ab und behielt die König da.

Die Riehl behauptet, die König sei auf ihr eigenes Verlangen verleugnet worden.

Die Zeugin Johanna K. war Dienstmädchen im Hause der Riehl. Sie kam durch das städtische Dienstvermittlungsamt dort- hin. Sie war noch minderjährig, durfte also nach den polizeilichen Vorschriften von der Riehl als Dienstmädchen nicht genommen werden. Sie erhielt 16 Kronen Monatslohn. Sie hatte häusliche Arbeiten zu besorgen, von der Einrichtung der „Kaserne^ habe sie nichts gesehen.

Vors.: Haben Sie mit den Mädchen gesprochen. Zeugin: Nur wenig. Vors.: Haben Ihnen nicht Mädchen gesagt, daß sie durchgehen wollen. Zeugin: Ja. Zwei Mädchen. Auf weiteres Befragen erklärt die Zeugin, daß sie Briefe, die von Mädchen abgesendet wurden, der Riehl übergeben mußte; sie über- nahm auch alle Briefe, die einlangten.

Im weiteren Verlauf des Verhörs wird die Zeugin sehr zurück- haltend. Sie gibt an, daß häufig Mädchen geprügelt wurden. Den Anlaß hierzu gaben „Frechheiten^ der „Damen^. Ein Mädchen, Grete genannt, fiel einmal über die Stiege hinab und zog sich Ver- letzungen zu. Dem Polizeiarzt gab man an, das Mädchen befinde sich zu Erholung auf dem Lande, während es die Riehl in einem versteckten Zimmer behandelte. Die Mädchen konnten nicht fort- gehen, weil die Riehl es gewaltsam verhinderte.

Vors.: Wohl auch infolge der mangelhaften Kleidung. Wären Sie, derartig bekleidet, auf die Straße gegangen? Zeugin: Nein, niemals. Vors.: Ich glaube auch nicht. Vors.: Wo waren die Kleider der Mädchen verborgen? Zeugin: Frau Riehl be- wahrte sie selbst auf. Die Zawazal wollte fliehen und sagte, sie werde sich lieber vom dritten Stock auf die Straße stürzen, als noch länger im Hause bleiben.

Vors.: Was tat die Frau Riehl? Zeugin: Sie machte reinen Tisch, ging in den ersten Stock und sprach mit der Zawazal.

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien. 57

Vors.: Sprach sie nur mit ihr? Zeugin: Sie gab ihr anoh eine Ohrfeige. Vors.: Nnn, das ist ziemlich stark gesprochen.

Drei Mädchen und Frau Riehl brachten die Zawazal zurück Dnd sperrten sie in ein Zimmer. Über die Revisionen des Polizei- agenten-Inspektors Pifi weiß die Zeugin nur, daß er sich immer im ersten Stock aufhielt und der Riehl Vorladungen und ^Bflcheln^ fibergab.

Präs.: Auf welche Weise kamen Sie mit Frau PoUak in Be- rfihrung? Zeugin: Sie hat mir den Antrag gemacht, als Pro- stituierte in das Haus der Riehl einzutreten. Sie schilderte mir, daß ich schöne Kleider bekomme und viel Geld verdienen werde, loh antwortete: Nein, das ist mir zu häßlichl Angekl. Pollak springt erregt auf und ruft: Gott! 0 Gott! Das ist unerhört 1 Präs.: Beruhigen Sie sich nur, wir werden Sie auch anhören. Die Pollak springt wieder auf und jammert händeringend.

Die Riehl gibt an, ein Polizeikommissar habe ihr ausdrücklich gestattet, die E. als Dienstmädchen zu beschäftigen, wenn sie nicht Herrenbesuehe empfange.

Dr. Rabenlechner: Welcher Kommissar war denn das? Riehl: Ich kann mich nicht an alle Kommissäre erinnern. Dr. Rabenlechner (zur Zeugin): Eine persönliche Frage. Wußten Sie, als Sie von dem städtischen Arbeitsvermittlungsamt zur Riehl gesendet wurden, was in dem Hause vorgehe? Zeugin: Nein.

Dr. Rabenlechner: Jedenfalls verdient dieser Vorgang be- sondere Würdigung. Das städtische Dienstvermittlungsamt vermittelt Dienstmädchen in ein öffentliches Haus, und ein Polizeikommissar bewilligt das.

Der Vorsitzende fragt die Angeklagte Pollak: Haben Sie der Zeugin den Antrag gestellt, Prostituierte zu werden? Pollak: Gott soll behüten. (Heiterkeit). Dr. Rabenlechner: Sie, Pollak, gegen Tatsachen kann man sich nicht absperren. Sollte Ihnen vielleicht in einer phantasievollen Stunde dieser Gedanke jemals gekommen sein, so sagen Sie es nur. Angekl. Pollak: Ich kann mich nicht erinnern. Vors.: Frau Pollak, das ist bei Ihnen Bchon sehr viel. Wenn Sie sich an etwas nicht erinnern, so dürfen andere beruhigt annehmen, daß es wahr isti (Heiterkeit.)

Die nächste Zeugin Julie gibt an, ein Madl habe sie zur Riehl gebracht: Der Vormund, dem sie von ihrem Entschluß schrieb, antwortete ihr, daß sie tun könne, was sie wolle. Dr. Raben- lechner: Ein gewissenhafter Vormund.

Die Zeugin erzählt, die Pollak habe sie bestimmen wollen.

58 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

der Polizei als GruDd ihres Eintrittes in ein öffentliches Haas an- zugeben, daß sie uneheliche Kinder habe. Das Mädchen fürchtete aber, daß der Beamte sich nach dem Aufenthalt der Kinder er- kundige. (Heiterkeit.)

Angekl. Riehl: Es war immer so Brauch.

Die nächste Zeugin „Olga^ erzählte, daß sie nach drei Tagen aus dem Hause der Frau Riehl fortwollte. Da ihr die Riehl mit der Polizei drohte, so blieb sie, ans Furcht eingesperrt zu werden. Nach drei Monaten verließ sie aber doch das Haus, und die Riehl gab ihr als Verdienst einen Silbergulden und von ihren Kleidern nur das Schlechteste. Das Mädchen machte bei der Polizei An- zeige. Die PoUak brachte später ein schmutziges Hemd von der Frau Riehl und sagte der Zeugin: „San S' froh, daß Sie dös be- kommen; Sie verdienten eh, am Schub zu kommen. San S' stad, sonst werden S' noch eingesperrt.** Die Zeugin war zweimal im Spital. Das erstemal wurde sie von der Pollak abgeholt, das zweite- mal bat sie die Pflegerin, eine barmherzige Schwester um ein Ver- steck. So entkam das Mädchen dem Hause Riehl.

Die Angeklagte bestreitet entschieden, daß sie die Zeugin wieder zurücknahm. „Die Dame war keine Verdienerin^, sagt die Angeklagte, „und ich war froh, als sie weg war."

Präs.: Frau Riehl, wenn Sie auch noch so zartfühlend sind, glaube ich doch nicht, daß Sie dann das Mädchen im Wagen aus dem Spital abgeholt hätten.

Die Zeugin Therese R. war etwa ein Jahr im Hause. Frau Riehl warf ihr einmal einen Schlüsselbund an den Kopf.

Dr. Rode (zur Zeugin). Ist am Morgen nach Ihrer Einver- nehmung beim Untersuchungsrichter der Polizeiagent Piß in Ihrer Wohnung erschienen, um Sie zu sprechen? Zeugin: Ja. (Be- wegung). — Dr. Rode: Ist nicht kurze Zeit darauf der Polizei- agent Piß mit dem Polizeikommissar Dr. Locker bei Ihnen erschienen? Haben die beiden Sie nicht befragt, was Sie beim Untersuchungs- richter ausgesagt haben? Zeugin: Es waren ein Wachinspektor und der Polizeileiter des Bezirkes, in dem ich gewohnt habe. (Neue Bewegung.) Dr. Rode: Sind die beiden als Privatpersonen zu Ihnen gekommen oder amtlich? Zeugin: Amtlich.— Dr. Rode: Worüber haben die beiden Sie befragt? Zeugin: Sie haben mich gefragt, wie es mir bei der Riehl gegangen sei und was wir dort gemacht haben.

Zeugin Marie Müller war als Hausbesorgerin bei Frau Riehl auch in der Küche beschäftigt. Präs.: Haben Ihnen die Mädchen

I. Der Prozeß Biebl und Konsorten in Wien. 59

oh ertäblt^ daß sie von Frau Biehl geschlagen werden? Zeugin: Ja. Präs.: Warum sind sie geflohlagen worden? Zeugin: Das haben sie nicht erzfthlt. Die Zeugin erzählt den gomeinsamen Fluehtversnoh der Elsa und der Hansi. Der Haushesorger war im dritten Stock beschäftigt, deine Frau in der E flehe, Frau Riehl und die PoUak waren im Hofe. Die Tür war offen, weil eine Zigeuner- musik apielte. Die beiden Mädchen hatten sich geweigert, sieh nacb Tiseh wieder einsperren zu lassen; es kam zu einer Lärmszene. Die beiden Mädchen liefen die Treppe hinunter, um zu fltlchten. Frau Riehl war benachrichtigt worden. Der Elsa ge- lang die Flucht, die Hansi wurde beim Haustor erwischt und unter einer lebhaften Prügelei, an der sich die Riehl, die PoUak und auch mehrere Damen beteiligten, wieder hinaufgeschleppt. Frau Pollak (dazwischenrufend): Ich war nicht dabei!

Präs. (zur Zeugin): War die Pollak dabei, als die Hansi ge- prügelt wurde? Zeugin: Ja, sie ist dabei gestanden. Frau Pollak: Ich war nicht dort. Präs. (zur Hosch): War die Pollak dabei? Hosch : Nein sie ist nicht dabei gewesen. Präs. (zur Pollak): Also haben Sie einmal Recht behalten. (Heiterkeit.) Hosch : Die Pollak ist inzwischen der Elsa nachgelaufen. (Heiter- keit). — Präs.: Ah sol Dann konnte sie allerdings nicht die Hansi mit prügeln. Frau Pollak, wir hätten Ihnen beinahe Unrecht getanl ^(Heiterkeit.) Dr. Rode (zur Zeugin): Haben Sie die Hunde der Frau Riehl gekannt? Zeugin: Ja. Dr. Rode: Die Liddy war eine besonders bissige Bestie. Haben Sie gewußt, wozu Frau Riehl die Hunde gehabt hat? Zeugin: Nein.

Zeugin Juliane Staiz war kurze Zeit bei Frau Riehl Köchin und Hausbesorgerin. Frau Riehl habe ihr am 23. Juni, am letzten Tage, 30 Kronen geschenkt, weil sie so brav gewesen sei. Präs.: Das ist merkwürdig, da Frau Riehl sich früher immer sehr abfällig über Sie geäußert hat. Am 24. Juni erschien nämlich der Artikel im „Extrablatt^. Hätten die Mädchen, so wie sie im Hause waren, auf die Straße gehen können? Zeugin: Das weiß ich nicht. Sie waren halt im Hemd. (Heiterkeit).

Nach der Mittagspause wird der Dr. Ignaz Husserl einver- nommen; er kam in den letzten drei Jahren häufig als Arzt in das Haus der Frau Riehl. Er habe nicht nur die „Damen^, sondern auch Frau Riehl und ihre Angehörigen behandelt. Oft seien auch Mädchen in seine Ordination gekommen. Sie hatten immer eine Begleitung.

Landesgerichtsrat Dr. Spitzkopf: Hat der Zustand der Mäd- chen eine Begleitung erfordert? Zeuge: Nein, keineswegs.

60 L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Präs.: Waren es Krankheiten des Berufes oder andere Leiden, derentwegen Sie zu den Mädchen gerufen wurden? Zeuge: Es waren nur selten Geschlechtskrankheiten oder doch keine an- steckenden.

Präs.: Haben Sie die Anna Christ zu untersuchen gehabt Herr Doktor? Zeuge: Jawohl, ich kann mich erinnern. Sie wurde zu mir gebracht und als Näherin des Hauses ßiehl be- zeichnet. Ich hätte feststellen sollen, warum sie das Mädchen war körperlich sehr herabgekommen so elend aussah. Präs.: Können Sie uns sagen, Herr Doktor, 6b Sie damals auch festzustellen hatten, ob das Mädchen unberührt sei? Zeuge: Daran kann ich mich nicht erinnern. Präs.: Die Angeklagte Gönye sagt, daß Sie die Virginität festzustellen hatten. Dr. Pollaczek: Sie sollen in allen jenen Fällen, wo es zweifelhaft war, ob die Mädchen sich fbr das Gewerbe eignen, gewissermaßen die Assentierung vor- genommen haben. Zeuge: Das ist unrichtig. Ich werde doch kein solches Gutachten abgeben. Das ist gar nicht Sache des Arztes.

Dr. Pollaczek: Nachdem Sie die Anna Christ untersucht und gesehen hatten, daß sie ein unschuldiges Mädchen ist, hatten Sie da nicht die Pflicht als Arzt und Mensch, der Behörde davon Mit- teilung zu machen, daß ein solches Mädchen in ein öffentliches Haus gesteckt werden sollte? Zeuge: Es ist dies nicht Sache des Arztes, dem Mädchen Ratschläge zu geben,, ob sie anständig bleiben soll. Dr. Pollaczek (ernst): Es gibt eben Pflichten, die nicht im Gesetze stehen. Dr. Husserl: Ich erinnere mich übrigens, der Anna Christ gesagt zu haben, sie möge sich nicht dem leichtsinnigen Leben zuwenden.

Dr. Pollaczek : Meine Fragen hatten nur den Zweck, zu zeigen, wie intelligente Personen, außer Eltern und Vormündern, durch ihre Passivität das Zuführen von Mädchen in das öffentliche Haus ge- fördert haben.

Die Ziehmutter der Anna Christ, Frau Barbara Kozliet, ist verdächtigt, aus dem Gewerbe ihres Ziehkindes Vorteil gezogen zu haben. Sie wird sich beim Bezirksgericht zu verantworten haben. Die Frau erklärt, sie wolle Zeugnis ablegen.

Anna Christ war Näherin bei ihr, sie ist im Verdruß von ihr fortgegangen. Nach zwei Monaten erst erfuhr sie durch die An- geklagte Pollak, die von der Riehl gesendet wurde, ihre Ziehtochter befinde sich bei der Riehl. Die Zeugin ging in das Haus. Die Christ erklärte, sie wolle bei der Riehl bleiben.

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 61

Pr&8.: Sie haben sieh also zwei Monate nieht nm ihr Kind ge- kUmmert. £& war Ihnen nieht bange und Sie haben anoh keine Abg&ngigkeitaanzeige erstattet? Zeugin: Nein. Präs.: Hat Ihnen die Kiehl etwas versproehen? Zeugin: Nein. Sie wollte mir nur das Geld znrttokzahlen für die Schuhe, die ich der Anna kaufte. Die Riehl hat mir gesagt, die Anna werde als N&herin and Frieseurin beschäftigt.

Die Pollak brachte die Christ, als sie in anderen Umständen war, zurück mit den Worten: Hier haben Sie Ihre Tochter so ge- sund, wie sie zu uns gekommen ist. Vors.: Das war natürlich falsch, denn die Christ kam sofort ins Spital, weil sie geschlechts* krank war.

Chefarzt der Wiener Polizei, kais. Rat Dr. Anton Merta gibt als Zeuge zunächst Auskunft über die sanitätspolizeiliche Kontrolle. Im Jahre 1892 liefen zahlreiche Anzeigen wegen Straßenunfuges von Mädchen ein. Der damalige Polizeipräsident Ritter y. Stejskal entschloß sich, die öffentliche Prostitution einzuschränken und ge- schlossene Häuser einzuführen. Diese wurden damals probeweise geduldet. Im Jahre 1899 wurde eine Kommission einberufen, Ver- treter des Stadtphysikats, der Staatsanwaltschaft, des Magistrats, der Finanzbehörde und der Polizei. Nach dieser Besprechung wurden die öffentlichen Häuser genehmigt. Die Erfahrungen mit solchen Häusern waren jedoch nicht günstig, denn viele haben nicht prosperiert Der polizeiliche Überwachungsdienst war sehr schwierig, denn es bestand für die unteren Polizeiorgane die Oefahr, daß sie von den Inhabern solcher Häuser bestochen werden. Leider haben sich diese Befürchtungen zum Teil bewahrheitet. Der Polizeipräsi- dent bedauert, daß sich unter den 4000 Polizeiorganen zwei oder drei gefunden haben, die von ihrer Pflicht abwichen. Gegen diese ist ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden, und sie sind seit Monaten vom Dienste suspendiert. Die Folgen des heutigen Ver- fahrens werden auf die amtliche Behandlung dieser Fälle einwirken.

Präs.: Herr Zeuge,'^sind Sie zu dieser Erklärung autorisiert? - Zeuge: Oewiß, es ist eine autoritative Erklärung.

Dr. Rabenlechner : Herr kais. Rat, sind Sie zu dieser Er- klärung vom Polizeipräsidenten beauftragt?

Zeuge : loh bin dazu ermächtigt.

Präs.: Gehen wir nun zu den Verhältnissen im Hause Riehl aber. Zeuge: Gewöhnlieh wird vor der Eröffnung des Hauses eine sanitäre Revision eingeleitet Präs. : Von welchem Gesichts- punkt aus wurden diese Revisionen vorgenommen. Zeuge: Man

62 I. Der Prozeß Riebl und Konsorten in Wien.

hat sich bei den Besiohtigungea immer um die allgemeinea sanitären Verhältnissen gekümmert, nur wenn eine anonyme Anzeige vorlag, ist näher untersucht worden.

Präs.: Periodisch wiederkehrende Untersuchungen haben also nicht stattgefunden.

Zeuge: Nein.

Nur venerisch erkrankte Mädchen sind in das Spital ttberfUhrt worden, Patienten mit anderen Krankheiten blieben schon wegen des Platzmangels der Spitäler in häuslicher Pflege.

Präs.: Es war also Pflicht der Inhaberin eines geschlossenen Hauses, erkrankte Mädchen dem Polizeiarzt vorzuftlhren. Wie ist man dabei vorgegangen? Zeuge: Der kontrollierende Arzt bekommt die Mädchen dem Namen nach zugewiesen. Ob außer den gemel- deten Mädchen noch andere im Hause sind, kann er nicht wissen. In einem solchen Falle kann er eben die Kontrolle nicht austiben. Eine Hausdurchsuchung vorzunehmen, ist der Arzt weder verpflichtet noch berechtigt.

Präs.: Ist es vorgekommen, daß Mädchen Ihnen als abwesend angegeben wurden? Zeuge: Das ist möglich.

Der Verschluß der Fenster, der nur durch einen bestimmten Schlüssel behoben werden kann, entspricht den polizeilichen Intentionen.

Präs.: War es bekannt, wann die ärztlichen Untersuchungen vorgenommen wurden? Zeuge: Ja, immer an den gleichen Tagen und Stunden.

Präs.: Konnten also Mädchen versteckt werden, um sie der Untersuchung zu entziehen? Zeuge: Ich glaube nicht. Präs.: Haben Sie Spuren von Mißhandlungen am Körper der Mädchen be- merkt? — Zeuge: Ich erinnere mich nicht, jemals solche Spuren entdeckt zu haben.

Dr. Rode: Wie war es mit der behördlichen Revision? Ist es ausgeschlossen, daß die Riehl wissen konnte, wann die Kommission erscheinen werde? Zeuge: Das ist vollkommen ausgeschlossen. Niemand wurde vorher verständigt als die Mitglieder und zwar telephonisoh, worauf die Kommission ihre Tätigkeit sofort begann,

Dr. Raben le ebner: Aus welchem Material leider Gottes bestehen solche Mädchen? Man spricht hier aus Tendenz von einem Engelsmaterial. Sind Prostituierte nicht zumeist Rekruten fttr die Strafanstalten, sind sie nicht häufig vorbestraft? Zeuge gibt das zu und bemerkt, daß viele Prostituierte sich auch in den Spitälern exzessiv benehmen.

I. Der Prozeß Riehl und Konaorten in Wien. 63

Verteidiger Dr. Rabenlechner: Und noch eine wichtige Be- merkung. Sie sagten, Herr Zeuge, daß man, um das Straßenwesen einzudämmen, geschlossene Häuser wünscht; ich muß Wert darauf legen, nochmals die Easernierung vorzubringen. Wenn jedes solche Mädchen die Bewegungsfreiheit hätte, glauben Sie, daß dann der Zweck der geschlossenen Häuser erreicht wäre? Würde dann nicht der Gassenstrich wieder florieren, oder glauben Sie nicht, daß der technische Ausdruck „Geschlossenes Haus^ bedeutet, daß ein solches Haus auch versperrt ist? Zeuge: Freilieh, das glaube ich schon.

Dr. Rabenlechner: Istesrichtigj daß es bis heute keine ge- setzliche Regelung der Prostitution in Osterreich gibt, nur Verord- nungen? ~ Zeuge (zuckt die Achseln): Ich kenne nur die Wiener Verordnungen.

Die freie Prostitution der Straße und die geschlossenen Anstalten tragen den Behörden fortwährend Beschwerden aus dem Publikum ein. Daher werde fortwährend an einer Reform des Prostitutions- wesens gearbeitet. Derzeit gebe es etwa 1 400 Prostituierte. Es sei dies mit Rücksicht auf die Millionenbevölkerung eine lächerlich kleine Anzahl. Dr. Rabenlechner: Ja, olBTiziell gemeldetel (Zum Zeugen) : Ist Ihnen bekannt, daß ein öffentliches Haus in der Leopoldstadt geschlossen wurde, da es nicht prosperierte? Zeuge: Ich weiß nur, daß es freiwillig gesperrt wurde. Dr. Rabenlechner: Ist es Ihnen bekannt, daß die Angeklagte Riehl von dem verstor- benen Chefarzt Regierungsrat Witlacil eine Belobung erhielt? Zeuge: Ich wüßte nicht, aus welchem Grunde. (In seinem Akt blätternd.) Höchstens, wenn die Bemerkung, daß es im Hause Riehl rein gewesen ist, in diesem Sinne ausgelegt wird. Die An- geklagte Riehl: Ich bitte, der Herr Regierungsrat hat mir sogar eine Visitenkarte gegeben und mir gesagt, wenn Sie einmal etwas brauchen sollten, kommen Sie zu mir. (Bewegung.)

Der Zeuge teilt mit, daß er einen Akt mitgebracht habe, der im Vorjahr bei der Polizei auf Grund einer anonymen Anzeige auf- gelaufen sei. Damals haben Agenten acht Tage lang von 7 Uhr früh bis 1 Uhr morgens das Haus der Riehl bewacht. Es wurden auch zehn Mädchen einvernommen, die im Hause waren, und vier Mädchen, die schon außerhalb desselben waren, ohne daß etwas eruiert worden wäre. Präs.: Welche Sache hat die Untersuchung betroffen? Zeuge: Dieselbe, die heute Gegenstand der Verhandlung ist Dr. Pollaczek: Der Polizei ist es also nicht gelungen . .

Dr. Rabenlechner: Da werden wir auch den Namen des Kommissars erfahren können, der damals die Erhebungen leitete.

64 I. Der Prozeß Riehl und Ronsorten in Wien.

Präs.: (sohlftgt den Akt nach): Es war der Kommissar Dr. Zdmbeok.

Staatsanwalt (zum Zeugen): In wessen Besitz befand sieb dieser Akt? Zeuge: Er gebort dem Sioberbeitsbureau. Staats- anwalt: Der Uutersucbungsriobter konnte ibn nämlich trotz energischer Requisition nicht erlangen.

Der Zeuge Polizeiarzt Dr. Simon Kien war kontrollierender Arzt im Hause Riehl; es kam vor, daß ihm Mädchen, die sich an- geblich auf Urlaub befanden , nicht vorgeführt wurden. Ge- wisse andere Unpäßlichkeiten hätten eine oberflächlichere Unter- suchung zur Folge gehabt. Von Mißhandlungen sei ihm nichts be- kannt; doch sei es vorgekommen, daß sich am Korper der Mädchen blaue Flecke vorfanden, die auf gewisse Aspirationen der Besucher zurückgeführt werden konnten.

Präs. : Ist Ihnen bekannt, daß ein Mädchen an Krätze erkrankte?

Zeuge: Ja, ich kann mich erinnern. Präs.: Wurde sie ins Spital geschafft? Zeuge: Das war nicht möglich. Aber es war ja ausgeschlossen, daß sie mit Herren in Beziehung trete, da ihr Zustand äußerlich genügend gekennzeichnet war. Dr. Saben- le ebner: Und wenn sich. einer schließlich kapriziert: Habeatt (Heiterkeit).

Staatsan waltsubstitut Dr. Langer: Ist es richtig, daß Mädchen sich der ärztlichen Untersuchung dadurch entzogen, daß sie die Erscheinungen ihres Leidens durch gewisse Präparierungen mas- kierten? — Zeuge: Das weiß ich nicht.

Der Polizeiarzt Dr. Schi 1 d, der vom Jahre 1902 bis zur Schließung des Hauses Riehl dort kontrollierender Arzt war, weiß nichts Neues anzugeben.

Der Polizei- Oberkommissar Dr. Ernst Felkel hat vom Jahre 1900 bis 1902 das Referat Riehl im Kommissariat Aisergrund ge- führt. Er hat das Haus nie selbst revidiert, sondern der Kanzlist Kopp. Von Beschwerden der Mädchen hat der Zeuge nichts gehört.

Präs.: Es ist vielfach behauptet worden, daß bei Erteilung des Gesundheitsbuches an die Mädchen, zu der das Einverständnis ihrer Angehörigen erforderlich ist, man sich mit der einfachen Erklärung^ daß die Eltern des Mädchens gestorben sind, zufriedengegeben habe. Zeuge: Das ist unrichtig.

Zeuge Sebastian Ob er hu her, Detektive-Inspektor, war zwei Jahre dem Referat des Kommissariats Aisergrund zugeteilt. Er unterstand bei den im Hause Riehl vorgenommenen Revisionen dem verstorbenen Offizial Kopp. Seine Obliegenheit war, festzustellen^

I. Der Prozeß Riehl und Ronsorton in Wien. 65

ob die Zahl der polizeilich angemeldeten Mädchen nicht ttberschritten worden sei. Er bewachte deshalb meistens das Tor, um ein Ent- weichen während der Revision zu verhindern. Auf die Frage des Vorsitzenden, in welcher Weise im Hause die notwendige Fest- stellung stattfand, antwortete Detektive-Inspektor Oberhuber: Wir sind in den Zimmern herumgegangen und haben die Mädeln so siemlioh gezählt. Das geschah gewöhnlich vormittags. Präs.: Waren Sie auch in den Schlafzimmern? Zeuge: Nein. Präs.: Wie hahen Sie zu der Zeit zählen können ? Zeuge : Das hat der Herr Offizial Kopp getan.

Dr. Pollaozek: Also der Referent hat sich nicht darum gekümmert, der Subreferent ist gestorben und der Korreferent weiß nichts. (Heiterkeit.)

Zeuge Polizeikommissar Zdrubeck war mit den Revisionen im Hause Riehl betraut und hatte auch die Bücher für die Insassinnen auszustellen. Präs.: Ist es vorgekommen, daß Mädchen, die aus dem Hause Riehl weg waren, sich bei Ihnen beklagt haben, daß sie mißhandelt wurden, daß sie kein Geld bekamen usw. Zeuge : Eine solche Anzeige ist mir niemals vorgekommen. Präs. verliest die Aussagen einzelner Mädchen. Zeuge bemerkt hierzu: Bei der großen Anzähl von derartigen Mädchen, mit denen ich im Laufe der Jahre zu tun hatte, kann ich mich bloß auf Grund der Namen nicht mehr an die einzelnen Fakten erinnern. Präs. verliest ein Protokoll über ein Verhör mit einem anderen Mädchen, und bemerkt hierzu: Wenn mir eine derartige Beschwerde zu Ohren gekommen wäre, so hätte ich sie gewiß gründlich untersucht. Also, Herr Zeuge, erinnern Sie sich nicht daran? Zeuge: Nein, entschieden nicht. Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß der städtische Sanitätsdiener Weber im Dezember 1904 eine Anzeige erstattet hat, wie es im Hause Riehl zugehe, daß dort Mädchen mißhandelt werden, daß es jede Nacht Krawalle gebe usw. ? Weber sagt, er sei mit den Worten abgefertigt worden: ^Es wird sich schwer etwas machen lassen, wir haben uns ja schließlich auch noch mit anderen Dingen zu befassen als mit diesen." Zeuge: Ich erinnere mich nicht an den Vor- fiall selbst; an die Anzeige erinnere ich mich. Ich habe den Piß zu Erhebungen hingeschickt. Präs.: Welche Organe haben Sie überhaupt zu Erhebungen verwendet? Nur den Piß? Haben Sie da nie Bedenken gehabt? Zeuge: Nein, er galt als eines unserer tüchtigsten Organe.

Der Pr&sident konstatiert, daß auf Grund einer anderen Anzeige Erhebungen über die Behandlung der Mädchen im Hause Riehl ge-

AielÜT für KriminatAnthiopologie. 27. £d. 5

66 I. Der Prozess Riehl und KoDSorten in Wien.

pflogen wurden und daß die Aussagen der Mädchen durchweg zu- gunsten der Frau Riehl lauteten.

Präs. (zur Angeklagten Winkler): Sie haben damals auch zu- gunsten der Frau Riehl ausgesagt. Entsprach das der Wahrheit? Winkler: Nein. Präs.: Warum haben Sie das angegeben? Winkler: Es ist uns von Frau Riehl vorgesagt worden. Präs. (zur Angeklagten Bosch): Warum haben Sie damals diese Angabe gemacht? Hosch (achselzuckend): Wir haben doch alle gelogen! Es ist uns von Frau Riehl Unterricht gegeben worden. Präs.: Hat sie denn Zeit dazu gehabt? Hosch: Es ist schon ein paar Tage vorher ein Polizeiagent zu Frau Riehl gekommen und hat ihr gesagt, daß gegen sie eine Anzeige erstattet worden sei. Präs. : Also Sie glauben, daß Agent Piß Frau Riehl vorher avisiert hat? Hosch: Ja.

Verteidiger Dr. Hofmokl bittet um Verlesung des mit der Zeugin Marie König aufgenommenen Protokolls. Der Staats- anwalt spricht sich dagegen aus. Der Gerichtshof lehnt den An- trag Dr. Hofmokls ab, da sich die Zeugin im Laufe der Verhandlung der Aussage entschlagen habe.

Präs.: Herr Zeuge waren also immer nur auf die Aussagen des Detektivs Piß angewiesen und erinnern sich nicht, daß mündliche Besehwerden vorgebracht wurden? Zeuge: Nein. Dr. Raben- lechner (zum Zeugen): Waren Sie einmal im Hause Riehl? Zeuge: Ja. Dr. Rabenlechner: Haben Sie alle Räume des Hauses inspiziert? Zeuge: Nein. Dr. Rabenlechner: Hm ja.

Zeuge erklärt weiter: Ich habe mich bei meinem ganzen Vor- gehen strikte an die Vorschriften gehalten. Wenn eine Polizei- vorschrift in bestimmten Ffillen negativ lautet, dann ist es meiner Auslebt nach in solchen Fällen nicht opportun, vorzugehen. Dr. Rode (aufspringend): Also Ihrer Meinung nach ist es Ihre Pflicht, alles zu unterlassen, was einer Ausbeutung der Mädchen ertgegcnsteht? Sie liaben auch von dem Lohnvertrag zwischen der Riehl und ihren Mädchen gehört. (In höchster Erregung): Ist es niclit Ihre Pflicht als Vertreter einer Schandgewerbebehörde, gegen einen solchen Vertrag einzuschreiten? Zeuge: Ich muß ent- schieden gegen den Ausdruck „Schandg'cwerbebehörde" protestieren. Die Polizei ist nicht zum Schutze der Prostituierten da, sondern zum Schutze der Offentliclikeit gegen die Prostitution.

Dr. Hofmokl: Ist es richtig, daß Ihnen die Einrichtung des Hauses bis heute unbekannt geblieben ist? Zeuge: Ja. Dr. Rabenlechner: W^arum sind denn die Revisionen Agenten

I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien. 67

überlassen worden? Wir überlassen doch hier die ludikatur auch nicht den Diurnisten. Zeuge : Die Agenten sind doch gebildete Leute. Dr. Rabenleobner: Aber sie können leicht, leicht umfallen. Der Präsident hat inzwischen den polizeilichen Akt über die Anzeige dea Sanitätsdieners Weber heraussuchen lassen und kon- Btatiert, daß Zeuge Zdrubeck den Akt mit dem Bemerken versehen hat: „Sehuldtragende sofort aus dem Bezirk entferntes daß aber sonst nichts weiter geschehen ist. Staatsanwalt: Herr Zeuge, Sie haben vorhin erklärt, daß Sie es bei der Häufigkeit von anonymen Anzeigen geradezu mit Genugtuung begrüßten, wenn einmal eine Anzeige mit vollem Namen einlief, auf Grnnd deren Sie eingehende Erhebungen pflegen konnten. Es ist aber im vorliegenden Falle, also bei einer Anzeige mit vollen Namen, nichts geschehen. Zeuge: Es war ja keine Adresse angegeben. Präs.: Aber er- lauben Sie: „Der Mann unterschreibt: „ergebenst C. Weber'' und hat vorher in dem Brief angegeben, daß er Hahngasse Nr. 12 wohnt. Der Mann wäre doch nicht schwer zu finden gewesen! ~ Staats- anwalt: Und der Mann sagt, daß er bei der Polizei mit Kleinig- keiten abgespeist wurde! Präs.: Der Mann hätte gehört werden sollen und man hätte sich nicht mit den fünf Zeilen des Herrn Piß begnügen sollen!

Der Zeuge Polizeikonzipist Dr. Wilibald Locker war bis Mai 1904 beim Kommissariat Aisergrund, hatte aber niemals im Hause Eiehl zu tun.

Staatsanwalt: Die Zeugin Theresia R. hat angegeben, Sie seien am Abend desselben Tages, an dem sie beim Kommissariat Aisergrund über die Vorgänge im Hause Riehl einvernommen worden war, zu ihr gekommen und hätten sie befragt, ob sie gegen den Agenten Piß ausgesagt habe. Zeuge: Ich war damals beim Kommissariat Ottakring. Der Agent Piß ist zu mir gekommen und hat mich gebeten, ich möchte die R. fragen, ob sie gegen ihn aus- sagt habe. Präs.: Und haben Sie dies getan? Zeuge: Ja, leider. Der nächste Zeuge Polizeikommissar Leopold Schmidt (Leo- poldstadt) war von 1898 bis 1900 Referent für das Haus Riehl beim Kommissariat Aisergrund. Präs.: Haben Sie Gelegenheit gehabt, das Haus zu revidieren? Zeuge: Ich habe Revisionen mit den Agenten vorgenommen. Präs.: Wenn in einem kleinen Zimmer bei verschlossenen Türen und Fenstern acht Mädchen in vier Betten gesehlafen hätten, wäre das beanstandet worden? Zeuge: Ja. Präs.: Haben Sie jemals wahrgenommen, daß ein Zimmer überfüllt war? Zeuge: Nie.

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68 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Pr&8.: Um welche Zeit haben Sie revidiert? Zeuge: Zu Mittag. Präs.: Sind Sie auoh in den dritten Stock hinauf- gekommen? — Zeuge: loh kann mich nicht erinnern. Präs.: Hat Frau Riehl jemals an Sie das Ansuchen gestellt, daß Sie sie bei Anzeigen beschützen sollen, da ja häufig auch ungerechtfertigte Anzeigen einliefen? Zeuge: Nein, niemals.

Präs. : Wir kommen jetzt zu einem Punkt , der etwas kritisch wird, und bei dem ich mich fbr verpflichtet erachte, Ihnen den § If^S der Strafprozeßordnung in Erinnerung zu bringen. (Wegen drohen- der Schande kann ein Zeuge die Aussage verweigern.) Dieser Paragraph gewährt Ihnen die Rechtswohltat der Verweigerung der Zeugenaussage. Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie auch außer- halb Ihres Amtes Besuche bei Frau Riehl gemacht haben. Wollen Sie hierüber aussagen oder wollen Sie von jener Rechtswohltat Ge- brauch machen?

Zeuge: Ich entsohlage mich der Aussage. (Lebhafte Be- wegung.)

Der Präsident läßt dies protokollieren und entläßt hierauf den Zeugen.

Polizeiagenten-Inspektor Joseph Piß, der seit 1895 bis jetzt dem PoLizeikommissariat Aisergrund zugeteilt ist und sich derzeit in Disziplinaruntersuchung befindet, wird um seine Generalien befragt. Dr. Hofmokl bittet, diesem Zeugen gegenüber die Wahrheitserinne- rung wegfallen zu lassen. Präs.: Ich werde den Zeugen rechtzeitig auf die Wohltat des § 153 aufmerksam machen und ihn in keine Kollisionen bringen.

Dr. Hofmokl: Es ist ein Unterschied zwischen der Wahrheits- pflicht und der Wohltat, sich der Aussage zu entschlagen. Ich möchte dem Zeugen mitteilen, daß er sogar lügen darf. Präs.: Ich werde rechtzeitig, wie bei dem vorigen Zeugen, das Entsprechende vorkehren. Sie können das ruhig dem Vorsitzenden überlassen.

Auf die Frage des Vorsitzenden nach den Agenden des Zeugen antwortet dieser, er habe sowohl beim Kommissariat wie im Hause die Angelegenheit Riehl zu führen gehabt. Wenn Anzeigen oder Beschwerden gekommen sind, habe er den Aaftrag erhalten, Er- hebungen zu pflegen.

Präs.: Sind Beschwerden vorgekommen? Zeuge: Nein. Präs.: Dann waren auch keine Erhebungen notwendig. Zeuge (zögernd): Einmal ist eine Beschwerde gekommen, anonym. Präs.: Vom Herrn Weber? Zeuge: Ja. (Heiterkeit.) Präs.: Da haben Sie eine Relation erstattet, daß zwei Mädchen gestritten

L Der Prozeß Biehl und Eonsorten in Wien. 69

hätten und sonst alles in Ordnung ist. Wer hat Ihnen diese In- formation gegeben? Zenge: Fran Riehl.

Der Zenge gibt an, daß er sehr häufig ins Haus gekommen sei, weil er Bücher, Photographien und dergleichen hinzubringen hatte; er kenne auch die Räumlichkeiten im dritten Stock. Eine Vorstellung, wieviel Mädchen dort untergebracht waren, besitze er nicht. Er habe auch nicht wahrgenommen, daß die Tfiren versperrt werden. Auch habe sich ihm gegenüber niemals ein Mädchen be- schwert. — Präs.: Hat sich nicht die Zawazal beschwert? Zeuge: Ja. Sie ist aufs Kommissariat gekommen und hat über Ohrfeigen geklagt Der Referent war nicht anwesend und ich habe ihr gesagt, sie soll morgen kommen. Inzwischen ist Frau Pollak gekommen und hat sie mitgenommen. Am nächsten Tage ist das Mädchen nicht wieder gekommen.

Präs.: Haben Sie damals nicht der Frau Pollak gesagt, sie soll Ordnung machen, damit nichts herauskommt? Zeuge: Ich habe ihr nur gesagt, daß sie der Zawazal die Sachen geben soll. Präs.: Das stimmt mit der Aussage der Zawazal.

Präs.: Es ist behauptet worden, daß Sie manchmal Frau Riehl von Kommissionen verständigten, damit sie sich vorbereiten und die Mädchen abrichten könne. Sie waren auch sonst im Hause in einer Weise tätig, die mit Ihrer Amtspflicht kollidieren würde. Sie können sich der Wohltat des § 153 bedienen, wenn Ihnen Ihre Aussage Schande bereiten könnte. Sie brauchen nicht auszusagen, damit Sie nicht in Kollisionen bezüglich Ihrer Verantwortung gegen- über Ihren Vorgesetzten kommen. Zeuge: Ich will nicht aus- sagen. (Bewegung.)

Heute werden die sieben angeklagten Mädchen, die der falschen Aussage vor dem Untersuchungsrichter beschuldigt sind, über ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen im Hause Riehl einvernommen.

Als erste wird Marie Pokorny einvernommen, eine schlanke, hübsche Erscheinung, die seit Beginn des Prozesses in wechselnder eleganter Toilette auf der Anklagebank zu sehen war.

Präs.: Sie waren eine Art Vertrauensperson der Frau Riehl, da Sie mit der Beaufsichtigung der anderen Mädchen betraut wurden. Wie war es denn mit ihrer Bewegungsfreiheit? Pokorny: Ich durfte auch nicht auf die Straße gehen. Präs.: Wie war es mit Ihrer Kleidung? Pokorny: Ich hatte ebenfalls nur einen Schlafrock, die anderen Kleider waren ver- wahrt. -— Präs.: Haben Sie bezüglich des Strumpf- und Zimmer- geldes Vereinbarungen getroffen?

70 I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien.

Pokorny: Die gnädige Frau erklärte, daß das Geld von jedem Herrn zwischen uns aufgeteilt wird; sie hat mir aher nichts gegeben, loh habe sie manchmal gefragt, was mit dem Gelde ist; sie er- widerte nur: ,Es ist schon gut!**

Präs.: Endlich müssen Sie doch eine Abrechnung gefordert haben? Zeugin: Sie sagte immer, sie wird schon abrechnen.

Präs.: Waren die Mädchen im Zimmer eingesperrt? Zeugin: Ja. Präs.: Haben Sie nicht selbst manchmal die Mädchen ein- gesperrt? Sie können ruhig antworten, Sie sind nicht angeklagt. Zeugin: Im Auftrag der Riehl habe ich die Zimmer zugesperrt. Die Frau sagte mir, das sei von der Polizei angeordnet, und ich glaubte es; ich war ja auch oft eingesperrt. Ich hatte niemand, der mich gehöii; hätte. Manchmal schrie ich ; aber es kam niemand, und hinaus konnte ich nicht.

Präs.: Was wäre geschehen, wenn eiu Brand ausgebrochen wäre? Zeugin: Dann wäre ich verbrannt. Präs.: Oder wenn jemand ohnmächtig geworden wäre? Zeugin: Niemand kam zu Hilfe. Präs.: Gab es denn keine Glocke, kein Telephon? Zeugin : Ein Telephon war da, es wurde aber nur verwendet, wenn ein Herr kam und eine von uns gewünscht wurde.

Präs.: Was hatte Frau Pollak zu tun? Pokorny: Die Frau Pollak hatte von Frau Riehl den Auftrag, die Mädchen im Auge zu behalten. Sie war immer im Hause, und nur hie und da war sie wegen Krankheit nicht im Hause. Präs.: Ist es in den vier Jahren Ihres Aufenthaltes im Hause vorgekommen, daß Mädchen weggehen wollten? Pokorny: Ja. Manche Mädchen sind gern geblieben, mehrere wollten aber bald wieder fort. Präs.: Was hat Frau Riehl dann getan? Pokorny: Sie sagte zu den Mädchen: „Schlampen, zahl' zuerst deine Schulden, dann kannst Du gehn!** ' Präs.: Hatten denn die Mädchen Geld, um solche Schulden zu be- zahlen? — Pokorny: Nein.

Präs.: Da Sie auch mit der Ablieferung des Geldes betraut waren, könneu Sie vielleicht angeben, ob Frau Riehl tatsächlich so schlechte Geschäfte gemacht und draufgezahlt hat? Pokorny: Das ist gewiß unwahr. Die Herren haben wenigstens fünf Gulden gezahlt, meistens aber 10 und 15 Gulden, dann auch 50, 100 und sogar auch 200 Gulden. Kamen feine Gäste, die was Besonderes verlangten, dann sagte die Riehl dem oder jenem Mädchen: „Zieh dein Straßenkleid an, mach* dich recht schön." Dann sagte sie zu dem Herrn: „Herr Graf, oder Herr Baron, ich habe ein sehr hübsches Mädchen, eine junge Frau, welche wünschen Sie?'* Dann

I. Dor Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 7 1

wnrde dem Besucher das Mädohen in Straßeatoilette als jange Frau vorgestellt, und solche Herren zahlten dann auch 20 bis 40 Kronen Strunapfgeld. Die Frau Riehl hat angegeben, was die Herren extra bezahlten.

Präs.: Ist Ihnen bekannt, daß Mädchen mit Krankheiten ver- heimlioht und zurückbehalten wurden? Pokorny: Ja. Frau Riehl sagte immer: „Wenn Mädchen ins Spital gehen, so kommen sie nicht mehr zurück." Präs.: Daher die Vorsicht, die Mädohen sorgsam in das Spital und zurück zu bringen. Präs. : Haben die Mädchen ?iel trinken müssen?

Pokornj: Die Riehl sagte: ,,Schauf8 zum Geschäft, Mädeln, daß was aufgeht!" Aber die Mädchen sollten sich nicht betrinken, da sollten sie lieber den Champagner auf die Tasse ausschütten. PrSs.: Das ist glaubwürdig. Denn es lag im Interesse des Ge- schäftes der Frau Riehl, daß die Mädchen nicht betrunken waren.

Die Pokorny wurde von der Polizei nicht einvernommen, weil sie krank war. Sie weiß aber, daß die Riehl die Mädchen zu falscher Aussage veranlaßte.

Präs.: Blieben die Mädchen freiwillig im Hause Riehl? Pokorny: Manche blieben freiwillig, viele aber konnten sich nicht helfen.

Präs.: Hatten Sie den Eindruck, daß jede Auflehnung gegen Frau Riehl aussichtslos sei, weil sie mit dem Polizeibeamten, der die Aufsicht hatte, so gut stand. Augekl.: Wenn sich eine ein- mal aufgehalten hat, hat die Frau Riehl gleich geschrieen: „Kusch, gleich laß ich einen Wachmann holen und Du wirst eingesperrt^.

Präs.: Haben die Mädchen aus dem Auftreten einiger Polizei- organe schließen können, daß sie von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten haben? Angekl.: Die Frau hat zu mir gesagt: „Irma, schau, daß du den Herrn Kommissär verführst, nimm aber kein Geld von ihm.**

Die Angeklagte erzählt dann, Frau Riehl habe täglich Ein- nahmen von 200 bis 400 Kronen gehabt. Gegen Frau Pollak war sie sehr mißtrauisch, sie hatte sie im Verdacht, daß sie ihr die Strumpfgelder der Mädchen unterschlage.

Präs. : Sie haben doch bei Frau Riehl gewissermaßen eine Ver- trauensstellung eingenommen. Haben Sie denn nicht verlangt, daß Sie auch einen Lohn erhalten? Angekl.: Ja, ich war das „erste Mädohen" im Hause. Frau Riehl hat immer gesagt, sie werde schon für mich sorgen und hat mich ins Theater nach „Venedig in Wien" mitgenommen, damit ich Zerstreuung habe.

72 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Regine Riehl: Es ist unglaublich^ daß die Irma so gegen mich aussagen kann. Ich habe sie gehalten wie mein eigenes Kind. Alle Schlüssel habe ich ihr anvertraut, sie hat gewußt, wo mein Geld aufbewahrt ist. Die Irma war mir ein Heiligtum ... Präs.: Dieses Wort sollen Sie nicht mißbrauchen.

Dr. Rah enle ebner: Ich habe alle diese Mädchen in meiner Kanzlei eindringlich befragt, auch in Abwesenheit der Frau Riehl, und sie ermahnt, die Wahrheit zu sagen, und alle haben mir er- widert: Alles, was die Lisi sagt, ist nicht wahr. Das hat mich auch bestimmt, die Vertretung zu übernehmen. Angekl.: Nattlr- lich, wir haben den Herrn Doktor auch angelogen. (Heiterkeit.) Verteidiger: Wie war denn die Kost? Angekl, : Na, die war sehr gut, alles was wahr ist. Auf eine andere Frage des Ver- teidigers gibt die Angeklagte so rasch Antwort, daß er sagt: loh tue Ihnen ja nichts, im Gegenteil. Angekl.: Ich habe auch keine Angst. (Heiterkeit.) Verteidiger: Sie haben uns auch von einem Herrn erzählt, der jedesmal 200 Gulden gezahlt hat, das glaube ich Ihnen nicht recht. Angekl: Er ist gekommen; aber Namen nenne ich keine. Verteidiger: Branche ich auch nicht. Der war jedenfalls ein gottbegnadeter Herr. (Heiterkeit.) Angekl.: Er ist auch zwei-, dreimal in der Woche gekommen. Verteidiger: Da gehört er unter Kuratel. (Neue Heiterkeit.)

Die Angeklagte MarieHosch kam durch den „g'flickten Schani^ in das Haus, sie habe sich dort besonders in der jüngsten Zeit sehr wohl befunden. Präs.: Aber immer wird das wohl nicht so ge- wesen sein? Angekl.: Ja, einmal wollte ich mit ftnf Kolleginnen durchgehen. Präs.: Sie hatten vor, sich nachts mittelst Lein- tüchern auf die Straße hinunterzulassen, sind aber davon abgekommen.

Frau Riehl: Ich habe die Lili gehalten wie ein eigenes Kind. (Bewegung.)

Dr. Rabenlechner (zurHosch): Waren vielleicht die andern Mädchen so geartet, daß sie ein strengeres Regiment notwendig machten, waren die schlimmer als Sie? Angekl.: Ja, manche . .

Die Angeklagte Marie Wink 1er war Stellvertreterin der Irma.

Präs.: Also so eine Art Ausnahmsstellung. Angekl.: Ich war gewöhnlich bei der Frau im ersten Stock. Wenn die Irma nicht anwesend war, hatte ich das Geld an die Rielil abzuliefern. Präs.: Sie haben Rechnung über Ihren Verdienst geführt, darnach haben Sie 5337 Kronen in einem halben Jahre verdient.

Dr. PoUaczek: Die Liste der Besucher macht den Eindruck der Glaubwürdigkeit, denn sie ist der Zeit nach geordnet. (Liest von

I. Der Prozeß Riehl und Eonsorten in Wien. 73

vielen Zetteln ab: „Hanptmann^^ „Alfred^', „B&umeister^S „Japaner'S „Bekannter'^ „Leutnant^^, ^Oberleutnant** „Spitzbart", „Doktor" nsw.)

Präs.: Haben sich Mädcben bei Ihnen beklagt? Angekl.: Zu mir haben sie kein Vertrauen gehabt. Präs.: Wurden die Herren animiert, Champagner zu trinken? Angekl.: 0 ja!

Die Angekl. Joseph ine Zawazal war zweimal im Hause der Riehl längere Zeit Das erstemal entlief sie, und naoh einigen Monaten kam sie wieder, weil ihr eine Freundin mitteilte, Frau Riebl sei nicht mehr so streng. Präs.: Fanden Sie, daß sich die Verhältnisse geändert hatten? Angekl: Nein. Die Angeklagte berichtet über ihre Flucht. Die Riehl habe sie besonders sohlecht behandelt. Die Angeklagte Riehl behauptet, die Zavazal sei von ihrem Liebhaber geprügelt worden.

Sophie Christ wurde gleichfalls mißhandelt. Als sie fortgehen wollte, sagte ihr die Riehl: „Ein Schmarrn, gehst fort in deine Fetzen." Als eine der „Damen^^ entsprang, wurde die Christ geprügelt, und die Riehl schlug sie mit einem Besen.

Präs.: Warum? Angekl.: Ich weiß nicht.

Sophie Christ ist zweimal geprügelt worden, weil sie zu ent- fliehen versuchte. Das zweite Mal gelang es einer Genossin zu entkommen; sie selbst wurde im „italienischen Zimmer*^ von der Riehl und der Hosch geschlagen. Die Riehl sagte : „Du kriegst die Prttgel daftlr, daß die andere durchgegangen ist Dafbr mußt du jetzt büßen.**

Frau Riehl erklärt alles als Lüge. Die Christ habe als Dienst- mädchen in die Küche gehen wollen. Da sie (die Riehl) das nicht duldete, sei die Christ entlassen worden. Die Christ habe ihr ver- sprochen, ihr schöne Mädchen zuzuführen.

Ernestine Gönye, das frühere Stubenmädchen der Riehl, er- zählt, daß kranke Mädchen manchmal vor dem Arzt versteckt worden smd. Ifan sagte, die Betreffende sei zu einer Taufe gefahren und komme erst in ein paar Tagen wieder. Ein einzigesmal sei eine Endliche polizeiliche Revision in allen Zimmern vorgenommen worden. Agent Piß kam wiederholt und sprach mit der Frau. Auch des Abends kam er. Die Gönye wurde zweimal geschlagen, das zweitemal, weil sie sich vom Masseur der Riehl die Nägel schneiden ließ. Die Riehl sagte ihr: ^^Wie können Sie sich unterstehen, sich von meinem Doktor die Nägel schneiden zu lassen? Er wird mein Cremahl, und Sie lassen sich von ihm die Nägel schneiden!'^

Bei der Szene im Badezimmer, wo die Operation mit dem Spiegel VI Anna Christ vorgenommen wurde, war die. Gönye anwesend.

74 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Der Präsident verliest die protokollarische Aussage der flüchtigen Emma Madzia, die angibt, sie sei von Frau Biehl ttber ihre Aus- sage instruiert worden und habe als Lohn eine goldene Uhr von ihr erhalten. Frau Riehl: Wenn alles wahr wäre, was die Madzia angegeben hat, warum ist sie dann nicht zur Verliandlung erschienen? Präs.: Daß sie heute nicht erschienen ist, ist nicht unbegreiflich; denn sie ist wegen falscher Zeugenaussage angeklagt. Warum haben Sie ihr denn die Uhr geschenkt? Frau Riehl: Weil ich sie zur Firmung geftthrt habe. Präs.: Wie kommen denn Sie dazu, die Mädchen zur Firmung zu führen? Frau Riehl: Weil sie mich darum gebeten haben. Präs.: Oder um sie an sich zu fesseln? Denn jedenfalls steht das im Widerspruch zu den Zwecken, die Sie sonst mit den Mädchen verfolgt haben.

Nach der Mittagspause wird der Oberpolizeirat und Regierungs- rat Dr. Kroph als Zeuge einvernommen. Er war bis zum Vorjahr Vorstand des Kommissariats Aisergrund, dem er zwölf Jahre vorstand.

Präs.: Haben Sie in dieser Eigenschaft auch mit dem Prosti- tutionswesen zu tun gehabt? Zeuge: Jawohl, ich habe die Be- amten instruiert und die oberste Eontrolle geführt. Präs.: Ist es richtig, Herr Zeuge, daß die Aufsicht im Hause Riehl ausschließlich dem Agenten Piß überlassen war? Zeuge: Der Agent hatte selbst keine Verfügungen zu treffen. Dazu war ein eigener Referent da. Allerdings wurde der Agent, der ja damals als ver- trauenswürdig galt, zu Recherchen verwendet. Präs.: Haben Sie, Herr Zeuge, jemals persönlich das Haus besucht? Zeuge: Nein. Präs. : Sind regelmäßige Revisionen im Hause Riehl vorgenommen worden? Zeuge: Es haben von Zeit zu Zeit bei aktuellen An- lässen solche Revisionen stattgefunden. Aber ich bitte in Betracht zu ziehen, daß wöchentlich zwei auch vier Amtsärzte ins Haus kamen, die sich von den im Hause bestehenden Verhältnissen über- zeugten, und die mir stets versicherten, daß sie alles in bester Ordnung vorgefunden hätten.

Präs. : Ist es Ihnen bekannt, daß ein gewisser Weber persönlich bei dem Kommissariat eine Anzeige ei*stattete, daß ihm aber bedeutet wurde, man könne sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgeben? Zeuge: Mir ist es nicht bekannt. Es wäre dies eine Pflichtver- letzung des betreffenden Beamten gewesen. Dr. Rabenlechner: Herr Zeuge, haben Sie sich speziell um das Haus bekümmert? Zeuge: Nein, der Referent hat ja doch 160 Prostituierte, die im Be- zirke wohnen, eine große Menge geheimer Prostituierter und ein Heer von Zuhältern zu überwachen. Dr. Rabenlechner: Herr

L Der Prozeß Riehl und KouBorten in Wien. 75

Zeage werden jedenfalls zngeBtehen, daß die öffentliehen Häuser eine Absperrung und Easernierung der Prostituierten bezwecken und dafi es in der Intention der Polizei gelegen ist, diese Absperrung gründ- lieh zu besorgen. Zeuge: Jedenfalls muß der Gassenstrich ver- mieden werden.

Dr. Haben leohner: Was haben Sie, Herr Zeuge, von dem Material, das sich der Prostitntion zuwendet, fbr einen Eindruck ge- wonnen? — Zeuge: In den meisten Fällen waren es Mädchen, an denen nichts mehr zu verderben war. Dr. Rode: Woher haben Herr Zeuge diese Gewißheit? Zeuge (lächelnd): Ich glaube mir ein solches Urteil auf Grund meiner Menschenkenntnis erlauben zu können. Dr. Rode: Um diese Sicherheit sind Sie zu beneiden.

Das Beweisverfahren wird hierauf geschlossen.

Staatsanwaltsubstitut Dr. Langer zieht die Anklage in mehreren Punkten zurück. Hinsichtlich des Friedrich König wird die Anklage anf das Verbrechen der Kuppelei nach § 132 IV St.G.; in idealer Kon- kurrenz mit dem Verbrechen nach §§ 5; 93 St.G., ausgedehnt.

Der Staatsanwalt führt aus:

Wenn ich mir auch der Grenzen meiner Kompetenz bewußt bin, 60 halte ich es trotzdem für notwendig, einige einleitende Bemer- kungen zu machen, die die Stellung der Staatsanwaltschaft präzisieren Bollen. Es bandelt sich zunächst um die Stellung zu den Publikationen im ,,Extrablatt^\ Ich will Herrn Bader durchaus nicht das Verdienst bestreiten, das er sich durch die Aufdeckung der Mißverhältnisse im Hause Riehl erworben hat. Seine Artikel waren nur der Anlaß zur Einleitung des Strafverfahrens. Der Untersuchungsrichter ist dann bei der Bewältigung des riesigen Arbeitsmaterials nur mehr von seinem Gewissen .und seiner Amtspflicht geleitet worden, und einsehneidende Schritte wurden erst unternommen, als der in der Presse erhobene Verdacht durch beeidete Zeugenaussagen unterstützt wurde.

Die Anklage ist aber auch nicht ein Akt der Prüderie, wie schon behauptet worden ist. Sie bezweckt auch nicht die straf- gerichtliche Verfolgung der Prostitution, denn die Staatsanwaltschaft weiß, daß die Prostitution ein Problem der Verwaltungslehre, nicht aber des Strafrechtes ist. Die Strafbehörde hat erst dann ein- zuschreiten, wenn Auswüchse zutage treten, wie sie der Unter- snehungsricbter bezüglich des Treibens im Hause Riehl festgestellt hat; die Angeklagte hat es unternommen, durch die Hintertür der Prostitution die Sklaverei in unsere Kultur einzuschmuggeln, und die Staatsanwaltschaft war verpflichtet, dagegen einzuschreiten. Ich

76 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

kann mich nicht zu der hier ausgesprochenen Ansicht bekennen, daß ein Mädchen der Wohltat des gesetzlichen Schutzes verlustig gehe, wenn sie durch Not oder durch Leichtsinn auf die Bahn des Lasters geraten ist. Es waren nicht durchaus Verlorene, an denen nichts zu verderben ist; auch diese verirrten Mensclienkinder sind der Mühe und der Fürsorge der Staatsbehörden würdig.

Zur Beweisfrage erklärt der Staatsanwalt, daß er durchaus nicht Obersehe mit welch' großer Vorsicht Zeugenaussagen von Prosti- tuierten aufzunehmen seien, da erfahrungsgemäß in solchen Personen Wahrheitsliebe und Pflichtgefühl von der durch das Gewerbe ge- steigerten Eitelkeit ganz überwuchert werden. Ebenso schwere Bedenken stehen aber auch den Angaben der beiden Angeklagten entgegen. Denn der Regine Riehl ganzes Sinnen und Trachten ist beherrscht von brutaler Habgier. Und an ihrer Seite waltete als Superlativ der Hinterhältigkeit Äntonia PoUak. Wir sehen in Regine Riehl und Antonia Pollak nur egoistische Motive, und bei Personen, bei denen Geldsucht und Habgier so starke Triebfedern sind, muß man daran zweifeln, daß sie die Pflicht zur Wahrheit kennen, ge- schweige denn daß sie darnach handeln. Andererseits liegen eine Reihe von Momenten vor, welche die Bedenken gegen die Zeugen- aussagen beseitigen. So zunächst die Übereinstimmung dieser großen Zahl von Aussagen. Wenn nun vielleicht von Seiten des Verteidigers der Riehl daraus das Bestehen eines Komplotts geschlossen werden sollte, so übersieht er hierbei, daß dieser Uniformität der Aussagen auch eine Uniformität des Tatbestandes entspricht. Schließlich sei darauf hin- zuweisen, daß auch die Hausbesorger die Aussagen der Mädchen durchwegs bestätigt haben, und daß wie die Geschichte der Prostitution lehre die Freiheitsbeschränkung ein typisches Kuppler- verbrechen ist.

In das Haus Riehl wurden die Mädchen mit süßen Worten ge- lockt und mit freundlichen Mienen eingeführt. Von diesem Augen- blick an waren sie Gefangene der Riehl, sie wurden hinter zwei- fachem Schloß und Riegel in der Kaserne zurückgehalten, und vor die versperrten Türen wurde der Cerberus Antonie Pollak gesetzt. Nun galt es alle diejenigen Faktoren auszuschalten, welche diese Schlösser hätten sprengen können, hierher gehört die Konfis- kation des Geldes und der Straßenkleider und die Bemühung, die Angehörigen der Mädchen vom Hause fernzuhalten. Ein anderer Faktor waren die Behörden, und da ist es der Riehl wohl sehr leicht gemacht worden, diese durch Geheimhaltung der Einrichtungen des Hauses hinters Licht zu führen. Der eine Referent hatte keine

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Zeit, der andere hatte es anter seinem Dekorum gefanden, seinen Obliegenheiten nachzakommen. Andere haben sogar anter Berufung auf § 1 53 St.P.O. sieh der Pflicht entziehen dürfen, über ihre Amts- tätigkeit Auskunft zu geben. Zugleich trat noch der Umstand ein, daß es die beiden Angeklagten und insbesondere die Eiehl verstanden haben, bei den Mädchen Mißtranen gegen die polizei- lichen Organe zu erwecken.

Der Staatsanwalt widerlegt dann die Behauptung, daß die Angeklagte Riehl glauben durfte, bona fide zu handeln; das Gegenteil ergebe sich aus der Tatsache, daß sie gerade die hier gerügten Ein- richtungen bei den Revisionen immer verheimlicht hat und aus den mannigfachen Bemühungen sich des Wohlwollens der Polizeiorgane zu versichern.

Die angeklagten Prostituierten betreffend, verweist der Staats- anwalt auf ihre Geständnisse und bemerkt, duß sie allerdings bei Ablegnng ihrer Aussagen unter der Pression der Riehl gestanden 8eieu, immerhin aber auch die Versprechungen von Geschenken einen bestimmenden Einfluß auf sie geübt haben.

Der Angeklagte Friedrich König habe es selbst zugestanden, daß er sein Kind verkauft und aus dem Schandgewerbe Nutzen ge- zogen hat. Er hat nicht einmal dem Mädchen sein Ohr geliehen, das ihm sein Leid klagen wollte; und er hat es zustande gebracht, sein Kind zu schlagen, mit dem Arbeitshaus zu drohen, bis es zu der abstoßenden Szene kam, bei der das Kind niederknien und die Riehl um Verzeihung bitten mußte. Seine Verantwortung sei nur eine offenbar von der erfindungsreichen Frau Riehl ersonnene Ausrede. Es sei demnach festgestellt, daß er sich in dem Sinne be- tätigt hat, daß sein Kind im Hause verbleibe und die Prostitution betreibe, und hierin sei der Tatbestand der Kuppelei erschöpft.

In Ansehung der juristischen Qualifikation der Taten der einzelnen Angeklagten verweist der Staatsanwalt auf die Anklageschrift und schließt mit der Erörterung der Straf frage.

Dr. Walter Rode als Vertreter von fünfzehn Privatbeteiligten, jener Mädchen^ die im Hause Riehl zu Schaden gekommen sind, fbbrt in einer temperamentvollen Rede aus: Die Ursache des Be- stehens eines Regimentes, wie es das der Riehl wahr, eines Regi- mentes, daß sich etablieren und behaupten konnte im Angesichte aller Welt und unter den Augen der Behörde, scheint mir darin zu liegen, daß die Gesellschaft die Tendenz hat, das Lebensgebiet der Prostitu- tion im Dunkel zu halten, und darin, daß über die Rechtsstellung der Prostituierten eine allgemeine Begriffsverwirrung herrschend ist.

78 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

Redner gibt eine allgemeine Darstellung der Bechtsstellung der Prostituierten und sagt, bis jetzt war immer nur die Rede von dem Schutz der Öffentlichkeit gegen die Prostitution; von dem Rechte der Prostituierten, von dem war leider nie die Rede. Redner be- spricht die in der Oktroyierung der Hausordnung und in der Arrogie- rung einer Gewalt gelegene Beschränkung der Freiheit der Mädchen nach allgemeinen juristischen Gesichtspunkten und schließt seine Rede: Unsere Namen und unsere Angelegenheiten werden längst ver- gessen sein, wenn der Namen der Frau Regine Riehl, dieses denk- würdigen Prozesses wegen, seine traurige Berühmtheit in der Krimi- nalgeschichte behauptet haben wird. Sie hat sich das Strandrecht angemaßt über jene Mädchen, die das Meer des Elends ausgeworfen hat und hat mit der Jugend und Schönheit schamlosen Blutwuoher getrieben. Als im Jahre 1 397 das Gericht des Erzbischofs von Paris die Kupplenn Jeanne Magleitt ähnlicher Schandtaten, wie sie heute der Riehl zur Last liegen, schuldig fand, lautete die Verurteilung auf öffentliche Schaustellung und Konfiskation von Hab und Gut. Eine Funktion ähnlich dieser Konfiskation sollen nun meine Ansprüche haben.

Dr. Rode stellt hierauf folgende Ansprüche und zwar für Frei- heitsentziehung, Verdienstentgang und Vorenthaltung von Effekten für 1) Anna Christ 1204 K.; 2) Elise M. 800 K.; 3) Angela G. 480 K.; 4) Ottilie G. 1360 K.; 5) Georgine W. 1544 K.; 6) Marie St. 187 K. 38; 7) Josephine T. 668 K.; 8) Marie H. 518 K.; 9) Therese Seh. 55 K. 30; 10) Marie K. 10400 K.; 11) Therese M. 5 K.; 12) Anna F. 129 K.; 13) Paula D. 460 K.; 14) Julie B. 166 K.; 15) The- rese L. 1200 K.

Der Verteidiger Dr. Rabenleohner, der nunmehr das Wort er- greift, erklärt, daß die Verteidigung der Regine Riehl sich auf etwas ganz anderes autbaue, als der Staatsanwalt vorausgesagt habe. Sie müsse behaupten, daß die eigentlichen Schuldigen unsichtbare Gestalten sind, die in diesem Saal nicht anwesend sind. Die Be- schuldigten erscheinen in ihrer Vertretung mit einer grotesken Sub- stitutionsvollmacht. Man müsse sich fragen, ob der Staatsanwalt nicht die Pflicht gehabt habe, gegen diese Unsichtbaren mit der- selben Wucht und Schneidigkeit aufzutreten, wie gegen die wirklich Angeklagten. Gestern habe man es aus einer autoritativen Er- klärung des kais. Rates Dr. Merta erfahren, daß eine Regelung der Prostitution im gesetzlichen Wege nicht bestehe, und daß auch diese wichtige Begebenheit ebenso wie andere wichtige Fragen in Österreich nur halb erledigt wird. Man toleriert öffentliche Häuser,

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 79

erteilt strenge Reglements und erläßt Verordnungen. Aber wenn diese VoTsehriften mit Energie angewendet werden, trete strafrecht- liobe Almdnng ein, obwohl sieh alle angeklagten Mißstände als wesentUcbe Folgeerscheinungen des Betriebes eines öfifentlichen Hauses ergeben. Als man der Regine Riehl die Eonzession für ihr Gewerbe erteilte, habe man genau gewußt, daß sie viermal wegen Übertretung der Kuppelei empfindlieh vorbestraft sei. Und dennoch habe man ihr die Erlaubnis erteilt, vielleicht weil man in diesem Vorleben eine Art Befähigungsnachweis für den Beruf erblickte. Man habe also gewußt, mit wem man es zu tun hatte, und konnte Eontrollen und Revisionen verschärfen. Es ist doch nicht gut möglich, ruft der Verteidiger ans, daß auch die Akten mit den Vorstrafen wie soll ich mich ausdrücken zur Unkenntnis der Behörden gelangt sind. (Heiterkeit.) Mußte also Frau Riehl nicht, als sie sah, daß ihre Vorkehrungen, die sie unter den Augen der Behörden traf, unbeanstandet blieben, während sie Ausdrücke der Zufriedenheit seitens der Polizei zu hören bekam, der Ansicht sein, daß das, was sie tat, auch wohlgetan war? Kann man ihr nicht mit voller Berechtigung zubilligen, daß sie bona fide gehandelt hat? Wer die Revision im Hause Riehl vorgenommen hat, ob der Polizei- präsident oder der Agent Piß, ist für uns gleichgültig. Ebenso, ob die Revisionen korrekt waren oder nicht. Das mögen die Herren untereinander ausmachen. Eine zu Aufsichtszwecken entsendete Amtsperson war es, und das ist die Hauptsache. Aber wir wissen es, es kamen auch Herren mit Rosetten. Wozu sie kamen interessiert uns wieder nicht.

„Meine Herren! Es ist leider eine notorische Tatsache, daß sich jene Unglücklichen, die sich der Prostitution widmen, von selbst ilirer kostbaren Freiheit begeben, jener Freiheit, die uns berechtigten Staatsbürgern unbedingt zukommt. Die Prostituierten revozieren selbst auf die Betätigung der ihnen gesetzlich gewährleisteten Freiheit ihrer Person; sie begeben sich freiwillig, wenn auch durch Not und andere Unbilden bedrängt, in jenen Zustand beschränkter gesetzlicher Berechtigung, der nur zum wenigsten in der Internierung in öffent- lichen Häusern Ausdruck findet. Die Polizei beschränkt ihre Frei- heit; sie tut es im Interesse der öffentlichen Ordnung. Sie dürfen, meine Herren vom hohen Gerichtshof, nicht so urteilen, als ob es sich um Menschen unserer Kreise handeln würde. Sie müssen binabsteigen in das Milieu der Bordellwirtschaft. Nur dann können Sie ein richtiges und gereiftes Urteil finden."

Der Verteidiger erörtert dann die Möglichkeiten, die den

80 I. Der Prozeß Riebl und Konsorten in Wien.

Mädchen der Riehl offen gestanden sind, sich aus ihrem Hanse zu entfernen, wenn ihnen wirklich daran gelegen war.

,,61auben Sie, meine Herren, daß es wirklich möglich gewesen ist, ein Dutzend Mädchen vier Jahre lang ihrer Freiheit zu berauben ? Das können Sie nicht annehmen, wohl aber können Sie mit Recht kalkulieren, daß es den unberechenbar launischen Mädchen niemals um wirkliche Flucht zu tun war, da sie ja selbst in dankbaren Briefen um neuerliehe Aufnahme baten, wenn sie einmal das Hans Riehl verlassen hatten.

Die Empfindung müssen Sie haben, das diese Anklage weit übers Ziel hinausschießt, aber die Überzeugung müssen Sie auch haben, daß wenn tatsächlich der objektive Tatbestand der persönlichen Freiheits- beraubung vorliegt, gewiß das subjektive Verschulden fehlt, die Ab- sicht, die zu jedem Verbrechen erforderlich ist*^

Hierauf ergreift der Verteidiger der sieben wegen falscher Zeugenaussage angeklagten Mädchen Dr. Wolfgang Pollaczek das Wort. Er führt aus:

„Nicht selten haben aufsehenerregende Eriminalprozesse den Anstoß zu weitgreifenden Reformen gegeben. Der eiserne Besen der Justiz, bestimmt, einige angefaulte Existenzen wegzufegen, deckt Schäden auf, über welche die Gewohnheit des Tages hinwegeilt, niclit ahnend, wie tief sie sind, wie sehr sie hineinfressen in das GefQge der Gesellschaftsordnung. Wir haben erlebt, wie zu Beginn unseres Jahrhunderts die Prozesse wegen Eindermißhandlnng zugleich das Augenmerk der Öffentlichkeit auf den ungenügenden Schutz der be- stehenden Gesetze gelenkt und zur Gründung hilfsbereiter Insti- tutionen angespornt haben. Wir sahen, welch segensreiche Wirkung der Kinderspitalprozeß auf die Regelung der öffentlichen Kranken- pflege, welche Maßregeln die Spielerprozesse in Deutschland, der „Pall Mall"- Prozeß in England im Gefolge hatten. Auf Grund dieser Erfahrungen wollen wir denn das traurige Kapitel Wiener Lokal- geschichte, das in den letzten Tagen weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus ungeheures Aufsehen erregt hat, mit der trostreichen Perspektive zum Abschluß bringen, daß hoffentlich die beispiellosen Mengen von Schmutz und Gemeinheit, von ekligem Laster und ab- grundtiefer Rohheit nicht umsonst zutage gefordert wurden, daß aus dem Bodensatz, der hierbei bloßgelegt wurde, die Erkenntnis sich emporgerungeu hat, daß auch den Letzten der Letzten, den Ver- achtetsten der Verachteten der Schutz nicht versagt werden darf, der ihnen im Namen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit gebührt.

Ich habe hier nicht genug getan, wenn ich die individuellen

L Der Prozeß Hieb! und Konsorten in Wien. 81

Straftaten dieser sieben Angeklagten zn exkulpieren snche, sondern ich habe hier zu zeigen, daß im allgemeinen Vergebungen von Prostitaierten, wie sie hier unter Anklage gestellt wurden, einer ganz eigenartigen Beurteilung zu unterziehen sind. Ich verteidige Uer nieht nur Prosituierte, sondern ich habe zn erkl&ren, wie Ver- brechen der Art, wie sie die Staatsbehörde hier unter Anklage ge- stellt haty dann zn beurteilen sind, wenn sie von Angehörigen der Kaste der Prostituierten begangen worden sind.

Ein tranriges Wort ist mir entschlflpft. Kaste der Prostituierten ! Fast mochte man meinen, es sei eine Anomalie, ein Anachronismus, eiD Unding, im modernen europäischen Staatswesen von Kasten zu sprechen. Und doch! Aller Fortschritt, alle modernen Anschauungen von den Rechten des Individuums, von der freien Selbstbestimmung, die Staatsgrnndgesetze und die modernsten philosophischen Systeme können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die unglttck- Hehen Geschöpfe, die Genußsucht, Not, Leichtsinn, Verführung oder Verbrechen anf die Bahn des Lasters geführt haben, nur in den seltensten Aasnabmef&llen, in einem gar nicht nennenswerten Prozent- satz sich ans den umstrickenden Armen der Sünde losmachen.

Blamier* mich nicht, mein schönes Kind, Und grflß* mich nicht anter den Linden. Wenn wir nachher zu Hanse sind, Wird sich schon alles finden.

Welch feine psychologische Beobachtung in den Versen des großen Dichters und Satirikers! Wie hat er in wenigen Worten ein Übermaß von Grausamkeit, Verachtung und Selbstsucht gekenn- zeichnet, mit wenigen Strichen die Tragödie der Dirne treffend entworfen! Süße Schäferstunden, heiße Umarmungen, höchste Lust zu gew&hren, dazu sind sie gut genug. Mag einer ein noch so hoher Herr sein, er wird mit aufgestülptem Mantelkragen den Weg in die dunklen Gassen des Lasters finden; aber gleich einem eklen Warme schüttelt er eine halbe Stunde sp&ter Jdie Berührung des Weibes von sich ab, das er eben noch glutvoll umfangen, wenn er fllrehten muß, ein Bekannter fange einen verräterischen Blick, ein geflüstertes Wort auf, das seine Beziehungen |zu dem Auswürfling verraten könnte! Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Psychologie der Dirne, die sich leichter über ^die Gebote der Pflicht und der Gesetze hinwegsetzt, weil ihr gegenüber das oberste Ge- bot hintenangesetzt wird: das Gebot der Achtung vor dem Menschentum !

AithiT ffir Kiiminalanthropologie. 27. Bd. 6

82 I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien.

So also sei der Boden beschaffen, anf den dann von einer so energischen nnd geistig' überlegenen Person wie Regine Riehl die Saat einer Anstiftung zu einem Verbrechen ausgestreut worden sei. Furcht, Mitleid und Notlage seien die Motive gewesen, aus denen die Mädchen die falsche Aussage abgelegt haben und denen normale Menschen vielleicht hätten widerstehen können, nicht aber Prosti- tuierte, in denen jedes Rechtsgef&hl ertötet, jede Energie gelähmt, alle Rechtsbegriffe in ihr Gegenteil verkehrt worden seien, so daß die Zwangslage, in die sie von der Riehl gebracht seien, als eine im gegebenen Falle unwiderstehliche bezeichnet werden müsse. Bei Anna Christ und Marie Winkler komme überdies freiwilliger Rück- tritt vom Versuche in Betracht, da beide spontan vor dem Unter- suchungsrichter ihre falsche Aussage widerrufen hätten. Kein Zweifel, schließt der Verteidiger, daß Richter aus dem Volke, wenn sie über diese unglücklichen Mädchen zu urteilen hätten, sie frei- sprechen würden. Wenn ich den gleichen Appell an Sie, meine Herren vom hohen Gerichtshof, richte, dann weiß ich, daß Sie mit Freuden durch weise Begründung eines Freispruehes, zu dem ich hoffentlich durch meine bescheidenen Ausflihrungen beigetragen habe, der höchsten Aufgabe des Richters entsprechen werden, zu zeigen, daß das Recht der Juristen kein anderes ist als das der Menschlichkeit."

Verteidiger Dr. Hofmokl ftilirt aus, daß sich bezüglich seines Klienten Friedrich König das Kuriosum ereignet habe, daß er der Mitschuld an einem Faktum angeklagt sei, das der Staatsanwalt bezüglich der Hauptbesehuldigten Riehl zurückgezogen hat. König sei also der Mitschuld an einem Verbrechen beschuldigt, das gar nicht angeklagt ist. Aber selbst wenn sich der Verteidiger auf den Standpunkt stellte, daß die Anklage in dieser Richtung igerecht- fertigt sei, müsse der Angeklagte mangels eines strafbaren Tat- bestandes freigesprochen werden. Denn das Gesetz erkläre aus- drücklich, daß das Delikt der Freiheitsberaubung nur auf solche Personen Anwendung finde, denen eine Gewalt über das freiheits- beraubte Individuum nicht zusteht. Aber dem Vater stehe das Recht der väterlichen Gewalt über sein Kind zu, und so könne denn der § 93 St.G. auf König niemals Anwendung finden. Wenn der Angeklagte sich Überschreitungen seiner väterlichen Gewalt zu schulden kommen ließ, so könne dies nur auf zivilgerichtliohem Wege ausgetragen werden.

Bezüglich der Übertretung des § 5 des Vagabundengesetzes aei Dr. Hofmokl nicht in der Lage, für einen Freispruch seines

I. Der Prozeß Biehi and Konsorten in Wien. 83

Elientea zu plädieren. Es sei, nm einen starken Ansdrnok zu ge- brauehcD, eine arge Schweinerei gewesen, was dieser Vater ge- tan habe, und deshalb sitze er hier anf der Anklagebank. Daß die Eltern Gelder einkassieren gekommen seien, darüber wolle er kein Wort verlieren. Und wie hier an all den Eltern ein Exempel ttatniert werden sollte, so sei den Herren vom Gerichtshof ins Gre- dlLchtnifl zurückgerufen, daß König hier für alle das Bad ausgießen mfisse. Dr. Hofmokl schließt mit den Worten: Es ist hier viel Staub aufgewirbelt worden, und viel Schmutz hat sich aus dieser einen Quelle ergossen. Sie mögen, meine Herren, die Angeklagten Terurteilen oder nicht die Prostitution werden Sie nicht ab- schaffen !

Es folgen Replik und Duplik. Die Verhandlung wird ge- sehlossen.

Urteil.

Das k. k. Landgericht Wien hat zu Hecht erkannt:

I. Begine Riehl ist sehuldig:

a) sie habe in der Zeit Tom Jahre 1897 an, die nachbenannten Personen, über welche ihr yermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig yer- BcMoBsen gehalten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurück- halten ihrer Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert imd zwar die:

1) Jnliana Bernhard, 2) Anna Christ, 3) Sofie Christ, 4) Paula Denk, h) Anna Felber, 6) Ottilie Geresch, 7) Amalia Glaser, 8) Angela Großmann, 9) Aloisa Hirn, 10) Julie Hlawatschek, 11) Marie Husek, 12) Anna Kirchner, 13)MarieKönig, 14)MarieKotzlik,15) Anna Kristof, 16) Elise Lipper, 17) Therese Ladwiczek, 18) Eva Madzia, 19) Elise Menschik, 20) Marie Nemetz, 21) Justine Boatschek, 22) Marie Starek, 23) Michaela Stawicka, 24) Josefine Taubmann, 25) Georgine Weinwurm, 26) Joseßne Zawazal, es habe bei den sub 2—14 und 16 2*2 und 24 26 genannten Personen die Anhaltung über drei Tage ge- dauert, und es haben die sub 2, 3, 4, 5, 6, 16, 19, 20, 24, genannten Personen nebet der entzogenen Freiheit noch anderes Ungemach zu leiden gehabt.

b) sie habe in dieser Zeit, die yon Josefine Taubmann zur Verwahrung übernommenen W&schestücke, somit an?ertrautes Gut, in einem 100 K. nicht erreicbenden Werte nach deren Austritte aus ihrem Hause yorenthalten und sich zQgeeignet

c) sie habe im Juni und Juli 1906 in Wien, durch die Bitte, zu Gunsten der Reg^e Riehl auszusagen und durch das Versprechen und die Verteilung ▼OD Geschenken die sub IV a, b, c, d, e und g bezeichnete Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ, Emestine Gk^nye, Marie Hosch, Josefine Zawazal, Marie Pokomy, sowie die Übeltat der Eva Madzia, welche am 5. Juli 1906 über die Einrichtung des Riehischen Hauses, das Leben der Prostituierten daselbst und über die Verrechnung des Schandlohnes dem Untersuchungsrichter des k. k. Landesgericbtes Wien unter Eid unwahre Angaben machte, somit vor Gericht

6*

84 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

ein falsches eidliches Zeagnis ablegte durch Anraten, Unterricht und Lob eingeleitet, und vorsätzlich veranlaßt,

d) sie habe im Juni und Juli 1906 in Wien durch Versprechungen von Geschenken bei Maria Nemetz sich um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht ab- gelegt werden soll, beworben.

e) sie habe seit 1897 den nachbenannten Schanddimen und zwar: der Anna Christ, der Emilie Nawratil und der Justine Bohaczek zur Betreibung ihres un- erlaubten Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt gegeben.

Begine Biehl habe hierdurch begangen:

ad a) das Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit nach § 93 St.G. und § 94 St. G.

ad C) die Übertretung der Veruntreuung nach §§ 461 und 183 StG.

ade) das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach §§ 5, 197, 199 a. StG.

a d d) das Verbrechen des Betruges durch Bewerbung um falsches Zeugnis nach §§ 197, und 199 a. St.G.

ade) die Übertretung der Kuppelei nach § 512 a St.G.

Begine Biehl wird nach §§ 34, 35 und 94 St.-G. (höherer Strafsatz) zur Strafe des schweren, vierteljährig durch einen Fasttag verschärften Kerkers in der Dauer von drei und einem halben Jahre, femer gemäß § 389 StP.O. zum Strafkostenersatze und gemäß § 366 StP.O. und § 1329 a. b. G.B. zum Ersätze eines Betrages als Genugtuung fOr die Freiheitsentziehung und zwar an Anna Christ per 200 K., Elise Menschik per 100 K., Angela Großmann per 100 K., Ottilie Geresch per 500 K., Georgine Wein wurm per 800 K., an Marie Starek per 50 K., Josephine Taubmann per 100 K., Marie Husek per 100 K., Marie König per 1000 K., Anna Felber per 50 K., Paula Denk per 200 K. und an Therese Ludwiczek per 100 K. verurteilt

Mit den übrigen Ersatzansprüchen werden diese Personen und mit ihren Ersatzansprüchen überhaupt: Therese Schlager, Therese Münz und Juliana Bernhard gemäß § 366 StP.O. auf den Zivilrechtsweg gewiesen.

U. Antonie FoUak ist schuldig:

a) sie habe seit 1897 in Wien zu der unter la bezeichneten Übeltat der Begine Biehl in Ansehung der über drei Tage angehaltenen nachbezeich- neten Personen: Anna Christ, Sofie Christ Ottilie Geresch, Angela Großmann, Julie Hlawatschek, Therese Ludwiczek, Elise Menschik, Aloisia Hirn, Georgine Weinwurm und Josefine Zawazal durch Bewachung und Verhinderung der Ent- weichung derselben Hilfe geleistet, und zur sichereren Vollstreckung dieser Übeltat beigetragen.

b) sie habe im Juni und Juli 1906 in Wien durch die Bitte, zu Gunsten der Begine Biehl auszusagen, respektive durch das Versprechen von Geschenken seitens der Biehl die sub IV b, d und e bezeichnete Übeltat der Anna Christ, Sofie Christ und Ernestine Gönye durch Anraten, Unterricht, Lob eingeleitet und vorsätzlich veranlaßt

c) sie habe sich im Juni und Juli 1906 in Wien durch Versprechung von Geschenken bei Josefine Zawazal um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht ab* gelegt werden soll, beworben.

Antonie PoUak habe hierdurch begangen:

ad a) das Verbrechen der Mitschuld an der Einschränkung der persön- lichen Freiheit nach §§ 5, 93, 94 StG.

L Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien. 85

ad b) das Verbrechen der Mitschuld am Betrüge nach § 5, 197, 199a StG. und

ade) das Verbrechen der Bewerbung um falsches Zeugnis nach §§ 197 nod 199 a St.G.

Antonie Po Hak wird nach §§ 34 und 94 StG. (höherer Strafsatz) zur Strafe des schweren Kerkers und zwar unter Bedachtnahme auf § 55 StG. in der Dauer eines Jahres, yersch&rft mit 2 Fasttagen monatlich und nach § 389 St.P.O. zum Strafkostenersatze yerurteilt

m. Friedrich KVnig ist sehuldig:

a) er habe zu der unter la bezeichneten Übeltat der Regine Riehl an der fiber drei Tage angehaltenen Marie König, seiner ehelichen Tochter, durch Miß- handlung derselben und durch die Drohung, sie der Besserungsanstalt zu über- geben, Vorschub gegeben und Hilfe geleistet

b) er habe seit dem Jahre 1902 in Wien aus der gewerbsmäßigen Unzucht der Marie König seinen Unterhalt gesucht.

Friedrich König habe hierdurch begangen:

ad a) das Verbrechen der Mitschuld an der Einschränkung der persön- lichen Freiheit nach §§ 5, 93 und 94 StG.

a d b) die Übertretung des § 5 (Dritter Absatz) des Gesetzes vom 24. Mai 1SS5 Nr. 89 R.G.B1., strafbar nach §§ 35 und 94 St.G. (höherer Strafsats).

Friedrich König wird nach diesen Gesetzesstellen, unter Anwendung des § 55 StG. zur Strafe des schweren, monatlich mit 2 Fasttagen verschärften Kerkers in der Dauer von acht Monaten und nach § 389 StP.O. zum Straf- kostenersatze yerurteilt.

IV. Femer sind schuldig:

a) Marie Bosch, sie habe durch die am 5. Juli 1906 dem Untersuchungs- richter des k. k. Landesgerichtes Wien in der Strafsache gegen Regine Riehl als Zeuge unter Eid gemachten Angaben über die Einrichtung des Riehischen Hauses, das Leben der Prostituierten in demselben und die Verrechnung des Schandlohnee vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt

b) Sofie Christ, sie habe durch am selben Tage demselben Unter- suchungsrichter unter gleichen Umständen als Zeuge eidlich gemachten Angaben aber dieselben Umstände vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.

e) Josef ine Zawazal, sie habe auch am 5. Juli 1906 yor demselben Untenuchungsrichter über dieselben Umstände unter Eid als Zeuge Angaben ge- macht und hierdurch ein falsches 2teugnis yor Gericht abgelegt

d) Ernestine Gönye, habe ebenfalls am 5. Juli 1906 vor demselben Untersuchungsrichter über dieselben Umstände unter Eid als Zeuge Angaben gemacht und hierdureh ein falsches Zeugnis vor Gericht abgelegt

e) Anna Christ, sie habe durch die am 5. und 16. Juli 1906 demselben Untenuchungsrichter über die Frage ihrer Virginität beim Eintritte ihrer Behandlung in dem Riehischen Hause und die Umstände, unter denen sie das Haus verließ, gemachten Angaben vor G^ericht ein falsches Zeugnis abgelegt

f) Marie Winkler, sie habe am 25. Juli 1906 in Wien durch die dem- ußma. ünterrachnngsrichter gemachte Angabe, daß sie ihre Aufieeichnungen aber ihren Verdienst der Regine Riehl gezeigt habe, vor Gericht ein falsches Zeugnis Abgelegt

86 I. Der Prozeß Riebl und Ronsorten in Wien.

g) Marie Pokorny, sie habe durch die am 23. Juli 1906 in Wien dem- selben Untersuchungsrichter gemachte Angabe tlber den Verkehr des Josef Pieß im Riehischen Hause vor Gericht ein falsches Zeugnis abgelegt.

Hierdurch haben die ad a— g genannten Personen das Verbrechen des Betruges nach §§ 197 nnd 199 a. St.G. begangen und werden dieselben unter Anwendung des § 54 StG. und zwar:

Marie Hosch, Sofie Christ, Josefine Zawazal und.Ernestine Gönye nach § 2ü4 StG., Marie Winkler, Anna Christ, und Marie Pokorny nach § 202 StG. verurteilt:

zur Strafe des Kerkers und zwar:

Marie Winkler und Anna Christ in der Dauer von 14 Tagen, Sofie Christ, Josefine Zawazal, Ernestine Gönye und Marie Po- korny in der Dauer yon 3 Wochen und Marie Ho seh in der Dauer von 4 Wochen.

Auch haben die ad a g ganannten Personen nach § 389 StP.O. die Kosten des Strafverfahrens und Strafvollzuges zu tragen.

V. Dagegen werden fkreigesprochen :

A. Regine Riehl von der Anklage:

a) sie habe die 1) Marie Lang, 2) Rosa Maretschek, 3) Therese Schlager, über welche ihr vermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig ver- schlossen gehalten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurück- halten ihrer Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert und habe hiedurch nach § 93 StG. das Verbrechen der Einschr&nkuug der persönlichen Freiheit begangen;

b) sie habe seit 1897 die von 1) Paula Denk, 2) Anna Felber, 3) Marie Husek, 4) Sofie Janeba, 5) Rosa Maretschek, 0) Elisabet Menschik, 7) Emilie Nawratil, 8) Malke Chaie l^escbling, 9) Therese Münz, 10) Justine Rohaczek, 11) Marie Starek, 12) Georgine Weinwurm, 13) Josefine Zawazal zur Verwahrung übernommenen Kleider und Wäsche somit anvertrautes Gut in einem 100 K. übersteigenden Werte nach deren Austritte aus dem Riehischen Hause denselben vorenthalten und sich zugeeignet und habe hierdurch das Verbrechen der Ver- untreuung nach § 183 StG. begangen.

c) sie habe sich im Sommer 1906 in Wien durch Versprechung von Ge- schenken bei Aloisia Hirn um ein falsches Zeugnis, so vor Gericht abgelegt werden soll, beworben und habe hierdurch das Verbrechen des Betruges nach § 197, 199 a StG. begangen.

d) sie habe 1905 in Wien die 1) Anna Felber, 2) Marie Hosch, 3) Elise Menschik vorsätzlich veranlaßt, mit ihrem Körper ihr unzüchtiges Gewerbe zu betreiben, obwohl sie wußten, daß sie mit einer venerischen Krankheit behaftet waren und zur Ausübung dieser Übeltat Vorschub gegeben und Hilfe geleistet und habe hierdurch die Obertretung nach § 5 StG. und § 5/3 des Gesetzes vom 24. Mai 1885 Nr. 89 R.G.BJ. begangen ;

e) sie habe seit 1897 in Wien der 1) Marie Bilek, 2) Malke Chaie Nesch- ling, 3) Elise Menschik zur Betreibung ihres unerlaubten Gewerbes bei sich einen ordentlichen Aufenthalt gegeben und hierdurch die Obertretung nach § 512 a StG. begangen.

ad a) 1 und 2; ad b) 1, 2, 4, 5, 6, 7, 9, 13; ad c), ad d) 1 und 2 und ad e) 1, 2 gemäß § 259/2 St.P.O,

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 87

ad a) 3, ad b) 3, 8, 10, 11, 12 ad d) 3 und ad e) 3 gemäß § 259/3 St P.O.

B. Antonie Pollak von der Anklage:

a) aie habe seit 1897 in Wien die nachbenannten Personen, über welche ihr vermöge der Gesetze keine Gewalt zustand, eigenmächtig yerscblossen ge- halten und sie auch auf andere Art, insbesondere durch Zurückbebalten ihrer Kleider an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit gehindert und zwar: 11 Marie Lang, 2) Rosa Mareczek, 3) Joseßne Taubmann, 4) Juliana £ernhard, 5) Paula Denk, 6) Anna Felber, 7) Amalia Glaser, 8) Marie Husek, 9) Anna Kirchner, 10) Marie König, 11) Marie Kotzlik, 12) Anna Eristof, 13) £lise Lipper, 14) Eva Madzia, 15) Maria Nemetz, 16) Justine Rohaczek, 17) Marie Starck, 18) Michaela Stawicka, 19) Josefine Tanbmann und habe hierdurch das Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit begangen.

ad 1—3 gemäß § 259/2 St.PO. und ad 4—20 gemäß § 250/3 St.P.0.

b) sie habe seit 1897 in Wien durch Zuführen von Schänddimen in das Haus der Regine Biehl ein Geschäft gemacht und hierdurch die Übertretung nach § 512b StG. begangen, gemäß § 259/3 St.P.O.

C. Marie Hosch von der Anklage;

sie habe die ad IV b und c bezeichnete Übeltat der Sofie Christ und Josefine Zawazal durch die Bitte, zugunsten der Regine Riehl auszusagen, durch Unter* rieht, Anraten eingeleitet, vorsätzlich veranlaßt und habe hierdurch das Ver- brechen der Mitschuld am Betrüge nach § 5, 167, 199a St.G. begangen, gemäß § 259/3 StP.O.

Grrflnde :

I. Zum Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit

93 StG) da, IIa, III a).

A. Begrine Riehl

Würde bereits mit Urteil des Bezirksgerichtes Aisergrund vom 27. Jänner 1890 wegen Kuppelei nach § 512 c St.G. zu 2 Monaten Arrest, vom 25. Feber 1893 wegen Kuppelei nach § 512 a St.G. zu 4 Monaten strengen Arrest, vom 6. De- zember 1893 wegen Kuppelei nach § 512 a St.G. zu 4 Monaten strengen Arrest, endlich vom 2. April 1895 wegen Kuppelei nach § 512a und b StG. abermals zu 4 Monaten strengen Arrest verurteilt und hat sie diese Strafen seinerzeit auch Terbüßt. Trotz dieser empfindlichen Abstrafuugen wegen desselben Deliktes gab sie diese Erwerbsart nicht auf sie hatte sich , wie ans dem bezirks- gerichtlichen Strafakte Reg. Nr. 185 ex 1893 hervorgeht, schon ein Kapital von 10 000 fl. erworben und richtete nunmehr ein unter polizeilicher Kon- trolle stehendes Freudenhaus ein, zuerst in der Porzellangasse, sodann in der Mfthlgasse 3, Lichtensteinstraße 15 und zuletzt in der Grüne Torgasse 24; fttr letztere Lokale zahlte sie einen jährlichen Mietzins von 10 000 K. und wurde ihr laut vorliegenden steuerämtlichen Zahlungsauf trage pro 1906 eine Personal - einkoQunensteuer von einem Jahreseinkommen von 35 000 K. bemessen.

Wie aus der Instruktion für die polizeiliche Überwachung von Prostituierten vom 17 Jänner 1900 Z. 5898/A. B. und dem Formulare für das mit den Wohnungs- gebem der Prostituierten au&unehmenden „Verpflichtungsprotokoll" herrorgeht^

88 I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in V^en.

(in 0. Kr. 66) gilt als Minimalaiter einer Person, welcher ein Gesundheitsbach aufgefolgt werden soll, das 16. Jabr und ist die Ausstellung dieses Baches an ein M&dchen von 14 16 Jahren der Polizeidirektion yorbebalten; es hat sich femer bei minderj&hrigen^Bewerberinnen die Polizeibehörde zu überzeugen, ob seitens deren gesetzlicher Vertreter deren Anhaltung zu einem ordentlichen Lebenswandel nicht zu gew&rtigen sei, zu welchem Behufe diese Vertreter ent- sprechend behufs Einfloünahme zu Terst&ndigen sind; es ist femer jede Prosti* tuierte vor Ausfertigung des Gesundheitsbaches durch den Amtsarzt zu unter- suchen und darf an eine geschlechtlich integre Person ein Gesnndheitsbuch nicht ausgefolgt werden; es ist femer jeder Yom Amtsarzt als geschlechtskrank er- kannten Person das Gesundheitsbuch abzunehmen und hat sich dieselbe behufs Spitalaufnahme beim Domizilskommissariate za melden; es kann weiteres der Wohnungsgeberin die Beherbergung von Prostituierten untersagt werden, wenn sie sich einer Ausbeutung derselben schuldig macht oder noch nicht unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Frauenspersonen zur Prostitutionsausfibung oder zum Eintritte in ihr Haus verleitet; [es sind femer die Unterkunftsorte der Prostituierten einer ständigen sorgfältigen Überwachung zu unter- stellen und es hat endlich die Aufnahme des erw&bnten Verpflichtungsproto- koUes unbedingt zu erfolgen, wenn die Unterstandsgeberin 5 oder mehr Prosti- tuierte gleichzeitig in ihrer Wohnung beherbergen will. In diesem Protokolle verpflichtet sich dieselbe insbesondere für eine st&ndige Überwachung des ge- schlechtlichen Gesundheitszustandes der Prostituierten, wozu auch die wöchent- lich zweimalige polizei&rztliche Untersuchung derselben gehört; sie ist ferner mit verantwortlich, daß die Prostituierten das Verbot des Gassenstrichs einhalten ; sie darf keine minderjährigen weiblichen Dienstboten halten; geistige Ge- tränke an Gäste dürfen nicht verabreicht werden; sie hat durch Anbringung dichter Vorhänge oder durch Anstrich der Fenster dafür zu sorgen, daß der Finblick in die Wohnräume unmöglich sei; auch muß es den Abgesandten der Behörde jederzeit frei stehen, alle Wohnräume zu revidieren.

Diese Vorschriften waren daher vom Zeitpunkte ihrer Wirksamkeit auch für das Freudenhaus der Regine Riehl in Geltung, obwohl das mit ihr auf- genommene Verpflichtungsprotokoll unauffindbar war. Wie, allerdings nur zum geringsten Teile aus den tatsächlichen Zugeständnissen der Regine Riehl, femer aus dem vom Untersuchungsrichter genommenen Lokalaugenschein und aus zahlreichen Aussagen der bei Riehl in den letzten 8 9 Jahren untergebracht gewesenen Prostituierten und Dienstpersonen inklusive der Hausbesorger-Leute mit Sicherheit sich ergibt, so bestand im letzten Hause der Regine Riehl (Grüne Torgasse 24) folgende Einrichtung: Das Haus war nach außen hin jederzeit ab- gesperrt und die Aufsicht bei dem Hauseingange dem Portier übertragen; die im Hause verweilenden Prostituierten hatten zumeist ihre Schlafstellen in zwei kommunizierenden Zinunem im 3. Stockwerke, woselbst maximal 16 M&dchen (je zwei in einem Bette) untergebracht werden konnten, während für zwei Mäd- chen ein Zimmer im unteren Stockwerke eingerichtet war, so daß im Ganzen zirka 18 Mädchen daselbst Unterkunft fanden. Die erwähnten zwei Zimmer im 3. Stocke hatten nur einen Ausgang in das an das Hofzimmer anschießende, mit Eloset und Badewanne versehene Vorzimmer, die Fenster des Gassenzimmers waren, wenigstens die unteren, mit Milchglas versehene Flügel, stets versperrt, während die Flügel der Hoffenster zeitweise zum öffnen und zeitweise ebenfalls versperrt gewesen sein sollen. Die zum Vorzimmer von der Stiege ausführende

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten in Wien. 89

Tfire war w&hrend der Anwesenheit der Mftdchen in diesen beiden Zimmern TOQ außen stets versperrt, so dafi diese M&dchen in dieser Zeit (vom Morgen biflzam Mittag und Kachmittags bis Abends) in diesen R&umen tatsächlich eingesperrt waren und daher diese R&nme nicht yeriassen konnten. Wie insbesondere auch die yemommenen Hausbesorger bestätigen, hatten sie von Begine Riehl den Auftrag, keine der bei ihr untergebrachten Prostituierten ohne Begleitung der Riehl oder ihrer Vertrauensperson, als welche zumeist Antonie Pollak in Betracht kam, aus dem Hause gehen zu lassen und 1 m Hause aelbst konnten die meisten dieser Mädchen auch nur während der Speisestunden und der Zeit des Herrenbesuches sich frei bewegen, wobei jedoch auch die Fenster der Bäume, in welchen die Mädchen mit den Herren verkehrten, vorher versperrt worden waren.

Außerdem wurde ihnen nur ab und zu gestattet, unter Aufsicht der Riehl oder Pollak sich einige Zeit im Garten aufzuhalten. Zu Ausgängen wurden von Riehl gewöhnlich nur zwei Mädchen in Yergnügungslokale mitgenommen, wobei sie, wie die vernommenen Mädchen abereinstimmend bestätigen, ein fint- weichen derselben dadurch erschwerte, daß sie denselben ihr gehörigen Schmuck oder ihr Geldtäschchen anvertrautOi so daß eine Flucht gleichbedeutend, mit Diebstahlsverdacht gewesen wäre.

Ein weiteres Erschwernis des Entweichens aus dem Hause bestand auch in der Kleidung der Mädchen, dieselben waren zu Hause, wie alle als Zeugen bestätigen, nur mit Hemd, Strümpfen, Schuhen, Bebeschttrzen und zeitweise auch mit Schlafröcken versehen, wälirend ihre Straßenkleidung sich in Kästen unter Sperre der Regine Riehl befanden, so daß die Mädchen ohne Er- laubnis der Riehl selbst dann nicht hätten entweichen können, wenn zufällig die Haustflre offen gewesen wäre, weil ihre Toilette ein Betreten der Straße ohne Gefahr der Beanstandung nicht tunlich erscheinen ließ.

Übrigens standen die Mädchen im Hause selbst noch unter der Aufsicht und Bewachung, sei es der Riehl, der Antonie Pollak oder der Wirtschafterin.

Wie die meisten der vernommenen Mädchen, selbst das Dienstmädchen Emestine Gönye bestätigen, war auch die allflUlige Korrespondenz der Mädchen im Ein- und Ausgange der Kontrolle der Regine Riehl unterworfen, so daß etwaige Versuche der Mädchen mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, um Beihüfe zum Verlassen dieses Aufenthaltes zu gewinnen, hierdurch erschwert, wenn nicht ganz vereitelt worden wären.

Dazu kommt noch das durch sämtiiche vernommene Mädchen bestätigte finanzielle Verhältnis derselben zur Riehl: Entweder wurde mit diesen Mädchen beim Eintritte in ihr Haus über das finanzielle Verhältnis gar nichts vereinbart, oder es traf die Riehl mit ihnen das Abkommen, daß ihr die Hälfte des Schand- lohnes gehöre, während die Mädchen von der ihnen zufallenden Hälfte an sie 4 K. pro Tag für die Kost, und außerdem die Kleider und die Wäsche zu be- zahlen hätten. In Wirklichkeit aber, zog Riehl sowohl den ganzen Schandlohn (das sogenannte Zimmergeld) als auch das den Mädchen von den Herren geschenkte sogenannte Strumpfgeld an sich, verrechnete mit ihnen aber die ganaen Einnahmen und all flUligen Auslagen überhaupt nie, so daß auch die Mädchen während ihres Aufenthaltes bei Riehl n i e Geldmittel be- saßen, demnach auch bei einem allfälligen Entweichen jeder Mittel ent- blößt gewesen wären, während in den Fällen, in welchen es einem Mädchen gelang, durch Intervention von Angehörigen oder durch energisches Auftreten

90 1. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

die Zastimmung der Riehl zum Verlassen des Hauses zu gewinnen, demselben Ton der Riehl ein ihre beliebige geringe Abfertigung ausgehändigt wurde.

Ein weiteres Moment, welches fOr die Anhaltung der M&dchen gegen ihren Willen im Hause der Riehl von erheblichem Einflüsse war, ist darin gelegen gewesen, daß Riehl teils tats&chlich mit einzelnen kontrollierenden Polizeiorganen in solchen Beziehungen stand, aus welchen die M&dchen ent- nehmen konnten, daß sie auf die Intervention der Polizeibehörde zu ihrem Schutze nicht rechnen dürfen und daß Riehl anderseits sich den M&dchen gegen- über den Anschein gab, daß sie über die Polizeibehörde yerfüge, so daß die M&dchen gegen sie daselbst nichts ausrichten würden. Die Belege hier- für ergeben sich sowohl aus dem Verhalten des PoUzeikommissars Schmitt und des Detektivs Josef Piß, welche sich veranlaßt sahen, wegen ihres Verhältnisses zum Hause Riehl die Rechtswohltat des § 153 St. P.O. in Anspruch zu nehmen als auch aus den Aussagen einzelner Mädchen (Weinwurm, Hotovy, Menschik, Gönye, Pokomy, Zawazal, Taubmann).

Femer werden von mehreren M&dchen grobe Mißhandlungen, welche sie durch die Riehl und zwar zumeist dann erfuhren, wenn sie der Riehl ihren Willen zu erkennen gaben, sich die Behandlung und Anhaltung im Hause nicht mehr gefallen zu lassen, best&^igt und ergibt sich daraus, daß Riehl sich einen solchen bestimmenden Einfluß auch durch ihre t&tlichen Angriffe auf die M&dchen zu verschaffen wußte, daß die meisten M&dchen es vorzogen, ohne Widerstand die Zust&nde daselbst zu ertragen und selbst sich za naturwidrigen Leistungen von einzelnen Herren widerstrebend, verwenden SU lassen, um einem t&tlichen Konflikt mit Riehl vorzubeugen. Hier- für liegen eine Reihe von Aussagen solcher M&dchen vor (Sofie und Anna Christ, Denk, Geresch, Lipper, Menschik, Nemetz, Taubmann u. a.).

Insoweit Regine Riehl diese Angaben der bei ihr untergebracht gewesenen M&dchen und der übrigen Zeugen in Abrede stellt, konnte ihr kein Glaube bei- gemessen werden, weil einerseits die zahlreichen Aussagen dieser Zeugen, von welchen eine Verabredung nicht angenommen werden kann, in seltener Überein- stimmung sich befinden, weil ferner, wie später auszuführen sein wird, die Riehl es unternommen hat, die M&dchen zu unwahren Angaben zu bestimmen, weil femer die Zust&nde im Riehischen Hause schon 1903 in einem mit Weinwurm bei der Liga gegen den M&dchenhandel aufgenommenen Protokolle in gleicher Weise, wie dies jetzt der Fall war, geschildert wurden und weil auch aus Zeugenaussagen der Nachbarsleute (so vom Zeugen Weber u. a.) hervorgeht, daß die M&dchen bei Riehl gröblich mißhandelt und festgehalten wurden.

Auf Grund dieser Tatsachen nnd darauf bezüglicher Beweismittel, welche bei Erörterung der einzelnen Fakten noch n&her pr&zisiert werden, hat demnach der Gerichtshof als erwiesen angenommen, daß die im Urteilstenor sub la angeführten 26 M&dchen im Hause Riehl gegen ihren Willen und zwar, wie aus ihren Aussagen und der aus den Meldezetteln vom Untersuchungsrichter ge- machten Tabelle hervorgeht mit Ausnahme der Juliane Bernhard, Michalina Sta- wickaund AnnaKristof, über drei Tage eingesperrt gehalten worden sind, wozu noch bemerkt wird, daß in Ansehung der Marie König, welche sich der Aussage entschlug, andere Zeugenaussagen, insbesondere die des Ernst Pollak und Emil Bader herangezogen werden mußten.

Während aber die Anklage ein besonderes Ungemach, welches diese M&dchen nebst der Freiheitsentziehung erlitten haben, sowohl in der rück-

L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 91

öchtilosen Ausbeutung und in der Anhaltung einer größeren Anzahl von M&d- ehea in einem relativ kleinen, nur mangelhaft (wegen des SperrverhältniBses) zu Ififtenden Räume, als auch in deren Mißhandlung und Nötigung zu ekeler- Rgeaden oder schmerzhaften DienstleiBtungen erblickt, konnte der Gerichtshof nnr letztere beiden Gesichtspunkte hierfür akzeptieren, weil ersteres Moment (Aubeutung) nur eine vermögensrechtliche Benachteiligung betrifft und in An- lehang der Massenunterbringung in den Schlafr&umen fttr die konkreten Fftlle aus den Zeugenaussagen nicht mit Sicherheit zu entnehmen ist, wie viele M&dcheu in bestimmten 2Mtpunkten in jedem der beiden Scblafr&ume unter- gebracht waren und wie gerade in diesen Zeitpunkten die Lftftungsverhftltnisse daselbst waren, weshalb auch dieser Qualifikationsumstand auf die sub la des ürtBÜstenors bezeichneten 9 F&lle eingeschränkt wurde.

Was nun die einzelnen der sub I/a angeführten Fftlle anbe- langt, so ergibt sich noch folgender als erwiesen angenommener Tatbestand auf Grund der unten angeführten Beweismittel.

1) Jnliana Bernhard war durch Rudolf Michel, in der Meinung, einen Dienstposten zu erlangen, im April 1906 zur Riehl gebracht, und als sie in Er- kenntnis dessen, w o sie sei und was man mit ihr vorhabe, die Riehl bat, sie frei- zulassen, wurde sie in ein Zimmer eingesperrt, nicht einmal zum Eloset gelassen und wurden ihr die Speisen durch andere M&dchen zugetragen, trotz Flehens und Weinens wurde sie zirka 3 Tage in dieser Weise festgehalten; in- zwischen hatte ihre Mutter bereits am 27. April 1906 bei dem Polizei* konmissariate Florisdorf eine Abg&ngigkeitsanzeige erstattet (Bl.Z. 1 in ü. 799/6 des Bezirksgerichtes Floridsdorf) O.N. 116. Erst als die von Antonie PoUak zum Kommissariate Alsergruud geleitete Bernhard daselbst angewiesen wurde, zur Erlangung des Gesundheitsbuches die Zustimmung der Eltern bei- zubringen, sah sich Riehl veranlaßt, sie unter Aufsicht der Pollak zu ihren Eltern zu schicken, wobei es der Bernhard gelang, von Pollak unter dem Ver- wände, daß ihre Mutter die Zustimmung verweigere, loszukonunen.

Beweismittel: Aussage der Juliana Bernhard und Akt ex. 0. Nr. 116.

2) Anna Christ (Bordellname: „Erna'') war bei Riehl vom 7. Jftnner 1905 bis 6. Juni 1906 gemeldet, kam dahin als geschlechtlich unversehrt, wurde vor Erlangung des Gesundheitsbuches mit N&harbeiten durch zirka zwei Monate beschäftigt und nachdem an ihr über Anordnung der Riehl eine schmerz- hafte Manipulation am Geschlechtsteile mit Hilfe des Mutterspiegels behufs Deflorierung von „Steffi** (Madzia) in Anwesenheit der Pollak, Gönye und Lotti DeatBch vorgenommen worden war, wurde sie von Riehl veranlaßt, mit einem Herrn geschlechtlich zu verkehren und erst nachher wurde sie zum Kom- missariate Aisergrund wegen Erlangung des Gesundheitsbuches geführt und so- dann zum Verkehr mit Männern im Salon zugelassen. Sie wurde von Riehl öfters, einmal sogar mit einem Besenstiele geschlagen sie bat die Riehl wiederholt, sie wegzulassen, welche Bitte Ihr abgeschlagen wurde; sie war im 3. Stocke in den schon erwähnten Zimmern der anderen Mädchen eingesperrt, konnte nicht durchgehen, war effektiv 9 Monate daselbst und als sie einmal davonlaufen wollte, ließ die Hausbesorgerin sie nicht aus dem Hause. Erst als M durch Vermittlung der Gönye ihre Mutter verständigen konnte, kam letztere und nahm sie mit sich nach Hause. Die Pollak saß als Wachorgan immer im Hause und forderte sie auf, die Riehl um Verzeihung zu bitten; PoUak ging meist mit den Mädchen zur Polizei und führte sie in das Spital.

92 I. Der Prozeß Riebl und Konsorten in Wien.

Beweismittel: Aussage der Anna Christ und der Emestine Gönye, Aloisia Hirn.

3) Sofie Christ („Hansi^') bei Riebl gemeldet vom 2S. M&rz bis 4. Juni 1906 war mit anderen Mädchen im 3. Stocke unter Tags eingesperrt, zu zweit in einem Bette, erhielt nicht die von ihrer Zimmerfrau an sie gerichteten Briefe, wollte schon am 1. Sonntage im Mai das Haus yerlassen, was ihr die Riebl Yerweigerte und mit Schiiten beantwortete; schon am 3. Tage ihrer An- wesenheit hatte sie der Pollak gesagt, sie möchte fort, worauf diese erwiderte, es gehe jetzt nicht; als sie sodann mit Zawazal einen Fluchtplan entwarf, wurde derselbe der Riebl verraten und wollte Pollak beide Mädchen wieder einsperren, Zawazal entkam, von Pollak verfolgt; sie aber wurde wieder eingefangen, von Riebl und Hosch geschlagen, bis Abends noch im sogenannten italienischen Zimmer interniert und dann freigelassen.

Beweismittel: Aussage der Sofie Christ, und Josefine Zawaxal, Nemetz, und Johanna Erenn.

4) Paula Denk (Paula) bei Riebl gemeldet vom 2. August 1903 bis 16. Jänner 1904; sie war mit den übrigen Mädchen im dritten Stocke eingesperrt, Vor- und Nachmittag, kam ab und zu in den nach außen abgesperrten Garten, erhielt einige Briefe schon erbrochen, konnte wegen der Sperrverhältnisse das Haus nicht verlassen, wurde durch die Bettgeuossin, mit welcher sie durch Riehl in einem Bette zu schlafen genötigt war, mit „Krätze^* infiziert und mußte mit dieser Genossin zusammen in demselben Bette verbleiben, wodurch die Hellung, die auf Selbstbehandlung angepriesen war, erheblich verzögert wurde; sie bat die Riehl wiederholt, sie wegzulassen, was ihr die Riehl abschlug, weil sie angeblich derselben noch Geld schuldete ! Zweimal war sie wohl an Ausfahrten mit Riehl beteiligt, wobei sie jedoch nicht fliehen konnte, weil Riehl sie mit Schmuck be- laden hatte und ihr im Falle des £ntweichens mit der Diebstablsanzeige drohte; erst nach mehreren resultatlosen Fluchtplänen ließ Riehl sie durch Pollak ohne sie zu fragen ob sie einverstanden sei in das Bordell Lorenz bringen, wo sie nur 6 Tage blieb.

Beweismittel: Aussage der Paula Denk.

5) Anna Fei her („Gisela") bei Riehl von 16. Mai 1905 bis 23. Juni 1905 gemeldet sie war ebenfalls im 3. Stocke eingesperrt, kam wiUirend ihres ganzen Aufenthaltes nicht aus dem stets versperrten Hause ; Riehl schlug ihr den Ausgang mit dem ab, daß sie zuerst Geld verdienen müsse sie mußte, wie alle Übrigen Mädchen, den ganzen Verdienst an Riehl abUefem, mußte sich wegen des Strumpfgeldes Leibesvisitationen unterziehen, wurde von Riehl wieder* holt und so arg geschlagen, daß ihr die Haare ausgingen und sie Beulen und Kopfschmerzen erlitt, sie wurde durch den Herrenverkehr mit einem Ausschlage behaftet Riehl verweigerte ihr für denselben die ärztliche Behandlung, ließ sie aber mit diesem Ausschlage zum Herrenverkehre zu. Ihr wiederholt ge- äußertes Verlangen, fortgelassen zu werden, verweigerte Riehl unter Schimpfen und Schlägen. Endlich ließ Riehl sie fort, wollte sie aber zu einer Frau nach Preßburg dirigieren, zu welchem Behufe sie die Pollak zur Bahn geleitete und ihr die Fahrkarte löste, wogegen Riehl der Felber keinen Heller für sich selbst mitgegeben hat.

Beweismittel: Aussage der Anna Felber.

6) Ottilie Geresch (Steffi) bei Riehl gemeldet vom 5. Juni 1897 bis Jnni 1900. Kam bereits mit 14^/4 Jahren zur Riehl, war tagsüber eingesperrt^

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 93

daa £in8perren besorgte die PoUak, Riehl oder das Dienstm&dchen Riehl fibte auch die Briefkontrolle Geresch wurde von Riehl oft beschimpft, einmal aach 80 geschlagen, daß sie krank wurde sie äußerte oft zur Riehl, daß sie fort wolle Riehl lehnte es ab ein mit 2 anderen Mädchen unternommener Flachtrersuch mißglückte, indem die Pollak und der Hausdiener sie verfolgten, beim Praterstern anhielten, sie in einen Fiaker warfen und in das Bordell xnrQckbrachten. Ein zweiter Fluchtversuch, welchen Geresch bei der Gelegen- heit machte, als sie einen Papageikäfig aus dem Garten holen sollte, gelang darch das zuf&llig offene Haustor; nur mit dem Schlafrocke bekleidet, flüchtete de in die Wohnung der Antonie Pollak, welche die Riehl jedoch von der An- kunft der Geresch verständigte, worauf Riehl dahin kam und diese zuerst durch £iD8Chflchterung und dann durch Versprechungen zur Rückkehr bewegen wollte

jedoch ohne Erfolg. Pollak hatte von Riehl den Auftrag, auf die Mädchen gnt zu achten, dieselben auch einzusperren, das Zimmergeld in Empfang zu nehmen und den Mädchen das Strumpfgeld abzunehmen. Geresch war während des Aufenthaltes bei Riehl wiederholt im Spital, von Antonie Pollak dahin be- gleitet und per Wagen wieder abgeholt. Pollak kam auch täglich dahin, Nach- schau zu halten und hatte die Kleider der Geresch vom Spitale wieder nach Htose genommen für die Zeit des Spitalaufenthaltes derselben.

(Aussage der Geresch und Aussage der Weinwurm.)

7) Amalia Glaser i,,3uU'') bei Riehl vom 30. Jänner 1904 bis 31. März 1904 gemeldet, war eingesperrt unter Tags im 3. Stocke, unterlag der Brief- kontrolle, wurde des Aufenthaltes überdrüßig, ersuchte die Riehl sie fortzulassen ; aber erst nach 14 Tagen gab Riehl, welcher schon früher der Bruder der Glaser mit der Polizei gedroht hatte, die Zustimmung, wobei sie der Glaser nur einen Schlafrock, eine Schürze und ein paar zerrissene Schuhe gab, mit welcher Kleidung sich dieselbe entfernen mußte.

(Aussage der Amalia Glaser.)

8) Angela Großmann <„Angela*^) bei Riehl gemeldet vom 19. März 1904 bis 12. Juli 1904 war mit 10—12 Mädchen in den beiden Zimmern im 3. Stocke eingesperrt, was teils Riehl, teils die Pollak besorgte Kleider waren versperrt, wozu Riehl den Schlüssel hatte Zimmer- und Strumpfgeld nahm die Rieh] für sich niemand durfte aus dem Hause Großmann wollte ein- mal durchgehen, wurde jedoch von Riehl erwischt, welche ihr erklärte, sie könne nur dann fortkommen, wenn sie sich nach Budapest verschicken lasse -- Großmann willigte ein, um wegzukommen und brachte die Pollak sie auf die Bahn, löste ihr die Karte und wartete bis zur Abfahrt des Zuges, welchen Großmann jedoch schon in der 2. Station nach Wien verließ und begab sie sich nach Wien zurück. In Pest hätte sie von einer Frau in Empfang genommen werden sollen.

(Aussage der Großmann.)

9) Aloisia Hirn („Christi'') bei Riehl gemeldet vom 7. Mai 1904 bis 14. Feber 1905 und 6. Juli 1905 bis 2. Juni 1906. Befand sich in den ver- i^perrten Zimmern des 3. Stockes, wollte öfters fort, sagte dies auch der Riehl, wollte durchgehen, wurde von der Hausbesorgerin Hölzl daran gehindert, wurde öfters geschlagen, weil sie nicht schweigen konnte. Riehl lehnte es ab, sie fortgehen zu lassen wegen angeblicher Schulden Pollak übte auch die Kon- trolle, ließ die Mädchen nicht einmal auf den Gang hinausgehen ; Hirn wurde bch wanger, kam in das Spital, von wo sie die Pollak und der Hausbesorger

94 I. Ber Prozeß Riehl nnd Konsorten in Wien.

abholten und in den Wagen setzten, .wobei ihr die Pollak zaredete, wieder zurückzukehren.

(Aussage der Aloisia Hirn.)

10) Julie Hlawatschek („Juli") bei Riehl gemeldet Tom 29. September 1905 bis 9. Juni 1906, war ebenfalls im 3. Stocke eingesperrt, durfte nicht aus- gehen, wurde zu keiner Ausfahrt mitgenommen Riehl drohte ihr mit Schl&gen, wenn sie fortgeht ohrfeigte sie auch; sie [war in dieser Zeit zweimal im SpitaL Pollak hatte sie hingebracht und abgeholt; das zweite mal wollte Pollak sie wieder abholen sie versteckte sich aber im Spital und wartete, bis Pollak weggefahren war, worauf sie vom Spital entwichen ist. Pollak suchte sie immer zum Bleiben bei Riehl zu bestimmen, mit der Aussicht, daß sie Schmuck bek&me.

11) Marie Husek („Olga'') bei Riehl von 7. J&nner bis 1. April 1905 ge- meldet, — war im 3. Stocke, so wie die Qbrigen Mftdchen eingesperrt, verlangte schon nach drei Tagen weg Riehl drohte ihr mit dem Einsperren, wenn sie nicht bleiben wolle und erst als sie der Riehl drohte, sie werde zum Fenster hinausspringen oder sich umbringen, wurde sie freigelassen.

(Aussage der Marie Husek.)

12) Anna Kirchner („Cecile'*) vom 19. Oktober 1904 bis 6. Juli 1906 be- Riehl gemeldet war im 3. Stocke mit den ttbrigen Mädchen eingesperrt, durfte das Haus nur mit Riehl verlassen stand unter Briefkontrolle er- hielt kein Geld und ihre wiederholte Bitte, sie fortzulassen, wurde von Riehl abgeschlagen; Riehl sagte ihr, wenn sie fortgehe, werde sie von der Polizei ver- haftet werden; einmal hatte sie sich zur Flucht Strumpfgeld versteckt, was der Riehl verraten wurde, worauf ihr Riehl Vorwürfe machte und sich dieses Geld (60 K.) aushändigen ließ.

(Aussage der Kirchner)

13) Marie König (,XieseP') bei Riehl gemeldet vom Mai 1902 bis 20. Jnn 1906. Kam im Alter von 16 Jahren zur Riehl durch eine Frau Hofmann, wurde im 3. Stocke in der „Kaserne*' untergebracht, woselbst die Mädchen mit Ausnahme des Mittags den ganzen Tag bis Abends eingesperrt waren; nach je 3 Wochen durften sie im Garten unter Bewachung der Riehl, Pollak oder Hosch spazieren gehen die Briefe wurden kontrolliert bei den ärztlichen Visiten war Riehl oder Pollak anwesend, so daß sich die Mädchen den Ärzten nicht anvertrauen konnten; sie erhielt von Riehl kein Geld, dagegen soll ihr Vater von Riehl Geld erhalten haben und wenn sie mit Riehl einen Verdruß hatte, kam ihr Vater und dieser, sowie Riehl mißhandelten sie und drohten ihr mit dem Arbeitshause; die König hatte einem Herrn Ernst Pollak wiederholt geklagt, daß es ihr unmöglich sei, aus dem Hause wegzukommen, weil sie scharf bewacht werde und als sohin Emil Bader die König aufsuchte, um ihr zu helfen, wurde ihm von Antonie Pollak geöffnet und er sohin zur König geführt, welche ihm obige Mitteilungen machte. Dem Ernst Pollak hatte sie auch blaue Flecken auf dem Rücken gezeigt, welche von Schlägen der Riehl herrühren sollten. Antonie Pollak machte später mit dem Vater der Riehl auch den Versuch, den Bader zur Unterlassung der Publika- tionen im „lllustr. Wiener Extrablatt" zu bewegen ; der Ludwiczek hatte die König oft erzählt, sie möchte gern aus dem Hause, die Riehl lasse sie nicht und drohe ihr immer mit dem Arbeitshause, wovor das Mädchen groOe Angst habe. (Aussagen des Emil Bader, Ernst Pollak, Therese Ludwiczek,

L Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 95

Josefine Zawazal, Elise Menschik); nach Pokornys Angabe war Marie König mit ihr in der sp&teren Zeit in einem eigenen Zimmer im 2. Stocke untergebracht, woselbst sie nur vormittags ständig und Nachmittags nur ab und su eingesperrt waren; sie und König hatten auch mitunter die SchlOssel gehabt, wobei ihnen tber Riehl mit dem Wachmann drohte, falls sie fortgehen wtlrden. Auch hatte die König sich öfters dahin ge&ußert, sie freue sich schon, wenn sie 24 Jahre alt sein wird, daß der Vater nichts mehr mit ihr zu tun habe.

(Aussage der Pokorny).

14) Marie Kotzlik („Hansi*') gemeldet bei Riehl vom 30. Juni 1902 bis 29. J&nner 1903 und 2. Feber 1903 bis 26. August 1903 war im 3. Stocke anter Tags eingesperrt, durfte das Haus nur mit Riehl verlassen, durfte sich im abgesperrten Garten nur unter Bewachung der Riehl, Pollak und Lotti Deutsch aufhalten eine Flucht war unmöglich Briefkontrolle war auch für sie alles Geld mußte der Riehl gegeben werden auch sie wurde, so wie andere Mädchen geschlagen viele Mädchen wurden trotz wiederholter Entlassungs- bitten von Riehl zurückgehalten um vom Hause wegzukommen, fügte sie sich selbst eine Verletzung zu, damit sie in das Spital komme, worauf Riehl sie vor dem Polizeiarzte versteckte, um sie zu Hause behandeln zu können; sie gab aber nicht nach und kehrte vom Spital nicht mehr zur Riehl zurück.

(Aussage der Kotzlik.)

15) Anna Kristof ~ gemeldet bei Riehl vom Ende Mai bis 18. Juni 1902 war zuerst drei Tage bei Riehl im 3. Stocke eingesperrt, wobei sie abschreckte, <laß die Mädchen von Riehl durch Schläge gezwungen wurden, gewissen An- sinnen der Herren zu willfahren kam dann in das Spital, von welchem sie gegen ihren Willen wieder an Riehl zurückgestellt wurde, weil sie von Riehl dahin übergeben worden war, wollte sohin das Haus verlassen, wurde jedoch ron Riehl und anderen Mädchen geschlagen, worauf sie bei der gerade offenen TOre ohne Hemd mit zerrissener Bluse aus dem Hause lief und zur Polizei K'Dg) woselbst ihr ein Dienstbotenbuch ausgefolgt wurde.

(Aussage der Kristof.)

16) Elise Lipper („Poldi") gemeldet vom 19. April 1906 bis 11. Mai 1906 bei Riehl war in der Kaserne im 3. Stocke eingesperrt, hatte nur einen Aus- gang zum Zahnarzt unter Kontrolle der Pollak und Hausbesorgerin, wurde in ihrer Korrespondenz an ihren VAter von Riehl dirigiert ohne daß Lipper eine Widerrede wagte nach 3 Wochen bat sie, die Riehl möge sie fortlassen, sonst springe sie wohl herunter Riehl schlug sie und rief: „Du kommst mir nicht hinaus'* Flucht war unmöglich und erst dadurch kam sie von Riehl los, daß ihr Vater die Zustimmung zum Aufenthalte bei Riehl zurückzog. Riehl hatte sie auch gröblich mißhandelt, indem sie die Lipper bei den Haaren zog und an die Salontüre anschlug, so daß sich Lipper tief unglücklich fühlte.

(Aussage der Lipper.)

17) Therese Ludwiczek („Valerie") bei Riehl gemeldet vom 2. De- zember 1902 bis 16. März 1903 war unter Tags im 3. Stocke mit anderen Mädchen eingesperrt Briefkontrolle bestand keine Verrechnung keine Geldbelassung Niemand getraute sich, die Riehl um Geld anzugehen, weil sie MfoTt schimpfte und losschlug. Als Ludwiczek fort wollte, drohte sie ihr mit der ihr wohlwollenden Polizei, J^rbeitshaus oder Kriminal; sie heckte nun einen Fluchtplan aus mit einem anderen Mädchen Antonie Pollak schlich sich in

96 I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien.

ihr Vertrauen, erfuhr hierdurch den Fluchtplan, begünstigte denselben scheinbar, verriet ihn aber an die. Riehl.

(Aussage der Ludwizek.)

18) Eva Madzia („Steffi"') gemeldet bei Riehl vom 3. J&nner 1903 bis 7. Juli 1906 wurde von Riehl]]gegen ihren Willen im Bordelle zurückgehalten

sie sagte der Riehl wiederholt, daß sie weggehen wolle Riehl liefi et nicht zu und allein konnte sie bei verschlossenen Türen nicht entkommen, zu- mal sie auch nie allein das Haus verlassen durfte.

(Zweite Aussage der Madzia.)

19) Elise Menschik („Lola'*) ^gemeldet bei Riehl vom 12. April 1904 bis 12. Juli 1904, war auch im 3. Stock eingesperrt Antonie PoUak war Auf- sichtsorgan; sie hat auch die Mädchen eingesperrt, der Menschik zum Bleiben zugeredet; Menschik hat schon Anfangs gesagt^j sie wolle fort und für die Flucht Geld unterschlagen. Wenn die Herren sich beklagten, daß die M&dchen nicht alles machen wollen, beschimpfte Riehl die Mftdchen Menschik mußte sich auch von einem „Schlagherrn'' schlagen lassen sie mußte sich auch mit Kognak Über Auftrag der Riehl mit einem Herrn betrinken, des Absatzes wegen.

Riehl habe sie bei der Entlassung geohrfeigt, die Pollak sei deren Fak- totum gewesen.

(Aussage der Menschik)

20) Marie Nemetz („Gretl'O gemeldet bei Riehl vom 26. J&nner bis 3. Juli 1906 kam durch die Pollak zur Riehl, war in der „Kaserne'' mit anderen M&dchen tagsüber eingesperrt, hatte keine Kleider bei sich, durfte nicht allein ausgehen, war der Briefkontrolle durch Riehl unterworfen, mußte alles Geld an Riehl abliefern und wurde von Riehl nicht fortgelassen; Riehl be- schimpfte und schlug sie immer, wenn [sie nicht zu naturwidrigen Leistungen bei den Herren herbeilassen wollte.

(Aussage der Nemetz.)

21) Justine Rohaczek („Justine'^ gemeldet bei Riehl von 25. Aug. 1899 bis 14. Juni 1900 war mit anderen M&dchen im 3. Stocke tagsüber ein- gesperrt, empfing schon Herren, bevor sie polizeilich gemeldet wurde und da» Gesundheitsbuch erhielt; sie erhielt von Riehl nie einen Anteil vom Verdienste

wenn Rohaczek fort wollte, drohte ihr Riehl mit dem Schub und gelang es ihr nur durch einen großen Skandal loszukommen; Brief mit der Todesnach- richt über den Vater erhielt sie erst einige Tage nach dem Begräbnisse als die Mutter sie besuchte, wurde sie derselben als Dienstmädchen verkleidet vorgestellt.

(Aussage der Rohaczek.)

22) Marie Starek („Vicki") bei Riehl gemeldet vom 23. J&nner 1899 bis 19. August 1900 war ebenfalls in der „Kaserne'' im 3. Stocke mit anderen M&dchen tagsüber eingesperrt die Sperre besorgte Riehl oder die Köchin Riehl schlug die M&dchen, wenn sie das Strumpfgeld verheimlichten Starek erhielt kein Geld Riehl verrechnete mit ihr nie Starek wollte weggehen, Riehl schlug es ihr ab, weshalb Starek eine List gebrauchte, indem sie eine Vorladung zur Polizei, wohin sie von der Hausbesorgerin begleitet wurde, be- nutzte, um dem Beamten zu sagen, sie lege das Buch zurück und sohin der Riehl meldete, der Beamte habe ihr das Buch abgenommen, wodurch Riehl ge- nötigt war, sie gehen zu lassen.

(Aussage der Starek.)

I. Der Proaseß Riehl und Konsorten in Wien. 97

23) Michaela Stawicka („Olga'«) bei Riehl gemeldet Tom 27. M&n 1906 Ms 28. M&R 1906, war nur swei Tage bei Riehl, tagsüber mit anderen MAdchen eingetperrt, wollte am 2. Tage weggehen Riehl verweigerte dies, drohte ihr mit dem Wachmann, ohrfeigte sie and liefi sie endlich fort, nachdem sie der Riehl einen Skandal gemacht hatte.

(Aussage der Stawicka.)

24) Josef ine Taubmann („Bianka") bei Riehl gemeldet vom 28. De- lember 1901 bis 12. Feber 1902 war mit anderen M&dchen tagsQber ein- gespent, durfte w&hrend des 1 V* monatlichen Aufenthaltes bei Riehl nicht ein emsiges Mal fortgehen, wurde von Riehl sehr bmtal behandelt, geschlagen und beschimpft, auch auf Geheifi der Riehl von anderen M&dchen so geschlagen, daß sie krank und schwach wurde und ohne ftrztliche Hilfe in einem Zimmer ein- gesperrt gehalten wurde; ihre Bitte, sie fortzulassen, liefi Riehl unbeachtet und als Riehl sie wieder einmal wundschlng, drohte sie der Riehl mit der polizei- liehen Anzeige, worauf Riehl sie neuerlich schlug und mit Stocken und Besen- flt'elen zur Tflre hinau^agte.

(Aussage der Taubmann.)

25) Georgine Weinwurm („Yicki'*) bei Riehl gemeldet von 23. J&nner 1899 bis 19. August 1900 war bei Riehl mit anderen M&dchen tagsdber ein- gesperrt, konnte in der Hanskleidung (Hemd, SchOrze, Strumpfe, Schuhe) nicht ausgeben, wenn auch das Sperrrerh&ltnis nicht bestanden hätte; Riehl, Antonie Pollzk und der Hausdiener überwachten strenge alles, so daß an eine Flucht nicht zu denken war Briefe unterlagen der Eontrolle der Riehl Ansg&nge fanden nur mit Riehl [statt, wobei die M&dchen Schmuck und Geld zu tragen bitten und Riehl mit der Behandlung als Diebin im Falle der Entweichung drohte; als Weinwurms Mutter zu Besuche kam, wurde dieselbe entweder unter Torw&nden weggeschickt, oder es konnte Weinwurm mit ihr nur vor Pollak oder Siebl sprechen. Weinwurm konnte von Riehl nicht loskommen, weil Riehl behauptete, dieselbe sei ihr noch Geld schuldig und nur durch die Weigerung, mit Berren auf das Zimmer zu gehen, erreichte sie von Riehl einen Besuch zur Mutter, von welchem sie nicht mehr zur Riehl zurückkehrte. Riehl sagte auch zu den M&dchen , wenn etwas auf der Polizei los sei, erfahre sie es und wußte sie einmal suich schon Vormittags von einer Nachmittags stattfindenden Rerision, ftkr welche sie sodann aUes vorbereitete und den M&dchen auch Kleider gab.

(Aussage der Weinwurm.)

26) J o se f i n e Za w az al „Yicki*') bei Riehl gemeldet vom 16. November 1904 bis 24. Feber 1905 und 5. April 1906 bis 5. Juni 1906 war zweimal bei Riehl; das erste mal hatte sie keine Klage ; kam daher freiwillig das zweite mnX zur Riehl, konnte es jedoch nicht aushalten, weil sie die Freiheit schon gewOhnt war; sie war tagsüber mit anderen M&dchen im 3. Stocke eingesperrt, erhielt vom Schandlohn nichts eine Bitte um einen Ausgang lehnte Riehl mit einer ihr versetzten Ohrf^ ab sie sagte der Pollak, daß sie durchgehen wolle; sie entwarf mit Sofie Christ einen Fluchtplan, welcher der Riehl verraten wurde. Riehl ließ •ie einige Tage sp&ter in den Salon holen und wollte sie schlagen, worauf Zawazal in Hemd, Schürze und Bluse bei der zuf&llig offenen Hausttkre aus dem Haoee lie( von der Pollak verfolgt wurde und bei der Polizei, wohin ihr Pollak nzchlie^ der Pollak von Piß bedeutet wurde, zu schauen, daß Zawazal Alles bekomme, damit nichts „herauskomme'^

(Aussage der Zawazal und Sofie Christ, Johanna Krenn.)

AnUr ftr KiiodiudaDthropologie. 27. Bd. 7

98 I. Der Prozefi Riehl und Konsorten in Wien.

Die Verteidigung der Regine Riebl hat sich in Ansehung des Verhslteai und Vorgehens der Begine Riehl gegenflber diesen sub. 1—26 angeftthrten Uid- chen, die zumeist noch mindeij&brig waren auf den Standpunkt gestellt, daß von einer Einschränkung der persönlichen Freiheit der Midchen schon deshalb nicht gesprochen werden könne, weil Riehl sich in dem guten Glauben be- fand, daß diese Art der Anhaltung der M&dchen, der polifeilicherseits an sie, als Inhaberin eines Bordells, auf Omnd der oben angeflUirten polizeflicheo Instruktionen ex 1900 und des Inhaltes des Verpflichtnngsprotokolles gestellten Anforder ungen entsprochen habe, lumal auch bei keiner poliseilichen Befision bei ihr ein Anstand erhoben worden sei.

Diese Auffassung kann jedoch als richtig und fOr die Regine Riehl exkul- pierend nicht erkannt werden aus folgenden Erwägungen:

Die erw&hnte Instruklion in Verbindung mit dem Inhalte des Verpflichtungs- protokolles bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß die bei Riehl befind- lichen M&dchen einerseits im Hause selbst in ihrer Bewegungsfreiheit tagsQber gebindert, in ihrem Kontakte mit der Außenwelt durch Briefkontrolle behindert, durch mangelhafte Bekleidung außer Stand gesetzt werden sollen, sich außerhalb des inneren Hausraumes zu bewegen, durch Entziehung jedweder Oeldoiittel in ihrer Dispositionsfähigkeit beschränkt werden sollen und schließt anderer- seits nicht aus, daß diese M&dchen auch das Haus Torlassen können, indem nur d i e Eünschr&nkung bestimmt wurde, daß den M&dchen der Gassenstrich untersagt ist, woftlr die Wohnungsgeberin mit Terantwortlich gemacht wird. Daß aber die Einhaltung dieses Verbotes ohne die oben angeführten Ton Riehl getroffenen einschränkenden Maßregeln möglich ist und möglich sein muß, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung abgesehen davon, daß die be- treffenden M&dchen durch die Übertretung dieses Verbotes sich selbst der straf- gesetzlichen Ahndung nach § 5/2 des Gesetzes vom 24. Mai 1S85 aassetzen würden.

Was nun die polizeibehördlichen Revisionen jjanbelangt, so geht aus den Aussagen der Zeugen Dr. Merta, Dr. Kien, Dr. Schild, Dr. Zdrnbek hervor, daß solche Revisionen überhaupt selten abgehalten wurden, daß sich dieselben haupts&chlich darauf beschr&nkten, ob der effektive Stand der M&dchen dem polizeilich gemeldeten Stande dersellben entspreche, daß die Polizeibehörde hierbei nur von dem Fensterverschlusse, welcher dem Punkte 13 des VerpflichtungsprotokoUes entsprach, Kenntnis erlangte, daß die Polizei&rste, welche allerdings regelm&ßig wöchentlich zweimal das Haus besuchten, keinen Anlaß fanden, sich mit den Einrichtungen des Hauses zu befassen, sondern sich nur darauf beschränkten, in einem hierzu bestimmten Lokale ledi^ch den sexuellen Gesundheitszustand festzustellen und daß im Übrigen, wie dies aus den gegen den Polizeiagenten Piß hervorgekommenen schweren Anschuldigungen zu entnehmen ist, die Riehl bestrebt war, durch ein von seiner Seite pflichtwidriges Einvernehmen mit demselben die durch denselben im Auftrage seiner Vorgesetzten allenfalls zu übende Kontrolle illusorisch zu machen. Daß aber Regine Riehl sich darüber klar war, daß die von ihr in ihrem HAuse für die angehaltenen Mädchen geschaffenen Verhältnisse und Zustände nicht den polizeilichen Anforderungen entsprechen, geht auch daraus hervor, daß sie, wie die polizeilichen Erhebungen (Z. 2368) S. B. ex 1905 vorgelegt von Dr. MerU) dartun, die diesbezüglich gegen sie erhobenen Anwürfe als unwahr beseiebnete und wie Hosch und Winkler bestätigen, schon damals sämtliche polizeilich vor-

I. Der Prozeß Riehl and Konsorten inlWien. 99

nonunenen Mädchen veranlaßte, entgegen den tatsftchlicben YerhAltnisaen onw&hre Angaben zu machen, so daß anch die M&dchen den Eindruck geiinnen mußten, daß gegen die Biehl erstattete Anzeigen allerdings durch ihre von Biehl yeranlaßte Beihilfe keinen Erfolg h&tten.'

In den oben dargelegten und in den Punkten L— 26 n&her pr&zisierten F&llen muß aber auf Grand obiger ErwAgungen der Tatbestand des Verbrechens der Einschrftnkung der persönlichen Freiheit im Sinne des } 93 StG. erblickt fwden. Denn wenn sich auch (die genannten Mädchen freiwillig in das Haas der Riehl begeben haben und sich darüber klar waren oder worden, daß sie daselbst der Prostitution ergeben sein werden, so geht doch ans ihren glaub- vQrdigen Aussagen hervor, daß sie die schon früher bezeichneten Beeinträch- tigungen ihrer Bewegungs- und Dispositionsfreiheit nicht Willens waren, zu er- tragen, somit, wie bereits oben festgestellt warde, gegen ihren WiUen ertragen maßten, daß aber aach Riehl, an welche sie sich wegen Behebung dieser Ein- schränkung wendeten und welche daher in Kenntnis ihres Bestrebens aus dem flaose zu kommen, war, teils durch Drohungen und Mißhandlungen, teils durch einfaches Ignorieren ihrer Bitten es dahin brachte, daß diese Mädchen ihr Schicksal weiter ertragen, bis eine gftnstige Gelegenheit sich fär sie bot, om aus dem Hause zu kommen, so daß Riehl auch das Bewußtsein der Willeni- beogung in Ansehang dieser Mädchen haben mußte.

Sie hat demnach die Mädchen, über welche ihr nach dem G^esetze keine Gewalt zustand and die sie auch nicht als Verbrecher, schädliche oder gefähr- liche Menschen zu erkennen, oder mit Grund anzusehen hatte, eigenmächtig Terschlossen gehalten und auch sonst an dem Gebrauche ihrer persönlichen Freiheit, insbesondere durch den Toilettenzwang behindert und war sich dieses rechtswidrigen Vorgehens auch bewußt

Wie bereits oben angeführt wurde, so erstreckt sich bei den meisten Mäd- chen diese Anhaltung weit über drei Tage.

Wenn in den sub. 2—6, 16, 19, 20, 24 angeführten Fällen aber auch noch der Erschwerungsumstand des erlittenen Ungemaches als TOrhanden angenommen wurde, so gründet sich dies auf die Erwägung, daß schwere Mißhandlungen, Manipulationen an den (Geschlechtsteilen (bei Anna Christ), Nötigungen zur Doldigung naturwidriger Ausschreitungen, sowie zum Znsammensein mit Infek- tionskranken (Denk), allerdings als solche Unbilden anzusehen sind, welche als körperliches und seelisches Unbehagen oder Ungemach bezeichnet werden müssen.

Begine Biehl war demnach in diesen Bichtungen nach §§ 93 und 94 St.G. acholdig zu erkennen, während in Ansehung der übrigen diesbezüglichen An- klagefakten der Freispmch teils infolge Rücktrittes der k. k. Staatsanwalt- schaft, teils Mangels der TatbestandToraussetzungen nach § 259/2 respektive § 259/3 StP.O. erfolgte.

B. Antonie PoUak

wurde bereits im Strafakte des Bezirksgerichtes Alsergrond Reg. Nr. 2319 es 1895 laut welchem Regine Riehl sieh wegen Kuppelei zu verantworten hatte, ala Aufpasserin, Arisoposten und Anwerberin von Kunden für Riehl bezeichnet ond gibt sie selbst zn, seit einer Reihe von Jahren der Riehl verschiedene IMenstleistangen zu verrichten; sie begleitet die bei Riehl in Unterstand getretenen Mädchen zum Kommissariate behufs Erlangung des Gesundheitsbuches, sie be- sorgt die Oherffihmng der spitalbedürftigen erkrankten Mädchen in das Kranken- haus, kontrolliert die Dauer der Anwesenheit derselben daselbst, um sie meder

100 I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien.

abcuholen, damit sie dem Hause Riehl erbalten bleiben; sie besorgt gemein- schaftlich mit Riehl oder in Vertretung die Bewachung der M&dchen im Hause indem sie dafür sorgt, daß dieselben unter Sperre bleiben und aus dem Hause, sich nicht entfernen kOnnen; sie kontrolliert die Einnahmen der M&dchen, welche in Verhinderung der Riehl an sie abgeführt werden müssen, sie sucht sich in das Vertrauen der M&dchen einzuschleichen, um allfftUige gegen Riehl ge- richtete Fl&ne zu erfahren und rechtzeitig derselben zu hinterbringen und sie besorgt die Verfolgung der flüchtigen und deren Rückbringung sowie sie auch die Riehl in Kenntnis setzt, wenn flüchtende M&dchen bei ihr ein Asyl suchen, um der Riehl Gelegenheit zu geben, sie wieder zurückzubringen.

Alle diese, von der PoUak nur zum Teile zugestandenen T&tigkeiten sind in Ansehung der sub Il/a des Urteilstenors bezeichneten M&dchen durch deren glaubwürdigen Aussagen als erwiesen anzunehmen und muüte bei dem nahesu t&glichen Verkehr der Pollak im Hause der Riehl, der PoUak auch bekannt sein, daß diese M&dchen über drei Tage daselbst angehalten sind, sowie auch aus dem Verhältnisse der Pollak zur Riehl aus den zahlreichen Protesten der M&dchen gegen ihre Anhaltung aus den yielfachen, ]&rmenden durch Mißhand- lungen der Mädchen auffallenden Auftritte im Hanse und den Fluchtversuchen und Fluchtpl&nen der Mädchen ihr bekannt sein mußte, daß durch das Ver- sperrthalten und Bewachen der M&dchen die Festhaltung derselben wider ihren Willen, respektive die Verhindernng ihrer Entweichung bewerkstelligt werden soll.

In dieser T&tigkeit muß aber eine werktätige Hilfeleistung der Pollak für Regine Riehl zum Verbrechen der Einschränkung der persönlichen Freiheit nach §§ 5 und 93 und 94 Stti. erblickt werden, wogegen diese Tätigkeit als nicht ausreichend zur Mittäterschaft, wie dies die Anklage vermeint, erkannt werden kann, weil dieselbe nicht den ganzen Komplex von Handlungen umfaßt, welche von Riehl bedacht, beschlossen und gesetzt wurden, um den Zweck zu erreichen, systematisch die Mädchen gegen ihren Willen festzuhalten und sie als Ausbeutungsobjekte auszunützen und weil sie ihre Tätigkeit nur im Auftrage der Riehl und nicht selbständig gesetzt hat.

Deshalb und Mangels der hierzu nötigen Feststellungen konnte auch nicht wie dies die Anklage getan hat alle der Riehl zur Last fallenden Fakten auch ihr imputiert werden, sondern nur jene, in welchen aus den Angaben der eingeschlossenen Mädchen sich genügende Anhaltspunke dafür ergaben, daß Pollak der Riehl bewußt werktätige Hilfe geleistet hatte; es sind dies aus den oben spezialisierten Fakten, die Nr. 2, 3, 6, 8, 9, 10, 17, 19, 25 und 26; auch kann ihr bei einzelnen Fällen nicht das Ungemach zur Last gelegt werden, nachdem nicht nachweisbar ist, daß sie hiervon Kenntnis gehabt hat.

Antonie Pollak war daher in Ansehung der sub. Il/a angeführten Fakten schuldig zu erkennen des Verbrechens der Mitschuld an der drei Tage über- schreitenden Einschränkung der persönlichen^ Freiheit nach §§ 5, 93 u. 94St.6. während in Ansehung der übrigen Fakten teils über Rücktritt der Anklage, teils Mangels des Erweises des [Tatbestandes nach 259/2 respektive nach } 259/3 St.P.O. mit einem Freispruche vorzugehen war.

a Friedrich Ktfnig,

Vater der minderjährigen Marie König, welche unter dem Bordell- namen „Liesl*' durch 4 Jahre im Hause Riehl der Prostitution ergeben war, gibt zu, seiner Tochter, welche ohne sein Wissen durch Vermittelung einer gc-

1. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 101

wissen Hofilmann in das Haus gekommen war, nach vorheriger W&igerung, Ober ihre Bitte und Qber Zureden der Riehl gestattet zu haben, draj9:%tBuch** zn nehmen» wogegen sie ihm yersprochen haben soll, den SchadMk jiu er- setzen, welchen sie ihm, als sie noch schulpflichtig war, dadurcll zugßfQgt h&tte, dafi sie ihm Schande bereitet und er deshalb die Kündigung erhiAl(;,.*wo- dorch er auch die im betreffenden Hause innegehabte Kutscherstelle yerlor\usd

3 Monate erwerbslos war. Er gibt ferner zu, nunmehr, durch die gtfQzen:

4 Jahre monatlich von Biehl, ä conto dieses Schadenersatzes, 5 fl., welche^ 6r sich stets selbst abholte, erhalten zu haben, ist aber nicht in der Lage, die Höhe dieses Schadens zu beziffern oder auch nur zu behaupten, mit Riehl oder •einer Tochter einen bestimmten Ersatzbetrag vereinbart haben; w&hrend er nun im Vorverfahren zuerst angab, er habe dieses von Riehl erhaltene Geld nicht für sich verwendet, sondern dasselbe zu Hause zusammengelegt fOr seine Tochter weil er aus ihrem Schandlohn keinen Vorteil ziehen wollte und daß er auch bereit sei, diesen Betrag, welcher im Ganzen zirka 400 Kronen ausmache, über gerichtliche Weisung bei der Pflegschaftsbehörde zu erlegen, beziffert er sp&ter und bei der Hauptverhandlung den ganzen von Riehl in 4 Jahren erhaltenen Betrag mit zirka 800 respektive 1000 K., wovon er im Oktober 1906 also nach der Anklagezustellung für seine Tochter bar 400 Kr. bei Gericht erlegte und will er den Rest von zirka 400 respektive 600 K. für seinen zifferm&ßig nicht feststellbaren Schaden behalten haben; bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 23. Juni 1906 (Bl. Z. 13) hatte er diese Schadenersatzsache nicht erwAhnt, sondern zugestanden, von Riehl mehr- mals Unterstützungen, jedoch nicht monatlich zugesicherte Beitrage, er* balten zu haben, w&hrend er jetzt das Fixum zugibt und den damaligen Titel bestreitet. Friedrich König gab weiteres zu, der Tochter öfters bei seinen Besuchen im Hanse der Riehl Vorwürfe gemacht zu haben, wenn Riehl sich darüber beschwerte, daß Marie König mit den Herren frech und grob gewesen sei; er habe ihr auch bei solchen Anl&ssen Ohrfeigen gegeben und ihr ge- droht, er werde sie, wenn sie nicht gut tue, in die Zwangsarbeitsanstalt geben ; wenn ihm seine Tochter gesagt hätte, sie wolle nicht mehr bei Riehl bleiben, 10 hätte er sie mitgenonunen; so aber h&tte Riehl sich ihm gegenüber ge- änfiert, daß sie das M&dchen nicht mehr behalten wollet

Regine Riehl verantwortet sich dahin, Marie König habe sich bereit er- klärt, ihrem Vater den durch sie zugefügten Schaden zu ersetzen; sie sei wegen des ordinären Benehmens der König öfters bemüßigt gewesen, sie zu schlagen and habe bei größeren Krawallen auch dem Vater geschrieben, er möge kommen and sie zu sich nehmen; wenn er sodann kam, habe er seine Tochter ge- schlagen, worauf dieselbe, da er sie nicht nehmen wollte, die Riehl wieder um Verzeihung bat und Riehl sich bestimmen ließ, sie wieder zu behalten. Wenn man dagegen die oben sub. Nr. 18 bei dem Faktum Marie König angeführten Zeugenaussagen in Betracht zieht, so muß der Gerichtshof die Überzeugung ge- winnen, daß die Mißhandlungen und Drohungen des Vaters nicht zu diesem Be- bnfe erfolgten, damit Riehl das ungeberdige Mädchen wieder pbehalte**, sondern daß Riehl und Friedrich König diese Szenen im Einverständnisse ver- anstalteten, um Marie König einzuschüchtern und auf diese Weise ihren Widerstand gegen die von beiden gewollte und beabsichtigte Fest- haltung derselben im Riehischen Hause zu brechen, was ihnen auch tatsäch- lich gelungen ist.

*

102 .- *• •! Der Prozeß Riehl und Kon&orten in Wien.

»

•.

Denn'^^^e es ihnen nicht darum zu tun gewesen, so w&re es fOr Riehl ein leic)i^a*l|[ewe8en, ein ihr nicht zusagendes M&dchen auch ohne y&terliche InterTQn^oCk aus dem Hanse zu entfernen, sowie es anderseits gewiß nicht in der .iQtention eines auf das sittliche Oedeihexu* der Tochter bedachten Täters gelcjjjim'rsein konnte, eine „Besserung'' derselben in einem solchen Hause er- refcleo zu wollen, und ihm die Hilfe der PflegscbaftsbehOrde zur Verfügung tfistiihden w&re, um die angeblich moralisch verkommene Tochter auf den Weg deV' Besserung zu bringen. Daß ihm aber daran gelegen war, die Tochter ge- .{'ade bei Riehl festzuhalten und daß er daher dieselbe, wenn sie wegen der *'Anhaltung wider ihren WiUen ungeberdJg wurde, schlug und mit dem Arbeits - hause bedroht, findet auch seine Erklärung in der ihm von Riehl zugesicherten monatlichen Unterstützung ans dem Schandlohne, nachdem doch die Be- hauptung der Ersatzforderung an die minderjährige Tochter aus der Zeit ihrer Unmündigkeit unter den bereits erwähnten Umständen keinen Glauben verdient.

Es hat demnach der Gerichtshof auf Grund obiger Beweismittel und Er- wägungen als erwiesen angenommen, daß Friedrich König durch die erwähnten Zwangsmittel der Riehl behilflich war, seine minderjährige Tochter wider ihren Willen als Prostituierte zur Ausübung des Schandgewerbes im Riebl- schen Hause zu erhalten und daß er, um daraus Vorteil zu ziehen, seine väterliche Gewalt mißbrauchte durch Anwendung der erwähnten Zwangs- mittel gegen seine Tochter.

Daß aber Friedrich König auch wußte, daß seine Tochter im Hause der Riehl in der schon früher geschilderten Weise, ebenso wie die anderen Mädchen eingesperrt gehalten wurde und ihrer Freiheit tatsächlich beraubt war, hat der Gerichtshof als erwiesen angenommen aus dem 4 jährigen oftmaligen Besuchen des König im Hause Riehl, aus der von ihm zugegebenen Tatsache, daß er da- selbst die Tochter auch in der für die Straße ungeeigneten Toilette wiederholt gesehen hat, daß ihm bei den Besuchen die Sperrverhältnisse des Hauses be- kannt geworden sein müssen, endlich aus der nnbestrittenen Tatsache, daß innerhalb 4 Jahren seine Tochter nicht ein einziges Mal in die väterliche Woh- nung gekommen ist.

Wenn nun von der Verteidigung des Friedrich König eingewendet wird, daß sich derselbe als Vater und gesetzlicher Vertreter seiner minderjährigen Tochter wegen der ihm zustehenden väterlichen Gewalt einer unbefugten Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit nicht schuldig machen kann und da- her auch an einer solchen nicht mitschuldig sein kann, so erscheint dem Gerichts- hofe diese Behauptung im Gesetze nicht begründet. Die Rechte und Pflichten der Eltern und insbesondere des Vaters sind im 3. Hauptbuche des allgemeinen bürgerlichen Gresetzbuches geregelt; zu den Pflichten gehört auch die Sorge für das körperliche und geistige Wohl der Kinder; zu den Rechten: ein un- sittliches, ungehorsames Kind auf eine ihrer Gesundheit unschädliche Art zu züchtigen. 145 a. b. G.B.) Wenn daher der Vater das minderjährige Kind züchtigt, weil dasselbe sich den Anordnungen der Bordellinhaberin bei Aus- übung des Schandgewerbes nicht fügen will, und um dadurch zu erreichen, daß die Tochter auch fernerhin zur Ausübung des Schandgewerbes im Bordelle verbleibe, so kann dieses Vorgehen nicht als im Ausfluß der väterlichen Gewalt, sondern nur als ein Mißbrauch derselben angesehen werden, welcher in § 93 St.G. keine Stütze findet; denn die Züchtigung soll ihm au- gestehen zur Behebung, nicht aber zur Beförderung der Unsittlichkeit.

I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien. 103

Wenn aber weiten die Yerteidigang Termeint, Friedrich König habe sich in gutem Glauben bezOgh'ch der Rechtm&ßigkeit der Anhaltong seiner Tochter im Hanse Riehi befinden können, weil er ja von der Polizeibehörde um seine ZuBtimmung zur Ausstellung des Gesnndheitsbuches befragt worden sd, BO ist der Gerichtshof der Ansicht, daß ihm dieser gute Glaube nur dann zugebilligt werden könnte, wenn es sich lediglich um einen freiwilligen, durch kone Zwangsmittel yersch&rften Aufenthalt im Riehischen Hause gehandelt h&tte, w&hrend es sich hier um die Willensbeugung der mit diesem Aufent- halte nicht mehr einverstandenen Tochter durch SchlAge und Drohungen yon Seiten des Yaters gehandelt hat. Daß aber Marie König tatsftchlich unfrei- willig im Hause festgehalten wurde, geht wohl aus den Aussagen Baders und des Ernst PoUak anzweifelhaft hervor.

Da aber die von Friedrich König angewandten Gewaltmittel tatsftchlich den Effekt hatten» daß die Anhaltung der Marie König im Hause Riehl wider deren Willen verlängert wurde, so stellt sich dieselbe als eine Hilfeleistung im Sinne des § 5 des Strafgesetzbuches zur Tat der Regine Riehl (g 9*3 8t.G.) dar ond trifft auch der Qualifaktionsumstand der Anhaltung von mehr als drei Tsgen 94 StG.) bei Friedrich König zu, nachdem ja seine Tochter durch 4 Jahre bei Riehl sich befand und in dieser Zeit die Intervention des Yaters zur Fortsetzung der Anhaltung wiederholt in Anspruch genommen wurde, somit sich aber einen Zeitraum von weit Aber 3 Tage erstreckt hat

Friedrich König war daher des Verbrechens der Mitschuld an der Tat der Regine Riehl nach §§ 5, 93, 94 St.G., höherer Strafsatz schuldig zu erkennen. Da aber in dem fortgesetzten Bezüge eines Anteiles am Schandlohne auch der Tatbestand der Übertretung des § 5 des Gesetzes vom 24. Mai 1S85 gelegen ist, nachdem Friedrich König diese Bezüge zum großen Teile für seinen Unterhalt gestftndigermaßen verwendete, so war er auch dieser Über- tretung schuldig zu erkennen.

II. Zur Veruntreuung 183 StG., ad 1/b).

Was die von der Anklage der Regine Riehl zur Last gelegten Unter- schlagungen von Kleidern und Wäschestücken, welche sie von den bei ihr in Unterstand getretenen Prostituierten in Verwahrung nahm, anbelangt, so hat sich der objektive Tatbestand nur in Ansehung der Josephine Taubmann mit Sicherheit feststellen lassen. Diesbezüglich geht aus der vollkommen glaub- würdigen Aussage dieses M&dchens hervor, daß sie eine Vierteldutzendgamitur feiner Battistwftsche im beilftuHgen Werte von 100 K. zur Riehl mitgebracht hatte und als sie das Riehische Haus verließ, ihr diese Wäsche von Riehl nicht, ausgefolgt wurde; sie ging nachträglich noch zur Riehl und verlangte deren Herausgabe, wurde aber Yon BiehP, Pollak und einigen Mädchen derart an- gegriffen und bedroht, daß sie schleunigst das Haus verlassen mußte, ohne ihre Wische ;erlangt zu haben. Hierin erscheint allerdings der Tatbestand der Tenmtreuung nach § 461 StG. gelegen, da die Verantwortung der Angeklagten, die Taubmann habe nur einige Fetzen mitgebracht, bei der präzisen Angabe der Taabmann einerseits und bei der Intensität, mit welcher ihr Begehren um Rück- steUong ihrer Wäsche abgeschlagen wurde, keinen Glauben verdient. In An- sehung der übrigen Fakten erschien dem Gerichtshofe aus den Angaben der Beschädigten nicht genügend feststellbar, welche Effekten sie zur Riehl gebracht hattoi, in welchem Zustande sich dieselben damals befanden, ob dieselben tat-

104 I. Der Prozeß Biehl und Konsorten in Wien.

B&ehlich in Yerwahrang genommen wurden, inwieweit Kompensation durch andere Effekten beim Anstritte geleistet wurde und ob und inwieweit die Be> Bch&digten nicht schon auf die RQckstelinng Tenichtet hatten: zum Teile hat aneh schon der k. k. Staatsanwalt die Anklage bei der Hauptverhandlnng zn- rackgezogen und erfolgte demgem&ß der Freispruch der Begine Riehl nach §§ 259/2 u. 3 St.P.O.

III. Yerbrechen des Betruges nach §§ 197, 199a StO. (ad |1 c, d;

IIb, c und IV).

Als die Zustande im Hause Riehl durch die von Marie König an Ernst Pollak und Emil Bader gemachten Eröffnungen infolge Vorgehens des Emil Bader zur Kenntnis der Polizeibehörde kamen und deren Publikation im „lUnst Wiener Extrablatte'' bevorstand, suchte Regine Riehl einerseits die Erhebungen der Polizei zu durchkreuzen (Aussage des Polizeiagenten Johann Seidl und des Emil Bader) anderseits auf die Unterlassung der Publikation durch ihren Vater, Salomon Lustig und Antonie Pollak, bei Bader einzuwirken, ohne daß sie bei letzterem einen Erfolg hatte. Dagegen gelang es ihr, wie aus den polizei- lichen Erhebungen J. 35/73 P.B. zu entnehmen ist, (Polizeiaussagen der Pokorny vom 26. Juni 1906, der Marie Hosch, bei deren Vernehmung der Polizeiagent Piß zugegen war, der E?a Madzia, Aloisia Stipschik, Aloisia Hirn, Josefine Zawazal, Pauline Trzil u. a. vom 26. und 27. Juni 1906) und wie dies auch die Yemommenen M&dchen bestätigen,, durch deren Depositionen ebenso wie im Jahre 1905 unwahre fQr sie günstige Angaben zu erzielen, welche unter anderen Umständen wenn nicht die Publikationen im „Illust Wiener Extra- blatte'' erfolgt und fortgesetzt worden wären, die Polizeibehörde ebenso wie im Jahre 1905 hätten irrefOhren können.

Inzwischen begann die gerichtliche Untersuchung und erfolgte bereits am 5. Juli 1906 die Zeugenvernehmung der Marie Hosch (0. Nr. 16), Eva Madzia <0. Nr. 16), Sofie Christ (0. Nr. 17), Josefine Zawazal (0. Nr. 18), und Ernestine Gönye (0. Nr. 19) unter Eid und der Anna Christ (0. Nr. 21) unbeeidet; weiters erfolgte die Zeugeneinvemehmen der Marie Pokorny (0. Nr. 123) am 23. Juli und der Marie Winkler am 25. Juli 1906, sowie die zweite Vernehmung der Anna Christ als Zeuge am 16. Juli 1906. Wie alle diese Mädchen später und auch bei der Hauptverhandlung eingestanden haben, haben sie bei diesen Zeugenvernehmungen in wesentlichen Punkten die Unwahrheit gesagt und seien sie mit Ausnahme der Winkler hierzu dc^rch Regine Riehl, Anna und Sofie Christ, sowie Emestine Gönye auch durch Antonie Pollak verleitet worden.

1. Marie Hosch gab an: „Ich hatte freien Ausgang, wir schliefen zu zweit oder dritt in einem Zimmer, die Fenster waren unversperrt; die Korre- spondenz war frei, ich durfte die Briefe selbst öffnen; von dem erhaltenen Gelde mußte ich an Riehl die Hälfte abführen fOr Quartier; die andere Hälfte blieb mir, abzQglich 4 Kronen fOr die Kost; das Geld stand zu meiner freien Verfügung."

Am 21. Juli 1906 gab Marie Hosch dem Untersuchungsrichter an, es habe ihr Riehl am Tage, bevor sie bei Gericht erschienen sei (also am 4. Juli 1906) gesagt, sie sollen so sprechen, wie sie bei der Polizei gesprochen haben, nach- dem ihr die Riehl schon vorher für die polizeiliche Vernehmung die Anleitung gegeben hatte, daselbst zu sagen, „sie hätten zu zweit in einem Zimmer geschlafen, Fenster und Türen seien nicht versperrt gewesen, sie haben ausgehen dürfen.

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 105

konnten anstandslos Briefe schreiben und erhalten, bekamen die H&lfte Tom Schandlohne und konnten über das restliche Oeld frei Terftlgen*' auch habe Dir Biehl versprochen, wenn die Sache gat ausgehe, ihr dafür etwas su geben. Zugleich erklärte die Bosch, nunmehr die Wahrheit zu sagen und erkl&rte sie die als Zeuge unter Eid am 5. Juli gemachten Angaben als unwahr. Dabei bUeb sie auch bei der Hauptrerhandlung.

2. Die derzeit flüchtige Eya Madzia gab an: „Wir hatten Schlafzimmer, in denen wir zu zweit untergebracht waren; wir konnten frei Briefe schreiben ond bekommen; ich konnte das Haus unter Tags verlassen, wann ich wollte ohne nm Erlaubnis zu bitten, auch die König konnte frei weggehen; von den Herren erhielt ich das Geld; meinen Tagesverdienst verrechnete ich mit der Riehl und hatte ihr die H&lfte für die Wohnung abzuführen; die andere H&lfte behielt ich für mich und hatte ihr für die Kost pro Tag 4 K. zu bezahlen; der Beat blieb mir zur freien Verfügung."

Am 24. Juli 1906 gab Eva Madzia bei dem Bezirksgerichte Bielitz an, es sei diese Aussage eine wissentlich falsche gewesen; bevor sie zu Gericht ge- gingen sei, habe Riehl sie in den Salon gerufen und sie genau instruiert, wie m daselbst aussagen soll, sie solle alles entgegen der Wahrheit sagen, woftkr ihr die Biehl Schmuck und Toiletten versprach und ihr auch am 6. Juli iko nach der Einvernehmung als Belohnung eine goldene Ühr gab. Madzia erkl&rte sohin, nunmehr die Wahrheit zu sagen und bezeichnete sie ihre obigen Zeugenangaben als unwahr. Riehl habe ihr auch schon vor der poliseiHchen Vernehmung eingeschärft, dort nicht die Wahrheit zu sagen.

3. Sofie Christ gab an: ,«Die Riehl hat mich immer gut behandelt; ich aih nie, daß andere Mädchen mißhandelt wurden; ich schlief mit einem zweiten M&dchen in einem Zimmer ; die Fenster waren nicht versperrt; die Korrespon- denz war frei\ ich konnte unter Tags ausgehen, wann ich wollte; ich habe im im Ganzen nur 75 fl. eingenommen; als ich das Hans verließ, gab mir die Riehl aas freien Stücken 35 fl., je sechs Hemden, Hosen und Gorsettes, 3 Paar Strümpfe, 2 Paar Schuhe, 2 Kleider, 3 Hüte; sie hat gesagt, daß sie bei mir darauf gezahlt hat, was stimmt.''

Am 17. Juli 1906 gab Sofie Christ vor dem Untersuchungsrichter an, daß diese Angaben unwahr seien; sie habe dieselben gemacht, weil am Sonntag den 24. Juni Nachmittags die Po Hak in ihre Wohnung kam, sie aufforderte, wegen einer gerichtUchen Aussage zur Riehl zu kommen, sie solle gut für Riehl aussagen; auch gab ihr die PoUak sofort 10 fL und versprach ihr, daß sie auch Kleider bekomme. Riehl sagte ihr dann in Gegenwart der Pollak, sie müsse bei Gericht gnt für sie aussagen, sie würde es nicht be- reuen, Riehl gab ihr sohin 10 fl. und sagte ihr, sie müsse sagen: y^ale sei gut behandelt worden, die anderen M&dchen seien auch nicht mißhandelt worden, Fenster und Türen waren offen, die M&dchen konnten frei ausgehen, durften Briefe schreiben und empfangen, der Schandlohn sei geteilt worden, Riehl habe ihr beim Verlassen des Hauses Geld und Kleider gegeben.*'

Sie sei dann noch öfters zur Riehl gegangen und habe ihr dieselbe noch sarka 4 mal je 5 fl. und einmal 10 fl. gegeben; auch habe ihr dieselbe ver- sprochen, ihr nach durchgeführter Gerichtsverhandlung 50 fl. zu geben.

4. Josefine Zawazal gab an: „Schreiben durfte ich frei, Utensilien er^ hidt ich Ton Frau Riehl gegen Bezahlung, der Lohn, den ich von den Besuchern erhielt, wurde zwischen mir und Riehl gleich geteilt; von meiner H&lfte hatte

106 I. Der Prozeß Riehl und Eonsorten in Wien.

ich 2 E. f ür Kost and 2 E. fftr Licht zu bezahlen. Eleider, Wäsche, Schuhe mußte ich ihr bezahlen; beim Austritt erhielt ich von ihr mein ganzes Guthaben. Wir hatten nach Yorausgogangener Meldung Nachmittags freien Ausgang die Schlafzimmer waren fflr Je 2 M&dchen bestimmt'*

Am 17. Juli 1906 gab Zawazal Yor dem Untersuchungsrichter an, daß sie diese Angaben als falsche, auf Anstiften der Riehl gemacht habe. Biehl habe sie am 24. Juni durch die PoUak holen lassen, sagte ihr, sie solle gut fttr sie aussagen, gegen die „Lisi^^ (EOnig) auftreten, sie wflrde dafftr Eleider und Schmuck bekommen; sp&ter schärfte ihr die Riehl ein, bei Gericht zu sagen, daß die Mädchen zu zweit in einem Zimmer schliefen, daß sie Briefe schreiben und bekommen konnte, ausgehen konnte wann sie wollte, daß Riehl das Geld mit ihr teilte. Riehl gab ihr sofort 5 fl. und am 5. Juli nach ihrer Yernehmung wieder 5 fl.

4 a) Am 6. Juli brachte ihr die Po Hak 15 fL, Eleider und Wäsche und sagte, wenn wieder etwas komme, solle sie nur für die Riehl gut aussagen, sie werde noch Schirm und dgl. bekommen ; diese Bewerbung hatte jedoch keinen Erfolg.

5.;£rne8tine GOnye, welche als Dienstmädchen bei Riehl von De- zember 1902 bis Juli 1906 bedienstet gewesen war, gab an: „Die Mädchen waren zu zweit untergebracht; sie gingen unter Tags frei aus dem Hause; niemals wurden Mädchen eingesperrt; mir ist nicht bekannt, daß Mädchen versteckt oder geprügelt wurden; die Eönig ging öfters frei aus dem Hause.*'

Am 24. August 1906 gab Gönye vor dem Untersuchungsrichter an, die Riehl habe ihr Yor ihrer am 5. Juli erfolgten gerichtlichen Yernehmung gesagt, sie müsse sagen, so wie oben angegeben ist und als ihr GCnye erwiderte, daß dies alles nicht wahr sei erwiderte Riehl: früher sei das allerdings nicht wahr ge- wesen, jetzt aber, seit der polizeilichen Revision entspreche es der Wahrheit; auf Gönyes Frage, was sie sagen solle, wenn sie gefragt werde, was früher ge- wesen sei, erwiderte Riehl, darum wflrde sie nicht gefragt werden; es werde ihr Schade nicht sein, wenn sie für Riehl gut aussage. Auch die PoUak habe ihr zugeredet, so auszusagen, denn wenn sie so aussagen würde, wie es früher war und man würde dann sehen, daß es jetzt nicht mehr so sei, würde man glauben, sie habe gelogen und man würde sie einsperren. Demzufolge habe sie obige falsche Aussage auch darüber, wie es früher gewesen sei, gemacht

6. Anna Christ gab an a) am 5. Juli: Sie habe schon vor dem Ein- tritte bei Riehl geschlechtlichen Verkehr gehabt; sie hätte freien Ausgang haben können, von ihrem Lohne mußte sie die Hälfte an Riehl abliefern; von ihrem Gelde zahlte sie sich Schmuck, Poudre und Schminke; beim Verlassen des Hauses gab ihr Riehl den Rest ihres Guthabens von 10 E.; da sie sich für krank hielt, ersuchte sie mit Zustimmung der Riehl brieflich ihre Mutter, sie abzuholen und wurde sie ihrer Mutter schlankweg übergeben; die Mißhandlungen die sie durch Riehl erlitt, erstreckten sich auf einige Püffe."

b) am 16. Juli: „Ich bleibe dabei, daß ich keine Jungfrau mehr war, als ich zur Riehl kam.*'

Am 7. August 1906 erschien Anna Christ freiwillig vor Gericht und ge- stand, daß sie bei obigen Aussagen bewußt unrichtige Angaben gemacht habe. Sie sei noch Jungfrau gewesen, als sie zur Riehl kam; die Riehl habe sie bei den nichtigsten Anlässen geschlagen ; bei der Behandlung mit dem Mutter- spiegel sei ihr Hymen zerstört worden; Riehl habe sie auch mit dem Besen-

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 107

Btiele geschlagen, nnd ihr abgeschlagen, sie wegzulassen. Als sie schon bei ihrer Matter war, holte sie die PoUak cur Riehl und ging sie mit beiden in der Hahn- gtsse auf und ab; Riehl bat sie, Tor der Polizei und bei Gericht ausdrücklich in Abrede zu stellen, daß sie noch als Jungfrau in das Haus gekommen sei, die Be- handlung mit dem Mutterspiegel in Abrede zu stellen, zu sagen , daß alle TOren offen gewesen seien und nur das Beste von ihr zu erz&hlen. Auch die Pollak redete ihr zu, gut auszusagen; sie wQrde glQcklich werden. Dadurch sei sie veranlaßt worden, am 5. Juli falsch auszusagen.

Nach der Yemehmnug vom 5. Juli bat Riehl neuerlich, für sie günstig sDiznsagen, falls sie nochmals vernommen werde und schickte ihr 10 fl., ver- ipnch ihr, für sie und ihr Kind zu sorgen, worauf sie am 16. Juli wieder fslich aussagte.

7. Marie Pokorny gab an: „Piß kam öfter in das Haus; ob er auch als Gast yerkehrte, weiß sie nicht; ihr ist nichts davon bekannt, daß Piß mit M&dchen auf das Zimmer ging und nicht zahlte; mit ihr sei er nicht auf dem Zimmer geweflen.**

Am 21. September 1906 gab Pokorny dem Untersuchungsrichter an, die Blehl müsse schon vor dem £r8cheinen der Polizei Anfangs Juli gewußt haben , diß dieselbe zu ihr kommen werde und bat alle M&dchen, zu sagen, daß sie nie eingesperrt waren, daß Riehl immer mit ihnen gerechnet habe, daß sie allein ftQsgehen darften, wofür Riehl den M&dchen W&sche, Kleider und Geld ver- sprach. — Zu ihr habe Riehl auch gesagt: „Was du auf der Polizei gesagt bist, mußt du auch bei Qericht sagen." Sie habe daher, ebenso wie die anderen M&dchen bei der Polizei falsche Angaben gemacht.

Da aber Riehl den Piß schonen wollte , so habe sie über ihn obige unwahre Angaben gemacht; denn sie wisse von Piß bestimmt, daß er öfters bei Tag und SQch bei Nacht mit M&dchen auf dem Zimmer war und über Anordnung der Riehl nichts zahlte.

8. Marie Winkler gab an: „Seit J&nner 1906 schrieb ich mir alles auf, ▼SS ich verdient hatte ; ich zeigte ihr (Riehl) ab und zu meine Au&eichnungen nnd sie sagte nur: „Es ist schon gut*' Am 27. August 1906 schrieb Winkler dem Untersuchungsrichter, sie bitte ihn, in ihrem Protokolle das von den Zetteln wegzulassen, Frau Riehl wisse gar nichts davon und bei ihrer hierüber am 35. September 1906 erfolgten Vernehmung erkl&rte sie, daß ihre erste Zeugen- aossage (vom 25. Juli) in einem Punkte falsch war; denn sie habe der Riehl ihre Au&eichnungen über ihren Verdienst n i e gezeigt und Riehl habe nie mit ibr gerechnet

9. Durch die vollkommen glaubwürdige Aussage der Marie Nemetz er- scheint femer festgestellt, daß Riehl, als das Haus gesperrt wurde, auch zu ihr sagte, sie müsse bei Oericht sagen, sie (die M&dchen) seien nicht eingesperrt gebalten worden, sie b&tte den Schandlohn mit ihr geteilt, sie sei von Kiehl nicht mißhandelt worden; sie (Nemetz) habe auch, wie die übrigen M&dchen dem im Hanse der Riehl erschienenen Polizeibeamten diese falschen* Angaben ge- macht, habe aber bei Oericht (wie ihr Zeugenprotokoll dartut) die Wahrheit

8«Mgt.

Regine Riehl und Antonie Pollak stellen entgegen diesen Gest&ndnissen der genannten M&dchen, die Verleitung derselben, beziehungsweise die Be- werbung bei denselben betreffs der falschen, zum Teile eidlichen Aussage in Abrede und verantwortet sich insbesondere Riehl dahin, daß die M&dchen zu

108 I. Der Prozefi Rlehl und Eonsorten in Wien.

den für sie ungünstigen Aussagen yermaüich durch Baders Vorgehen be- einflußt worden seien. Diese.Verantwortung erscheint jedoch Tollst&ndig haltlos, wenn man erwägt, daß die M&dchen zuerst die für Riehl günstige Aus- sage als Zeugen ablegten und erst später als Beschuldigte gestanden, früher falsche Aussagen abgelegt zu haben und wohl nicht angenommen werden kann, daß die M&dchen sich durch Bader h&tten soweit beeinflussen lassen, sich fälschlich unwahrer Zeugenaussagen zu beschuldigen. Dazu kommt, daß die Angaben, welche diese Mädchen als Beschuldigte machten, mit den zahl- reichen Aussagen der als Zeugen vernommenen, übrigen bei Riehl angehalten gewesenen Prostituierten übereinstimmen, so daß daher der Gerichtshof die Überzeugung gewonnen hat, daß die von den Mädchen abgelegten Zeugenaus- sagen tatsächlich wissentlich falsche Angaben enthielten und daß diese Mädchen mit Ausnahme der Winkler tatsächlich Ton Riehl respektive auch Yon PoUak verleitet wurden, respektive, daß sich auch Riehl bei Nemetz und Pollak bei Zawazal um eine falsche Aussage bewarb, ohne daß diese Bewerbung noch einen Erfolg gehabt hat.

Insoweit die Zeugenaussagen unter Eid abgelegt wurden, erscheinen auch Riehl und Pollak hierfür mitverantwortlich, weil sie ja bei jeder gerichtliehen Vernehmung eines Zeugen mit der Möglichkeit der eidlichen Einvernehmung rechnen mußten, nachdem dieses Moment nicht dem freien Willen des Zeugen, sondern der Beurteilung des vernehmenden Richters überlassen bleiben muß.

Aus der Verantwortung der Bosch und der Grönye geht übrigens auch her- vor, daß Riehl schon bei der Besprechung mit ihnen mit der Eventualität der eidlichen Zeugenvernehmung rechnete.

Die Verteidigung der Anna Christ und Marie Winkler vermeint, daß deren falsche Zeugenaussagen infolge freiwilligen Rücktrittes straflos ge- worden seien. Dieser Auffassung kann jedoch nicht beigepflichtet werden. Denn jede dieser Vernehmungen (bei Anna Christ am 5. und 16. Juli und bei Winkler am 25. Juli) war vollständig abgeschlossen; es hat auch Anna Christ bei ihrer am 16. Juli erfolgten zweiten Vernehmung noch nichts von der falschen Aassage vom 5. Juli erwähnt, sondern hatte dieselbe noch bekräftigt und es hat die Winkler bei ihrer am 25. August 1906 erfolgten zweiten Einvernehmung auch nichts erwähnt von den falschen Angaben des 25. Juli; es ist demnach bei Christ vom Zeitpunkte der falschen Aussage bis zum Widerrufe ein Zeitraum von mehreren Wochen und bei Winkler von mehr als einem Monat verstrichen, so daß es nur einem besonderen Zufalle und einer besonderen Vorsicht des Untersuchungsrichters zu verdanken war, daß nicht schon auf Grund der mehr« fachen falschen Aussagen eine günstige Erledigung für Riehl erfolgt ist.

Es waren daher sämtliche in dieser Richtung angeklagte Personen schuldig zu erkennen und zwar Marie Bosch, Sofie Christ, Josefine Zawazal und Ernestine GOnye wegen Ablegung falscher eidlicher Aussagen, Anna Christ, Marie Winkler und Marie Pokomy wegen falscher Zeugenaussagen nach §§197 und 199 a St.G., ferner Regine Riehl und Antonie Pollak wegen Verleitung su falschen Zeugen- aussagen u. z. Riehl in Ansehung der sub. 1 7 genannten Mädchen, sowie Antonie Pollak in Ansehung der sub. 3, 5 und 6 genannten Mädchen, ferner der Bewerbung um falsche Zeugenaussagen u. zw. Riehl bei Marie Nemetz und und PoUak bei Zawazal nach §§ 5, 197, 199 a. St.G. respektive 197, 199 a. StG.

Dagegen hatte ein Freispruch zu erfolgen in Ansehung der Bewerbung der Riehl um eine falsche Aussage bei Aloisia Hirn nach § 259/2 StP.O., femer

I. Der Prozofl Biehl und Konsorten io Wien. 109

in Ansehnng der Yerleitnng der Sofie Christ und Joiefine Zawazal eu falschen Zeui^enaiissagen durch Marie Hosch nach § 259/3 StP.O., weil einerseits Zswasal selbst hierüber keine' Angaben machte und die Behauptungen der Sofie Ghriit keine Torl&filiche Grundlage bilden konnten, nachdem die angebliche Äußerung der Hosch auch die Anf&ssung sul&ßt, daß Bosch nur die Meinung ADsdrflcken wollte, darüber, was der Christ Yon Riehl geschehen würde, wenn lie die Wahrheit sagen würde, ohne hiermit eine Beeinflussung beabsichtigt zu hiben, sumal ja auch sie selbst durch Riehls Einfluß zur selben Zeit sich zur ftlieben Aussage verleiten liefi.

lY. Übertretung der Kuppelei nach § 512 St.G. (I/e, Y B/b).

1. In Ansehung der Regine Riehl hat der Gerichtshof auf Grund der Aussagen der bei ihr untergebracht gewesenen Prostituierten Anna Christ, Elllilie Nawratil und Justine Rohaczek als erwiesen angenommen, daß ihnen Riehl schon vor deren polizeilichen Meldung und vor Ausstellung des G^esund- heitsbaches den Yerkehr mit Herren zur Ausübung des Schandgewerbes ge- stattete, wodurch der Tatbestand der Kuppelei nach § 512/a StG. gegeben er- scheint Dag^en war ein Freispruch zu f&Uen in Ansehung der Marie Billek and Malke Chaje Neschling; nach § 259/2 StP.O. und betreffs der Elise Men- fchik nach § 259/3 StP.O., weil letztere nicht mit YoUer Sicherheit aufrecht htlten konnte, ob sie schon yor der polizeilichen Meldung mit Herren bei Riehl in Verkehr getreten ist.

2. In Ansehung der Antonie Pollak konnte der Tatbestand der Kappelei nach § 512/b St.G. durch gescb&ftsm&ßiges Zuführen ron Schanddirnen mit Rücksicht auf die wenigen ihr mit Sicherheit zur Last zu legenden Fälle nicht festgestellt werden 259/3 StP.O).

Y. Übertretung nach § 5 des [Gesetzes vom 24. Mai 1885 Nr. 8<J R.G.B1. (ad Ya/d und Illb.).

1. Regine Riehl wurde auch beschuldigt, in Ansehung der Anna Felber Marie Hosch und Elise Menschik den Yerkehr mit Herren, obwohl sie mit Tenerischer Krankheit behaftet waren, zugelassen zu haben; betreffs Felber und Hosch erfolgte der Rücktritt von der Anklage; betreffs Menschik war der Charakter der Krankheit nicht mit Sicherheit festzustellen, weshalb der Freispruch nach § 259/3 StP.O. erfolgte.

2. Die dem Friedrich König zur Last gelegte Übertretung nach Ab- satz 3 des § 5 des obigen Gesetzes wurde bereits snb. I C am Schlüsse erörtert und wird darauf Terwiesen.

YI. Strafzumessung.

1. In Ansehung der Regine Riehl.

Die Strafe ist zu bemessen nach §§ 34, 35 und § 94 StG. (höherer Strafsatz.) ~

Erschwerend ist: 1. Die oftmalige Wiederholung der Freiheitsein- scfarftokong und Fortsetzung derselben durch eine Reihe ron Jahren; 2. die Begehung dieses Deliktes an zumeist noch mindeijfthrigen Personen; 3. die zwei* £u2he Qualifikation dieses Deliktes nach dem höhereu Strafsatze des § 94 St.G., 4. die Vorstrafen wegen Kuppelei; 5. der Umstand, daß das Yorgehen hanpt-

110 I. Der Prozeß BXehl und Konsorten in Wien.

aichlich auf rQcksichtsloie Ausbeutung unerfahrener Bl&dchen J gerichtet 6. die Konkurrenz zweier Verbrechen mit zwei Übertretungen; 7. die Yerieltang mehrerer Mädchen zur falschen Zeugenaussage und die (Bewerbung um eine falsche Aussage bei Nemetz, damit konkurrierend; 8. der Umstand, daß ee sich lom TeUe um eidiiehe falsche Aussagen handelte.

Mildernd ist: das teilweise Gest&ndnis des Tatsächlichen.

In Abw&gung dieser Erschwerungs- und Milderungsumst&nde erschien dem Gerichtshofe eine drei und einhalbjährige schwere, V^ j^^ °üt einem Fasttage Terschärfte Kerkerstrafe als dem Verschulden der Regine Riehl angemessen.

2. In Ansehung der Antonie Pollak.

Die Strafe ist zu bemessen nach § 34, 94 StG. (höherer Strafsats.)

Erschwerend ist: 1. Die Wiederholung ihrer Beteiligung an der Frei- heitbescbränkung und 2. die Fortsetzung durch längere Zeit; 3. die Konkurrenz zweier Verbrechen; 4. die Wiederholung der Verleitung zu falscher Zeugenaus- sage und Konkurrenz mit der Bewerbung um eine falsche Aussage bei Zawaaal ; 5. der Umstand, daß es sich zum TeUe um eidliche falsche Aussage handelt

Mildernd: 1. Unbescholtenheit und 2. Geständnis des Tatsächlichen, aller- dings nur zum geringen Teile.

Außerdem war nach § 55 StG. zu berücksichtigen, daß Pollak fftr einen alten, erwerbsunfähigen Mann [zu sorgen hat und erschien deomach eine ein- jährige schwere, monatlich mit 2 Fasttagen yerschärfte Kerkerstrafe ihrem Ver- schulden angemessen.

3. ^In Ansehung des Friedrich König.

Die Strafe ist auszumessen nach § 35 und 94 St.G. (höherer Strafsatz),

Erschwerend ist: 1. die längere Fortsetzung der Beteiligung an der Freiheitsbeschränkung seiner Tochter; 2. die schwere Pflichtverletzung gegen- tlber dem eigenen Kinde verbunden mit 3. dem Mißbrauche der väterlichen Ge- walt zu groben Mißhandlungen der Tochter ; 4. die Konkurrenz des Verbrechens mit einer Übertretung.

Mildernd: 1. Geständnis des Tatsächlichen; 2. wegen Verbrechens noch nicht bestraft.

In Beracksichtlgung der Erwerbs- und Familienverhältnisse wurde auch § 55 St.G. angewendet und eine achtmonatliche schwere, mit 2 Fasttagen monat- lich verschärfte Kerkerstrafe als dem Verschulden entsprechend erkannt.

4. In Ansehung der Marie Hosch, Anna und Sofie Christ, Josefine Zawazal, Ernestine Gönye, Marie Pokorny und

Marie Winkler.

Die Strafe ist auszumessen nach § 204 St.G. bei Hosch, Sofie Christ, Zawazal und Gönye und nach § 202 StG. bei Anna Christ, Winkler und Pokorny.

Erschwerend wurde kein Umstand angenonmien.

Mildernd: bei allen 7 Angeklagten: das aufrichtige, anomwiindene Ge- ständnis und die intensive Einwirlning^ der Begine Riehl auf die durch den Aufenthalt im Hanse Riehl und die daselbst erlittene Behandlung in ihrer Be- orteilungs- und WiUenskraft geschwächten Mädchen. Bei Anna Christ und

I. Der Prozeß Riehl und Konsorten in Wien. 111

Winkler aaßerdem noch die Selbstanzeige ; bei Bosch, Anna und Sofie Christ, Winkler und Pokomy die ünbescboltenheit ; bei Bosch, Anna und Sofie Christ, Winkler und Zawazal auch noch das jugendliche Alter.

Demgemäß wurde bei allen 7 Angeklagten yon § 54 St.G. and swar bei Hosch, Sofie Christ, Zawazal und Qönye auch * in der Strafart, Gebranch gemacht und bei Winkler und Anna Christ eine 14 t&gige, bei Sofie Christ, Gönye, Pokomy und Zawasal eine 3 wöchentliche and bei Bosch eine 4 wöchentliche Kerkerstrafe als angemessen erachtet.

5. Frivatrechtliche Ansprüche und Strafkostenersatz.

Der Vertreter der Priyatbeteiligten, welche sich [noch yor Beginn der Baaptrerhandlung dem Strafverfahren angeschlossen haben, hat die oben spezia- lisierten Ersatzansprache gestellt, welche zum Teile auf Verdienstentgang, Effektenersatz und zum Teile auf Genugtuung für die Freiheitseinschr&nkang gerichtet waren.

In letzterer Richtung erachtete sich der Gferichtshof auf Grund der Be- stimmungen des § 1329 a. b..G.B. für berechtigt, den. Betreffenden, insoweit aus dem Verfahren eine genügende Grundlage sich ergab, die oben angeführten Be- träge zuzusprechen, wogegen die weiteren Ansprüche als nicht mit Sicherheit zifferm&ßig feststellbar auf den Zirilrechtsweg zu weisen waren.)

Nachdem der Anspruch nur gegen Regine Riehl gerichtet war, so konnte auch der Zuspruch nur gegen sie erfolgen«

Der Aasspruch betreffend den Strafkostenersatz ist in § 389 St P.O. begründet

Wien, am 7. Koyember 1906.

Der Vorsitzende: Der Schriftführer:

Dr. Feigl m. p. Dr. Nahrhaft m. p.

n.

Die I. K.y. und die Kommission f. d. Reform der St.P.0. 0

Von Hans Qross.

Das vorliegende Werk ist als ein kostbarer Grundstein für die künftigen strafprozessualen Arbeiten aller Kulturvölker anzusehen. Eine solche Fülle theoretischen Wissens und reicher praktischer Er- fahrung wird nicht leicht in einem Buche vereint sein und so ist es un- möglich dasselbe bei irgend einer prozeßualen Arbeit unbenutzt zu lassen. Ich bedaure lediglich, daß die Österreich. St P. 0. und die in Ost- reich gemachten Erfahrungen verhältnißmäßig wenig Berücksichtigung^ gefunden haben; gestreift wurden öster. Bestimmungen allerdings z. B. von Schmidt (p. 199), Fuhr (p. 83), Goebel (p. 367), Thiersch (p. 207), etc. aber genauer untersucht nur von Rosenfeld (p. 321, namentlich 655). Ich bedaure dies nicht als Österreicher, sondern deshalb, weil ich weiß, daß die österr. StP.B. trotz vieler Fehler und Mißgriffe überaus anregend und klärend wirken müßte: ist sie doch vielfach reichsdeutschen Ursprunges und hat sie sich die For- schungen älterer deutscher Prozeßualisten (namentlich Zachariae und Plank) zu Nutzen gemacht. Es wären manche mühsame Erörterungen überflüssig geworden und manche Zweifel wären zu lösen gewesen^ wenn man einen Blick auf österr. Erfahrungen geworfen hätte. Aber dies nur nebstbei gesagt: im übrigen ist das Werk von größter Be- deutung und unabsehbarem Wert. Seine Entstehungsgeschichte beruht auf der Überzeugung der J, K. V., daß sie sich mit den Protokollen der Komm, für die Reform des Strafprozesses befassen und zu ihnen Stellung nehmen müsse. Die Deutsche Landesgruppe beauftragte

1) Reform des Strafprozesses. Kritische Besprechangen der von der Kommission für die Reform des Strafprozesses gemachten Vorschläge unter Mitwirkung von O.L.G.R. Henry Cornelius und cons. auf Veranlassung der Internat, krim. Vereinigung, Gruppe Deutsches Reich, herausg. von Dr. P. F. Aschrott, Landesgerichts- direktor a. D., Berlin 1906. J. Gutentag, Verlagsbuchhdlg., G. m. b. ü.

Die I. K.y. und die Kommission f. d. Refonn der St.P.O. 113

den Ld.6er.Dir. Dr. Aschrott, die Fragen in Themen zu teilen, für das Werk Mitarbeiter zu finden und seinerzeit über die eingegangenen Arbeiten ein Generalreferat zu erstatten. Aschrott zerlegte die Arbeit in sehr geschickter Weise in 13 Themen und gewann mit glücklicher Hand die entsprechenden Referenten : Vier Theoretiker und neunzehn namhafte Praktiker. Das Materiale und seine Bearbeiter teilen sich nun in folgender Weise:

I. Organisation der Strafgerichte etc. (L.6.D. Schubert, Prof. Wachenfeld und L.6.D. Weingart)

n. Aufbau der Straf gerichtsbarkeit (O.A.R Fuhr, St Anw. Hone- mann, Prof. 6f. zu Dohna.)

III. Legalitätsprinzip etc. (Prof. Mittermaier, St.-Anw. Schmidt, B.- Anw. Thiersch.)

IV. Zwangsmittel. (R-Anw. Feisenberger, R.-Anw. Löwenstein.)

V. Verteidiger. (L.6.B. Rosenberg, R.Anw. Heinemann).

VI. St-Anwaltschaft (L.6.D. Goebel.)

VII. Voruntersuchung etc. (L.6.D. Weingart und Prof. v. lilienthal.)

VIII. Hptverhdlg. (Prof. v. Lilienthal, O.L.G.R v. Spindler.)

IX. Beweis verfahren etc. (O.L.6.R. Oehlert.)

X. Abgekürztes Verfahren etc. (O.A.R Levis.) XL Privatklage (L.R Friedländer, RAnw. Fuld.)

XII. Strafverf. gegen Jugendliche (A.G.R. Köhne.)

XIII. Rechtsmittelverf. (Prof. Rosenfeld, O.L.G.R Cornelius, L6.D. Karsten.)

Diese Referate, zum Teile ganz ausgezeichnet, immer aber interessant und anregend verfaßt, einzeln zu besprechen, ist wegen des großen ümfanges der Materien unmöglich, es ist aber auch über-, flüssig alles einzeln zu behandeln, da das Generalreferat Aschrotts alles, von den Referenten gesagte in glänzender Weise zusammen- faßt und absolut nichts wichtiges ausläßt, so daß eine kurze Besprechung des Aschrott'schen Greneralreferates das ganze Werk berührt

In der Einleitung geht nun A. mit Recht von den Worten des unvergeßlichen sächs. Generalstaatsanwaltes v. Schwarze aus, der er- klärte, man habe, um nur einmal der unseligen Rechtszersplitterung ein Ende zu bereiten, vielfach Kompromisse schließen müssen und so sei die D.RJStP.O. ein Versuchsbau, der erst später richtig ausge- staltet werden mtlsse. Dieser Zeitpunkt, sagt A., sei nun gekommen, zumal dafi Vertrauen in die heutige Strafjustiz fehle. Dieser oft ge- sprochene Satz vom entschwundenem Vertrauen würde zwingend Änderungen verlangen, und wenn sonst auch keine anderen Gründe

ImUt tSr KriminaUnthropologie. 27. Bd. 8

114 n. Gross

vorlägen. Aber ob er wohl sicher richtig ist? Wie will man denn das beweisen? Richtig ist, daß sich manchmal ein Verurteilter be- klagt, oder ein Beschädigter, wenn der, den er für schuldig hielt, freigesprochen wurde, oder ein Zeuge, der lange warten mußte, oder ein Sachverständiger, dem man nicht glaubte und andere mehr. Vielfach kümmern sich die Laien um gewisse ^^interessante'' Rechtsfragen und wenn dann z. B. eine Nichtschwangere verurteilt wird, weil sie ein Abortivmittel nahm, so schimpft die Hälfte der Leute über das unsinnige Urteil. Wäre sie freigesprochen worden, so hätte aber die andere Hälfte geschimpft die Leute wissen eben nicht, daß das Strafrecht so viele Fragen stellt, für die es eine all- gemein befriedigende Lösung nicht gibt. Und weil sie das nicht wissen, verunglimpfen sie die Justiz. Wir könnten günstigsten Falles feststellen, daß es viele Leute gibt, die über die Gerichte losziehen, das ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Verlieren des Zutrauens, wir müssen uns damit bescheiden, daß auch geschimpft würde, wenn uns die Götter selber die Strafgesetze diktieren wollten. Sehr viele Unzufriedenheit, die über die Gerichte allgemein geäußert wird, richtet sich gegen die Geschworenen und die Laiengerichte überhaupt. Aber man hat das Publikum gelehrt, die Schwurgerichte als die größte Kultursegnung anzusehen, man getraut sich daher nicht, gegen sie aufzutreten und generalisiert seine Spezialunzu- friedenheit auf die Rechtspflege im Allgemeinen. Aber alle diese mehr oder weniger vagen Momente beweisen nicht im Entfern- testen, daß die maßgebende Bevölkerung zu der Justiz überhaupt kein Vertrauen mehr hat. Greifbarer als das allgemeine Ge- rede wäre das von der Presse gesagte, die es allerdings nicht an Angriffen gegen das heutige Strafverfahren fehlen läßt, so daß man hieraus, schwarz auf weiß, „das schwindende Vertrauen'' konstatieren könnte. Hier begegnen wir aber einer ziemlich kom- plizierten Konstruktion. Ich ;habe vor 13 Jahren (2. Aufl. Hdb. f. UR. 1894) nachzuweisen gesucht, daß die Tagespresse einer der wichtigsten Faktoren für die Schaffung der unseligen Geschworenen- gerichte war, die Presse, die zwar optima fide, aber mit verkehrter Rechnung für die Jury so nachdrücklich eingetreten ist. Nun sehen aber heute die meisten gebildeten Menschen und die Vertreter der Presse in erster Linie das angerichtete Unheil ein, für die Geschworenen fehlt tatsächlich das Vertrauen, und nun generalisiert man auch hier mit rein menschlichem Empfinden, man entschließt sich nicht, aufrichtig zu sagen: die von uns so dringend empfohlenen Geschworenen sind uns zum Unglück geworden, sondern man sagt

Die I. K.V. und die Kommission f. d. Reform der St P.O. 115

allgemein „unser Strafverfahren ist nichts nutz, das Volk hat das Vertrauen verloren". So redet sich die Sache dann weiter, gemeint ist aber auch hier nur das Geschworeneninstitut. Ich mache da Niemanden einen Vorwurf und wiederhole, dieses Vorgehen ist echt und rein menschlich aber wir Kriminalisten müssen der Sache auf den Grund sehen, und dürfen uns durch psychologische aber un- richtige Konstruktionen nicht irre führen lassen.

Wenn ich also behaupte, daß das Vertrauen des Volkes zur Strafjustiz nicht geschwunden ist, oder wenigstens daß sich dieses, wenn richtig, hochbedenkliche Moment nicht beweisen läßt, so gebe ich selbstverständUch zu, daß aus kriminalistisch-wissenschaftlichen Gründen an der D.RStP.O. sehr vieles auszusetzen und manches daran zu verbessern ist. Ich folge dem Generalberichterstatter, der das Material nun in vier Hauptkapitel faßt:

I. Beteiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege

und die Berafung.

Die Kommission beantragt bekanntlich Beseitigung der Schwur- gerichte und Einführung verschiedener Schöffengerichte. Ich habe seinerzeit irgendwo die Vermutung ausgesprochen, daß die Komm, so einen Übergang gesucht hat, um einmal die Schwurgerichte los zu werden, was aber nicht so plötzlich durchzuführen wäre. Sie hat deshalb statt der Schwurgerichte das Laienelement in Form von aus- gedehnter Verwendung von Schöffen beibehalten um später, tempore felice, auch dieser Gestalt der Laienbeteiligung ein Ende zu bereiten. Alle Gründe, welche die Komm, gegen die Geschworenen anführt, passen mut. mut. auch auf die Schöffen, siTdass die Wärme des Eintretens für letztere nur erklärlich wird, wenn sie den Übergang zum Ende darstellen sollen.

Ähnliches scheint auch dem Generalreferenten im Sinne zu sein: er will Schöffen, meint aber: die Geschworenen werden bestehen bleiben und er bedauere es auch als ihr Gegner nicht, weil man erst Erfah- rungen brauche. Aber es scheint nach den eignen Worten Aschrotts^ als ob er keine Erfahrungen mehr brauchte, und sich über den Un- wert des Laienelementes im Rechtswege längst klar wäre. Die Komm, hat nämlich vorgeschlagen, bei den Berufungsgerichten die Zahl der rechtsgelehrten Richter so zu belassen, wie in der ersten Instanz, aber zwei Schöffen beizufügen. Darin, daß im Berufungsgerichte mehr Schöffen sind, findet er nun eine Verschlechterung des Gerichtes und erklärt ausdrücklich (p. 68*): „so ist das Berufungsgericht erheblich

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llß II. Gross

nnzuverlässlicher^, man habe dann ^eine Berufang von einem besseren Gerichte an ein schlechteres" (vergl. p. 71*). A. sagt mit anderen Worten Je weniger Laienrichter, desto besser der Gerichts- ]jQf^ wenn man diese Rechnung weiter spinnt, so ist der beste Gerichtshof der, der gar keine Laien hat. Dani^muss man doch unbedingt fragen: wozu denn Laien überhaupt, wenn die nur zur Verschlechterung dienen?"

Wie sehr man dem Laienelemente mißtraut, und es nur nicht wagt, die letzten Konsequenzen aus dieser Stimmung zu ziehen, zeigt die Erörterung (p. 63*): ob man nicht gewisse Delikte, die schwie- rigere Fragen bringen, den (event bleibenden) Schwurgerichten ab- nehmen und den landgerichtl. Schöffengerichten überweisen sollte. Vor allem: begreift der Geschworne etwas nicht, so begreift es auch der Schöffe nicht und ein nachträgliches Erklären nützt nichts, be- greifen muß man während des Ganges der Verhandlung. Man gibt also zu, daß der Laie wenigstens gewisse komplizierte Vorgänge nicht begreifen kann und man wagt es trotz dieses Zugeständnisses, ihn als Siebter zu belassen? Nun kommt man zu dem bösen Zwischen- vorschlag* die Delikte einzuteilen in schwerbegreifliche und leichtbe- greifliche, wobei zu den ersteren betrügerischer Bankerott, schwere Urkundenfälschung, vielleicht Meineid etc. gehören sollten. Jeder von uns hat nun unzählige Bankerotte, Urkundenfälschungen, Meineide etc. gesehen, die unbedingt zu den „leichtbegreiflichen" (für Geschworene) gezählt werden müßten, während mancher einfach scheinende Dieb- stahl oder Mord zweifellos zu den „schwerbegreiflichen^^ Delikten zu rechnen ist, weil der Beweisgang ein hochkomplizierter war. Jeder erfahrene Schwurgerichtsvorsitzende weiß, daß man unter Um- ständen den Geschworenen den kompliziertesten Betrugsfall verständlich machen kann; aber einen ganz komplizierten Beweis, der zwar ab- solut sicher ist, aber nur mit allen logischen, psychologischen und technischen Finessen aller Art geführt und verstanden werden kann^ den einem Laien begreiflich zu machen ist unmöglich. Eine taxative Aufzählung der leichtbegreifiichen Delikte für Geschworene und der schwer begreiflicheren für Schöffen, wäre direkt ein Unglück, weil alle taxativen Aufzählungen zu Mißständen führen und weil die Schwierig- keit selten im Delikte selbst, sondern im Beweise liegt.. Wollen wir die Frage des Laienelementes überhaupt exact untersuchen, so dürfen wir nicht auf dem engen prozessualen Standpunkte stehen bleiben, sondern müßen die Gründe für die allgemeinen Sympathien zu Gunsten der Laienbeteiligung im großen modernen Volksleben suchen: sie liegen in dem allgemeinen, alles ruinierenden demokra-

Die LK.V. und die Kommission f. d. Refonn der StP.O. 117

fisierendea Zuge unserer Zeit, die Niemandem allein das lassen will, was seines Amtes ist, sondern auf ein Mitreden und Mittun der anderen dringt, die nichts von der Sache verstehen. In unseren Par- lamenten kann jeder über Dinge reden, die er nicht versteht, und wenn er klugerweise darüber schweigt,. so stimmt er wenigstens dar- über. In den Landtagen tun sie dasselbe und im Oemeinderat, wo die Leute besser unter sich sind, redet Gevatter Schuster und Schweine- metzger mit Vorliebe über das, was ihm am fernsten liegt. Warum hat denn gerade heute der Kurpfuscher den unglaublich größten Zulauf, warum geht Alles lieber in's große Warenhaus, als zum ehrlichen, sachverständigen Handwerker, warum ist in allen Volksbibliotheken das Konversationslexikon die weitaus stärkst ver- langte Lektüre, warum lackiert man die Leute in volkstümlichen Kursen und populären Vorträgen so leichthin oben drüber alles, weil man überall mitreden will und Sympathie für den hat, der auch nichts versteht, aber mittut. Und schließlich ist das „Volksheer^ auch nur eine demokratisierte Wehrpflicht. Ich war selbst Beserve- offizier, habe den bosnischen Feldzug mitgemacht, bin fünfmal im Feuer gestanden und habe meine Pflicht getan ich habe mich aber nie für gleichwertig dem Berufsoffizier gehalten, der andere Er- ziehung, andere Bildung, andere Interessen und anderen Lebenszweck hat, als ich, „zufällig^ und ohne meinen Willen dazugekommener.

und wenn wir diesen demokratisierenden Zug überall sehen was Wunder, wenn auch die Tendenz wach wurde, in der Bechts- sprechung Leute mitreden zu lassen, die nichts davon verstehen. Es fällt heute noch Niemandem ein, die Abschaffung der Parlamente, oder des „Volksheeres^' oder der Gemeinderäte zu beantragen, aber wo es möglich ist, gegen die unselige Mode anzukämpfen, da müssen wir es tun und ebenso, wie Deutschland binnen kurzem einen Para- graphen gegen die Kurpfuscher haben wird, so muß es einsehen, daß Laienrichter Leute sind, die über die wichtigsten Güter des Menschen urteilen, ohne etwas zur Sache zu verstehen. Geht es nicht anders, so wollen wir uns mit den Schöffen statt den Geschworenen zufrieden geben, nicht weil sie nützlich, sondern weil sie weniger schädlich sind als diese und weil wir sie als Übergang zu geordneten Zustän- den betrachten, zu Bichtem, die das Becht gelernt haben.

n. Das Legalit&tsprinzip und die Stellung der Staatsanwalt- seliaft, sowie ihrer Hilflsorgane im Strafverfahren.

Die Frage nach dem Legalitäts- oder Opportunitätsprinzip wird niemals zur aligemeinen Befriedigung gelöst werden können, weil

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der Staatsanwalt als Vertreter des AUgemein-Interesses gedacht ist, und dieses häufig mit Sonderinteressen in Widerspruch geraten kann^ seiner Natur nach in Widerspruch geraten muss. Es ist daher be- greiflich, daß auch im vorliegenden Werke [eine Einigung der Refe- renten nicht erzielt wurde: der Eine will strenges Legalitätsprinzip, der Andere beweist, daß das Opportunitätsprinzip im Wesen der Sache begründet ist, und andere versuchen in der einen oder anderen Weise einen Mittelweg zwischen beiden zu finden. Daß keiner dieser Vorschläge auf allgemeine Zustimmung hoffen darf, ist, wie erwähnt, aus der eigentümlichen Natur der Staatsanwaltschaft und der Art wie sie vertreten muß, zu erklären, am unglücklichsten sind aber sicher jene Vorschläge, welche für bestimmte Delikte die absolute Herrschaft eines gewissen Prinzips verlangen. Abgesehen davon, daß dies dem Wesen eines „Prinzipes'* widerspricht, muß bedacht werden, daß alles strenge Abgrenzen und Einschachteln immer zu Schwierig- keiten oft aber auch direkt zu Fehlern führt, namentlich dann, wenn es nach äußeren Formen vorgenommen werden will. Daß aber unsere Einteilung der Delikte zwar unbedingt notwendig, aber doch nur äußere Erscheinung ist, kann nicht bezweifelt werden, ein Prin- zip kann man aber nur nach dem inneren Wesen der Sache auf- stellen. Dieses ändert sich oft innerhalb des Begriffes, unter welchem wir ein bestimmtes Verbrechen zusammenfassen, oft ist es aber De- likten gemeinsam, die wir unter ferne auseinanderliegenden Para- graphen verteilt haben. Jeder, der als Staatsanwalt gearbeitet hat und in seinem Amte Erfahrung besitzt, wird zugeben, daß er sich nicht gerade bei gewissen Delikten oder Deliktsgruppen freiere Hand und Opportunitätsprinzip gewünscht hat, wohl aber wird es jeder von ihnen bei allen erdenklichen Delikten als schwere Last und als arges Übel empfunden haben, wenn er in allen Fällen verfolgen mußte; die Gründe, warum bisweilen die Fälle sind gewiß nicht häufig Schweigen besser wäre als Lärm machen und Unglück hervorrufen, sind der verschiedensten Art: wirklich politische oder strafpolitische, psychologische, soziale, ethische, edukative, taktische und unzählige andere Gründe gibt es: wer sie kennt und empfindet, dem brauchen sie nicht auseinandergesetzt zu werden, und auf wen sie nie eingewirkt haben, der versteht auch langathmige Auseinander- setzungen nicht. Wenn ich daher ungescheut für Opportunitäts- prinzip eintrete, so setze ich allerdings ein verläßliches, ehrliches und wissenschaftlich hochstehendes Material von Staatsanwälten voraus, denen man die Entscheidung über Verfolgen oder nicht Verfolgen mit Vertrauen in die Hand geben kann. Wenn wir diese Leute nicht

Die I. K.V. und die Kommission f. d. Reform der StP.O. 119

haben, wenn wir unsere Staatsanwälte nur angekettet und gesichert arbeiten lassen und ihnen nicht vertrauen dürfen, dann sind wir über- haupt bankerott, und alle Justiz hat ihr Ende erreicht. Aber so steht die Sache nicht. Ist es der schwere Dienst und die schwere Verant- wortlichkeit, die erziehend wirkt, ist es sorgfältige Auswahl oder sind es andere glückliche Gründe: Tatsache ist es, daß unsere Staats- anwälte, in Deutschland und Osterreich, das höchste Vertrauen ver- dienen; sie sind in Wahrheit Hüter des Gesetzes und so wider- sprechend es klingt: in der Regel auch der beste Schutz des Ange- klagten. Und je mehr Vertrauen wir ihnen geben, um so höher steigt ihre Verantwortung und nur ein Elender wäre es, dessen Gewissen- haftigkeit nicht mit der Schwere der Verantwortung wachsen wollte.

Allerdings muß zur Beruhigung des quärulierenden Publikums der Omnipotenz der Staatsanwaltschaft und diese läge bei Oppor- tunitätsprinzip allerdings vor in irgend einer Weise eine Grenze gezogen werden. Nach vielfacher Überlegung glaube ich doch, daß die österr. St.-P.-O. diesfalls die verhältnißmäßig günstigste Bestimmung enthält, indem sie 4, 47, 48) dem Privatbeteiligten das Recht gibt, im Falle der Bückweisung seiner Anzeige, bei der Batskammer den Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung einzubringen. Allerdings hat dies Becht nur der Verletzte, der sich wegen seiner „privatrecht- lichen" Ansprüche dem Strafverfahren angeschlossen hat, und hier- durch „Privatbeteiligter*^ geworden ist. Da Zweifel entstanden sind ob „privatrechtliche*' Ansprüche gleichbedeutend mit „vermögens- rechtlichen*' also in Geld ausdrückbaren Ansprüchen sind, und da überhaupt die Beschränkung auf „privatrechtliche Ansprüche^' nicht begründbar ist, so würde es sich empfehlen, die Subsidiarklage jedem zu gestatten, der nachweisbar durch ein Delikt verletzt wurde, gleichgiltig welcher Art diese Verletzung ist.

Ich glaube, daß die statistischen Ergebnisse auch diesfalls oft unrichtig verwendet werden; wenn z. B. St. Anw. Dr. Schmidt-Ernst- hausen (pag. 199) sagt, die praktische Bedeutung der subsidiären Privatklage sei nicht gerade hoch einzuschätzen, denn in Oesterreich haben von 1105 Subsidiaranklagen (1899) nur 6 zu einer Hauptver- handlung geführt so kann ebensogut behauptet werden, daß diese Statistik in glänzender Weise zeigt: Die St.Anw. hat in ganz Oester- reich im Laufe eines Jahres bloß 6 Mal zu Unrecht eine Verfolgung abgelehnt wenn überhaupt in allen Fällen dieser 6 Male Ver- urteilung erfolgte. Mir steht augenblicklich die österr. Kriminalstatistik pro 1899 nicht zur Verfügung, wohl aber die von 1898. In diesem Jahre sind den öster. Staatsanwaltschaften zusammen 171097 neue

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Fälle zugekommen; in diesen wurden im Wege der Subsidiarklage 4 Personen znr Hanptverhandlung gebracht und von diesen wurden wieder alle freigesprochen, so daß die Staatsanwaltschaften von der großen Zahl von 171 097 Fällen nicht ein einziges Mal die Verfolgung zu unrecht abgelehnt hat ! Einen besseren Beweis für ihre Gewissen- hafti^keit kann man sich kaum denken. -

Übrigens muß man erwägen, daß wir m Deutschland und in Österreich eigentlich ohnehin nicht strenges Legalitätsprinzip be- sitzen. § 152 168) D.RStr.P.O. und § 34 (207 bezw. 90) Ost St.P.0. verpflichtet den St Anw. allerdings einzuschreiten und zu verfolgen, da dies aber nicht bedingungslos verlangt werden kann, so heißt es § 152 D.StG.O. „sofern zureichende tatsächliche An- haltspunkte vorliegen" und § 90 (112) Ost StP.O.: „Findet der St Anw. genügende Gründe^ etc. Ob aber „zureichende Anhaltspunkte" oder „genügende Gründe'^ vorhanden sind, das konnte das Gesetz denn doch nicht vorschreiben, und so ist es allerdings wieder den Er^ wägungen des St Anw. überlassen, ob er anklagt oder nicht Man wird sagen: „Wenn es den kriminalistischen Erwägungen des St Anw. überlassen ist, anzuklagen oder nicht, so ist es noch lange kein Oppor- tunitätsprinzip — bloß deshalb, weil er es für inopportun hält, darf kein St Anw. die Anklage unterlassen". Das entspricht aber den Tatsachen nicht, und jeder St Anw* hat gewiß oft die Er- hebung einer Anklage unterlassen, obwohl er den Beschuldigten für den Täter hielt bloß deshalb, weil er im voraus sah, daß er mit den vorliegenden Beweismitteln unmöglich aufkommt, so daß Mühe und Kosten einer Hauptverbandlung zuverlässig umsonst aufgewendet würden. Hat der St Anw aber in diesem Falle nicht angeklagt, weil es nicht „opportun" war, dies zu tun, so kann man ihm dies auch für andere Fälle gestatten, d. h. das Opportunitätsprinzip überhaupt gelten lassen. Es wäre übrigens um die dienstliche Organisation übel bestellt, wenn man nicht im Wege der Aufsicht Mittel besäße, einen St. Anw. zu hindern von dem ihm zustehenden Rechte nicht anzuklagen, allzu ausgedehnten Gebrauch zu machen.

Ein weiteres in diesem Kapitel besprochener Moment ist die künftige Stellung der Staatsanwältschaft, die zum „Herrn des Ver- fahrens" gemacht werden will. Allgemein ist man darüber einig, daß die Staatsanw. vollkommen reorganisiert werden muß, daß man das nebenbei gesagt, jedem nichtreichsdeutschen Juristen nie verstand* liehe Jnstitut des „Amtsanwalts" zu beseitigen hat, und daß die St Anw. eine ihr direkt unterstehende Kriminalpolizei zugeteilt be- kommen muß. Einstweilen sei hier nur vom Standpunkte der

Die I.K.y. und die Kommiasion f. d. Befonn der StP.O. 121

Organisation ans im voraus bemerkt, daß die Durchführung dieses Planes doch nur für große^ mittlere, meinetwegen auch für kleine Städte denkbar ist Aber auf dem flachen Lande? Entweder legt man mehrere Bezirke zusammen, bestellt am größten Orte einen Be- amten der Staatsanwaltschaft, der wohl als geprüfter Bichter gedacht werden muß, und gibt ihm die vielgenannte „tüchtige Kriminalpolizei^ zur Seite, oder man richtet diesen immerhin nicht sehr billigen Apparat bei jedem, auch dem kleinsten Gerichte auf dem Lande ein. Im ersten Fall wir der St Anw. immer auf Beisen sein, überall zu spät kommen und dort nicht sein können, wo man ihn gerade braucht Im zweiten Fall wird der St Anw., der ja zu zivilrechtlichen Arbeiten nicht herangezogen werden kann, seine Zeit um so weniger auszufüllen vermögen, als er ja noch ,,eine geschulte Kriminalpolizei^ neben sich hat, die sich doch nicht bloß mit dem Einfangen einiger Landstreicher befassen kann, und auch für die gerichtlichen Be- amten bliebe dann zu wenig Arbeit Heute besorgt an vielen kleinen Amtsgerichten der Amtsrichter die gesamte Arbeit was sollen sie aber alle tun, wenn jetzt noch ein Staatsanwalt und ein Kriminal- polizist sich mit in die Arbeit teilt? Ich habe den Eindruck^ als ob hier um eines Prinzipes willen undurchführbares geschaffen werden wollte. Auch hier hilft das, in Kriminalsachen so oft verwendbare Mittel: Man stelle sich den Sachverhalt, den man bilden will, erst einmal bis in alle Einzelheiten hinaus, genau vor; man denke sich die „Neuorganisierte Staatsanwaltschaft" mit allem Drum und Dran^ allem Daneben, Darüber und Darunter nicht bloß in Berlin, sondern auch in Mittelstädten und herab bis zum allerkleinsten Gerichte im Reich lebhaft vor, dann nimmt man die Unmöglichkeiten sicher wahr!

m. Bas Terfabren bis zur Hauptverhandlung.

Bekanntlich will die Komm, das gegenwärtige Vorverfahren mit einigen Änderungen namentlich unter Beseitigung des Eröffnungs- beschlusses — beibehalten. Generalreferent Aschrott faßt seine Mei- nung in folgendem zusammen:

1. Die Leitung des Vorverfahrens kommt vollständig in die Hand des StAnw.

2. Die von ihm aufgenommenen Protokolle dienen nur der An- klagebehörde und dürfen dem Gericht nicht vorgelegt werden.

3. Ist Berufung gegen das Urteil möglich, so wird nach Zu- stellung der Anklage sofort die Hauptverhandlung angeordnet Gibt es keine Berufung so wird ein Vortermin von dem Amtsrichter an-

122 II. Gboss

geordnet um darüber zu verhandeln, ob sich die Verurteilung in der Hauptverhandlung erwarten läßt.

Ich nehme zu diesen drei Themen dahin Stellung, daß ich mich Ad 1 auf meine wiederholten Ausführungen, namentlich in diesem Archiv*) berufe, und erkläre, daß ich noch immer ein Vorverfahren durch den U.R. nicht bloß für das Beste, sondern für das einzig Durchführbare halte. Hier bemerke ich nur, daß dann, wenn man das Verfahren so durchführt, wie es Aschrott will, schließlich doch nur der Namen geändert wird und man sagt dann Staatsanwalt, wo man früher Untersuchungsrichter sagte. Man wird behaupten, der Hauptunterschied läge darin, daß derjenige das Vorverfahren geleitet hat, der die Anklage bei der Hauptverhandlung vertreten wird: das ist einfach undurchführbar, denn entweder müßte sehr oft nach jeder Verhandlung ein anderer St.Anw. erscheinen, oder es gäbe die Zusammenstellung der Verhandlungen nach den betreffenden St. An- wälten solche Schwierigkeiten, daß die Sache an diesen formalen Kleinigkeiten scheitern müßte.

Ad 2 finde ich die dort angedeutete Form zum Teil nicht not- wendig, zum Teile zu Unmöglichkeiten führend. Daß dem Vor- sitzenden keine Akten geliefert werden, soll die Einsichtnahme der Richter in Alles verhindern, was bei der Hauptverhandlung nicht zur Sprache kam. Hier können wir nur so unterscheiden: Geht der Vorsitzende korrekt vor, so scheidet er das Material in relevantes und nicht relevantes; Ersteres bringt er eben als relevant in der Haupt- verhandlung vor. Letzteres aber, eben als nicht relevant, weder in der Hauptverhandlung noch bei der Beratung. Geht der Vor- sitzende aber nicht korrekt vor, verschweigt er dolose etwas bei der Verhandlung und teilt es dann den Richtern bei der Beratung im Geheimen mit, ja dann sind wir überhaupt mit unserm Latein zu Ende; wenn wir doloses Vorgehen eines Vor- sitzenden in Rechnung ziehen, dann hilft auch eine ideale StP.O. nichts. Aber setzen wir uns darüber hinaus und sehen wir zu, wie sich Aschrott die Sache denkt: der Vorsitzende erhält bloß die An- klage, diese muß aber spezialisiert angeben, in welchen Tatsachen die einzelnen gesetzlichen Merkmale des Deliktes gefunden werden ist selbstverständlich und durch welche Beweismittel die ein- zelnen Tatsachen dargetan werden sollen das ist praktisch fast undurchführbar, denn jede Anklage über einen halbwegs komplizierten Fall müßte zu einem Ungeheuer anschwellen. Die Anführung der

1) Z. B. Bd* VII p. 222; Bd. XII. p. 191; Bd. XIV p. 130.

Die I. K.V. und die KommisBion f. d. Reform der StP.O. 123

Beweismittel kann man sieb doch nie so denken, daß gesagt wird: Beweis: Zeuge A, B, C, Lokalangenschein, Obduktionsprotokoll, Skizze des Zimmers, Gendarmeriebericht, Punktum. Die Zeugen- aussagen müßten mindestens auszugsweise wiedergegeben sein, denn 8/4 unserer Zeugen will seine Aussage abgefragt bekommen und er- klärt bei der Hauptverhandlung ^nichts" zu wissen. Wenn aber der Vorsitzende stets den StAnw. fragen muß, was denn eigentlich der Zeuge sagen soll, so wird die Verhandlung einerseits langweilig und mühselig, ihre Leitung geht aber auch anderseits in die Hände des StAnw. über, was man doch nicht wollen wird, und die Akten fiber Lokalaugenschein, Haussuchung, Obduktion etc. müssen wört- lich abgeschrieben werden, denn es hängt immer sehr von der per- sönlichen Auffassung ab, was man aus einem solchen Aktenstücke herauslesen und herausverstehen will. Ich bin der letzte, der dem Staatsanwalt mißtraut, aber wenn wir den Einzelnen für unfehlbar hielten, so bestände unsere ganze Gerichtsorganisation aus einem einzigen Paragraphen, der für Alles und Jedes Einzelrichter aufstellt.

Wenn man nun aber die Anklage mit so vielen Abschriften ver- sehen muß, so fragt man unwillkürlich, warum man denn nicht lieber den Akt beisammen läßt? Jedenfalls wäre eine große Mühe erspart

Endlich liegt es in der Natur der Sache, daß dann, wenn die Einleitung des Hauptverfahrens durch eine so eingehende und akten- mäßig begründete Anklage geschehen sollte, unbedingt dem An- geklagten, als der zweiten Partei, die Einbringung einer Gegenschrift gestattet werden müßte. Ja man wird nicht bloß von gestatten, sondern direkt von verlangen sprechen müssen; denn gestattet man sie, so sieht man die Notwendigkeit ein, daß die Verhandlung nicht von vornherein durch die wohlfundierte Anklage eine bestimmte ein- seitige Färbung erhält, findet man das aber notwendig, so muß es in allen fallen geschehen, ob der Angeklagte darauf besteht oder nicht. Aber wer soll diese Gegenschrift verfassen? Der Angeklagte kann es in sicher 95 0/0 von Fällen nicht; der U.B., der sonst Be- schwerden ,'etc. zu Protokoll nahm, existiert nicht mehr, der Amts- richter kann diese Arbeit unmöglich zu seinen sonstigen Arbeiten dazu übernehmen. Also der ex officio Verteidiger. Man weiß ja, wie viele Anklagen heute überreicht werden viel weniger werden es später sicher nicht sein, also hat man ebenso viele Gegenschriften zu machen. Man wird sagen: „im Allgemeinen geben wir die logische Notwen- digkeit einer Gegenschrift zu, aber für alle einfachen Fälle und die mit Geständnis kann sie entfallen, so daß sich die Zahl wesentlich

124 II. Gboss

verringert" Ja was heißt „einfach''? Für den, der eingesperrt werden soll, ist sein Fall nie einfach, auch er will sich verteidigen können und die staatsanwaltschaftliche Anklage entkräften. Und was heißt „geständig^* ? Die Fälle vollen Geständnisses sind nicht häufig; meistens gesteht der „Geständige" einen Teil der Tat, oder einige Fakten, oder es liegt sogen, „faktisches^ Geständnis vor, oder einige, aber nicht alle Angeklagten gestehen etc. In allen diesen Fällen muß eine Gegenschrift doch eingebracht werden, so verringert sich die Zahl derselben gar nicht bedeutend, und die ex officio Ver- teidiger hätten alle Hände voll damit zu tun. Daß sie das umsonst tun werden, das bildet man sich doch nicht ein, es kann auch unmöglich verlangt werden, der Mensch lebt eben von seinem Brote. Die Arbeit muß also bezahlt werden, und da der weitaus größte Teil der Ange- klagten mittellos ist, muß sie der Staat bezahlen. Werden die Gegen- schriften kurz, schlecht und billig gemacht, so schaden sie viel mehr, als sie nützen, sind sie ebenso eingehend wie die Anklage und gut gemacht, so sind sie teuer und die Mehrbelastung der Justiz wäre geradezu eine unerschwingliche.

Aber stellen wir uns vor, wir hätten die bewußte, aktenartig aussehende Anklage und die Gegenschrift. Hiemach hätte der Vor- sitzende zu verhandeln^ es ist sein um und Auf.

loh begreife nicht, wie ein so erfahrener und so überaus scharf- sinniger Kriminalist, wie Aschrott, behaupten kann, ein guter Vor- sitzender werde auch auch ohne Akt die Verhandlung leiten, denn auch heute müßten oft ganz neue Zeugen vernommen werden. Wir wissen doch, daß das Verständniß der Mitrichter in erster Linie auf einer wohl durchdachten, gut aufgebauten und überlegten Verhand- lungsleitung begründet ist ohne Grundlage gibt es aber keinen Plan und ohne Plan bietet jede Verhandlung bloß Überraschungen und Konfusionen. Freilich werden oft erst in der Hauptverhandlung neue Beweisaufnahmen nötig diese beziehen sich aber auf be- stimmte Fragen und ihre Beantwortung ist nicht schwer einzufügen« Kommen aber, wie Aschrott anführt, neue Tatsachen, „welche der ganzen Sachlage ein neues Bild geben", so geht die Verhandlung nur dann unversehrt weiter, wenn ein geschickter Vorsitzender den Akt sehr genau kennt und sofort weiß, wie das Materiale der neuen Situation angepaßt und in sie eingefügt werden muß.

Ich meine: ohne Vorbereitung des Vorsitzenden ist nur eine sehr einfache Verhandlung denkbar, alle übrigen mit kompliziertem Her- gang oder kompliziertem Beweis bedürfen planmäßiger Vorbereitung, Diese ist nach einer nicht eingehenden Anklage nicht möglich, eine

Die I. E.V. und die Kommission f. d. Reform der St.P.0. 126

genaue Anklage wäre aber nur Abschrift und Auszug aus dem Akte, gewonnen ist hiermit in keiner Richtung etwas.

Ad 3. Beim bestenWillen sehe ich Nutzen und Zweck des beantragten Tortermines nicht ein. Vor allem wird es kaum möglich sein, unge- bildeten Beschuldigten klar zu machen, was bei diesem ProbeschuB geschehen soll. Wir haben diesfalls in Österreich Erfahrung mit dem „Einspruch gegen die Anklage^, bei welchem die Leute nie begreifen^ daß es sich nur um die Berechtigung einer Verhandlung dreht Die stereotype Antwort der Leute ist: „ich bin unschuldig^. Erklärt man ihnen, es handle sich nur um die Frage ob genügender Verdacht vor- handen ist, so antwortet er wieder: ,,wenn ich aber unschuldig bin?'^ Gerade so wird es bei diesem Vortermin sein, der nur Verwirrung anrichtet und die Zeugen „abnutzt^, die so zu einer Verhandlung mehr erscheinen müssen. Freilich sagt man, es brauchen nicht alle Zeugen zu kommen^ die zur Hauptverhandlung nötig sind. Aber wer hat so yiel Divinationsgabe, daß er die richtigen Zeugen herauszu- finden weiß?

Weiters steht zu befürchten, daß die Behandlung dieser „vor. läufigen Termine'^ bald wenig genau und immer flüchtiger werden wird. Man braucht da Niemandem einen Vorwurf von Leichtsinn und Trägheit zumachen: es liegt in der menschlichen Natur, etwas Nicht- endgültiges flüchtiger zu behandeln, die Gewissenhaftigkeit wächst mit der Zunahme der Verantwortung. Nicht zu übersehen wäre end- lich die verschiedene Behandlung derselben Sache durch zwei ver- schiedene Vorsitzende. Ich hatte einmal Gelegenheit, dieselbe Straf- sache von zwei Vorsitzenden geführt zu sehen : die erste Verhandlung mußte vertagt werden, der Vorsitzende wurde plötzlich abberufen und die neue Verhandlung mußte von einem anderen Vorsitzenden geführt werden. Beide waren besonders intelligente und gewissenhafte Leute, sie hatten aber von der Sache verschiedene Auffassungen und so war die zweite Verhandlung einfach etwas vollkommen anderes als die erste, man mußte sich Mühe geben, die Identität der zwei Strafsachen zu erkennen. Dies würde aber bei Vortermin und Hauptverhandlung oft vorkommen und auf den Beschuldigten, namentlich den Ungebil- deten, müßte es den bösesten Eindruck machen, wenn er seine Sache 80 verschieden aufgefaßt sieht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Entwicklung der Verhandlung und das sich daraus ergebende Urteil den Eindruck macht, als ob es nicht anders sein könnte, als ob es sich um die Wirkung eines unabänderlichen und zwingenden Naturgesetzes handelt.

Kurz: der Vortermin wäre eine prozeßuale Kalamität.

126 IL Gross

An diese Erörterungen schließt das Generalreferat die Frage nach Haftsachen und erklärt vor Allem die Kollusionshaft überhaupt für entbehrlich, sie sei zu beseitigen. Eine exacte Untersuchung über die Notwendigkeit der J^ollusionshaft ist nicht denkbar, es handelt sich nur um Ansichten, die auf verschiedene Erfahrungen, Annahmen und Schlüsse begründet werden. Es läßt sich auch nicht beweisen, ob die Kollusionshaft durch die Tätigkeit von Freunden, vielleicht nicht be- kannten Mitschuldigen und Angehörigen illusorisch wird, wir wissen nur, daß dies allerdings häufig geschieht und daß eine große Gefahr in der Tätigkeit entlassener Mitgefangener liegt, die u. U. ebenso wirken können als der Verhaftete selbst Aber im Großen und Ganzen darf man ja vermuten, daß die Kollusionshaft nicht so not- wendig ist, um die mit ihr verbundenen Härten aufzuzwingen, aber ich glaube: wenn man das Experiment wagt, und die Kollusions- haft aufhebt, so wird der Schluß ihre schleunige Wiedereinführung sein.

Bezüglich der weiteren Haftfragen will Aschrott:

1. Anordnung der Haft durch den Staatsanwalt

2. Jedem Verhafteten auf Antrag einen Verteidiger geben.

3. Durch diesen kann der Verhaftete jederzeit gerichtliche Ent- scheidung über die Haft beantragen (mündliche Verhandlung vor dem Amtsgericht).

Ich meine, daß es in der Bevölkerung viel übles Blut erzeugen würde, wenn der Staatsanwalt die Haft anordnet; das Volk will Entscheidung durch den Kichter, dem es naturgemäß mehr ver- traut Die Bestellung so vieler ex officio Verteidiger wird zuver- lässig an der Geldfrage scheitern und eine Entscheidung des Gerichtes bloß durch den Verteidiger veranlassen zu können, wird viel Zeitver- lust verursachen. Ein Argument, daß hierdurch mutwillig Anträge verhindert würden, dürfte nicht stichhaltig sein, solche mutwillige Anträge kommen kaum vor. Die österr. St-P.-O. mit der wir dies- falls .gute Erfahrungen gemacht haben^ bestimmt:

Haftantrag vom Staatsanwalt Beschluß darüber durch den U.R. Entscheidung der Eatskammer, wenn beide differieren oder wenn sich der Beschuldigte beschwert weitere Beschwerde an das Oberlandesgericht Letztere kommt sehr selten vor, mutwillige Be- schwerden vielleicht gar nicht; wir nehmen an, daß der Ü.-R ge- nügendes Vertrauen beim Beschuldigten besitzt, um ihm gegebenen Falles das Zwecklose einer sichtlich mutwilligen Beschwerde klar zu machen; ruhiges Erörtern der Sache führt fast immer zu vernünf- tigem Einsehen.

Die L K.V. und die Kommission f. d. Reform der St.P.O. 127

«

Gerade hier kommt es, wie in zahlreichen anderen Fällen viel weniger auf den Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung als auf die Qualität der betreffenden Funktionäre an. Wir in Osterreich können mit Stolz behaupten^ daß wir, namentlich in letzter Zeit, mit unseren U.-R. die besten Erfahrungen machen und daher auch mit jenen proceßualen Bestimmungen zufrieden sind, welche wichtige Agenden in ihre Hände legen; die U.-R. zu beseitigen wäre sehr gewagt, und wieder auf sie zurückzugreifen, wenn es mit dem neuen Verfahren nicht geht, wäre schon deshalb nicht möglich, weil man mittlerweile das Material verloren hätte, aus dem man sie schaffen könnte.

lY. Die Hauptrerhandlung.

Das Generalreferat bespricht diesfalls bloß zwei Anderungsvor- schläge der Kommission, beide in negativem Sinn, in beiden Fällen ist dem Generalreferat im Wesen recht zu geben.

Statt des unglücklichen Eröffnungsbeschlusses will die Komm, eine Erklärung des Vorsitzenden, in welchem die fragliche Tatj ihre gesetzlichen Merkmale und das anzuwendende Strafgesetz bezeichnet wird. Aschrott erklärt diesen Vorgang mit Becht als unzulänglich and daher zwecklos. Dagegen meint er, daß natürlich mit Bück- sicht auf das immer Schwierigkeiten bereitende Laienelement eine Aufklärung über den vorzunehmenden Straffall zu Beginn der Ver- handlung jedenfalls notwendig sein wird. A. meint, daß der Staats- anwalt seine Anklage mündlich zu erheben und zu begründen habe, wodurch alle Beteiligten, namentlich aber auch der Angeklagte, über die Sachlage bis zu Beginn der Hanptverhandlung gründlich unter- richtet wird. Wenn also A. behauptet, daß dies durch den Staats- anwalt und nicht durch den Vorsitzenden geschehen müsse, so hat er nach Wesen und Sinn der Sache zweifellos recht: der Staatsanwalt verlangt Gelegenheit, seine Beweise vorführen zu können, er verlangt Schuldspruch und Strafe, er muß auch logischer Weise selbst dieses Begehren stellen und begründen. Vom praktischen Standpunkte aus muß aber doch erwogen werden, ob die fragliche Erklärung nicht zweckmäßiger vom Vorsitzenden ausgeht Er hätte objektiv dar- zustellen, er erklärt: „der Staatsanwalt behauptet dies und jenes und begründet dies so oder anders. Dagegen spricht aber zu Gunsten des Angeklagten Folgendes .... und endlich liegt auch noch dies und jenes vor, von welchem wir erst im Laufe der Verhandlung ersehen werden, ob es für Schuld oder Nichtschuld spricht". Wird dies vom Vorsitzenden, also ganz objektiv gegeben, so ist eine Ent-

128 II. 6B0B8

gegnimg nicht möglich; diese Vorfrage ist erledigt nnd es kann zur Beweisaufnahme geschritten werden.

Hat aber der Ankläger seine Darstellung, eine Art EonditionaL urteil, vorgebracht O^wenn die Beweise dies und jenes ergeben, ist A. des § X schuldigt), so erfordert es das Parteienprincip, ja jede Forderung der Gerechtigkeit, unbedingt, daß der Angeklagte eine Entgegnung vorbringen darf oder eigentlich muß. Seine Bede hat also der Verteidiger zu halten (und wenn keiner anwesend ist?) Will man korrekt vorgehen, so muß man auch Beplik und Duplik ge- statten, denn sonst kann der Verteidiger rein sagen, was er will, und ob der Erfolg diesen Aufwand an Zeit, Mühe und Geld lohnen wird, ist sehr fraglich. Kurz: richtig ist es, wenn der Staatsanwalt seine Anklage erhebt und begründet, praktich durchführbar dürfte aber nur eine Feststellung durch den Vorsitzenden sein^.

Ein zweiter Vorschlag der Komm.: das Gericht könne in ge- wissen Fällen von der Erhebung einzelner Beweise absehen, wenn es die Tatsachen, die dadurch bewiesen werden sollen zu Gunsten des Angekl. für erwiesen oder einstimmig für unerheblich erachtet wird von A. ebenfalls mit Becht abgelehnt. Es ist zweifellos, daß hierdurch das freie Beweisen eingeschränkt wird und außerdem ist immer zu fragen was heißt „zu Gunsten des Angeklagten erwiesen^ und was heißt ^unerheblich^? Hier können Zweifel und Ungenauig- keiten schlimmster Art entstehen und viel Zeitgewinn kann kaum entstehen, da doch auch heute der Vorsitzende über Beweise, bei welchen z. B. der Staatsanwalt ausdrücklich erklärt, er gebe die zu beweisende Tatsache zu, oder die sichtlich irrelevant sind, leichter und rasch hinweggeht. Häufig wird ja auch gegenseitige Zustimmung wegen Übergehung eines irrelevanten ümstandes erziehlt werden besteht aber Staatsanwalt oder Angeklagter auf der Vorführung eines scheinbar gleichgiltigen Beweises, so werde er vorgeführt Wir haben es alle erlebt, daß ein geschickter Staatsanwalt oder Verteidiger aus einem scheinbar irrelevanten Momente doch wichtiges abgeleitet hat; dieser Möglichkeit darf nicht von vornherein der Weg abgeschnitten werden.

Den Schluß des Generalberichtes bildet eine ganz kurze Erörte- rung der besonderen Verfahrensarten, die übergangen werden kann,. Principien betrifft sie nicht.

III.

Über den Stand und die Handhabung der Fürsorge- erziehung in Preussen.

(Gesetz vom 2. Juli 1900.)

Von

Dr. Otto Leers, Assistent der Unterrichtsanstalt für Staatsaraneikundo der Universität Berlin.

Wie eine geistige Atmosphäre umgibt unsere Zeit die Frage der Erziehung des Kindes, der Sorge um die heranwachsende Jugend. Es scheint, als ob in dem Jahrhundert des Kindes, welches ange- brochen ist, sich mehr und mehr die Erkenntnis Bahn bricht, wie sehr von dem Gedeihen des Kindes die Wohlfahrt des Volkes ab- hängt The child is the father of the man; die Sorge für die Jagend ist also nicht nur eine Kulturaufgabe, eine Aufgabe der Er- ziehungspolitik, sondern auch eine Frage der Entwicklung der geistigen und körperlichen Volksgesundheit "^

Und doch scheint noch viel daran zu fehlen, daß die Anschau- ungen, die diesen Worten des österreichischen Staatsmannes Baern- reither zu Grunde liegen, in die tieferen Kreise des Volkes einge- drungen, daß sie Allgemeingut geworden sind. Noch sehen wir so mannigfaches Kinderelend, hören fast täglich von Kindermißhand- lungen — und dabei sind es nur die körperlichen, die bekannt werden, von den Mißhandlungen der Kinderseele dringt selten etwas an die Öffentlichkeit. Noch lesen wir fast täglich von Verurteilungen Jugendlicher zu Gefängnisstrafen, von der Steigerung der Kriminalität der Jugendlichen. Die Statistik der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, wie erheblich diese Steigerung im Vergleich zu der der Erwachsenen und der Bevölkerung ist Wenn auch hierin im letzten Berichtsjahre 1905 eine geringe Besserung zu verzeichnen ist, die Zahlen sind immer noch erschreckend hohe. 51232 Jugendliche wurden im Jahre 1905 wegen strafbarer Handlungen verurteilt. 2366 hatten

ArehiT fftr Kriminalanthropologie. 27. Bd. 9

130 m. Leers

sich gegen Gesetze betr. den Staat, die öffentliche Ordnung, die Religion vergangen, 36194 waren mit dem Vermögensrecht, 12 654 mit dem Personenrecht in Konflikt geraten, 18 wurden wegen Ver- gehens im Amt bestraft

In der steigenden Rückfälligkeit der jugendlichen Verbrecher, die die Statistik ziffermäßig nachweist, zeigt sich ein Mißerfolg unserer bisherigen strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Jugend- lichen, der zu Zweifeln an dem Nutzen derselben berechtigt, und zu der Erwägung zwingt, ob nicht andere an ihre Stelle zu setzen sind- Insbesondere gilt dieser Mißerfolg den immer und immer wieder ver- hängten und im Bückfalle methodisch verlängerten und verschärften kurzen Freiheitsstrafen. Kräpelin^) hat kürzlich in einem geistvollen Aufsatz auf die ungenügende Beeinflußung der jugendlichen Übel- täter durch diese Strafe hingewiesen. Sie sind zu kurz, als daß in dieser Spanne Zeit der Jugendliche von seinen verbrecherischen Neigungen, von seiner Verwahrlosung geheilt würde, zu lang, als daß er nicht durch die Berührung mit Schlimmeren noch mehr verdorben würde. „Heute können wir es oft genug hören,** sagt Kräpelin, „daß selbst im Gefängnisse, unter den Augen des Staates, die erst- malig bestraften jungen Missetäter den verderblichen Einwirkungen ergrauter Genossen zum Opfer fallen." Wie der Stock aus der Schule, wird die Gefängnisstrafe aus der Rechtsprechung über den jugendlichen Kriminellen schwinden müssen; beide rufen keine Seelenerregungen hervor, die der Ausgangspunkt einer moralischen Änderung werden könnten. Im Gegenteil, sie verhärten, verschlimmem das Übel. Die Art der Vergehen zeigt heute bei den Rückfälligen fast stets eine Steigerung ad pejus und das Tempo der einzelnen Straftaten eine Beschleunigung.

Es kann aber auch kaum Wunder nehmen, daß die Strafe nichts fruchtet, solange sie die Form der kurzen Vergeltungsstrafe hat Die Mehrzahl der Rückfälligen und jugendlichen Gewohnheitsverbrecher ist zweifellos entweder entartet, infolge angeborener Veranlagung von sittlich geringerer Widerstandskraft oder von Grund aus geistig zu- rückgeblieben infolge mangelhafter Schulung und Erziehung. Von 496 Rückfälligen hatten nach einer Untersuchung Morels 133 gar keinen, 128 nur ganz primitiven Unterricht genossen, 165 konnten eben lesen, schreiben, rechnen. Nur 93 wiesen nichts Abnormes auf; aber auch von diesen 93 hatten nur 29 lesen und schreiben gelernt, 29 andere nur einen rudimentären und 34 gar keinen Unter-

1) In Aschaffenburgs Monateschr. f. Krim. u. Strafr. 1906, Heft 5/6.

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 131

rieht genossen. Ich weiB nicht, ob eine solche Untersuchung in unserm Lande gemacht ist, ich finde aber eine ähnliche Statistik, die die gleiche Sprache spricht: die Zahl der in Preußen in 1904 der F. £. überwiesenen Zöglinge, welche die Schule nur unregelmäßig besucht hatten, betrug 47,7 <^/o, mit geringer, bezw. ohne jede Schul- bildung waren 1,5 bezw. 12,1 <)/o der Zöglinge. 0

Natürlich ist der Mangel der Schulbildung nicht allein von Be- deutung. Wichtiger und viel eingreifender in das Dasein des Jugendlichen ist der Einfluß des häuslichen Milieus, in welchem er aufwächst. Traurige häusliche Zustände bilden eine wesentliche Grundlage für die Vergehen der Jugendlichen, erhöhen den Anreiz zu Verbrechen und setzen die Widerstandskraft gegen diesen Anreiz herab.

Alle Handlungen entspringen unmittelbar aus Vorstellungen und Gefühlen, derart, daß die stärkeren Antriebe die Art der Handlung zwangsmäßig entscheiden. Wo also nur schlechte Vorstellungen durch schlechtes Vorbild, mangelhafte Erziehung geweckt werden, oder nur negative Unlustgefühle in der jugendlichen Seele erzeugt werden, wird der Anreiz zu schlechten Handlungen überwiegen, der zu guten nicht auf- und zum Durchbruch kommen. Auf solche Zu- stande im häuslichen Heim deutet die Tatsache, daß 63,9 ^/o aller Für- sorgezöglinge des Jahrgangs 1904 auf Grund des § 1 Ziffer 3, der schon eine fortgeschrittene Verwahrlosung voraussetzt, überwiesen wurden. Schließt man noch diejenigen Fälle ein, wo die Über- weisung auf Grund der Ziffern 1 und 3 oder 1, 2 und 3 erfolgt ist, so sind es 72,7 ^/o odor fast ^4 aller in 1904 überwiesenen Zöglinge- bei denen die Verwahrlosung schon ganz offen zu Tage lag. Die Zahl der gefährdeten Kinder ist überhaupt nicht annähernd zu schätzen. Und doch wäre ein Einblick in diese Verhältnisse gerade am wichtigsten, da hier die Hilfe der F. E. am notwendigsten und erfolgreichsten wäre. Denn im Beginne der Verwahrlosung genügt oft schon ein einfacher Wechsel der Umgebung mit Ausschaltung des fehlerhaften Einflusses der Erziehung, um das Kind von seinen Unarten und krankhaften Erscheinungen zu befreien. Die schlechten Vorstellungen sind noch locker, ungefestigt und bei der Impressio- nabilität des Kindes leicht durch Einschaltung besserer Eindrücke und Vorstellungen zu verdrängen. Auch der Nachahmungstrieb des Kindes ist in jüngerem Alter bei der Erziehung mit besserem Erfolg

1) Ich entnehme diese Zahlen, wie auch die weiterhin folgenden statistischen Angaben, dem letzten amtlichen Bericht über die F. £. Minderjähriger in Preußen für das Jahr 1904.

132 III. Leers

zu verwerten. Die kurzen Schulstunden mit ihrer Belehrung und Erziehung hinterlassen aber keine oder nicht genügend tiefe Eindrücke, als daß sie nicht durch traurige Verhältnisse im Eltemhause bald wieder paralysiert würden. Eine kurze Aussendung der vielfach geistig und körperlich gleich gefährdeten Kinder in Ferienkolonien, Ferienheime ist auch problematisch. Wenn die Kinder nach kurzen Wochen in die alten verderblichen Einflüsse zurückkehren, ist der Erfolg dieser sonst so wohltätigen Einrichtung bald wieder ver- schwunden.

In den meisten Fällen hilft nur die gänzliche Herausnahme aus der gefährlichen Umgebung und die frühzeitige und unbeschränkte Verbringung in geordnete Zustände.

Besonders in den Großstädten verhält sich die vielfach herrschende Wohnungsnot zu dem Kinderelend, wie die Ursache zur Wirkung. Bernhard 0, der die Verhältnisse von G551 Kindern aus dem Zentrum Berlins untersuchte, fand, daß die Schlafzeit derselben durchschnitt- lich um l Stunde 46 Minuten täglich zu kurz war. Sicher ist, schließt er, die Ursache dafür weniger in Überbürdung mit Schul- arbeiten oder krankhafter Schlaflosigkeit zu suchen, als vielmehr in dem Unverstand und der Lässigkeit der Eltern, vor allem aber in mißlichen sozialen Verhältnissen. Bis zu 9 Personen schlafen nach diesen Untersuchungen in einem Raum und bis zu vier in einem Bett, in einem Eaum in dem die ganze Familie auch tagsüber wohnt Räume und Lagerstätten spotten oft allen hygienischen Anforderungen. Daß durch solche Verhältnisse das Schamgefühl der Kinder früh- zeitig leidet, liegt auf der Hand. Die große Zahl der wegen Sitt- lichkeitsvergehen verurteilten Jugendlichen stammt meist aus solchen ärmlichsten Wohnungsverhältnissen, die der Unsittlichkeit zweifellos Vorschub leisten. Die heutigen Erwerbsverhältnisse bringen es mit sich, daß der Jugend mehr und mehr der väterliche Schutz, die mütterliche Aufsicht und Fürsorge verloren geht. Schon in den ersten Lebensjahren, wo sie am notwendigsten und wirksamsten wäre, fehlt die Erziehung der Kinderstube. Die Mutter der Kinder muß oft mitverdienen, oder sie sorgt überhaupt allein für den Unterhalt der Familie und wird dadurch den größten Teil des Tages von Hause femgehalten. Die heranwachsenden Kinder, sich selbst über- lassen und durch das enge Zusammenleben mit den Erwachsenen, durch die Teilnahme an ihren Genüssen frühreif, fallen schon früh dem schlechten Beispiel und der Verführung anheim.

1) Mitgeteilt auf dem Kongreß für Kinderforsehung, Berlin, 1906.

Ober den Stand und die Handhabung der Füi'sorgeei'ziehung in Preußen. 133

Wertvolle Aufschlüsse über das Milieu, aus dem die der Für- sorge bedürftigen Kinder und Jugendlichen stammen, gibt der statis- tische Bericht über die Fürsorge Erziehung. Fast die Hälfte der Familien, aus denen sich die Fürsorgezöglinge des Jahrgangs 1904 rekrutierten, war durch Vorstrafen des Vaters, der Mutter oder beider Eltern belastet Von den Vätern waren 1294, von den Müttern 425, von beiden Eltern 752, zusammen also 2451 mit Haft, Gefängnis, Zuchthaus, Arbeitshaus oder mit mehreren dieser Strafen zusammen vorbestraft Es bleibt allerdings die Frage, sagt mit Kecht der Be- richt, ob nur die in den Strafen zum Ausdruck kommende kriminelle Neigung der Eltern und nicht auch die sittlichen und wirtschaftlichen Nachwirkungen der Freiheitsstrafen selbst den erzieherischen Notstand der Kinder verschuldet haben. Derselbe Notstand wirtschaftlicher Art spricht sich darin aus, daß 330 Elternpaare von F. Zöglingen ge- trennt leben, 165 geschieden sind. Das am stärksten konstruktive Element bei der Erziehung, die feste, ruhige Ordnung der Familie mag hier schon lange den Kindern gefehlt haben. 28,8 % der Familien waren durch schlechte Neigungen eines oder beider Elternteile ver- wüstet; 871 Väter, 394 Mütter, 1622 ElternpaÄre waren dem Trunk, der Unzucht oder Arbeitsscheu oder mehreren dieser Laster zugleich ergeben. Die Trunksucht der Väter, die Unzucht der Mütter scheint sich nach den Berichten der letzten Jahrn in aufsteigender Linie zu bewegen. 493 Brüder, 86 Schwestern von Zöglingen waren bereits bestraft, in 80 Fällen Brüder und Schwestern, 114 Schwestern waren der Unzucht ergeben. Endlich liegt auf der Hand, daß auch schlechte Vermögensverhältnisse, verschuldet oder unverschuldet, die Verwahr- losung begünstigen. Neben diesen exogenen Faktoren sind es dann noch endogene, die die Verwahrlosung verursachen. In 77 Fällen war bei den Vätern, in 94 bei den Müttern, in 3 bei beiden Eltern zu- gleich Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Epilepsie zu verzeichnen.

So waren die Heime, die Familien der Zöglinge beschaffen, sehen wir uns jetzt diese selbst an. Von den 6458 in 1904 der Fürsorge-Erziehung überwiesenen Minderjährigen waren 1571 männ- liche, 458 weibliche mit Verweisen, Haft und Gefängnistrafen vorbe- straft. Alle Vergehen und Verbrechen waren vertreten, von der Ur- kundenfälschung, Unterschlagung, den Betrug und einfachen Dieb- stahl bis zum schweren Diebstahl, Raub, Einbruch, Sittlich keits ver- brechen, zur Brandstiftung und gefährlichen Körperverletzung. 1843 männliche, 1182 weibliche Zöglinge waren der Landstreicherei, Bettelei, Trunksucht, Unzucht ergeben. Unter den letzteren waren 9,2% weibliche Schulpflichtige, 64% weibliche Schulentlassene, 7^,0

134 III. Leer8

hatten bereits geboren oder waren schwanger, 6,5<)/o aller Zöglinge waren syphilitisch infiziert Fast die Hälfte der Zöglinge war also schon mit eingewurzelten schlechten Neigungen behaftet, fast ein Drittel schon dem Verbrechen zum Opfer gefallen und bereits unter den Händen des Strafrichters gewesen. Eine überaus traurige und eindringliche Sprache reden diese Zahlen, wenn sie auch im Hinblick auf die Heime kaum mehr Erstaunen erregen können.

Die energische Bekämpfung dieser Schäden, besonders die rechtzeitige Steuerung der Verwahrlosung und Eindämmung der jugendlichen Verbrechen durch einen prophylaktischen Eingriff ist eine so brennende Erage unserer Zeit, daß die Beteiligung aller Kreise an der Lösung dieser sozialen Aufgabe berechtigt und erwünscht erscheint.

Erst die Neuzeit und ihre naturwissenschaftlichen Anschauungen haben dazu geführt, das Verbrechen und Laster vielfach auf eine soziale Ursache zurückzuführen. Man wird sich mehr und mehr be- wußt, daß es eine soziale Krankheit ist, eine „Krankheit des Gesell- schaf tskörpers^ sagt Kräpelin 1. c, zu deren Besserung und Heilung nicht Heilmittel am Platze sind, die wie die mehr oder weniger langen Freiheitsstrafen, das Übel symptomatisch bekämpfen, sondern solche, die es an der Wurzel fassen. Diese zielbewußte Be- kämpfung des Verbrechens bevorzugt Maßregeln, welche das Wohnungs- elend beseitigen, das Schlafgängerwesen, Trunksucht, Prostitution be- kämpfen, der Verarmung entgegenwirken u. a. m. Schon werden die Stimmen Berufener laut, daß die Gesellschaft nicht das Recht habe, einen Jugendlichen zu strafen, solange sie nicht alles getan hat, seine Lebensbedingungen zu verbessern, ihn zu belehren, zu er- ziehen (A. V. B oh den auf dem Kongreß für Kinderforschung, Berlin 1906), seinen Willen zur Selbstzucht und zu fruchtbringender selbständiger Arbeit zu schulen. In je früherem Alter damit begonnen wird, desto bessere Erfolge sind zu erwarten, desto eher sind grobe Einwirkungen zu entbehren. Es ist sowohl im Interesse des Kindes wie der Gesellschaft, nicht zu warten, bis es völlig verdorben und dem Gericht verfallen ist, sondern eine vorbeugend wirkende Erziehung zeitig und planmäßig selbst in die Hand zu nehmen, wenn die Einpflanzung der zum sozialen Leben notwendigen Vorstellungen im Eltemhause nicht vermittelt wird, sich die Spuren der Verwahr- losung als Vorstufe zum Verbrechen zeigen. Durch diese Maßregel wird auch dem Staate der größte Dienst erwiesen, indem er vor den Gefahren behütet wird, die ihm aus dem Aufwachsen einer verwahr- losten verkommenen Jugend drohen, aus der sich das notorische Verbrechertum immer wieder ergänzt. Besonders bedürfen die sog.

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 135

Flegeljahre, die Jahre zwischen 14 und 16 eines wachsamen Auges und nicht selten der erzieherisch bevormundenden Einwirkung. Die geschlechtliche Reifung, die Schulentlassung, der Hinaustritt ins Leben, die damit verbundenen größeren Anforderungen in geistiger und körperlicher Beziehung, die Gefahren, die die Lockerung der Zucht und Aufsicht mit sich bringen, lassen es für viele, besonders die weniger wertigen, in dieser Zeit nicht an Gelegenheit zu straucheln fehlen. Daher sollte aber auch die Straftat eines Jugendlichen grund- sätzlich anders beurteilt werden, als die eines Erwachsenen. In jedem solchen Falle sollte geprüft werden, inwieweit sie das Ergebnis von Charakteranlage, Erziehung und Umgebung ist und danach ent- schieden werden, ob nicht im Interesse der Allgemeinheit auf eine Bestrafung verzichtet werden kann, im Interesse des Jugendlichen sie nicht besser gänzlich unterbleibt und durch andere Maßnahmen ersetzt wird, die darauf hinzielen, ihn durch Belehrung und Erziehung möglichst noch zu einem brauchbaren Mitglied der menschlichen Ge- sellschaft zu machen.

Diesen modernen Rechtsanschauungen ist bereits in den am 1. Dezember 1905 in den Niederlanden in Kraft getretenen sogen. Kindergesetzen gesetzgeberischer Ausdruck verliehen. Sie decken sich im wesentlichen mit den von Binswanger auf der Versamm- lung der staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Jena 1905 aufge- stellten wünschenswerten Grundsätzen für die Behandlung krimina- listischer Minderjähriger, daß zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit die volle sittliche und geistige Beife bei Angeschuldigten zwischen 15 und 18 Jahren verlangt werden müsse; jeder Bestrafung eine er- ziehungs- und vormundschaftsamtliche Behandlung des Falles voraus- gehen solle; alle kurzen Freiheitsstrafen, Haft und Gefängnis, zweck- los seien, der Strafvollzug bei den Jugendlichen vielmehr in be- sonderen Anstalten zu geschehen habe, in denen der Zweck der Er- ziehung und Besserung in erster Linie stehe.

Das Gesetz vom 2. Juli 1900, welches bei uns in Preußen nicht nur an die Stelle der gerichtlichen Strafe bei Minderjährigen die staatliche Fürsorge-Erziehung setzt, sondern auch die Möglichkeit gibt, prophylaktisch der beginnenden Verwahrlosung zu steuern, be- vor der Bechtsbruch eingetreten ist, scheint noch keineswegs tief ge- nug in alle Volksschichten eingedrungen zu sein. Anders ist es kaum zu erklären, daß die überwiesenen Fürsorgezöglinge, wie wir oben gesehen, vielfach erst dann zur Überweisung gelangen, wenn sie ein Erziehungsmaterial darstellen, welches einen Erfolg von vorn herein nicht wahrscheinlich macht, jedenfalls der Erziehung die

136 III. Leers

^^rößten Schwierigkeiten erwachsen läßt. Daß andrerseits Fälle monate- und jahrelanger Kindermißhandlung und Verwahrlosung erst zur öffentlichen Kenntnis kommen, wenn es zu spät ist, wenn das kleine Opfer erlegen ist. Die Tageszeitungen berichten fast täg- lich von solchen Fällen. Freilich ist es nicht nur Unkenntnis der Möglichkeiten und Wege zur Abhilfe, ebenso oft geht man aus Indo- lenz oder in dem falschen Glauben befangen, sich nicht in anderer Erziehungsweise mischen zu dürfen, in der Furcht sich Feinde zu machen, mit blinden Augen und tauben Ohren an dem Kinderelend vorbei. Geht man die über Weisungsbeschlüsse älterer Minderjähriger durch, sagt der FOrsorgebericht 1904, so erkennt man, daß die Ver- wahrlosung bei vielen nicht erst vor kurzem zutage getreten ist, daß der Beschluß ebensogut und mit demselben Recht schon Jahre vor- her hätte erlassen werden können und es dürften Behörden und Private im Interesse der Rettung vieler Minderjähriger und der leichteren Er- ziehungsarbeit ein schärferes Augenmerk auf die Jugend richten und mit Anträgen auf Einleitung des Verfahrens in den geeigneten Fällen nicht zögern.

Über die Unterbringung des Zöglings in Familien- oder Anstalts- pflege entscheidet der Kommunalverband. Ist schon die Frage, ob Anstalt oder Familie, für den Erfolg der Fürsorgeerziehung von der größten Wichtigkeit und daher sorgfältig zu erwägen, so ist sie oben- drein zuweilen recht schwierig nach Wunsch zu erledigen, denn die Zahl der Familien, welche zur Aufnahme von Zöglingen bereit sind und die wünschenswerten Garantien für eine gedeihliche Erziehung der Kinder bieten, ist natürlich in den einzelnen Landesteilen sehr verschieden. Schließlich entscheidet nach der jetzt üblichen Hand- habung die Eigenart des Zöglings und die Größe seiner Verwahr- losung. „Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch Unter- bringung in einer Familie nur irgend erreicht werden können, ist dieser der Vorzug zu geben", heißt es in den Ausführungsbestimmungen zum Gesetz. In der Tat ist eine gute Kostpflege der Anstaltserziehung vorzuziehen. Vor allen Dingen ist es die mütterliche Fürsorge, welche die Kinder bald vergessen läßt^ daß sie nicht mehr bei der leiblichen Mutter sein können. Und der Begriff der Familie bleibt dem Kinde lebendig. Eine wesentliche Forderung bei der Familien- pflege müßte allerdings sein, daß jedes Kind sein eigenes Bett hat. Gerade die ländlichen Pflegeeltern nehmen es mit dem Alleinbetten nicht so genau. Oft gilt das Znsammenschlafen gerade hier als Be- weis der näheren Zugehörigkeit zur Famihe, namentlich bei kleineren Kindern.

Über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 137

Leider ist man von der direkten Überweisung in Familien not- gedrungen wieder mehr und mehr abgekommen. Es sind zu oft Rückyersetzungen in die Anstaltspflege notwendig, die dann natür- lich für Pfleger und Zögling gleich deprimierend sind. Bei dem oben beschriebenen Fürsorge-Erziehungsmaterial ist schon wegen der An- steckungsgefaihr, welche die verkommenen Zöglinge für die Pfleger- familie bilden würden, die direkte Familien-Fürsorgeerziehung in den meisten Fällen unmöglich. Vorläufig wird eine Korabination von Anstalts- und Familien-Erziehung die Norm bleiben müssen, in der Weise, daß zunächst der größte Teil der Zöglinge der planmäßigen Erziehung und strengen Zucht und Aufsicht einer Anstalt teilhaftig wird und erst, wenn die größten Schäden abgestreift sind, die Familienerziehung als Übergangsstadium in die Freiheit eintritt. Hoffentlich kommen wir noch einmal dahin, daß die Zöglinge so frühzeitig der Fürsorgeerziehung zugeführt werden, daß sie, weniger verdorben und leichter ziehbar, öfter dem idealeren Ersatz der elter- lichen EiTziehung, der Familienfürsorge anvertraut werden können.

Am 31./3. 1905 befanden sich von sämtlichen bis dahin in Preußen untergebrachten Fürsorgezöglinge 13733 noch in Anstalts- pflege, 10007 in Familienpflege. Von den 5434 im Jahrgang 1904 untergebrachten fanden nur 27 in eigener, 899 in fremden Familien Unterkommen, während 4508 aus den oben erwähnten Gründen zu nächst Anstalten übergeben werden mußten. Die letztere Zahl ist also aus obigem Gesichtspunkt verständlich. Wenn aber von den in früheren Jahrgängen überwiesenen Zöglingen sich noch der größere Teil in Anstalten befindet, so ist dies eine weniger erfreuliche Tat- sache. Die Zahl der Zöglinge, welche vom Beginne der Fürsorge- Erziehung bis zum 31./3. 1905 ausschließlich in Anstalten unter- gebracht waren, betrug 21,1% der männlichen, 37,8 "/o der weiblichen Zöglinge, während nur 3 ^/o männliche und sogar nur 1 ^/q weibliche in demselben Zeitraum ausschließlich in Familienpflege waren.

Abgesehen davon, daß diese Zahlen ganz allgemein auf ein zur Familienpflege durchweg ungeeignetes, schwieriges Erziehungsmaterial schließen lassen besonders auffallend ist die äußerst geringe Zahl von weiblichen Zöglingen, die überhaupt zu irgend einer Zeit der Familienpflege anvertraut werden konnten dürften sie zum Teil auch wohl durch Mangel an geeigneten Pflegerfamilien bedingt sein. Und das ist um so auffallender, als an die Familien, die ausgewählt werden, vorläufig ein nicht allzustrenger Maßstab angelegt wird. Die Forderungen müßten im Interesse des Erziehungszweckes eigent- lich höhere sein. Der Min. Erl. vom 25. Juni 1SS8 (Min. d. J. und

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d. J.), der hierbei maßgabend ist, fordert völlig unbescholtenen Buf gleiche Konfession, familiäre Pflege, sicheres Auskommen, gesunde Wohnung, geordneten Haushalt und Entfernung von dem bisherigen Wohnort des Pfleglings. Ais Maximum gilt die Aufnahme von zwei Kindern. Von der Fähigkeit zum Erzieheramte, die doch die wich- tigste und notwendigste Forderung wäre, da sie gerade das Fehlende ersetzen soll ist nichts erwähnt Alle die genannten Bedingungen können aber vorhanden sein und doch die Qualität zum Erzieher fehlen. Es sollte nicht genügen, eine in einfachen Verhältnissen lebende Normalfamilie ausfindig zu machen, die aus der Aufnahme der Kinder nicht gerade ein Geschäft machen will. Das so häufige Versagen der Familienpflege gegenüber der schwierigen Aufgabe, an die sie sich gestellt sieht, hängt mit diesem Grundsatz bei der Aus- wahl zusammen. Das Amt eines Familienpflegers ist kein leichtes, zuweilen ein recht dornenvolles, immer ein hoch verantwortliches. Es eignet sich durchaus nicht jeder nach Charakter und Temperament dazu und vor allem, wer erziehen will, muß selbst erzogen sein. Auch muß ein gewisses Verständnis für die pädagogischen und ärzt- lichen Anleitungen zur Behandlung der Zöglinge vorhanden sein und die Fähigkeit, diesen Anleitungen gemäß zu verfahren. Das Ideal, daß jede Familie gerade für das betreffende Kind passend ausgewählt werden könnte, wird nicht so schnell zu verwirklichen sein. Aber erstrebenswert wäre es; leider sind wir heute von diesem Ideal noch weit entfernt, wie die jährlich stichprobenweise stattfindenden Revisionen der Familien-Fürsorgezöglinge zeigen. Hierbei ergab sich, daß ein großer Teil der Dienst- und Lehrherren der Zöglinge nicht oder nicht in dem erforderlichen Maße das Bewußtsein besaßen, daß es ihnen auch obliege, den Zögling weiter zu erziehen, sodaß ver- schiedentlich verschärfte Aufsichtsmaßregeln angeordnet oder die Zöglinge sogleich aus ihren Stellen genommen werden mußten. Auch was die nicht seltenen Entweichungen aus der Familienpflege betrifft, ist der Bericht von 1904 der Ansicht, daß sie beweisen, daß es doch manchmal an der freundlichen und geduldigen Behandlung der Schutzbefohlenen fehlt und nicht selten auch an der Beauf- sichtigung und richtigen Leitung. Das geht aus den nicht selten vorkommenden Entwendungen und Unterschlagungen, die mit den Entweichungen verbunden sind, hervor.

Schon aus diesem Gesichtspunkte, die vorhandenen Mängel in der Unterbringung der Zöglinge, aufzudecken, mehr noch, um durch öftere persönliche Rücksprache mit dem Pfleger und dem Fürsorger deren Verständnis und Interesse für ihre Aufgabe zu wecken, wäre

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 139

ein Ausbau dieser KontroUbesuche wünschenswert. Mindestens ein zweimal jährlich im Sommer und Winter stattfindender Be- such aller in Familienpflege befindlichen Zöglinge wäre zu fordern. Dann noch eins. Die vom Oberpräsidenten ernannten Revisions- kommissare sind gewöhnlich die Anstaltsvorstände des zugehörigen Bezirkes. Da die Anstalten bisher nur unter pädagogischer Leitung stehen, ist die Kontrolle eine rein pädagogische. Diese genügt zweifellos nicht, die gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse der Familienzöglinge zu überwachen. Er bedarf dazu vielmehr neben der pädagogischen einer ärztlichen. Ich komme auf diese Frage der ärztlichen Versorgung der Fürsorgezöglinge noch zurück.

Die besonders großen Schwierigkeiten, welche für die Familien- Fürsorgeerziehung seitens der Zöglinge wie der Pfleger erwachsen, spricht sich auch in dem nicht geringen Wechsel in den Pflegestätten und in den Rückversetzungen aus Familien in Anstalten aus. Bis 1904 waren von dem Jahrgang 1903: 6,3 (5,2) o/oi) in dritter, 1,6 (2,3) o/o in vierter, 0,2 (0,7) o/o in fünfter Stelle; von dem Jahrgang 1902: 13,6 (12,1) o/o in dritter, 4,5 (5,3) o/o in vierter, 1,7 (1,8) o/o in fünfter Stelle; vom Jahrgang 1901: 16,4 (17,8) o/o in dritter, 5,9 (8,0) o/o in vierter, 2,1 (3,1) o/o in fünfter Stelle. Das heißt, je länger die Fürsorgeerziehung nötig ist, um so häufiger ist ein Wechsel er- forderlich. Im Jahrgang 1904 wurden rückversetzt vom Jahrgang 1903: 2,0 (2,2) o/o, vom Jahrgang 1902: 4,8 (4,8) o/o, vom Jahrgang 1901: 5,1 (8,2) o/o, d. h. die Rückversetzungen steigen ebenfalls mit der Dauer der Fürsorgeerziehung. Sowohl bei dem Wechsel wie auch bei den Rückversetzungen überwiegen die weiblichen Zöglinge und zwar besonders in den älteren Jahrgängen, eine Tatsache, die deutlich auf eine schwerere Erziehbarkeit dieser Elemente hinweist und um so auffallender ist, als sie mit den Erfahrungen der Normal- erziehung nicht übereinstimmt. Nach den bisherigen Erfahrungen sind es die in sittlicher Beziehung frühzeitig verwahrlosten Zöglinge, die die schwersten Erziehungsobjekte bilden. Auch wenn sie sich in der Anstalt gut geführt haben, sind sie dennoch für einen Dienst unge- eignet; bei ihrer Willensschwäche und zumal, wenn es sich, wie es meist der Fall ist, um Schwachsinnige und Minderwertige handelt, fallen sie fast stets bald von neuem einer sich bietenden Versuchung zum Opfer.

Die Schwierigkeiten bei der Ermittelung und Auswahl geeigneter Pfleger- wie auch passender Dienst- und Lehrstellen sind, auch wenn

1) Die eingeklammerte Zahl gibt den Prozentsatz der weiblichen Zög- linge an.

140 III. Leers

kein gar zu hoher Maßstab angelegt wird, so große, daß nicht selten die Überweisung in die Familie daran scheitert. Die Stadt Berlin hat deshalb, nach dem Bericht, eine Anzahl älterer Fürsorgezöglinge, welche Neigung für den Seemannsberuf zeigen und nach ärztlichem Urteile dazu geeignet sind, durch Vermittelung des Deutschen See- fischereivereins als Schiffsjungen auf Fangschiffen der Heringsfischerei- gesellschaft „Neptun"^ zu Emden und der Vegesacker Heringsfischerei- gesellschaft zu Gooke Vegesack untergebracht und während der Fangzeit beschäftigt. Außer voller Beköstigung erhalten sie hier Lohn je nach Art der Beschäftigung. Der Direktor der Gesellschaft hat als Fürsorger die elterliche Gewalt über die Zöglinge und erhält über jeden eine kurze Charakteristik. In einzelnen Provinzen sind auch Zöglinge mit gutem Erfolge als Gesinde bei Königl. Förstern unter- gebracht worden, die wegen ihrer zumeist abgelegenen Lage stets mit Dienstbotenmangel zu kämpfen haben. Der Mangel an Versuchungen und die Erschwerung des Verkehrs der Zöglinge mit ihren Ange- hörigen, läßt die Wahl solcher Stellen als besonders geeignet erscheinen. Denn ein nicht zu unterschätzender Nachteil der Familien- gegenüber der Anstaltsfürsorge liegt darin, daß die Zöglinge in ersterer bedeutend mehr dem schädlichen Einflüsse ihrer Angehörigen ausgesetzt sind, deren Verhetzungen und Fluchtunterstützungeu die Erziehungsarbeit beständig stören und illusorisch machen.

Die zweite vom Gesetz offen gelassene Alternative der Fürsorge- erziehung ist die Anstaltserziehung. Im Hinblick auf das größere Kontingent vorbestrafter und lasterhafter Fürsorgezöglinge ist es ver- ständlich, daß das gemischte System, erst Anstalt, dann Familie und diese auch zunächst nur versuchsweise, heute noch durchaus unum- gänglich ist. Das Jahr 1904 zeigt in Preußen einen Zuwachs von 25 Anstalten zu den 358 bestehenden, sowie eine beträchtliche Ver- mehrung der Plätze an den vorhandenen Anstalten, ein Bew^eis, wie tätig man im Ausbau der Fürsorgeerziehung ist. Aber trotz der umfang- reichen Neu- und Erweiterungsbauten ist dem vorhandenen Bedürfnis nach Anstaltsplätzen immer noch nicht genügt. Weitere Einstellung von Mitteln seitens der Provinziallandtage wäre dringendes Bedürfnis, denn diese Aufwendungen werfen reichlich moralischen und wirt- schaftlichen Gewinn ab und sparen weit größere an anderen Stellen. Vor allem wäre es wünschenswert, wenn der h>taat baldmöglichst in allen Provinzen vorbildliche Muster- und Zentral-Anstalten gründete, an die sich die vorhandenen privaten anlehnen könnten. Nicht ein- verstanden kann ich mich mit dem Vorschlage Klumkers^) er-

1) Jur.-Psych. ürenzf ragen. 3. Bd. 1906, Heft b.

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 141

klären, daß die privaten Fürsorge-Einrichtungen zunächst Erfahrungen sammeln sollen, an die sich ein durchgreifender Ausbau der öffent- lichen Fürsorgeerziehung anschließen solle. Die ersteren können, wenigstens vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, wie die gleichen Anstalten in der Irrenfürsorge in vielen Fällen, nur als Notbehelf gelten und die Erfahrungen sollten davor warnen, in der Kinder- fürsorge denselben Weg zu gehen, den wir in der Irrenfürsorge ge- gangen sind. Besonders unter den schon vor dem Gesetz vom 2. Juli 1900 vorhanden gewesenen und zur Unterbringung von Fürsorge- zoglingen benutzten privaten Anstalten dürften manche sein, welche durch ihre Organisation, ihre Lage und die sanitäre Beschaffenheit ihrer Räume zur Aufnahme von Zöglingen wenig geeignet sind, und schon den an sie zu stellenden hohen hygienischen Anforderungen nicht genügen.

An die Pfleger in den Erziehungsanstalten sind dieselben hohen Anforderungen zu stellen, quantitativ wie qualitativ, wie an die Pfleger in der Irrenfürsorge. Gut geschultes und absolut zuverlässiges Erziehungspersonal zu erlangen und auf die Dauer zu erhalten, ist gewiß oft recht schwierig, besonders in entlegenen Anstalten, aber auch in größeren Industriebezirken. Die Höhe der Fabrik- und Arbeitslöhne und das ungebundene Leben in diesen Lohnverhältnissen tun hier den strengeren Ansprüchen, die an das Erziehungspflege- ]>er8onal gestellt werden müssen, leicht Abbruch und stehen der Heran- ziehung eines Stammes älterer, erfahrener Pfleger hindernd im Wege. Die Gewinnung und Ausbildung eines seßhaften, etatisierten Pflege- personals ist daher eine besonders wichtige Aufgabe der Provinzen und die hierzu erforderlichen Mittel dürfen nicht gescheut werden.

Ebenso große Schwierigkeiten bereitet den Anstalten oft die Ge- winnung geeigneter Lehrkräfte. Da den Zöglingen ein vollständiger Er- satz für den Volksschulunterricht geboten werden muß, handelt es sich um Anstellung seminaristisch gebildeter Lehrkrüfte und noch dazu solcher, die bereit sind, und sich gewachsen fühlen, den schweren Dienst als Lehrer an einer Anstaltsschule zu übernehmen. Auch das erfordert eine sorgfältige Auswahl und finanzielle Opfer zur materiellen Sicher- stellung und Gewährung besonderer Vorteile, wenn gute Kräfte dauernd erhalten bleiben sollen.

Wie steht es nun mit den Wirkungen der Fürsorgeerziehung? Man hört jetzt oft, gerade von richterlicher und polizeilicher Seite, die zu einem urteil am berufensten ist, die Erfolge der Fürsorge- erziehung stehen in keinem Verhältnis zu dem jetzt annähernd 6 Milli- onen jährlich, betragenden Kostenaufwand. Die Strafakten der früheren

142 UI. Leers

Fürsorgezöglinge liefern den aktenmäßigen Beweis dafür, daß die Fürsorgezöglinge gerade die schlimmsten unter den jugendlichen Delin- quenten sind.

Da an dem richtigen Prinzip der u. ü. staatlichen Kinderfür- sorge nicht zu zweifeln ist, das Gesetz unstreitig aus dem dringendsten Bedürfnis heraus entstanden ist, sind es zweifellos andere Momente, die zur Zeit noch jenen Einwänden, denen eine gewisse Berechtigung nicht abzustreiten ist, Baum verschaffen. Ich will versuchen, einige Momente, die nach meinem und dem Urteil anderer, ' die sich mit der Fürsorgeerziehungs- Frage eingehender beschäftigt haben, dazu beitragen, die Erfolge dieses überaus segensreichen Gesetzes zu be- schränken, zu beleuchten. Ein abschließendes Urteil wird ja noch gar nicht gefällt werden können, es liegen erst die Erfahrungen weniger Jahre vor uns und in mancher Beziehung sind wir noch nicht den Einderschuhen entwachsen.

Wie bei der Erziehung überhaupt, so ist ganz besonders bei der Fürsorgeerziehung Individualisierung notwendig und der Mangel, die Unmöglichkeit dieser stellt hier wie dort jeden Erfolg in Frage. Die Handhabung der Fürsorgeerziehung muß sich daher, wenn sie dieser Individualisierung Rechnung tragen soll, von vornherein die Unter- lagen dazu verschaffen. Dies kann nur dadurch geschehen, daß zu- nächst eingehender, als es bisher geschieht, die Einflüsse, unter denen das Kind herangewachsen ist, das Milieu, in dem es groß geworden ist, ermittelt und berücksichtigt werden. Mit Recht weist Baiser i) auf den grundsätzlichen Unterschied hin, ob es sich um die Fürsorge- erziehung eines Kindes handelt, das von den Eltern mißhandelt, mit oder ohne Schuld verwahrlost wird, oder ob das Kind selbst durch schlechte Charaktererscheinungen zu seiner Verwahrlosung beiträgt und durch seine Untaten ein Einschreiten veranlaßt. Es sind genau zu erforschen, ich folge Baiser, die gesamte Lebensführung, die Erwerbsverhältnisse, Kriminalität, insbesondere Trunksucht, Arbeits- scheu, Unsittlichkeit der Eltern und Geschwister, die Einflüsse der Umgebung, der Nachbarschaft. Zu diesen Ermittelungen genügen nicht immer die Berichte des Lehrers, des Geistlichen, des Arztes auch wohl nicht immer die polizeilichen Erkundigungen, wie wir später in einem Falle sehen werden. Sie müssen in das Haus und in die Familie verlegt werden und zwar durch Organe, wie sie dem städtischen Waisenrat, dem freiwilligen Erziehungsbeirat, der öffentlichen Armen- pflege zur Seite stehen und hier durch ihren persönlichen Verkehr

1) Jur.-psychiatr. Grenzf ragen. 3. Bd. 1906, Heft 8.

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung In Preußen. 143

mit dem Schützling segensreich wirken. Die Gesellschaft, vor allem die Frauen, sollten sich mehr der Sache des Einderschatzes annehmen, sich mehr als bisher daran beteiligen, die für die Fürsorgeerziehung geeigneten Kinder ausfindig zu machen und zu retten. Frauen haben für Kinderelend den schärfsten Blick und eignen sich für diese chari- tatiye Tätigkeit am besten. Dann erst steht zu hoffen, daß Rhein - babens Wort verwirklicht wird und die Wohltaten des F. E. G. bis zum letzten Hause und bis zur letzten Hütte getragen werden, wo immer hilfsbedürftige, verwahrloste Kinder sind.

Femer sind genaue anamnestische Erhebungen über den Minder- jährigen, die Erforschung seiner ganzen geistigen und körperlichen Persönlichkeit, Auffassung, Gedächtnis, Urteil, sittliche Begriffe und sittliches Verhalten, am besten an der Hand eines von einem psychia- trisch geschulten Arzte auszustellenden Fragebogens, unerläßlich. Schon aus dem Grunde hat diese Untersuchung und Begutachtung nur dann Wert, wenn sie nach psychiatrischen Gesichtspunkten erfolgt, weil sich unter den Fürsorgeanwärtern eine erhebliche Zahl psychisch minderwertiger, krankhaft veranlagter, in der Entwickelung zurück- gebliebener oder abnorm gerichteter Kinder befindet Mönkemöller stellte in der Anstalt Lichtenberg unter 200 nur 83 geistig Normale fest. Diese der Einweisung in die Fürsorgeerziehung voraufgehende Untersuchung gibt erst eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidung, ob Familien- oder Anstaltspflege angebracht ist. Sie gibt auch wert- volle Fingerzeige für eine individuelle Behandlung der Zöglinge in der Anstalt, für eine zweckentsprechende Auswahl der Pflegerfamilie. Der Arzt muß also öfter als bisher zur Mitwirkung herangezogen werden. Nach dem Gesetz ist jetzt nur dann ein Gutachten des Kreisgesundheitsamtes einzuholen^ wenn es sich um einen Fall körper- licher Vernachlässigung oder Mißhandlung handelt. Erst in den Aus- fiihrungsbestimmungen zum F. E. G. heißt es, daß neben Geistlichen und Lehrern die Arzte besonders berufen sind, da, wo ihnen auf Grund des Gesetzes die Anordnung der Fürsorgeerziehung notwendig erscheint, die geeigneten Anträge (d. h. Anzeigen an das Vormund- schaftsgericht) zu stellen. In der Tat scheinen sie dazu am berufensten, sind doch die Ärzte nach Virchows Wort die natürlichen Anwälte der Armen und fällt somit die soziale Frage zu einem erheblichen Teile in ihre Jurisdiktion. Aber darüber hinaus wäre zu betonen und de lege ferenda ins Auge zu fassen, daß der Arzt in jedem Falle vor der Beschlußfassung der Fürsorgeerziehung gehört, bezw. zur Unter- suchung des zukünftigen Zöglings herangezogen würde. Zu erwägen wäre endlich, ob diese Untersuchung nicht zweckmäßig, wie es

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Klumker vorgeschlagen, sich zu einer über eine gewisse Zeit ausgedehnten Beobachtung in einer diesem Zwecke dienenden staat- lichen Anstalt für den Zögling besser und erfolgreicher ausführen ließe. Der Übergang des Zöglings in Fürsorgeerziehung würde sich demnach in Zukunft folgendermaßen gestalten: Der Einweisungs- beschluß erfolgt auf Grund der Ermittelungen und des ärztlichen Personalfragebogens nach dem Muster der für Irren- bezw. Idioten- anstalten vorgeschriebenen, der alle für die ärztliche Beurteilung des Zöglings wichtigen Angaben enthalten und vom beamteten Arzte aus- gefertigt werden müßte. In der (staatlichen oder kommunalen) Beob- achtungsanstalt erfolgt eine nochmalige sorgfältige, psychiatrischen Grundsätzen Rechnung tragende ärztliche Untersuchung des Zöglings und dann erst seine Einweisung in die endgültige Fürsorgeerziehung, sei es in eine Anstalt oder in Familienpflege, je nach dem Ausfall der Begutachtung. Die Fülle wissenschaftlichen Materials, die auf diese Weise an den Beobachtungszentralen infolge des Durchgangs aller oder doch der meisten Zöglinge gesammelt würde, wäre ein überaus großer Gewinn für die praktische Ausführung der Fürsorge- erziehung. Das Ergebnis der Begutachtung gelangt, wenigstens in nuce, mit den Personalpapieren des Zöglings zur Kenntnis des späteren Fürsorgers oder Anstaltsleiters, der somit über die Eigenart seines Zöglings von maßgebender Stelle aus orientiert wird und dessen Behandlung und Pflege auf solche Weise erfolgreicher und weniger schwierig zu werden verspricht. Mindestens ist dies der Weg, den der kriminalistische und der im Zustand hochgradiger Verwahrlosung befindliche Jugendliche, der auf Ziffer 2 und 3 des § 1 F. E. G. überwiesene, zu gehen hätte.

Wie die Einweisung des Fürsorgezöglings ein Zusammenwirken von Vormundschaftsrichter und Arzt darstellen müßte, so sollte der Arzt auch dem Fürsorger und Erzieher bei der weiteren Behandlung und Pflege des Fürsorgezöglings zur Seite stehen. Die Zustände, bei denen eine Mitwirkung des Arztes sich unerläßlich zeigt, sind von Laquer^) und Puppe 2) schon z. T. gewürdigt worden. Nur der Arzt kann entscheiden, ob die gewählte Form der Fürsorgeerziehung auf die Dauer die richtige ist, ob nicht eine Änderung, ein Wechsel förderlicher, ob nicht gar überhaupt Ausschaltung aus der Fürsorge- erziehung erforderlich ist. Auch in den Anstalten dürfte die Er- ziehung mehr nach ärztlichen Gesichtspunkten zu gestalten, an Stelle der Disziplinarmittel oder gar religiöser Bekehrungsversuche mehr

1) Vicrtcljahreschr. für gorichtl. Medizin. 26. Bd., 1903, Sappl.

2) Ebenda 31. Bd., 190b.

über den Stand and die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 145

Belehrung und ärztliche Maßnahmen zu setzen sein. Kostentziehungen oder Eostschmälerungen wie sie z. B. noch vielfach in den Anstalten als Strafmittel verhängt werden, sind vom ärztlichen Standpunkte durchaus zu verwerfen. Krankhafte Affekte, psychopathische Zu- stände sind ärztlich, nicht rein pädagogisch zu behandeln. Es genügt nicht, daß der Arzt die Gesundheits- und Emährungsverhältnisse der Zöglinge überwacht, die Aufsicht über die ordnungsmäßige Hand- habung der Gesundheitspflege ausübt, wie es in den Dienstanweisungen der Anstalten heißt, es sollte ihm auch Einfluß auf den Lehrplan, vor allem weitgehendst auf die Disziplinarverhältnisse eingeräumt werden. Psychiatrische Schulung des ärztlichen Anstaltsberaters ist hiemach unerläßlich, ebenso verständlich ist, daß diese Aufgaben sich nicht während eines zweimal jährlichen Revisionsbesuches des beamteten Arztes erledigen lassen.

Wenn die Sortierung und Verteilung der Zöglinge mehr wie bisher systematisch nach ärztlich - psychiatrischen Gesichtspunkten stattfindet, wird im Anschlüsse daran eine strengere Sonderung der einzelnen Kategorien in den Anstalten Bedürfnis werden. D an ne- in an n^) unterscheidet treffend folgende Zöglingsgruppen, um deren Unterbringung es sich handeln würden:

1. Die geistig Normalen, a. in mißlichen Verhältnissen sich'be- . findenden, b. bereits verwilderten.

2. Die geistig Abnormen und zwar a. die moralisch defekten, b. die psychopathisch veranlagten (Imbecillen, Epileptischen, Hysterischen, konstitutionell Verstimmten).

Nur die Gruppe la eignet sich zur gewöhnlichen Familienpflege und zur sofortigen Einweisung in dieselbe. Für die Gruppe 1 b wären schon besonders erzieherisch geschulte Pfleger notwendig, wenn sie Familienpflege genießen sollen. In den meisten Fällen wird hier eine längere oder kürzere Anstaltserziehung vorausgehen müssen, um die Zöglinge an Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß und Gehorsam zunächst zu gewöhnen. Sie brauchen schon beständige ärztliche Überwachung nnd Beratung, sind jedoch streng von der Gruppe 2 zu trennen; die straffe Zucht der Besserungsanstalt ist hier ganz zu vermeiden, da sie leicht verhärtend wirkt Mit Geduld, Nachsicht, Berücksichtigung der Individualität, viel Belehrung, Ermunterung und Anleitung zur selbständigen Führung durch selbstgewählte Arbeit, wenig Bevor- mundung und Disziplinierung wird hier am meisten zu erreichen sein, um die Anstaltserziehung hier der Familienerziehung recht zu nähern, empfiehlt sich das koloniale Villensystem.

1) Jar.-psych. Greuzfra^en. 3. Bd., 1906, Heft 8.

Arehhr fflr Eriminalanthropologie. 27. Bd. 10

146 III. Leeb8

Die Gruppe 2 eignet sich nicht zur Familienpflege, bedarf viel- mehr der systematischen Anstaltserziehung, bei welcher der psychia- trisch-ärztlichen Teilnahme an der Leitung und Behandlung der weitgehendste Einfluß zu lassen ist Die Kategorien a. und b. sind streng zu trennen, da a. ganz besondere Erziehungsschwierigkeiten bietet und die Gefahr der Ansteckung mit sich führt Die Anstalten, welchen die Kategorie b. zugeführt wird, nähern sich schon dem Typus der Heilanstalten psychiatrischen Charakters. Versetzung von Zög- lingen der 2. Gruppe in Familienpflege, die wohl erst nach längerer Anstaltserziehung und nur zu besonders verläßlichen und geschulten Pflegern möglich sein wird, wäre zunächst nur bedingungsweise, mit der Möglichkeit jederzeitiger Bück Versetzung in die Anstalt zu ver- suchen.

Als 3. Gruppe würde sich im Laufe der Zeit eine Zahl von Unverbesserlichen, Unerziehbaren, dauernd Antisozialen herausschälen, die, erkannt, baldigst ihres schlechten Einflusses auf die andern Zög- linge wegen aus der Fürsorgeerziehung auszuschalten und in beson- deren Verwahranstalten, Arbeitsanstalten, den englischen Industrial- Schools entsprechend, dauernd unterzubringen wären. Jetzt werden solche Elemente meist auf Grund des Gesetzes vom 11. Juli 1891 den Irrenanstalten zugeführt, da es sich um Degenerierte, durchweg D6g^n6r6s sup^rieurs, handelt und hier stören sie die Ordnung außer- ordentlich, werden auch über kurz oder lang aus denselben als ge- bessert, entlassen, um von neuem als gefährliche oder störende Ele- mente der Allgemeinheit zur Last zu fallen. Wenn so die Trennung der Verbesserlichen von den Unverbesserlichen in den Anstalten durch- geführt wird, kann ersteren auch mehr Freiheit gelassen werden. Die Kräfte der Erzieher werden gespart, und es steht zu hoffen, daß auch die schwer Erziehbaren in ihrer Entwickelung gefördert werden. Die Fürsorgeerziehungsanstalten können mehr ihren erzieherischen Charakter wahren und alles vermeiden, was ihnen Anklang an Straf- anstalten verleiht. Jetzt hört man vielfach Klagen, daß die Arbeit in den Ftirsorgeerziehungs - Anstalten gegen das Kinderschutzgesetz verstoße; daß ältere Fürsorgezöglinge manchmal das Gefängnis der Fürsorgeerziehungs- Anstalt vorzögen und Verbrechen begingen, um nur in das Gefängnis hineinzukommen. Derartige Anklagen dürften darauf hinweisen, daß die Organisation und Verwaltung der Erziehungs- anstalten dem Geiste des Gesetzes noch vielfach nicht gerecht wird. Der Gefängnischarackter der Erziehungsanstalten muß beseitigt, die . erzieherischen Maßnahmen vermehrt werden, was bei richtiger, zweck- mäßiger Sortierung der Zöglinge nicht schwer sein dürfte.

über den Stand and die Handhabung der Fürsorgeerziehnng in Preußen. 147

Sonderanstalten oder Sonderabteilungen an Fürsorgeerziehungs- anstalten angegliedert, bedarf es für die infolge ihrer Verwahrlosung oder Mißhandlung erkrankten Zöglinge da diesen in den Kranken- anstalten die erforderliche pädagogische Aufsicht und Anleitung fehlt und ihre Unterbringung in solche überhaupt auf Schwierigkeiten stößt. Ähnliche Sonderabteilungen sind für die chronisch kranken Zöglinge (Lungen-; Haut-, Geschlechtskranke) und solche mit entstellenden körperlichen Gebrechen zu schaffen, Abteilungen, in denen ihrer Sonderart pädagogisch und ärztlich genügend Rechnung getragen werden kann.

Alle jene Anstalten wenigstens, deren Betrieb, im Vergleich zu der Normalerziehungsanstalt (für die Gruppe 1 a und b) besondere ärztliche und pädagogische Schwierigkeiten bietet, und die ein be- sonders vollwertiges, geschultes Pflegepersonal benötigen, sollte der Staat, bezw. die Kommunalverwaltung in eigene Verwaltung nehmen oder was derselbe besagt, die Zöglinge. der Gruppe 2 sollten nur staatlichen und kommunalen Anstalten zugewiesen werden, eine For- derung, die in nuce völlig mit dem Antrage des Breslauer Fürsorge erziehungstages 1906 auf Einrichtung besonderer Landesfürsorge- An- stalten mit Abteilungen für psychisch minderwertige und abnorm gerichtete Zöglinge beiderlei Geschlechts unter psychiatrisch -päda- gogisch geschulter Leitung übereinstimmt, und die Unabhängigkeit der ärztlichen Tätigkeit, die planmäßige Schulung und Ausbildung der erzieherischen Kräfte, Betrieb und Leitung nach erprobten, ein- heitlichen Grundsätzen und im modern-naturwissenschaftlichen Geiste gewährleisten würde. Durch ünterrichtskurse, fortbildende Vorträge müßte gesorgt werden, daß die mit der Fürsorgeerziehung berufs- mäßig sich befassenden Pädagogen mit den einschlägigen Sonder- forschungen und Erfahrungen auf pädagogischem, kriminalpsycho- logischem und psychiatrischem Gebiete sich fortlaufend vertraut machen. In gleicher Weise ließe sich ein Stamm von Pflegern heran- ziehen, die auch schwierigen Zöglingen gegenüber mit dem Pflege- amt vertraut, auch als Familienpfieger und Fürsorger erfolgreich tätig sein könnten.

Ein weiterer Grund für den Mangel an Erfolg bei der Fürsorge- erziehung ist der, daß die Einleitung derselben heute vielfach zu spät kommt Die Statistik zeigt deutlich, daß das Fürsorgeerziehungs- Material, wenn endlich der Überweisungsbeschluß da ist, schon zum größten Teile wurmstichig, faulig, verdorben ist Die Zöglinge sind auch vielfach zu alt, besonders hier in Berlin, als daß man mit ihnen noch große Erziehungsresultate erzielte. Gerade hier in Berlin sind

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es nach dem Bericht meist ältere schulpflichtige oder schon schul- entlassene Zöglinge, die zur Überweisung gelangen, gewohnheitsmäßige Diebe, Vagabunden, Zuhälter, Dirnen, bei denen die Hoffnung auf Besserung von vornherein so gut wie ausgeschlossen erscheint. Soll etwas erreic)it werden, so müssen die antisozialen Eigenschaften schon im Keim erstickt werden, die gefährdeten Kinder also möglichst früh- zeitig aus dem gefährdenden Milieu entfernt werden, bevor dasselbe seinen vergiftenden Einfluß vollends auf sie hat ausüben können, bevor es zur Verletzung der Sitte und des Gesetzes kam, die unter den vorhandenen Lebensbedingungen, vielleicht unterstützt durch ab- norme Anlage, intellektuelle oder moralische Minderwertigkeit, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Die Für- sorgeerziehung müßte die Möglichkeit haben, schon von Kindheit an die Verwahrlosung zu verhüten, vorbeugend zu wirken. Diese Möglichkeit ist zwar nach § 1, Ziffer 1 des F. E. 6. gegeben, aber gerade die Überweisungen aus § 1, 1 die also die Fälle beginnender Verwahrlosung in sich begreifen, sind verhältnismäßig selten und gehen in den letzten Jahren noch mehr zurück. Denn nach dem F. E. G. soll die Fürsorgeerziehung andererseits das letzte Auskunftsmittel sein, das erst eintreten soll, wenn alle andern Mitteln versagen. „Bevor diese Maßregel in Aussicht genommen wird, sagen die A. B., ist sorg- fältig zu prüfen, ob nicht durch Anwendung anderer Maßnahmen, der kirchlichen Einwirkung, der Schulzucht, der Armenpflege, freiwilliger Liebestfttigkeit oder vormundschaftlicher Anordnungen, für welche der § 1666 B.G.G. den weitesten Spielraum gewährt, der Verwahrlosung vorgebeugt oder ihr Fortgang aufgehalten werden kann. Hat die Verwahrlosung ihren Grund in wirtschaftlicher Not der Eltern oder Erzieher oder in mangelhafter Fürsorge für ein verwaistes Kind, so sind die verpflichteten Armenbehörden von Aufsichtswegen anzuhalten, ihre Schuldigkeit zu tun.** All diese Maßnahmen, auch die, durch welche der Minderjährige nach Maßgabe der §§ 1666 und 1838 B.G.B. dem Ortsarmen verbände anheimfällt, sind nun aber oft nur ein unzureichender Notbehelf. Einmal scheidet der Minderjährige, wenn er das erwerbsfähige Alter erreicht hat, in der Regel aus der Armenpflege aus. Sodann fehlt es auch an jeder Möglichkeit, störende Einflüsse und Eingriffe der Eltern in das Erziehungswerk zu verhüten, das schlechte Beispiel auszuschalten, zumal, wenn der Ortsarmenver- band die Kinder innerhalb desselben Stadtbezirks unterbringt. Die Kinder bleiben dann gewöhnlich in der sie gefährdenden Umgebung, bis sie vollständig verwahrlost und kriminell geworden sind. Kurz, es mangelt bei dieser Versorgung an dem Hauptmoment, dem Not-

Ober den Stand und die Handhabung der F&raorgeerziehung in Preußen. 149

wendigsten : der Möglichkeit einer planmäßigen systematischen erzieh- lichen Einwirkung.

Es heißt, die Bechtsprechung des E. G., die erst die andern Wege zur Verhütung der Verwahrlosung erschöpft wissen will und dem F. £. G. nur einen subsidiären Chiu^ter zuerkennt, trägt nicht zum geringsten Teil zu der zu späten Einleitung der Fürsorgeer- ziehung bei. Denn die Gerichte ziehen infolge dieser Kechtsprechung des K. G. jetzt die Grenze der Fälle, in denen Fürsorgeerziehung er- forderlich ist, bedeutend enger als früher und die Überweisung kommt vielfach erst zustande, wenn bereits erhebliche und wiederholte Ver- fehlungen gegen Gesetz und Sitte erwiesen sind. Die Folge davon ist denU; daß Anträge aus § 1 Ziffer 1 in nicht ganz krassen Fällen gänzfich von den mit Äntragsrecht ausgestatteten Behörden unter- bleiben. Eine kostbare Zeit, in der Ersprießliches geleistet werden konnte, die Erziehung noch leichter und erfolgreicher wäre, geht hierdurch verloren, die vorbeugende Absicht des Gesetzes wird da- mit zunichte gemacht. Ich kann auf diese rein formalen Diffe- renzen in der Auslegung des F. E. G. hier nicht eingehen. Zweifel- los bat das E. G. vom juristischen Standpunkte aus recht, aber andererseits hat der Staat das größte Interesse daran, daß der be- dürftige Jugendliche nicht nur gekleidet, genährt, unterhalten wird, sondern daß ihm auch als zukünftigem Bürger eine ordnungsgemäße Erziehung zuteil wird, die es verbürgt, daß er ein soziales und nütz- liches Glied der Gesellschaft wird. Daß die Armenpflege, wie sie heute gehandhabt wird, den Anforderungen der Erziehung der ihr anvertrauten Jugendlichen nicht genügend gerecht zu werden vermag, erhellt die Tatsache, daß im Jahre 1904 aus 924 Familien, die orts- oder landarm waren, also unter der Armenpflege standen, Zöglinge auf Grund des F. E. G. der Fürsorgeerziehung überwiesen werden mußten.

Wie notwendig auch die zweckmäßigere Unterbringung der jugendlichen Abnormen, der Epileptiker, Imbecillen, Degenerierten ist, für die heute auch die Armenpflege nach dem Gesetz vom 11. Juli 1891 verpflichtet ist, darauf hat Puppe unter Mitteilung einiger lehrreicher diesbezüglicher Fälle aus der Praxis der Fürsorge- erziehung auf der I. Tagung der deutschen Gesellschaft für gericht- liche Medizin hingewiesen. Auch der geistig Minderwertige sollte nicht nur untergebracht werden, auch er gehört, soweit er überhaupt bUdungsfähig ist, in eine Erziehungsanstalt, um das zu retten, was überhaupt noch an ihm zu retten ist. Diesem Tenor der Ausfüh- rungen Puppe's kann man in jeder Beziehung beipflichten.

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Was ferner die rechtzeitige Einleitung der Fürsorgeerziehung er- schwert und hinausschiebt, sind die langen Verhandlungen bei Er- ledigung der Anträge, die Schwierigkeiten bei Anstellung der erforder- lichen Ennittelungen und Beschaffung der Personalpapiere. So wurde in einem Falle der Personalbogen erst 10 Monate nach Erlaß des Überweisungsbeschlusses, in einem anderen Falle sogar erst t3 Monate später geliefert, weil der Zögling flüchtig gegangen war. Mit Becht macht Klumker darauf aufmerksam, wie sehr es zwischen all den richterlichen und behördlichen Instanzen, die sich mit der Fürsorge- frage im gegebenen Falle befassen, an einer Persönlichkeit fehlt, die berufen sei, die Interessen des Kindes vor allem wahrzunehmen, wie sich oft monate- ja jahrelang die verschiedensten Instanzen mit solchen Fällen befassen, ohne daß eine von ihnen sich energisch des Kindes annehmen könne. Der elterlichen Gewalt ist, dem Kind gegenüber, im Gesetz ein viel zu großer Spielraum gelassen; hat doch der Pfleger oder Vormund bei Ablehnung der Fürsorgeerziehung nicht einmal ein Beschwerderecht

Der folgende Fall aus der Praxis möge diese Schwierigkeiten illustrieren:

Die Ehegatten liegen in Scheidungsklage, werfen sich Mißhand- lungen, Ehebruch vor, die Ehefrau, von dem Manne aus dem Hause geworfen, hat die drei Kinder, Söhne im Alter von 16, 11, 6 Jahren mit sich genommen, kümmert sich aber ebensowenig wie der Ehe- mann um die Kinder, treibt sich vielmehr herum und lebt in wilder Ehe mit einem andern verheirateten Manne. Auf Grund dieser Tat- sachen stellt im März der Vorsitzende des Waisenrates Antrag, den Eltern die Erziehung abzusprechen und möglichst bald einen Pfleger zu bestellen. Die Antwort des Polizeireviers A auf eine Anfrage des Vormundschaftgerichtes lautet: Der Ehemann ist geistig nicht normal, moralisch entartet, die Ehefrau treibt sich herum etc. wie oben. Pflegschaft nötig nach § 1666 und 1667 B.G.B. Dieselbe Auskunft gibt das Polizeirevier B im April: Ehefrau empfängt Herrenbesuche, geht nachts außer Haus. Kinder liegen bis 11 Uhr nachts auf der Straße, der älteste 16jährige Sohn ist schon total verdorben, arbeits- scheu, treibt sich mit Mädchen herum, die Mutter bezeichnet ihn als Ludewig und Zuhälter. Das geistige und leibliche Wohl der Kinder ist stark gefährdet. Pflegschaft nach § 1666 dringend notwendig. Im Mai wird ein Erziehungsstreit-Pfleger bestellt. Dieser beantragt Fürsorgeerziehung auf Grund des Gesetzes vom 2. Juli 1900 und des § 1666. Das Material sei erdrückend. Im Juni antwortet Poli- zeirevier A nochmals auf eine Anfrage des Vormundschaftsgerichts,

über den Stand und die Handhabung der Fürsorgeerziehung in Preußen. 151

ob nicht das Fürsorgeerziehungsverfahren hier das geeignetste Mittel sei, daß der Vater zur Erziehung ganz ungeeignet sei. Jetzt ver- zieht die Mutter mit den drei Kindern in einen andern Stadtteil und nun lautet der Bericht des dortigen Polizeireviers C: Über die Ehe- frau X ist hier nichts Nachteiliges bekannt und auch nicht' ermittelt worden. Die Kinder gehen reinlich gekleidet und werden nicht ver- nachlässigt Der 16 jährige Sohn bemüht sich um Arbeit, die er bis jetzt noch nicht gefunden hat. Verwahrlosung zur Zeit nicht zu be- fürchten. Unterbringung in Fürsorgeerziehung nicht geboten, wohl Maßnahmen aus § 1666. Aber im Dezember ist noch nicht ent- schieden, ob der Vater, dem nach der inzwischen erfolgten Eheschei- dung nach § 1635 B.G.B. die Sorge für die Kinder zusteht, diese zu übernehmen im Stande wäre. Ob er nicht etwa geisteskrank im Sinne des § 104 und geschäftsunfähig ist. In diesem Falle wäre er nicht verantwortlich im Sinne des § 1666, weil sein Verschulden fehlt Also ist zuvor festzustellen, ob die elterliche Gewalt des Vaters ruht 1676).

Und in der ganzen Zeit bleiben die drei Kinder unter dem ver- giftenden Einfluß der Mutter. Zwar ist ihnen vom Vormundschafts- gericht ein Erziehungspfleger bestellt, aber es geschieht nichts gegen ihre Verwahrlosung, da ja der Vater noch immer seine Rechte geltend zu machen berechtigt ist

Bei der Handhabung des F.E.G. wäre auf eine Beschleunigung und Vereinfachung der FormaJien ernstlich Bedacht zu nehmen, die Möglichkeit der sofortigen vorläufigen Unterbringung zu erleichtem, bei einem späteren Ausbau des Gesetzes die Emanzipirung des § 1 Ziffer 1 von der Maßgabe der §§ 1666 und 1838 B.G.B. ins Auge zu fassen, in dem Sinne, daß auch ohne Verschulden der Eltern die Fürsorgeerziehung nach dem Ermessen des Vormundschafts- gerichtes stets angeordnet werden kann, wenn die Trennung des Kindes von seinen Eltern bezw. bisherigen Erziehern zur Verhütung sdner Verwahrlosung erforderlich scheint

Zu erwägen wäre ferner, ob es sich nicht empfiehlt, weitere Kreise an der Ausführung des F.E.G., die jetzt, wie ich schon er- wähnte, in der Hand des Kommunalverbandes, also in der Hand einer einzelnen Person, des Landeshauptmannes oder des von diesem Beauftragten liegt, zu interessieren. Eine derartige Beteiligung wäre durch die übrigens schon von Aschrot t, von der internationalen kriminalistischen Vereinigung u. A. vorgeschlagene Errichtung von Erziehungsämtem, etwa nach norwegischem Muster zu bewerkstelligen. Das norwegische F.E.G. vom Jahre 1898 überträgt den Beschluß

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über die Dnterbringaag der Zöglinge einem Vormandschaftsrat, der sieh zusammensetzt aus dem Bezirksrichter, dem Prediger des Ortes und 5 von der Kommunalverwaltung für zwei Jahre gewählten Mit- gliedern, unter denen ein in der Gemeinde praktizierender Arzt und ein oder zwei Frauen sich ^befinden. Eine solche in bestandigem regem Kontakt mit den Kreisen, aus denen sich die Pflegerfamilien und Fürsorger rekrutieren, stehende Kommission würde eine bessere Garantie für die Auswahl und Gewinnung der zu diesem Amt ge- eigneten Kräfte bieten, als dies durch die jetzt vielfach zu diesem Zwecke geschehenden Reisen des Oberpräsidialkommisars gewähr- leistet wird. Hiermit soll keineswegs die bisher auf diesem Gebiete ersprießliche Tätigkeit der Provinzialvereine für innere Mission in manchen Gegenden unterschätzt werden.

Durch Mithülfe der Presse, durch öffentliche Vorträge über die Aufgaben der Fürsorgeerziehung, ihri^n segensreichen Erfolg bei richtiger Handhabung und vertiefter Ausführung dieses wohltätigsten aller Gesetze, ist das Interesse und die Mitarbeit der Gesellschaft und besonders der Frauen, zu wecken. Nicht nur zur Auffindung der Fürsorgeerziehung bedürftiger Kinder, sondern auch in dem Amt als Fürsorger erscheint die Frau in vielen Fällen geeignet und ihre Mit- hilfe, wozu ja der § 11 des F.E.G. ermächtigt, wünschenswert. Amerika ist uns in dieser Beziehung mit bestem Erfolg vorangegangen. Im Staate Pennsylvanien sind sogar sämtliche Fürsorger (Probation officers) Frauen. Sie werden dem Congress of Mothers entnommen, für ihr Amt besonders ausgebildet und haben sich sehr bewährt. Sie treten zu den Kindern in engere Beziehungen, als dies ein Mann kann.

Die Früchte der Fürsorgeerziehung zeigen sich, noch mehr wie bei jeder anderen Erziehung, erst nach jahrelanger Arbeit. Eine vorzeitige Entlassung aus derselben, die nicht selten wieder mit der Rückkehr in die alten Verhältnisse verbunden ist, kann die ganze Arbeit nutzlos machen. Die Fürsorgeerziehung bedeutet ja oft genug nicht nur Erziehung, sondern auch Schutz für den Jugendlichen. Dem Drängen der Eltern um Freigabe ihrer Kinder aus der Für- sorgeerziehung, weil sie darin nicht nur eine Unterschätzung ihrer elterlichen Gewalt sehen, sondern sie auch als eine wirtschaftliche Schädigung empfinden, ist daher im Interesse der Kinder nicht vor- zeitig nachzugeben. In vielen Fällen sollte die Entlassung aus der Fürsorgeerziehung von dem Urteil des sachverständigen Arztes ab- hängig gemacht werden, der endgültigen eine widerrufliche vorher- gehen, bis eine sichere Gewähr geboten ist, daß der Zögling sich in

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der neuen Lebenslage zurecht- und fortfindet. Um das spätere Schicksal und Ergehen des Fürsorgezöglinges zwecks Sammlung von Erfahrungen im Auge zu behalten, ist die Mithilfe des Zentralver- bandes für Jugendfürsorge und des Freiwilligen Erziehungsbeirates für schulentlassene Waisen erwünscht Es gilt nicht nur das sittliche, leibliche und geistige Wohl der Zöglinge weiterhin im Auge zu be- halten, sondern auch praktischen erfahrenen Bat und tatkräftigen Beistand bei der Berufswahl, der Beschaffung geeigneter Arbeits- stätten und Wohnungen zu leisten, für die Fortbildung zu sorgen, also auch das wirtschaftliche Wohl der Zöglinge in jeder Weise zu fördern.

Über die Erfolge der Fürsorgeerziehung läßt sich heute, nach- dem erst die Erfahrungen weniger Jahre vorliegen, noch kein ab- Bchließendes urteil fällen; es werden sich bei der Ausführung auch noch manche Bedürfnisse im Laufe der Zeit herausstellen. Wenn jetzt schon die Zahl der Jugendlichen, bei denen die Zwecke der Fürsorgeerziehung erreicht werden, von maßgebenden Faktoren auf etwa 75 % geschätzt wird, so ist zu erwarten, daß dieser Prozent- satz noch beträchtlich größer wird, wenn die Handhabung des Für- Borgeerziehungsgesetzes nach folgenden Glesichtspunkten vertieft und erweitert wird:

1 . Größere Beteiligung aller Volkskreise an der Namhaf tmachung der Fürsorgeerziehung bedürftiger Kinder. Es ist leider Tatsache, daß die Organisation des Tierschutzes heute in den breiteren Volks- schichten bekannter ist, als die des Kinderschutzes, obschon sich annähernd 400 Vereine in Preußen mit der Jugendfürsorge be- fassen.

2. Bechtzeitigere, d. h. frühzeitigere und schnellere Einweisung in die Fürsorgeerziehung. Die Fürsorgeerziehung soll eine Präventiv- maßregel sein, Verhütung des Übels ist wirksamer und leichter als Ausrottung, wie wir ja auch bei der Bekämpfung der Infektions- krankheiten der Prophylaxe vor den therapeutischen Bestrebungen den Vorzug geben. Erleichterung der Einweisung auf Grund des § 1 Ziffer 1. Errichtung von Erziehungsämtem.

3. Zweckmäßigere Sortierung und Verteilung der Fürsorgezög- linge nach ihren intellektuellen, moralischen etc. Eigenschaften bezw. den Schwierigkeiten, die sie dem Erziehungszweck bieten. Indivi- dualisierende Behandlung. Beobachtungsanstalten.

4. Einweisung aller schwer erziehbaren Fürsorgezöglinge in staatliche Anstalten unter ärztlich (ps7chiatrisch)-pädagogischer Ijcitung, staaüich geschulten, nach modern naturwissenschaftlichen Grundsätzen

154 in. Leerb

ausgebildeten Erziehern und Pflegern. Ausschaltang der nicht er- ziehbaren, antisozialen Elemente aus der Fürsorgeerziehung.

5. Weitgehendere Beteiligung sachverständiger Ärzte bei der Be- schlußfassung der Fürsorgeerziehung, der Unterbringung, während der Dauer und ev. bei der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung.

6. Kegelmäßige und öftere ärztlich-pädagogische Eontrolle und Beratung der Familienfürsorgezöglinge, staatliche Revision der Er- ziehungsanstalten nach dem Muster der Irrenanstaltsrevisionen durch eine Kommission (Kommissar des Oberpräsidenten, beamteter Arzt, Pädagoge).

7. Planmäßige Ausbildung der Erziehungspfleger und -pf legerinnen in den staatlichen Anstalten. Fortbildungskurse.

Berlin, Dezember 1906.

IV. Verbrecher-Lebenslaufe.

Mitgeteilt von Geh. Justizrat Biefert in Weimar.

1. Dem Kestaaratenr Werner in Weimar wurde am 24. August 1888 aus einer in dessen Schlafstube stehenden Kommode 1 goldene Damenuhr mit Kette, eine goldene Uhrkette, eine Korallenkette mit goldenem Kreuze, zwei goldene Ringe und einige andere Gegenstände im Gesamtwerte von 130 M. gestohlen.

Der Dieb war der am 12. Oktober 1872 zu Roßbach bei Httnefeld von der vielfach, auch wiederholt mit Zuchthaus vorbestraften Katharina Elisabeth Knott aus Unterelba außerehelich geborene Eduard Knott Er war einige Tage vorher bei Werner als Kellnerlehrling eingetreten, am Abend des 24. August hatte er bei der Wittwe Emma Hast Unter- kunft gefunden, mit deren Sohn er in dem Falkschen Institut in Weimar einer Besserungsanstalt zusammen gewesen war. Diesem Kameraden schenkte er am 25. August die Uhrkette, einen Siegelring, einen Haarring, zwei Spiele Karten im Gesamtwerte von 90 M., seine Mutter bekam Kenntnis davon und brachte diese Sachen zurück. Dadurch wurde der Diebstahl entdeckt

In den Akten der Polizei war noch erwähnt, daß Knott Ostern 1887 zum Schmied Gesky in Neumark in die Lehre gebracht worden sei, aber am 14. August 1888 aus derselben entlaufen wäre. Knott erklärte, daß er am Morgen des 24. August 1888 aus der Wernerschen Schlafstube Stiefeletten zu holen gehabt und dabei an einem Spiegel über der Kommode einen Schlüssel hängen gesehen, mit demselben die Kommode geöffnet und dann daraus die Sachen entwendet hätte. Nachmittags sei er heimlich weggegangen.

Es wurde von dem Lehrer und Hausverwalter des Falkschen Instituts eine Auskunft über Knott erbeten. Darin hieß es, daß Knott

a) seinen langjährigen Aufenthalt (vom I.Juli 1883 in der Anstalt an) fast nur zur Ausübung schlechter Streiche, hauptsächlich kleiner Diebstähle, benutzt habe.

156 IV. SiEFERT

b) gegen eindringlichste Ermahnungen und gegen körperliche Züchtigungen gleichgültig gewesen sei,

c) beim Verlassen der Anstalt dem Hausvater seine Cylinderuhr entwendet habe und später aus Furcht vor Entdeckung sie demoliert habe.

Die geistige Befähigung des Knott wurde „eine geringe** genannt. Später wurde nachgeholt, daß trotz der bei anderen Zöglingen mit Erfolg angewandten Vorsichtsmaßregeln Knott „fast allnächtlich das Bett näßte/

Knott wurde vom Staatsanwalt vernommen. Dabei erklärte er, daß er zum Schmiede nicht tauge, da er nicht rechnen könne, daß er Knecht werden wolle. Ostern (1888) sei seine Schwester aus der Schule gekommen, weshalb er vom Meister Gesky zu einer Heimreise drei Tage Urlaub erhalten habe. Er sei nicht zurückgekehrt und darum durch die Gendarmerie wieder nach Neumark in die Lehre zurückgebracht worden. Von hier sei er im August entlaufen, weil ihm vorgeworfen worden sei, daß er mit den Kindern Haschemann gespielt habe. Er habe 2 M. erspartes Geld gehabt und sich damit in Weimar zum Vogelschießen begeben. Vom Schießhausplatze habe ihn jemand zum Spediteur Apel geschickt, mit den Apelschen Knechten sei er dann in die Wernersche Wirtschaft gekommen. Werner habe ihn als Kegeljungen angenommen. Die am Vormittage des 24. August gestohlenen Sachen habe er verkaufen wollen. Am Nachmittage dieses Tages habe Werner ihn schlagen wollen, weil er dessen kleinen Jungen geschimpft habe. Deshalb sei er fortgegangen.

Die ganze Sachlage veranlaßte die Staatsanwaltschaft zu näheren Erörterungen, um den Geisteszustand Knotts, der schwachsinnig zu sein schien, festzustellen.

Bereits im Jahre 1879 wird er als „ein leichtsinniger, unver- besserlicher Knabe bezeichnet, welcher mit Streichhölzern gern spielte, überhaupt zu allen Schlechtigkeiten fähig ist und des nachts größten- teils in Scheunen zubringt." Er war zur Zeit dieser Berichtserstattung seit neun Tagen seinen Pflegeeltern entlaufen. Mehrmals wurde er in der Umgegend von Dermbach von der Gendarmerie aufgegriffen und nach Unterelba zu seinen Pflegeeltern zurückgebracht. Der Ge- meindevorstand von Unterelba sagt von ihm, daß „dieser Knabe als ein sittlich verwahrloster anzusehen ist und anstatt, wenn er von seinen Pflegeeltern nach Dermbach zur katholische Schule geschickt werde, 3 bis 4 Tage an einem hin betteln geht und derselbe bereits schon verschiedene andere Dummheiten ausgeführt hat" Mündlich vom Bezirksdirektor (dem Staats-Verwaltungs-Beamten) vernommen,

Verbrecher-Lebenslaufe. * 157

änßert der Bürgermeister: ^Eduard Knott ist ein verwahrloster Junge, er ist schon, wie er noch bei der Witwe Thöring war (1873, Frühjahr, bis 1878) viel umher gelaufen. Als im Frühjahr 1878 seineMutter wieder nach ünterelba kam, ist er mit dieser selbst in der Welt herumge- zogen und daher mag sich seine Neigung zum Umherstreifen noch vermehrt haben, denn jetzt kommt er nur noch selten nach Hause, schläft in Ställen und Scheunen oder auch im Freien und bettelt am Tage.*^ Es wird bei dieser Gelegenheit erwähnt, daß er auch schon Schnaps trinke. Er habe (Mai 1879) einen Schrank seines Pflege- vaters erbrochen, die Schnapsflasche daraus genommen und sich bis ziur Bewußtlosigkeit betrunken.

Gesky schildert Enott als Taugenichts und Dieb. Er hat ihm Geld, Wurst, Speck, 1 Handtuch und dergl. entwendet, die Diebstähle Btets hartnäckig geleugnet, dann aber häufig den vermißten Gegen- stand so an eine Stelle gelegt, daß er gefunden werden mußte. Als ihm Gesky einmal seinem Bruder, der im benachbarten Ettersburg wohnte, auf einige Tage zur Aushülfe sandte, nahm er diesem einen Beschlaghammer mit, den er in Neumark im Bettstroh seines Bettes versteckte.

Auch die Mutter und die Großmutter Knotts waren unehelich geboren. Die Mutter gab als den Vater ihres Kindes Eduard denverstorbenen Scherenschleifer Adam Fladung aus Unterelba an, der von seiner Ehe- frau getrennt gelebt habe. Die Geschwister Fladungs bestätigten das Verhältnis ihres Bruders zur Knott. In einem Briefe des Gemeinde- vorstandes "zu Unterelba vom 2. Oktober 1861 an den Bezirksdirektor in Dermbach wird mitgeteilt, daß Fladung am 24. August 1861 aus dem Zuchthause (aber nicht direkt) zurückgekommen sei, aber in seiner Familie keine Aufnahme gefunden habe. Es heißt dann weiter: ^Nachdem nun Fladung bei seiner Ehefrau nicht angenommen worden, hat er sich eine Zeit lang im Gemeindehause aufgehalten. Fladung hat zwar eine Zeit lang mit der ledigen Katharine Elisabetha Knott ein uneheliches Lehen geführt, welche schon voriges Jahr im Straf- arbeitshause zu Eisenach ein Kind männlichen Geschlechts geboren und der Gemeinde dadurch viele Kosten entstanden sind. Dieselben sind schon wieder über 14 Tage miteinander fort, auch ist die Knott von Fladung schwanger und hat sich im Gemeindehause aus- gesprochen, sie wolle das Kind sonstwo gebähren und der Gemeinde wieder Kosten machen.

Fladung wurde am 5. Dezember 1831 geboren und starb am 1. Februar 1873 im Gemeindehause zu Unterelba. Es wurde fest- gestellt, daß „Fladung bei Lebzeiten manchmal geisteskrank, in

158 IV. SiEPEBT

körperlicher, geistiger und sittlicher Beziehung sehr auffällig und auch in der Irrenanstalt zu Jena untergebracht gewesen sei.''

Von Fladungs Vater, Nicolaus Fladung, wurde berichtet, daß er am 22. Juli 1799 geboren und am 13. Dezember 1860 gestorben sei und daß er ,,in sehr armen und zuletzt in geistesschwachem Zustande gelebt habe.^

Adam Fladung hinterließ fünf eheliche Kinder, darunter den Schneider Joseph Fladung, der im Jahre 1864 von Würzen aus wegen Geisteskrankheit in die UniversitätsJrrenklinik eingeliefert wurde. Eine Schwester von ihm erklärte, „nach seiner Entlassung sei er jetzt noch geistig gestört.^

Die Staatsanwaltschaft ersuchte nunmehr den Professor Bins- wanger um eine gutachtliche Auskunft über die Geistesbeschaffenheit Knotts ; der genannte Psychiater beantragte Beobachtung desselben in der ihm unterstellten Irrenheilanstalt zu Jena, Enott war aber zunächst nicht zu ermitteln. Am 26. Januar 1889 wurde er endlich in Wenigentaft ohne Papiere und ohne Geldmittel als Landstreicher an- gehalten. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 5. September 1888 war er am 10. dieses Monats vom Gutspachter Wiegand in Weimar als Ochsenjunge angenommen, am 21. Dezember aber wieder entlassen worden, weil er unbotmäßig war, das Brot und eine Brosche, die er alsbald verkaufte, aus der Küche gestohlen hatte und auch noch mehr vorgekommen war. Am 29. Dezember trat er als Futterknecht bei Gottschalk in Kaffenburg bei Blankenhain in Dienst. Er erwies sich jedoch als ein unzuverlässiger nichts- nutziger Junge. Am 23. Januar ließ er sich wieder eine grobe Nach- lässigkeit zuschulden kommen (er beschädigte eine Laterne), worüber er „gehörig zur Rede gesetzt" wohl gezüchtigt wurde. Der Dienst- herr sagte ihm, wenn er ihn heute entlasse, müsse er barfuß laufen. Knott arbeitete zwar bis Mittag weiter, zu dieser Zeit wurden aber hinter dem Gute unter einem HoUunderbusche versteckt verschiedene Kleidungsstücke entdeckt: Ein Paar Stiefel (dem Verwalter gehörig), ein Paar Schuhe (einem Scholaren Gottschalks gehörig), eine Hose und ein Halstuch (einem Knecht gehörig), ein Hemd und eine Mütze (dem Schäfer gehörig, dem an demselben Tage auch 5 M. Geld von Knott gestohlen wurden). Knott hatte die Sachen versteckt, um damit zu verschwinden. Während sie ins Haus geschafft wurden, verschwand er auch wirklich. Er wandte sich nach ünterelba und von da nach Wenigentaft, wo er am 25. Januar einen Dienst als Futterknecht fand.

Das Direktorium der Landes-Irren-Heilanstalt gab am 13. März 1888 sein Gutachten dahin ab, daß Knott

„an angeborenem Schwachsinn leidet".

Verbrecher-Lebenslaafe. 159

Derselbe macht sich, heißt es dann weiter, „namentlich auf ethi- schem Gebiete bemerklich^ ist aber auch außerhalb dieses Gebietes nachweisbar; hierzu kommen epileptische und epileptoide Anfälle, welche gleichfalls die Existenz einer Himkrankheit verbürgen. Der Enott ist demgemäß als nicht zurechnungsfähig zu erachten. Zugleich empfiehlt sich die Belassung desselben in der Irren-Anstalt, da der- selbe, auf freien Fuß gesetzt, jedenfalls unfähig wäre, den mannig- fachen, ihn erwartenden Versuchungen zu widerstehen^S

Enott wurde nunmehr wegen des dem Schankwirt Werner zuge- fügten Diebstahls außer Verfolgung gesetzt.

2. Adam Peter Martin Narr gen. Widmann wurde am 26. Dezember 1873 in Hirschberg a. d. Saale auf der Scharfrichterei, von der Anna Eatharine Narr außerehelich geboren, die sich später an den Strumpfwirker Joh. Fr. Adam Widmann verheiratete. Im Jahre 1893 vereinbarten beide Eheleute, daß Martin Narr den Namen Widmann führen solle.

Nach seiner Schulzeit war er zunächst Lehrling bei einem Schieferdecker, dann Gerber, schließlich Dienstknecht und Hand- arbeiter. Bei seiner Aushebung zum Militär im Herbste 1894 zeigte sich, daß er auf der Brust und an beiden Armen tätowiert war. 1 895 wurde er aus dem Militärverbande ausgeschlossen.

Bereits in seinem siebzehnten Lebensjahre wurde er vom Land- gerichte zu Gera wegen Diebstahls bestraft (mit 2 Monaten Gefängnis.) Er diente bei Berger in Lohme als Enecht Als einmal niemand zu Hause war, stahl er demselben 156 M. Geld, ein Paar Stiefeln und eine Schürze. Er begab sich nach Neustadt, wo er sich einen Anzug kaufte, fuhr dann mit der Eisenbahn nach München. Nach Verbrauch des Geldes wanderte er zu Fuß nach Frößen, wo er einmal gedient hatte.

Im Jahre 1888 erfuhr er Bestrafung wegen Rückfallsdiebstahles. In demselben Jahre war er weiter wegen dreier Diebstähle, begangen im wiederholten Rückfalle im August und September 1889 inVinan, Gräfenwart, Frößen und Spielmar gegen seine Dienstherren, und wegen Urkundenfälschung in Untersuchung und wurde am 23. 12. 1889 auf Grund der §§ 242, 244, 246 zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Während der Strafvollstreckung war er sehr faul. Einmal benahm er sich einer Rüge des Aufsehers gegenüber sehr frech, sagte sogar am Schlüsse zu diesem, mit ihm wolle er schon fertig werden. Trotz einer Disziplinarstrafe fuhr er fort, faul zu sein und schlecht zu arbeiten. Schon am 18. Januar 1891 folgte wieder eine Ver- urteilung wegen derselben Verbrechen, wieder gerichtet gegen einen Dienstherm, und zwar zu 6 Monaten 2 Wochen Gefängnis. Auch

160 IV. SiEFEHT

diesmal war er im Laufe der Strafvollstreckung sehr frech. Mehr- fach schlug er Mitgefangene. Auch jetzt war er wieder äußerst faul; er wolle die Herren nicht reich machen durch seine Arbeit^ sagte er zum Aufseher. Er verweigerte den Gehorsam, scheuerte nicht, sprach fortwährend mit seinen Mitgefangenen. Auf jede Weise suchte er die Aufseher zu ärgern. Am 7. Dezember 1891 wurde er wegen zweier Diebstähle im w. B. zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis, dazwischen wegen Betruges zu 1 Woche Gefängnis verurteilt. Im Laufe der Strafvollstreckung erreichte er das 18. Lebensjahr. Am 16. 2. 1892 lief er mit den Worten: „ich hänge mich^ aus dem Arbeitssaale und versteckte sich in einer Zelle; dem Aufseher, der ihn wiederholt auf- forderte, nach dem Saale zurückzukommen, gab er keine Antwort, so daß mit Gewalt gegen ihn vorgegangen werden mußte. Mittags lehnte er das Mittagessen ab, da er keinen Appetit habe, dann aber doch die ihm hingesetzte Mahlzeit Dann lag er im Bett, ver- drehte die Augen und „redete lauter verrücktes Zeug**.

Dem Arzte sagte er, daß er an Eompfschmerzen leide. Dieser aber glaubte, daß sie simuliert seien^ und erklärte: „Geistig ist der Gefangene Narr völlig normal". Am 4. April 1892 wurde Narr im Besitze von zwei Dietrichen gefunden, welche er aus einem im Ar- beitssaal gefundenen Drahtstücke gefertigt hatte. Er wollte entweichen, mit dem kleineren Dietrich die Schlafsaaltür öffnen und mit dem größeren die Tür nach dem Männergarten aufschließen. Dann wollte er die Planke nach dem Mühlgraben durchstoßen.

Kaum war die Disciplinarstrafe, die ihn deshalb traf, verbüßt, so machte er in der Nacht vom 11/12 Mai den Versuch eines Durch- bruchs durch die Wand am Ofen, und zwar in Gemeinschaft mit dem Nachbargefangenen Kötthau. Sie kratzten je in ihren Zellen den Kalk von der Wand und machten die Steine „dicht am Ofen nach der Feuerung zu*' mittelst je eines, von der eisernen Bettstelle abgebrochenen Fußes los. Sie wollten die Tür von der Feuerung absprengen, dann auf die oberste Gallerie und von hier auf den Boden geheU; sich am Blitzableiter herunterlassen, nachdem der Wacht- posten aus dem Männergarten weggegangen wäre, und dann mittelst einer der an der Planke anlehnenden Holzbohlen über die Planken steigen. Der geplante Durchbruch der Wand war aber nicht möglich.

Am 7. August 1892 stieg Narr, der noch in Fesseln ging, in der Zelle auf den Tisch und pfiff auf einem Federkiele, den er sich dazu besonders hergerichtet hatte, zum Fenster hinaus. Als der Aufseher den Tisch, auf welchem Federn lagen, aus der Zelle schaffen ließ, pustete Narr in die Federn hinein, so daß sie in der Zelle herum-

Verbrecher- Lebenslaufe. 161

flogen, und benahm sich äußerst frech. Am 16. August zerstieß er die Tür seiner Arrestzelle aus Arger mit den Ketten. Wiederholt gelobte er dann an, sich hausordnungsgemäß zu verhalten, doch ver- fiel er wiederholt wieder in Disciplinarstrafen. Am 13. Februar 1893 weigerte er sich zu arbeiten, seine Arbeit sei als schlecht bezeichnet worden. Am Morgen des 17. Februar 93 befolgte ei* beim Antreten der Gefangenen zum Gange nach dem Arbeitssaal nicht die herkömm- liche Ordnung und sagte zu dem dies rügenden Aufseher, da bleibe er eben oben, er, der Aufseher wisse nicht, was er wolle u. s. w. Dem Direktor gegenüber entschuldigte er sich damit, daß er einen kürzeren Weg nach dem Saale habe einschlagen wollen.

Am 4. April 1893 spektakelte Narr in der Weberei und drohte einem Mitgefangenen, ihm seinen Schemel auf den Kopf zu schlagen, weil ihm dessen Benehmen mißfiel.

Am 27. April 1893 hatte sich Narr beim Fahren der Ausleer- fäßer Kautabak geben lassen. Der Aufseher fand bei ihm den Kau- tabak. In Abwesenheit des Aufsehers hielt er dann epem Mitge- fangenen vor, daß er dies wohl dem Aufseher angezeigt habe. Ob- wohl der Mitgefangene es verneinte, schlug ihn Narr dreimal ins Ge- sicht und sagte, er werde das erste Beste nehmen und ihn damit tot schlagen.

Nachdem ihn eine Reihe von Bestrafungen wegen Betteins und Landstreichens getroffen hatten und er im Jahre 1894 auch wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Unterschlagung verurteilt worden war, stand er am 19. 2. 1895 vor den Schranken des Schwur- gerichtes Gera wegen versuchter Notzucht und Sachbeschädigung. Das Ergebnis war eine Zuchthausstrafe von 3 Jahren 1 Monat, die er in Gräfentonna verbüßte, wo er sich durch freches Betragen, Ungehorsam, Tätlichkeit gegen einen Mitgefangenen u. s. w. sieben- zehn Disciplinarstrafen zuzog.

Bis zum 6. 12. 1894 hatte er eine ihm vom Schöffengericht zu Plauen wegen Unterschlagung zuerkannte Gefängnisstrafe von 2 Mo- naten verbüßt. Am 6, Dezember blieb er in Plauen, von wo er tags darauf nach Elsterberg ging, am 8. Dezember setzte er seine Wan- derung über Greiz und Hohenölsen nach Weida fort. Kurz vor Weida führte ihn sein Weg über das zu Weida gehörige Gut Neuhof, hinter dem ein schmaler Fußweg über einen bewaldeten Berg führt. Als Widmann an diesem Nachmittage an diesen Berg kam, bemerkte er etwa 50 Schritt vor sich ein Mädchen die sechzehnjährige Dienstmagd Ella Taudte, welche Kränze nach Neuhof getragen hatte und auf dem Rückwege nach Weida begriffen war. Er holte sie

^LrehiT fttr Kriminalanthropologie. 27. Bd. ' 11

162 IV. SiEFERT

bald ein und ging nun dicht hinter ihr her. Sie sagte ihm guten Tag und äußerte, daß es ihr beim Bergsteigen warm geworden sei, wozu Widmann nur eine kurze Bemerkung machte. Auf der Höhe des Berges, wo der Weg nur eine Elle breit ist, trat das Mädchen zur Seite, um den ihr folgenden Mann an sich vorübergehen zu lassen. Dieser ging aber nicht vorbei, sondern trat unter den Worten : „Lassen Sie mich einmal" dicht an das Mädchen heran und faßte es mit den Händen an den Kopf. Dieses erwiderte: „Gehen Sie doch weg** und suchte sich von ihm loszumachen. Wiedemann ließ sie jedoch nicht los, .sondern warf sie auf die rechte Seite des Weges, wo ganz nied- riges Laubholz stand, zu Boden, kniete neben ihr hin, griff ihr unter die Röcke, entblößte sie und griff ihr an die Geschlechtsteile. Das Mädchen wehrte sich nach Kräften, schrie auch laut um Hülfe, worauf er mit der einen Hand ihr den Mund zuhielt und mit der anderen sie auf den Boden niederdrückte. Es gelang ihr, die Hand von ihrem Munde fortzustoßen und sie sagte nun zu ihm, sie wolle es sich gut- willig gefallen lassen, er solle sie nur loslassen. Darauf ließ er von ihr ab. Sie richtete sich mit dem Aufrufe, „Herr Hartmann, kommen Sie schnell" in die Höhe, worauf er ihr einen Stoß versetzte, infolge dessen sie den an der linken Seite des Weges befindlichen, mit nied- rigem Buschwerk bewachsenen Abhang einige Schritte hinunter rutschte. Wiedemann blieb noch eine Weile auf dem Wege stehen, vergriff sich aber nicht mehr an dem Mädchen, das wieder in seine unmittelbare Nähe kam, um einen ihrer Schuhe und ihre Kapuze aufzuheben. Während das Mädchen nach Neuhof zurückging, setzte Wiedemann seinen Weg nach Weida fort

Er kehrte in der Herberge zur Heimat ein, holte in der Stadt das Ortsgeschenk und kaufte sein Abendbrot ein, welches er in der Herberge verzehrte. Er trank Schnaps dazu, wurde betrunken, es wurde ihm übel, er erbrach sich im Zimmer; von zwei Handwerks- burschen nach dem Abtritt geführt, fiel er in seiner Trunkenheit hier zu Boden und blieb liegen.

In der Zwischenzeit kehrte der abwesend gewesene Herbergswirt nach Hause zurück. Dieser hob Wiedemann in die Höhe und brachte ihn an die Luft auf die Straße. Als er ihn dann los ließ, schlug Wiedemann mit der Faust nach ihm. Darauf versetzte der Wirt dem Wiedemann einige Ohrfeigen, wobei dieser hinfiel und dann mit dem Fuße den Wirt trat, mit seinem Messer nach ihm stieß. Kaum war der Wirt in die Gaststube zurückgekehrt, als Wiedemann von draußen ein Fenster nach dem anderen mit der Faust einschlug.

Mildernde Umstände wurden von den Geschworenen dem Ange-

Verbrecher-Lebenslaufe. 163

klagten nicht bewilligt Strafmilderad wurde berücksichtigt, daß die Tat der Vollendung noch nicht ganz nahe gekommen sei und die Verletzte einen großen Schaden nicht gehabt habe, strafschärfend, daß der Angeklagte eine viel bestrafte, nichtsnutzige und gefährliche Persönlichkeit sei und daß eine unglaubliche Frechheit dazu gehöre, am Tage auf öffentlichem Wege eine anständige Frauensperson in der Weise, wie es geschehen, anzufallen.

Im Mai 1895 bereits klagten die Aufseher über freches Betragen Wiedemanns. Als er am 24. Mai beim Abendessen über eine Bank, auf der schon mehrere Gefangene saßen, hinwegschreiten wollte, wies ihm der Aufseher einen Platz an. Darüber wurde Wiedemann ganz aufgebracht, warf sein Brod in die Schüssel, stieß diese von sich und warf seinen Löffel hin, unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd. Gegenüber dem Direktor bezeichnete er die Anzeige darüber als falsch^ er werde weitere Schritte tun, es gebe auch höhere Instanzen. Der Disciplinarstrafe von vier Tagen schmaler Kost folgte kurz darauf eine solche von zwei Tagen, im August wegen Vergehens gegen die Hausregel acht Tage verschärfter Dunkelarrest, im November wegen Gehorsamsverweigerung 2 Tage schmale Kost. Im März 1896 wird von einem Aufseher gemeldet, daß Widmann schon längere Zeit zeige, die Arbeit im Saale wäre ihm zu viel. Ohne Grund habe er einen Mitgefangenen auf der Treppe zweimal ins Gesicht geschlagen. Er entgegnete, seine Mitgefangenen könnten ihn nicht leiden. Diese Roh- heit, die er nicht einmal entschuldigte, trug ihm sechs Tage Dunkel- arrest ein.

Am 28. April stand beim Landgericht Gotha eine Hauptverhand- lung gegen ihn an. Als er des Transportes nach Gotha wegen aus- gekleidet wurde, äußerte er zum Aufseher.

„Da würde der Aufseher wohl mit ihm zu tun kriegen^.

Darauf ordnete der Hausmeister an, ihn zu schließen. Widmann entgegnete: „Sie fressen auch noch keinen'', und versuchte auf dem Wege die Fesseln zu sprengen 4 Tage Dunkelarrest.

Im Mai 1896 beklagte sich der Cigarrenfabrikant darüber, daß Widmann nicht einmal die Wickel liefere, die ein anderer Gefangener eingerollt habe, daß er in 1 3 Monaten die Arbeit neunmal unterbrochen habe. Er möchte von einem solchen unsicheren Arbeiter befreit sein»

Am 7. und 8. Juni verbüßte er Dunkelarrest er hatte aus

dem Fenster seiner Zelle den Tauben Erbsen zugeworfen und dem

dies rügenden Aufseher frech geantwortet Nachher fand man an

den Wänden der Arrestzelle seinen Namen und dazu den Satz: Bache

ist süß, hoch lebe die Anarchie. Widmann leugnete dies verübt zu

11*

164 IV. SlEFERT

haben 2 Tage Dunkelarrest und Wiederinstandsetzung der Zellen- wände auf Widmanns Kosten.

Der Cigarrenfabrikant meldet im Juli, daß er Widmann keine Cigarren mehr geben könne, da er den ganzen Tabak verderbe und alle seine Wickel wieder aufgemacht werden müßten. Widmann wird darauf mit Zellenarbeit beschäftigt, dann mit Kohlenabladen und Holz- spalten. Anfang Dezember äußerte er beim £isbrechen zu Mitgefan- genen, daß er jetzt mal seinen Kopf durchsetzen und den Aufseher Minuth ärgern wolle, er wolle nun einmal wieder in der Anstalt bleiben. Am Morgen des 10. Dezember beachtete er dann auch beim Abmärsche zum Eisbrechen das laut und deutlich gegebene Commando des Aufsehers nicht. Minuth hatte es ihm verwiesen, daß er eigen- mächtig seinen Arbeitsplatz gewechselt hatte. Es traf ihn eine Strafe von vier Tagen schmaler Kost. Nach deren Verbüßung wurde er mit Feldarbeit auf der Domäne beschäftigt. Am Morgen des 20. Januar 1897 wurde im Freien mit der Maschine gedroschen. Minuth stellte Widmann mit auf dem Fruchthaufen an. Nach einer Weile steUte Widmann seine Gabel zur Seite, rutschte auf der hinteren Seite des Haufens herab und wurde flüchtig. Auf seinem Wege kam er durch Tottieben, wo er von einem Gartenzaune eine dort hängende Hose und Schürze stahl. Die Anstaltshose, welche er trug, wechselte er sofort gegen die gestohlene aus, in welcher ein Kniestück eingesetzt war, weshalb er sich die Schürze vorband. Die Nacht brachte er in einem Diemen zu. Um 6 Uhr abends hatte er Sondershausen passiert und war dann beim Chausseehause Schersa vorübergegangen. „Noch ein Stück Wegs weiter^', sagt er, „bin ich erst unter eine Brücke ge- krochen, wo ich einige Stunden zubrachte, es war mir dann aber zu kalt da unten und bin ich dann in einen Strohhaufen links von der Straße gekrochen". Vormittags 9 Uhr erschien er im Wirtshause zu Badra, wo ihm Kaffee gereicht wurde. Er w^einte und war halb er- froren. Er gab an, daß er nach Halle wolle, ging aber in der Rich- tung nach Sondershausen fort; gegen 11 Uhr bat er im Chaussee- hause Schersa um etwas Essen, gegen Mittag kam er in Sonders- hausen an, wo er sich in die Herberge zur Heimat begab, in der er bis 2 Uhr nachmittags blieb. Nach 6 Uhr lief bei der Zuchthaus- direktion eine Depesche aus Sondershausen ein, nach welcher sich Widmann beim dortigen Magistrat gemeldet hatte. In der Zwischenzeit hatte er seine guten Anstalts-Schnürschuhe und die wollene Anstalts- ünterhose veräußert und ein paar Stiefeletten und einen alten zer- rissenen Rock dagegen eingetauscht.

Über diesen Fluchtversuch machte Widmann die verschiedensten

Verbrecher-Lebenslaufe. 165

Aussagen. Vor Allem wollte er, daß man ihm die Ketten wieder ab- nehme. ,,Dann will ich die Wahrheit eingestehen, sonst nicht, und wenn ich die Wahrheit nicht selbst sagen will, erfährt sie auch nie- mand. Wenn ich die Ketten nicht abgenommen kriege, sage ich auch nichts und wenn mir nicht geglaubt wird, brauche ich ja auch nichts zusagen". Dann wollte er die Wahrheit nicht sagen „und wenn er gleich im Anest verrecken müsse". Disciplinarstrafe : 14 Tage Dunkelarrest

Gegen Ende des Jahres 1897 wurde Widmann beim Waschen beschäftigt. Für einen ausscheidenden war kein anderer Wäscher eingestellt worden, was dem Widraann nicht paßte. £r wollte des- halb, daß die Wäscher mit der Wäsche zurückbleiben, sie nicht voll- ständig waschen sollten. Auch wusch er schlecht. Am 1. Dezember fand der Oberaufseher, daß eine Anzahl Hemden sehr schlecht ge- waschen worden waren. Er brachte dieselben zu den Wäschern zu- rück und machte ihnen Vorhaltungen. Keiner von ihnen wollte die beanstandeten Hemden gewaschen haben, bis plötzlich Weidmann höhnisch erklärte: Na, da habe ich sie gewaschen.

Der Gefangene Schlag hatte beobachtet, daß Widmann nur eine Seite an den Hemden gewaschen hatte, und dem Gefangenen Lauter- bach, welchem die Aufsicht beim Waschen oblag, dies mitgeteilt. Lauterbach hatte schon vorher gemerkt, wie schlecht Widmann wusch, er hatte sich aber bis dahin gefürchtet, Widmann etwas darüber zu sagen, weil derselbe ihm mit Schlägen gedroht hatte. Nun fing am 2. Dezember Widmann im Waschhause mit Schlag Streit an, schimpfte ihn und packte ihn an der Gurgel. Da pochte Lauterbach an der Tür und der herbeieilende Hausmeister stellte die Ruhe wieder her. Dabei ergab sich, daß Widmann seine Kameraden mit Durchprügeln bedroht hatte. Er wolle nur erst Weihnachten vorbei lassen, dann wolle er jedem von ihnen einmal das Fell recht aushauen. Sämmt- liche Wäscher hätten sich vor Widmann gefürchtet. Auch mit den Waschbürsten trieb Widmann seinen Unfug. Nach und nach steckte er deren drei in den Ofen unter dem Kessel. Wenn es auch abge- nützte Bürsten waren, so mußten sie doch vorgelegt werden, um Er- satzbürsten dafür zu erhalten. Einer der Wäscher, Müller II, machte ihm deshalb Vorwürfe, worauf er erklärte, er wolle sagen, es seien keine Bürsten in's Waschhaus gekommen. Natürlich wäre diese Aus- rede sofort schon durch das Inventarverzeichnis widerlegt worden deshalb wollte er später Schlag beschuldigen, die Bürsten weg- gebracht zu haben. Als der Oberaufseher mit den Wäschern wegen der schlechten Wäsche verhandelte, erklärte Widmann auch, er könne die Hemden nicht reiner waschen, indem er keine Bürsten hätte.

166 IV. SiEFERT

Der Vorgang hatte dauernde Isolierung Widmanns zur Folge neben sechs Tagen schmaler Kost.

Das Landgericht Gotha verurteilte ihn 1896 wegen falscher Anschuldigung zu 9 Monaten Gefängnis und das Landgericht Erfurt 1897 wegen Diebstahls i. w. R zu 6 Monaten Gefängnis. Die erste Strafe verbüßte er im Gerichtsgefängnisse zu Ichtershausen vom 21. April 1898 ab.

Eines Tages im Juni nahm ihm der Mitgefangene Förster ein Klopfeisen weg, weil er damit einen anderen Mitgefangenen schlagen wollte und da sagte Förster „Widmann ein unverträglicher Mensch ist und wir im Eorbsaale beschäftigten Gefangenen uns schon immer in Acht vor ihm genommen und fast gar nicht mit ihm ge- sprochen haben''. Am 4. Juli beim Weidenholen schlug Widmann den Gefangenen Döring und dann mit einem Knüppel den Gefan- genen Werner über das Kreuz. Werner erzählte dann dem Förster, daß Widmann ihn mit dem Klopfeisen schlagen wolle. Nach kurzem Wortwechsel gingen Widmann und Förster auf einander los, Wid- mann erfaßte ein Schnitzmesser und hackte damit nach Förster, wo- bei er ihm am linken Unterarm eine 10 cm lange Schnittwunde bei- brachte. Später zerschlug Widmann in der Zelle, in die er gebracht wurde, aus Wut seinen Eßnapf. Als am Morgen des 6 August der Aufseher ihm in der Zelle Rohr zur Verarbeitung geben wollte, trat ihm Widmann mit den Worten entgegen:

^Machen Sie, daß Sie 'naus kommen oder ich schmeiße Sie

mit samt dem Bohr die Zelle 'naus. Als der Aufseher die Zelle schließen wollte, riß Widmann die Tür auf und schlug sie ihm ins Gesicht und rief:

„Ich bin schon im Zuchthause gewesen, Ihr macht mich hier

nicht mürbe**. Beim Direktor leugnete er zwar im Wesentlichen und wollte wegen Schmerzen in den Fingern die Bohrarbeit nicht mehr machen können, im aufgeregtem Tone fing er aber an zu räsonieren und sagte:

„Ihr macht mich nicht mürbe. Ihr könnt machen, was Ihr

wollt. Ihr wollt es wohl so machen, wie in Gräfentonna. Ich

verlange andere Arbeit, ich will Kuverte machen" u. s. w. Am Nachmittage des 16. September 1898 sang und pfiff Wid- mann laut in seiner Zelle. Als ihm ein Aufseher dies verwies, sagte er in lautem Tone zu ihm:

„Sie haben mir nichts zu befehlen und können mir den

Buckel hinaufsteigen. Mehr wie Arrest könnt Ihr mir doch

nicht geben".

Verbrecher-Lebenslaufe. 167

Fortwährend und allen Zurechtweisungen zum Trotze störte er durch lautes Rufen und Johlen und durch heftiges Pochen gegen die Zellentüre die Buhe. Am Morgen des 18. September lag er auf seinem Bette, die Aufforderung, aufzustehen, beantwortete er mit den Worten:

^Da sind sie ja schon wieder, die verfluchten Hunde, die wollen mich tot schlagen, ich werde verfolgt. Gott, hilf mir! Die verfluchten Gespenster".

Beim Ausgehen rief er dem Kalfaktor zu: ,, Guten Morgen, Herr Regierungspräsident".

Nachdem die Zelle wieder geschlossen war, warf er den Topf mit dem Essen gegen die Tür. Vom Spazier- und Kirchgang blieb er zurück, indem er äußerte:

„Ach was, mir hat niemand etwas zu sagen; ich bleibe in meiner Bude".

Als er am Tage darauf dem Arzt vorgeführt werden sollte, sagte er, er sei krank. Dem ihn besuchenden Arzte erklärte er, er sei Ravachol aus Paris, sei Anarchist, 4 Jahre „hier" wegen Leichen- schändung. Der Anstaltsarzt erklärt unter Vorbehalt eines abschliessen- den Urteils, daß Widmann den Eindruck eines geistesgestörten, vor- wiegend an Verfolgungsideen leidenden Menschen macht. Meist ver- hielt Widmann sich dann ruhig. Am 10. Oktober empfing er seine Winterkleider; als er in die Zelle zurückkam, zog er die Jacke aus und zerriß sie vor den Augen des Aufsehers mit den Worten: Solchen Bruch kann ich nicht brauchen. Am 10. Oktober erklärte der Arzt:

„Die Beobachtung des Gef. Widmann hat ergeben, daß der- selbe nicht geistesgestört ist, gleichwohl kann nicht an- genommen werden, daß der Gefangene die anfänglichen Er- scheinungen simuliert hat. Widmann scheint erblich be- lastet zu sein und soll sorgfältig beobachtet werden. Der Gefangene bleibt noch einige Tage zu Bett".

Widmann erklärte zu der letzten Anordnung, das Bettliegen könne ihn nicht kurieren, er wolle frische Luft und anderes Essen. Am 10. November verweigerte er die Arbeit des Federschleißens; von dem Anstaltsvorstande ließ er sich nicht belehren, sondern erging sich in nngebührUchen Redensarten. Er äußerte:

„Gebt mir die Arbeit, welche ich kann; die Federn rupfe ich nicht, ich habe andere Arbeit zu verlangen. Ich weiß aber, warum ich nicht herauskomme; Ihr denkt, ich schlage einen tot. Feige seid Ihr, feige seid Ihr".

168 IV. SlEFERT

Beim Abführen äußerte er:

„Es soll mich nur ein solcher Hund angreifen, ich beiß ihm gleich die Nase weg, daß er zeitlebens geschändet ist.

Am 13. Novbr. 98 nach dem Kundgange des Direktors jodelte er in seiner Zelle zweimal laut auf. Am 21. Dezbr. erfolgte seine Überführung nach Erfurt behufs Vollstreckung der dort gegen ihn erkannten Strafe von 6 Monaten Gefängnis.

Etwa im Januar 1900 hielt Wiedemann beim Landwirt Reinhold Eudolf zu Geresdorf bei Saalfeld um Arbeit an. Nach einigen Tagen, an denen er arbeitete, ließ er sich in das Krankenhaus zu Gräfenthal aufnehmen, von wo er am 16. Februar zurückkehrte. Am 24. Februar gegen 11 Uhr vormittags ging Rudolph nach Saalfeld, nachdem er mit Wiedemann gefrühstückt hatte. Irgend welche Differenzen waren zwischen ihnen nicht vorgekommen. Zu Mittag erschien Wiedemann nicht ungerufen, er arbeitete im Garten. Die Mutter der Frau Rudolph schickte ihre fünfjährige Enkelin Martha Rudolph ab, um Wiedemann zum Essen zu holen. Dieser hat sich dahin geäußert:

„Ich wollte erst nicht kommen, weil ich keinen Hunger hatte, bin dann aber doch mitgegangen. Martha sagte mir auf dem Wege, ihr Vater hätte ihr gesagt, er könne ihn nicht mehr brauchen.^

Martha Rudolph hat, soweit etwas aus ihr herauszubringen war, bestätigt, zu Wiedemann gesagt zu haben, daß er gehen könne. Vor der Haustüre sagte dieser laut vor sich hin:

„wenn sie (sc. die Frauen) nichts drin gehabt hätten, könne das Mädchen nicht sagen, er solle fort."

Frau Rudolph erwiderte ihm, sie hätten nichts über ihn gehabt, er brauche nicht fort, es habe ihm ja niemand etwas zu leid getan, worauf er erklärte, daß es überall Arbeit gebe. Frau Rudolph ent- gegnete, daß ihr Mann ihr bereits mitgeteilt habe, er wolle nicht länger als acht Tage arbeiten. Nach dem Mittagsessen zog sich Wiedemann an und verlangte dann von der Schwiegermutter Rudolphs, der Wittwe Köhler, seine Papiere, welche ihm sagte, daß sie sie nicht habe. Darauf ging er zu Frau Rudolph, die auf dem Boden war. Er wiederholte das Verlangen nach seinen Papieren, aber auch Frau Rudolph hatte sie nicht und sagte ihm, er müsse warten, bis ihr Mann käme. Kurze Zeit darauf ging er, die brennende Zigarre im Munde, über den Hof in den Pferdestall, dann legte er sich müßig in den Garten. Hierauf erschien er wieder in der Wohnstube, in der sich jetzt beide Frauen befanden, und verlangte seinen verdienten

Verbrechor-Lehenalaufe. 169

Lohn. Frau Rudolph sagte zu ihm: Sie haben keine Ursache fort- zugehen, worauf er antwortete:

„Ursache genug mit dem Kinde. Es hat gesagt, ich könne geben, das kann ich behaupten/^

Beide Frauen bestritten, daß sie etwas derartiges gesagt hätten, er aber blieb bei seiner Behauptung und wurde schließlich so böse, daß er in die Hände spuckte, diese rieb und auf die ältere Frau los ging. Frau Rudolph packte ihn vorn am Rockkragen und forderte ihn auf, die Stube zu verlassen, worauf Wiedemann sie mit der flachen Hand ins Gesicht schlug und auf den Hof ging. Hier hob er mit den Worten „Mensch verdammtes" eine Mistgabel in die Höhe, ließ sie aber wieder fallen, als er das Dienstmädchen erblickte.

Wiedemann erklärte in der Voruntersuchung, daß er sofort von Rudolph habe weggehen und dessen Rückkehr nicht habe abwarten wollen, weil dieser meist erst in der Nacht zurückgekommen sei. Er ging auch weg, trank in der Schänke einen Schnaps, wanderte dann nach Saalfeld, von wo er gegen 5 Uhr zurückkehrte. Er be- gab sich in den Rudolphschen Garten, wo er, wie er später sagte, die Absicht faßte, das Rudolphsche Haus in Brand zu setzen, um sich für die Weigerung der Lohnauszahlung und Papierherausgabe zu rächen.

Er raufte eine Hand voll dürren, im Garten stehenden Grases aus, schwang sich in dem Winkel, den das Rudolphsche Haus mit der Scheune des Nachbars Gutheil bildet, auf den 1 Meter über dem Boden befindlichen Mauervorsprung der Scheune, steckte von hier aus das Gras unter die Bretterbekleidung des ersten Stockwerkes des Rudolphschen Hauses, zündete das Gras mit einem schwedischen Streichholze an und entfernte sich, nachdem er gesehen, daß dasselbe Feuer gefangen hatte.

Der Nachbar Gutheil gewahrte es war zwischen V2 und ^u 6 Uhr von seinem Hofe aus den Rauch und Feuerschein. Auf seinen Feuerruf erschien Frau Rudolph, schöpfte aus dem vorbei- fließenden Bache Wasser, welches sie nach dem Feuer schleuderte, das Gras fiel zu Boden und das Feuer erlosch. Die vom Feuer er- griffenen Balken und Bretter waren etwa 1 cm tief angekohlt.

Wiedemann wurde gegen 7V2 Uhr oberhalb des Dorfes auf dem benachbarten Kaimberge von einem Geresdorfer Einwohner verhaftet und erzählte dem ihn in das Amtsgericht zu Saalfeld transportierenden Feldjäger, er wäre dumm gewesen, daß er nicht das Stroh auf den Schweineställen angezündet habe.

170 IV. SiEFERT

Wiedemann— Narr wurde am 26. März 190Ü vom Schwurge- richte zu Rudolstadt wegen Brandstiftung zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. In den Entscheidungsgründen hob das Gericht hervor, daß der Angeklagte durch seine kaltblütig begangene Tat die größte Gleichgültigkeit gegen das Vermögen vo^ Leuten an den Tag gelegt habe, bei denen er Arbeit gefunden, und daß ihm offenbar der Sinn für Recht und Unrecht vollständig abhanden gekommen sei.

Am 3. April 1900 wurde Wiedemann Narr in das Zuchthaus zu Untermaßfeld eingeliefert. Am 6. Juni stellte er ohne triftigen Gmnd die Arbeit ein, was sich dann öfter wiederholte, am 25. Juni schlug er aus. geringfügigem Anlasse einem Mitgefangenen ins Ge- sicht. Auch am 17. November stellte er plötzlich die Arbeit ein, er verlangte zum Direktor geführt zu werden, gegen einen Mann könne er sich wehren, aber nicht gegen sechs oder sieben. Man sei seines Lebens nicht sicher. Er beantragte seine Isolierung, welche erfolgte. Am 10. Dezember verbarrikadierte er seine Zellentür, er fürchtete, daß er umgebracht, vergiftet werde, denn nachts ständen immer Leute vor seiner Zellentür, der Aufseher Seh. und der Kirchenrat, letzterer banne ihn immer, so daß er nicht arbeiten könne; er solle einen Mord begangen haben, aber er könne doch nicht eingestehen, was er nicht begangen habe. Am 11. Januar 19.01 zerbrach er seinen Krug, weil der Kaffee, den er daraus trank, nach Seife schmeckte.

Zunächst wurde Simulation Wiedemanns vermutet. Als aber im Februar 1901 ein sehr erregter Zustand bei ihm eintrat, er zu Ge- walttätigkeiten sich geneigt zeigte und die Ruhe und Ordnung des Hauses störte, wurde mit „höchster Wahrscheinlichkeit auf das Vor- handensein einer Geistestörung geschlossen.^

Am 6. März 1901 wurde er in die herzogliche Irren-Heil- und Pflegeanstalt übergeführt, von wo am 10. April mitgeteilt wurde, daß Wiedemann an zahlreichen Täuschungen im Gebiete des Gehörsinnes und des Gemeingefühls sowie daraus sich herleitenden Wahnvor- stellungen leide. Er glaubte von der Decke her die Stimme des Geistlichen in Untermaßfeld zu hören, der ihn dort durch Vermittlung eines besonders dressierten fremdartigen Vogels, welcher ihn nach Untermaßfeld begleitet habe und nicht verlasse, für seinen Sohn er- klärt habe. Wiederholt legte er sich in Folge davon andere Namen bei. Er hörte Zurufe feindseligen und bedrohlichen Inhaltes, wähnte vergiftet und ermordet zu werden und trat in Reaktion auf solche Täuschungen mitunter sehr heftig und drohend auf. Er wollte z. B. irgend jemand ermorden, ehe man ihn selbst ums Leben bringen

Verbrecher-Lebenslaufe. 171

könne. Daneben äußerte er sich gelegentlich entrüstet und wütend über Mißhandlungen und Quälereien, die auf elektrischem Wege an ihm ausgeübt würden.

Am 5. Juni 1901 entwich er aus der Anstalt und trieb sich dann bettelnd umher, am 10. Juni wurde er von Sonneberg aus zurückgebracht

Widmann Narr war unzweifelhaft geisteskrank. Die Krankheit wurde zunächst als akutes, hallucinatorithes Irresein bezeichnet, später aber ausgesprochen, daß die Verlaufsweise der Geisteskrankheit Wid- manns einen chronischen Charakter an sich trage. Am 29. Septbr. 1902 wurde er in die königl. sächs. Anstalt zu Waldheim überge- führt, von wo am 16. März 1903 erklärt wurde, daß Widmann an unheilbarer Geisteskrankheit leide.

3. Der Schlosser Albert Z ö b i s c h aus Lengenfeld, geb. am 23. August 1874, zuerst bestraft vom Schöffengericht zu Heilbronn am 13. Dezbr. 1893 wegen Diebstahls mit 1 Tag Gefängnis, dann 18 9 4 und 18 9 5 in Dresden, Glückstadt, Schwarzenbeck, Kiel, Schleswig, Leipzig wegen Betteins und am 19. Dezember 1896 vom Landgerichte Gera wegen 3 vollendeter und 3 versuchter schwerer Diebstähle mit 2V4 Jahren Zuchthaus, wurde am 14. Sep- tember 1901 vom Landgerichte Weimar trotz seines Leugnens wegen vollendeten und versuchten schweren Diebstahls i. w. R., begangen mittelst Einbruches, Einsteigens und Erbrechens von Behältnissen, sowie mittelst Anwendung von zur ordnungsmäßigen Oeffnung von Gebäuden und im Innern derselben befindlichen Behältnissen nicht bestimmten Werkzeuge zu einer Zuchthausstrafe von 8 Jahren ver- urteilt (§ 73 StG.B.).

Die Geraer Strafe verbüßte er im Zuchthause zu Untermaßfeld bis 19. 3. 1899. Bei seiner neueren Verhaftung am 13. 3. 1901 erklärte er vor der Polizei Weimar: Seitdem (19^ 3. 99) habe ich keinen festen Wohnsitz und auch keine ständige Arbeit, ich bin meistens auf Beisen. Vom März bis Oktober 1899 zog ich mit dem Karusselbesitzer Sachs aus Gotha umher, vom 1. 24. Februar 1900 war ich in Gotha, von Pfingsten ab etwa 5 Wochen in Untersuchungs- haft, im Frühjahr 2 Monat und im Herbste 1 Monat beim Karussel- besitzer Moll in Hannover in Stellung. In der Zwischenzeit habe ich, immer auf Reisen, die von mir und einem Bekannten, Klempner Zieger erfundenen „Kunstringe" angefertigt und im Umherziehen vertrieben. Einen Wandergewerbeschein hatte ich nicht, ich bekam keinen. Neuerdings habe ich die Kunstringe nicht selbst angefertigt, sondern von Zieger bezogen. Ich bezahle für das Dutzend 10 M.,

172 IV. SiEFERT

verkaufe das Stück für 2 M. und 2 M. 50 Pf. oder verdiene noch mehr durch Wetten.

Zöbisch gab zu^ in Dänemark Diebstähle verübt zu haben. Daher sollte das Geld stammen, welches er bei sich führte, und seit jener Zeit wollte er die bei ihm gefundenen Dietriche und sonstigen Diebshandwerkszeuge besitzen. Die ihm abgenommenen Lichtstümpfe wollte er bei sich führen, weil er immer in fremden Häusern schlafe und der Lichter bedürfe, um sich nachts zurechtzufinden. Über seinen Aufenthalt in einer bestimmten, eine Woche zurückliegenden Nacht befragt, erklärte er nach seiner am 13. 3. 1901 erfolgten Festnahme: „Ich bin augenblicklich wirklich nicht in der Lage, anzugeben, wo ich in der Nacht vom 5./6. März 1901 war. Ich werde später schon mit dem Herrn Untersuchungsrichter überein- kommen'^ In Bezug auf Diebstähle, die einige Tage später in Apolda und Jena verübt waren, sagte er:

„Ich habe nichts damit zu tun und bin vorige Woche weder in Apolda noch in Jena gewesen. Meine Beweise werde ich zuletzt bringen, da wird sich 's zeigen'^. Gegen den Amtsrichter ließ er sich dahin vernehmen:

^;Ehe ich genauere Angaben mache, muß ich mir die Sache erst überlegen", gegenüber dem Untersuchungsrichter des Landgerichts Weimar aber erklärte er:

„Nähere Zeitangaben kann ich überhaupt nicht machen, ich muß mir meine ganzen Reisen erst noch überlegen'' und auf den Vorhalt, daß er seit der polizeilichen Vernehmung doch Zeit genug dazu gehabt habe:

„er sei noch nicht ins Reine gekommen". Am 6. April zeigte der Gefangenmeister an, daß Zöbisch seit zwei Tagen den Verrückten spiele. Er werfe die in seiner Zelle be- findlichen Gegenstände umher, habe sein Lesebuch zum Fenster hin- ausgeworfen, trete fortwährend nach der Zellentür, pfeife auf den Fingern. Wenn man zu ihm in die Zelle komme, habe er den Haftbefehl in der Hand, sage, er verstehe das nicht, er wolle fort, es wäre das letzte Mal, daß er sein Essen nehme. Es wurde der I^ndgerichtsarzt um Äußerung über den Zustand des Angeschuldigten ersucht. Dieser erklärte am 7. April, er habe Zöbisch untersucht, Schlaf und Appetit seien nicht gestört, das Gedächtnis hätte an- scheinend nicht gelitten. Einige verkehrte Handlungen Verstecken unter dem Bett, sinnloses Schwätzen machten den Eindruck, daß

Verbrecher-Lebenslaufe. 173

es sich um wohl überlegte Verkehrtheiten handele. Zwangsvor- stellungen fehlten. Der Arzt hatte den Eindruck, daß Zöbisch simuliere, er falle oft aus der Bolle des wilden Mannes heraus. Am 9. Mai berichtete der Gefangenmeister, daß der Angeschul- digte sich seit einigen Tagen wieder aufgeregt benehme. Er habe den Strohsack und sein Eopfkeilkissen zerrissen, von seiner wollenen Decke einen Streifen heruntergerissen, das Luftfenster der Zelle berabgerissen. Der Untersuchungsrichter vernahm ihn über diese Sachbeschädigungen, welche er mit dem Bemerken zugab, „er bandle manchmal wie im Traum^. Es folgte eine Disziplinar- strafe (hartes Lager), nachdem der Arzt sich dahin geäußert hatte, daß sie ohne Schaden für den Gefangenen geschehen könne. Sie wurde in den Nächten vom 13./14. und 15./16. Mai vollstreckt

Schon am 13. Mai erscheint eine neue Meldung des Gefangen- meisters: „Zöbisch hat in verflossener Nacht in einer solchen Weise getobt, daß sämtliche Insassen sowie die Bewohner des Hauses keine Ruhe gehabt haben. Derselbe hat wie ein wildes Tier gebrüllt, den Stuhl zerschlagen, sich nackt ausgezogen und dann alles zum Fenster hinausgeworfen. Auch fing derselbe an, den Kalk an den Wänden abzustoßen und die Mauersteine blos zu legen. Heute morgen, als ihm die Bekleidung wieder angeboten worden war, hat er sich wieder angekleidet". Nach Bedrohung des Angeschuldigten mit neuen Disziplinarstrafen legte der Untersuchungsrichter die Akten dem Landgerichtsarzte von neuem vor. Derselbe erklärte am 14. 5. 1901: „Der Unterzeichnete hat den Gefangenen Zöbisch schon ein- mal auf seine Zurechunngsfähigkeit untersucht; er war zu der Auffassung gekommen, daß Simulation vorliege. Jetzt kehrt derselbe Ideenkreis wieder, nachdem der Gefangene sich ruhig und verständig gehalten hat. Ich habe Zweifel, daß nur Simulation vorliegt und empfehle Beobachtung in der psychiatrischen Klinik". Nach Zöbisch's Überführung in die Jenaer Klinik am 12. Juni fragte die Staatsanwaltschaft Mitte Juli bezüglich des Ergebnisses der Beobachtung an, worauf unter dem 17. Juli erwidert wurde, daß während der ersten Zeit seines Aufenthaltes krankhafte Erregungs- zustände bei Zöbisch wahrgenommen worden, daß dieselben aber zur Zeit geschwunden seien. Er benahm sich jetzt ruhig und geordnet, mache aber dabei den Eindruck eines listigen und verschlagenen Menschen. Erkundigungen bei seinen Lehrern hätten ergeben, daß er während der Schulzeit ein ordentlicher Junge gewesen, aber in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben sei.

174 IV. SiEFERT

Über den GeisteszuBtand zur Zeit der Begehung der Strafhandlungen vermöge man ein Urteil nicht abzugeben. Das Gutachten der An- staltsdirektion ging am 27. Juli ein. Dasselbe ging dahin, daß Zöbisch sowohl jetzt als auch zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen geistig gesund war. Doch wurde nochmals darauf auf- merksam gemacht, daß es sich um einen Menschen handele, der in seiner geistigen Entwickelung zurtLck geblieben sei und einen aus- gesprochenen ethischen Defekt zeige.

Er hatte angegeben, daß er in seiner Jugend an Erampfanfällen gelitten habe, keiner seiner Lehrer hatte sich jedoch erinnern können, daß er jemals einen solchen gehabt habe. Dagegen war seine An- gabe bestätigt worden, daß seine Schulleistungen stets unter dem Normalmaße zurückgeblieben und er in der Schule nur bis zur zweiten Klasse kam. Nach seiner Schulzeit war er zunächst drei Jahre bei einem Schlosser in der Lehre. Dann arbeitete er bei ver- schiedenen Meistern, teils war er auf der Wanderschaft Er kam da- bei nach Dänemark, Bayern, fuhr einmal als Heizer nach New- York. Alkoholismus gestand er zu.

In psychischer Beziehung zeigte er sich in der Irrenanstalt an- fangs ruhig und geordnet, etwas stumpf und gleichgültig. Den Cha- rakter der Anstalt wollte er anfangs nicht kennen, er schloß erst in umständlicher Weise darauf aus den Beobachtungen an den Mitbe- wohnern des Zimmers. Doch war ihm der seine Einlieferung in eine Irrenanstalt anordnende Beschluß der Strafkammer zugestellt worden.

Am 18. Juni änderte sich sein Verhalten. Sein Gesichtsausdruck erschien bei der Unterhaltung blöde, erstaunt, fragend; er verstand die an ihn gerichteten Fragen nur schwer, gab langsam und zögernd irre Antworten. In der Nacht zum 19. Juni schlich er auf Händen und Füßen aus seinem Bett in das offenstehende Nebenzimmer und versuchte, die dort liegende Zeitung an sich zu nehmen. Darüber am andern Tage vernommen, gab er an, es sei wie ein Anfall, wie ein innerer Trieb über ihn gekommen, er habe sich im Bette gelang- weilt und die Zeitung lesen wollen. Später entsinnt er sich angeblich des Vorganges nicht. Am 22. Juni morgens lag er mit aufgeregtem, schmerzlich verzogenen Gesicht im Bett, seufzte und hielt die Hand vor die Stime. Die Frage, weshalb er so aufgeregt sei, ließ er erst unbeantwortet, dann sagte er: „weil ich die Beligionssachen nicht verstehe". Er eignete sich Gebärden und Redensarten von Mit- patienten an, stellte sich verwirrt, behauptete zuweilen, es sei ihm so wunderbar, gerade wie Anfälle. Einige Male wurde er agressiv gegen den Wärter. Als dieser einen anderen Kranken zu Bett

Verbrecher-Lebenslaufe. 175

brachte, warf er ihn von hinten zu Boden. Nachdem der Arzt in seiner Gegenwart öfters bemerkt hatte, daß er, falls er geisteskrank sei, dauernd in einer Irrenanstalt untergebracht werden müsse, ver- hielt er sich seit Anfang Juli klar, ruhig und geordnet.

Der Psychiater erklärte, daß die Erregungszustände während der Untersuchungshaft und die eigenartigen Verwirrungszustände und sonstigen scheinbaren psychischen Anomalien, die er in der Klinik bot, durchaus den Stempel des Gemachten, der Simulation trügen. Spreche schon die Raffiniertheit, mit der die Diebstähle ausgeführt wurden, und das planmäßige Vorgehen dabei gegen die Annahme, daB Zöbisch zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen geisteskrank gewesen wäre, so werde diese Annahme völlig hinfällig durch das Lügengewebe, in das er sich bei seiner Vernehmung ver- strickte. Dadurch, daß er den Ärzten einen Teil der Diebstähle zuge- geben habe, sei auch erwiesen, daß keinerlei Erinnerungsstörung vorliege.

Nachdem das urteil rechtskräftig geworden war, wurde Zöbisch am 12. Dezember 1901 in das Zuchthaus zu Untermaßfeld ein- geliefert. Der dortige Anstaltsarzt äußerte sich in einem Berichte vom 3. Mai 1902 dahin:

„Schon anfangs Januar d. J. machte sich Zöbisch durch sein absonderliches Wesen und seine albernen Reden so auffällig, daß er den Eindruck eines Geisteskranken machte, vorerst aber wegen der früher mit ihm gemachten Erfahrungen für einen Simulanten gehalten wurde. Nachdem aber der Zustand des Zöbisch auch jetzt nach vier Monaten noch unverändert fortbesteht, dürfte an dem wirklichen Vor- handensein einer Geistesstörung nicht mehr zu zweifeln sein."

Dieses Gutachten wurde dem Direktorium der Jenaer Irrenanstalt zur Äußerung mitgeteilt. Dasselbe erwiderte, daß bei der geistigen Veranlagung des Zöbisch die Entstehung einer Geistesstörung in der Einzelhaft sehr wohl im Bereiche der Möglichkeit liege, daß jedoch auch sehr wohl die Möglichkeit bestehe, daß Zöbisch, um sich der strengen Zuchthausstrafe zu entziehen, erneute Täuschungsversuche mache.

Es erfolgte nunmehr die Wiedereinlieferung des Zöbisch in obige Anstalt, deren Direktor am 20. Juni 1902 mitteilte, das Zöbisch sich zwar wesentlich beruhigt habe, aber noch eine ganze Reihe von Krankheitserscheinungen äußere. Unter dem 22. August 1902 wurde festgestellt, daß bei ihm zur Zeit eine psychische Störung bestehe, und unter dem 26. Oktober 1902, daß er an einer chronischen Geistes- störung leide. Am 16. Februar 1903 wurde er in das Karl-Friedrich s- Hospital zu Blankenhain übergeführt, dessen Direktorium Anfangs Septbr. 1904 sich dahin äußerte, daß Zöbisch noch sehr halluciniere.

V. Ein unwahres Geständnis.

Von

Rechtsanwalt Dr. Kroch in Leipzig.

Am 9. April 1905 nachmittag begaben sich die Th.schen Ehe- leute mit ihren Kindern in die Kirche. Sie beabsichtigten, nach dem Gottesdienste Verwandte zu besuchen, und beauftragten die im August 1881 geborene und bisher unbestrafte Angeklagte Seh., eines ihrer Dienstmädchen, die Kinder um 7 ühr von der Kirche abzuholen. Von ungefähr V2Ö Uhr ab, wo die Th.schen Eheleute weggingen, bis gegen ^^47 Uhr war die Angeklagte in der Th.schen Villa allein. Sie ging alsdann direkt zur Kirche, wo sie um 7 Uhr eintraf, wartete daselbst bis gegen ^/48 ühr, da der Gottesdienst nicht früher beendet war, und kam gegen 8 Uhr mit den Kindern in die Villa zurück.

Hier war nunmehr, nachdem erleuchtet worden war, folgendes wahrzunehmen :

1., Es war versucht worden, einen Herrenschreibtisch und einen Damenschreibtisch zu erbrechen, in welchen regelmäßig Geld und damals ungefähr 900 M. und ,800 M. aufbewahrt waren ; ein 1 cm breites Stemmeisen war zwischen die Fächer, in welchen das Geld lag, und die darüber liegenden Platten mehr- fach gewaltsam gestoßen und alsdann allerdings erfolglos der Versuch gemacht worden, diese Behältnisse aufzusprengen. Der Gebrauch des Stemmeisens hatte wesentliche Spuren zurück- gelassen; an dem Damenschreibtisch allein waren acht verhält- nismäßig tiefe Eindrücke und in sämtliche paßte genau das zum Haushalte der Th.schen Eheleute gehörige Stemmeisen. 2., Das in der Wohnstube hängende Schlüsselschränkchen war er- brochen, diesem gerade der Vertikowschlüssel entnommen und hiermit der Vertikow geöffnet worden. 3., In die Scheibe eines im Erdgeschosse gelegenen Fensters, zu dem man von den zum Hauseingang führenden Stufen aus ohne Hindernis gelangen konnte, war am Wirbel ein größeres

Ein unwahres Geständnis. 177

Loch geschlagen. Die Glasscherben lagen auf dem Fenster- sims. Durch das Loch konnte man von außen nach dem Fensterwirbel greifen und diesen so umdrehen, daß man das Fenster zu öffnen und ohne große Schwierigkeit durch Ein- steigen in sämtliche Räume der Villa zu gelangen vermochte. 4^ In der im IL Obergeschoß befindlichen Mädchenkammer war auf dem in der Nähe des Fensters stehenden Leinwandschemel ein linker Damenstiefel in Schmutz abgedrückt, welcher nach der Überzeugung des Eriminalschutzmanns dieselbe Form, wie der linke Stiefel der Angeklagten, aufwies; außerdem waren auf dem Fensterbrett 2 größere Schmutzflecken. 5., Kleinere im Vertikow befindliche Geldbeträge, auf dem Damen- Schreibtisch offen liegende Silber- und Nickelmünzen im Ge- samtbetrage von ungefähr 10 M. und verschiedene in der Wohnung umherstehende Silbersachen waren nicht berührt; es war überhaupt nichts gestohlen worden. Es unterlag keinem Zweifel, daß ein schwerer Diebstahl von einer mit den Th.schen Verhältnissen vertrauten Person versucht worden war. Der Verdacht lenkte sich sofort auf die Angeklagte, da sie von V26 ühr bis ^lil ühr allein in der Villa war, und sie fühlte dies, denn sie sagte noch an demselben Abend kurz nach 9 Uhr zu dem mzwischen nach Hause zurückgekehrten anderen Dienstmädchen: „Na, nun wird wohl der Verdacht auf mich kommen!" Sie wurde hierauf von einem Kriminalschutzmann, der die nunmehr von mehreren Schutzleuten bewachte Villa durchsucht hatte, befragt und gab eine ausführliche Darstellung ihrer Wahrnehmungen, stellte aber jede Schuld in Abrede. Am folgenden Tage wurde sie in dem Dienstzimmer der Kriminalabteilung eingehend vernommen. ^Sie wiederholte ihre früheren Angaben und bestritt wiederum jede Schuld, obwohl ihr „auf den Kopf zugesagt worden war, daß nur sie die Täterin und ihre Er- zählung erlogen wäre.^ An demselben Tage nachmittags fand in Gegenwart der Angeklagten nochmals eine genaue Besichtigung der Villa durch den Kriminalschutzmann statt; die Angeklagte blieb hier- bei auf Befragen wieder bei ihren früheren Angaben stehen.

An demselben Tage abends in der 8. Stunde redete Th. der An- geklagten zu, sie sollte doch der Wahrheit die Ehre geben und die Tat^ die ja weiter niemand wie sie begangen haben könnte, zuge- stehen; so viel an ihm läge, sollte alles getan werden, daß sie keinen Nachteil davontrüge.

Die Angeklagte gab daraufhin die Tat zu und erklärte dabei : „Na, nun ist mir ein Stein vom Herzen^ ; „hoffentlich nimmt Herr Th. zurück^

Arehir Ar Kriminaluithropologie. 27. Bd. 12

178 V. Kroch

oder „hoffentlich kommt es nicht zur Anzeige." Hierauf erzählte sie, aufgefordert von Th., die Ausführung der Tat in allen Einzelheiten und gestand, daß sie sich Geld verschaffen wollte und an der Voll- endung des Diebstahls verhindert worden wäre, da sie die Kinder hätte abholen müssen'; um den Anschein zu erwecken^ als hätte ein Fremder einen Einbruch begangen, hätte sie mit einem Messer die Fensterscheibe eingeschlagen und in der Mädchenkammer auf dem Fensterbrett und dem Leinwandschemel die Spuren durch Anstreichen von Schmutz angebracht.

Am folgenden Tage hat die Angeklagte dem Kriminalschutzmann gegenüber das Geständnis in seinem ganzen Umfange wiederholt. Hierauf wurde sie noch an demselben Tage aus dem Dienst entlassen. Sie ging auch, nachdem sie ihrer Dienstherrin gegenüber nochmals das Geständnis abgelegt hatte, selbstverständlich ohne eine Entschädi- gung für Lohn, Kost und Logis zu erhalten. Sie verließ ihren bis- herigen Aufenthaltsort und begab sich nach Leipzig zunächst zu ihrer verheirateten Schwester und später wieder in Stellung.

Bei der richterlichen Vernehmung am 5. Mai 1905 hat die An- geklagte das Geständnis widerrufen. Sie erklärte: „Mein Geständnis habe ich nur aus Angst abgelegt. Meine Schwester hat auch gesagt, es wäre eine große Dummheit von mir, daß ich gestanden hätte, und hat mich deshalb tüchtig ausgezankt" usw.

Ende Mai 1905 beauftragte mich die Angeklagte unter Über- reichung der Anklageschrift mit ihrer Verteidigung. Durch einige Besprechungen mit der Angeklagten gelang es mir, von dieser im Wesentlichen zwei für die Verteidigung wichtige Tatsachen zu er- fahren. Sie erzählte mir nämlich gelegentlich, daß ihr auf dem Wege von der Th.schen Villa nach der Kirche das andere Dienstmädchen begegnet wäre und ihr gesagt hätte, es ginge nach Hause (in die Villa), daß es aber auch tatsächlich nur geringe Zeit nach ihrem Weg- gange in der Th.schen Villa gewesen wäre und sich daselbst kurze Zeit aufgehalten hätte, um einige Kleidungsstücke zu wechseln. Außerdem sagte mir die Angeklagte, daß sie nicht nur bei Th., sondern auch in ihren früheren Stellungen im allgemeinen ungefähr 3 Jahre gewesen und von ihren früheren Dienstherrschaften stets gute Zeugnisse, insbesondere auch in Bezug auf Ehrlichkeit^ erhalten hätte.

Die Dienstherrschaften, welche kommissarisch vernommen wurden, sagten sämtlich aus, daß sie die Angeklagte für ehrlich hielten. Das andere Dienstmädchen wurde zur Hauptverhandlung geladen.

Noch vor der letzteren hatte ich Gelegenheit, die Th.sche Villa zu besichtigen. Hier habe ich wahrgenommen, daß man von den

£in unwahres Geständnis. 179

zum Haaseingang führenden Stufen aus das Fenster, dessen Scheibe zerschlagen worden war, mit Leichtigkeit vollständig übersehen konnte, und daß die Mädchenkammer nicht sehr tief war und gutes Tages- licht hatte.

Ich folgerte hieraus: Wenn die Augeklagte die Tat begangen hätte, so hätte das andere Dienstmädchen, wenn es kurz nach der Angeklagten in der Villa und insbesondere in der Mädchenkammer gewesen wäre, wahrgenommen haben müssen, daß die Fensterscheibe zerschlagen war und die Glasscherben auf dem Fenstersims lagen, sowie daß in der Mädchenkammer das Fensterbrett und der Lein- wandschemel beschmutzt waren, sofern nur die Lichtverhältnisse dies gestatteten.

Das Eönigl. Meteorologische Institut in Dresden teilte mir auf Befragen mit, daß am 9. April 1905 abends am Orte der Tat eine leichte Schneedecke lag und daß es vorwiegend heiter und trocken war« Hieraus und aus der Zeit des Sonnenunterganges konnte ich mit Recht schließen, daß am fraglichen Abend wohl bis kurz nach 7 ühr gutes Dämmerlicht war.

Es war daher in der flauptverhandlung, die ja während der Vernehmung der Th.schen Eheleute und des Kriminalschutzmanns sehr ungünstig für die Angeklagte verlaufen mußte, für mich am wesent- hehsten die Vernehmung des anderen Dienstmädchens. Die Ange- klagte war nach meiner Überzeugung unschuldig, wenn diese Zeugin aussagte, daß sie an dem fraglichen Abend gegen 7 Uhr in der Villa und insbesondere in der Mädchenkammer war, denn ich konnte in diesem Falle mit Bestimmtheit annehmen, daß die Zeugin die zer- brochene Fensterscheibe und den Schmutz auf dem Leinwandschemel und am Fensterbrett nicht gesehen hat, da sie sich anderenfalls nicht sogleich wieder aus der Villa entfernt, sondern die übrigen Räume der Villa besichtigt und von ihren Wahrnehmungen sofort der Polizei oder ihrem Dienstherm Anzeige gemacht hätte. Hatte aber die Zeugin von alledem nichts gesehen, so war erwiesen, daß der ge- schilderte Zustand beim Weggehen der Angeklagten aus der Villa noch nicht war, und hiermit war der Beweis für die Unschuld der Angeklagten erbracht, denn daran konnte kein Zweifel bestehen, daß der versuchte Diebstahl und das Zerschlagen der Fensterscheibe, sowie das Beschmutzen des Fensterbrettes und des Schemels von derselben Person ausgeführt wurden.

Die Zeugin, welche einen äußerst günstigen Eindruck und insbe- sondere auch den Eindruck eines sehr sauberen Mädchens machte, bestätigte eidlich, daß sie die Angeklagte, wie diese zur Kirche ging,

12*

180 V. Kboch

getroffen hätte und daß sie kurz vor 7 Uhr in der Villa gewesen wäre und daselbst einige Kleidungsstücke z. B. den Hut gewechselt und die Boa abgelegt hätte. Außerdem fügte sie auf Befragen hinzu, daß sie, wie sie gegen 7 Uhr in der Villa war, noch gut gesehen, aber nicht wahrgenommen hätte, daß die Fensterscheibe zerbrochen oder das Fensterbrett oder der Leinwandschemei beschmutzt gewesen wäre. Daß dieser Schemel beschmutzt gewesen wäre, hielt sie für unmöglich, da sie ihren neuen Hut darauf gelegt hätte.

Die Angeklagte iwurde nach alledem vom Königl. Landgericht Chemnitz (3 A. 111/05) mangels Beweises freigesprochen.

Es ist nach meiner Uberzeugug bewiesen, daß die Angeklagte unschuldig ist. Der volle Beweis hierfür wird dadurch erbracht, daß die Zeugin von den sämtlichen Spuren des Diebstahls nichts wahr- genommen hat und ganz besonders noch dadurch, daß sie den neuen Hut auf den Leinwandschemel gelegt hat. Wenn die Angeklagte diesen Schemel beschmutzt hätte, so hätte der Schmutz (es war sehr wahrscheinlich wasserhaltiger Schneeschmutz) noch feucht sein müssen als die Zeugin den Hut darauf legte, da die Angeklagte den Schmutz jedenfalls erst kurz vor dem Weggehen aus der Villa angebracht hätte und die Zeugin sofort nach der Angeklagten und nur kurze Zeit in der Villa [gewesen ist Es hätte daher auch der neue Hut schmutzig werden müssen und dieser Umstand hätte der Zeugin nicht entgehen können.

f^ Zur Vollständigkeit dieser Beweisführung soll noch in folgendem auf die Indizien und das Geständnis der Angeklagten eingegangen werden:

Die gleiche Breite des Th.schen Stemmeisens und des von dem Diebe benutzten ist ein Zufall ; es gibt unzählige Stemmeisen von 1 cm Breite.

Die Form des Stiefelabdrucks auf dem Leinwandschemei kann nicht zu Ungunsten der Angeklagten verwendet werden. Würde, was ich nicht für wahrscheinlich halte, die Form dieses Stiefels zu erkennen gewesen sein, so würde man gerade um deswillen eher an- nehmen müssen, daß nicht die Angeklagte den Schemel beschmutzt hat; denn hätte sie ihn beschmutzt und einen Stiefel in den Schmutz eingedrückt, so hätte sie hierzu, um sich nicht zu verraten, nicht ihren eigenen, sondern den Stiefel einer anderen Person verwendet.

Die übrigen Indizien sprechen nur dafür, daß der Dieb durch das Fenster, dessen Scheibe zerschlagen wurde, eingestiegen ist, und daß er, gegen 8 Uhr durch die Ankunft der Angeklagten und der Kinder überrascht, sich zunächst durch die Mädchenkammer auf das

Ein anwahres Geständnis. 181

Dach zu retten gesucht hat, dann aber, da ein Entkommen auf diese Art unmöglich war, in das erste Stockwerk oder das Erdgeschoß zurückgegangen, hier durch ein Fenster in den Garten gesprungen und entflohen ist.

Der Umstand, daß die kleinen Geldbeträge im Vertikow, sowie die Nickel- und Silbermünzen auf dem Damenschreibtisch und die herumstehenden Silbersachen unberührt waren, ist dadurch aufgeklärt, daß es, wie der Diebstahl ausgeführt wurde, bereits dunkel geworden war und der Dieb diese Gegenstände nicht gesehen hat.

Was hat nun die Angeklagte bestimmt, die Straftat und deren Ausführung in allen Einzelheiten wider die Wahrheit zu gestehen, das Geständnis mehrfach zu wiederholen und sich die sofortige Ent- lassung aus dem Dienst ohne jede Entschädigung gefallen zu lassen?

Um diese Beweggründe zu erkennen, muß man sich in die da- maligen Verhältnisse und in das Seelenleben der Angeklagten hinein- denken. Diese hat zunächst einen wesentlichen Schreck gehabt, als sie nach der Rückkehr von der Kirche die einzelnen Spuren des Ver- brechens wahrnahm. Sie ist von Natur ängstlich; dies geht daraus hervor, daß sie kurz nach der Tat dem anderen Dienstmädchen sagte : ^Na, nun wird wohl der Verdacht auf mich kommen!'' Sie ist als- dann von dem Kriminalschutzmann ausführlich befragt worden und hierauf folgte eine für sie jedenfalls ruhelose Nacht, in welcher sie darüber nachg^rübelte, wie sie sich von dem Verdachte reinigen und den Täter ausfindig machen könnte. Am nächstfolgenden Vormittag findet die ausführliche eindringliche Vernehmung statt, in welcher ihr von dem Kriminalschutzmann „auf den Kopf zugesagt wird, daß nur sie die Täterin und ihre Erzählung erlogen wäre*' und an demselben Nachmittage in ihrer Gegenwart die nochmalige Durchsuchung der Villa durch den Beamten. Zu alledem wirkt auf die Angeklagte, die die ganze Zeit über nur Aufregung gehabt hat, ständig das Gefühl, daß sie jeder für den Täter hält. Nun wird sie abends wieder von dem Dienstherm bearbeitet, ein Geständnis abzulegen und dieser stellt ihr noch in Aussicht, daß sie im Falle des Geständnisses, soweit es in seinen Kräften stände, keinen Nachteil haben sollte.

Der Angeklagten ist der Zustand, in welchem sie sich befindet, unerträglich. Sie bringt dies nach Ablegung des Geständnisses mit den Worten zum Ausdruck: „Na, nun ist mir ein Stein vom Herzen." Diese Worte können unter den vorliegenden Umständen nur die Be- deutung haben, daß die Angeklagte hofft, daß nunmehr, nachdem sie gestanden, die ewige Quälerei zur Erlangung eines Geständnisses und ihre Aufregung aufhören werden. Außerdem hält es die Angeklagte

182 V. Kroch

für möglich, daß sie, wenn ihr Dienstherr will, nicht bestraft wird, denn sie sagt: „Hoffentlich nimmt Herr Th. zurück" oder „hoffentlich kommt es nicht zur Anzeige." Sie hat nach alledem zugestanden, weil sie den ihr unerträglichen Zustand beseitigen zu können glaubt, ohne bestraft zu werden. Hatte sie aber erst einmal wider die Wahr- heit zugestanden, so war es unbedingte Folge und ihr auch ein Leichtes, die Straftat in ihren Einzelheiten zu gestehen und sich mit den Indizien zu belasten. Auf Befragen, weshalb sie das Geständnis später noch wiederholt habe, erklärte sie: „Du hast einmal ja gesagt, nun hast du kein Wort weiter zu verlieren." Daß sie sich die so- fortige Entlassung aus ihrer Stellung ohne jede Entschädigung gefallen ließ, war ebenfalls eine notwendige Folge des Geständnisses.

Nach alledem kann man wohl mit ßecht behaupten, daß der Be- weis für die Unschuld der Angeklagten erbracht und jeder Verdacht gegen dieselbe unbegründet ist Auch dafür, daß die Angeklagte mit dem Täter in irgend einer Verbindung stand oder von ihm Kenntnis hatte, liegt ein Anhalt nicht vor, denn sie verkehrte nur mit ihrem Geliebten und dieser wies nach den Ermittelungen des Eriminal- schutzmanns sein AUbi auf einwandsfreie Weise nach.

Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß jeder Jurist und jeder Laie die Angeklagte bei dem umfassenden Geständnis, das sie abgelegt hat, für schuldig gehalten hätte, wenn nicht das andere Dienstmädchen als Zeugin vernommen worden wäre. Die Tatsachen, worüber diese Zeugin aussagte, hat die Angeklagte erst berichtet, ' nachdem sie wiederholt aufgefordert worden war, ihre Erlebnisse am 9. April 1905 bis in die geringsten Einzelheiten anzugeben, da sie sich über die Tragweite dieser Tatsachen unklar war. Es erhellt somit aus dieser Sache, welche Sorgfalt in der Strafrechtspflege selbst bei Zugeständ- nissen anzuwenden ist, sollen unrichtige Urteile vermieden werden.

VI. Was sollen wir tun?

Aus dem Reformatory Outlook. MansHeld (Ohio).

September 1905.

Für den Outlook geschrieben von Killen, Nr. 2344 in der Anstalt.

Übersetzt von M. G.» Frankfurt a. M.

Yorbemerkung.

Das Ziel, das sich die amerikanischen Strafanstalten neuen Stils, die Reformatories, setzen, ist Umbildung des Gefangenen an Körper, Verstand und Charakter. Damit hofft man aus dem jugendlichen Verbrecher, auf den es die Reformatories in erster Linie absehen, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu machen.

Nach den Erfahrungen dreier Jahrzehnte glaubt man in Amerika dies Ziel in einer verhältnismäßig sehr großen Zahl von Fällen er- reicht zu haben. Man rechnet allgemein mit 70 80 ^/o Gebesserten. So ist es für uns von Interesse, den Methoden solcher Umbildung zu folgen.

Eine der Gefahren jeder Anstaltserziehung ist, daß der Gefangene die Fühlung mit der Außenwelt verliert. Von allen Seiten hört man bei uns klagen, daß er bei seiner Entlassung, menschenscheu und weltfremd, dem für ihn ohnehin erschwerten Konkurrenzkampfe nicht gewachsen sei. Dem suchen die Reformatories zu begegnen:

Maueranschläge in ihnen geben alltäglich die wichtigsten oder den Gefangenen interessantesten Ereignisse in Politik, Sport usw. bekannt. Vorträge und Debattierklubs dienen gleichfalls dazu, den Verstand der jungen Leute auszubilden und sie lebensfrisch zu halten.

Eines der wichtigsten Erziehungsmittel ist, daß man sie in der Anstalt selbständig eine Zeitung drucken und herausgeben läßt Uns ist das fremd, und leicht sind wir geneigt, darüber zu lächeln. Eben darum ist es für uns nicht ganz wertlos, eine Probe solcher amerikanischen Gefängnisjoumalistik kennen zu lernen. Sie

184 VI. Fbeudenthai*

zeigt ans, wie die Insassen der nenen Anstalten über deren Straf- vollzug denken, von dem wir ja sonst zumeist nur durch die An- Btaltsverwaltung hören. Es ist gewiß notwendigen auch einmal die andere Seite zu Worte kommen zu lassen.

Das Reformatory inj Mansfield (Ohio), aus dessen Anstaltszeitung der nachstehende Leitartikel entnommen ist, steht unter den Gefäng- nissen des neuen Systems in erster Linie. Was diesen eigen ist, empfindet man in wohltuender Weise auch in ihm: unter den jungen Gefangenen herrscht nicht Niedergeschlagenheit und dumpfe Bitter- keit, sondern der Geist des Hoffens und der Wunsch, durch An- spannung aller Kräfte in der Anstalt rasche Entlassung zu er- reichei;i und draußen im Leben Versäumtes nachzuholen.

Das scheint mir der nachstehende Artikel getreu wiederzuspiegeln.

Professor Dr. B. Freudenthal, Frankfurt a. M.

Richte Deine Gedanken fest auf's Ziel.

Spanne des Ehrgeizes Bogen.

Sichere Deinen Weg durch Selbstbeherrschung

Dann entsende des Lebens Pfeil.

Indem ich die kürzlich erschienene Nummer unseres lieben Blattes durchlese, fällt mir ein wichtiger Artikel auf, den ein Insasse dieser Anstalt geschrieben hat Ich habe das Gefühl, als ob ich meinen Mitgefangenen, die hier wegen früherer Vergehen eingesperrt sind, vielleicht Gutes erweisen und einen Strahl des Lichtes auf ihre dunklen Wege senden könnte. Der Verfasser schreibt, er sei tief im Elend gewesen und habe keine andere Bettung gefunden, als geduldig den Ablauf der Strafzeit abzuwarten. Nun, liebe Freunde, erwägt das obige Motto, und Ihr werdet daraus ersehen, daß seine Worte das Ziel des Lebens zeichnen. Ein jeder von uns strebt nach der Ent- lassung, und je schneller sie erreicht wird, desto früher werden wir wieder in das Meer des Lebens hinaussegeln können.

Aus der Statistik über die entlassenen Insassen geht hervor, daß der Durchschnitt der abgesessenen Zeit etwa 19 Monate beträgt, während die Strafurteile durchschnittlich auf 12 Jahre Höchstmaaß lauten. Demnach gibt es doch eine andere Art Befreiung, als den Ablauf der Strafzeit. Jeder Insasse mit gesundem Menschenverstand wird mit mir übereinstimmen, daß, wenn man an eine hohe Steinmauer kommt, die leichteste Art, sie zu nehmen, die ist: eine Leiter dagegen zu stellen und darüber hinwegzuklettem.

Was sollen wir tun? 185

Es hat keinen Zweck, mit dem" Kopfe dagegen zu stoßen und zu yersuchen, sie umzuwerfen, denn binnen kurzem merkt man, daß man keinen Eindruck auf ihr hinterläßt und der Kopf den kürzeren Teil zieht. Nun, die Leiter, die wir an unsere Mauer anstellen müssen, heißt gute Führung, und in folgender Weise soll sie er- baut sein:

Die Stangen müssen aus gutem Holz bestehen: eine aus Ver- stand und klarem urteil, die andere aus gutem Willen, verbunden mit dem festen Entschluß, die schlechte Vergangenheit wieder gut zu machen. Jede Sprosse muß sich aus neun Verdienstmarken bilden, i) und wenn wir zwölf solcher Sprossen in unsere Leiter eingesetzt haben, erreichen wir die Höhe und zeigen unseren Vorgesetzten, daß wir getreulich den Stufengang vollendet haben und eifrig bedacht sind, die Mauer des Verbrechens zu übersteigen, uns selbst einen Platz in der Gesellschaft zu erobern und der Welt zu zeigen, daß wir geeignet sind, in sie hinein zu treten.

Erlaubt mir. Eure Aufmerksamkeit auf die Julinummer des Outlook zu lenken. Auf der ersten Seite werdet Ihr einen Aufsatz mit folgender Überschrift finden: Weshalb wurden wir verurteilt? Auch auf die Augustausgabe und den Aufsatz, betitelt: „Jetzt ist die Zeit". Diese beiden Aufsätze werden Euch die Ursache, die Folge des Verbrechens und wie es zu vermeiden ist, zeigen. Also was ist unsere Aufgabe? Laßt uns sehen:

Ein Schiff ist jahrelang regelmäßig zwischen den Vereinigten Staaten und dem Orient gefahren, ohne nur den geringsten Unfall erlitten zu haben. Der Schiffer ist zu der Überzeugung gekommen, daß er seinen Kurs vollkommen kenne. Zu seinem größten Erstaunen wird eines Tages Land sichtbar, als er eigentlich noch hunderte von Meilen hätte davon entfernt sein sollen. Gerade da erhebt sich ein Sturm; überall ertönen Befehle, Matrosen eilen hin und her; der Schiffer beobachtet seinen Kompaß und findet, daß er nicht richtig arbeitet Man steuert sofort in See, ein dichter Nebel zieht auf, und bald hat das Fahrzeug gegen einen heftigen Sturm zu kämpfen. Plötzlich stößt es auf, es entsteht eine große Verwirrung an Bord, die einige Stunden lang währt Das Wasser dringt ein, die Pumpen sind die letzte Rettung. Der Sturm legt sich, Zerstörung hinter sich lassend. Das Notsignal wird gegeben und wie es das Glück will, vom Lande aus erblickt Alsbald kommt Hilfe, das Schiff wird von der Sandbank fortbugsiert, in den Hafen gebracht

1) Ein Markensystem dient der Feststellung der Leistungen der jungen Ge- fangenen; neun Verdienstmarken bedeuten einen »vollkommenen Monat*^.

186 VI. Freudekthax

und zur Ausbesserung in das Trockendock gelegt. Als man den Schiffer fragt, wie es gekommen sei, sagt er: „Ich weiß es nicht; ich fahre nun schon jahrelang diese selbe Strecke, und dieses ist das erste Mal, daß ich von meiner Bahn abgekommen bin. Mein Kom- paß war nicht in Ordnung^.

So steht es mit uns. Seit einer Reihe von Jahren durchkreuzen wir das Meer des Lebens regelmäßig, von einem Punkte zum andern, von der Geburt zum Tode. Die Klippen und Sandbänke der Versuchung lagen überall; wir wichen von dem früheren Kurse ab und scheiterten zuletzt an der Sandbank des Verbrechens. Wir wurden in den Hafen der Gerechtigkeit bugsiert und zur Ausbesse- rung in eines der Trockendocks getan. Wo liegt hier die Schuld? Arbeitete unser Gehirn nicht richtig? Es muß wohl so gewesen sein, denn wo ist der Mensch, dessen Gehirn in seiner normalen Ver- fassung ist, der ein Jahr hinter Gefängnismauern eintauschen möchte für die Torheit eines Augenblicks?

Ich behaupte: zwei Drittel der Gefangenen dieser Anstalt sind Opfer der Trunksucht. Berauschende Getränke haben mehr Namen in das Buch der Verbrechen gebracht, als alle anderen Formen der Ausschweifungen! Durchwandert mal die großen Gefängnisse der Welt, fragt jeden einzelnen Insassen: wodurch bist Du in's Unglück gekommen? und die Antwort wird in den meisten Fällen lauten: „ich war betrunken und tat dies und das^.

Wie ist hier Hilfe zu schaffen? Sollen wir neben dem Feuer sitzen und es ausgehen lassen und dann jammern, weil es kalt ist^ oder sagen: wir wußten nicht, was wir tun sollten, um es brennend zu halten? Nein, liebe Gefährten, so lange noch ein Funke Männlich- keit in uns glimmt, gebt ihm Nahrung, facht ihn an! Bauet auf diesen Rest, und bauet so gut wie Ihr könnt. Hier bietet sich für uns die Gelegenheit, uns in dem Lichte zu sehen, in dem wir von den andern Menschen gesehen werden, hier können wir unsere Fehler erkennen, über unsere Vergangenheit nachdenken, hier können wir begreifen, weshalb unsere Eltern uns tadelten, wenn wir Unrecht taten. Hier können wir sehen, warum wir aus der Gesellschaft ge- stoßen wurden, und während wir in der Lage sind, uns zu sehen, wie uns andere sehen, warum nicht unsere Schwächen überwinden?

Wie oft haben uns die Eltern des Abends, wenn wir fortgeben wollten, geraten zuhause zu bleiben? Taten wir es? Nein, ich glaube, wir gingen aus, und sagten uns : „sie sind ja alt und wissen es nun mal nicht besser". Was wäre wohl das Ergebnis gewesen, wenn wir damals auf die Warnungsworte derer gehört hätten, die

Was sollen wir tun? 187

wir als alt und töricht bezeichneten? Wären wir dann unseren sogenannten Liebsten begegnet und hätten mit ihnen gezecht? Hätten wir dem Klange der Gläser und dem Lachen der so- genannten „lustigen Freunde^ gelauscht? Merkten wir nicht den ' Unterschied, als wir uns dann in Untersuchungshaft befanden? Haben vieUeicht jene Freunde uns einen Verteidiger genommen? Besuchten sie uns und brachten sie uns Nahrung und frische Klei- dung? Oder waren es die einfältigen alten Leute, die uns bei- standen? '

Am Ufer des Hudson, in dem Staate New-York, in der Nähe des Sing-Sing-Gefängnisses, liegt ein Kirchhof, der von den Dichtern „Sing-Sing's einsamer Berg^ genannt wird. Dort in der stillen Erde raht manche Hoffnung, manches yielyersprechende Leben, das von seinen Kurs abgetrieben und an den Felsen des Verbrechens ge- scheitert ist und zertrümmert hinab in die Tiefe sank. Manche be- sorgte Mutter erwartet währenddessen zuhause sehnsüchtig seine Rück- kehr, — ihren Jungen, ihren Stolz, die Freude ihres Herzens, ihn, der ein Verbrechergrab füllt, mit einem falschen Namen ver- sehen — zu seiner Ehre.

Was würde aus dieser Mutter, wüßte sie das Schicksal ihres Sohnes? Es ist nicht nötig, diese Frage zu beantworten, ein jeder wird sich dieses Bild selbst ausmalen.

Kein Gefangener, der diesen Aufsatz liest, möchte, glaube ich, sein Leben in den Fesseln des Verbrechens beschließen. Warum also nicht lieber versuchen, den bisherigen Anteil am Schlechten fahren zu lassen und sich von verbrecherischen Versuchungen unab- hängig zu erklären?

Die Zukunft liegt vor uns, und es ist an uns, entweder die Schwächen zu überwinden und als gesetzliebende Bürger zu leben, oder weiter die Gesetze zu verletzen, ein Verbrechergrab zu füllen und später auf Nichts zurückblicken zu können, als auf ein ver- pfuschtes Leben.

Also, liebe Mitgefangene, es liegt kein Grund vor, warum wir mit der ganzen Dauer unserer Strafzeit rechnen sollten. Laßt uns unsere Blicke auf einen möglichst kurzen Teil richten! Was ist wohl ein traurigeres Schauspiel, als zu sehen, wie ein junger Mensch sein Selbstvertrauen verliert, wie er seine Hände in die Höhe wirft und ruft: „Es ist alles aus^. Das ist Feigheit, und damit wird man sich selbst nicht gerecht Noch sind wir nicht tot und niemand weiß, was die Zukunft uns noch bringt Wir können es wohl prophezeien, aber es würde ein leerer Traum bleiben. Die Welt

188 VI. Frbudenthal

hat noch nicht alle ihre großen Männer gesehen, und weshalb sollten wir die Hoff^nung aufgeben, da wir doch Alles zu gewinnen und nichts zu jyerlieren haben. Es gibt einen Weg, aus diesem Beformatoiy herauszukommen vor Ablauf der Straf- zeit, und der ist, den Vorschriften nachzuleben, sie zu studieren und aus ihnen zu lernen. Laßt Euch keinen Tag entgehen, denn Beharr- lichkeit führt zum Ziel.

Ich glaube nicht, daß irgend ein junger Mensch als Verbrecher zu Grunde gehen mag. Hier haben wir eine gute Gelegenheit, die Wirkung des Verbrechens zu erkennen. Warum sollte diese eine Lehre nicht genügen, das Schlechteste an uns zu bessern? denn es heißt: „Wenn Du nicht gut spielst, so wirst Du sicher gut zahlen'^. Wir wollen Gutes tun zum Wohle aller Teile, unsere Gewohnheiten veredeln, gute Gedanken hegen und uns so wenigen Menschen an- schließen, als möglich, denn Freundschaften bedeuten hier Ungelegen- heiten. Sagen wir unser Leid dem Herrn, bitten wir ihn um eine glückliche Zukunft und eine baldige Entlassung.

VII. Kriminalstatistische Vergleiche.

Von Hans O-ross.

Immer häufiger werden Versuche gemacht, aus den kriminal- statistischen Angaben Vergleichswerte herauszuziehen, welche die Statistik in ihre Daten weder hineinlegen wollte noch konnte. Die Ergebnisse solcher angeblicher Vergleichungen sind häufig verblüffend und darnach angetan, zu weiterer Verwertung der Resultate anzueifem und wenn dann früher oder später die Unrichtigkeit des Gewonnenen festgestellt wird, so ist der in den Deduktionen begangene Fehler selten mehr zu entdecken^ und der Vorwurf trifft die Kriminalstatistik, die aber an sich richtig war und nur falsch ausgebeutet wurde. So geschieht es, daß diese unschätzbare Disziplin in ihrem Werte ungerecht herab- gesetzt wird, ihre Errungenschaften bezeichnet man dann als unwissen- schaftlich und ihre Auswertung als unzulässig. 1 Ich möchte eine kleine, eben bei Louis Lamm in Berlin er- schienene Schrift von Dr. Bruno Blau „Die Kriminalität der Juden" als Beispiel dafür benutzen, wie Kriminalstatistik nicht verwertet werden darf. Der Verf. benützt einen Abschnitt aus dem 146. Bde. der „Statistik des Deutschen Reiches^ und vergleicht die Kriminalität der strafwürdigen Zivilbevölkerung auf Seiten der Christen mit der der Juden, in der Weise, daß stets die Verhältnisse der verurteilten Christen zu 100000 Christen und der verurteilten Juden zu 100 000 Juden berücksichtigt werden. Verf. stellt vorerst fest, daß, wie bekannt, die Kriminalität im letzten Jahrzehnt, überhaupt gestiegen sei: bei den Christen um 17.1 ^/o, bei den Juden um 31.4 ®/o aber eigentlich sei „die Kriminalität der Juden im allgemeinen erheblich geringer als die der Christen", und eben so wenig dürfe „ein Nachlassen der Moralität bei den Juden'^ angenommen werden. Das wird dadurch bewiesen, daß sehr viele Verurteilungen der Juden Störungen der Sonntagsruhe betreffen und überhaupt „recht harmloser Natur" seien, weiters, daß eben die Juden stark Handel treiben und daher mit

190 VII. Gross

vielen Be&timmangeii leicht in Konflikt kommen, daß die Strafen auch zum Teile sehr gering seien, daß die Juden häufiger in der Großstadt leben etc. Bei den einzelnen Delikten wird recht merkwürdig argu- mentiert: Die Abnahme der Zahlen beim Meineid sei bei den Juden stärker als bei den Christen und „wenn die Zahl der Verurteilungen weiter so fällt, wie bisher, so ist sie schon in der nächsten Periode geringer als die entsprechende Zahl bei den Christen^! Ja: mit ^wenn^ darf doch die Statistik nicht rechnen! Daß Juden öfter wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften verurteilt werden, liege „sicher'^ in ihrer stärkeren Beteiligung am Buchhandel, speziell am Verlagsgeschäft; bei Ehebruch und Verführung kämen Verurteilungen der Juden „möglicher Weise" deshalb zahlreicher vor, weil „gegen sie leichter Antrag gestellt wird^. Daß mehr Juden als Christen wegen Zweikampf verurteilt wurden, erklärt sich „ohne weiteres" durch das lebhafte Temperament, die exponierte Stellung der Juden und dadurch, daß Christen als Reserveoffiziere vielfach von Militä^ gerichten abgeurteilt werden, „während Juden nicht Reserveoffiziere werden'^; Wucher sei eine den Juden „anerzogene Unsitte'' etc.

Solches Argumentieren ist nicht voraussetzungslose Forschung, sondern Beweisenwollen mit bestimmter Tendenz. Der Grund aller vom Verf. entdeckter Merkwürdigkeiten liegt lediglich in der bekannten allgemeinen Schwäche der Kriminalstatistik, die leider nicht die begangenen sondern die mehr minder zufällig bekannt ge- wordenen und bestraften Delikte behandeln kann. Diese Schwäche zeigt sich am besten m dem hundertmal zitierten Paradoxon : In Oster- reich weist von allen Provinzen Niederösterreich die besten Ziffern über Schulunterricht, die Bukowina die schlechtesten auf ebenso hat aber Niederösterreich die höchste, die Bukowina die geringste Kriminalität folglich: Je besser der Schulunterricht, desto schlechter die Kriminalität! ">

Wir wissen doch heute, daß man die begangenen Delikte zum Zwecke gewisser Untersuchungen in drei Gruppen teilen muß: I. solche, bei welchen weder die Tat, noch der Täter; IL solche, bei welchen zwar die Tat, nicht aber der Täter;

III. solche, bei welchen Tat und Täter bekannt wird.

Bei dieser Einteilung spielt namentlich die Natur des Deliktes eine große Rolle: zur Gruppe I gehören z. B. Abtreibung, Kindesmord, Unzucht wider die Natur etc.; daß diese Delikte in ungeheurer Zahl verübt werden, daß aber die Verübung der Tat geradezu nur aus- nahmsweise bekannt wird, ist sicher; wie viele homosexuelle Akte mögen z. B. alle Tage verübt werden und wie viele werden angezeigt

Kriminalstatistische Vergleiche. 191

Zur IL Gruppe gehören z. B. Diebstahl, Münzfälschung, Funds-Ver- heimlichong etc. Die Delikte werden zwar in der Regel angezeigt, der Täter wird aber selten eruiert. Zur III. Gruppe: Raufereien, Todschlag, Mord, Majestätsbeleidigung etc. in welchen Fällen der Täter verhältnismäßig oft festgestellt und bestraft wird.

Den Gegenstand der Kriminalität bilden aber eigentlich nur die Fälle der III. Gruppe, somit die Leute, welche erwischt werden. Wollten wir aber die Kriminalität einer Nation A mit der Nation B richtig vergleichen, so müssten wir außer den Daten, welche uns die Kriminalstatistik liefern kann, noch solche haben, die sie uns nie zu liefern vermag, denn wir müßten wissen:

1. Welche Art von Delikten (Gruppe I und II, die in der off. Statistik nicht vorkommen, oder Gruppe III, die allein behandelt wird) die fragliche Nation häufiger begeht; denn wenn die Nation A Delikte^ die beinahe nie angezeigt werden, auch in größter Menge begeht, so ist ihre Kriminalität scheinbar doch geringe, denn die offizielle Statistik weiß von diesen Delikten nichts.

2. Welche Nation schlauer ist, d. h. das Bekanntwerden der von ihr begangenen Delikte besser zu verhindern weiß.

3. Wie es mit der Polizei d. h. mit dem Erwischtwerden be- stellt ist

So lange wir diese Daten nicht haben, liefert die Kriminalstatistik in Richtung auf das vergleichende Moment nur ein formell richtiges Ergebnis; die genannten Fragen wird sie aber niemals beantworten können und so vermag sie auch nie materiell richtige Vergleiche zu geben: sie vergleicht nur die durch zahllose Zufälle er- wischten Verbrecher, nicht aber die Menschen, die wirk- lich Verbrechen begangen haben maßgebend wäre aber nur das Letztere.

Wir kommen zu dem Schlüsse, daß wir vorläufig vielleicht an- nehmen dürfen: die Christen und die Juden sind gleich gut und gleich schlecht im Durchschnitt begehen die einen gewisse Ver- brechen häufiger, die anderen bevorzugen wieder andere Verbrechen dies ist vielleicht richtig, aber irgend welche ziffernmäßige Be- weise können wir aus den Daten der Kriminalstatistik nicht entnehmen, am wenigsten dürfen wir aber so zu beweisen trachten, wie es in der genannten Schrift geschehen ist.

VIIL Zur echn ongsfähi g ?

Von

Dr. Heinxioh Svorolky k. k. Gerichtsadjunkten in Reichenberg,

nach eigener Vonintersuchong dargestellt.

Gegenstand dieses Aufsatzes bildet der Seltene Straf fall, in welchem ein nach dem Ausspruche der Gerichtsärzte schwachsinniger Mensch wegen Verbrechens des Meuchelmordes angeklagt und schuldig gesprochen wurde: die Überprüfung des Gutachtens der Gerichtsärzte durch die Fakultät hätte die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten gewiß zur Gänze behoben, denn an der Tatsache, daß die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten in diesem Falle sehr zweifelhaft ist und bleibt, ändert in wissenschaftlicher Beziehung die formelle Feststellung der Schuld durch das Schwurgerichtsurteil gar nichts.

Die Tatgeschichte ist die:

Am 15. Jänner 1906 Nachts wurde am Wege zwischen Reichenau und Gablonz der Sparkassabeamte C. H. bewußtlos aufgefunden; die ärztliche Untersuchung stellte an der behaarten Kopfseite über dem Hinterhauptbeine eine Schußwunde fest; dies und die Tatsache, daß dem Verletzten die Uhr, mitsamt Kette und das Geldtäschchen mit 34 K. fehlte, ließ auf einen Raubmordversuch schließen. Der Ver- letzte starb am 5. Feber 1906, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Die Sektion ergab eitrige Hirn- und Hirnhautentzündung, herbeigeführt durch die SchuBverletzung als die Todesursache.

Die Nachforschungen, deren nähere Schilderung unterlassen wird, haben am 20. Jänner 1906 zur Feststellung der Person des Täters geführt, der die geraubte Uhr in dem Orte, in welchem der ermordete Sparkassabeamte angestellt war, zum Verkaufe anbot, obgleich selbe die Anfangsbuchstaben des Ermordeten trug und ihre Beschaffenheit im Orte bekannt war.

Der Verhaftete gestand seine Tat bei der Sicherheitsbehörde, dem Bezirksgerichte und dem Untersuchungsrichter. Seiner Schilderung

ZarechnangsfShig? 193

ist zu entnehmen, daß er gleich nach seiner am 15. Jänner 1906 durch seinen Lehrmeister erfolgten Entlassung den Vorsatz faßte, jemanden umzubringen und zu berauben, welche Absicht er noch am selben Tage ausführte, indem er auf öffentlichem Landwege einen vor ihm ahnungslos gehenden Mann niedergeschossen und beraubt hat Nach dem Morde kehrte er in die Stadt zurück und blieb bis zum Tage der Verhaftang in der Bäckerherberge.

Die auffällig geringe Intelligenz des F. N.^) veranlaßte mich, ihn über den Gesundheitszustand seiner Eltern und Verwandten zu befn^en; über weitere Fragestellung^ ob er selbst immer gesund ge- wesen sei lind ob er keine Kopfverletzung erlitt, gab er an, er sei als Schulbube von einem anderen Schuljungen mittels eines Stein- wurfes am Kopf verletzt worden und trage heute noch die Spur.

Die gleich veranlaßte gerichtsärztliche Untersuchung des Kopfes des Beschuldigten ergab das Vorhandensein einer Narbe auf der Höhe des Scheitelbeines; sie war nicht angewachsen, mit der Haut verschiebbar, und wurde gutachtlich für eine Verletzung jungen Datums erklärt, welche mit einem stumpfen Werkzeuge zugefügt wurde. Die Angabe des Beschuldigten über die Verletzung am Kopfe erwiesen sich als richtig er wurde tatsächlich vor 8 Jahren mit einem Steine verletzt. Über seine Vorstrafen befragt, gab der Beschuldigte nur an, er sei wegen Schießens im Hause gestraft worden : 431 öst StG. und 36 Waffen-Patentes) ; sonstige Strafen habe er nicht erlitten. Die Einvernehmung eines Zeugen (des früheren Dienstherren des Beschuldigten) ergab noch eine Abstrafung wegen öffentlicher Gewalttätigkeit; das Studium des diesbezüglichen Aktes förderte die interessante Tatsache zu Tage, daß der Beschuldigte schon im Jahre 1903 Gegenstand einer gerichtsärztlichen Unter- suchung auf seinen Geisteszustand war. Ein neuerlicher Beweis für die Berechtigung des von Krafft-Ebing und Gross streng verlangten, genauen Studiums der ganzen Vorakten! N. wurde nämlich am 20. Dezember 1902 vom k. k. Kreisgerichte in Beichenberg wegen Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit nach § : 85 lit. a. St. 6. begangen durch boshafte Beschädigung fremden Eigentumes zum 6 wöchentlichen Kerker verurteilt, sein Vater suchte um Begnadigung an und in den üblichen Erhebungen äußerte sich das Stadtamt G. ,N. sei geistig nicht vollkommen normal^. Der Befund und das Gutachten der Gericbtsärzte des k. k. Bezirksgerichtes Gablonz lautete wie folgt:

1) Vgl. Kasper-Liman «Lehrbuch«; H. Groß «Handbuch"; Krafft- Elbing «Grandzüge".

ArehiT ffir Krimin«lanthropolQgie. 27. Bd. 13

194 VIII. SvORCIK

Befund:

F. N., 15 Jahre alt, etwas schwächlich gebaut, aber sonst normal entwickelt. Er hat durch 8 Jahre eine zweiklassige Volksschule be- sucht, hat aber die Gegenstände wie Lesen, Schreiben und Rechnen nur mangelhaft erlernt, wie mit ihm vorgenommene Proben erweisen. Die Aufzeichnungen, die er bei seinem Meister machen muß und die nicht sehr schwierig sind, macht er fehlerhaft, sie müssen korrigiert werden. Trotzdem er schon ein volles Jahr in der Lehre ist, hat er nach Angabe seines Meisters noch keine Fortschritte gemacht. Er begreift eben schwer. Die an ihn gestellten Fragen beantwortet er wohl sachgemäß, doch dauert es ziemlich lange, bevor er die Frage

begreift

Gutach ten:

Aus dem Befunde geht hervor, daß N. etwas beschränkt ist, daß seine psychische Leistungsfähigkeit eine geringe ist, und daß er sich nicht immer über die Folgen seiner Handlungsweise recht klar ist Man kann mithin bei ihm einen geringen Grad von Schwachsinn an- nehmen. Die gleichen Wahrnehmungen wurden sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Untersuchung gemacht.

Die Begnadigung des F. N. erfolgte dann und wurde ihm am 30. Mai 1903 bekanntgegeben.

Nun stand die unumgängliche Notwendigkeit der Untersuchung des N. auf seinen Geisteszustand außer jedem Zweifel und es wurden die hierzu notwendigen Ermittlungen veranstaltet. Ihr Ergebnis ist in dem Befunde der Gerichtsärzte enthalten, weshalb ich von einer Inhaltsanführung derselben absehe.

Der Befund und das Gutachten der Gerichtsärzte des Ereisge- richtes in Keichenberg über den Mörder haben folgenden Wortlaut:

Befund:

F. N., 18 Jahre alt, ledig, katholisch, Bäckergehilfe hat noch lebende Eltern im Alter von ungefähr 60 Jahren. Der Vater leidet an einem bösen Fuße, die Mutter zeitweilig an Kopfschmerzen. Er hat noch 4 Geschwister im Alter von 25, 23, 20 und 16 Jahren (3 Brüder und 1 Schwester), welche alle vollkommen gesund sind. Außer einem Geschwisterkinde Namens Leopoldine N. soll Niemand in der Familie geisteskrank gewesen sein. Dieselbe war eine Land- streicherin und Diebin und befand sich 2 mal mit angeborener Geistes- schwäche und Reizbarkeit infolge geistiger Entartung in der Landes- irrenanstalt in Dobrzan. Gegenwärtig ist sie (seit April 1905) in der Irrenanstalt in Kosmanos untergebracht.

ZorechnungBfäbig? 195

Aus den Einderjahren des N. wurde erkundet, daß er die Volks- schule in M. und T. besuchte; die Lehrer geben an, daß sich F. N. bildungsfähig zeigte, so daß er im unterrichte nicht zurückblieb; allein er war unruhig, nicht sittsam, spielte gerne beim Lernen und machte Dummheiten, die seine Mitschüler zum Lachen reizten. Das veranlaßte den Lehrer, zu glauben, daß der Knabe nicht ganz zu- rechnungsfähig wäre, die auferlegten Strafen waren ganz wirkungs- los. Tatsächlich hat er auch Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt Nach der Schulzeit kam N. zum Bäckermeister Karl L. in Gablonz in die Lehre (vom Dezember 1901 bis September 1904). Oleich im Anfange der Lehre bemerkte der Meister, daß N. Geld unterschlage; zur Rede gestellt blieb er stumm und gleichgiltig. Auch zeigte er keine Lust zur Arbeit und kein. Streben zu tüchtiger Ausbildung, so daß er meist nur zu Botengängen und häuslichen Arbeiten verwendet werden konnte. Er war ein Schmutzfink und vernachlässigte sich in seinem Äußern. Gereizt, wurde er auch grob und rabiat; so ging er in Folge eines Streites auf einen zweiten Lehrling mit der Hacke los und hätte denselben ohne Dazwischentreten des Meisters erschlagen.

Am 20. Dezember 1902 wurde er wegen boshafter Beschädigung fremden Eigentumes (öffentlicher Gewalttätigkeit), weil er in boshafter und mutwilliger Weise eine aus Eichenholz geschnitzte Vorhaustiire beschädigt und einen Schaden von 80 E. angerichtet hatte, vom k. k. Kreisgerichte Beichenberg zu 6 Wochen Kerker verurteilt; er ge- stand die Tat, er habe sie verübt, weil man ihn bei diesem Hause, wenn er früh Morgens mit den Semmeln kam, eine halbe Stunde warten ließ, worüber er sich ärgerte. Diese Strafe kam aber nicht zur Durchführung, nachdem die Gerichtsärzte in Gablonz ihn als etwas beschränkt und seine psychische Leistungsfähigkeit als eine geringe bezeichnet hatten, weshalb er begnadigt wurde.

Vom September 1904 bis Mitte Juni 1905 war Franz N. als Bäckergehilfe bei Josef .S. in R.; auch dort zeigte er sich in der Arbeit nachlässig, unfolgsam, vertat seinen ganzen Lohn oder kaufte unnötige Sachen, die er nicht brauchte. Gegen Ermahnungen und Drohungen zeigte er sich ganz gleichgiltig, der Meister hielt ihn für nicht ganz gescheit. Zuletzt stand er beim Bäckermeister August J. in Gablonz im Dienste; auch dieser war mit ihm nicht zufrieden; er konnte Nichts, er mußte deshalb fortwährend gerügt werden, machte sich aber Nichts daraus. Am 15. Jänner 1906 verließ er diesen Dienst, und zwar infolge Kündigung. Am 13. Dezember 1905 wurde er vom k. k. Bezirksgerichte Gablonz wegen Übertretung des § 431 St G. und Übertretung des Waffenpatentes zu 24 Stunden

18*

196 Vra. SvoRciK

Arrest und 5 Kronen Geldstrafe verurteilt; er hatte am 2. Dezember im Hofe seines Meisters aus einer Flobertpistole Scheibe geschossen, ein Schuß drang in die ebenerdige Werkstatt des Gürtlers Schert B., wodurch die in der Werkstatt Arbeitenden gefährdet wurden. Die Pistole hat er sich selbst gekauft

An demselben Tage, als er aus dem Betriebe des August J. in Gablonz entlassen wurde, hat er auf der Straße gegen^ Beichenau den Sparkassabeamten K. H. mit einem Bevolver von rückwärts in den Kopf geschossen und seines Brieftäschchens und der Uhr samt Kette beraubt K. H. ist dieser Verletzung erlegen und wurde am 6. Feber d. J. obduziert. F. N. suchte die Uhr bei einem'Trödler in Gablonz zu verkaufen, er wurde dabei angehalten und gestand der Polizei, daß er der Täter sei, er^habe dies aus Not getan.

Ergebnis der gegenwärtigen Untersuchung des Körpers.

F. N. hat ein seinem Alter von 18 Jahren entsprechendes Aus- sehen, ist von mittlerer Größe, mäßig kräftig gebaut, mager und hat blasse Gesichtsfarbe. Die Körperhaltung ist eine gerade, die Atem- ziffer beträgt 16, die Pulsfrequenz 72 in der Minute. Der Schädel ist lang gebaut, der Körper ebenmäßig, mit braunen kurzen Haaren ziemlich dicht bewachsen. In der linken Scheitelbeingegend findet sich eine rötliche, daher frische Hautnarbe, von etwa Bohnengröße, Die Stime ist niedrig, das Gesicht ungleich, die rechte Seite schwächer als die linke, deshalb steht auch das rechte Auge niedriger als das linke. Es besteht kein Lidzittem, die Pupillen sind 4 mm weit, auf beiden Augen gleich, rund und ziehen sich auf Lichtreize und beim Sehen in der Nähe zusammen. Die Beflexerregbarkeit der Bindehaut des Augapfels ist herabgesetzt, ebenso der Bachen- und Würgereflex. Sehen und hören ist gut, er schmeckt und riecht alles. Der Gesichts- ausdruck ist nichtssagend, das Gesicht glatt, ohne Falten und Furchen. Das Gebiß ziemlich erhalten, 2 Backenzähne fehlen. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, Sprachstörung ist keine vorhanden. Der Hals lang, die Brust schmal, die obere, rechte Schlüsselbeingrube ist stärker ausgeprägt als die linke; daselbst ist auch das Atmen hinten schwächer zu hören, sonst ist Herz- und Lungenbefund normal; am Bücken rote Wimmerln (Akne). Der Bauch- und Cremasterreflex ist vor- handen, der Sehnenreflex am Knie leicht verstärkt Die Geschlechts- teile sind nicht außergewöhnlich entwickelt, die Hände blaurot ge- färbt Die Untersuchung der Sensibilität der Haut ergibt, daß F. N. Alles fühlt, richtig lokalisiert, Wärme und Kälte unterscheidet, viel- leicht sind seine Schmerzäußerungen auf Stiche weniger lebhaft. Er

Zurechnangsfähig? 197

entwickelt einen sehr guten Appetit, der Schlaf ist lang, gut, tief, er schläft während der Haft auch am Tage, im Ganzen 14—16 Stunden.

Des Geistes:

F. N. spricht wenig, man muß oft die Fragen wiederholen und die Antworten förmlich aus ihm herauspumpen. Er ist nicht aufge- regt, anscheinend gleichgiltig, das gerichtsärzüiche Examen regt ihn gar nicht auf. Dieses ruhige, gleichmütige Benehmen trägt er auch in der Zelle zur Schau, manchmal lacht er ohne Grund, ja er singt sogar (die Volkshymne u. A.) Als er photographiert wurde, schien ihm das zu gefallen, er lächelte uud erbat sich eine Photographie. Er benimmt sich anständig, der Hausordnung gemäß und verrichtet auch die ihm zugewiesenen Arbeiten. Sein Bewußtsein ist voll- kommen frei, er ist über Zeit und Ort vollkommen orientiert, seine Antworten sind den Fragen entsprechend, es ist keine Ver- worrenheit vorhanden, sein Sprachschatz ist gering, seine Kennt nisse sehr mangelhaft Er faßt schwer auf, sein Gedächtnis ist jedenfalls schwach, so weiß er z. B. nicht mehr, daß er auf seinen Geisteszustand in Gablonz ärztlich untersucht und begnadigt worden ist. Er weiß, daß er verurteilt wurde, um das Weitere hat er sich nicht gekümmert Er ist nach seiner Angabe gerne für sich allein, im Allgemeinen anscheinend gutmütig, doch jähzornig, er trinkt nicht und bezeichnet als seine Lieblingsbeschäftigung das Bauchen. Auf Laien macht er den Eindruck eines albernen, stumpfsinnigen Menschen (so äußerte sich z. B. der mit ihm eingesperrt gewesene B. H. in Gablonz). Wegen der vollbrachten Tat empfindet e^: nicht die ge- ringste Reue; er äußerte sich auch dem Zellengenossen gegenüber, daß es ihm ganz gleich sei, ob er einige Jahre eingesperrt werde oder nicht; beim Meister werde er ohnehin ausgenützt, und wenn er nicht mehr arbeiten kann, einfach entlassen. Im Arreste sei es schöner, man bekomme sein Essen und Kleidung und habe keine Sorgen. Auch Karthaus (d. i. eine Männerstrafanstalt in Böhmen) schrecke ihn nicht, dort bekomme er für seine Arbeiten noch Geld.

Den Gerichtsärzten gegenüber äußerte er sich übereinstimmend mit seiner Aussage, daß ihm schon am Vormittage des Mordtages der Gedanke kam, sich Geld in der Art zu verschaffen, daß er auf dem Wege nach W. den ersten Besten, der Geld zu haben scheine, anschieße und beraube. Das hat er auch ausgeführt, er habe es also vorsätzlich gemacht, er beschreibt alle Einzelnheiten der Tat, die Folgen habe er sich allerdings nicht überlegt und insbesondere nicht an das Leid gedacht, welches er seinen Eltern damit zufügte. Töten

198 VIll. SvoRciK

wollte er den E. H. nicht, aber Rene über den unglücklichen Ang^ gang bringt er nicht zum Ausdrucke.

Gutachten:

Das Ergebnis der Untersuchung des F. N. auf seinen Geistes- zustand geht dahin, daß derselbe ein schwachsinniger Mensch ist Der Schwachsinn ist allerdings nicht so hochgradig, daß eine gewisse Schulbildung und 'Erziehung und die Erlernung eines Handwerkes unmöglich gewesen wäre^ aber es ist doch ein ausgesprochen schwacher Verstand, Charakter und Urteilsschwäche, mangelhaftes sittliches und rechtliches Gefühl unverkennbar vorhanden. Derartige schwachsinnige Menschen werden oft der Spielball ihrer Affekte oder ihrer sinnlichen Begierde und dadurch zu Verbrechern, weil bei^ ihnen die sittlichen und rechtlichen Gegenvorstellungen fehlen oder nur schwach hervortreten und sie nicht die volle Einsicht für ihre Hand- lungen und für die Folgen derselben besitzen. Das finden wir auch bei F. N.; so hätte er, wie in der Vorgeschichte erzählt wird, weil ihn ein Kamerad ärgerte, denselben im Zorne mit der Axt beinahe erschlagen, wenn der Meister nicht dazwischen getreten wäre; er hat in boshafter Weise eine geschnitzte Tür beschädigt, um sich für langes Warten beim Gebäckaustragen zu rächen. Und auch die jüngste Tat entspricht nur der sinnlichen Begierde des Nahmngs- triebes. Aus seiner Verantwortung gebt das Bewußtsein hervor, daß er in allen den genannten Fällen etwas Unrechtes tue und doch empfand er keinen Abscheu vor der Tat wie der normale Mensch; er empfand daher auch darüber keine Beue, er konnte auch die Größe des abfälligen Schadens nicht übersehen, er hat nur nach seinen egoistischen Trieben und Wünschen gehandelt, die altruistischen Gefühle sind bei ihm nicht aufgekommen. Daher läßt sich mit Be- stimmtheit folgern, daß bei ihm ein ethisches Unterempfinden, ein Mangel an Urteilsvermögen vorhanden ist.

F. N. hat aber die verbrecherische Handlung am 15. Jänner 1906 nicht begangen, weil er des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist, es lag bei ihm auch damals keine abwechselnde Sinnenverrückung vor, er war nicht berauscht oder in einem solchen verwirrten oder bewußtlosen Zustande, daß er nicht wußte, was er tat; man kann auch nicht behaupten, daß er diese Tat unter unwiderstehlichem Zwange ausgeführt hat wohl aber ist er schwach an Verstand, so daß ihm die wahre und richtige Einsicht in das Teuflische, Un- sittliche und Unrechtliche seines Beginnens mangelte.^

Zorechnongsfllhig? 199

Soweit das Gutachten:

Bei der SchwurgerichtsverhandluDg am 7. März 1906 wurde N. mit 12 Stimmen des Verbrechens des meuchlerischen Raubmordes nach § 134, 135 Z. 1. und 2 St. 6. schuldig erkannt und zum schweren Kerker in der Dauer yon 12 Jahren, jedes Vierteljahres mit einmal Fasten in Einzelnhaft verschärft yerurteilt. (Urteil yom

7./IIL 1906 ^^).

In der gegen dieses Urteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wurde geltend gemacht, daß der Antrag, der Verteidi- gung auf Einholung des Fakultätsgutachtens über den Geisteszustand des F. N. abgewiesen wurde und daß dem behaupteten Strafaus- schließungsgründe des § 2 lit a c St. G. entsprechende Zusatzfrage nicht gestellt wurde; der k. k. Oberste Gerichts- als Gassationshof in Wien verwarf mit der Entscheidung vom 26./V. 1906 Z: 6245 die Nichtigkeitsbeschwerde und F. N. trat am 28./V. 1906 seine Strafe an. Der Vollständigkeit halber sei hier der Teil der Gründe angeführt, welcher sich mit der geistigen Beschaffenheit des Angeklagten be- faßt, wiedergegeben.

Es heißt darin: ,,Die Ablehnung des Antrages auf Einholung des Fakultätsgutachtens kann den Nichtigkeitsgrund der Z 5 des § 344 St P. 0. schon deshalb nicht bilden, weil nach dem Wortlaute des § 126 St. P. 0. („kann'^) die Einholung eines Fakultätsgutachtens dem richterlichen Ermessen anheimgestellt ist, ohne das Gericht hier- zu zu verpflichten. Von einer Verletzung des Gesetzes kann aber dort keine Rede sein, wo dasselbe dem Richter blos ein Recht ge- währt, dieser aber hiervon keinen Gebrauch zu machen findet. Allein selbst abgesehen hiervon gebrach es im vorliegenden Falle auch an den Voraussetzungen des § 126. St P. 0.; das Gutachten der in der Hauptverhandlung vernommenen Gerichtsärzte war einhellig und mit keinem der in den §§ 125 und 126 St. P. 0. bezeichneten Mängel behaftet, daher einer Überprüfung durch Experte höherer Ordnung gar nicht bedürftig. Die psychische Minderwertigkeit der Angeklagten gaben beide Sachverständige ebenso zu, wie sie anderseits jede Geistesstörung desselben im Sinne des § 2 lit. a c St. G. ausge- schlossen haben. Darin liegt kein Widerspruch. Das Gutachten der Gerichtsärzte bezeichnet mit klaren Worten alle jene Momente, in denen die psychische Entwickelung des Angeklagten zurückgeblieben ist Er ist schwach an Verstand 46 lit a St G.), charakterschwach ; es fehlt ihm allerdings wie das Gutachten sagt, die wahre und richtige Einsicht in das Teuflische, Unsittliche und Widerrecht-

200 Vm. SvoBciK

liehe seines Beginnens; allein das Gute und Böse weiß er wohl zu unterscheiden, die Folgen seiner Tat einzusehen; nur die tiefe Ein- sicht eines normalen Menschen geht ihm ab. Das Gutachten läßt also klar erkennen, in welchen Richtungen psychische Defekte an dem Angeklagten yorkommen; sie treffen seine Intelligenz, sein ethisches Gefühl und seine Willenskraft^ erreichen jedoch nicht den Grad einer die Zurechnung ausschließenden Geistesstörung. Bedenken gegen die Richtigkeit dieses wohlmotiyierten Gutachtens lagen nicht vor und der Schwurgerichtshof hatte darum auch keinen Anlaß, von dem ihm nach § 126 St P. 0. zustehenden Rechte Gebrauch zu machen. 1)

Belangend den Nichtigkeitsgrund der Z. 6 des § 344 St. P. 0. ist zunächst hervorzuheben, daß die Verteidigung nach Ausweis des Hauptverhandlungsprotokolles eine Zusatzfrage lediglich in der Rich- tung des im § 2 lit a St G. bezeichneten Strafausschließungsgrundes der vorübergehenden Sinnesverwirrung beantragt hat Allein weder für diese Frage, noch auch für eine Zusatzfrage im Sinne des § 2 lit a und b St G. lagen die gesetzlichen Voraussetzungen vor. Zu- satzfragen nach einem Strafausschließungsgründe zu stellen, ist der Schwurgerichtshof nach § 319 St P. 0. nur dann verpflichtet, wenn behauptet wurde, daß ein Zustand vorhanden gewesen oder eine Tatsache eingetreten sei, welche die Strafbarkeit der Tat aus- schließen würde. Wird zunächst die Verantwortung des Angeklagten herangezogen, so ist in derselben die Behauptung eines nach § 2 lit a c gearteten Zustandes gewiß nicht zu finden. Er hat die Tat mit allen Einzelheiten ihrer Verübung eingestanden; er hat das Motiv derselben, seinen Entschluß, sich durch Ermordung und Be- raubung Subsistenzmittel zu schaffen^ angegeben ; er erinnert sich an alle Vorgänge, die der Verfibung der Tat vorausgingen und ihr nach- folgten, mit zureichender Schärfe; kurz seine Verantwortung zeigt un- getrübtes Bewußtsein bei Verübung der Tat und ist nichts weniger als die Behauptung eines Zustandes aufgehobenen Bewußtseins, wie § 2 lit a c St. 6. ihn voraussetzt Aber auch in den sonstigen Ergebnissen des Beweisverfahrens fand eine solche Behauptung nicht Ausdruck.

Worauf die Nichtigkeitsbeschwerde hier verweist, die Geistes- krankheit einer Cousine des Angeklagten, vom Lehrer Franz S. be- stätigte Unruhe, Spielsucht und Zerstreutheit desselben bei sonst

1) Wäre aber nicht der zweite Fall des zweiten Absatzes § 126 StP.O. vorgelegen, nach welchem ein Fakultatsgutachten wegen Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles eingeholt werden kann?

Zarechnangsfahig? 201

guten Anlagen und leichter Auffassung, dem Bäckermeister Karl L. gegenüber bewiesene Arbeitsunlust, Gleichgiltigkeit und „Dummheit^ (die übrigens L. für fingirt hielt), schon im Jahre 1903 im Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen Verbrechens der öffentlichen Gewalt- tätigkeit von den Gerichtsärzten konstatierte Begriffsstutzigkeit und geistige Beschränktheit desselben und yon dessen Haftgenossen, sowie dem Gefangenaufsichtspersonale wahrgenommene Gleichgiltigkeit und Stumpfheit sind allenfalls Symptome eines von der Norm einiger^ maSen abweichenden psychischen Zustandes und gaben diese Momente ebendeshalb zur Untersuchung des Geistes und Gemütszustandes des Angeklagten im Sinne des § 134 St P. 0. Anlaß; als Behauptung aufgehobenen Bewußtseins im Sinne des § 2 lit c St. G. oder einer sonstigen nach § 2 lit a oder b. St G. zu beurteilenden Geistesstörung aber können sie nicht gelten. Die gerichtsärztliche Untersuchung des Angeklagten ergab aber, wie schon oben hervorgehoben, nur eine geistige Minderwertigkeit desselben ; nur diese, nicht aber eine Geistes- störung oder auch nur vorübergehende Sinnenverwirrung wurde in den Ergebnissen des Beweisverfahrens behauptet, nämlich als wirk- lich existent bezeichnet. Eine solche Behauptung aber verpflichtet den Schwurgerichtshof keineswegs zur Stellung einer Zusatzfrage im Sinne des § 2 lit a c St G., die hier vorgesehenen Strafausschlie- ßungsgründe erheischen mehr als einen bloßen Defekt an der In- telligenz, dem sittlichen Gefühle oder der Willenskraft § 2 lit a St 6. spricht von gänzlichem Beraubtsein der Vernunft, bezieht sich also auf Menschen, denen jegliche Intelligenz abgeht, die das Gute vom Bösen nicht zu unterscheiden und die Folgen ihres Tun nicht einzusehen vermögen; § 2 lit b. St. G. setzt eine in der Intesität gleiche, jedoch nicht dauernde, vielmehr von lichten Intervallen unter- brochene Intellektsaufhebung und § 2 lit. c St G. endlich vorüber- gehende Aufhebung des Bewußtseins eines sonst geistig nicht ge- störten Individuums voraus. Gemeinsam ist allen diesen Zuständen, daß der Täter seine Tat zu erkennen nicht in der Lage ist, daß er nicht weiß, was er tut, und darum seine Tat weder bedacht noch beschlossen hat Einen solchen Zustand mangelnden Bewußtseins des Angeklagten im Zeitpunkte der Tat haben die Gerichtsärzte keineswegs behauptet, Angeklagter selbst aber hat zugegeben, daß er die Tat bedacht und beschlossen hat In der Nichtzulassung einer Zusatzfrage auf einen der Strafausschließungsgründe des § 2 lit a c St. G. kann somit eine den Nichtigkeitsgrund der Z. 6 des § 344 St P. 0. bildende Verletzung der Vorschriften des § 319 St P. 0- nicht gefunden werden." Soweit die Gründe.

202 Vin. SvoBciK

Die Frage, ob in wissenschaftlicher Beziehung die Zurech- nungsfähigkeit des N. festgestellt wurde, bleibt offen. Die Überprüfung des Gutachtens durch die Fakultät hätte in dem Falle Klarheit ver- schafft und hätte unter Umständen für die gerichtliche Medizin wert- volles Material geliefert

Hätte die Fakultät den Angeklagten für derart schwachsinnig erklärt, daß ihm seine Handlung nicht zugerechnet werden kann, so wäre der unglückliche Jüngling hinter den Mauern einer Irrenanstalt verschwunden; N. wäre für die menschliche Gesellschaft unschädlich gemacht worden. Ist es jetzt der Fall? Der schwachsinnige N. war zur Zeit des Urteils 18 Jahre alt und wurde za 12 Jahren schweren Kerkers verurteilt er ist also mit 30 Jahren wieder frei, in einem Alter, welches nach krim. statistischen Daten fast die ärgste Krimi- nalität aufweist. Nach dem eingestandenen Hergange der Tat : Nieder- schießen des ersten Besten, um etwas Geld zu erhalten ist Motiv und Vorgang so ziemlich das Gefährlichste, was wir uns an einem noch dazu minderwertigen Menschen denken können. Wie kann es gerechtfertigt werden,, daß dieses so höchst bedenkliche Individuum, wie ein bösartiges Baubtier, im Alter von 30 Jahren in Freiheit ge- setzt wird? Den Mann aber dann in ein Irrenhaus zu sperren wäre höchst inkonsequent^ weil Jeder fragen müßte, wie man dazu kam, ihn vorerst eine Strafe verbüßen zu lassen, wenn man sieht, daß er in ein Irrenhaus gehört Die moderne, weichliche Justiz wird es dazu bringen, daß man nach einer Art Faustrecht ruft und verlangt, daß sich der Einzelne gegen die absolut Unsozialen mit dem Revolver in der Hand wehren darf, wenn die Allgemeinheit von der Gerech- tigkeit nicht geschützt werden kann. Ob es den gänzlich Antisozialen besser gehen wird, wenn es tatsächlich zu einem bellum plurium contra singulos kommt, das ist eine andere Frage.

Der oberste Gerichtshof hat sich mit den einzelnen Punkten des § 2 des 0. St G. redlich geplagt und sie genügend oft zitiert aber Bestimmungen, die ihre 100 Jahre alt sind, lassen sich mit modernen wissenschaftlichen Auffassungen auch beim besten Willen nicht in Übereinstimmung bringen; hier kann nur die freie und geübte Tech- nik einer Fakultät nach klinischer Untersuchung Hilfe bringen.

Aber noch Eins. Die Unterbringung eines so gefährlichen In- dividuums in einer „Irrenanstalt'^ hat allerdings nur dann Sinn, wenn eine künftige Gesetzgebung dafür Sorge getroffen haben wird, daß solche Leute nicht plötzlich und ohne Wissen des Gerichtes und seiner Sachverständigen als „geheilt" enüassen werden.

Kleinere Mitteilnngen.

Von Ernst Lohsing in Wien.

Die gefälschte Handschrift Unter diesem Titel veröffentlicht Dr. Emil Postelberg im 3. Bd. des ^Pitavals der Gegenwarf^ (S. 269) in ausführlicher Darstellang die Geschichte des Strafprozesses gegen den Wiener Drechsler Markus PoUak wegen Verbrechens des Betrugs, begangen durch Anfertigung einer falschen Quittung. Der Angeklagte wurde 1902 deswegen zu acht Monaten schweren Kerkers verurteilt; die 1906 bewilligte Wiederaufnahme des Verfahrens ergab seine völlige Schuldlosigkeit.

Es ist nicht unsere Absicht, eine ausführliche Schilderung dieses sehr kom- plizierten Falls zu geben, zumal bei der prägnanten Ausdrucksweise Postel- bergs sich nicht viel von seiner Darstellung weglassen könnte. Auch ist es nicht die Tatsache des Justizirrtums an sich, die hier festgehalten werden soll, obwohl sie als solche dessen wert wäre. Weit interessanter smd jene Umstände, welche dem Gericht im Jahre 1902 für die Schuld des Angeklagten zu sprechen schienen. Das war zunächst die Tatsache einer Vorstrafe. PoUak war zur Last gelegt, er habe die Quittung über die Rückzahlung der Kaution einer bei ihm angestellten Verkäuferin ge- fälscht. Das Gericht hat in den Entscheidungsgründen primo loco fest- gestellt, daß sich PoUak zur Zeit der Tat in einer finanziellen Notlage befunden hat, daß auch andere seiner Verkäuferinnen nur mit gerichtlicher Hilfe ihre Kautionen ausgefolgt erbieiten und daß er ein Charakter ist, dem man eine solche Handlung zutrauen könne; denn er ist wegen Dieb- stahls vorbestraft. Der Umstand, daß die Diebstahlsvorstrafe 1880 ausge- sprochen wurde, als Pollak 22 Jahre alt war, kam nicht weiter in Betracht Entscheidend war demgegenüber der gute Eindruck der Belastungszeuginnen, die nicht vorbestraft waren. Der zweite Umstand, der gegen Pollak heran- gezogen wurde, war der, daß auch er den Täter in einer anderen Richtung suchte, als den Tatsachen entsprechend gerechtfertigt gewesen wäre, und daß er aus der Untersuchungshaft heraus Machinationen zu seiner Ent- lastung in Szene setzte; leider wird noch immer nicht verstanden, daß auch ein gänzlich Unschuldiger einen Entlastungsbeweis herzustellen bestrebt sein kann. Als dritter Umstand und das ist wohl die Hauptsache ßd das Gutachten der Schriftsachverständigen zu PoUaks Ungunsten aus, indem sie ihn als den Urheber der ominösen Quittung ansahen. Zweimal und von nicht weniger als 3 Sachverständigen wurde diese Behauptung aufgestellt. Von den Umtrieben zweier verbrecherischer Weiber, die mit

204 Kleinere Mitteilungezu

dem unschuldigsten Gesicht der Welt sich für andere Personen bei Gericht aasgaben und Meineide schwuren, die mit keiner Wimper zuckten, als in ihrer Gegenwart in der Person des Pollak jemand verurteilt wurde, dessen Schuldlosigkeit sie, die in Wahrheit Schuldigen, kannten, sei hier nicht weiter die Rede.

Aber auf die Notwendigkeit der von Schneickert befürworteten Reform der gerichtlichen Schriftexpertise muß endlich einmal eingegangen werden; an diesem Fehlurteil ist die Notwendigkeit dieser Reform dargetan. In diesem Sinne sei auf Postelbergs verdienstvolle Arbeit hingewiesen, in diesem Sinne seien seine, der Schriftexpertise in ihrer gegenwärtigen Gestalt geltenden Worte aufgegriffen: ,,Kann ein solches Hilfsmittel der Krimi- nalistik ernsthaft in Betracht kommen? Und bietet der Beruf, aus welchen Schriftexperten sich zu rekrutieren pflegen, der der Kalligraphen, wohl so besondere Garantien?^

Besprechnngen.

1.

Dr. Karl Wilmanns, Privatdozent a. d. Universität Heidel- berg: „Zur Psychopathologie desLandstreichers''. Eine klinische Studie. Mit 16 farbigen Tafeln. Lpzg., Job. Ambros. Barth. 1906.

Die Frage nach dem Landstreicher ist eines unserer schwierigsten und wichtigsten Probleme und in gewissen Richtungen geradezu der Typus für grundlegende allgemeine Erwägungen. Am Landstreicher studieren wir den echten Degenerierten und seine Verantwortlichkeit^ an ihm lernen wir den eigentlichen Unverbesserlichen kennen, mit dem wir einstweilen gar nichts zu machen wissen: theoretisch müßten wir ihn köpfen oder lebenslänglich einsperren praktisch behelfen wir uns mit völlig ungenügenden Palliativen. Am Landstreicher beobachten wir am besten das Entstehen ganzer Reihen verschiedener Verbrechen, die unter dem Segen ehrlicher Arbeit ausgeblieben wären, am Landstreicher sehen wir aber auch eine er- schreckende Menge ungerechter Strafen, die über „unverbesserliche, arbeits- scheue^ verkommene, faule, trunksüchtige und geriebene Individuen" ver- hängt wnirden, aber bloß arme Geisteskranke getroffen haben. Das letztgenannte Moment sorgfältig zu untersuchen ist der Hauptzweck des voriiegenden, äußerst fleißig und mühsam gearbeiteten Buches, voll von Überlegungen und Anregungen. W. hat sich der großen Arbeit unter- zogen, nicht bloß trockene Krankengeschichten, sondern die genaue Ent- wickeiungsgeschichte samt allen gerichtlichen und disziplinaren Abstrafungen biographisch von 52 Landstreichern zu erheben und darzustellen und diese Geschichtsdarstellungen zum Schlüsse in sinnreich erdachten farbigen Flächen- Diagrammen verständlich zu machen. Alle diese 52 Bedauernswerten landen fast ausnahmslos im Irrenhaus, nachdem die weitaus meisten von ihnen noch zu einer Zeit oft gestraft wurden, in der sie sclion längst geisteskrank gewesen sein müssen.

Zu erwähnen ist noch die Einleitung mit einer Begriffsbestimmung der Dementia präcox, an der, im weitesten Sinne genommen, die meisten echten Landstreicher leiden. Diese klare Darstellung ist gerade auch für den Kriminalisten sehr belehrend.

Ich empfehle ; das äußerst beherzigenswerte Buch aufmerksam zu studieren.

Hans Groß.

206 Besprechungen.

2.

Stooß Carl, Professor der Rechte a. d., Universität in Wien: Strafrechtsfälle für Studierende. Wien und Lpzg., F. Deutike 1907.

Diese 128 Fälle sind ganz ausgezeichnet zusammengestellt: einfach klar und doch interessant und zum Nachdenken und Ausdehnen anregend. Ich hatte Oelegenheit^ die Sammlung schon im Seminar des Wintersem. 1906/7 zu benutzen, und war erfreut über das Interesse, welches sie bei den Studenten ^- diesmal allerdings vorzügliches Material erweckt hat Einige Fälle beschäftigten die Leute da stets nachgeschlagen, gelesen und gesucht wurde bis zu 4 und 6 Stunden. Diese Sammlung kann nicht genug empfohlen werden. Die wenigen Zeilen der ^^nleitung'' sind wohl zu beherzigen! HansGroß.

3.

Dr. Georg Lelewer, kk. Hauptmann, Auditor und Leiter des Landwehrgerichtes in Czernowitz. t;^^o strafbaren Verletzungen der Wehrpflicht in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Darstellung'^ Wien und Lpzg., 1907. K. und k. Hof buchdruckerei und Hofverlagsan- stalt Paul Fromme.

Durch das vorliegende, einfach und klar geschriebene System wird eine tatsächlich bestehende Lücke ausgefüllt. Im ersten Teile werden die verwaltungsrechtlichen Begriffe der Wehrpflichtfragen erläutert, im zweiten Teile werden die Wehrpflichtsdelikte systematisch und rechtsvergleichend dargestellt Das Buch kann für die schwierigen darin behandelten Fragen dringend empfohlen werden. Hans Groß.

4.

Havelock Ellis. Die krankhaften Geschlechts-Empfindungen auf der soziativer Grundlage. Autorisierte deutsche Ausgabe, besorgt von Dr. Ernst Petsch. Würzburg., A. Stubers Verlag. 1907.

Die wertvollen Arbeiten des Verf. haben über eine Menge von sexuellen, dem Kriminalisten wichtigen Vorgänge Klarheit geschafft Der vorliegende Band enthält eigentlich nicht genau das, was man nach dem Titel er- warten sollte: etwa Homosexuelles, Masochismus, Sadismus etc., sondern er bespricht eine Menge von sexuellen Fragen in ihrer Entwicklung und zeigt, wie nahe die pathologischen und normalen Verhältnisse in vielen Fällen beisammenstehen und wie Vorgänge, die scheinbar arg pathologisch sind, sich noch in normaler Erscheinungsbreite bewegen. Von besonderer Wichtigkeit sind die Kapitel über den erotischen Symbolismus und die Psychologie der Schwangerschaft Hans Groß.

Besprechungen. 207

5.

Dr. Rudolf Wassermann, Beruf, Konfession und Verbrechen. Eine Studie über die Kriminalität der Juden in Ver- gangenheit und Gegenwart Aus ,, statistischen und natio- nalökonom. Abhandlungen etc. herausg. von Dr. Georg von Mayr, Prof. der Statistik, Nationalökonomie und Finanzwissenschaft a. d. Univ. München, kaiserl. Unter- staatssekretär a. D., München 1907. E. Reinhardt.

Es scheint jetzt Sitte zu werden, aus der Kriminalstatistik die günstigere Kriminalität der Juden beweisen zu wollen; daß man diesfalls von der Statistik wieder eine Leistung verlangt, die zu leisten sie nicht vermag, habe ich bei der Besprechung der Arbeit von Blau (Bd. XXVII p. 189) darzustellen versucht. In dieser Frage kann die Statistik Daten bringen, aber Konklusionen dürfen nicht gezogen werden. Es wird zugegeben, daß die Frage der Religion nicht maßgebend ist, da wir nur wissen, in welcher Religion einer angemeldet wurde; die Frage der Rasse und Religion wird nicht scharf auseinandergehalten und endlich wird zugegeben, daß die getauften Juden anthropologisch doch Juden bleiben und statistisch als Christen zählen. Was aber das Wichtigste ist, liegt in der Art der be- gangenen Delikte. Nehmen wir ein ganz krasses Beispiel. In den Städten A und B mit je 10000 Einwohnern wären im Jahre 1906 und zwar in A bloß 1 0 schwere Verbrechen (keine Vergehen, keine Übertretungen) be- gangen worden. In B aber im selben Jahre keine Verbrechen, keine Ver- gehen, wohl aber 2000 Übertretungen. Es wäre nun eine ganz müßige Frage: „Wer ist braver: die Leute von A oder die von B?" Solche Ver- gleichsfragen zu lösen, hilft uns eben die Statistik nicht, und bei der Frage nach der Kriminalität der Juden ist die Stellung auch keine andere: die Juden begehen andere Delikte häufiger, andere Delikte seltener als die Christen und hier mit einer Wertung vorzugehen, ist unzulässig. Dazu kommen noch unzählige Nebenfragen. Auf der einen Seite sagt Verf. z. B. daß die Juden mitunter so erschreckend arm sind (p. 16), auf der anderen Seite wieder, daß die größere Wohlhabenheit der Juden sie vor Diebstahl schützt (p. 56). Also: Wie wirkt denn Armut und Geldbesitz?

Die neue Methode des Verf., die sich in der „spezifischen Kriminalität dnes Beruf es^^ darstellt, hilft auch da nichts, da hier nur eine Seite be- rührt wird, die eigentliche Frage der Vergleichbarkeit wird nicht gelöst.

Die Freunde der Statistik mögen also dabei bleiben, sie einstweilen Daten liefern zu lassen, die Schlüsse dürfen wir nur in vereinzelten Fällen, vorsichtig ziehen, sonst kommen wir wieder zu dem alten Satz: „Zahlen beweisen so, wie man sie stellt". Und Wert und Zahl ist nicht ver- gleichbar. Hans Groß.

6.

Dr. Ewald Stier Stabsarzt a. d. Kaiser Wilhelms-Akademie: „Die akute Trunkenheit und ihre strafrechtliche Begut- achtung in besonderer Berücksichtigung der militär.

208 Besprechungen.

Verhältnisse". Mit 1 Tafel und 1 Kurve im Text. Verl» von Gust. Fischer in Jena. 1907.

Obwohl dieses Buch eigentlich für reichsdeutsche Militärverhältnisse bestimmt ist, so macht es der weite Blick und die allgemeine Fassung doch für jeden Kriminalisten wichtig. Vor allem wird wieder auf Grund der exakten und zweifellosen Feststellungen von Kräpelin, Fürer, Smith, Kurz u. a. auf die absolute Schädlichkeit des Alkoholgenusses, audi in geringen Mengen, hingewiesen und dargetan, daß bei Delikten im Rausch immer ärztliche, psychiatrische Untersuchung des Betreffenden notwendig ist. So zweifellos dies ist, so sehr ist diese Notwendigkeit noch keineswegs allge- mein bekannt Freilich kommen pathologische Rauschzustände nur bei pathologisch veranlagten Menschen vor, aber ob einer ein solcher ist, läßt sich im allgemeinen nicht sagen, und häufig wird das Pathologische eines Menschen eben erst in einem Rausche erkennbar.

Auch in diesen Fragen haben wir Juristen unzählige in vergangener Zeit begangene Sünden gut zu machen, was wir nur durch erhöhte Ge- wissenhaftigkeit tun können und diese besteht auch hier darin: jedesmal den Arzt fragen. Das Stier *sche Buch sollte jeder Kriminalist lesen.

Hans Groß.

7.

Hans Landau, Rechtspraktikant „Arzt und Kurpfuscher im Spiegel des Strafrechts. Ein Beitrag zur ärztl. Frage/ München, J. Schweitzer Verlag (Arth. Sellier) 1899.

Verfasser behandelt die wichtige Frage in zwei Hauptstücken: Der Arzt als Angeklagter und der Kurpfuscher als Angeklagter, beides haupt- sächlich vom Standpunkte des Reichsgesetzes aus. Er kommt zu dem Schlüsse, daß eine „Deutsche Ärzteordnung^^ nötig sei, die Reichsgewerbe- ordnung habe auf Ärzte keine Anwendung zu finden, § 31 und 174 RStG. und § 6, 35 a R.G.O. seien entsprechend zu ändern.

Hans Groß.

8.

Robert Sommer, Doktor der Medizin und Philosophie, o. Professor a. d. Universität Gießen. Familienforschung und Vererbungslehre. Mit 16 Abbildungen und 2 Ta- bellen. Lpzg., Joh. Ambros. Barth. 1907. Was Rob. Sommer schreibt, ist zum mindesten immer originell und anregend. Der größere Teil der vorliegenden Arbeit ist genealogischen Inhalts und nicht von kriminalistischer Bedeutung, umsomehr aber die Kapitel des ersten Teiles, namentlich die über „Anlage, Erziehung und Beruf"; „Familie und Rasse"; „psychopath. Beiaatung und Degeneration"; „Individuelle Anlage und Geisteskrankheit"; „Kriminalität und Vererbung"; „Vererbungsgesetze" etc., die uns über Fragen, für uns wichtigster Art gut und verläßlich unterrichten. Es sind dies alles Dinge, über die sich der moderne Kriminalist klar sein muß und über die er hier Auskunft erhält

Hans Groß.

IX. Die drei Mörder Bioemers.

Von Strafanstaltsdirektor Dr. med. Faul FollltZy Düsseldorf-Derendorf.

Am 1. September 1906 wurden die Brüder Adolf nnd Leonbard Bioemers hingericbtet, wäbrend die gleicbfalls zum Tode verurteilte Ebefrau zu lebeusläDglicber Zucbtbausstrafe begnadigt wurde. Die Einzelheiten der furchtbaren Tat, und die Persönlichkeit der Täter verdienen ein besonderes Mafi von kriminalpsychologischem Interesse. Von vornherein gelang es, aus den umfassenden Geständnissen der beteiligten Personen sowohl vor Gericht, wie nach ihrer Verurteilung ein vollkommen klares Bild der Ausführung des sorgfältig geplanten Verbrechens zu gewinnen und weiterhin in mehrmonatUcher Beobach- tung und häufigen Explorationen einen Einblick in die psychische Konstitution der Verbrecher zu erlangen, wie sie nur in seltenen Fällen möglich sein wird.

Der 27 Jahre alte Adolf Bioemers zog am 1. September 1905 mit seiner Ehefrau, geb. S . . in das Hinterhaus des vom später Ermordeten, dem Oberstleutnant a. D. R. bewohnten Hauses unter Ge- währung freier Wohnung und einer Entschädigung von 15 M. monat- lich, während Frau Bioemers die Verpflichtung übernahm, die Woh- nung des R. in Stand zu halten.' Letzterer hatte dem Bioemers eine Stelle in einer Tischlerei verschafft, die dieser jedoch bald wieder aufgab. Der jüngere, 25 Jahre alte, Leonbard Bioemers, der im Hause nicht wohnen sollte, war wegen eines geringen Lungenleidens ebenso wie der erstere meist untätig. Am Donnerstag, den 19. October 1905 vormittags war die Ehefrau Adolf Bl. im Schlafzimmer des Oberstleutnants beschäftigt. Während dessen kamen die beiden Brüder in das nebenangelegene Arbeitszimmer. Leonbard, der die Nacht über in der Wohnung seines Bruders geschlafen hatte, zog nach der späteren Angabe der Ebefrau Bl. die unverschlossene Schublade des Schreibtisches auf und fand hier 280 M. in Goldstücken vor. Als er

irehir ffir Kriminaluithropoloi^ie. 27. Bd. 14

210 IX. POLUTZ

letztere sah, meinte er „damit wäre ihnen geholfen, sie müßten sehen, daran zu kommen^.

Auf die Frage des Adolf, wie das zu machen sei, meinte Leon- hard, das Beste sei, den R. zu ermorden und auf die Frage wie? durch „Vergiften". Die Ehefrau machte auf das Gefährliche des Unternehmens aufmerksam, erhielt jedoch von einem der Brüder die Antwort: „Es passiert so viel in der Welt". An diesem Tage wurde die Sache nicht weiter erörtert. Nach ihrer Verurteilung haben die drei Täter, die sich in der Voruntersuchung einer auf Kosten des anderen möglichst zu entlasten suchten, die Sache stets in gleicher Weise so dargestellt, daß erst am folgenden Tage am Freitag einge- hend der Mordplan erwogen worden sei. Sie gelangten zu dem Schlüsse, auf Vorschlag des Leonhard, sich Gift zu beschaffen, das die Ehefrau dem E. im Kaffee beibringen sollte. Es sei gleich er- wähnt, daß Frau Bl. zwar an der Beratung teilnahm, im übrigen aber die Beteiligung an der Vergiftung ablehnte. Übereinstimmend gaben sie an, daß L. und A. nach Düsseldorf reisten, um aus einer Apotheke „Gift" zu beschaffen, während die Ehefrau Bl. das Reise- geld hergab. Vorher hatten beide Brüder bereits Geldbeträge von jenen 280 M. an sich genommen. Zuerst versuchte Adolf in einer Apotheke „Gift" zum Aufpoliren oder „Bleimasse", „Giftstoff" oder „KaJi" zu erhalten, wurde jedoch belehrt, dafür Spiritus zu nehmen. Sein Bruder Bernhard machte ihm wegen seines ungeschickten Vor- gehens Vorwürfe und versuchte nunmehr seinerseits in einer anderen Apotheke „Gift zum Töten eines Hundes" zu erlangen. Da ihm jedoch ein polizeilicher Erlaubnisschein abverlangt wurde, so fuhren beide unverrichteter Sache nach M.-Gladbach zurück. Bei der weiteren Beratung am Freitag Abend scheint Adolf, der wie später zu erörtern ist, der bei weitem intelligenteste der 3 Tatgenossen war, die führende Rolle gespielt zu haben. Alle drei kamen nunmehr überein, am folgenden Tage, den R. durch Lärm auf den Speicher zu locken und mit einem Hammer zu erschlagen. Dieser Plan scheiterte an dem Umstände, daß der R. früher als sonst die Wohnung verließ. Adolf gibt allerdings noch als besonderen Grund für die Unterlassung der Tat an diesem Tage den Umstand an, daß der Ermordete ihm be- reits frühzeitig auf der Treppe begegnet sei und ihn so freundlich angeredet habe, daß er sich zur Tat nicht stark genug gefühlt habe. Am Samstag mittag berieten die drei wiederum, wie sie zum Ziele kommen könnten. Nach Adolfs Darstellung stammt der definitive Plan, den R. durch Lärmen in den Keller zu locken, dort einen Streit anzufangen und ihm den Schädel einzuschlagen von Leon-

Die drei Mörder Bloemers. 211

bard BL, dabei sollte sich letzterer im Keller der Miteinwohnerin W . . . bereit halten, um im gegebenen Moment einzugreifen. Über die Behandlung der Leiche waren sich die Täter noch nicht ganz klar. Frau Bloemers^ die, wie aus allen Aussagen deutlich hervor- geht, in allen diesen Beratungen eine sehr aktive Rolle spielte, war ebenso wie Leonhard für ein Versenken in den Rhein. Jedenfalls waren alle drei über die programmgemäße Ausführung der Tat nun- mehr einig. Es wurde Bier und Wein getrunken mit dem Vorsatz, am Montag zeitig aufzustehen. Beim Eaffetrinken am Montag früh, zu dem die Männer Wein nahmen, um sich Mut zu machen, wurde von einer Seite zur Eile gemahnt, damit die Zeit nicht verpaßt werde. Dann gingen die beiden Brüder gegen 7 Uhr mit Hämmern bewaffnet in den Keller, nachdem die Miteinwohnerin, eine Lehrerin, das Haus verlassen hatte. Adolf schlug mit solcher Kraft gegen eine Holzbütte, daß der Hammer zerbrach, so daß ihm Leonhard den seinen gab, während dieser nunmehr mit einem Beile versehen im Seitenkeller Posten stand. Sehr bald erschien R. im Keller und stellte den Adolf zur Rede; dieser machte, um R zu reizen Einwen- dungen, so daß letzterer ihn grob anfuhr und beschimpfte; so dann suchte R. den Keller zu verlassen. In diesem Moment erschien Leon- hard und gab seinem Bruder einen Wink. Adolf ging hinter R. her und versetzte ihm einen wuchtigen Hieb auf den Kopf, so daß der Getroffene nieder sank, nunmehr gab Leonhard mit dem Rückende des Beils dem R 2 3 Hiebe, so daß es ;; einen quatschenden lauten Ton^ gab. In der Annahme, daß R. tot sei, gingen beide in die Wohnung zurück. Adolf erklärte seiner Frau „er ist tot". Nunmehr wollte Leonhard sich den Dolch des R. holen und beim Bürger- meister Anzeige erstatten, daß sie den R. in der Notwehr erschlagen hätten, wurde aber vom Ehepaar Bloemers zurückgehalten. Die Sache sei jetzt angefangen und müsse zu Ende geführt werden. L. holte sich nichtsdestoweniger den Dolch und nun gingen beide mit einer Kerze in den Keller. Hier vernahmen sie schwache Laute „mach auf, mach auf" und merkten, daß R. noch lebte. Um diese Zeit wurde an der Haustür geschellt; als die hinzu kommende Ehefrau erschien, rief ihr Adolf zu „er lebt noch, mach die Blende vors Fenster". Frau Bl. fertigte einen in Steuerangelegenheiten erschienen Polizeisergeanten ab und schloß die Fensterblenden. Nach einer An- gabe, die die Bl. im Anfang ihrer Haft gemacht^ später aber be- stritten hat, soll sie die Bemerkung getan haben Jetzt habt Ihrs so weit gemacht, nun machts auch zu Ende". Die beiden Brüder gingen daher nochmals mit einer Kerze in den Keller, und sahen den R

14*

212 IX. POLLITZ

blutüberströmt auf der halben Kellertreppe stehen, sie schlössen wieder ab uud holten große Steine heran jeder beschuldigte den anderen der Täterschaft übereinstimmend gaben sie aber an, daß zuerst Adolf ohne zu treffen, dann Leonhard nach R geworfen^ so daß letzterer rücklings die Treppe herabstürzte ; dann warfen sie noch mehrmals dem tief Röchelnden die Steine auf den Kopf, und Adolf brachte ihm mit größter Wucht eine große Anzahl Dolchstiche bei (so daß die Rippen zerbrochen wurden sagt das Obduktions- protokoll) mit den Worten „da liegst du, du hast mich oft genug ge- ärgert^. Sodann nahm Adolf, (wie er später stets eingestand) eine Sä^e und sägte den Kopf ab, während Leonhard den Ringfinger abschnitt Die in den Kleidern des R. gefundenen 35 M. teilten sie, *5 M. erhielt die Frau. Die im Schreibpult vorhandenen 280 M. wurden ebenfalls verteilt, der Kopf in einen kleinen Handkoffer ver- packt und bereits am Nachmittage in einem Gebüsch an der Viersener Chaussee vergraben. Es ist in vieler Hinsicht von Interesse, daß die Beseitigung und Entfernung der Leiche aus einer bewohnten Straße sich mit solcher Leichtigkeit vollzog, daß mehrere Monate lang kein Verdacht auf die Bl. fiel, obgleich ihr Vorgehen weder sehr vor- sichtig noch auch besonders raffiniert war. Einer der Brüder entlieh sich gegen Abend 8 Uhr eine Karre bei einem Polsterer, „um etwas** fortzubringen, nachdem bereits am Nachmittage eine Stelle zur Ver- scharrung der Leiche an der Ghausse ausgewählt worden war. Sie fuhren sodann die Leiche an den betreffenden Ort, während Frau Bloemers Wache hielt Nachdem die Leiche beseitigt war, fuhren sie mit dem Koffer wieder nach Hause. Am Dienstag verbrannten sie die mit Petroleum getränkten Kleider und den abgeschnittenen Ringfinger. Besuchern wurde gesagt, der Oberstleutnant sei verreist, dem Polizeikommissar erklärten sie später wiederholt, R. sei nach England verreist. In der Tat, fand sich auf seinem Schreibtische eine ausgebreitete Karte von England. Von großer Bedeutung ist die sicher gestellte Tatsache, daß Frau Bl. bereits mehrere Tage vor der Tat, die Brötchen beim Bäcker abbestellte, „da R. verreisen wolle." R. war am 22. Oktober zum letzten Male gesehen worden. Etwa einen Monat später fing die Familie an ungeduldig zu werden und vorsichtige Erhebungen anstellen zu lassen. Es ist allerdings schwer verständlich, daß der Verdacht der Tat so spät erst Mitte Januar auf die Mitbewohner des Hauses fiel. Schon der Umstand, daß beide Brüder dauernd arbeitslos waren und keinerlei Versuche machten, sich Arbeit zu beschaffen, mancherlei Einkäufe der Frau besonders vor Weihnachten eine Revision der Wohnung auf Geld, Wert-

Die drei Morder Bloemers. 213

Sachen, Kleider, Erhebungen über etwaige vorherige Ankündigung der Reise im Bekanntenkreise, an der Bahn u. s. w. hätten sehr wohl früher einen Fingerzeig geben können Auf der anderen Seite dürfte der Umstand, daß die Bloemers bisher nur in sehr geringem Maße kriminell geworden waren, sie vor dem Verdachte eines so schweren Verbrechens geschützt haben. Einige Wochen nach der Tat kam die Schwester der Ehefrau Bl., Ida, zu Besuch, während Leonhard einige Zeit danach einer Lungenheilanstalt überwiesen wurde. Jedenfalls fühlten sich die Täter in den folgenden Wochen so sicher, daß sie mit großer Dreistigkeit alle Wertgegenstände aus der Wohnung zum Pfandleiher brachten oder verschenkten. Auch das Versetzen zweier wertvoller Figuren, die bereits Mitte November in der Wohnung ver- mißt wurden, scheint keinen Verdacht erweckt zu haben. Kein Wunder, wenn sich die Bl. nunmehr gesichert glaubten. Charak- teristisch für die Persönlichkeiten und die bei ihnen herrschende Stimmung sind einige Schriftstücke vom Ende des Jahres^ die hier vollständig mitzuteilen sind. Am 1. Januar 1906 schrieb Adolf an seine Schwester Kosa in Bocholt einen Neujahrsglückwunsch aus Nym- wegen, wo er zu Besuche weilte und um Sachen zu versetzen. Liebe Schwester Kosa. Mit diesen wünsche ich Euch viel Heil und Segen zum neuen Jahr in der Hoffnung, daß Ihr von allen Kämpfen und Unheil möget verschont bleiben und ein langes und glückliches Leben, und Freude und Pläsier. Da ich heute Morgen Euren Brief empfangen habe, so will ich Euch doch zurück schreiben, welche Nachricht ich in Bocholt erhielt, daß unsere Lena schrieb, daß sie sehr begierig sei, daß ich käme und Josef auch. Aber Mutter schrieb auch, ich soll nur kommen und auf Dreikönigen, dann könnt Ihr auch, nur die Genten (Geld) ha ha ha. Ich habe nur 10 Mark in der Woche und da soll ich auch noch reisen gehen. Was ist nur das für ein närrischer Mensch, sollt Ihr wohl denken, wo muß er doch das Reisegeld von bezahlen ein Narr der he? Ja ja ja. Mädchen so denke ich auch schon dran wo muß ich das denn holen? Aus meiner Nase kann ich es nicht schlenkern. Ja nun gehst Du kaput, wo muß es dann wohl herkommen??? Ich weiß es auch nicht, ich habe schon überlegt, aber ich kann nicht dahinter kommen; könnt Ihr vielleicht dahinter kommen Rosa? Aber eins da will ich nicht drüber urteilen und hoffen, daß unser lieber Herr wohl nicht und immer von den drei Königen soll sagen, dem Ludwig muß geholfen werden, aber wo wohnen die drei Könige denn? Ha ha ha ha, ich glaube, daß sie in M.-61adbach und in Bocholt wohnen ha ha ha, ich habe sie gefunden glaube ich. Nun gehst du kaput.

214 IX. PoixiTz

aber wir werden mal sehen, wie das mit dem Ludwig geht. Das ist mir ein komischer Kerl, der Herr. Nnn alles hat gut gegangen, das soll wohl auch noch gut gehen he? Und noch was anderes. Ich habe vom Vater Josef Schnupftabak im Brief geschickt bekommen mit dem Verschen dabei ,,schnupfe nur Junge, schnupfe nur", und ich habe verdammt so lange geschnupft bis es alle war und genießt wie ein Narr. Nun Rosa ich hoffe, daß ihr nicht denkt, daß ich verrfickt bin, daß ich so schreibe he und nun Kosa muß ich endigen. Es friert, daß es kracht und die Tinte erfriert mir beim Schreiben. Und was sollen sie in Bacholt kucken, wenn ich dort ankomme, ich weiß, ganz Bocholt war auf den Beinen

so die Kinder und die Kotten die Ziegen und die Schweine und die Hühner und die Hahnen doch die Kirch war zu ha ha ha.

Doch das Vornehmste wäre, wpnn sie mich mit einem Speck- kuchen auf der Station abholen würden und ich müßte den auf der Stelle aufessen he? Nun Röschen vielmals gegrüßt von Ludwig und seine Frau und Kinder und alle Komplimente.

Adieu bis Wiedersehen Adolf Bloemers.

Ebenso viel Interesse verdient ein vom 1. Januar 1906 datirtes Schreiben der Frau Bl. an ihre Eltern. Daselbe lautet: Liebe Eltern wir wünschen Euch ein glückseliges neues Jahr und wir hoffen das dieses Jahr ein besseres für uns wird sein, als wie das verflossene. Wir wollen hoffen, daß das neue Jahr Papa die Gesundheit bringt und uns allen das tägliche Brot und die Freude des Herzens. Wie geht es Euch? Geht es mit Papa wieder besser? und bist du liebe Mama noch gesund? Adolf, Anna, Sophie und ich sind noch alle gesund. Liebe Eltern. Christkindchen hat mir viel gebracht, einen Einsteckkamm, ein Portemanie, ein paar Handschuhe, einen Kragen vor auf mein Kleid, 2 Eaudekolon-Flaschen, einen weißen Unterrock, eine Brosche, eine Schachtel mit Kouverts und schreib Papier, 3 Schleifen vor ans Kleid zu stecken, 6 weiße Kragen und 2 paar Manschetten, und noch mehr von solchen Kleinigkeiten, ich kann es jetzt nicht all schreiben. Liebe Eltern! Adolf hat noch keine Arbeit, und die Frau R.^ hat noch kein Geld bezahlt. Ihr könnt wohl denken das jetzt hier auch knapp her geht, aber Adolf wird wohl, so Gott will bald Arbeit bekommen. Die kleine Sophie hat einen Zahn bekommen, sie kann bald alles sprechen; und sie ist auch sehr lieb,

1) Frau des Ermordeten.

Die drei Mörder Bloemers. 215

sie schläft von Abend 7 Uhr bis Morgens 8 Uhr und dann von 10 Uhr bis 1 Uhr, nachmittags von 2 bis halb 5 Uhr. Liebe Eltern! Ist Tante Mathilde eine halbe oder eine richtige Schwester von Papa? ich und Anna haben uns darüber gestritten. Ich bin schon ange- meldet und man hat uns nichts gesagt. Libe Eitern! so bald ich kann, werde ich Euch besuchen, ich würde schon gerne jetzt ge- kommen sein, aber wie Ihr wißt, kann ich nicht. Einen Herzlichen Xeujahrs-Kuß von Sophie. Herzlichen Grüße von Adolf, Anna und Ida"^. Femer finden sich 2 Ansichtskarten aus dieser Zeit Die eine ist vom 30. X. 05 datirt, von Adolf in holländischer Sprache an seinen Bruder Louis gerichtet, in dem er seine Ankunft für den folgen- den Tag ankündigt, während Leonhard in einer seitlichen Notiz sich ebenfalls ansagt. Über der Karte stehen die hier offenbar sehr ernst gemeinten Worte. „Et haat noch joot gegangen bot derdomen (heißt etwa Schweineglück oder auch sau dumm) ha ha ha Anna^. Die andere Karte vom 29. Dezember datirt und ebenfalls an den Bruder Lonis gerichtet, enthält in goldenen Buchstaben 1906 mit der Überschrift „glückliches Neujahr^. Sie ist von Leonhard aus der Heilanstalt zu Wittlich gesandt, und lautet etwa: Lieber Bruder! Ich wünsche Euch allen zum neuen Jahr das beste, was ich wünschen kann. Ich bin hier in der Kur: wenn ich meine Gesundheit wieder habe, fang ich an meiner alten Stelle für 3 Mark an. Mehr habe ich nicht zu schreiben. Es grüßt u. s. w. Die cynische Freude über die durch den Mord erzielte bessere Lebenslage tritt nur in den Briefen des Adolf hervor, seine Andeutungen über plötzlich gewonnene Geld- mittel — an sich unter den gegebenen Verhältnissen höchst unvor- sichtig — zeigen am deutlichsten, daß er sich als der eigentliche Held der Situation betrachtete, dessen Geschicklichkeit der bisherige Erfolg zu verdanken war. Daß er seine Kolle mit einiger Geschicklichkeit spielte, geht aus einem weiterhin mitzuteilenden Brief vom 17. Novem- ber hervor, in dem er offenbar gemeinschaftlich mit seiner Frau die über das geheimnisvolle Verschwinden ihres Verwandten nunmehr beunruhigte Schwägerin zu beruhigen suchte. Der Brief ist von Adolf in gebrochenem Deutsch verfaßt und lautet:

Wehrte Frau Major ß.

„Wir haber Ihren Wehrten Brief erhalten und dar aus vernommen das Sie uns auskunft fragen wegen Ihre Wehrte Schwager. Wir können Ihnen leider nichts mitteilen wo er is, den er hat uns kein Bescheid gesagt Sontag 22te October hat er an meine Frau gesagt er wolte in nächster Tagen Montag oder Dienstag verreisen, für

216 IX. POLXITZ

einige Woche. Nun Montag abend den 23. Oktober) gegen 5 Uhr hat er myne Frau bestellt, sie mußte Sorgen das um halb Sieben ühr abend essen gedekt sein sollte; was aug geschöö ist Da meine Frau nichts mehr zu versorgen hat, sint wir gegen sieben Uhr spatzieren gegangen, da es grade schaufensteraus Stellung^ und waren um neun (9) Uhr wider zurück, da wollte meine Frau den Tisch abdekken, aber er hat nog nichts geessen, da dachten wir nichts anders ob er war voraus gegangen, morgens den 24. Oct. um halb sieben Uhr (V'z 7) hat meine Frau wie gewöhnlich, ihm warmes (Basier) wasser for die Thüre gesteld, und wie immer angeklopft, aber ohne antword zurück zu kriegen; Sonst sagte er immer gut das is das wasser stehen geblieben bis 10 Uhr; weil der Her Ober Leutenand nie so lang slafen thät; bin ich mal errein gegangen und klopfte auf sein Slafzimmer thür an (ohne erfolg) da nahm ich mich die Freiheit und ging in's Slafzimmer errein, aber zu mein erstaunen war der Her Ober Leutenant nicht da und 's Bett war nicht gebraucht das is dan aug alles was wir selbs wissen und wachten aug jeden tag auf Bescheid, wo er is und wem er wider kommt den er hat aug uns kein geld gegeben, und sind aug schon viele hier gewesen mit rechnungen, die wir natürlich nicht bezahlen können und deshalb wir wachten müssen bis das der Her Ob.-Leut- nand wider kommt. Briefen und Seitungen kommen bis jetz nog alle hier an und habe schon ein grose häufe hier liegen. Wir wissen aug nicht was wir denken müssen sons sagte er immer, wo hin er ging und schickte uns seine Adresse. Was er jetz alle nicht gethan hat Wehrte Frau Major R. wir können aug leider nicht mehr mit teilen. Achtungsvoll Herr und Frau Adolf Bloemers (dar- unter) Entschuldige wegen des undeutliche Schreiben, wir sind ge- borene Holländer und können nicht besser Deutsch schreiben." Dieser gewandte Brief sollte wahrscheinlich nicht nur der Ablenkung jedes Verdachtes, sondern auch der Zuwendung von Geldmitteln dienen. In Verlegenheit waren die drei allerdings nicht. Nachdem sie sich alle Baarmittel geteilt hatten das erwartete Sparkassenbuch fand sich jedoch nicht vor begannen sie Adolf, Leonhard und die besuchs- weise anwesende Ida, die soeben aus dem Gefängnis zu Wittlich zurück gekehrt war, mit ebenso viel Dreistigkeit wie Erfolg das Hab und Gut des Ermordeten zu versetzen. Dabei wurde, nachdem sich die ganze Sache so gut angelassen hatte, wenig Vorsicht angewendet Wertvolle Figuren, Gemälde, Gold-Gegenstände wurden teils in M.-Glad- bach selbst, teils in dem nahe gelegenen Viersen, Venlo oder auf holländischem Boden versetzt und der Erlös unter die Genossen ge-

Die drei Mörder Bloemers. 217

teilt Für die Art des Vorgehens der Verbrecher ist die Aufzähinng der versetzten Gegenstände nicht ohne Interesse. Jene wertvollen Figuren wnrden in Viersen für 30 Mark, ein goldener Ring, Medaillon und Perlenkreuz für 60 M. am 19. Dez. 05, sodann am 23. Dezember eine Standuhr aus Bronze, eine silberne Zuckerschale, silberne Tafel- Gegenstände, eine Perlenkette, ein goldenes Kreuz für 189 M. ver- setzt, femer 6 silberne Gabeln, Messer und 16 Obstmesser für 77 M. Am 20. Dezember wurde in Viersen auf 2 Gemälde 150 M. erhoben and am 9. Januar 06 auf ein Bild in der Leihanstalt M.-Gladbach (von Adolf Bloemers) 100 M. Bei diesen Diebstählen und ihren Ver- setzungen scheint die Schwester der Frau Bloemers eine bedeutsame Bolle gespielt zu haben. Über ihre Person sei hier nur erwähnt^ daß sie mit 16 Jahren wegen Brandstiftung zu 15 Monaten Gefängnis ver- urteilt worden und unmittelbar nach Verbüßung dieser Strafe, anfang Dezember zu Bloemers gekommen war. Eine größere Anzahl von Wertgegenständen waren in Nymwegen unter gebracht oder an Ange- hörige verschenkt worden.

Am 11. Januar 06 wurden die drei Täter in Haft genommen. Während Adolf jede Kenntnis über das Verbleiben des B. zuerst ab- leugnete, legte Leonhard, nachdem ihm vorgehalten war, seine Schwä- gerin habe bereits alles gestanden, ein Bekenntnis ab, indem er die Tötung als einen Notwehrakt gegenüber dem seinen Bruder verfol- genden Ermordeten darstellte, während er selbst gänzlich unbeteiligt sei. Auf Vorhalt machte nunmehr die Ehefrau Bloemers ein wahr- heitegemäßes Geständnis, dem sich Adolf anschloß, indem er seinen Bruder als den Hauptschuldigen hinstellte. Es ist von sekundärem Interesse, daß die Mörder jeder dem anderen den größeren Teil der Schuld zu zuschreiben suchten ; wichtiger ist die Motive festzustellen, die die Schuldigen für ihre Tat anführten. Frau Bloemers sagte: „Zu der Tat hat uns die Not gezwungen. Mein Mann und mein Schwager waren ohne Arbeit und Verdienst", Leonhard: „wir wollten an Geld kommen und zweitens weil der Oberstleutnant oft Auftritt mit uns hatte^ . Erst später in der Haft und nach der Verurteilung hat Adolf eingestanden, daß sie von dem Gelde des Getöteten bereits vor der Tat entwendet hatten und den furchtbaren Plan faßten, um mehr zu erlangen. Über die Ausführung des Verbrechens gibt das Obduktions- protokoll einen wichtigen und objektiven Anhalt.

Die Leiche war in den Knien gebeugt, der Kopf lag neben dem Rumpf. Auf der Brust fanden sich auf der linken Seite 8 Haut- wunden, von einem scharfen Instrumente herrührend, von denen 4 tief ins Herz, 4 in die Lunge führen. Auf dem Schädel fand sich eine

218 IX. POLLITZ

5 cm lange, quer verlaufende, und 2 ca 8 cm lange, längs verlau- fende Knochenbrüche, ein weiterer Knochenbruch findet sich am rechten Jochbogen, der aus seinem Zusammenheng mit dem Gesichts- skelett losgelöst ist. Einer der vorerwähnten Schädelknochenbriiche bildet eine klaffende Knochenspalte, die in ihren Ausläufern bis in die Augenhöhle reicht, an einer Stelle in einer kleinfingertiefen Delle endet während im Gesicht auch das linke Jochbein, Nasenbein, rechter Oberkiefer und Gaumenbein in einzelne Stücke getrennt sind. Die Knochenbrüche erstrecken sich bis auf die Schädelbasis, bei deren Besichtigung man erkennt^ daß die linke untere Hälfte des Stirnbeins vollkommen von ihren knöchernen Verbindungen getrennt ist Das Gutachten gelangt zu dem Schlüsse, daß R. durch ausgedehnte Zer- trümmerungen des Schädeldaches, der Schädelgrundfläche und des Gesichtsschädels und Stiche ins Herz und Lunge getötet sei. Über die Reihenfolge, in der die Verletzungen erfolgt sind, läßt sich keine bestimmte Aussage machen. Die Schädelverletzungen waren allein tötlich.

Über das weitere Verhalten der drei Täter sind in psychologischer Hinsicht eine Reihe Einzelzüge von Interesse. So versuchte Frau Bl. die wie vorweg erwähnt sei einzelne Zeugen ihrem ganzen Charakter nach für die Hauptschuldige hielten, durch Erdrosseln im Bett gleich in den ersten Tagen der Haft ihrem Leben ein Ende zu machen, während die beiden Brüder, wie bereits in den ersten Ver- hören, immer wieder versuchten, einer dem anderen den größeren Teil der Schuld zu zuschieben, ohne jedoch die Ehefrau zu entlasten, deren vollkommenes Einverständnis und Mitbeteiligung an allen Be- ratungen beide betonten. Anfänglich schien Adolf bestrebt, seine Frau möglichst zu belasten entgegen einer angeblich nach der Tat gege- benen Zusage, um wie Frau Bloemers meinte mit ihr gemein- sam zu sterben.

Die psychologische Analyse der drei Täter, deren furchtbare Tat in ihren Einzelheiten, der sorgfältigen Vorberatung und nüchternen Abwägung über die beste Methode der Ausführung, unter mehrtägigen wiederholten Beratungen, mehr wie jeder Mordfall das Charakteristi- kum der „Überlegung** im eminentesten Sinne enthält, gibt zu mancherlei Erwägungen Anlaß.

Die beiden Brüder Adolf und Leonhard sind 26 und 25 Jahre alt Adolf ist intelligent und geistig normal entwickelt, er schreibt in etwas gebrochenem deutsch recht gewandte und innige Briefe an seine Familie, besonders an seine Frau. Über die Aszendenz ist folgendes festzustellen :

Die drei Mörder Bloemers. 219

1) Großvater und Großmutter von Mutters Seite sind Besitzer eines Bauernhofes gewesen, letztere 88 Jahre alt gestorben. Beide ehrenhafte, wohlsituirte Leute.

2) Großvater und Großmutter väterlicherseits, dem Berufe nach Schneider, wohlsituirt und unbescholten.

3) Die Mutter Bloemers sehr religiös, streng katholisch erzogen, etwas redselig, oberflächlich, hängt sehr warm an ihren Kindern. Sie gilt als brav und fleißig.

4) Der Vater ist Schneidermeister und nicht bestraft.

Aus dieser Ehe stammen drei Söhne und drei Töchter, eins ist Dienstmädchen, zwei sind anständig verheiratet Der Bruder Louis ist ebenfalls unbescholten und hat nach 9 jährigem Dienste in Holland eine Beamtenstellung erhalten.

Die beiden Mörder sind ebenfalls in Holland Soldaten gewesen, haben sich aber schlecht geführt

Geisteskrankheiten, geistige Defektzustände und Epilepsie, Alko- holismus scheinen in der Familie nicht nachweisbar zu sein.

Adolf ist ebenfalls ein nüchterner Mensch, er ist nie vorbestraft, seit mehreren Jahren mit der zu erwähnenden Frau verheiratet, ein Kind ist tot, eins lebte damals. In den letzten Jahren ist er faul und arbeitsscheu geworden und hat keine Stelle trotz mehrfach gebotener Gelegenheit übernommen. Nach dem Morde hat er in höchst dreister Weise von dem so leicht und schnell Erworbenen ein bequemes Faulenzerleben geführt Alle Urteile in dieser Hinsicht lauten über- aus ungünstig. Vielleicht liegt hier der Schlüssel zu seinem Verhalten bei der Mordtat, deren intellektueller Urheber er ohne Zweifel war? vor die Wahl gestellt sich endlich aus seiner parasitären Lebensführung zu regelmäßiger Arbeit aufzuraffen oder auf schnelle Weise die für ihn imponierende Summe von fast 300 M. zu erlangen, ließ er sich schließlich nicht vor den extremsten Entschlüssen zurückschrecken. Er war im Rat und bei der Tat der Aktivste und Führende. Im Gegensatze zu seinem brutalen und offenbar unter dem Einfluß der blutigen Situation geradezu wilden Vorgehen bei der Tat, zeigte er sich, nachdem sehr bald das Gefühl schwerster Reue und Gewissensbisse über ihn gekommen war, als ein durchaus weicher, gutmütiger, lenkbarer Mensch mit nicht geheucheltem Familiensinn und innerlich kirchlich religiösem Gefühl. Daß es sich hier nicht um wohlberecbnete Gefängnisfrömmigkeit und theatralisches Reue-Markieren bandelte, zeigte sein Verhalten bis zur Hinrichtung. Er verteidigte sich nicht, legte keine Revision ein und erklärte, als das sehnsüchtig erwartete Todesurteil kam, mit ruhiger Stimme „ja ich habe es redlich

220 IX. POLLTTZ

verdient und nehme es gern an". Noch wenige Minuten vor der Exekution erklärte er mir, er freue sich nunmehr die ihm jetzt immer unverständlichere Tat sühnen zu können. In seinem Äußeren machte Adolf einen harmlosen Eindruck, sah jüuglinghaft und jugendlicher aus, als seinem Alter entsprach. Eine Häufung sog. Degenerations- zeichen habe ich nicht feststellen können. Der Schädel hatte bei einer Körpergröße von 1,74 m einen Horizontalumfang von 56,6 cm, bei einer Länge von 19,3 und Breite von 14 cm. Die Stimpartie des Schädels tritt stärker hervor, die Zähne waren gut entwickelt, der Gaumen nicht abnorm, in den Ohren fand sich „das Darwin'sche'^ Knötchen.

Leonhard Bloemers ist der jüngere Bruder, 25 Jahre alt, er ist einmal wegen Diebstahls mit 3 Wochen und wegen Betteins mit Haft vorbestraft. Eine träge, rohe Natur, die bis zum Ende stumpf und gleichgiltig blieb, ohne innere Reue und ohne tieferes sittlich religiöses Gefühl, das auch kaum ernstlich erweckt werden konnte. Bis zur Tat war er ebenfalls dauernd dem Nichtstun ergeben, wozu ihm ein leichtes Lungenleiden willkommenen Vorwand gab. Er „feierte'^ meist krank und suchte die Krankenkassen auszunützen. Seine Intel- ligenz ist gering. Vom 7 9. Jahre war er mit dem Bruder Louis im Kloster erzogen worden, war stets schwächlich und scheint daher etwas bevorzugt worden zu sein. Seine Kenntnisse sind mangelhaft, er muß oft mehrfach gefragt werden, ehe er antwortet Er sah seinem Schicksal, trotz einer erklärlichen Todesangst, mit verhältnismäßig stumpfer Ruhe entgegen, nur beim Besuche der Mutter trat eine etwas tiefere Regung bei ihm hervor. In seinem Äußeren macht er keinen sympathischen Eindruck, ohne daß die Schädel- und Gesichtskonfigu- ration grobe Degenerationszeichen darböte. Sein Leumund war über- aus schlecht^ er galt für faul und unehrlich und scheint auch in sexueller Hinsicht einem exzessiven Leben zugeneigt gewesen zu sein. Nichts ist charakteristischer den Unterschied in der Persönlichkeit beider Brüder klarzustellen, als ihr Verhalten nach der Tat. Wie Adolf überall die führende Rolle übernahm, so fühlte er sich nach- dem die Sache wochenlang so gut gegangen war, vollkommen als der Herr der Situation: ich erinnere an die cynische Postkarte, mit dem später so verständlichen Fastnachts-Motto „Et hat noch jot ge- gangen'' oder jenen Brief, in dem er mit dem so unerwartetem Wohl- stande seiner Familie gegenüber renommirt. Von alledem findet sich bei Leonhard keine Spur.

Frau Bloemers, geborene S . . ., 28 Jahre alt. Ihr Vater ist Hausirer und Händler, die Mutter erfreut sich keines guten Rufes.

Die drei Mörder Bloemers. 221

Eine Schwester ist mit 16 Jahren wegen Brandstiftung bestraft und hat sich sofort nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnisse an dem Versetzen des R*schen Besitzes beteiligt Ein Bruder soll unbescholten sein. Bis zu ihrer Verheiratung war Frau Bl. stets im Dienste und hat sich gut geführt Sie hat 2 Kinder geboren von denen eines früher, das andere während der Untersuchungshaft starben. Während dieser ganzen Zeit sie war seit Anfang Oktober 1905 gravida machte sie den Eindruck einer moralisch vollkommen stumpfen Person, die mit großer Sicherheit auf ihre Begnadigung rechnete. Dabei war sie eine Frau von guter Intelligenz, eine unsympathischen Eatzen- natur, von der die Mitgefangenen erzählten, sie bedauere nur, daß alles herausgekommen und die Sachen ihnen abgenommen seien, und wäre, wenn unbeobachtet, heiter und guter Dinge, indem sie ihre Schuld und Mitbeteiligung an der Tat als äußerst gering darstellt Daß sie an allen Vorbereitungen und Beratungen, sowie bei der Aus- führung der Tat eine sehr wesentliche Rolle gespielt hat, kann nach der oben gegebenen Darstellung unter Berücksichtigung ihrer Per- sönlichkeit nicht zweifelhaft sein. Ihre Bestrafung aus § 211 des St-6.-B. erfolgte auf Grund der Bestimmungen des § 47 über Mit- täterschaft Äußerlich eine armselige, häßliche kleine Frau mit stark hervortretender, breiter Nase, die an der Wurzel sattelartig eingesenkt war, sodaß die Stirn um so stärker hervortrat Der Mund ist groß, die Züge abstoßend. Die starke unter der Not der Lage etwas überschwängliche Zärtlichkeit des Mannes erwiderte sie nur in sehr kalter Weise. Nachdem sie Mitte Juli geboren hatte, hielt sie eine weitestgehende Berücksichtigung ihrer Mutterschaft für eine ganz natürliche und berechtigte Forderung. Die Schädelmaße betragen: Umfang 53 cm, bei einer Körpergröße von 156 cm, Schädellänge 15,5, Breite 13, Jochbogenbreite 10 cm.

Betrachtet man die drei Täter unter einheitlichem Gesichtspunkte, 80 interessiert in erster Linie die Frage, ob bei einem der Täter psy- chopathische Momente ausschlaggebend oder mitwirksam bei der Ausführung der Tat gewesen seien. Ausscheiden kann ohne weiteres die Verwertung des beginnenden Schwangerschaftszustandes der Frau ^), der in seinen ersten Anfängen bei einer mehrfach Graviden kaum entscheidende Einwirkungen auf das seelische Gleichgewicht ausgeübt haben kann. Nur für Leonhard wird man femer vielleicht einen ge- wissen Grad von intellektueller Schwäche anerkennen, während das Fehlen jedes sittlichen Gegenmotives bei allen dreien gleichmäßig

1) Kraepelin, Psychiatrie, VI. Aufl., pag. 62 ff.

222 IX. POLLITZ

in die Erscheinung tritt. Dabei bleibt jedoch die bemerkenswerte Tatsache bestehen, daß dieser sittliche Mangel bei allen dreien bisher nicht durch kriminelle Handlungen manifest geworden ist, wenn man von der geringen Vorbestrafung des Leonhard absieht, eine Erfahrung, die grade bei dem schwersten Verbrechen nicht ganz selten zu machen ist Es ist hier nicht ohne Interesse das Ergebnis einer Zusammen- stellung von Mord und Totschlagfällen (letztere als solche durch das Schwurgericht so charakterisirt) zu betrachten. Daß im vorliegenden Falle die Kriterien des Mordes im eigentlichsten Sinne vorliegen, indem ^der bei der Tat obwaltende Vorsatz als das Ergebnis einer besonnenen Verstandestätigkeit erscheint^ ^), ist kaum zu bestreiten, ja man wird schwerlich viele analoge Fälle finden, in denen jedes affek- tive Moment so in den Hintergrund tritt, wie im vorliegenden Falle. Weingart '^) betont mit Recht, daß der Mord nicht selten die erste kriminelle Betätigung des Täters darstellt Die von ihm gegebene Einteilung nach psychologischen Gesichtspunkten unterscheidet 7 Haupt- gruppen ; die jedoch nicht ohne weiteres auf den Mordbegriff des St G. B. anzuwenden sind. Als typisch möchte ich den Baubmord, den sexuellen Mord (Eifersucht) u. a. m., den Bachemord, den Mord zur Beseitigung einer Not- oder Gefahrlage bezeichnen. Von den 15 von mir eingehend untersuchten Mördern waren 9 zum Tode verurteilt, zwei hingerichtet, einer gemäß § 178 d. St G. B. zu lebenslänglichem Zuchthaus, die übrigen zu höchsten Zuchthausstrafen verurteilt worden. Von der Gesammtzahl sind 10 niemals vorbestraft gewesen, nur zwei waren erheblich mit Gefängnisstrafen, keiner mit Zuchthaus vorbe- straft Es ist nicht meine Absicht das Material an dieser Stelle ein- gehender mitzuteilen, nur so viel sei noch bemerkt In drei Fällen wurde die sorgfältig prämeditirte Tötung ausgeführt, um eine ge- schwängerte Liebschaft zu beseitigen, in zwei weiteren wurde einmal die Schwester, die einem Liebesverhältnis im Wege stand, im anderen ein Kind, das der in Ehescheidung lebenden Mutter zugesprochen werden sollte, ermordet. In vier weiteren Fällen handelt es sich um einen Baubmord. Bemerkenswert erscheint, daß alle diese Mörder dies gilt auch für den Fall Bloemers noch unter dem 30. Lebens- jahre standen. Von jenen 15 Tätern waren 7 nicht über 21 Jahre alt, ein kriminologisch wie psychologisch gleich beachtenswertes Phänomen, dessen Erklärung in der grösseren Impulsivität des jugend- lichen Alters und der noch verminderten Fähigkeit die Folgen abzu- messen, oder andere Mittel zur Beseitigung einer schwierigen und ver-

1) Oppenhoff, Strafgesetzbuch, 13. Aufl., pag. 495.

2) Krim mal taktik, pag. SSI.

Die drei Mörder Bloemers. 223

zweifeiten Sitnation zu snchen, seine Erklärung finden dürfte. Be- fcanntlich stellt das jüngere Lebensalter!) - besonders die Puber- tätszeit — em auffallend großes Kontingent an Mördern, ganz abge- Mhen von seiner an sich relativ großen Beteiligung an der schweren Änminalität überhaupt. Eine gleiche Auffassung über die Häufigkeit des Mord^ in dieser Altersperiode von 18-24 Jahre vertritt Holtzen-

u \ m '""^ '^* ^^^ ^^'^ ^«'"^l 80 faä'^e Jn diesem Lebens- luter als Totschlag. Immerhin ist bei emer derartigen Gegenüber- stellung zu berücksichtigen, daß nicht jeder Fall, in dem die Anklage Mord oder die Geschworenen Totschlag annehmen, psychologisch nchhg subsumiert ist Dafür Beispiele anzuführen, erscheint über- uussig. Die rein rechüichen Beziehungen zwischen Mord und Tot- scülag ergeben die eigenartige Konsequenz, daß die strafrechtliche Ahndung einer hierher gehörigen Tat zwischen der Verhängung der lodesstrafe und einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten schwankt

Z Sos' ^*"' ''"*^^'*® "»^er. Arehiv für Kriminalanthropologio,

II. Bd., 1903.

Beriin^'i f^K'^f-f^'tT ^'"^^- S»""nlung wissenschaftiicher Vorträge, Heft 232 Bertrn 1875. Ludentz'sche Buchhandlung, pag. 41.

X. über Kindesmord.

(Ein Beitrag zur Frage nach den Gründen seiner Sonderstellung.)

Von

Professor Dr. W. Graf Gleispaoh in Prag.

In seinem Heidelberger Vortragt) hat Hans Groß die sehr berechtigte Forderung aufgestellt, die zukünftige Straf gesetzgebung habe da^ psychologische Prinzip viel mehr als bisher zu berück- sichtigen. An einzelnen Beispielen wird dann gezeigt, einerseits, wie sich der Vortragende die Verwertung dieses Prinzipes de lege ferenda denkt, andererseits, wie heute feststehende Ansichten einer Prüfung vom psychologischen Standpunkt aus nicht standhalten können. In dieser zweiten Richtung werden die Gründe der besonders milden Behandlung der Eindestötung untersucht und das Ergebnis lautet*^): es „müssen die gesamten psychopathischen Einwirkungen bei und nach der Geburt, welche seit ungefähr 100 Jahren im Strafrecht eine so große Rolle gespielt und so viele Schwierigkeiten verursacht haben, aus unsren Erwägungen völlig ausgeschlossen werden: sie haben psychologisch nie gewirkt". Und ferner: „Wir kommen daher diesfalls zu dem Schlüsse, daß wir, die wir doch auch den Eindes- mord privilegiert und milde behandeln wollen, hiefür ganz andere Erwägungen aufsuchen müssen; ob wir mit der Lehre vom sogen. Ehrennotstand unser Auslangen finden werden, ist sehr fraglich*'. Dieses Ergebnis und die Erwägungen, auf denen es sich aufbaut, scheinen mir anfechtbar und es sei mir deshalb gestattet, einige polemische Bemerkungen an sie anzuknüpfen. Dabei kann es sich vielfach nur darum handeln, Gedanken und Tatsachen, die auch schon anderwärts ausgeführt und berichtet worden sind, einer Ansicht gegen- überzustellen, die wenigstens in dieser Schroffheit und Allgemeinheit

1) „Kriminalpsychologie und Straf politik'*, abgedruckt in diesem Archiv 26, 67—80.

2) A. a. 0. S. 75 und 76.

über Kindesmord. 225

meines Wissens vor Groß nicht vertreten wurde. Ihr gegenüber auch die Wirksamkeit älterer Gründe zu erproben, diesen Versuch rechtfertigt wohl die hohe Aktualität, die heute allen Gesetzgebungs- fragen zukommt. Es sei aber auch noch darauf hingewiesen, daß die Ansicht von Groß dem Ergebnis der jüngsten, umfassenden Be- handlung des Verbrechens der Eindestötung den Boden entzieht, den legislativen Vorschlägen von Liszts in der „Vergleichenden Darstellung^ i). Denn sie beruhen, wie auch schon die vorhergehende kritische Erörterung der geltenden Gesetzgebung, auf der freilich auch bedenklichen Annahme, daß durch den Einfluss des Geburtsvorganges die motivierende Kraft der zur Tötung treibenden Vorstellungen*^) wesentlich gesteigert werde, und sie finden gerade darin den Grund- gedanken jener Gesetzgebungen, an die sie sich anlehnen. Der Ge- dankengang bei Groß aber ist kurz folgender: 1. Die wenn ich so sagen darf landläufige Auffassung sucht den Grund für die milde Behandlung der Kindesmörderin z. T. in der durch die Geburts- vorgänge veranlaßten psychopathischen Geistesverfassung, z. T. in den überwältigenden Sorgen wegen des Unterhaltes und der bevorstehenden Schande. 2. Obwohl manche Gesetzgebungen den Ehrennotstand als allein maßgebend angesehen haben, ist doch unter allen umständen der psychopathische Zustand der Täterin Ursache der Milderung; wenn Kindestötung überhaupt milder bestraft wird, so ist der abnorme Znstand bei und sofort nach der Geburt das mildernde. 3. Psycho- logisch ausgedrückt heißt das: Die Einflüsse bei dem Geburtsvorgang wirken derart verwirrend, daß die Furcht vor Not und Schande mit abnormer Kraft ausgestattet wird und die normalen Instinkte auf Beschützung des Neugeborenen überwältigt. Diese psychologische Begründung ist aber gerechtfertigt nur unter der Voraussetzung, daß der maßgebende Entschluß zur Tötung infolge und während der psychopathischen Geburtsvorgänge entstanden und gefaßt worden ist, daiS das Töten von psychopathischen Vorgängen bei der Geburt kausiert war. 4. Diese Voraussetzung trifft tatsächlich niemals zu.

I.

1. Bleiben wir zunächst bei dem letzten Punkt stehen. Soweit Groß hier auf Grund seiner reichen praktischen Erfahrungen spricht, kann es mir nicht einfallen, diesem Schatz meine Beobachtungen

1) Vergleichende Darstell ang des Deutschen nnd Ausländischen Straf- rechts 5, 11« ff.

2) Welche Vorstellungen da in Betracht kommen nnd daß v. Liszt nur die den Ehrennotstand begrÜDdendcn berücksichtigen will, interessiert hier noch nicht.

Archir für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 15

226 X, GiiEisPACH

gegenüberstellen zu wollen, die absolut und gar relativ höchst be- scheidenen Umfanges sind. Da er aber die Frage auf wirft, ob man auch nur einen einzigen Fall kennt, in welchem der geschilderte Her- gang (Tötungsentschluss während der Oeburt gefaßt) ^nachweisbar gewesen ist, so darf ich doch auf einen Fall hinweisen, bei dessen Verhandlung J) ich als Schriftführer mitzuwirken hatte. Die wegen Verbrechens nach § 139 St. G. angeklagte Dienstmagd M. 6. hat nicht bloß behauptet, vor der Geburt, die sie überraschte, die Tötung des Kindes nicht beabsichtigt zu haben, sondern sie konnte auch darauf hinweisen, daß sie Wäsche für das Kind vorbereitet und durch Monate ihren kärglichen Lohn zusammengespart hatte, um für das Kind sorgen zu können. Einige andere Fälle entnehme ich der Literatur. Vibert^) berichtet von folgendem Fall: „üne jeune fille primipare, peu intelligente, est admise ä deux reprises dans un höpital comme atteinte d'un kyste de I'ovaire; pendant son second s^jour, eile accoucha dans les latrines d'un enfant k terme qu'elle pröcipita imm6diatement dans la fosse. Elle assura, qu'elle ne s'ötait jamais crue enceinte. Elle avait pu croire elle-meme k l'interprötation des mädedns^^ Diesem an die Seite zu stellen ist ein ähnliches Vorkommnis, das in Henkes Zeitschrift^) beschrieben wird: Ein zweiundzwanzig jähriges etwas dummes, sonst braves Mädchen wurde im Bausch entjungfert und geschwängert; von ihrer Schwangerschaft hatte sie keine Ahnung bis zum rechtzeitig erfolgten Geburtsakt. Davon im Freien überrascht warf sie das Kind entsetzt in den Wassergraben. Fabrice*) erzählt: „Vor einem halben Jahre wunderte sich eine ganze Gemeinde, daß ein Mädchen, dessen Charakter als sanft, offen und brav allgemein bekannt war, ihr Kind ins Wasser warf, von dessen Geburt es auf dem Felde überrascht wurde. Die Untersuchung aber ergab, daß es der Geliebte, mit dem es mehrere Jahre in Verbindung gewesen, ver- lassen hatte, weil dessen Familie die Mitgift des Mädchens für zu gering hielt. Ihr Vater, ein sonst sehr braver aber strenger Mann, hatte die Tochter körperlich gezüchtigt, bloß auf den Verdacht hin, sie könne schwanger sein, die Familie des früheren Geliebten be- schimpfte sie bei jeder Gelegenheit. Offen und reumütig gestand die Angeschuldigte ihr Verbrechen bei der ersten Frage. Das Schwur-

1) üauptverhandlung vor dem Grazer Schwurgericht am 16. Mai 1899.

2) Pr6cis de m^dicine legale, 4e 6d. 416.

3) Jahrgang 1853, vgL Fabrice, Die Lehre von der Eindcsabtreibang und vom Kindesmord, 2. Aufl. von A- Weber, S. 282.

4) a. a. 0. S. 807.

über KindeBmorcL 227

gericht mußte sie desselben schuldig erklären, aber in voller Berück- sichtigung der geschilderten Umstände wurde das niederste Strafmaß zugeteilt Man mußte dem armen Mädchen Glauben schenken; wie es bei der Schilderung der Oeburtsvorgänge einfach erklärte: „vor Ängsten wußte ich damals wahrhaftig nicht wo aus, wo ein^.

Über einen weiteren Fall ist sehr ausführlich in diesem Archiv ^) berichtet worden. Am 9. Dezember 1901 fand der Eisenbahnwächter auf dem Eisenbahndamm nächst Pörtschach ein neugeborenes totes Kind zwischen den Schienen liegend auf. Das Strafverfahren ergab, daß das Kind von der Magd I. H. an diesem Tag während der Eisenbahnfahrt am Abort geboren und durch Hindurchzwängen durch die Öffnung d^ AbortschaJe getötet worden war. Die H. war außer- ehelich geschwängert, ihre Schwangerschaft ihren Dienstgebern, die sie als sehr fleißig und brav schildern, bekannt, und diese hatten bereits im September gewußt, daß sie schwanger war, wollten ihre Entbindung abwarten und sie dann wieder in Dienst nehmen. Am 9. Dezember stellten sich Wehen ein und die Dienstgeberin ließ eine Hebamme holen. Da diese sagte, es fehlen zum normalen Ende der Schwangerschaft noch beiläufig 3 Wochen das Kind war in der Tat nicht völlig ausgetragen so entschloß sich die H., nach Klagenfurt ins Gebärhaus zu fahren. Wegen der bereits vorhandenen Wehen rieten Hebamme und Dienstgeber von der geplanten Abreise ab, doch stellte die erstere die Geburt erst für die kommende Nacht in Aussicht, während der von der H. benützte Zug bereits um 2 Uhr N.-M. in Klagenfnrt eintrifft Die H. trat also die Reise an und die Wehen steigerten sich, so daß der Zustand der H. von den Mit- reisenden bemerkt wurde. Die H. ließ sich den Abort zeigen, ent- ledigte sich dort ihres Mieders und kehrte auf ihren Platz zurück. Unmittelbar vor Pörtschach wurden die Wehen heftiger, sie ging wieder auf den Abort, um die Not zu verrichten; hierbei wurde sie angeblich von Schwindel erfaßt und nun ging das Kind ab. Als sie dies merkte und aufstand, konnte sie nach ihrer Angabe das Kind nicht mehr erreichen, da es schon bis auf die Füsse durchgerutscht war. Es wurde ihr schwarz vor den Augen und sie fühlte sich sehr schwach. Die Verantwortung der H., daß das Kind durchgerutscht sä, wird durch den Augenschein (Verhältnis der Maße des Kindes- kopfes und der Abortöffnung) widerlegt. Das Schwurgericht hat die H. einstimmig schuldig gesprochen.

1) Ein FaU von Kindesmord. Von Dr. Jos. R. v. Joscb, kaiserl. Bat und Landefigerichtsarzt in Klagenfurt 9, 882 ff.

15*

228 X. Gleibfach

Einen sehr interessanten Fall erwähnt Roustan 0^ nur sind leider manche wichtige Einzelheiten auch hier nicht mitgeteilt Der Tochter wohlhabender Landleute, die von ihrem Verführer geschwängert worden war, gelang es, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen, ihrer Mutter aber gestand sie ihren Fehltritt ein. Bei Beginn der Wehen schloß sie sich in ein Zimmer ein, wo ihr ihre Mutter Beistand leistete. Die Geburt war schon weit fortgeschritten, der Kopf des Kindes ragte bereits zum Teil hervor, als das Mädchen, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit ihrer Mutter be- nützend, einen großen Schlüssel ergriff, der sich im Bereich ihrer Hände befand, und damit wiederholt auf den Kopf des Kindes los- schlug. Das Mädchen erklärte, als es später zur Verantwortung ge- zogen wurde, es habe in dem Glauben gehandelt, auf diese Weise bewirken zu können, daß das Kind wieder in den Mutterleib zurück- weiche und die Geburt aufgehalten werde.

Ich bin mir der Einwendungen sehr wohl bewußt, die gegen die angeführten Fälle vorgebracht werden können. Sie beweisen nicht allzuviel, aber sie berechtigen doch jedenfalls dazu, Widerspruch zu erheben gegen den Satz: „In allen Fällen, in welchen ein Kind bei der Geburt getötet wurde, hat die Mutter eher die Schwangerschaft geleugnet, hat keine Vorbereitungen für das Kind getroffen" u. s. f. Sie zeigen auch, daß nicht in allen Fällen der Beschluß, das Kind zu töten, schon lange vor der Geburt gefaßt wird. Ich möchte auch nicht bezweifeln, daß den wenigen vorstehenden Fällen noch so manche weitere mit ähnlicher, nur vielleicht noch praegnanterer Sachlage angereiht werden könnten, und dazu anzuregen ist mit ein Grund für die Veröffentlichung dieser Zeilen2).

Doch es müßte eine lange Keihe von Einzelbeobachtungen vor- liegen, damit man uns nicht doch entgegnen könnte: Solche Aus- nahmen bestätigen nur die Regel. Worauf gründet sich aber diese Regel, worin bestehen die Stützen der Behauptung, der Tötungs- entschluß werde immer oder doch von seltenen Ausnahmen abgesehen lange vor der Geburt gefaßt? Groß führt dreierlei an: Die Mutter, die ihr Kind bei der Geburt tötet, leugnet ihre Schwangerschaft,- sie trifft keine Vorbereitungen für das zu erwartende Kind; sie entbindet im Geheimen und ruft keinen Beistand herbei. Es sei sofort ein-

1) De la psychicitö de la femmo pendant Paccouchement (Etade de respon- sabiJitQ Bordeaux 1900, S. 33.

2) Verf. erklärt sich auch gerne bereit, einzelne Beobachtungen und Falle, für deren Mitteilung er den Einsendern zu Dank verpflichtet wäre, entgegen zu nehmen, um sie gelegentlich zu veröffeuthchen.

über Kindesmord.

229

geränint, daß diese Umstände in der Mehrzahl der Fälle vorliegen, ja es mag dieses Verhalten der Schwangeren die Begel genannt werden. Aber es beweist nicht, daß der Tötungsentschluß schon lange vor der Geburt gefaßt war. Das Verhalten, das so belastend für die Schwangere sein soll, wird auch in Fällen beobachtet, in denen sodann das neugeborene Kind nicht getötet wird und nichts dafür spricht, daß nur etwa ein äußeres Hindernis die Ausführung des gleichwohl vorhandenen Tötungsentschlusses verhindert hätte. Vor allem aber ergibt die Betrachtung der persönlichen Verhältnisse der Schwangeren, die zu Kindesmörderinnen werden, eine Reihe von Gründen, die das bezeichnete Verhalten völlig erklären, ja die dazu geradezu nötigen. Aus der österreichischen amtlichen Statistik ergibt sich folgen- des Bild*):

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1) Zur Ergänzung vergl. hiezu und überhaupt zu den statistischen Bemer- kungen Hoegel , Die Straffälligkeit des Weibes, Groß'Archiv 5, 231 ff., bes- 262 ff. Bonger, Criminalit6 et conditions 6conomiques (Amsterdam 1905) bringt auch BtatiBtische Daten (699 ff.), doch sind sie recht wähl- und kritiklos aus allen möglichen Quellen zusammengetragen, manchmal fehlt selbst die Angabe der Quellen.

230 X. Gleibpach

Der Kindesmord wird tiberwiegend von Ledigen begangen; die Täterinnen befinden sich fast ausnahmslos in wirtschaftlich abhängiger Stellung, sind vermögenslos und haben keine oder nur Volksschul- bildung genossen. In der Landwirtschaft Bedienstete und namentlich Dienstleute im engeren Sinn des Wortes sind stark am Kindesmord beteiligt.

Die Schwangere, die nicht verheiratet ist, kein Vermögen besitzt und sich in dienender Stellung befindet, muß offenbar danach trachten, ihren Zustand so lange als nur möglich zu verheimlichen, damit sie sich in ihrer Stellung behaupten kann und ihre einzige Einnahms- quelle nicht gerade dann versiegen sieht, wann sie Geld am dringendsten bedarf. Ganz in derselben Richtung wirken das Schamgefühl, die Angst vor Spott und Hohn und beide Momente machen auch oft Vorbereitungen für das Kind unmöglich. Man wende nicht ein, die Schwangere müsse sich vor Augen halten, daß ihr Zustand kein ewiges Geheimnis bleiben könne, wenn anders sie nicht doch ihr Kind beseitigen will! Gewiß die überwiegende Mehrzahl der Menschen sucht alles Unangenehme^ was einen Aufschub verträgt, so lange als möglich hinauszuschieben, auch wenn Unlustgefühle von ganz kurzer Dauer zu erwarten sind. Die außer der Ehe Geschwängerte aber sieht oft einem lange dauernden Zustand psychischer Qualen entgegen. Ist es da nicht höchst natürlich, daß sie den Beginn dieses Zustandes so lange als möglich hinauszuschieben trachtet? Und wie leicht kann sie dann bei dem Mangel exakter zeitlicher Bestimmtheit der bevor- stehenden Geburt 1) von dieser überrascht werden, so daß es unmög- lich wird, rechtzeitig auszuführen, was geplant war: das Aufsuchen einer Gebäranstalt oder einer Hebamme oder auch die Eröffnung des Geheimnisses gegenüber einer Freundin oder der Dienstgeberin, ein Schritt, der vielleicht auch gerade deshalb so lange hinausgeschoben wurde, weil die Schwangere hoffte, dann eher Mitleid zu erwecken und nicht zum Verlassen ihres Postens gezwungen zu werden. Er- eignet es sich doch auch unter Umständen, die jeden Verdacht einer beabsichtigten Kindestötung völlig ausschließen, daß Frauen auf der Eisenbahnfahrt, auf der Straße, in der Kirche oder in anderen unge- eigneten Situationen vom Beginn des Geburtsvorganges überrascht

1) Daß die Frauen nicht im Stande sind, genaue Angaben über den Be- ginn der Sciiwangerschaft zu machen, darf wohl als die Regel betrachtet werden. Hecker fand unter 2000 Frauen nur 148, die solche Angaben zu machen wußten. (Nach Fabrice a. a. 0. 283). Dazu kommen dann noch die vielfachen Schwan- kungen der Dauer der Schwangerschaft.

über Kindesmord. 231

werden 0. Was aber die Schwangere dann, wenn es einmal so weit gekommen ist, tat oder unterläßt, das kann nicht mehr als eine im normalen Zustand gesetzte Handlung betrachtet werden und darum wird auch das Entbinden im Geheimen und das Unterlassen der Herbeirufung von Beistand nicht als beweisend für einen vorgefaßten Tötungsentschluß angesehen werden dürfen. Dazu kommt, daß namentlich Erstgebärende die An&ngswehen verkennen können und bei ihrem Auftreten einem vermeintlichen Stuhldrang folgend, den Abort aufsuchen, jenen Ort, an dem sich ja am häufigsten Ent- bindungen „im Geheimen" und ,,ohne Beistand" ereignen. Das Ver- kennen der Wehen, das Aufsuchen des Abortes, um den Stuhl zu entleeren, wird nicht selten von des Kindesmordes Angeklagten als Verteidigung bloß vorgeschützt Da aber solche Fälle von Geburten in den Abort oder einen Eimer festgestellt sind, wobei es sich um verheiratete Frauen handelte und jeder Verdacht einer Tötungsabsicht ausgeschlossen war 2), so geht es nicht an, jede dahingehende Angabe einer der KindestStung Verdächtigen als leere Ausrede zu betrachten. Alle von Groß angeführten Umstände stellen sich demnach als Momente dar, die nur mit größter Vorsicht als Indizien für einen vorgefaßten Tötungsentschluß verwertet werden dürfen, sehr oft trügen können und für sich noch nichts beweisen. Mit B^cht kann aber nun die Frage aufgeworfen werden, wie sich wohl die Schwangere die Zukunft des Kindes denke, wenn sie weder irgend welche Vor- bereitungen treffe, noch entschlossen sei, das Kind ' zu töten. Einige Möglichkeiten, die hier gegeben sind, finden sich schon oben ange- deutet Weiter aber kann es auch sein, daß die Schwangere, die schließlich zur Kindesmörderin wird, zu einem Entschluß, wie sie gebären und was sie mit dem Kinde anfangen soll, vor der Geburt überhaupt nicht gelangt. Sind doch oft alle Umstände danach an- getan, diesen Entschluß nach jeder Richtung hin ungeheuer zu er- schweren und das Hinausschieben der Entscheidung zu begünstigen. Für die erste Zeit kommt da schon die Ungewißheit in Betracht, ob die vorhandenen Anzeichen der Schwangerschaft nicht etwa täuschen, eine Ungewißheit, die nur allmählich in Gewißheit übergeht Sofort tritt auch das so verderbliche als verbreitete Axiom in Wirksamkeit: „Nur sich nichts merken lassen". Wird nun einmal der Weg der Geheimhaltung beschritten, so liegen auch darin mehrfache Hemm-

1) Belege dafür in reicher Fülle in der gerichtl.-medizinischen Literatur vgl. nur Casper-Limani Handbuch der gerichtl. Medizin, 8. Aufl. 2, lOOS, 1014 ff., 1055 ff.; Fabrice 294 und dort Angef.

2) Vgl. die in der vorigen Anm. Angef.

232 X. Gleispach

nisse für einen Entschluß. Die Schwangere ist völlig auf sich selbst angewiesen, kann sich mit Niemandem beraten und besprechen; ver- schiedene Vorstellungen tauchen auf und werden je nach der Charakter- anläge, Erfahrungen, Gehörtem und Gelesenem und äußeren um- ständen mit verschiedener Intensität festgehalten und ausgestaltet. Die Eine sucht sich mit dem Gedanken des Selbstmordes vertraut zu machen *), die Andere hofft, sie werde ein totes Kind zur Welt bringen^), eine Dritte glaubt unter dem Eindruck körperlicher Beschwerden und Schmerzen, die sich mit großer Stärke auch schon lange vor der Geburt einstellen können, sie werde noch vor dem Ende der Schwanger- schaft ihren Leiden erliegen oder doch die Geburt des Kindes nicht überleben 3). Todesahnungen sind ja bekanntlich besonders bei Erst^ gebärenden recht häufig und sie können unter dem Einfluß be- vorstehender Not oder Schande unbewußt derart favorisiert werden, daß sich die Schwangere bestimmter Entschließungen über die Zukunft enthoben glaubt. Nun mag auch die Vorstellung auftauchen, das zu erwartende Kind zu beseitigen; sie wird vielleicht das erstemal sofort verworfen, kehrt aber wieder, steht bald mehr im Vordergrund, bald mehr im Hintergrund, immer aber doch nur neben den anderen, ohne jemals während der Schwangerschaft zur Stellung über allen anderen zu gelangen. Wozu auch einen Entschluß fassen, der, wie er auch lauten mag, doch nur Unheil bedeutet und für den es noch immer ein Morgen gibt, wenn er heute nicht gefaßt wird? Wenn das wie der Tod gefürchtete Ereignis eintritt, wird ja gewiß irgend etwas geschehen müssen, aber vorher besteht kein Zwang zum Ent- schluß. Die Offenbarung des Geheimnisses mit Schande, Spott und Hohn, die wirtschaftliche Not, teilweiser oder gänzlicher Verbrauch des geringen Verdienstes durch die Erhaltung des Kindes und Stellungs- losigkeit, Tötung des Kindes alles ist entsetzlich also nur nicht daran denken! Zunächst freilich scheint es, als ob alle Vorstellungen und Gedanken eines weiblichen Wesens im Zustande der Schwanger- schaft so sehr der Zukunft zugewendet sein müssen, wie in keiner anderen Lebensepoche. Diese Annahme ist auch in der Natur des

1) Bekanntlich ist der Prozentsatz der Schwangeren unter den geschlechts- reif en Selbstmörderinnen sehr hoch; so fand z. B. Pilcz nahezu 20% (Zur Lehre vom Selbstmord, Jahrbücher für Psychiatrie 26, Wagner-Jubiläumsheft).

2) In Österreich sind für den Duchschnitt der Jahre 1S92— 1901 8,9<>/o der außerehelichen Geburten Totgeburten (2.8 % von allen Geburten). Vgl. Statisti- sches Handbuch 22, 37 und 56.

3) Vgl. die vielfach übereinstimmenden Ausführungen bei Roustan, a. a. 0. 32 fg.

über Kindesmord. 233

Zustandes begründet, zugleich aber doch auch von der Yoranssetzung getragen, daß die auf die Zukunft sich beziehenden Vorstellungen wenigstens überwiegend lustbetont sind. Diese Voraussetzung trifft aber selbst bei verheirateten Frauen, denen wirtschaftliche Sorgen ganz unbekannt sind und die sich von Liebe und Fürsorge umgeben fühlen, nicht immer zu. Jeder Gedanke an das zu erwartende Eind^ jede Vorbereitung für dieses ist untrennbar mit der Vorstellung des bevor- stehenden Geburtsvorganges verknüpft. Und dieser kann namentlich bei Erstgebärenden, aber auch bei Frauen, die sehr schwere Geburten bereits zu überstehen hatten, derartig Furcht und Entsetzen erregen, daß sie alles zurückzudrängen trachten, was sie an ihren Zustand erinnert. Dieses Bestreben vermag auf das ganze Vorstellungsleben Einfluß zu gewinnen und den natürlichen Trieb, selbst für das Kind Vorbereitungen zu treffen oder sich doch daran zu beteiligen, völlig zurückzudrängen. Bei solchen Frauen können die mütterlichen In- stinkte gleichwohl stark entwickelt sein, sie beklagen es, die Vorfreuden der Mutterschaft nicht genießen zu können gleich anderen Frauen, die weniger ängstlich oder schmerzempfindlich sind, sie bedauern ihre Umgebung, der sie Zwang auferlegen; aber sie wollen auch seitens dieser in keiner Weise an ihren Zustand gemahnt werden, von Kind, Wiege, Wäsche oder Amme nichts hören und sehen, kurz sie wollen für nicht schwanger gelten. Allerdings besteht für Frauen in der jetzt angenommenen Lage keine Notwendigkeit, für die Zukunft selbst vorzusorgen, weil sie wissen, daß dies von Anderen besorgt wird. Wenn aber bei diesen Frauen die Angst vor der Geburt trotz beruhigenden Zuspruches, trotzdem sie auch für diesen Vorgang liebe- vollen Beistand und jede mögliche Erleichterung voraussehen können, dennoch den festen Entschluß zu erzeugen vermag, nicht an die Zu- kunft zu denken, wenn sie vermag, die mütterlichen Instinkte zum Schweigen zu bringen und alle die Zukunftsbilder zu unterdrücken, die hier nur Freude und Glück spiegeln würden, dann vermag sie auch denselben Erfolg bei der verlassenen, vermögenslosen, entehrten Schwangeren hervorzurufen, bei der sie vermöge der psychischen Isolierung noch stärker auftritt und der alle Zukunftsbilder nur von Not und Elend erzählen würden.

Ich meine also : in einer Gruppe von Fällen trifft die Schwangere sinnlich wahrnehmbare Vorbereitungen für das Kind und die Annahme eines vorgefaßten Tötungsentschlusses ist dadurch widerlegt In einer zweiten Gruppe besteht der Entschluß, im letzten Moment noch für eine Geburt unter ungefährlichen Umständen und die Zukunft des Kindes vorzusorgen, vorhergehende Vorbereitungen werdeir durch die

234 X. Gleispach

aus anderen Gründen notwendige Geheimhaltung der Schwanger- schaft unmöglich gemacht. In einer dritten Gruppe endlich kommt vor dem Beginne der Wehen überhaupt keinerlei Entschließung zu- stande, die Schwangere geht jedem Entschluß und allen Gedanken über die Zukunft aus dem Wege. Die Vorstellung, das Kind zu töten, taucht hier auf, kehrt vielleicht öfter wieder, aber vermag doch nicht, alle anderen zu unterdrücken und gelangt nicht zur Herrschaft. In allen diesen Fällen wird der Tötungsentschluß nicht vor der Geburt gefaßt, vielmehr kommt er erst unter der Einwirkung des Geburts- vorganges zustande.

Daß solche Fälle wirklich vorkommen, dürfte bereits genügend dargetan sein, von der Frage ganz abgesehen, wie häufig sie sich ereignen mögen. Auf die dogmatische Literatur des Strafrechts ein- zugehen, unterlasse ich absichtlich, denn dem, was dort zu holen wäre, ob es nun pro oder contra spricht kann immer und viel- fach mit Recht entgegengehalten werden, daß es vorgefaßte Meinung, „Konstruktion^, nicht aber das Ergebnis der Bekanntschaft mit den Tatsachen des realen Lebens und sachgemäßer Schlußfolgerungen ist. Nur aus der neuesten Behandlang der Kindestötung möchte ich den Ausspruch Liszt's anführen: „Völlig willkürlich aber ist die Behaup- tung, daß in jedem Fall der Kindestötung Vorbedacht vorliegt und die Gemütserregung fehlt; die Erfahrung lehrt, daß der Tötungsent- Schluß ohne jede Überlegung im Augenblick der Entbindung selbst gefaßt werden kann und oft genug gefaßt wird."0 Ich verweise ferner auf die Strafgesetze von Aargau (109), Schaffhausen (151)2) Luzern (160), Obwalden (76) und Dänemark (192), die alle im' Strafsatz unterscheiden je nach dem Umstand, ob der Tötungsent- schluß vor dem Eintritt der Entbindung oder erst während oder nach der Geburt gefaßt wurde, während andere (z. B. Thurgau 65, Graubünden 102, Glarus 95) den Richter anweisen, den ersteren Umstand als erschwerend bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dürfen wir dem Gesetzgeber zumuten, daß er besondere Normen für einen Fall aufstellt, der sich tatsächlich niemals ereignet? Es muß zugegeben werden, daß derlei vorkommt. Da wir aber wissen, daß solche Fälle, wie sie hier der Gesetzgeber im Auge hatte, der Welt der Tatsachen angehören, kommt dem Bestand der angeführten

1) Vergl. Darstellung 5, lOS.

2) „Eine Mutter .... soll wegen Kindesmords, wenn sie vor dem Ein- tritte der Entbindung den Entschluß zur Tötung ihres Kindes gefaßt und in Folge dieses vorbedachten Entschlusses die Tat verübt hat, mit Zuchtbaus nicht unter sechs Jahren, außerdem aber mit Zuchthaus von drei bis zu fünfzehn Jahren bestraft werden.**

über Rindesmord. 235

Gesetze doch aacb einige Bedeutnng zu. Aus all dem, was für das Vorkommen dieser Fälle angeführt wurde, ergibt sich auch so viel; daß sie nicht allzu selten sein dürften. Was ihr zahlenmäßiges Verhältnis zu den gegenteilig gelagerten Fällen anlangt, wird man hente über bloße Vermutungen nicht hinauskommen. Doch fällt dieses Verhältnis hier nicht ins Gewicht. Ist der Entschluß, das Kind zu töten, frühestens erst mit dem Beginn des Geburtsvorganges gefaßt worden, so erscheint die milde Behandlung der Mörderin auch von dem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, den Groß einnimmt und der oben durch die Sätze 2 und 3 bezeichnet wurde. Dagegen mangelt die Begründung von diesem Standpunkt aus, sobald der Tötungs- entscbluß früher gefaßt wurde und es muß eine Lösung gefunden werden, ob nun diese Fälle häufig oder selten sein mögen.

2. Es wird also nunmehr dieser Standpunkt zu prüfen sein. Da- bei sei zunächst Satz 2 hingenommen, wie ihn Groß aufstellt, und nur Satz 3 zum Gegenstand der Untersuchung gemacht Da ergibt sich also : Wenn der Grund der milden Behandlung der Eindestötung im psychopathisehen Zustand der Gebärenden gelegen ist, so hat diese Behandlung nur dann einzutreten (oder ist nur dann gerecht- fertigt), wenn der Tötungsentschluß durch diesen Zustand kausiert war. Es ist nun ganz derselbe Gedanke, nur mit anderen Worten und allgemein ausgedrückt, wenn ich sage: Wenn ein bestimmter abnormaler Zustand den Grund einer Privilegierung abgeben soll, so hat die Privilegierung nur dann einzutreten, wenn dieser Zustand im Äugenblick des Entschlusses vorhanden war, nicht aber dann, wenn er erst bei der Ausführung eintrat. Es erhebt sich demnach die Frage: Ist für die Beurteilung und demgemäß für die zweckentsprechende Be- handlung des Täters maßgebend sein Zustand zurzeit des verbreche- rischen Willensentschlusses oder zurzeit der Ausführung des Ent- schlusses oder haben beide Zeitpunkte Anspruch auf Berücksichtigung? Daß die Frage so verallgemeinert werden darf, wird nicht bezweifelt werden können und offenbar liegt in ihr der Punkt der ganzen Kon- troverse, der ihr eine über den Fall des Kindesn^ordes hinausreichende Bedeutung und allgemeines Interesse gibt. Es soll hier nicht ver- sucht werden, die Frage in ihrer Allgemeinheit zu lösen, nur einige Bemerkungen seien vorausgeschickt, bevor wir uns wieder dem be- sonderen Fall der Kindestötung zuwenden.

Die geltende Gesetzgebung schein^ von einigen wenigen Sonder- bestimmungen abgesehen 0} den Zustand des Täters bei der Aus-

1) Am nächsten liegt es, an die verschiedenen Arten der Unterscheidung von Mord und Totschlag zu deniien. Vgl. darüber jetzt nur v. Liszt, a. a. 0. Ge-

236 X. Gleispach

führuDg des Verbrechens für maßgebend zu halten. Darauf deutet die Ausdrucksweise der Gesetze hin, die zwischen Entschluß und Aus- führung in der Regel nicht unterscheidet; es wird von der Begehung eines Verbrechens in einem bestimmten Zustand, vom Täter schlecht- weg oder geradezu vom ausführenden Täter gesprochen. Doch kann darauf nicht viel Gewicht gelegt werden. In der Eegel liegen doch Entschluß und Ausführung nahe beieinander, und darauf wird sich die Annahme gründen, daß der Zustand des Täters in beiden Zeit- punkten kein wesentlich verschiedener sei. Treten aber solche unter- schiede auf, so darf aus dem Umstand, daß die Gesetze nicht unter- scheiden, auch noch nicht sofort der Schluß gezogen werden, daß sie nur den Zustand bei der Ausführung für maßgebend halten. Denn sehr oft werden die Umstände hier zu der Annahme nötigen, daß die Tat nicht auf Grund des ersten Entschlusses ausgeführt wurde, sondern vielmehr nach der eingetretenen Veränderung und kurz oder unmittel- bar vor der Ausführung ein zweiter Entschluß zustande kam, sodaß die Berücksichtigung des Zustandes im Zeitpunkt der Ausführung in gleicher Weise auch dem gilt, in dem der entscheidende Entschluß gefaßt wurde.

Die möglichen Veränderungen lassen sich etwa in folgendes

Schema bringen:

Zustand des Täters im Zeitpunkt des Entschlusses zur Zeit der Ausführung

1) Dem Entschluß günstig (strafmildernd) normal

2) y, y, der Ausführ, ungünstig (strafschärfend) S) yy ungünstig normal

4) n y, der Ausführung günstig

5) normal günstig

6) normal ungünstig

Wenn nun eine solche Veränderung eintritt, die dem Zustande- kommen des Verbrechens ungünstig ist, wird wenigstens in der Kegel die Bildung eines neuen zweiten Entschlusses anzunehmen sein, also in den Fällen 1, 2 und 6. Die Kindestötung ist jedoch gerade den umgekehrt gelagerten Fällen zuzuzählen (5). Trotzdem ist es auch hier sehr wohl möglich, daß ungeachtet eines etwa schon zu Beginn der Schwangerschaft gefaßten Tötungsentschlusses unmittelbar vor der Tat ein neuer Entschluß gefaßt wird.*) Diese Fälle scheiden

rade diese Darstellung aber zeigt deutlich, wie die Gesetzgebung auch in diesem besonderen Fall in unserer Frage herumschwankte, ohne zu grundsätzlicher Ent- scheidung zu gelangen und auch in der einschlägigen Literatur fehlt es meist schon an der richtigen Fragestellung.

1) Die oben wörtlich angeführte Bestimmung von Schaff hausen hat offenbar auf diese Möglichkeit Rücksicht genommen, denn sie begnügt sich nicht

über Kindesmord. 237

hier aus der Betrachtung aus, da der erste Entschluß nicht als kausal betrachtet werden kann. Bleiben also nur jene Fälle, in denen die Schwangere vor dem Beginn der Geburt den Tötungsentschluß faßt und auf Grund dieses Entschlusses sodann die Tötung ausführt^ ohne einen neuen Entschluß zu fassen. Selbst hier ist es nicht gerecht- fertigt, dem physischen Zustand zurzeit der Ausführung jede Be- achtung zu versagen. Zwar kommt ihm allerdings keinerlei Einfluß auf die Bildung des verbrecherischen Entschlusses zu, aber dieser Entschluß ist nicht das einzig und allein maßgebende.

Die Aufgabe des Strafrechtes ist es, Rechtsgüterverletzungen hint- anzuhalten, die auf Willensentschlüssen beruhen, aber erst durch die Betätigung des Willens eintreten. Wird die Betätigung verhindert, so ist die Aufgabe gelöst. Gleichwohl sucht das Strafrecht in erster Reihe schon das Zustandekommen verbrecherischer Entschlüsse zu hindern, oder es greift noch weiter zurück, es bekämpft die zu ver- hütenden Erscheinungen in ihren Ursachen, aber nur darum, weil es die Wirkung verhüten will. Da nun die Kausalität des Ent- schlusses nur so viel bedeutet, daß er notwendige Bedingung für die Rechtsgüterverletzung ist, nicht aber, daß diese eintreten müsse, sobald die Bedingung geschaffen ist, so bleibt der Ausführung des Ent- schlusses eine doppelte Bedeutung gewahrt: a) wenn es zum ver- brecherischen Entschluß gekommen ist, so gilt es nun, die Ausführung zu verhindern*); b) für die Beurteilung des Charakters und der Ge- fährlichkeit des Täters ist auch der psychische Zustand bei der Aus- führung maßgebend, weil sobald der Entschluß gefaßt ist noch die Frage auftaucht, ob er auch ausgeführt werden wird. Die Er- fahrung des täglichen Lebens lehrt, daß ungezählte, auch mit Über- legung gefaßte Entschlüsse ohne zwingende äußere Einwirkungen unausgeführt bleiben. Wer Entschlüsse zu den schauerlichsten Un- taten faßt, sie aber nie ausführt, etwa weil ihm im entscheidenden Moment stets der Mut zum Handeln fehlt, ist ein recht harmloses In- dividuum. Wird der Entschluß ausgeführt, und zwar in einem Zu- stand, der der Ausführung ungünstig ist, so steht die Gefährlichkeit des Täters über dem Durchschnittsmaß; denn für dieses muß in

damit, daß der Tötungsentschloß vor der Entbindung gefaßt wurde, sondern stellt noch ausdrücklich das weitere Erfordernis auf, daß die Tat infolge dieses vorbedachten Entschlusses verübt wurde.

1) Darum auch Straflosigkeit bei Rücktritt vom Versuch, eine Einrichtung, bei deren Darstellung sich viele unsrer Lehrbücher so eigentümlich geberden.. Da wird ein bedeutsamer Absatz gemacht und dann erklärt: Grundsätzlich läßt sich das Dicht rechtfertigen, aber es erklärt sich aus kriminalpolitischen Gründen. Arme Kriminalpolitik I

238 X. Gleisfaoh

allen Eicbtungen von normalen Verhältnissen, es muß also auch vom normalen Zustand des Täters im Zeitpunkt des Entschlusses und in dem der Ausführung ausgegangen werden. Ebenso werden wir nicht geneigt sein, verminderte Gefährlichkeit dort anzunehmen, wo der Entschluß zwar in einem sein Zustandekommen begünstigendem Zu- stand gefaßt, dann aber trotz Eintritt des normalen Zustandes aus- geführt wirdJ) umgekehrt erscheint die Gefährlichkeit dort vermindert, wo der im normalen Zustand gefaßte Entschluß in einem solchen Zu- stand ausgeführt wird, der die Ausführung begünstigt und erleichtert. Denn das Durchschnittsmaß kann nur dort angenommen werden, wo die Hemmungsvorstellungen weder ungewöhnlich starke Hindemisse zu überwinden gehabt hatten, noch auch ungewöhnlich schwach waren. Im zweiten Fall aber müßte es feststehen, daß der im normalen Zustand gefaßte Entschluß auch bei Fortdauer dieses Ent- schlusses ausgeführt worden wäre, damit das Durchschnittsmaß an- genommen werden dürfte, weil nach einem im Straf recht unbestritten herrschenden Grundsatz im Zweifel stets zugunsten des Täters -zu ent- scheiden ist und jede Mitwirksamkeit des abnormalen Zustandes zu- gunsten des Täters in Anschlag zu bringen ist Diese Mitwirksamkeit wird sich vielleicht nur sehr selten und schwer nachweisen lassen, sie läßt sich aber gewiß niemals ausschließen. Der Schluß, wer einen verbrecherischen Entschluß gefaßt und nach einer der Aus- führung günstigen Veränderung seines psychischen Zustandes aus- geführt hat, der hätte den Entschluß auch ohne diese Veränderung ausgeführt, dieser Schluß trifft überhaupt nicht, am wenigsten aber bei Tötungsverbrechen zu. Auch das lehrt die Erfahrung des täg- lichen Lebens hundertfach. Warum treffen wir gerade bei Blutver- brechen so häufig auf die Erscheinung, daß sich der Täter vor der Tat erst Mut antrinkt? Freilich wird ihn dieses Vorgehen nicht in besserem Licht erscheinen lassen, hei der Schwangeren aber tritt der abnorme der Ausführung günstige Zustand ganz unabhängig von ihrem Willen ein, ja die Erstgebärende kann sich der Bedeutung dieses Zustandes gar nicht bewußt sein, und auch bei Frauen, die

1) Z. B. Eine Mutter faßt wahrend der Gebort den Tötnngsentscblnß, wird aber an der geplanten sofortigen Ausfühning durch DazwischenkoniQien Dritter gehindert Mehrere Tage später, nachdem ihr psychischer Zustand wieder völlig normal geworden ist, tötet sie das Kind. Wenn der Entschloß das allein Maßgebende wäre, miißte diese Mutter in gleicher Weise privilegiert werden, wie eine andere, die die Tötung auch während der Geburt ausführt Grerade von dem Standpunkt aus, der abnorme Zustand bei der Gebort sei das Mildernde, wird sich Niemand mit diesem Ergebnis befreunden können.

über Kindesmord. 239

bereits geboren haben, wird dieses Bewußtsein und selbst die Möglich- keit einer richtigen Vorstellung regelmäßig fehlen. Dazu kommt, daß die Geburt des Kindes, dessen Tod die Mutter beschlossen hat, die Situation nach manchen Bichtungen hin doch auch zu dessen Gunsten, also zu Ungunsten der Ausführung verschiebt Die leibliche Gegen- wart des hilflosen Neugeborenen z. B. birgt ein Motiv zu seiner Schonung in sich i) ; daß es überwunden wurde, bringen wir offenbar zu Ungunsten der Mutter in Anschlag, auch wenn der Tötungsent- schluß vor der Geburt gefaßt wurde. Es ist ebenso berechtigt, auf dieses Moment überhaupt Rücksicht zu nehmen, als es unberechtigt wäre, dabei auf den abnormalen Zustand der Täterin keine Bücksicht zu nehmen und es also voll in Bechnung zu ziehen. Denn wir können eben nicht mehr feststellen, als daß auch diese Hemmung von der unter dem Einfluß der Geburt stehenden Täterin überwunden wurde. Daß dasselbe auch bei normalen Zustand eingetreten wäre, wird umso un- wahrscheinlicher, als die Hemmungen sich mehren und als die Hand- lung als etwas ungewöhnliches erscheint. Wie schon oben bemerkt, kann das Strafrecht auf die bloße Möglichkeit der Ausführung keine Bücksicht nehmen. Aber der Abstand zwischen Entschluß und Aus- führung, bloßer Vorstellung und Wirklichkeit ist ein so großer, daß auch die allgemeine Beurteilung nützlicher und schädlicher Hand- lungen auf diese Möglichkeit nicht oder nur in sehr bescheidenem Maß Bücksicht nimmt und dem Zustand des Handelnden zur Zeit der Ausführung des Entschlusses große Bedeutung beilegt. Nehmen wir an, A. und B. beschließen unter ganz gleichen Umständen je eine große Stiftung zu wohltätigem Zweck, beide führen ihren Entschluß auch aus, aber während bei A. keinerlei bemerkenswerte Veränderung ein- trat, hat bei B. ein großer Glücksfall seine Geberlaune sehr erhöht oder es war der Unterzeichnung der Stiftungsurkunde ein keineswegs alkoholfreies dinner vorangegangen. Das allgemeine Urteil wird die Tat des A. höher einschätzen, als die des B. und wird den A. höher als den B. bewerten, weil sich eben die Erwägung unabweisbar auf- drängt: „Wer weiß, ob der B. die Stiftung wirklich durchgeführt hätte, wenn der Glücksfall oder der Alkohol seinem altruistischen Entschluß nicht zu Hilfe gekommen wäre?^ Und es ist nicht hämische Miß- gunst, die so urteilen läßt, sondern dieses Urteil ist durch ungezählte Erfahrungen begründet. Etwas tun wollen und es ausführen, sind eben zwei verschiedene Dinge. So mancher faßt einen hochherzigen

1) Wenn freilich angenommen wurde, ein neugeborenes Kind konnne der Mutter nur Mitleid einflößen (so z. B. die Verfasser des Bern er StG. v. 182d| vgl NA. 7, 45 ff), so ist das ganz falsch.

240 X. Gleispach

Entschluß, aber wenn es ernst wird, kann er sich von seinem Geld doch nicht trennen. Schließlich pflegen die meisten Menschen den unmittelbaren Genuß dem anderen vorzuziehen, der darin besteht^ das Geld zur Linderung der Leiden von Mitmenschen zu verwenden. Es ergibt sich also folgendes: Auch wenn der Tötungsentschluß in einem Zeitpunkt gefaßt wird, der einen Einfluß des abnormen Zu- standes der Gebärenden ausschließt, erfordert dieser Zustand eine mildere Behandlung der Täterin, weil die Ausführung in diesen Zu- stand fällt. Der Entschluß und der Zustand, in dem er gefaßt wird, sind nicht schlechthin das Maßgebende, sondern die Ausführung be- hauptet neben diesen ihren Platz. Um im Anschluß an die von Groß gebrauchte Formulierung zu sprechen: Die zur Tötung treibenden Motive sind zwar beim Zustandekommen des Entschlusses noch nicht mit abnormer Kraft ausgestattet, aber es fehlen da auch noch Hemmungen, die erst bei der Ausführung auftreten, „die normalen Instinkte auf Beschützung des Neugeborenen" werden erst bei der Ausführung überwältigt, da der abnorme Zustand bereits eingetreten ist. Allerdings gibt es auch einen Instinkt auf Beschützung des noch ungeborenen, zu gebärenden Kindes, aber der kann zumindest zur Zeit des Entschlusses wesentlich schwächer gewesen sein. Ein Gesamtbild von Charakter und Gefährlichkeit des Täters gewährt nur die Bück- sichtnahme auf Entschluß und Ausführung und den psychischen Zustand bei beiden. Wir können nicht wissen, ob schon beim Zu- standekommen des Entschlusses der ganze Inhalt der Persönlichkeit ausgeschöpft wurde, alle Apperzeptionsmassen, die Einfluß gewinnen können, sich betätigt haben. Bei der Ausführung aber stehen alle Hemmungen unter dem Einfluß des abnormen Zustandes, dessen Ein- tritt vom Willen der Täterin unabhängig ist und dessen Wirkungen sie nicht voraussehen kann, i)

3. Die bisherigen Ausführungen haben sich auf dem Boden der Auffassung zu bewegen versucht, die oben durch die Sätze 1 und 2 gekennzeichnet wurde. Doch auch sie dürfte nicht haltbar sein. Um die Ergebnisse möglichst sieherzustellen, sei auch hier der bisher ein- geschlagene Gang der Untersuchung eingehalten. Wir nehmen, also zunächst den abnormen Zustand der Gebärenden als das Mildernde schlechtweg an und fragen : Trifft dann die schon mehrfach erwähnte psychologische Formulierung der Gründe für die milde Behandlung der Kindesmörderin zu? Schon aus den früheren Ausführungen er-

l) Einen weiteren wichtigen Grund für die Bodeutang des Zustandes bei der Ausführung siehe unten am Schluß des folg. Absatzes 3.

über KindeBmord. 241

gibt sieb zum Teil, daß diese Frage nicht bejaht werden kann. Zu- nächst: wenn der abnorme Zustand bei der Geburt das Mildernde schlechtweg ist, warum wird dann die Furcht vor Not und Schande in die Formel überhaupt aufgenommen? Der Annahme, daß der Zustand der Gebärenden nur dann ein abnormer sei, wenn sie Not oder Schande zu fürchten hat, dieser Annahme würde jede Grund- lage fehlen, und es läßt sich auch nicht behaupten, daß die Furcht vor Not oder Schande bei jedem Eindesmord eine Bolle spiele. Doch sehen wir davon ab : man kann ja etwa annehmen, es handle sich um einen Satz, der bloß für die Regel der Fälle gelten solle, für die ja die Annahme des Einflusses dieser Furcht zutrifft. Oder man kann den Satz etwas verallgemeinern, so daß er sich auf die znr Tötung treibenden Vorstellungen überhaupt bezieht Die psycho- logische Begründung der Strafmilderung soll dann in der Formel ausgedrückt sein, daß diese Vorstellungen durch den Geburtsakt mit abnormer Kraft ausgestattet werden. Diese Formel ist nicht von Groß zuerst aufgestellt worden; wir begegnen ihr in der kriminalistischen Literatur des öfteren und namentlich Liszt bedient sich ihrer regel- mäßig.') Ich konnte nicht feststellen, woher sie stammt, hingegen scheint mir allerdings festzustehen, daß sie in der maßgebenden medizinischen Literatur 2) eine hinreichende Grundlage nicht besitzt. Direkt läßt sich das nicht nachweisen und auch der indirekte Nach- weis muß unvollständig bleiben, weil es eben an der notwendigen Voraussetzung, der genauen Kenntnis des Einflusses der Geburt auf die Psyche der Gebärenden, noch fehlt. Immerhin wird vielleicht

1) Vergleichende Darstellung 6, 117: „Die weitgehende Berücksichtigung des Ehrenno t«^tandes bei der Kindestotung hat nur darum Eingang in die Gesetz- gebung gefunden, weil man annahm und auch heute noch annimmt, daß die motivierende Kraft der Vorstellungen, die den Ehrennotstand begriinden, unter dem Einfluß des Gebäraktes wesentlich gesteigert werde. '^ (ählich S. 119 und Lehr« buch S. 311.) Liszt sieht in dieser Annahme den richtigen legislativen Grundge- danken. Daß er nur den Ehrennnotstand in Rücksicht zieht, Groß auch wirtschafte liehe Not, kommt hier nicht in Betracht. Ln Übrigen stimmen beide überein in der psychologischen Formulierung, obwohl Groß erklärt, das Mildernde ist nach dem heutigen Stand der Lehre und Gesetzgebung der abnorme Zustand der Ge- bärenden, Liszt aber ^das entscheidende Gewicht*^ auf den Ehrennotstand legt. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, möchte ich nochmals betonen, daß ich hier nur gegen die Formulierung des Gedankens polemisiere, den Groß als den allgemein herrschenden betrachtet.

2) Vgl. die Literaturangabon unten bei II. j, die Arbeiten von Krafft- Ebing (Lehrbuch der gerichtl. Psych opatologie , Beitrag zur Lehre vom transi- toriachen Irresein, die Lehre von der Mania transitoria) ferner die von Roustan nnd Sigwart angeführte Literatur.

Aitldy ffir Kriminaianthropologie. 27. Bd. 16

242 X. Gleispach

folgendes gesagt werden dürfen. Eine Verstärkung der zur Tötung des Kindes treibenden Kraft verschiedener Vorstellungen mag sogar regelmäßig schon beim Herannahen der Geburt eintreten und beim Eintritt des Ereignisses noch erhöht werden. Schon der Umstand, daß diese Erscheinung vor der Geburt beginnt, läßt deutlich erkennen^ daß sie keine Wirkung des Gebäraktes ist. Wenn hier etwa die Furcht der Schwangeren vor der Schande zunimmt, so ist das die Wirkung des Herankommens jenes Ereignisses, mit dem die ge- fürchteten Folgen verbunden sind, aber es hat dies mit der Eigenart des Geburtsvorganges nichts zu tun. Wer sich etwa auf einem sinkenden Schiff befindet, wird sich umsomehr fürchten, je mehr sich das Schiff mit Wasser füllt und ebenso der zum Tode Verurteilte, je näher der Tag der Hinrichtung kommt. Kurz: es handelt sich hier nicht um eine Wirkung der Geburt als eines physiologischen Vorganges, gerade das ist aber offenbar gemeint, wenn man von den erschütternden und schwächenden Einflüssen bei dem Geburtsvorgang spricht, von dem abnormen Zustand der Gebärenden. Dieser Zustand ist ein solcher der verminderten Zurechnungsfähigkeit oder kommt dem doch nahe. Daß die psychologische Bedeutung der verminderten Zurechnungsfähigkeit allgemein in einer Verstärkung der motivierenden Kraft jener Vorstellungen gelegen sei, die zur Handlung treiben, wird niemand behaupten wollen. Es müßte also darin eine Besonderheit gerade der Wirkungen des Gebäraktes gefunden werden, aber dieser Annahme steht die Tatsache entgegen^ daß die Einflüsse des Gebär- aktes auf den Geisteszustand der Gebärenden keine einheitlichen und gleichmäßigen sind und deshalb auch das Bild der Abnormität ein recht verschiedenartiges ist Dafür ist nichts so bezeichnend, als die Einteilung der verschiedenen Zustände in Erschöpfungszustände und Erregungszustände. Die ersteren werden nur beim Kindesmord durch Unterlassung eine Rolle spielen und ihr ganzes Wesen spricht da- gegen, daß sie die Kraft der maßgebenden Vorstellungen zu steigern vermöchten. Vielmehr wird anzunehmen sein, daß die Wirksamkeit der Hemmungsvorstellungen wesentlich beeinträchtigt ist und die zur Rettung des Kindes notwendigen Handlungen umso leichter unter- bleiben als jede Vorstellung einer Tätigkeit wegen der körperlichen Ermattung mit Unlust betont ist Wenn nun gesagt werden sollte, die angefochtene Formel wolle ja auch nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß der psychologische Gesamteffekt des Gebäraktes darin bestehe, der Vorstellung von der Tötung des Kindes das Über- gewicht zu geben, so wäre vorerst noch immer der Vorwurf ungenauer Ausdrucksweise zu erheben. Es muß aber dann auch bezweifelt

über Kindesmord. 243

werden, ob die Formel mit dieser Bedeutung irgend etwas erklärt. Doch fragen wir weiter, wie es sich bei den Erregungszuständen yerhält Der medizinischen Literatur entnehmen wir zunächst, daß der Gemütsaufregung durch die Gedanken an Not und Schande ziemlich allgemein ein Einfluß auf das Zustandekommen der Er- regungszustände zugeschrieben wird, wenn auch die Bedeutung dieses pathogenetischen Momentes verschieden bewertet wird. Das schließt nun allerdings nicht aus, daß auch umgekehrt die motivierende Kraft dieser Vorstellungen gesteigert werde und es soll überhaupt diese Möglichkeit nicht verneint werden. Die erhöhte Reizbarkeit des Nerven- systems und namentlich die Trübung des Bewußtseins werdenden Boden abgeben, auf dem der Tötungsentschluß leichter zustande kommt, die Hemmnngsvorstellungen sein Zustandekommen oder seine Ausführung nicht zu hindern vermögen, weil ihre Betätigung gehemmt ist

Die größte Bedeutung dürfte aber der Wirkung der Geburts- schmerzen zuzusprechen sein. Allgemein bekannt ist, daß namentlich ungebildete Personen geneigt sind, sich das Unlustgefühl eines eben erUttenen oder noch fortdauernden Schmerzes durch scheinbar sinn- loses Wüten gegen leblose Gegenstände oder nicht vernunftbegabte Wesen erträglicher zu machen, wenn sie in diesen die nächste Ur- sache des Schmerzes zu erblicken glauben. Eine ähnliche Wirkung erzeugt der Geburtsschmerz auch dann, wenn alle äußeren begleitenden Umstände ihrem Auftreten ungünstig sind. Von vorübergehender aber heftiger Abneigung der Mutter gegen das neugeborene Kind und auch seinen Erzeuger dürfte jede erfahrene Hebamme zu berichten wissen. Wigand^) hat „mehrere sehr gebildete brave Frauen gekannt, die im Arger oder in der Wut über die ausgestandenen heftigen Ge- burtsschmerzen stundenlang nach ihrer Entbindung weder ihren sonst so geliebten Gatten noch das sehnlich gewünschte Kind vor Augen haben mochten^. Schließlich wissen wir, daß sehr heftige Schmerzen bei der Geburt transitorische Psychosen mit Neigung zu impulsiven Gewaltakten hervorrufen können und daß diese Gewaltakte sich mit Vorliebe gegen das neugeborene Kind richten. Diese Neigung läßt sich umso sicherer auf die Geburtsschmerzen zurückführen, als auch andere heftige Schmerzen bei entsprechender, namentlich hysterischer Veranlagung solche Psychosen hervorrufen können. 2) Freilich wird

1) Die Geburt des Menschen 1, 81 angef. von Fabrice a. a. 0. S. 306. Vgl. Bonstand (a. a. 0. 26 ff.) mit einem trefflichen Zitat aas Marc6, Traite de la foUe des femmes enceintes et des nouvelles acconchäes.

2) Kraepelin Psychiatrie S. S5; Roustan, a. a. 0. S. 46 ff., Dörffier, aber auch Bronardel, l'infanticide 169 ff.

16*

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nun in den schwersten der zuletzt besprochenen Fällen die 'Znrech- nungsfähigkeit überhaupt anfgehoben sein. Aber aus der ganzen eben vorgeführten Tatsachenreihe darf doch der Schluß abgeleitet werden^ daß unter dem Einfluß heftiger Geburtsschmerzeu ein mehr oder minder kräftiger Impuls zur Tötung des Kindes entstehen kann. Ungünstige äußere Umstände bei der Geburt, vielleicht auch die Furcht vor Not und Schande, mögen dieses Ergebnis fördern. Wird die Tötung rein triebartig ausgeführt, so muß auch dann, wenn Furcht vor Not und Schande ein Motiv abgeben könnten, die Verantwortlich- keit der Mutter verneint werden. Aber für alle Fälle der bloß ver- minderten Zurechnungsfähigkeit sehen wir neben dieser Furcht als Ergebnis des physiologischen Aktes ein neues Moment auftreten, das auf die Tötung hinwirkt Hier kann in keinem Sinne davon ge- sprochen werden, daß die Furcht vor Not und Schande mit abnormer Kraft ausgestattet wird; vielmehr macht sich neben ihr eine neue Kraft geltend. Darin liegt zugleich ein weiterer Grund dafür, daß der Einfluß des Geburtsvorganges die Berücksichtigung des Gesetz- gebers verdient, wenn auch der Tötungsentschluß vor Beginn der Geburt gefaßt wurde. *)

4. Es erübrigt noch, zu dem Satz Stellung zu nehmen, der abnorme Zustand der Gebärenden sei „das mildernde^ schlechthin. Diese Annahme findet in der geltenden Gesetzgebung keine Stütze und angesichts der Verschiedenheit in der Gesetzgebung ist es über- haupt ein unausführbares Beginnen, einen allgemeinen und aus- schließlich maßgebenden Grund für die Privilegierung der Kindestötung aufstellen zu wollen. Gerade das zeigt die „Vergleichende Dar- stellung** jetzt mit vollster Deutlichkeit '-^j Für eine nicht unbedeutende Gruppe von Gesetzen läßt sich nicht einmal eine „Mitwirksamkeit" des abnormen Zustandes behaupten, denn hier wird, sofern nur das Motiv der Ehrenrettung zur Tötung bestimmte, nicht bloß die Mutter, sondern jeder in engerem oder weiterem Umfang zur I amilie gehörige privilegiert und nach manchem dieser Gesetze ist die Milderung für den Dritten ganz dieselbe wie für die Mutter (z. B. Teßin 32S). Aber auch dort, wo zwar auch das genannte Motiv unmittelbar oder mittelbar zum Tatbestand der Kindestötung gefordert, gleichwohl aber

1) Oder violleicht würde besser gesa^: „ein Totungsentschluß", denn bei dem Auftreten des im Text erwähnten Faktors wird es sehr zweifelhaft, ob man nicht das Zustandekommen eines neuen Entschlusses anzunehmen habe.

2i Vgl. Liszt a. a. 0. 110 ff und 116. Wenn er die im Text weiter be- tonten Unterschiede nicht so sehr hervorhebt, so liegt das daran, daß er nur den Entwicklungsgang der Gesetzgebung im Allgemeinen herausarbeiten will.

über Eindesmord. 245

nur die Mutter milder behandelt wird, kann man nicht sagen: das mildernde ist der abnorme Zustand. Groß beruft sich da- rauf, daß niemand dem Mädchen die Milderung zubilligen wird, das die Geburt ihres Kindes fünf Jahre verheimlichen konnte, und, als Entdeckung jetzt erst drohte, das Kind jetzt tötet Hier wären verschiedene Fragen auseinanderzuhalten, vor allem, ob dem Mädchen jede Milderung versagt sein soll oder bloß die weitestgehende, die wir bei der Eindestötung antreffen und femer, ob das „Niemand^ besagen soll, die communis opinio oder jedes Gesetz verweigere die Milderung. Bleiben wir bei den letzteren Alternativen. Gewiß läßt kein Gesetz ^) dieses Mädchen der besonders milden Strafe der Eindes- tötung teilhaftig werden. Aber ebensowenig geschieht dies nach den Gesetzen, die jetzt im Vordergrund der Betrachtung stehen, etwa in dem Fall, wenn ein Mädchen ihr Eind tötet zwar offenbar in einem durch die Geburt verursachten abnormen psychischen Zustand, aber nicht um ihre Ehre zu retten, die sie vielleicht nicht mehr zu verlieren hat. Dennoch wäre es unrichtig zu sagen: Sofern diese Gesetze die Kindestötung überhaupt milder bestrafen, ist der Ehrennotstand das Mildernde. Vielmehr scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen: das Mildernde ist das Zusammentreffen von abnormen Zustand und Ehrennotstand. Als mildernd erscheint dem Gesetzgeber Beides, nur die Vereinigung aber scheint ihm die besonders milde Behandlung zu rechtfertigen. Dabei spielt wohl die Erwägung mit, daß es sich nicht bloß um ein zeitliches Nebeneinander handelt, sondern jedes der beiden Momente auf das andere steigernd einwirkt Ursache der Milderung ist also hier der Ehrennotstand so gut, wie der psychische Zustand der Gebärenden, denn das Fehlen des einen schließt die Milderung ebenso aus, wie der Mangel des anderen.^)

Nur für jene Gesetze, die ohne Rücksicht auf das Motiv jeder

1) Auch nicht die Gesetze der südromanischen Gruppe, denn auch ihnen ist Kindesmord nur die Tötung eines Neugeborenen. Sollten aber nicht diese Gesetze folgerichtig auch das Mädchen in dem angeführten Beispiel in ganz gleicher Weise priviligieren? Hier gibt es nur zwei Alternativen: Entweder hat der Gesetzgeber den Zeitraum kuiz nach der Geburt nur deshalb in den Tatbestand aufgenommen, weil er von der Annahme ausging, nachher müsse die Geburt bekannt werden und dann wäre nach der Absieht des Gesetzgebers in der Tat auch dieses Mädchen der Privilegierung würdig. Oder aber es gibt eben außer abnormem Zustand der Gebärenden und Ehronnotstand noch ganz andere Gründe für die milde Behandlung der Tötung gerade eines neugeborenen Kindes.

2) Geradeso Liszt a. a. 0. S. 117, der ein ganz ähnliches Beispiel wie Groß bringt, auf -das wir unten noch zu sprechen kommen.

246 X. Gleibfach

Mutter die Milderung zuerkennen, die bei der Geburt ihr Kind tötet, sei es ein uneheliches oder ein eheliches, nur für sie scheint zu- nächst der abnorme psychische Zustand bei der Geburt das allein Maßgebende zu sein. Wo nur die Tötung des unehelichen Kindes milder behandelt wird, trifft das auch noch nicht zu. Doch auch für die ersteren Gesetze ist m. E. nur scheinbar bloß ein Grund der milden Behandlung vorhanden, andere Gründe, die sich vorzugsweise aus der Beschaffenheit des Objektes ergeben, treten noch hinzu. Ob der Gesetzgeber in der Begründung seiner Vorschläge auf sie Bezug genommen hat oder nicht, ob er sich ihrer überhaupt bewußt war, darauf kommt es hier nicht an. In der Literatur wird des öfteren auf sie hingewiesen 0 und ich kann darum auch etwa nur für das Gebiet des deutschen und österreichischen Rechtes den Bestand einer communis opinio über die Gründe der milden Behandlung der Kindesmörderin nicht gelten lassen. 2) So hat man nicht mit Unrecht auf den nahen physiologisch-psychischen Zusammenhang zwischen der Mutter und dem Neugeborenen verwiesen, vermöge dessen die Mutter in dem Kind eher einen losgelösten Teil von sich, als eine selbständige Persönlichkeit erblicke, und auf das unentwickelte Bewußtsein des Neugeborenen. Wer wollte leugnen, daß die Art der Fortpflanzung für das primitive Denken eine Stütze bietet für jene Auffassung der Stellung der £ltern gegenüber ihren Kindern, die in dem jus vitae ac necis ihre schärfste Ausprägung erfahren, sich dann zwar allmählich abgeschwächt hat, aber noch lange nicht verschwunden ist? So sehr wir auch heute diese Auffassung verwerfen, so darf man darüber doch nicht vergessen, daß die Kultur sie am wenigstens dort über- wunden hat, wo Not und Unbildung herrschen, daß ihr der Zeit- punkt unmittelbar nach der Geburt am günstigsten ist und daß sie die Tat der Mutter in milderem Licht läßt, verminderte Gefährlichkeit offenbart im Vergleich zu anderen Tötungen. In derselben Richtung wirken die Unmöglichkeit einer Gegenwehr seitens des Neugeborenen und überhaupt die ganz außergewöhnliche Leichtigkeit der Ausführung. Sehr oft, vielleicht in der Mehrzahl der Fälle wird der Tod des Kindes durch eine Unterlassung herbeigeführt. Schließlich ist nicht zu ver- kennen, daß der wirtschaftliche und soziale Wert eines Neugeborenen geringer erscheinen kann als der eines heranreifenden oder erwachsenen Menschen. Das gilt ganz allgemein, in erhöhtem Maß aber dann, wenn man gerade die Neugeborenen ins Auge faßt, die in der Regel

1) Vgl. etwa Merkel in Holtzendorifs Rechtslcxikon 2, 8 ff.

2) Vgl. z. B. einerseits die Lehrbücher von Binding, v. Liszt, anderer- seits Wachenfeld in der Encyklopaedie von Holtzendorff-Eohler 2 295.

über Kandesmord. 247

das Opfer unseres Verbrechens werden, und die sie umgebenden Yer- hältoisse und die gebotenen £ntwicklung8möglichkeiten. i) Gewiß beruht die Zukunft jedes Gemeinwesens auf dem jungen Nachwuchs, für die Gegenwart aber und unmittelbar nach der Geburt ist das Kind doch nur eine oft sehr vage Hoffnung und die Gegenwart ist für primitives Denken und Fühlen stärker als die Zukunft. Das Neugeborene hat noch keinen Platz im Leben eingenommen, keine Beziehungen angeknüpft, sein Verschwinden hinterläßt daram auch keine Lücke; es ist auch noch nicht der Gegenstand irgendwelcher wirtschaftlicher Aufwendungen geworden, die mit seinem vorzeitigen Tod zu nutzlosen Opfern würden, es ist schließlich ein Lebewesen, das nach seinem ersten Gebahren unter der Stufe der höher organi- sierten Säugetiere zu stehen scheint und in dem nur mit Hilfe der Phantasie die Keime der Entwicklung zu dem am höchsten organi- sierten Lebewesen erkannt werden können. Aus den vorstehenden Ausführungen soll nicht etwa der Schluß gezogen werden, es sei grundsätzlich und allgemein den Neugeborenen wegen objektiver Minderwertigkeit nur ein geringerer strafrechtlicher Schutz einzu- räumen; ebensowenig soll behauptet werden, daß etwa die Eindes- mörderinnen diese Erwägungen anstellen. Trotzdem lassen sie aber erkennen, daß die Strafwürdigkeit der Tötung eines Neugeborenen eine verminderte ist Für sich allein reichen die angeführten Momente nicht aus, die weitgehende Milderung der Kindestötung zu recht- fertigen, wohl aber im Zusammentreffen mit anderen, namenüich mit dem durch die Geburt erzeugten abnormalen Zustand der Mutter.

1) Ais drastische Illustration diene ein Schwurgerichtsfall aus Krain: Eine völlig vermögenslose Dienstmagd vom Lande, die nicht einmal den Vater des von ihr außerehelich geborenen Kindes namhaft zu machen wußte, war des Kindes- mordes angeklagt und vollkommen gestandig. Die Beratung der Geschworenen währte kaum fünf Minuten, dann verkündete der Obmann den Wahrspruch: „12 Nein**. Nach dem in völlig autentischer Weise wiedergegebenen Bericht eines der Geschworenen spielte sich die Beratung so ab : Zuerst wurde etwas ^herum- geredet^, dann meinte einer der Geschworenen, für das arme Kind wäre es so doch noch am besten gewesen. Diese Erwägung schlug so völlig durch, daß der einstünmige Wahrspruch sofort zu stände gekommen war! Nebstbei bemerkt, auch ein klassischer Beitrag zu dem Kapitel: Fehlspruche der Geschworenen! Um freilich dem Gedankengang der Geschworenen so weit als möglich gerecht zu werden, muß man sich auch das schreckliche Elend solcher Eänder ausmalen können, die schließlich, wie der so bezeichnende technische Ausdruck lautet, einer Gemeinde zur Last fallen. Ob bei der Entscheidung der Geschworenen auch die Erwägung mitgespielt hat, daß die Angeklagte durch ihre Tat auch die Gemeinde von einer ihr drohenden Last befreit habe, das bleibe unent- schieden.

248 X. GliEISFACH

I

Damit ist auch der naheliegende Einwand erledigt, daß folgerichtig auch dritte Personen privilegiert werden müßten, wenn der Angriff gegen ein neugeborenes Kind gerichtet war und ebenso der weitere Einwand, daß dieselben Momente auch bei der Tötung von Kindern zu berücksichtigen wären, deren Leben bereits nach Wochen oder Monaten zählte. In diesem Fall sind übrigens mehrere der an- geführten Umstände überhaupt nicht mehr vorhanden und die anderen nur in vermindertem Maß.

IL

Um noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Untersuchung zurückzukommen, so befinde ich mich mit Groß insofern in vollem Einklang, als ich auch der Ansicht bin, es sei „sehr fraglich^, ob die Lehre vom sogenannten Ehrennotstand zur Begründung der Milderung hinreiche; d. h. ich zweifle nicht im Mindesten daran, daß der Ehren- notstand allein ganz und gar nicht ausreicht und dies dürfte auch dem Inhalt nach die Ansicht von Groß sein. Hingegen glaube ich gezeigt zu haben, daß andere Momente vorhanden sind, die in Ver- bindung mit Ehrennotstand oder materieller Not weitestgehende Mil- derung der Strafe erfordern.

1. Da sind zunächst alle jene Mildernngsgründe, die ich kurz als solche bezeichne, die sich aus der Eigenart des Verbrechensobjektes ergeben. Sie sind immer gegeben, bei der Tötung des ehelichen, wie des unehelichen Kindes. Man wende nicht ein, daß ihnen der Schärfungsgrund der Deszendententötung gegenüberstehe. Auch die mütterliche Liebe stellt sich nicht mit einem Schlag ein, sie bedarf auch der Zeit, des Verkehres mit dem Kind, um sich zu entfalten^) und auch alle die näheren Umstände bei den Geburten, nach denen sich Kindesmorde ereignen, pflegen dieser Entfaltung keineswegs günstig zu sein.

2. Da ist sodann der abnorme psychische Zustand der Ge- bärenden. Daß er berücksichtigt werden muß mag nun der Tötungs- entschluß schon vor seinem Eintritt oder unter seinem Einfluß gefaßt worden sein dürfte feststehen. Aber Umfang und Maß der Be- deutung, die ihm einzuräumen sind, und die legislativ-technische Be- handlung, alles dies hängt ab von Vorfragen, die zum Teil ganz der Psychiatrie angehören, zum Teil auf juristisch-psychiatrischem Grenz- gebiet liegen und heute leider noch vielfach ungeklärt sind. Der Geburtsvorgang kann die normalen psychischen Funktionen so sehr

1) Ebenso Liszt a. a. 0. 112.

über Eindesmord. 249

beeinträchtigen, daß schwere Bewußtseinsstörungen oder transitorische Psychosen eintreten. Hier ist der Geisteszustand der Gebärenden ein pathologischer, die schweren Fälle gehören gewiß in das Gebiet der Znrechnungsunfähigkeit. Es darf wohl als feststehend angenommen werden, daß solche die Zurechnungsfähigkeit aufhebende Zustände auch ohne ererbte Belastung, ohne hysterische oder epileptische Basis durch ungewöhnlich schwere Geburt, abnorm starke Geburtsschmerzen in Verbindung mit heftiger Gemütsbewegung (heimliche Geburt, Furcht vor Not und Schande) hervorgerufen werden können. Immerbin sind solche Fälle wohl sehr selten. Psychische Störungen leichteren Grades, die immerhin noch als akute Psychosen, also pathologische Er- scheinungen aufzufassen sind, werden nicht allgemein als Fälle der Zurechnungsunfähigkeit, sondern auch als solche der verminderten Zurechnungsfähigkeit betrachtet Dem letzteren Gebiet gehören wohl zweifellos jene Trübungen des Bewußtseins und Aufregungszustände an, die namentlich bei schweren Geburten dann auftreten werden, wenn sie von heftigen Gemütsbewegungen begleitet sind, ohne daß hier noch von Psychosen gesprochen werden könnte. Des weiteren dürfte es wohl feststehen, daß vielleicht abgesehen von höchst vereinzelten Fällen, in denen die Geburt nach einer nicht beschwer- lichen Schwangerschaft ganz ungewöhnlich rasch und leicht verläuft und die Gebärende geradezu ein schwer erregbares Nervensystem besitzt der Geburtsvorgang auch unter normalen Verbältnissen den geistigen Zustand der Gebärenden nicht ganz unberührt läßt. Ob aber diese ganz regelmäßig eintretende Beeinträchtigung, diese so- zusagen normale Abnormität des psychischen Zustandes der Gebärenden wesentlich genug sei, um unter den Begriff der verminderten Zu- rechnungsfähigkeit eingereiht zu werden und erhebliche Strafmilderung zu begründen, ist eine offene Frage. Man ist vielfach geneigt, die zweite Frage zu bejahen, die dahin geht, ob die allgemeine Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit und weitgehende Strafmilderung gerechtfertigt sei; sobald nicht mehr normale Verhältnisse vorliegen. Dabei werden nun freilich diese der unehelichen Geburt meist gleich- gehalten, was offenbar unrichtig ist. Wann kann man von abnormalen Verhältnissen sprechen? Drei Gruppen von Tatsachen, die sodann auch die Wirkung des Geburtsaktes auf die Psyche der Gebärenden wesentlich beeinflussen, lassen sich unterscheiden: erbliche Belastung der Schwangeren, hysterische, epileptische Veranlagung; große körper- liche Beschwerden während der Schwangerschaft und schwerer Verlauf der Geburt, namentlich besonders schmerzhafte Wehen, großer Blut- verlust; endlich heftige Gemütsbewegungen. Es leuchtet ohne weiteres

250 X. Gleispach

ein, daß diese Tatsachen durch das Verheiratetsein der Mutter eben- sowenig ausgeschlossen sind, als ihr Vorhandensein durch den Mangel des Ehebandes bedingt wird. Die erste ist ganz unabhängig vom Zivilstand der Mutter, die zweite unmittelbar nicht abhängig, von der dritten läßt sich nur ein sehr häufiges Zusammentreffen mit dem Mangel des Ehebandes behaupten. Maßgebend ist eben in vielen Richtungen nicht der Zivilstand als juristische Tatsache, sondern das tatsächliche Verhältnis, der Umstand, ob sich die Mutter der Für- sorge und Unterstützung des Erzeugers des Kindes oder anderer ihr nahestehender Personen erfreut oder nicht. ^) Allerdings läßt sich nicht verkennen, daß Tatsachen verschiedener Gruppen aufeinander einwirken. Schwere Sorgen wegen der bevorstehenden Geburt können den Verlauf der Schwangerschaft beeinflussen, ebenso den Verlauf des G^burtsaktes selbst. Nimmt man an, daß solche Aufregungen oder gemütliche Depressionen bei unehelich Gebärenden die Regel bilden, so ergibt sich hier allerdings eine bedeutsame Stütze für die Annahme regelmäßiger und erheblicher Beeinträchtigung des normalen Geistes- zustandes. Ein Umstand scheint .mir hier aber noch besonderer Hervorhebung wert und bedürfte wohl auch eingehender Untersuchung. Der Gemütszustand der verlassenen, verängstigten, zur Verheimlichung der Schwangerschaft genötigten Geschwängerten scheint sowohl das Zustandekommen etwas frühzeitiger Geburten, als auch einen raschen, oft geradezu sturzartigen Verlauf der Geburt zu begünstigen. Der damit verbundene große Blutverlust kann die des passiven Kindes- mordes Angeschuldigte allerdings wesentlich entlasten, anders aber dürfte es sich verhalten, wenn aktive Kindestötung vorliegt Der Intensität der Geburtsschmerzen wird eine erhebliche Bedeutung für die Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit zuerkannt werden müssen und wenn diese Intensität und ihre Dauer bei den erwähnten Geburten regelmäßig eine geringere ist, so scheint hier ein Umstand gegeben, der zu Ungunsten der Mutter sprechen würde. Die die Zurechnungsfähigkeit vermindernde Wirkung der Gemütserregungen würde gleichsam paralysiert dadurch, daß die physiologische Wirkung dieser eine solche ist, die andere Beeinträchtigungen der Zurechnungs- fähigkeit hintanhält

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Zurechnungsfähigkeit der

1) Die Furcht vor Schade wird allerdings oft nur durch die Ehe mit dem Erzeuger des Kindes behoben werden können, doch gilt auch dies nicht all- gemein; in manchen Landern und Bevölkerungsschichten hat schon das Ver- löbnis mit dem Schwängerer die Wirkung, das schwangere Mädchen vor jedem Vorwurf zu schützen.

über Kindesmord. 261

Kindesmördehnnen im Besonderen zu untersuchen. Dieser Weg bat gewiß seine Berechtigung, aber zu abschließenden Ergebnissen wird man erst dann gelangen können, wenn der Einfluß des Geburtsvor- ganges auf den Geisteszustand der Gebärenden überhaupt und dann die Wirksamkeit besonderer Umstände auf Grund umfassendster Be- obachtungen klargelegt sind. Daran fehlt es heute noch. Ich würde es nicht wagen, dies auszusprechen, wenn ich nicht bei einem Psychiater mehrfache und aus der jüngsten Zeit stammende Be- stätigung gefunden hätte. Im Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie von Ho che schreibt Aschaffenburg bei Besprechung des Geistes- zustandes der Gebärenden: „Wünschenswert wäre es aber, daß ein psychiatrisch geschulter Frauenarzt vor allem die bei normalen, ehe- hohen sowie unehelichen Geburten auftretenden Zustände genauer beobachtete und analysierte, um eine Grundlage zur Beurteilung besonders auffälliger Erregungen zu schaffen, eine Grundlage, die, so notwendig sie ist, vorläufig noch fehlt^ und an anderer Stelle wird dieser Wunsch wiederholt. ^) Dieser Grundlage bedarf nicht nur der Psychiater, sondern auch der Kriminalist Da sie noch fehlt, kann es nicht Wunder nehmen, daß die Ansichten auf unserem Gebiet überhaupt und über die strafrechtliche Bedeutung des Geisteszustandes der Gebärenden im Besonderen und zwar sowohl de lege lata als auch de lege ferenda, so weit auseinandergehen. Es seien nur einige Belege aus der nicht spezifisch kriminalistischen Literatur angeführt: Wenn Jörg-O die Ansicht vertrat, daß jede Gebärende mehr oder minder zurechnungsunfähig sei, so wird zwar diese Ansicht heute in dieser Formulierung wenigstens keine Anhänger mehr finden. Jedoch hat kürzlich Audiffrent^) sich folgendermaßen geäußert: „Sans 6carter le cas de folie constatöe nous osons dire que la plupart des infanticides sont commis dans des accös de simple ali^nadon, saus qu'il soit possible d'y rattacher la folie proprement dite/ Dr. H. Dörfler**) gelangt zu nachfolgendem Ergebnis: „Aus all' diesen Be-

1) MSchr Krim Psych 2, (1905) 668, Besprechang der 2. Auflage von FabricBi Die Lehre von der Eindesabtreibung und vom Kindesmord. Bezüglich der Ausführungen über den psychischen Zustand der Gebärenden heißt es dort femer: ^Im ganzen kann der Verfasser nur alte Arbeiten anführen, aus neuerer Zeit ist auch mir keine Arbeit bekannt, die sich eingehend mit dem Gemütszustand der Gebärenden befaßt"

2) Die Zurechnungsfähigkeit der Schwangeren und Gebärenden (1837).

3) Quelque consid^rations sur Tinfanticide, Archiv d'anthropologie crimi- nelle 17 (1902).

4) Der Geisteszustand der Gebärenden, Friedreich Bl. f. gerichtl. Medizin 44, 280.—.

252 X. Gleispach

••

obachtungen und AußeniDgen hervorragender Autoren erhellt die Tatsache deutlich, daß der Geisteszustand einer Gebärenden jeder Zeit einen mehr oder weniger hochgradigen Erregungszustand des Gehirns und seiner psychischen Tätigkeit darstellt In den meisten Fällen ist die Zurechnungsfähigkeit entschieden erhalten: Doch sind die geringsten Begünstigungsmomente, wie neuropathische Belastung, abnorm schmerzhafte Wehen, abnorme Widerstände, heimliche Geburt, vorausgegangene Gemütsdepressionen besonders bei unehelich Ge- bärenden imstande, das Gleichgewicht des Geisteszustandes der Kreißenden zu stören. Von der physiologischen Erregung zur patho- logischen ist kein allzu großer Zwischenraum in dieser Phase des Lebens des Weibes." Fabrice 0 schließt den Abschnitt über die Zurechnungsfähigkeit der Neuentbundenen mit den Sätzen: „Bei vollster Berücksichtigung all des Vorstehenden aber müssen wir doch anerkennen, daß weitaus in den meisten Geburtsfällen eine größere physische und psychische Aufregung, als sie von der Gesetzgebung Deutschlands bei Kindesmord ohnedem in Rechnung gebracht wird, nicht anzunehmen ist." In der Kegel dürfe die Zurechnungsfähigkeit nicht als aufgehoben betrachtet werden und nur in seltenen Aus- nahmefällen sei man berechtigt, eine noch mehr geminderte (mehr als der Gesetzgeber es schon allgemein voraussetzt) oder völlig auf- gehobene Zurechnungsfähigkeit der Gebärenden und Neuentbundenen zu begutachten. Diese Sätze gehen von dem Grad der Aufregung und der Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit, den die Gesetz- gebung Deutschlands in Rechnung bringt, wie von einem feststehenden Maßstab aus, sie sind aber von Fabrice zu einer Zeit aufgestellt worden, da in Deutschland noch die Partikulargesetzgebung herrschte, in vielen Ländern bloß die Tötung des unehelichen Kindes, in manchen aber auch die des ehelichen privilegiert war und die Strafrahmen die weitestgehenden Verschiedenheiten, so als Mindestmaße 2 neben 10 Jahren Zuchthaus, aufwiesen; und diese Sätze sind völlig un- verändert in die zweite Auflage übergegangen, ungeachtet dessen, daß inzwischen das Reichsstrafgesetzbuch an die Stelle aller der recht verschiedenartigen Landesstrafgesetzbücher getreten ist und daß gerade darüber Meinungsverschiedenheit und Unklarheit besteht, ob und in wieweit die vom geltenden Recht gewährte Strafmilderung in der Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit ihren Grund finde. Ein- gehendere Untersuchungen hat Rons tan angestellt, doch ist sein Material an eigenen Beobachtungen wohl nur ein sehr beschränktes

1) a. a. 0. 807 and 808, in der ersten Auflage 405 und 406.

über Kindesmord. 253

und die ältere literator vielfach und vielleicht ohne das erforder- liche Maß an Vorsicht herangezogen. Die Schloßergebnisse lauten: 1. Während der Geburt kann^' der Geisteszustand der Gebärenden wichtigen Veränderungen unterworfen sein. 2. Diese Veränderungen können die Klarheit des Geistes zum Teil beheben und die Ver- antwortlichkeit vermindern. 3. Unter dem Einfluß der Geburt kann sich eine transitorische Psychose entwickeln. 4. Diese Psychose kann mit hysterischer, epileptischer, alkoholischer Grundlage in Verbindung stehen. 5. Die transitorische Psychose kann eine „reine^^ und hervor- gebracht sein, sei es durch Aufregung (shok), sei es durch Auto- Intoxation, sei es durch ein Zusammenwirken dieser beiden Faktoren. Ergänzend wäre dazu noch zu bemerken, daß nach Roustan aus- nahmsweise die Geburt ohne wesentliche Einwirkung auf den Ge- mütszustand der Gebärenden vorübergehen kann, vor allem dann, wenn die Schmerzen gering sind und die Geburt rasch erfolgt; doch wird dies nur bei Besprechung der Geburt verheirateter Frauen ge- sagt Femer nimmt R. nicht bei jeder Psychose Zurechnungsunfähig- keit an ; sie könne auch bloß Verminderung der Zurechnungsfähigkeit bewirken. Jüngst hat Sigwart^) über einen interessanten Fall eines Selbstmordversuches einer Schwangeren während protrahierter Geburt berichtet und dabei der Ansicht Ausdruck gegeben, daß bei den Gewaltakten während oder gleich im Anschluß an die Geburt auch bei unehelich Gebärenden die verminderte Zurechnungs- fähigkeit, hervorgerufen durch die Aufregungen der Geburt, eine wesentliche Rolle spiele und daß manche unehelich Geschwängerte zur Kindesmörderin wurde, welche während der Schwangerschaft nie daran gedacht oder nicht den Mut gehabt hat, aus Furcht vor Schande ein Verbrechen wider das keimende Leben zu versuchen.

3. Mildernd wirkt ferner das Motiv der Tat An erster Stelle steht hier das Bestreben, die Ehrenminderung hintanzuhalten, die bei dem Bekanntwerden der Geburt und damit des außerehelichen Geschlechts- verkehres eintreten würde, jene Situation der außerehelich Geschwänger- ten, die man kurz als Ehrennotstand zu bezeichnen pflegt. Sie tritt am häufigsten bei Ledigen in Wirksamkeit; wenn es auch offenbar irrig wäre anzunehmen, daß sie bei verheirateten Frauen ausgeschlossen sei, so wird sie hier doch nur verhältnissmäßig selten eintreten. Die große Ausdehnung, in der unser Motiv wirksam wird, erhellt aus dem starken Überwiege der ledigen Kindesmörderinnen, deren Anteil den

1) Assistenzarzt an der Univ. Frauenklinik der kgl. Charitß zu Berlin: Selbstmordversuch während der Geburt Archiv für Psychiatrie 42, 249 ff.

254

X. Gleispagh

der Ledigen an der weiblichen Gesamtbevölkernng in den entschei- denden Altersstufen bedeutend übersteigt, wobei noch die ungleich größere Häufigkeit der ehelichen Geburten gegenüber den außer- ehelichen in Betracht zu ziehen ist Es dürfte hier ferner auch auf die verschiedene Belastung der einzelnen Berufe verwiesen werden; namentlich die geringe Belastung der industriellen Arbeiterinnen wird wenigsten zum Teil darauf zurückgeführt werden dürfen, daß gerade in diesen Kreisen jene Auffassung die weiteste Verbreitung gefunden hat, nach der außereheliche Schwangerschaft und Geburt nicht als Schande betrachtet werden. Die Konzentration dieser Berufsange- hörigen, ein entwickelteres Klassenbewußtsein und die geringe Be- rührung mit anderen Schichten der Bevölkerung benehmen der in anderen Kreisen herrschenden Ansicht ihre Bedeutung, so wie sie auch die Ausbreitung und Festigung der ersterwähnten Auffassung wesentlich fördern. Am deutlichsten aber spricht wohl eine nach kleineren territorialen Gebieten durchgeführte Zusammenstellung der Häufigkeit von unehelichen Geburten und Kindesmorden wie sie HoegeP) für die österreichischen Kronländer gemacht hat Die Er- gebnisse sind so interessant, daß ich sie auszugsweise hier wieder- geben möchte.

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„Die yerhältnismäßig geringste Belastung mit Eindesmord findet sich in Kärnten bei der größten Belastung mit unehelichen Geburten. Länder mit wenig unehelichen Geburten, wie Dalmatien, Tirol und Vor- arlberg gehören (wenn man die hohen Freispruchsanteile von Dal

1) a. a. 0. 263.

über Kindesmord. 255

matien berücksichtigt i) zu den schwerst mit Kindesmord belasteten. Ähnlich ist es mit Mähren, Schlesien, Galizien und Bukowina.^ Aber auch in Niederosterreich, Oberösterreich und Böhmen scheint das um- gekehrte Verhältnis vorhanden, wenn auch weniger scharf ausgeprägt, sodaß es nur in Salzburg, Steiermark und im Küstenland nicht zum Ausdruck kommt Die Erklärung dafür wird in den wirtschaftlichen Verhältnissen zu suchen sein, dem zweiten wichtigen Faktor, dessen Mitwirksamkeit hier überall sehr zu beachten ist. Auch die Seltenheit des Eindesmordes in Kärnten wird nicht ganz allein auf Rechnung der freien Ansichten zu setzen sein, die in der den Ausschlag gebenden bäuerlichen Bevölkerung Kärntens über den außerehelichen Geschlechts- verkehr und seine Folgen herrschen, in der hohen Zahl der unehe^ liehen Geburten ihren Ausdruck finden, übrigens auch von jedem Kenner des Landes bezeugt werden. E^ kommt daneben wohl noch der Umstand in Betracht, daß das Aufziehen der unehelichen Kinder nicht mit albsugroßen Schwierigkeiten verbunden ist, von der Mutter nicht nahezu oder ganz unerschwingliche materielle Opfer fordert, (so wenig auch Kärnten ein reiches Land genannt werden kann) ein Umstand, der übrigens mit den erwähnten Ansichten der Be- völkerung auch einigermaßen im Zusammenhang steht

4. Eine scharfe Trennung des eben besprochenen Momentes von dem zweiten nicht minder wichtigen der materiellen Not läßt sich überhaupt nicht nach allen Kichtungen hin durchführen, die für das eine und das andere maßgebenden Tatsachenkomplexe wirken vielfach aufeinander ein. Nehmen wir etwa das Beispiel einer außerehelich Geschwängerten, für die das Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft nach den in ihrem Kreis geltenden Ansichten schwere Schande be- deutet. Ist sie mittellos, so wird völlige Verheimlichung der Schwanger- schaft und Geburt und die Tötung des Neugeborenen oft als der ein- zige Weg erscheinen, um der Schande zu entgehen, namentlich in ländlichen Verhältnissen. Auch wenn die Schwangere eine Mutter oder sonst eine ihr nahestehende Person besitzt, der sie sich anvertrauen könnte, was hilft es? Die engen Wohnungsverhältnisse machen es unmöglich, daß eine den äußeren Umständen nach normal verlaufende Kiederkunft ein Geheimnis bleibe, jede Veränderung des Wohnortes ruft Verdacht hervor, ist, wenn sie überhaupt wirksam sein soll, mit Auslagen verbunden, die nicht gemacht werden können, die Unter- bringung des Kindes kann auch nicht in weiter Ferne und nur wieder in dem Milieu erfolgen, dem die Mutter angehört; sodaß wieder die

1) 60 Freigesprochene auf 100 Verurteilte.

256 X. Gleisfach

Wahrung des Geheimnisses völlig in Frage gestellt ist Alles das liegt sofort ganz anders, wenn wir uns eine über reichliche Geld- mittel verfügende Person als die Schwangere vorstellen. Die Schwierigkeiten der Geheimhaltung, die hier ja auch vorhanden sind, können durch Geld überwunden werden. Gefährdung der Ehre also hier und dort, aber während hier die Gefahr durch materielle Opfer überwunden werden kann, kommt es dort wegen der Ungunst der wirtschaftlichen Lage bis zu einem das Leben des Kindes bedrohen- den ^Ehrennotstand^. Knappheit der Geldmittel kann zur Tötung des Kindes drängen, ohne daß wirtschaftliche Not als Motiv der Tat an- genommen werden könnte. Dessenungeachtet kann doch aus allen den Umständen, die einen weitgehenden Einfluß der wirtschaftlichen Lage der Gebärenden auf das Zustandekommen der Kindestötung dar- tun, auch auf die große Bedeutung geschlossen werden, die wirt- schaftlicher Not als Motiv zukommen muß. Vor allem kommen hier die Vermögenslosigkeit der tiba^iegenden Mehrzahl der Verurteilten, Berufszugehörigkeit und Stellung im Beruf in Betracht Die rich- tigste Folgerung dürfte wohl noch immer die sein, daß die Kindes- tötung in der Mehrzahl der Fälle das Ergebnis des vereinten Wirkens von Furcht vor Schande und von Not sei. Aber auch das wird noch behauptet werden dürfen, daß wenn auch vielleicht nicht sehr häufig, so doch auch nicht bloß als Ausnahme, Kindestötungen lediglich unter dem Einfluß drückender Notlage, d. h. ohne Mit- wirkung der Furcht vor Schande zustande kommen. Schon der An- teil der Verheirateten an den Verurteilten überhaupt ist zu hoch, als daß für alle diese Fälle Ehrennotstand angenommen werden könnte; denn damit es bei einer verheirateten Frau zu einem solchen kommt^ bedarf es neben dem Verlassensein der Frau noch des Zusammen- wirkens besonderer außergewöhnlicher Umstände. Freilich fehlt hier noch der besondere Anhaltspunkt dafür, daß bei dem nicht auf Ehren- notstand zurückführbaren Fällen wirtschaftliche Notlage maßgebend war. Ein solcher Anhaltspunkt aber ergibt sich aus folgender, nach der österreichischen amtlichen Statistik zusammengestellten Tabelle (s. n. S.):

Auf 100 wegen Kindesmord Verurteilte entfallen 6.4^/0 Verheira- tete und 5.3 ^/o verheiratet Gewesene. Von den ersteren hatten li^hy von den letzeren 88^/0 Kinder. Diese Ziffern dürfen wohl als Be- weis für den unmittelbaren Einfluß der Not angesehen werden. Gleichwohl ist er kürzlich von Aschaffenburg (Das Verbrechen und seine Bekämpfung) sehr in Zweifel gezogen worden und zwar auf Grund folgender Ergebnisse der amtlichen deutschen Kriminal-

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Besonders anschaulich wird das Verhältnis der zwei Ziffemreihen bei graphischer Darstellung (s. n. S.)-

Aschaffenburg führt hierzu aus: . . Dabei ist besonders interessant, daß die Neigung, sich des unerwünschten Sprosses zu entledigen, offenbar in viel höherem Grade von der Zahl der 6e-

1) Die Ziffern geben an, wie viele Kindeemorde auf einen Tag im Monat kommen, wenn im Jahr aaf einen Tag 100 Kindesmorde entfallen, berechnet für das Jahrzehnt 1883/92. (Stat d. Deutschen Beiches N. F. 83, 52.)

2) Anf einen Tag des betreffenden Monates entfällt die angegebene Zahl der ^Geburten, wenn durchschnittlich auf jeden Tag im Jahr 100 Fälle kommen, be- rechnet für die Jahre 1872—1883. (Stat Jahrbuch 1885 S. 21.) Aschaffen - bnrg hat an die Stelle der Geburtstage die Konzeptionszeiten gesetzt, die für unsre Zwed^e jedoch nicht in Betracht kommen.

Anhir fflr Kiimfaialanthropologie. 27. Bd. 17

268

X. Gleispach

bärenden abhängig ist als von dem Gedanken, was ans dem Kinde werden soll. Die Voraussetzung der milderen Benrteiinng des Kindes- mordes war die Annahme einer verzweifelten Gemiitslage, eines Ge- miBches voa Hilflosigkeit, Scham, Rene, Schmerz und Sorge nm die Zukunft. Die Zahlen der Statistik lehren, daß wenigstens die un- mittelbare Sorge keinen großen Einfluß hat; sonst müßten die Zeiten

Kindesmorde. üaehelich Geborene.

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der Not, die Wintermonate, während derer zu allem andern noch die Stellenlosigkeit bedrohlich wirkt, stärker an dem Kindesmord be- teiligt sein. Statt dessen steht ibre Zahl in direktester Beziehung zur Zahl der Geburten, so daß man fast za sagen rersncht ist: Unter der gleichen Anzahl unehelicher Mütter findet sich, ganz unabhängig von der wirtschaftlichen Lage, annähernd die gleiche Zahl solcher, die ihr neugeborenes Kind mit Gewalt beiseite schaffen." Aachaffenbnrg

über Kindesmord. 259

hat gnt daran getan, diesen letzten Satz mit einer so vorsichtigen Einleitung zu versehen ; er ist dadurch der Polemik entzogen und als Behauptung hingestellt, wäre er sicherlich falsch. Aber auch die weniger weitgehenden Sätze werden m. E. von den vorgeführten Zahlenreihen nur vorgetäuscht, finden aber bei näherer Untersuchung keine Bestätigung. Es sei zunächst davon abgesehen, daß von einem Parallelismus der beiden Kurven im strengen Sinne des Wortes nicht gesprochen werden kann. Daß die größere oder geringere Zahl der Geburten in bestimmten Zeitabschnitten an und für sich nicht Ursache der größeren oder geringen Häufigkeit der Eindesmorde sein kann, yersteht sich von selbst. ^) Wenn sich also zeigt, daß beim Ansteigen der Geburten auch die Eindesmorde zunehmen und umgekehrt^ so weist diese Erscheinung auf solche Ursachen des Eindesmordes hin, die unabhängig von dem Wechsel der Jahreszeiten gleichmäßig wirken. Sind wir auf anderem Weg dazu gelangt, bestimmte Momente, deren Wirksamkeit von der Jahreszeit unabhängig ist, als maßgebend für das Zustandekommen des Eindesmordes anzusehen, dann bedeutet die erwähnte Erscheinung offenbar eine bedeutsame Bestätigung dieser Annahme. Dies trifft nun zweifellos zu für den „Ehrennotstand^, für die Annahme einer verzweifelten Gemütslage^ die sich aus Hilflosig- keit, Scham, Reue und Schmerz zusammensetzt; es scheint hingegen nicht zuzutreffen für die Annahme des Einflusses der Sorge um die Zukunft, der wirtschaftlichen Not. Wenn aber die Wirksamkeit dieses Faktors als widerlegt gelten soll, so müßte erst feststehen, daß seine Wirksamkeit von der Jahreszeit wesenüich beeinflußt wird und nach ihr schwankt. Aschaffenburg nimmt das ohne weiteres an^ die Zeiten der Not sind ihm die Wintermonate, in denen zu allem andern noch die Stellenlosigkeit kommt Dabei dürften zwei wichtige Mo- mente nicht genügend Beachtung gefunden haben, einerseits die Be- mfszugehörigkeit der Großzahl der Eindesmörderinnen und anderer- seits die besondere Eigentümlichkeit der Eindestötung auch in Beziehung zur wirtschafüichen Lage der Täterin, die es ausschließt, hier etwa einen Parallelismus mit den Erscheinungen beim Diebstahl oder anderen Vermögensdelikten vorauszusetzen. Über die Belastung der verschiedenen Berufe in Deutschland gibt die folgende aus der deutschen Eriminalstatistik zusammengestellte Tabelle Auskunft:

1) Deshalb ist es zumindest ungenau ausgedrückt, wenn Asch äff enburg sagt, die „Neigung^ zum Kindesmord sei in viel höherem Grad von der Zahl der Gebärenden abhängig, als von dem Gedanken, was ans dem Eönd werden soll. Gerade die Neigung, das Kind zu töten, kann unmöglich von der Zahl der Geburten abhängen.

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über Kindesmord. 261

Die Kindesmorderinnen zerfallen demnach in drei Grappen; die erste gröBte, die mehr als die Hälfte aller umfaßt, wird von den landwirtschaftlichen Arbeiterinnen gebildet, die zweite im Ausmaß von Vi bilden die Dienstboten, der Best, etwa 1/5, setzt sich aus An- gehörigen verschiedener Bemfe in verschiedenen Stellungen zusammen. Das heißt, daß überwiegend ländliche Verhältnisse in Betracht kommen und daß mehr als ^/4 der Verurteilten einer Kategorie von wirtschaft- lich abhängigen Personen angehören, in der vorwiegender Natural- lohn (freie Kost, Wohnung u. s. f.) bei geringfügigem Geldlohn die Regel bildet. Das starke Ansteigen der Vermögensverbrechen mit Beginn der kalten Jahreszeit erklärt man sich durch die Not des Winters und sieht diese wieder vornehmlich in den durch die Witterung gesteigerten Bedürfnissen, Mehrauslagen für reichlichere, erwärmende Kost, warme Kleidung, Heizung, Beleuchtung, Notwendigkeit einer Unterkunft, dazu erhöhte Preise. Alle diese Umstände kommen bei der großen Mehrzahl der uns interessierenden weiblichen Personen gar nicht oder nur in ganz geringem Maß in Betracht Für das ganze Heer der ländlichen und städtischen Dienstboten bedeutet der Winter keine Erschwerung der Existenz, so lange sie sich im Dienst befinden. Was nun die Stellenlosigkeit anlangt, so gelten auch hier für uns keineswegs die allgemeinen Sätze, die man meist für die Ge- samtheit annimmt. Auf dem flachen Land spielt sie überhaupt keine Rolle, hier herrscht überwiegend „Leutenot". Aber auch in den Städten dürfte die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften der für uns maßgebenden Kategorie überwiegend stärker sein als das Angebot und neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß das Gesamtbild des Arbeitsmarktes von dem ganz verschieden ist, das bei Trennung der Geschlechter der weibliche Arbeitsmarkt darbietet, i) Freilich wird man hier noch lange nicht unanfechtbare Ergebnisse aufweisen können, jedenfalls steht soviel fest, daß die Wintermonate nicht als die Zeit besonders bedrohlicher Stellenlosigkeit angesehen werden können; es wird das Zustandekommen einer sicheren Grundlage abgewartet werden müssen, um auf diesem Gebiet Schlüsse ziehen zu können.

Dazu kommt aber noch ein weiterer Umstand: während bei aus

1) Vgl. Die Störangen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900 ff. Bd. 5: Die Krisis auf dem Arbeitamarkte, S. 1 ff. Auf S. 5 werden die Verhältnisse des weiblichen Arbeitsmarktes auf Grund der öffentlichen Arbeits- nachweise für die Jahre 1S96— 1902 tabellansch dargestellt Nach dieser Tabelle herrscht überwiegend und selbst in den Krisenjahren ein Unter angebet, die nngflnstigsten Monate mit Überangebot sind Oktober und November, schon im Dezember bleibt das Angebot wieder hinter der Nachfrage zurück.

262 X. Gleisfach

Not begangenen Vermögensverbrechen das Streben darauf gerichtet ist, Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu gewinnen, handelt es sich beim Eindesmord ans Not umgekehrt darum, schwere wirtschaftliche Einbußen und Nachteile hintanzuhalten, die mit dem Bekanntwerden der Geburt und der Erhaltung des Kindes verbunden wären. Dieser Gegensatz ist offenbar bedeutsam für den Einfluß der wirtschaftlichen Situation auf das Zustandekommen des Verbrechens, zumal wenn man berücksichtigt, daß die Erhaltung des Kindes eine dauernde Be- lastung bedeutet. Unter den wirtschaftlichen Nachteilen spielt aber auch der mit dem Bekanntwerden der Entbindung verbundene Ver- lust des Postens bei Dienstboten eine Bolle, so daß unter Umständen gerade die Tatsache, daß die Schwangere zur Zeit der Entbindung nicht stellenlos ist, dem Leben des Kindes gefährlich werden kann.

Diese Erwägungen lassen jedenfalls soviel erkennen, daß der Einfluß der wirtschaftlichen Lage hier ein keineswegs so einfacher ist, wie es bei den Vermögensverbrechen angenommen wird. Weiter- gehende Schlüsse sollen nicht gezogen werden, nur soviel ergibt sich, daß die Kurve der Kindesmorde den Einfluß der Not nicht widerlegt.

Auch noch nach einer anderen Richtung hin müssen wir uns vorläufig mit negativen Ergebnissen und mit Fragezeichen bescheiden, aber es wird nicht ohne Nutzen sein, auf sie hinzuweisen. Wir haben bisher angenommen, die Kurve der Kindesmorde laufe der der Ge- burten parallel. In Wahrheit gilt das aber nur ganz im Allgemeinen, genau genommen zeigen sich doch relativ starke Abweichungen und für die erste Hälfte des Jahres ist die Kurve der Kindesmorde so- zusagen eine kräftige und phantasievolle Karikatur der Schwankungen in der Häufigkeit der Geburten. Während die Geburten nach dem Höhepunkt im Februar bereits im März und dann weiter stetig und stark sinken bis in die zweite Hälfte des Jahres, bleibt die Zahl der Kindesmorde noch im März ganz auf der gleichen Höhe wie im Februar und sinkt nur langsam bis in den Mai hinein, um erst von da ab plötzlich sehr stark herabzusinken, so daß im Mai die Kindes- morde noch auf der Höhe von 1 1 8 sich halten, während die Geburten bereits auf das angenommene Mittel von 100 gesunken sind. Femer steigen die Geburten im Dezember und Januar stetig und rasch zur Höhe des Februar, während die Kindesmorde in diesen Monaten noch auf einem tiefen Stand verbleiben, um dann plötzlich auf das Maximum des Februar hinaufzuschnellen. Wir haben also zwei Perioden auf- fallender Divergenzen der beiden Kurven vor uns: März bis Mai und November bis Januar. Daraus ergibt sich, daß auch der Höhepunkt der Kindesmorde im Februar keineswegs lediglich darauf zurück-

über Kindesmord. 263

geführt werden kann, es komme hier die Wirksamkeit der uns be- kannten annähernd gleichmäßig wirkenden Ursachen wegen der größeren Häufigkeit der Geburten stärker zum Ausdruck. Vielmehr müssen in der Periode Februar bis März entweder diese Ursachen ans irgendwelchen Gründen in ihrer Wirksamkeit besonders gesteigert werden oder es sind hier Kräfte am Werk und begünstigen unmittel- bar das Zustandekommen des Verbrechens, die uns überhaupt un- bekannt sind; und in der zweiten Periode müssen umgekehrt gewisse Hemmungen sich geltend machen. Mit anderen Worten: das Er- gebnis ist lediglich ein Fragezeichen, die Gründe der auffallenden Schwankungen liegen noch im Dunkeln.^)

Auch von der Not geboren ist ein weiterer Grund, der vielleicht nur sehr selten allein, nicht so selten aber im Verein mit anderen zur Eindestötung drängen wird: die unvermeidliche Trennung der Mutter von dem Kind sofort oder doch in kürzester Zeit nach der Geburt Die Mutter könnte vielleicht das Kostgeld für das Kind von ihrem Lohn noch absparen, aber sie müßte das Opfer bringen und zugleich auf jede Mutterfreude verzichten, sie müßte darben und dürfte doch ihr Kind nicht bei sich behalten, weil sie sonst beide nicht leben können ein Sachverhalt, der wiederam bei Dienstboten typisch ist. Im Zusammenhang damit steht auch die Vorstellung von der elenden Zukunft, die dem Kind bevorsteht. Erlangt sie Einfluß auf das Ver- halten der Mutter, so ist es das Gefühl des Mitleids, das Bestreben, das Kind vor einer qualvollen Zukunft zu bewahren, das zur Tötung führt. Dasselbe Motiv kann selbst ohne wirtschaftliche Notlage dann auftreten, wenn das Neugeborene mit einer schweren oder unheilbaren Krankheit behaftet ist oder doch die Mutter das glaubt. Es mag

1) Mit bloßen Vermutungen scheint mir der Sache nicht gedient, solange diese nicht durch feste Grundlagen wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht werden können. Nur die eine Bemerkung sei mir vorläufig dennoch gestattet, daß nämlich die starke Häufung der Kindesmorde in der ersten Periode zum TeU mit den Gründen in Zusammenhag stehen dürfte, auf die das Zunehmen der Schwängerungen in den entsprechenden Monaten Mai bis Juni zurückgeführt wird. Zur teilweisen Erklärung dafür, daß die Kindesmorde im Februar so auf- fallend zunehmen und im März nicht abnehmen, könnte man an die kontagiöse Wirkung denken, die manchem schwerem Verbrechen zweifellos eigen ist und die namentUch T a r d e (Phil, p^nal.) glänzend geschildert hat. Dann könnte man wirklich davon sprechen, daß die Zunahme der Geburten, mit der ja eine Zu- nahme der Kindesmorde naturgemäß verbunden ist, die Neigung zum Kindes- mord erhohe. Aber gegen diese Annahme spricht, daß der Kindesmord kaum zn den Verbrechen gehört, die besonders geeignet sind, die Phantasie zu erregen, daß das einzelne Verbrechen weitem Kreisen hier nicht bekannt wird, die Zeitungen sich damit wenig beschäftigen u. s. f.

264 X. Gleispach

fiich hier um seltene Fälle handeln, sie sind daram doch weitest- gehender Rücksicht wert. Man hat nicht mit unrecht gesagt, bei heimlichen Gebarten wird oft der erste Schrei des Kindes seinem Leben gefährlich, er mahnt die Mutter, daß für sie Alles verloren ist, wenn sie nicht eingreift. Aber das erste klägliche Wimmern des Neugeborenen kann der Mutter auch geradezu wie eine 'Bitte um Erlösung von allen Qualen und allem Elend in die Ohren klingen; tötet dann die Mutter das Kind, so ist eine Ähnlichkeit dieses Falles unverkennbar mit dem anderen der Tötung auf Verlangen des Ge- töteten, dem die moderne Gesetzgebung mit Recht auch eine privi- legierte Stellung eingeräumt hat

Man kann darüber streiten, ob in dem Mitverschulden des Schwängerers und unter Umständen auch noch anderer Personen, an dem es fast nie fehlen wird, ein selbständiger Grund zur Milderung der Strafe zu erblicken sei. Ohne Zweifel aber ist dieser Umstand geeignet, die Bedeutung jeder wie immer gearteten Notlage der Mutter als Grund für eine milde Strafe wesentlich zu steigern.

4. Schließlich ist auch noch auf die nahe Verwandschaft zwischen unserem Verbrechen und dem der Abtreibung der Leibesfrucht durch die Schwangere selbst zu verweisen. Es sollen hier die Gründe nicht erörtert werden, die für die Milde gegenüber der Abtreibung be- stimmend sind. Diese Milde besteht, ist unangefochten und wird in Zukunft wahrscheinlich noch gesteigert werden; wird doch von mancher Seite selbst Straflosigkeit gefordert. Der Strafsatz des Kindes- mordes muß den Anschluß haben an den der Abtreibung, jeder Sprung, jede tiefgehende Abgrenzung tut den Tatsachen Gewalt an. So mancher Kindesmord ist psychologisch nichts anderes als eine ver- spätete Abtreibung, aber auch umgekehrt manche Abtreibung ein verfrühter Kindesmord. Der Eihautstich etwa im zweiten Monat der Schwangerschaft und der Kindesmord liegen weit auseinander; nament- lich einer Erstgeschwängerten kann fast jede Vorstellung und jedes Gefühl von der tieferen Bedeutung der erstgenannten Handlung fehlen; aber Kindestötung und Bewirken einer Frühgeburt etwa im siebenten Monat sind Geschwister. Die lange Dauer der Schwangerschaft und die Kindesbewegungen im Mutterleib erzeugen bereits das Gefühl in der Schwangeren, daß sie ein Lebewesen in sich trägt und sie rufen Pflichtvorstellungen hervor; andererseits ist das neugeborene Kind, wie bereits früher ausgeführt wurde, doch nichts anderes als ein werdender Mensch, die Mutterliebe stellt sich nicht mit einem Schlag ein und die Tötung des Neugeborenen wird ganz regelmäßig in einem abnormalen psychischen Zustand ausgeführt, was für die Abtreibung

über Kindesmord. 265

nicht gilt. Der Jurist ist gezwungen, unablässig Kategorien zu bilden, Grenzen zu ziehen und damit Gegensätze zn schaffen, während in der Natur alle Verschiedenheiten nur das Ergebnis allmählicher Entwicklung sind und sich überall unendlich feine und vielgestaltige Übergänge finden. In unserem Fall scheint die Natur selbst eine scharfe Grenze gezogen zu haben; in Wahrheit aber besteht in allen kriminalpolitisch bedeutsamen Richtungen auch hier nur eine all* mähliche Entwicklung, ein langsamer Übergang. Darum muß auch hier der erwähnte Gegensatz so gut es geht überwunden werden. Dazu eröffnen sich im Allgemeinen zwei Wege: an Stelle der zuerst geschaffenen gröberen Unterscheidungen werden immer feinere ge- setzt, man schreitet vor in der Differenzierung ; oder man gleicht das Übel, das in der gezwungen willkürlich gezogenen Grenze liegt, da- durch aus, daß man die Rechtsfolgen^ die mit den getrennten Tat- beständen verknüpft werden, ganz aneinander annähert In unserem Fall ist der zweite Weg zu betreten und heißt hier: Anschluß, noch besser Ineinandergreifen der Strafsätze. Damit wird eine ganz all- gemeine Tendenz von weit umfassender Bedeutung gefördert, die sich schon vielfach geltend macht, am schönsten im Schweizer Strafgesetz- entwurf zu Tage tritt und die als wahrhaft modern weitgehende Forderung verdient, denn sie ist modern nicht in dem Sinn, der an „Mode^ anklingt, sondern deshalb, weil sie, durch das Fortschreiten der Wissenschaft angeregt, den Bedürfnissen unserer Zeit entgegen- kommt und den Eulturfortschritt fördert.

III.

Der letzte Abschnitt dieses Aufsatzes hätte, auf den vorstehenden Ausführungen fußend, noch die Frage eingehend erörtern sollen, wie der zukünftige Strafgesetzgeber den Kindesmord zu behandeln habe. Vor seiner Niederschrift kam mir die Ankündigung zweier Vorträge über den Kindesmord zu^ die Hab er da und Bisch off demnächst in einer Versammlung der Oe. K. V. in Wien halten werden. Die Erörterung unseres Gegenstandes von Seite eines Vertreters der ge- richtlichen Medizin und eines Psychiaters läßt Aufschlüsse über manche Einzelfragen erwarten, die heute noch ungeklärt sind und zu denen ich Stellung nehmen möchte. Deshalb sollen die abschließenden Ausführungen über die Gesetzgebungsfrage einem besonderen Aufsatz bis nach dem Erscheinen der erwähnten Vorträge im Druck vor- behalten bleiben und es sei hier nur mehr in Kürze angedeutet, wes- halb der legislative Vorschlag von Liszt in der „Vergleichenden Darstellung^ m. E. eine befriedigende Lösung des Problems nicht

266 X. Gleispach

bietet v. Liszt zieht von vornherein nur zwei Gründe der Straf- milderung in Betracht: den physiologischen Vorgang der Entbindung und den Ehrennotstand. Der Gesetzgeber wird sich darüber klar zu werden haben, auf welches der beiden Momente er, ohne damit das andere notwendig auszuschalten, das entscheidende Gewicht legen will. Liszt entscheidet sich zu Gunsten des Ehrennotstandes. Die Erschütterung des seelischen und körperlichen Gleichgewichtes durch den Gebärakt selbst fällt unter den Begriff der verminderten Zu- rechnimgsfähigkeit. Wird dieser, wie zu erwarten steht, in den all- gemeinen Teil des künftigen Gesetzbuches aufgenommen, so bedarf die verminderte Zurechnungsfähigkeit bei der Kindestötung keiner besonderen Berücksichtigung mehr. „Dagegen greift der Begriff des Ehrennotstandes über den der verminderten Zurechnungsfäbigkeit hinaus. Es kann sein, daß er eine Störung des seelischen Gleich- gewichtes zur Folge hat, die uns berechtigt, von verminderter Zu- rechnungsfähigkeit zu sprechen. Aber notwendig ist das nicht Und auch in den Fällen, in denen eine Verminderung der Zurechnungs- fähigkeit zweifellos ausgeschlossen ist, verdient nach der heute herrschenden Auffassung die im Ehrennotstand begangene Handlung, da sie keine besonders antisoziale Gesinnung des Täters erkennen läßt, die Berücksichtigung des Straf gesetzgebers." Weiter heißt es aber dann: „Gerade nachdem ich oben auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, die beiden Momente, das physiologische und das psychische, zunächst auseinander zu halten, möchte ich um so schärfer betonen, daß sie nur in ihrer Verbindung die mildere Behandlung der Kindes- tötung zu rechtfertigen vermögen" .... ,,Nur im Zusammenhang mit dem Geburtsvorgang vermag der Ehrennotstand die Strafmilderung für die Kindestötung zu rechtfertigen'' und später kehrt derselbe Gedanke wieder: „Nicht die Furcht vor der Schande an sich, sondern die motivierende Kraft, die diese Vor- stellung unter dem Einfluß des Gebäraktes erlangen kann, gibt die Rechtfertigung für die Strafmilderung ab." Ich muß ge- stehen, daß ich trotz allen Bemühens die Widersprüche nicht zu lösen vermochte, die in diesen Ausführungen enthalten zu sein scheinen. Meine Bedenken gegen den Satz, daß die motivierende Kraft von Vor- stellungen unter dem Einfluß des Geburtsvorganges wesentlich ge- steigert werde, habe ich schon oben vorgebracht Entscheidend ist zunächst die Frage: soll unter dem Einfluß des Gebäraktes doch Verminderung der Zurechnungsfähigkeit verstanden werden oder nicht? Es scheint , daß die Frage bejaht werden soll. 0 Wieso

1) Dafür spricht auch folg. Satz in Liszts Lehrbuch: „Der Grand für

über Kindesmord. 267

kann dann aber behauptet werden, das entscheidende Gewicht sei dem Ehrennotstand beigelegt? Dann sind beide Momente gleichwertig, wie das schon früher ansgeftihrt wnrde. Femer sagt ja Liszt selbst sehr richtig, die im Ehrennotstand begangene Handlang verdient auch bei nicht yenninderter Zorechnnngsfähigkeit die Berficksichtigang des Ge- setzgebers. Das gilt aber wohl ganz allgemein, nicht gerade nur von der Eindestötong. Die einzig richtige Folgening ist dann die, daB der Gesetzgeber durch eine allgemeine Bestimmung dem Ehren- notstand Rechnung zu tragen habe. Und dann trifft der Vorwurf, den Liszt gegen den Schweizer Entwurf erhebt, auch seinen Vor- schlag. Strafmilderung bei verminderter Zurechnungsfähigkeit und bei Ehrennotstand sind allgemeine Gesichtspunkte, beides ist im all- gemeinen Teil zu regeln.« Liegt bei einer Kindestötung bloß das eine oder andere Moment vor, so tritt Milderung der Strafe nach der ent- sprechenden allgemeinen Bestimmung ein. .Treffen beide zusammen, so tritt besonders weitgehende Strafmilderung ein, auf Grund der An- wendung beider allgemeinen Bestimmungen; jede Sonderbestimmung für Eindesmord ist ttberflttssig. Schließlich ist die Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit für jeden Fall des Ehrennotstandes doch wiederum ausgeschlossen, für diese Fälle wird die Verminderung der Zorechnungsfähigkeit praesumiert Wo ist aber die Grundlage für die Annahme, bei Ehrennotstand müsse die Zurechnungsfähigkeit ver- mindert sein? Liszt selbst spricht von Fällen des Ehrennotstandes, in denen verminderte Zurechnungsfähigkeit zweifellos ausgeschlossen ist, von der motivierenden Kraft, welche die Vorstellung der Schande erlangen „kann*'. Also nehmen wir an, mit dem Einfluß des Ge- bäraktes, der zum Ehrennotstand zur Rechtfertigung der Milde hin- zutreten muß, ist nicht verminderte Zurechnungsfähigkeit gemeint Worin dann eigenüich das zweite mildernde Moment gelegen sein soll, ist nicht ganz klar und es scheint wenig gerechtfertigt, daß dieser Einfluß des Gebäraktes auf die Psyche der Täterin denn nur um einen solchen kann es sich handeln doch eine wichtige Bolle für die Strafmilderung spielen soll, obwohl er sich nicht bis zu einer

die mildere Behandlung der Kindestötung liegt nicht so sehr in der durch den GebSrakt überhaupt hervorgerufenen Erschütterung des körperlichen und seelischen Gleichgewichtes (denn diese kann auch bei der ehelichen Mutter eintreten), als vielmehr in den bei der unehelich Geschwängerten auftretenden Antrieben zur Tötung des Kindes (Furcht vor Schande, Unterhaltssorgen), die unter dem Ein- flnß des Gebäraktes gesteigerte Kraft gewinnen können. Daher findet die mil- dere Behandlung ihre Grenze mit dem Aufhören dieses Zustandes ge- minderter Zurechnungsf ähigkeit.^ (Bei Liszt sind die letzten Worte nicht durch den Druck hervorgehoben.)

268 X. Gleispach

Beeinträchtigung der Zarechnungsfähigkeit erhebt. Liszt bringt zur Begründung das Beispiel von einem wohlhabenden Mädchen, dem die Verheimlichung der Geburt gelungen. Erst nach Monaten oder Jahren tritt der Ehrennotstand ein, das Mädchen tötet sein Kind. Kein Straf- gesetzgeber der Welt denkt daran, dem Mädchen die Strafmilderung zu teil werden zu lassen, ruft Liszt aus. Die Strafmilderung d^ Eindesmordes allerdings nicht, aber die Strafe der gemeinen Tötung dürfte auch nicht angemessen sein. Daß es für den Wegfall der weitgehenden Strafmilderung besondere Gründe gibt, daß die Tötung eines Neugeborenen und eines Kindes im Alter von mehreren Monaten oder gar Jahren eben niemals dasselbe sind, ist schon oben ausgeführt worden. Vor allem aber beweist dieses Beispiel aufs deutlichste, daß dem Ehrennotstand gerade das entscheidende Gewicht nicht zukommt, das ihm Liszt beigelegt wissen will. Er empfiehlt als Fassung die des niederländischen St.G.B.: „Die Mutter, die unter dem Einfluß der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung ihr Kind bei oder kurz nach der Geburt vorsätzlich tötet^ Diese Fassung läßt aber auch dem Zweifel Baum, ob der Gesetzgeber auf verminderte Zurechnungs- fähigkeit bereits Rücksicht genommen habe oder nicht Man könnte schließlich noch daran denken, daß das zweite mildernde Moment im Einfluß des Geburtsvorganges überhaupt gefunden werde, ohne Unter- scheidung, ob er sich bis zu einer Verminderung der Zurechnungs- fähigkeit gesteigert habe oder nicht. Doch auch diese Auffassung begegnet dem Vorwurf, den Liszt gegen den Schweizer Entwurf erhebt und auch die vorgeschlagene Fassung des Tatbestandes läßt sie nicht deutlich erkennen. Dieser Fassung haftet übrigens gerade vom Standpunkt Liszts aus noch ein weiterer Mangel an. Sie bringt den Gedanken nicht klar zum Ausdruck, daß gerade der Ehrennot- stand, die Furcht vor Schande, das ausschlaggebende Moment sei. Furcht vor Entdeckung der Entbindung und Ehrennotstand decken sich nicht, vielmehr reicht die erstere weiter. „Unter dem Einfluß der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung" tötet auch das Dienst- mädchen ihr Kind, das die außereheliche Niederkunft nicht als Schande betrachtet, dem femer die moralische Verurteilung seitens der Dienstgeber sehr gleichgültig ist, das aber seine Stelle nicht ver- lieren, nicht mittellos mit dem neugeborenen Kind auf die Straße gesetzt sein will. Das Dienstmädchen fürchtet die Entdeckung der Entbindung, aber es befindet sich nicht im entferntesten in einem Ehrennotstand, es handelt nicht aus Furcht vor Schande, sondern aus Furcht vor Not Freilich verdient auch dieser Fall die Berücksichtigung des Gesetzgebers, aber Liszt will ihn nicht berücksichtigen. Auch

über Kindesmord. 269

das kann ich nicht gerechtfertigt finden; giU doch von materieller Not gewiß ebenso wie vom Ehrennotstand der Satz, daß die nnter solchem Einfluß begangene Handlang eine besonders antisoziale 6e- siminng nicht erkennen läßt^) Zudem muß es kriminalpolitisch sehr bedenklich erscheinen, die Strafmilderung für die Mutter, die ihr Kind bei der Geburt tötet, einzig und allein gerade an ein solches Mo- ment anzuknüpfen, das das für das Leben des Kindes gefahrlichste Verhalten der Mutter zur notwendigen Voraussetzung hat, das ist die Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt.

IV.

Ich möchte nicht schließen, ohne noch auf die symptomatische Bedeutung der ganzen Kontroverse hingewiesen zu haben. Sie liegt offensichtlich darin, daß die Erörterung eine beträchtliche Zahl von Einzelfragen aufgezeigt hat, über die heute Meinungsverschiedenheit und Unklarheit besteht, während sie durch exakte Beobachtungen und Forschung außer Zweifel gestellt sein könnten. Das führt auf unseren Ausgangspunkt zurück, den Heidelberger Vortrag von Hans Groß. Wenn er fordert, daß die Lehre von der Erscheinung und den Ur- sachen der Verbrechen gepflegt, ja vielfach erst geschaffen werde, daß das Strafrecht psychologisch zu vertiefen sei, so ist dem nur beizustimmen. Eine Unsumme von Erfahrungen und Beobachtungen besteht heute nur in der Erinnerung ungezählter Praktiker oder ist bereits vergessen ; eine nicht minder große Summe von Beobachtungen könnte gemacht werden, wenn die Aufmerksamkeit auf die ent- scheidenden Funkte gelenkt würde. Für die Wissenschaft geht das Alles zum größten Teil verloren und wir streiten über Fragen, kon- struieren und kombinieren, während die gesammelten Tatsachen po- sitive Antworten geben könnten. In der gesamten Statistik liegen große Schätze, die erst gehoben werden müssen. Der Beweis aber für

1) H a f t e r ist bei Bespreciiung der Liszt'Bchen Vorschläge (Schwei- zer Z. 19, 147) dafür eingetreten, jedes bei der Täterin nachweisbare Gefühl, sie hätte sich in irgend einem Notstand befanden, zu berücksichtigen. Sein Vor- schlag, der Art 63 der Schweiz. Entwurfes verbessern soll, lautet: „Die Muttor die imter dem Einflüsse der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung oder in einem anderen ihr Handeln beeinflussenden Notstand ihr Kind bei oder kurz nach der Geburt tötet , , . .^ Dagegen ist aber vor allem einzuwenden, daß ^Notstand*^ allgemein ein technischer Ausdruck ist und ebenso im Schweiz. Ent- wTirf gebraucht wird: Art. 25 „Notstand". „Die Tat, . . . (die jemand im Notstand begeht) . . ., ist kein Verbrechen*' und bei notstandsähnlichen Fällen mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen. -—

272 XI. HÖLZL

mehreren Meistern empfohlen wurde, aber keine Arbeit fand und sonach von Innsbruck abreiste Meister Schäfer sagt weiter, daß er Anfangs Jänner 1879 aus einem Orte in der Nähe von Graz, dessen Namen ihm aus dem Gedächtnisse verschwand, eine Korre- spondenzkarte, die er gleich als nicht vom Drosger geschrieben er- kannte, erhalten habe, des Inhaltes, er möge * den bei ihm in Ver- wahrung befindlichen Koffer des Drosger nach Graz poste restante senden, was er aber nicht tat. Leider sei ihm diese Karte verloren gegangen. Es liegt nun die Befürchtung nahe, daß ürban Drosger entweder verunglückt oder gar das Opfer eines Verbrechens geworden ist. ürban Drosger ist 1860 geboren, also 19 Jahre alt, mittelgroß, hat längliches Gesicht, braune Haare und braune Augen, regelmäßigen Mund und rundes Kinn.^

Nach dem Inhalte dieser Ausschreibung war es unschwer anzu- nehmen, daß wenn Urban Drosger wirklich das Opfer eines Ver- brechens geworden ist, Franz Haas an demselben beteiligt gewesen sein müsse. Es war hiemach ein eventueller Verbrecher vorhanden, aber es fehlte noch der verbrecherische Tatbestand. Ich begab mich deshalb in dieser Beziehung auf die Suche in den Polizeiblättern und stieß hierbei auf eine Ausforschung des Kreisgerichtes Leoben, eben- falls im Polizeiblatte für Steiermark, laut welcher am 23. März 1879 nächst Hafning bei Trofaiach, teilweise aus dem Schnee hervorragend, die nur notdürftig bekleidete Leiche eines Mannes, 18—20 Jahre alt, aufgefunden wurde. Durch die gerichtliche Obduktion war festgestellt worden, daß der fragliche Mann vor längerer Zeit durch gewaltige, mittelst eines stumpfen Werkzeuges versetzte Streiche meuchlings er- mordet worden ist. Eine Photographie der Leiche des Ermordeten ward aufgenommen und bei Gericht deponiert

Da ich aus mehreren Gründen annehmen durfte, daß der bei Hafning ermordet aufgefundene junge Mann mit ürban Drosger identisch sein könnte, so teilte ich der Staatsanwaltschaft Leoben diese meine Vermutung mit und haben die hierüber eingeleiteten um- fangreichen gerichtlichen Erhebungen dahingeführt, das durch einen Handwerksburschen aus der Photographie der Hafninger Leiche ürban Drosger agnosziert wurde. Diese Agnoszierung stellte sich jedoch gelegentlich einer Konfronüerung des Handwerksburschen mit Franz Haas als unrichtig heraus. Der Handwerksbursche hatte nämlich nur den Franz Haas, der mit der photographierten Leiche einige Ähnlichkeit hatte, als ürban Drosger gekannt, da er mit diesem unter dem Namen ürban Drosger im November und Dezember 1878 im Spitale zu Kiagenfurt in Pflege stand. Damit kam man wieder

Aus den Erinneningen eines Polizeibeamten. 27S

anf den ursprünglichen Standpunkt zurück, daß man wohl einen eventuellen Täter, aber keinen objektiven Tatbestand vor sich hatte, und es mußte deshalb das gerichtliche Verfahren eingestellt werden.

Ich selbst, dem sonach die Einsichtnahme in den Untersuchungs- akt ermöglicht ward, gelangte ebenfalls zur Überzeugung, daß die am 23. März 1879 bei Hafning aufgefundene Leiche die des verschollenen Tischlergehilfen Urban Drosger nicht sein könne. Der Verdacht aber, daß Franz Haajs doch an dem Verschwinden des Urban Drosger be- teiligt sei, wollte bei mir durchaus nicht weichen^ und zwar speziell auch deshalb, weil Franz Haas, als er sich unter den Namen Urban Drosger und mit dessen Arbeitsbuche im Krankenhause zu Klagen- fort befand, den gepflogenen gerichtlichen Erhebungen zufolge ganz solche Kleidungsstücke getragen hat, wie der vermißte Urban Drosger zur Zeit seiner Abreise aus der Heimat.

Daran festhaltend, daß Franz Haas doch eventuell der Mörder des verschollenen Urban Drosger sei, war es nun meine Aufgabe, diesen anderswo ermordet zu eruieren, wozu ich folgenden Weg einschlug:

Urban Drosger verließ am 12. August 1878 seinen letzten Dienst- platz bei Schäfer in Welsberg und hatte laut eines Ende August 1 87 8, angeblich aus St. Johann in Salzburg, an seinen Stiefvater Silvester Erlsbacher gelangten Briefes die Absicht, nach Linz zu gehen, was daraus hervorgeht, daß er sich vom Stiefvater ein Schreiben nach Linz poste restante erbat. In dem Briefe an den Stiefvater erwähnte er auch, daß er mit einem ihm bekannten Kollegen reise. (Franz Haas ist aus demselben Bezirk.) Wenn er also das Opfer eines Ver- brechens geworden war, so mußte dies auf der Beise von Tirol nach Oberösterreich geschehen sein, weil seit seinem vorerwähnten Briefe aus St. Johann kein weiteres Lebenszeichen von ihm eingetroffen ist.

Ich stellte daher diesbezüglich zunächst wieder Nachforschungen in den Polizeiblättern an und fand im Polizeiblatte für das Herzogtum Salzburg Ausschreibungen des Bezirksgerichtes Traunstein in Bayern, betreffend einen ermordeten unbekannten Mann, von dem ich der Sachlage nach annehmen durfte, daß er mit dem vermißten Urban Drosger identisch sein könnte. Die Ausschreibungen besagten, daß am 30. August 187S morgens bei der Schwarzbachwacht, ca. 200 Schritte von der Beichenhall-Bamsauer Straße entfernt, eine nackte Leiche ge- funden wurde. Diese Leiche war männlichen Geschlechts, 1,63 Meter lang, bei 20 Jahre alt, bartlos, hatte schwarzbraunes Haar, einen Kropf und rauhe Hände. Der Schädel war wahrscheinlich, mit einem Stein zerschmettert. In der Nähe der Leiche wurden zwei Fußlappen, einer

ArcbiT für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 18

274 XI. HÖLZL

davon mit einem ü gemerkt, ein weißbeinerner Löffel mit dem Bilde des Heiligen Franz Seraficus und einem Vers, sowie ein weißes Zahn- bürstchen gefunden.

Die Beschreibung der Leiche, der Buchstabe ü auf einem der vorgefundenen Fußlappen und auch der Fundort der Leiche, letzterer mit Rücksicht darauf, daß der gewöhnliche Weg von Tirol nach Oberösterreich durch die dortige Gegend führt, ließen mich auf den vermißten ürban Drosger schließen.

Die vom königlich -bayrischen Bezirksgerichte Traunstein zur Verfügung gestellten Akten samt Photographie der in der Schwarz- bachwacht aufgefundenen Leiche gaben dann noch weitere Anhalts- punkte dafür, daß meine Annahme Berechtigung hatte: Aus dem Augenscheinsprotokolle war zu entnehmen, daß der im Salzburger Polizeiblatte erwähnte Kropf des Ermordeten von mäßiger Größe war, was erklärlich erscheinen läßt, daß bezüglich des Urban Drosgers eines Kropfes nicht Erwähnung getan wurde. Nach dem ärztlichen Gut- achten mochte die Leiche des Ermordeten bis zur Beschau, die am 30. August 1878 vorgenommen wurde, nicht unter 10 und nicht über 20 Stunden gelegen sein, so daß also auch hinsichtlich der Zeit, in welche der Mord fällt, Urban Drosger für den Ermordeten gehalten werden konnte. Die Zeugenaussagen wiesen bezüglich des Ermor- deten und des Mörders auf zwei reisende Handwerksburschen, was wiederum für meine Annahme sprach, und namentlich die Aussagen des Malers Ludwig Seitz und der Bäuerin Gertrud Weißbacher waren in dieser Beziehung von besonderem Belange. Maler Seitz sagte nach Vorweisung der Photographie des Ermordeten, daß er in derselben bestimmt einen der beiden Handwerksburschen zu erkennen glaube, die er am 28. August 1878 mittags bei dem Gradierhause in Reichen- hall traf und gab dann weiters an: „Dieser nun getötete Mann trug eine Reisetasche zum Umhängen und sein Begleiter einen zusammen- geschnürten Berliner mit dunkler Wachsleinwand umhüllt" Die Bäuerin Weißbacher sagte, daß der photographierte Mann einer der zwei Hand Werksburschen sein könne, welche am 29. August 1878 abends in ihr Haus kamen und um Essen baten, was sie auch er- hielten. Der größere der beiden Burschen trug einen weißen Regen- schirm, der kleinere, wahrscheinlich der Getötete, einen schwarzen Regen- schirm und eine Umhängtasche. Auch zwei andere Zeugen sprachen bei ihrer Einvernehmung von zwei Handwerksburschen mit Berliner und Sonnenschirm.

Hierzu kommt zu bemerken, daß Franz Haas, laut des mit Anna Kopper im Zuge der Vorerhebungen rücksichtlich der Leiche von

AuB den Erinnerungen eines Polizeibeamten. 275

Hafning beim Bezirksgerichte St Veit in Kärnten aufgenommenen Protokoiles, im Besitze eines Schattenspenders gewesen ist, als er im Herbste 1878 unter den Namen Urban Drosger und mit dem Arbeits- bucbe desselben bei den Eheleuten Kopper in St Veit in Arbeit stand; denn die Anna Kopper sagte: „Jener Taglöhner, welcher bei uns im Herbste 1878 arbeitete, trug einen Schattenspender, worüber ich sehr gelacht habe.^

Aus den Akten des Bezirksgerichtes Traunstein war noch hervor- zuheben, daß die bei der Leiche gefundenen Fußlappen blau ge- wesen und auf einem derselben der Buchstabe U rot eingemerkt war.

Die hiemach von mir veranlaßten Erhebungen durch die Bezirks- hauptmannschaft Spital in Kärnten und die Gendarmerie zu Welsberg in Tirol lieferten ebenfalls ganz vorzügliche Resultate, welche sich im Nachstehenden zusammenfassen lassen:

a) Dem Simon Drosger, Bruder des verschollenen ürban Drosger, war bekannt, daß dieser einen kleinen Steckkropf hatte.

b) Der Tischlermeister Schäfer in Welsberg konnte sich erinnern, daß Urban Drosger einen weißbeinemen Löffel mit einem Vers hatte.

c) ürban Drosger pflegte sich die Zähne zu putzen und besaß zu diesem Zwecke ein weißes Zahnbürstchen.

d) ürban Drosger hat Fußlappen getragen und besaß blaue Schürzen, aus welchen er sich Fußlappen gemacht haben konnte.

e) Nach Angabe des Stiefvaters Silvester Erlsbacher und des Bruders Simon Drosger waren die Hemden des ürban Drosger mit den lateinischen Druckbuchstaben ü D rot gemerkt

f) Wie sich Tischlermeister Schäfer in Welsberg und dessen W&scherin erinnerten, hatte ürban Drosger blau und weiß karrierte Hemden (Oxfort) und Valentin Salzleitner, auch einer derjenigen, die gleichzeitig mit Franz Haas (unter den Namen ürban Drosger) im Herbste 1878 im Krankenhause zu Klagenfurt waren, erinnerte sich, daß er bei Franz Haas ein Oxforthemd gesehen habe, welches der- selbe bald nach seinem Kommen ins Krankenhaus ausgewaschen hätte.

g) ürban Drosger trug sowohl bei seiner Abreise aus der Heimat als auch bei der Abreise von Welsberg einen sogenannten Berliner.

h) Laut Relation des Gendarmeriepostens zu Millstadt in Kärnten erzählte Johann Haas, ein Bruder des Franz Haas, daß er dem letzteren, bei einem Zusammentreffen in Salzburg, wohin Johann Haas im Jahre 1878 als Viehtreiber gekommen war, eine Reisetasche gegeben habe.

i) Wie der Gendarmerieposten zu Welsberg berichtete, hatte ürban Drosger einen Schattenspender, höchst wahrscheinlich von grauer

19*

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Farbe; nach den Erhebungen der Bezirkshauptmannscbaft Spital hatte Urban DroBger einen kleinen, mehr feinen Regenschirm und Franz Haas einen kleinen Sonnenschirm.

Alles im allen war es nun wohl kaum mehr einem Zweifel unterliegend, daß Franz Haas, mit Rücksicht auf die am 30. August 1878 bei Schwarzbachwacht in Bayern aufgefundene Leiche, doch der Mörder des Urban Drosger sei, und ich sandte daher den Akt des königlich -bayrischen Bezirksgerichtes Traunstein samt meinen Er- hebungen zur weiteren Veranlassung an die k. k. Staatsanwaltschaft Leoben.

Von der beim königlich-bayrischen Bezirksgerichte Traunstein aufgenommenen Photographie des in der Schwarzbachwacht Ermor- deten hatte ich vorsätzlich keinen Gebrauch gemacht, weil ich der Ansicht war, daß diese Photographie gleichzeitig mit den mir nicht zur Verfügung gestandenen corporibus delicti (blauer Fußlappen mit rotem ü, Zahnbürstchen und weißbeinemer Löffel) den Verwandten und Bekannten des Urban Drosger behufs Agnoszierung vorgewiesen werden solle.

Es kam sohin zur Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens gegen Franz Haas und zwar in Folge von Kompetenzrücksichten beim Landes- und Untersuchungsgericht in Graz. Die gerichtliche Untersuchung, welche auch noch andere Beweismomente zu Tage förderte, führte zur Anklage gegen Franz Haas wegen Verbrechens des Raubmordes an Urban Drosger und am 14. Juli 1881 wurde derselbe nach abgeführter Schwurgerichtsverhandlung des Verbrechens des Raubmordes schuldig erkannt und zu lebenslanger schwerer Kerkerstrafe verurteilt.

Über die nächst Hafning bei Trofaiach aufgefundene Leiche schwebt meines Wissens ein noch immer unaufgeklärtes Dunkel.

XIL Über Windelband und den Streit um das Strafrecht.

Vortrag,

gehalten am 8. Dezember 1906 in der Vorlesmig des Rechtsanwalts Dr. Gorres über forensische Psychologie, veranstaltet von der Vereinigung für staatswissen- schaftliche Fortbildung in Berlin.

Von

Constantin von Zastrow, Gerichtsassessor in Breslau.

Durch alle Erörterangen über die gegenwärtig in Vorbereitung befindliche Beform unsres Strafrechts zieht sich wie ein tiefer, unüber- brückbarer Spalt der Streit zwischen der klassischen und der modernen Strafsrechtsschule über die philosophische Begründung und Recht- fertigung der Bestrafung des Verbrechens, der Kanipf um den Deter- minismus und die Verantwortlichkeit, ein Kampf, der von beiden Seiten mit ungewöhnlicher Heftigkeit geführt wird und dessen Be- endigung nach seinen neusten Phasen aussichtsloser denn je erscheint. Wenn Birkmeyer in seiner neusten Besprechung der gesammelten Beden und Aufsätze v. Liszts mit lakonischer Kürze anhebt: „wer die Willensfreiheit leugnet, der kann kein Strafrecht begründen," wenn Kohlrausch bei der Besprechung der neusten Monographie des Beichs- gerichtsrats Petersen über den Determinismus mit Bitterkeit von den seit Jahrzehnten so oft von ähnlicher Seite ausgegangenen Aufsätzen spricht, die auf ebenso geringer Belesenheit wie unscharfer Logik beruhten und so häufig in persönliche Kränkungen ausmündeten, wenn endlich Dohna in der Vorrede seiner kürzlich über Willens- freiheit und Verantwortlichkeit gehaltenen Vorträge auf die Beibringung Deuer Gedanken verzichtet und die Behauptung wiederholt „das Für und Wider in Sachen der Willensfreiheit ist erschöpft", so möchte man an der Lösung dieser Streitfrage verzweifeln. Wenn der nachfolgende Vortrag dennoch auf das Interesse eines sachkundigen Leserkreises hofft, so geschieht das, weil der Verfasser durch das eingebende Studium der Vorlesungen Wilhelm Windelbands über die Willens- freiheit zu der Überzeugung gekommen ist, daß Windelbands Lösung

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des Problems in der kriminalistischen literatar nicht die gebührende Beachtung gefunden hat und daß seine Lösung bei einer folgerichtig durchgeführten Nutzanwendung auf die spezielle Problemstellung der Kriminalistik zu einer Versöhnung der streitenden Gegner führen muß. Die Nutzbarmachung der leitenden Gedanken Windelbands führt insbesondere zu der Erkenntnis, daß es nur einen, bisher nur von Schopenhauer angedeuteten, Weg zum unwiderleglichen Nach- weise der Richtigkeit des Determinismus gibt, den der logischen Analyse der Worte Freiheit, Möglichkeit, Können. Es gilt zu be- weisen, daß die Lösung des Problems weder Sache des Glaubens oder des Empfindens, des persönlichen Sentiments, noch eine Unmög- lichkeit ist sondern einzig und allein Sache der Logik und mittels dieser jedem vorurteilslos Denkenden zur Evidenz gebracht werden kann, wie sie ja auch unter den Philosophen der Gegenwart so gut wie unstreitig ist denn Eucken hat eine Widerlegung des Deter- minismus vorerst nur in Aussicht gestellt.

Auf eine Auseinandersetzung mit Windelband ist trotz einiger abweichender Meinungen hinsichtlich der Gliederung der Bestandteile des Problems und der Anordnung des Gedankenganges verzichtet worden, um den schweren Stoff nicht noch mehr zu belasten. Es mag deshalb nur erwähnt werden, daß mir in Windelbands Drei- teilung des Willensaktes in Begehren, Überlegung und Entschluß, die Beziehung des eigenüichen Willensproblems auf die erste Stufe des Begehrens unrichtig zu sein und die verwirrende Anordnung des Stoffs, bei der sich der gleiche Gedankengang zweimal hintereinander mit demselben Abschluß, in der Mitte als „sitüiche Freiheit^, am Schlüsse als „Verantwortung" vollzieht, auf diesem Fehler zu beruhen scheint. *)

Wir beginnen mit einer, uns wichtigen positiven Stimmung unseres Strafgesetzes:

Der § 51 des Strafgesetzbuches erklärt bekanntiich eine strafbare Handlung für nicht vorhanden, wenn der Täter z. Z. der Tat im Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes- tätigkeit sich befand, durch die seine freie Willensbestimmung aus- geschlossen wurde.

Freie Willensbestimmung ist also die Voraussetzung der Straf- barkeit, und das entspricht unserem unbefangenen Empfinden: der freie Wille des Menschen ist die Bedingung* seiner Verantwortlichkeit für seine Handlungen.

1) Diese Vorbemerkung vertritt hier die Stelle einiger andrer Worte, die den mündliehen Vortrag einleiteten.

über Wiudelband und den Streit um das Straf recht. 279

So natürlich dieser Satz zunächst erscheint, so problematisch erweist er sich bei tieferem Nachdenken. Denn aus den zwei Worten freier Wille erwächst der genaueren Betrachtung eine Fülle von J'ragen und Bedenken, die gegeneinander streiten und unser Denken in einen Strudel unlöslicher Widersprüche hineinzuziehen drohen.

Auf der einen Seite erwächst aus dem Bewußtsein des Sollens, einer moralischen, rechtlichen und zuletzt religiösen Gebundenheit, die praktische Forderung des Könnens: „Du kannst, denn Du sollst" Auf der anderen Seite fühlen wir Schritt für Schritt unsere Abhängigkeit TOD der Außenwelt und werden mit Beschämung dessen inne: „Du glaubst zu schieben und Du wirst geschoben.^

Der Widerstreit dieser Betrachtungen im Innern des Menschen findet seinen Widerhall in der Erörterung des Willensproblems im wissenschaftlichen und politischen Leben. Zwei feindliche Parteien sind es, die einander in äußerster Leidenschaft bekämpfen: hier die Indeterministen, die von dem Postulat der Verantwortlichkeit ausgehen, in dem Satze „Du kannst, denn Du sollst", die Grundlage von Moral, Recht und Religion und in der Leugnung dieses Satzes die Zerstörung aller Ideale unserer Kultur erblicken. Dort die Deterministen, die von der exakten Beobachtung der Wirklichkeit ausgehen, sich auf das allem Geschehen zugrunde liegende Gesetz der Kausalität berufen, das auch auf das Willensleben des Menschen Anwendung finden müsse, und daraus folgern: „Du glaubst zu schieben und Du wirst geschoben/ Der Wille ist, so sagen sie, durch Motive determiniert, und daraus folgern sie, daß von Freiheit des Willens allerdings nicht die Rede sein könne, und daß die bisherigen Grundlagen der Moral, des Rechts und der Religion damit allerdings erschüttert seien, ja daß es einer Umwertung aller Werte auf diesem Gebiete bedürfen werde.

So steigt das Determinismusproblem aus der Selbstbeobachtung des einzelnen Menschen auf und erstreckt sich schließlich auf die höchsten und tiefsten Fragen des Menschenlebens. Fast so alt wie die Philo- sophie unter den Menschen erscheint es heute noch so unausgetragen wie je. Das zeigt uns wieder der neu entbrannte Kampf um die Grundsätze der Strafrechtsform, deren eigentlicher Kern die Frage nach der Willensfreiheit ist.

Zu dem Versuche, in einem kurzen Vortrage eine Orientierung über dieses Problem und einen Versuch zu seiner Lösung zu geben, ermutigt mich ein Buch, das vor nicht langer Zeit erschienen ist und das mir eine bedeutungsvolle, ja entscheidende Wendung in der Determinismusfrage zu bedeuten scheint Wilhelm Windelband, Professor der Philosophie in Heidelberg, hat zwölf Vorlesungen über

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Willensfreiheit herausgegeben, in denen er mit der ihm eigenen Gabe, kühler, allem Parteigetriebe entrückter, rein wissenschaftlicher Be- trachtung das Problem untersucht hat. Und es ist ihm gelungen zu zeigen, daß es eine Lösung gibt, die die streitenden Gegner versöhnen und jedem von ihnen zu seinem Rechte verhelfen kann, daß die ver- meintliche Unvereinbarkeit von Determinismus und Verantwortlichkeit ein Fehlschluß ist, der auf einseitiger und deshalb mangelhafter Be- trachtung der Wirklichkeit beruht Der Determinismus erweist sich dem konsequenten, die Dinge erschöpfenden Nachdenken als unum- stößlich richtige Anschauung, aber er widerspricht der Verantwortlich- keit nicht nur nicht, er ist vielmehr notwendige Voraussetzung für sie, und was wir den freien Willen nennen, findet, sofern es die Bedingung jener Verantwortlichkeit ist, seine Erklärung aus einer Betrachtungs- weise, die den Determinismus unberührt läßt Diese Lösung des Problems bietet m. E. den Schlüssel zur Lösung aller im Determinismus- problem enthaltenen Streitfragen der praktischen Lebensgestaltung, insbesondere für den Juristen den Schlüssel zum Verständnis der Ideen, die den Kampf zwischen der klassischen und der modernen Strafrechtsschule bestimmen.

Ich will versuchen, an der Hand der Gedankengänge Windelbands das Problem und dessen Lösung Ihnen zu entwickeln, werde aber, gezwungen durch die Kürze der Zeit und die besondere Interessensphäre des Juristen, im Einzelnen andere und kürzere Wege einzuschlagen suchen, und bitte deshalb, alles was ich sage, lediglich unter eigner Verantwortung, nicht unter der Windelbands als gesagt zu betrachten.

Wir untersuchen den Sinn des Begriffes „freier Wille" und fragen zunächst: was heißt „frei**? und dann: was heißt „Wille**? Wir werden finden, daß nur die schärfste Begriffsbestimmung uns vor der* Fülle von Mißverständnissen schützt, die im täglichen Sprachgebrauch dem Ausdruck „freier Wille" anhaften.

Das Wort „frei'' finden wir in unserer Sprache in unzähligen Verbindungen, die scheinbar wenig gemeinsames haben. Wir sagen: „fehlerfrei, fieberfrei, zollfrei, sprechen von Eeligionsfreiheit, Preßfreiheit, Vertragsfreiheit und von Freigeist, Freihandel und Freibier. Über- blicken wir diese Worte nach etwas Gemeinschaftlichem, so scheint darin das Fehlen von etwas Nichterwünschtem oder Störendem das gemeinsame Merkmal zu sein. Unfreiheit wäre also etwas Norm- widriges. Deutlicher sehen wir, wenn wir den Begriff auf mechanische oder organische Kräfte anwenden.

Ein durch Fesseln gehaltener Luftballon wird frei, wenn man die Fesseln löst Ein im Käfig gefangener Vogel wird frei, wenn

über Windelband und den Streit um daa Straf recht 281

man den Käfig öffnet Der Luftballon steigt auf vermöge der Kraft, die in dem Gewichtsyerhältnis zwischen der Gasfüliung und der atmosphSrischen Luft liegt. Der Vogel fliegt fort, weil er von seiner Lebenskraft getrieben wird, sich zu tummeln. Wäre der Ballon nicht Ton dieser Kraft getrieben, der Vogel kein lebender, so würden beide nicht frei. Also nur da, wo eine bestimmte Kraft sich zu betätigen strebt und gehemmt ist, sprechen wir von Unfreiheit, wo sie entfesselt wird, von Freiheit

Die Freiheit als das Ideal jedes Lebewesens, das seine Kräfte spielen lassen und sich schrankenlos tummeln will, finden wir in dem be- rühmten Freiheitsliede Jung Siegfrieds in Wagners Nibelungenring

besungen:

Wie ich froh bin, daß ich frei ward,

Nicht« mich bindet und zwingt,

Wie der Fisch froh in der Flut schwimmt,

Wie der Fink frei sich davon schwingt,

Flieg ich von hier, flute davon

Wie der Wind über'n Wald weh* ich dahin.

Suchen wir den Begriff der Freiheit zu bestimmen, so finden wir stets eine Triebkraft und eine Fessel, deren Beseitigung die Be- freiung darstellt.

Freiheit ist ungehemmte Kraftentfaltung.

Blicken wir auf unsere Beispiele zurück unn prüfen wir daran die Definition:

Fieberfrei: das Fieber ist ein Krankheitssjmptom, das die natürliche Betätigung der Lebenskraft des Organismus hemmt.

Zollfrei, Freihandel: die Kraft ist der Pulsschlag des Verkehrs- nmlaufs und Warenaustauschs, sie wird gehemmt durch die Zollschranke.

Nicht anders die Freiheit als Rechtsgut oder allgemeines Henschenrecht Das Bechtsgut der persönlichen Freiheit erwuchs als solches mit dem Mündigwerden des Individuums im Laufe der Ge- schichte. Die Kraft ist die Entfaltung des Individuums vermöge seiner Selbstbestimmung. Die Anfänge dieser Kraftentfaltung liegen in der Renaissance, ihre Entwicklung bezeichnet die Periode des Natonechts, den Abschluß hat sie im modernen Verfassungsstaat gefunden, der die menschliche Freiheit auf allen Gebieten ihrer Be- tätigung garantiert, so die Religionsfreiheit, die Gewerbefreiheit, die Preßfreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Vertragsfreiheit usw. Überall äußert sich die Kraft individueller Lebensgestaltung auf allen Gebieten des geistigen und wirtschaftlichen Lebens.

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Ja, auch im letzten unserer Beispiele sehen wir diese Kraft. Der Zauber des Wortes Freibier liegt ja nur in dem scheinbar unstillbaren und unausrottbaren Drange jedes guten Deutschen^ immer noch eins zu trinken, und bedeutet die Befreiung dieses Dranges von der leidigen Fessel des Geldbeutels. Unter dem Zeichen des blauen Kreuzes wird das Wort Freibier sinnlos.

Bei der Anwendung des Begriffs frei müssen wir also zweierlei unterscheiden

1. die Fessel,

2. die Kraft.

Wir müssen deshalb, wo von Freiheit die Rede ist, stets fragen

1, frei wovon?

2. frei wozu?

Die Außerachtlassung dieser Unterscheidung, insbesondere die der zweiten Frage, trägt die Hauptschuld an der Unfruchtbarkeit alles Streitens um die Freiheit des Willens.

Wir fragen weiter, was heißt Wille? Der Wille ist ja hier offenbar jene Kraft, um deren Freiheit es sich handelt Aber er ist selbst ein vieldeutiger Begriff, dessen Verständnis die sorgfältigste Untersuchung erfordert. Beim Zustandekommen einer Willenstätigkeit kann man ein Dreifaches unterscheiden. 1. das Aufsteigen eines Verlangens, 2. das Eintreten einer Überlegung, 3. die Fassung eines Entschlusses.

Das wird am deutlichsten durch ein einfaches Beispiel aus dem Leben der Tiere. Ein junger Jagdhund wird eines Hasen ansichtig, sofort hetzt er ihn. Die Begierde setzt sich sofort in die Tat um. Anders der abgeführte Hühnerhund. Auch ihn erfaßt die Begierde, aber die Dressur hemmt ihn, der Begierde zu folgen. Dasselbe Ver- hältnis besteht zwischen dem kleinen Kinde und dem überlegenden erwachsenen Menschen. Das Kind folgt blind der Begier, bei dem erwachsenen Menschen schwächt sich das Verlangen zum bloßen Wunsche ab, der aus dem gesamten Bewußtseinsinhalt heraus auf seine Erfüllbarkeit geprüft wird. Das ist die vernünftige Überlegung, die zu einer Wahlentscheidung führt

Der Entschluß endlich setzt sich in die Tat um. Wunsch, Über- legung und Entschluß sind die drei Phasen in dem Zustandekommen der Willenstätigkeit, aber sie sind nicht getrennt^ sondern einheitlich zu denken, etwa wie eine Linie, deren Anfangspunkt der Wunsch, deren Verlauf die Überlegung, deren Endpunkt der Entschluß ist Von diesen Phasen ist die erste für uns ohne Interesse, da bei dem vernünftigen Menschen der Entschluß nicht aus der Begierde, sondern

über Windelband und den Streit um das Straf recht. 283

erst aus der Überlegung hervorgeht Dafür bedarf aber der genaueren Betrachtung die Umsetzung des Entschlusses in die Tat. Die alte Streitfrage der Philosophie, wie sich diese Umsetzung vollzieht, interessiert uns hier ni^ht Wir werden ohne allzu weit von der Wirklichkeit abzuweichen uns den Vorgang am anschaulichsten machen, wenn wir ihn mit einer elektrischen Leitung vergleichen. Der Willensentschluß ist die Einschaltung des [elektrischen Stromes, die leibliche Handlung beispielsweise das Ertönen einer elektrischen Klingel. Dann bedeutet also der Willensakt selbst den Druck auf den Klingelknopf. Das Festhalten dieses Bildes wird zum Verständnis des Folgenden dienlich sein.

Wenn wir den Begriff der Freiheit auf den gefundenen Gesamt- inhalt des Willensvorganges anwenden, finden wir eine dreifache Beziehung der Freiheit auf diesen Vorgang.

Die erste ist die Handlungsfreiheit. Sie betrifft die Aus- führung des bereits gefaßten Willensentschlusses und hat mit der Willensfreiheit selbst nichts zu schaffen, wird aber meistens mit ihr verwechselt, es bedarf deshalb der Klarstellung dieses Unterschiedes.

Die zweite betrifft die Überlegung und führt uns auf den Schauplatz der Hauptkämpfe, insbesondere der Strafrechtstheorien, wo sie unter dem Namen Wahlfreiheit bekannt ist Wir bezeichnen sie lieber als die psychologische Freiheit

Folgt die Handlungsfreiheit dem Willensentschluß nach, geht die psychologische Freiheit ihm voraus, so betrifft die dritte Beziehung den Willensentschluß selbst und führt uns an die Erforschung der Tiefen unseres Problems, soweit sie menschlicher Erkenntnis zugänglich sind. Hier finden wir die Lösung des Problems auf einem Gebiete, das ich andeute, wenn ich diese letzte Freiheit als die sittliche Freiheit bezeichne. . Mit dieser Einteilung habe ich den Bahmen für den Inhalt meiner

I folgenden Ausführungen gezogen.

Die gemeine Meinung versteht unter Willensfreiheit die Fähigkeit, tun was man will. „Ich kann was ich will^ das heißt ihr: ich babe den freien Willen. Gewiß ist dieses Vermögen von großem Werte, und es ist interessant genug, seine Grenzen zu untersuchen. Diese Freiheit, die im gewöhnlichen, normalen Zustande jedem Menschen gegeben ist, fehlt uns z. B. bei den Handlungen im Traumzustande, bei den Reflexbewegungen wie Lachen und Weinen und bei krank- baften Störungen des Organismus wie dem Starrkrampf. Hier fehlt

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überall gleichsam die elektrische Leitung, die den Willensentschloß in die Tat umsetzt, der leibliche Organismus gehorcht dem Willen nicht oder er betätigt sich, ohne vom Willen bestimmt zu sein. Aber auch da, wo die elektrische Leitung funktioniert, kann die Handlung ausbleiben, obgleich der Willensakt stattfindet. Es geschieht dies in all den Fällen, in denen wir durch physische Gewalt gehindert sind, unseren Willen durchzusetzen. Es ist dies gleichsam so, als ob die elektrische Leitung zwar eingeschaltet, aber die elektrische Klingel von außen festgehalten und so am Ertönen gehindert wird. Beiden Fällen gemeinsam ist, daß der Willensakt selbst vorhanden und nur an der Umsetzung in die Tat gehindert ist, dort aus inneren, hier aus äußeren Gründen. Daß in solchem Falle von Verantwortlichkeit keine Rede ist, ist selbstverständlich, wie ja auch das Strafgesetz ganz zum Über- fluß bestimmt, daß eine strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt genötigt worden ist Es handelt sich hier also nicht um die Freiheit der Willensentschließung, sondern um die Freiheit, einen gefaßten Willensentschluß in Handlung umzusetzen, also um die Handlungsfreiheit

Wie leicht im täglichen Leben dies übersehen wird, mag ein ein- faches Beispiel aus dem Einderleben uns lehren, ein Beispiel, das uns bis ans Ende unserer Untersuchungen begleiten wird. Ein Schuljunge kommt hungrig aus der Schule nach Hause und will sich eben an das bereitstehende Mittagessen setzen, da hört er Soldaten am Fenster vorüberziehen. Sogleich treibt ihn die Schaulust zum Fenster, der Hunger aber zieht ihn zum Essen, das kalt zu werden droht Nehmen wir an, er eilt zum Fenster, und als er zurückkehrt, ist das Essen kalt geworden. Auf seine Klage erwidert die Mutter: „Es war ja Dein freier Wille, das Essen kalt werden zu lassen. Du brauchtest ja nicht zum Fenster zu gehen.'' Wir wissen, daß die Mutter hier nur jene Handlungsfreiheit meint Der Junge war durch nichts gehindert zu tun, was ihm beliebte und es war in diesem Sinne sein freier Wille, daß er sein Essen kalt werden ließ. Daß dies nicht die Freiheit ist, nach der wir suchen, das bemerken wir sogleich, wenn wir beobachten, wie der Junge neben dem Gefühl der Freiheit, tun zu können, was ihm beliebt, auch das Gefühl der Unfreiheii hat, nicht beides zugleich tun zu können, sondern eins von beiden wählen zu müssen. Dieses Gefühl der Unfreiheit drückt das Sprichwort aus: „Wer die Wahl hat, hat die Qual.'' Dieses Gefühl der Unfreiheit entsteht nun daraus, daß widerstreitende Begehrungen, unvereinbare Motive, sich im Willens- leben kreuzen. Die Soldaten hindern den Jungen, mit Behagen sein warmes Mittagbrot zu verzehren, das bereitstehende Essen und sein

über Windelband und den Streit um das Strafrecht. 285

Hunger hindern ihn, seiner Schaulast nachzugeben. Wie kommt es nun zu einer Entscheidung zwischen diesen Motiven? In unserem Beispiel ist die Lösung einfach; es kommt nur darauf an, ob der Hanger oder die Schaulust größer ist. Das stärkere Motiv bestimmt den Willensentschluß und das heißt nichts anderes als: dasjenige Motiv nennen wir das stärkere, das den Willensentschluß bestimmt, denn nur daran ermessen wir seine Stärke.

Hier haben wir den allereinfachsten Fall der Anwendung des deterministischen Leitsatzes: der Willensentschluß des Menschen wird determiniert durch das stärkste seiner Motive.

Schon an dieser Stelle setzt die Kritik der Gegner ein mit der Frage: wie nun, wenn die Motive gleich stark sind? Um mit dieser Frage den Determinismus ad absurdum zu führen, hat seit langer Zeit ein vielgeplagtes Tier als Schulbeispiel herhalten müssen, um den vermeintlichen Widersinn des obigen Satzes drastisch vor Augen zu führen: der Esel des Buridan, genannt nach einem Scholastiker, der als der Erfinder dieses Argumentes angesehen wird.

Ein Esel wird in die Mitte zwischen zwei gleich große, gleich duftende, von seinem Maul gleich weit entfernte, also gleich ver- lockende Heubündel gestellt. Was wird er tun? Er wird Hungers sterben, denn es fehlt ihm ja an ein Motiv, um das eine Heubündel dem anderen vorzuziehen und somit die Möglichkeit, die Heubündel zu verzehren. Wir wollen den Esel einstweilen zwischen seinen Heubündeln sich selbst überlassen und um sein Schicksal unbesorgt sein, um zunächst einige alltägliche Beispiele des gedachten Falles zu betrachten. Ich gehe spazieren und komme an ein Rondell, das ich rechts oder links umkreisen muß. Ich wähle einen der beiden Wege, ohne einen Grund dafür zu haben. Oder ich ziehe aus einem Fächer von Karten eine Spielkarte; welche ich ziehe, ist gleichgültig. Oder ich werde aufgefordert, eine beliebige dreistellige Zahl zu nennen und nenne 427. Warum ist es gerade diese? Wie kommt hier ein Willens- entschluß zustande? Die Antwort, die Windelband sehr eingebend und interessant begründet, ist kurz die: es kommt überhaupt kein Willensentschluß zustande, die bestimmte Entscheidung zu treffen, sondern diese erfolgt durch das Spiel eines unwillkürlichen Mechanis- mus, wie ihn der Mensch in all seinen Leibesbewegungen dauernd ausübt, ohne sich über die einzelnen Muskeltätigkeiten, die er durch Übung zu bewirken gelernt hat, Rechenschaft abzulegen. Bei dem Umkreisen des Rondells wird der Spaziergänger von seinen Beinen getragen, ohne seine Gedanken und seinen Willen mit Bewußtsein auf die Tätigkeit des Gehens zu richten. Bei dem Zahlenbeispiel

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tritt ein entsprechender Mechanismus des Vorstellungslebens ein. Man läßt sich eine Zahl einfallen, d. h. man öffnet gleichsam ein Schub- fach, in dem die betreffenden Erinnerungen verwahrt liegen, und er- greift diejenigen, die einem zunächst in die Hand fallen. Daß auf diese Weise gewisse Beispiele beim wiederholten Beispielbilden immer wiederkehren, daß sie also gleichsam im Gedankenschubfach obenauf liegen und beim Hineingreifen zunächst in die Hand fallen, lehrt auch die Beobachtung, daß der Jurist, der ein Beispiel für einen Kauf bilden will, stets auf den Kauf eines Pferdes verfällt. Von einem berühmten Berliner Pandektisten wird sogar erzählt, daß sein Beispiel für eine mangelhafte Kaufsache stets ein rotzkrankes Pferd war.

Eine solche Entscheidung durch den Mechanismus des Leibes oder der Vorstellungen erfolgt überall da, wo es an einem Motive zu einer Willensentschließung, die zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählt, fehlt.

Nicht anders steht es bei Buridans Esel. Er hat inzwischen längst seine Heubündel verzehrt und zwar vermöge jenes leiblichen Mechanismus, der sich unwillkürlich betätigt und immer betätigen muß, solange nicht ein absolutes Gleichgewicht aller Sinneseindrücke und Muskeln hergestellt ist, wie es eben in der Wirklichkeit niemals besteht Annähernd wird ein solches Gleichgewicht allerdings mitunter erreicht. Es ist eine Art toter Punkt im Mechanismus, den man auch bei ganz gleichgültigen Entscheidungen augenblicksweise empfinden kann. Man hat dann das Gefühl, sich einen Ruck geben zu müssen, um zum Entschlüsse zu kommen, aber dieser Kuck ist gamichts anderes, als die Empfindung des Bückstoßes von der Überwindung jenes toten Punktes, die auf dem Wege der Leibes- oder Vorstellungs- mechanik vor sich geht.

Buridans Esel dient noch heute dazu den Determinismus zu be- kämpfen. Er ist aber dazu völlig ungeeignet, denn er vermag in keiner Weise zu erklären, was denn die Kraft sein soll, die bei einer motivlosen, d. h. freien Wahlentscheidung sich betätigt, und er vermag in keiner Weise zu widerlegen, daß, wo ein Willensentschluß zustande kommt, dies nur durch das stärkste der wirksamen Motive ge- schehen kann.

Schreiten wir nun von diesem Kampfe auf der Schwelle des Freiheitsproblems zu diesem selbst vor.

Was uns interessiert, ist ja nicht eine Entscheidung zwischen gleichgültigen Möglichkeiten, sondern die Willensentschließung über gut und böse, recht und unrecht, an die wir die moralische und recht-

über Windelband und den Streit um das Strafrecht. 287

liehe Verantwortung knüpfen. Wir bleiben bei unserem Beispiel vom Schuljungen und wenden es etwas anders. Der Junge soll Schul- arbeiten machen, da ziehen die Soldaten am Fenster vorbei. Hier beginnt der Streit zwischen Pflicht und Neigung in seinem Inneren.

Nicht mehr zwei einfache Motive wie Eßlust und Schaulust sind es, sondern ganze Bündel von Motiven schießen in seinem Bewußt- sein hervor. Zunächst die Motive der Neigung: ich möchte die Soldaten sehen gesteigert: heute ist es besonders schön, heute kommen Husaren vorbei oder im Superlativ: heute kommt der Kaiser! Auf der anderen Seite die Motive der Pflicht: Wenn ich nicht arbeite, wird die Aufgabe nicht fertig im Eonq)arativ: wenn mich der Vater am Fenster ertappt, gibts Prügel im Superlativ: es ist die Prüfungsarbeit, wenn sie schlecht wird, werde ich nicht versetzt. Das wäre die unmittelbare Reihe der Motive. An sie schließt sich nun eine Beihe mittelbarer Motive, die sich beliebig weit ausmalen ließe, etwa die Erinnerung an das Strafgericht, das der Lehrer abhält, wenn ein Schüler schlecht gelernt hat, der Gedanke an die Ehre eines guten Zeugnisses und an eine Schulprämie, andererseits die Erinnerung an Glücksfälle, wo man durchgeschlüpft ist, ohne gelernt zu haben, oder an dieses oder jenes, was einem bei den vorbeiziehenden Soldaten besonders interessant ist Die Gesamtheit dieser im Bewußtsein des Jungen auftauchenden Motive bildet sich einmal aus seinem Bestände von Erinnerungen und aus daran geknüpften Erwartungen. Aus dem Inbegriff seiner Erinnerungen an die bisherigen Erfahrungen von den Folgen seines Tuns schöpft er die Vorstellung von dem, was er als Folge seines gegenwärtigen Tuns zu erwarten hat. Diese Motive bilden einen zusammenhängenden Komplex seines Vorstellungslebens, eine Art Gewebe, das in seinen einzelnen Fäden in Bewegung gesetzt wird, wenn von der Außenwelt ein neues Motiv auf ihn einwirkt Im Innenleben des Kindes wird dieses Gewebe ein unausgeglichenes sein, die Erinnerungs- und Erwartungsgefühle werden plötzlich, ab- gerissen, sprunghaft erscheinen. Man kann sich vorstellen, wie der Junge plötzlich zum Fenster stürzt, wieder umdreht, zur Arbeit zu- rückkehrt und im nächsten Augenblick das Buch wieder zuschlägt. Man spricht hier von dem ungefestigten Charakter des Kindes. Je weiter die Charakterbildung fortschreitet, desto fester wird dieses innere Gewebe, desto einheitlicher und bestimmter reagiert es auf das von außen einwirkende Motiv, desto bestimmter und zweifelloser kommt die Willensentschließung des Menschen zustande.

In dieser Lage des Jungen, der von Pflicht und Neigung hin- und hergezogen wird, haben wir das beste Beispiel zur Verdeutlichung

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der landläufigen Art, wie Determinismus und Indeterminismus mit einander streiten. Wir nehmen an, der Junge wird von seinem in- deterministischen Vater am Fenster ertappt Väter sind immer In- deterministen. Der Vater geht zum Lehrer und klagt ihm sein Leid. Der Lehrer hat philosophische Studien gemacht und ist überzeugter Determinist. Er antwortet dem Vater: ,,der Junge kann in der Stube nicht arbeiten, wenn immer Militär vorbeizieht, Sie müssen ihm ein anderes Zimmer geben''. Der Vater antwortet: „er kann schon, er will bloß nicht !^ Darauf der Lehrer: „er kann eben nicht wollen, deshalb will er nicht.'' Nun bricht der Vater ungeduldig aus: „Ach was, er kann schon wollen, er will bloß nicht wollen!*' Hier haben wir den Dialog, wie er sich in der Praxis abspielt und auf beiden Seiten das typische Bild einer ungeheuren Gedankenkonfusion ist, deren Aufklärung eine notwendige Voraussetzung ist, um zur Klarheit über unser Problem zu kommen. Merkwürdigerweise ist in der Literatur Schopenhauer allein diesem Gedanken nachgegangen, Windel- band verfolgt ihn nicht, und doch ist er von der größten Wichtigkeit.

Was heißt das: „Ich kann wollen?" „Ich will wollen"? Offenbar ist der Ausdruck dem nachgebildet, der uns bei der Handlungsfreiheit geläufig ist Handlungsfreiheit bedeutet ja, tun können, was man tun will. Hiemach soll also Willens- freiheit bedeuten: wollen können, was man wollen will. Das klingt zunächst ganz einleuchtend. Der Willensentschluß wird hier als eine Tat aufgefaßt, bei der man wie bei jedem andern Han- deln von Wollen und Können spricht. Dieses Wollen ist also ein Wille, der hinter der Willenstat steht, der also das Wollen will. Nun ist nicht einzusehen, warum von diesem Wollen nicht das gleiche gelten soll wie von dem ersten. Es kommt also auf das Wollen- wollen an, also fragt es sich, ob man wollen-wollen kann? und der gesuchte Freiheitsbegriff verlangte nun die Formel:

wollen-wollen können, was man wollen-wollen will. So stünde hinter jedem Wollen ein weiteres Wollen ohne Ende. Das führt zu einem logischen Widersinn,

Wo der Fehler steckt, erkennen wir an der Formel der Handlungs- freiheit. Was dort Wollen und Können bedeutet, sehen wir an einem Beispiel: ich will das Zimmer verlassen, gehe zur Tür und finde sie verschlossen. Hier will ich eine Tat ausführen und kann es nicht. Finde ich die Tür offen, so tue ich es. Ebenso kommt es nicht zur Tat, wenn ich die Tür zwar geöffnet sehe, aber nicht hinausgehen will. Die Tat erfordert also ein Wollen und ein Können, mit an- deren Worten: Wollen und Können ergänzen einander zur Tat.

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Algebraisch ausgedrückt heißt das: Können + Wollen ^ Tun. Da- raus folgt aber, daß Tun weder gleich Wollen, noch gleich Können sein kann. Man kann also in der obigen Formel für das Tun nicht die Willenstat einsetzen, weil dieses Tun selbst ein solches ist, das sich aus Wollen und Können zusammensetzt. Das ist der Grund, warum man nicht wollen auf wollen und können auf können, und ebensowenig wollen auf können und können auf wollen beziehen kann. Dasselbe gilt vom Müssen und Dürfen. Kein Mensch muß müssen. Wollen und Können gehören also zu den Hilfszeitwörtern, die nur auf ein von ihnen selbst verschiedenes Hauptzeitwort bezogen einen Sinn ergeben. In dem Gespräch zwischen Vater und Lehrer ist es deshalb ebenso unsinnig zu sagen, ^der Junge kann wollen^ wie „der Junge kann nicht wollen". Die soeben aufgestellte Formel für die Willensfreiheit ergibt also so wie sie lautet keinen Sinn. Wir haben aber das Gefühl, daß doch etwas darin steckt, was durch ein Eecbenexempel nicht wegzubringen ist. Dieses Gefühl trügt auch nicht, die Formel ist nicht wertlos, es steckt nur ein Fehler darin. Wir finden ihn an unserer Definition der Freiheit Handlungsfreiheit ist ungehemmte Kraft der Willensentschliessung. Können bedeutet also die Verneinung der Fessel, Wollen bedeutet die Kraft. Ebenso muß in der zweiten Formel Fessel und Kraft bezeichnet sein. Von der Fessel spricht auch das Können, die Kraft aber kann nicht ,,Wollen'' heißen, wie wir sahen. In diesem Worte steckt also der Fehler. Statt des zweiten „will" muß ein anderer Begriff stehen. Diese unbekannte Größe zu suchen, wird unsere Aufgabe sein, und ihre Lösung ist nicht schwer.

Was der Vater meint, wenn er sagt, der Junge will nicht wollen, ist offenbar eine Unterscheidung zwischen dem einzelnen Willens- entschluß und jenem Gesamtwillen, den man sich als einen dauernden Bestand im Innern des Menschen denkt, wenn man davon spricht, jemand habe einen starken Willen. Wir sehen uns damit auf die Frage hingeleitet, die die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen von dem inneren Gesamtwillen ableitet, den man kurz den Charakter des Menschen nennen kann. Die Frage lautet jetzt so : Ist der Mensch für seinen Charakter verantwortlich? Der Determinist verneint dies und sagt, auch der Charakter des Menschen steht unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung, er ist kausal so geworden, wie er ist, also determiniert.

Der Indeterminist bejaht die Frage mit der Begründung, daß

der innerste Kern des menschlichen Wesens wissenschaftlicher Be- Archiv rfir Kriminalantbropologie. 27. Bd. 19

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tracbtuDg and dem für sie allein geltenden Kausalgesetz entrückt sei, daß gerade hierin der Begriff der Freiheit liege, auf die sich allein die Verantwortlichkeit aufbauen könne.

Diese indeterministische Betrachtungsweise findet ihren Ausdruck in der Lehre von der sogen. Wahlfreiheit, deren Vertreter unter den Kriminalisten die Führer der klassischen Strafrechtsschule Birk- roeyer und Kahl sind. Diese Lehre, auf unser Beispiel angewendet, bedeutet: Der Junge mag all die genannten Motive auf sich ein- wirken lassen, er bleibt doch ihr Herr, d. h. er kann sie gleichsam vor sich ausbreiten, prüfen, gegen einander abwägen, aber die Ent- scheidung geht doch nicht von diesen Motiven aus, sondern sie liegt in ihm selbst. Die Motive wirken von außen, der EntschluU kommt aus seinem Innern. Insofern hat er die freie Wahl über seine Mo- tive. Diese Unterscheidung zwischen außen und innen ist ohne weiteres berechtigt. Wir sahen bereits, wie ein äußeres Motiv, eine aufsteigende Neigung, in das Gewebe des Innenlebens eintritt und dieses in Bewegung setzt Nach der Struktur dieses Gewebes sprechen wir von der Empfänglichkeit eines Menschen für einen Ein- druck, von der Nachgiebigkeit gegen einen Anreiz. Aber diese innere Gesamtverfassung, die wir den Charakter des Menschen nennen, ist zweifellos nicht das dem Kausalitätsgesetz entrückte innere Wesen des Menschen, dessen Verantwortlichkeit wir fordern. Wir sprechen ja von Charakterbildung und stellen damit den Charakter unter das Gesetz von Ursache und Wirkung. Alle Erziehung leitet ihr Recht aus der Möglichkeit dieser Charakterbildung her, und ihre Mittel sind Beeinflussungen, die den Charakter des Menschen in bestimmter Richtung gestalten. Auch darüber werden wir alle einig sein, daß der Grundstock der Charakterbildung die ererbte Anlage des Men- schen ist und daß zu dieser bei dem heranwachsenden Kinde nach und nach alle jene Beeinflussungen hinzutreten, die seinem Wesen eine bestimmte Eigenart aufprägen. Vermöge dieser Eigenart rea- giert es in bestimmter Weise auf jeden neuen Eindruck, der von außen kommt und verarbeitet diesen zugleich wieder in die Ge- samtheit seines Innenlebens. So bildet sich ein Bestand dauernder Motive im Innern des Menschen; diese Motive bestimmen die Art seiner Reaktion auf jeden äußeren Anreiz. Wir sehen also, es steht nicht so, daß was von außen kommt die Motive wären, und was von innen kommt, ein von diesen Motiven zu trennendes inneres Selbst ist. Sondern gerade aus dem Innern heraus wirken jene dauernden Motive, deren Gesamtheit für den Willensentschluß des Menschen entscheidend ist. Wir nennen sie deshalb die kon-

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stanten Motive and anterscheiden von ihnen die aagenblick- lichen Motive als die jeweils von aaßen kommenden Eindrücke und Willensantriebe.

Diese Grenze zwischen außen and innen' ist freilich keine fest- stehende, denn jedes Motiv kommt zaerst von aaßen and wird erst durch Verarbeitang in den Bestand der inneren Motive aufgenommen, und diese Verarbeitang ist je nach der Größe and Stärke des Mo- tives verschieden wirksam. Es vollzieht sich eine beständige Aaf- lösuog der Augenblicksmotive in der Gesamtheit der dauernden Motive, die bei gewichtigen Motiven langsamer vor sich geht als bei unbedeutenden. Ereignisse, die uns tiefen Eindruck gemacht haben, stehen noch nach Jahren in aller Bestimmtheit als Einzelerlebnisse vor unserer Seele, während die Begebnisse des Alltags scheinbar spurlos an uns vorübergingen, in Wahrheit aber von unserem Innenleben verarbeitet, d. h. von der Gesamtheit der dauernden Motive gleichsam aufgesogen sind.

Diese Betrachtung lehrt uns, daß man nicht ein Außen und Innen in dem Sinne unterscheiden kann, daß von außen die Motive, von innen der freie Wille wirksam sei, sondern nur in dem Sinne, daß gewisse Motive fühlbar von außen wirken, während alle anderen die in den Bestand unseres dauernden Seins aufgenommen sind, nicht mehr als einzelne Motive fühlbar werden. Sie wirken un- bewußt aus unserem Innern, gleichsam als Ausstrahlungen unseres Charakters.

Die Indeterministen wenden dagegen ein: es müsse hinter diesen Wirkungen des Charakters, die man in ihrer Gesamtheit Motive nennen möge, doch noch eine letzte Instanz angenommen werden, die ihrer- seits eine freie Entscheidung zwischen allen jenen Motiven treffe. Diese Annahme wird besonders anschaulich gemacht durch das viel- gebrauchte Gleichnis von der Arena des Bewußtseins, auf der die Motive als Ringkämpfer vor dem zuschauenden Selbstbewußtsein auf- treten. Wie, sagt der Indeterminist, der Mensch sollte ein Spielball der auf ihn eindringenden Motive sein, ein bloßer Zuschauer des Kampfes, der sich auf der Arena seines Bewußtseins abspielt? Darauf ist zu erwidern, daß jenes Gleichnis aus der Teilung unseres Innen- lebens in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung entspringt und daß jener innere Tatbestand zu der irrtümlichen Annahme führt, die für das Selbstbewußtsein im Gleichnis den Zuschauer in Anspruch nimmt, was in Wirklichkeit der Selbstbestimmung im Gleichnis dem Kämpfer in der Arena zukommt. Wir erinnern uns unserer Begriffsbestimmung der Freiheit, die wir als eine ungehemmte Kraft-

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entfaltung erkannt hatten, und wir fragen nun: welches ist hier die Kraft, die in jener angeblich freien Willensinstanz tätig wird? Bei der Handlangsfreiheit war jene Kraft der gefaßte Willensentschluß, der in dem einen Falle frei, im anderen Falle gehindert war, sich in die Tat umzusetzen. Hier dagegen ist ja ein Willensentschluß noch nicht vorhanden, sondern wir suchen ja zu ergründen, wie er zu- stande kommt. Die vorhandenen Kräfte sind die einander wider- streitenden Motive, die wir kurz als Pflicht und Neigung bezeichnet haben, und eine Kraft, die von diesen Motiven unabhängig sich be- tätigte, ist schlechterdings nicht denkbar. Man müßte denn sagen, die Entscheidung erfolgte ursachlos, das hieße aber durch Zufall, und für eine zufällige Entschließung ist niemand verantwortlich. Zur Begründung der Verantwortlichkeit kommen wir also auf diesem Wege nicht.

Ein weiterer Einwand ist nun der Hinweis auf das „Geheimnis der Persönlichkeit^. Die Individualität des Menschen, so sagt man, ist unergründlich, es steckt ein Etwas in ihr, das nicht in dem kausal gewordenen Charakter restlos aufgeht, sondern sich der Erklärung durch das Gesetz von Ursache und Wirkung entzieht.

Dieses Geheimnis der Persönlichkeit soll nicht geleugnet werden, es läßt sich aber durch eine ganz natürliche Betrachtungsweise er- klären. Alle Charakterbildung ist ein innerer Vorgang, der sich der unmittelbaren Beobachtung entzieht Wir kennen weder die ange- borene Anlage eines Kindes, noch können wir alle Einflüsse kon- trollieren, denen das Kind ausgesetzt ist, geschweige denn die Wirk- samkeit eines jeden ermessen. Charakterbildung ist eine Art chemischer Prozeß, der sich nach Gesetzen vollzieht, die wir zwar im allgemeinen kennen, die wir aber im einzelnen in ihrer Wirksamkeit nicht vorher- sehen und berechnen können, weil bei jedem Individuum eine neue und eigenartige Zusammensetzung der einzelnen chemischen Stoffe und somit eine neue und eigenartige chemische Verbindung vor sich geht. Der Gärtner kennt die Gesetze der Botanik und regelt nach ihnen das Wachstum seiner Pflanzen, trotzdem vermag er nicht zu erklären und es nicht zu beeinflussen, daß keine Pflanze der anderen, kein Blatt dem anderen gleicht. Man kann auch hier von einem Geheimnis der Natur sprechen, das unergründlich ist, aber so wenig zur Erklärung dieses Geheimnisses die Annahme einer in jeder Pflanze steckenden Urseele erforderlich ist, so wenig bedarf es einer ähnlichen mystischen Vorstellung zu der Erklärung, daß auch jedes Menschen- kind, das heranwächst, eine eigene Persönlichkeit mit individuellem Charakter ist.

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Was aber die Annahme einer solchen aller Berechnung entzogenen Instanz, die als Faktor bei der Willensentschließung mitwirken soll, entgegensteht, das sind die Erfahrungen und Erfordernisse, auf denen alle Pädagogik, alle Statistik und alle Strafrechtspflege beruht. Jede Erziehung und jede Beeinflussung durch eine Strafe setzen voraus, daß der Charakter des Menschen bildsam und lenkbar ist. Und wenn die Kunst des Pädagogen oft an der Unberechenbarkeit des Kindes scheitert, so liegt das nicht daran, daß der irrationale Faktor „Willens- freiheit^ seine Berechnung kreuzt, sondern daran, daß er den wahren Charakter des Kindes nicht richtig erkannt hat. Wäre es anders, so wäre alle systematische Pädagogik sinnlos. Sinnlos wäre auch jeder Versuch der Statistik auf dem Gebiete, das der menschlichen Willens- entschließung unterliegt. Die merkwürdig interessanten Wellenlinien, die wir z. B. in der Kriminalstatistik beobachten, belehren uns deut- lich darüber, daß die menschliche Natur auch in ihrem Willensleben keine Sprünge macht, auch wo der Wille, vulgär gesprochen, auf der allerfreiesten Entschließung beruht. Und nehmen wir die Statistik der Eheschließungen, so sehen wir, daß diese in dem gleichen Maße zunehmen, wie die Kornpreise sinken. Sollen wir nun klagen, daß nach dieser Beobachtung die Menschen im wichtigsten Entschluße ihres Lebens Spielbälle der Kornpreise seien? Ich meine, wir werden uns lieber dessen freuen, daß die Menschen im Durchschnitt auch hier nicht in blinder Willkür handeln, sondern sich durch die Rück- sicht auf ihre wirtschaftliche Lage, auf die Höhe ihres Lebensbedarfs nnd ihrer Unterhaltsmittel determinieren lassen.

Der freie Wille, den unsere Gegner außerhalb aller Motive suchen, findet aber nicht nur keinen Platz bei der Betrachtung der Wirklich- keit, auch die theoretische Betrachtung, die philosophische Spekulation, die ihm seit den Anfängen philosophischen Denkens nachzuspüren versucht hat, hat nicht zu ergründen vermocht, was denn dieses innere Selbst des Menschen, diese von allen Schlacken irdischer Charakter- bildung losgelöste Urseele eigentlich sei.

Erlassen Sie mir die Darstellung aller der Versuche, die die Ge- schichte der Philosophie aufweist, jenes Geheimnis zu entschleiern; ich will nur kurz erwähnen, daß Kant in seiner Lehre vom Ding- an-sich hier den Begriff eines intelligiblen Ichs, im Gegensatz zum Charakter, dem empirischen Ich, gebildet hat. Die Eigenart dieses Begriffs ist seine Unvorstellbarkeit! Nicht besser ergeht es uns mit Spinozas Lehre von der causa sui, oder mit dem scholastischen Begriffe der „Aseität der Substanz^', d. h. der ursachlosen Realität des Seins. Diese und alle anderen Versuche kommen zu dem Ergebnis,

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daß die gesuchte Urseele des Menschen inhaltlos nnd deshalb unvor- stellbar ist. Am deutlichsten wird dies in einem von Piaton ge- schilderten Mythos, den er zur Ausmalung der Seelenwanderungslehre des griechischen Dionysos-Eultus heranzieht. Hiemach sind die Seelen der Menschen unsterblich, d. h. sie überdauern den Wechsel körper- licher Erscheinung und wechseln nur ihren Träger. Nach Ablauf eines Zeitalters müssen sie Lethe trinken, sie vergessen damit alles, was zu ihrer irdischen Individualität gehörte, sie werden also ent- individualisiert. Sie wählen dann ein neues Menschenloos, das ihnen eine neue Individualität verleiht Der Sinn dieses Mythos zeigt klar, daß der des irdischen Charakters entkleidete Menschengeist merkmallos und unvorstellbar ist. Wovon wir aber keine Vorstellung haben, da- raus können wir auch nichts herleiten, am wenigsten den Begriff der V erantwortlichkeit.

Hier setzt nun der letzte und bedeutendste Einwand unserer Gegner ein. Menschlichem Vorstellungsverraögen entrückt, so hören wir, ist das Reich der Religion, in diesem wurzeln die Freiheit des Willens und die Verantwortlichkeit, denn aus ihm leitet sich der Ur- sprung jeder Menschenseele ab.

Vor diesem Argument pflegen die Deterministen Halt zu machen. Insbesondere Liszt und seine Schüler, von denen dies neuerdings Dohna besonders betont, wollen zwischen Wissenschaft und Religion eine strenge Scheidung machen, sie wollen jeden Übergriff auf das Gebiet der Religion vermeiden und fordern dafür Alleinherrschaft auf dem Gebiete der Wissenschaft, insbesondere der wissenschaftlichen Grundsätze des Strafrechts.

Diesen Standpunkt vermag ich nicht zu teilen. Gewiß ist es für den Juristen mißlich, dem Theologen in sein Fach hineinzureden und umgekehrt, aber es handelt sich doch nur um die Grenzen individueller Fachkenntnisse, nicht um die Grenzen, die in den Dingen selbst liegen. Für den denkenden Geist existieren die Kreidestriche nicht, die die eine Fakultät von der anderen trennt. Die Philosophie, als die uni- verselle und prinzipielle Theorie der Wirklichkeit (wie Paulsen sagt) umfaßt alles, was menschlichem Denken erschließbar ist^ sie umfaßt die Rechtsphilosophie und die Religionsphilosophie. Sie kann die Dinge nicht einfacher machen als sie sind und nichts daran ändern, wenn hier beide Gebiete in einander übergehen und unlöslich mit einander verbunden sind. Zum Glück brauchen wir auch für unser Problem keinerlei theologischen Apparat. Die religiöse Vorstellung^ um die es sich handelt, ist uns allen bekannt, sie besteht in der Meinung, Gott habe den Menschengeist frei geschaffen, so daß es nun

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beim Menschengeiste stehe, das Gute oder das Böse za wählen. Wir begegnen hier wieder dem harmlosen Gebrauche des Wortes frei. Erinnern wir uns unserer Analyse dieses Begriffs und fragen wir, Vielehe Kraft ist hier frei im Menschengeiste? Es muß entweder die Kraft des Guten oder die des Bösen sein. Ist es aber eine von diesen, so ist sie eben von Gott in den Menschen hineingelegt, sie ist dann die Grundlage seines Charakters, also gerade dasjenige^ was den Ent- schloß des Menschen determiniert Ist aber keine der Kräfte gemeint^ so fehlt dem Worte frei wiederum jeder Inhalt. Wir sehen also auch im Bereich des religiösem Denkens ist ein der Charakterbildung ent- rücktes persönltches Wesen des Menschen nicht auffindbar. Es ist aber garaicht einmal wahr, und das muß gegenüber denjenigen Indeterministen betont werden, die sich für ihre Meinung auf die christliche Weltanschauung berufen zu sollen glauben daß unsere Religion indeterministisch gerichtet sei. Die eben besprochene Vor- stellungsweise besteht zwar in der Theorie, in der Praxis herrscht aber die gegenteilige. Sie kennen alle das vielzitierte Wort von dem Gott, der die Herzen der Menschen lenkt, wie die Wasserbäche. Das Wort ist vergeblich in der Bibel gesucht worden, es steht nicht darin, aber es ist offenbar eine Umdichtung eines anderen Bibelwortes, das mir kürzlich begegnet ist. Es steht in den Sprüchen Salomos 21, 1 und heißt: „Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbäche und er neigt's, wohin er will." Das echte wie das un- echte Zitat, sie bilden in gleicher Weise den tausendfach wiederholten Ausdruck einer allgemein feststehenden Überzeugung der Christenheit. Und beachten Sie, wie streng deterministisch der alttestamentliche Spruchdichter hier in dem Gleichnis von den Wasserbächen spricht.

Das Ergebnis dieser Betrachtung versuche ich dahin zusammen- zufassen:

Eine Instanz, die unabhängig von Motiven aus sich selbst

heraus im Willensleben des Menschen eine Wahlentscheidung träfe, ist der psychologischen, der metaphysischen und der religiösen Betrachtungsweise gleichermaßen unauffindbar, viel- mehr lehrt die Beobachtung des Lebens, es fordern Pädagogik und Strafrechtspflege und es bestätigt das im Bereiche der christlichen Weltanschauung herrschende religiöse Empfinden, daß der Mensch in seinen Willensentschlüssen von seinem Charakter, d, h. dem Inbegriffe der in seinem Innern wirk- samen Motive, determiniert wird. Ich kann den Versuch der Rechtfertigung des Determinismus nicht schließen, ohne Ihnen ein Wort anzuführen, das eine muster-

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gültige Zusammenfassung aller hier von mir aufgerollten Gedanken, gleichsam eine Stichwortsammlung in gebundener Bede darstellt, bei der auch der Rahmen religiöser Weltanschauung nicht fehlt, wenn auch die Beziehung zur Religion in eine Form gekleidet ist, die dem Zeitgeist des Sprechers dieser Worte entstammt und deshalb den Ernst und die Wahrheit leicht verkennen läßt, die darin enthalten sind. Es ist der Schiller'sche Wallenstein, der mit Bezug auf seine astrologischen Studien zu seinen Generalen spricht:

Des Menschen Wollen und Gedanken, wißt, Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen. Die innre Welt, sein Mikrokosmos ist Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen. Sie sind notwendig wie des Baumes Frucht, Sie kann der Zufall gaukelnd nicht verwandeln. Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.

Ehe ich von diesem, dem schwierigsten, zum letzten und wich- tigsten Teil meines Vortrags übergehe, bedarf es der Erklärung eines hier wichtigen Freiheitsbegriffs, der insbesondere forensisch von der größten Bedeutung ist, es ist die psychologische Freiheit.

Wir kehren zu unserem Beispiel zurück und denken uns, der Vater des Jungen sieht den Kampf zwischen Pflicht und Neigung im Innern seines Sohnes und sagt zu ihm: „geh zum Fenster, wenn Du magst, ich lasse Dir Deinen freien Willen". Hier haben wir wieder den Ausdruck „freier Wille", aber offenbar anders gemeint als vorhin bei der Mutter. Der Vater meint damit: ich will Dich nicht beeinflussen durch mein Verbot, Das Verbot des Vaters ist an sich auch nur ein Motiv unter vielen im Innern des Jungen. Sitzt aber der Vater neben ihm, so kann man sich denken, wie dieses Motiv alle andern überwiegt, sodaß es nicht zum Kampf zwischen Pflicht und Neigung in dem Jungen kommt, sondern nur zu dem Gedanken: „Wie schade, daß ich nicht zum Fenster gehen kann, aber der Vater erlaubt es nicht/ Dieses Überwiegen emes einzelnen Motives derart, daß alle anderen lahmgelegt sind, nennen wir den Zustand des psychischen Zwanges; wo er vorliegt, fehlt die psycho- logische Freiheit. Unfrei ist der Junge insofern, als er durch den Zwang, den das Verbot des Vaters ausübt, gehindert ist, aus seinem eigenen Innern heraus, aus seiner Natur und seinem Charakter die Entscheidung zwischen Pflicht und Neigung zu treffen. In diesem Sinne können wir die hier in Rede stehende Freiheit als natürliche

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Freiheit bezeichnen. Die Natur des Menschen ist dann als die Kraft gedacht, die entweder frei sich betätigt oder durch ein bestimmtes Motiv, daß durch äußere Umstände zur Alleinherrschaft gelangt, an der Betätigung gehemmt wird. Solche Beeinträchtigungen der natür- lichen Freiheit gibt es unendlich viele. Den Juristen interessieren drei von ihnen ganz besonders : die Drohung, der Bausch und der Affekt.

Die Drohung ist die Beeinträchtigung, die man juristisch als psychischen Zwang, vis compulsiva, bezeichnet. Gegen diesen Zwang ist die natürliche Freiheit des Menschen allenthalben zivilrechtlich und strafrechtlich geschützt. Ich erinnere an die Vorschriften des Zivilrechts zum Schutze gegen Bewucherung, gegen Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses, gegen die erzwungene Ehe oder letztwillige Verfügung und an das Heer von Strafbestiramungen gegen alle Arten von Bedrohung. Andererseits ist der unter dem psychischen Zwange einer Drohung oder eines drohenden Übels Handelnde entweder straf- frei — so im Falle des § 52 oder er wird milder bestraft, so wer falsch schwört, wenn die Aussage der Wahrheit ihm Strafverfolgung zugezogen hätte.

Wichtiger ist die Störung der natürlichen Freiheit durch den Rausch. Von ihm herrscht in der Praxis meist die falsche Vor- stellung, er wirke insoweit als geistige Störung, als er das Bewußtsein trübe oder aufhebe, unsere Einsicht in das Zustandekommen des Willensentschlusses durch das Spiel der Motive lehrt uns, daß diese Annahme falsch ist. Das Verhängnis des Bausches liegt darin, daß er bei klarer Vorstellung den Willen lähmt, d. h. die Reihe der konstanten Motive lahmlegt, die für gewöhnlich den Willen bestimmen. Man weiß im Bausche sehr wohl, was man tut, aber man kümmert sich nicht darum, was man anrichtet, man verliert die richtige Schätzung des Wertes der eignen Handlungen. Man wird ein Opfer der Augenblicksmotive, und die scheinbare Erregung, Weinen, Toben, Zerstörungswut, Zärtlichkeit usw., alles dies ist nur die Folge einer Lähmungserscheinung, nämlich der Lähmung aller jener konstanten Motive, deren Wirksamkeit uns sonst im seelischen Gleichgewichte erhält. Man sieht, daß die richtige Beurteilung des Bausches, die nur dem Determinismus möglich ist, in vielen Fällen eine erheblich andere straf trechtliche Würdigung, als sie jetzt üblich ist, mit sich bringen muß.

Das Gleiche gilt von der Frage der Einsicht, die der jugendliche Verbrecher haben muß, um strafbar zu sein. Diese zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht wird von der Praxis meistens irrigerweise im Vorstellungsleben statt im Willensleben des Kindes

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gesucht. Ich meine damit nicht, daß man sie in der moralischen Beife suchen soll, die tritt bei Manchem überhaupt nicht ein, sondern es handelt sich dabei um diejenige Abrundung und Festigung des Motiyationslebens, die das Kind über das Stadium hinaushebt, in dem es ein Spielball seiner Augenblicksmotiye ist, eine Entwicklungsstufe die allerdings mit dem 12. oder 14. Jahre eintritt, was übrigens auch von unseren Kirchen durch den auf diesen Zeitpunkt gelegten Akt der ersten Kommunion oder Konfirmation anerkannt wird.

Der Affekt schließlich ist ein Motiv, das so schnell wirksam wird, daß iBs dem Menschen nicht Zeit läßt, seinen Willensentschluß gleichsam aus dem Schacht seines Innenlebens heraufzuholen. Insofern handelt der Mensch im Affekt unfrei. Unser Strafgesetzbuch erkennt dies in einigen besonders ins Auge springenden Fällen durch die Bestimmung der Straflosigkeit oder Strafmilderung an, so bei dem in Furcht, Bestürzung oder Schrecken begangenen Notwehrexzeß, dem Kindsmorde, der Tötung im Affekt und beim Totschlage. Dieser ist das deutlichste Beispiel für das Fehlen der konstanten Motive, deren Vorhandensein das Gesetz als Überlegung bezeichnet und zum Tatbestandsmerkmal des Mordes erklärt. Es ist indessen nicht einzu- sehen, warum diese zwischen Mord und Totschlag gemachte Unter- scheidung nicht auch bei allen anderen Vergehen in Betracht gezogen werden muß. Insbesondere bedürfen auch Eigentumsvergehen einer unterschiedlichen Bestrafung, je nachdem, ob sie mit vollem Bedacht oder im Drange einer augenblicklichen Versuchung begangen sind. Das System der mildernden Umstände trägt diesem Bedürfnis im geltenden Becht noch nicht im vollen Umfange Bechnung, sein Ausbau ist eine der dringendsten Forderungen der Strafrechtsreform, über deren Berechtigung erfreulicherweise unter den Kriminalisten der modernen und der klassischen Schule volle Übereinstimmung herrscht

Diese psychologische oder natürliche Freiheit ist es endlich auch, die der § 51 des Strafgesetzbuches mit den Worten „freie Willens- bestimmung" meint* Daß diese Freiheit die Voraussetzung der Ver- antwortlichkeit ist, versteht sich von selbst.

Eine weitergehende Bedeutung aber kann den Worten freie Willensbestimmung nicht beigemessen werden. Das muß besonders betont werden gegenüber einer Bemerkung von Lucas in seiner „An- leitung zur strafrechtlichen Praxis**, in der er die Meinung zu ver- treten scheint, das Gesetz habe den Streit um die Willensfreiheit im Sinne der indeterministischen Theorie entscheiden wollen. Meine Herren, kein Gesetz der Welt hat die Macht, über die Richtigkeit logischer Gedankengänge zu entscheiden, und auch der § 51 vermag

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nicht dem Worte „frei** einen Sinn zu geben, den es seiner logischen Bedeutung nach nicht hat. Den Beweis aber, daß das System unseres Strafrechts der indeterministischen Theorie zu seiner Stütze auch nicht bedarf, daß es vielmehr nur auf deterministischem Boden einen be- friedigenden Sinn erhält, will ich in dem letzten Teile meines Vor- trags zu führen suchen.

Sie haben bis jetzt, meine Herren, in mir nur den Anwalt der Deterministen gehört. Sie sollen jetzt deren Ankläger hören. Die Hehrzahl der Deterministen schließt an diesem Punkte der Erörterung ihre Akten und hat auf die Frage der Rechtfertigung der Strafe nur ein Achselzucken, ja sie spricht es mehr oder weniger unverhohlen aus, daß sie die Zeit kommen sieht und sehnlichst herbeiwünscht, wo die staatliche Strafe mit samt ihrer ethischen Begründung als eine barbarische Institution mittelalterlichen Aberglaubens für immer der Vergangenheit angehören wird. Ich nenne für viele nur zwei hochangesehene Namen: Forel und Aschaffen bürg. Forel begegnet in seinem sonst so vorzüglichen Buche über die sexuelle Frage der Strafrechtspflege mit ausgesuchter Unfreundlichkeit, und er spricht es als seine ernsthafte Ansicht aus, daß unser geltendes Strafrecht in Theorie nnd Praxis durch den Determinismus ' ad absurdum geführt wird. Und Aschaffenburg erklärt in seinem Buche „Das Verbrechen und seine Bekämpfung^ am Schlüsse des bis dahin ausgezeichneten Kapitels über den Determinismus, auf die moralische Verantwortung verzichte der Determinismus. Gegenüber solchen Stimmen ist es nun das besondere Verdienst Windelbands, einer Betrachtungsweise zu ihrem Recht verhelfen zu haben, die sich als eine philosophisch um- fassendere ausweist und uns in den Stand setzt, solche Konsequenzen eines einseitigen Determinismus zu widerlegen.

Wir knüpfen an die letzte Betrachtung über den Affekt an, wo wir sahen, daß der im Affekt handelnde Mensch unfrei heißt. Affekt- zustände, die sich häufig wiederholen, verdichten sich zu dem, was man Leidenschaft nennt In diesem Sinne spricht man von leidenschaft- lichen Naturen. Macht nun auch die Leidenschaft den Menschen unfrei und weniger strafbar? Das scheint der gesunden Vernunft zu widersprechen, wenn wir an Leidenschaften wie Haß, Neid oder Habsucht denken. Unser Empfinden belehrt uns, daß wir hier un- bemerkt die Grenze zweier verschiedenen Gedankenwelten über- schritten haben, eine Grenze, die wir nur an der Unterscheidung, zwischen konstanten und momentanen Motiven wahrnehmen können

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Eine eingewurzelte Leidenschaft gehört zu den konstanten Motiven, also zur inneren Natur und dem Charakter des Menschen. Das unterscheidet sie vom Affekt, der eben Natur und Charakter nicht zur Geltung kommen läßt. Während also dieser Affekt strafmildernd wirkt, macht die im Charakter wurzelnde verbrecherische Leiden- schaft das Verbrechen nur um so strafbarer. Diese Unterscheidung fehlt vielfach der Praxis, in der bald der Affekt mit der Leidenschaft als strafschärfend, bald die Leidenschaft mit dem Affekt als straf- mildernd beurteilt wird. Und doch sprechen wir davon, daß jemand ein Sklave seiner Leidenschaften sei und meinen damit einen Zustand höchster Unfreiheit. Welchen Sinn hat hier der Begriff der Frei- heit? Wir meinen offenbar damit, daß gewisse Motive, die zu den konstanten gehören mögen, vorherrschen und die andern unter- drücken. Herrscht aber bei jemandem das Gefühl der Rechtlichkeit oder der Nächstenliebe so vor, so sprechen wir nicht von Sklaverei, höchstens wenn wir meinen, daß er darin zu weit gehe. Es liegt also in diesem Urteil der Unfreiheit eine Mißbilligung. Und das zeigt uns, daß wir hier das Gebiet der Werte des geistigen Lebens, der Bewertung eines Motivs und des hinter ihm stehenden Charakters betreten haben. Wir nennen den „unfrei", der von Motiven be- herrscht ist, die wir mißbilligen, „frei" den, dessen leitende Motive unsere Billigung finden. Woher nun diese Billigung und Mißbilligung und was ist ihr Recht? Es ist eine Funktion in der Welt der Werte, einer Welt die wir kurz überschauen müssen. Wir finden darin eine Dreiteilung, nämlich die Funktionen des Denkens, des Wollens und des Empfindens. Das Gebiet des Denkens ist die Logik, ihr Ideal die Wahrheit; das des Empfindens die Aesthetik, ihr Ideal die Schön- heit; das des Wollens die Ethik, ihr Ideal die Sittlichkeit oder das moralisch Gute.

Das Gemeinsame dieser drei Ideale ist nun, daß sie unabhängig von dem ursächlichen Entstehen der Gedanken, der Willensentschlüsse und der Empfindungen sind. Das ist am einleuchtendsten beim ästhetischen Empfinden und künstlerischen Schaffen. Die Entstehung eines Gemäldes ist in allen seinen Teilen ein Ergebnis aus Ursache und Wirkung, ob es nun schön oder unschön ausfällt. Nicht anders steht es beim Denken. Der Irrtum im Gedankenlaufe eines Menschen ist ebenso kausal entstanden wie der wahre Gedanke. Die Fra^e nach der Wahrheit eines Gedankens berührt sich garnicht mit der anderen Frage, wie der Mensch, der ihn denkt, dazu gekommen ist. Genau so steht es mit dem moralischen Urteil und dem determinierten Wollen. Daß ein jeder Willensentschluß die Wirkung bestimmter

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Ursachen ist, die wir hier Motive nennen, das teilt er mit dem Denken und mit dem Empfinden. Und ebenso berechtigt wie es ist, das Er- gebnis einer Denkoperation richtig oder falsch, das Produkt künstler- ischen Gestaltens schön oder häßlich zu nennen, ebenso berechtigt ist es, das durch Motive determinierte Wollen des Menschen mit dem Werturteil „gut" oder „böse" zu belegen. Wir sehen:

Das logische, das ästhetische und das ethische Werturteil, sie sind unabhängig von der kausalen Entstehung des bewerteten Phänomens. Das ist das Eine. Zum Andern sehen wir aber und das ist das Entscheidende für unser Problem eine Verschiedenheit im Gebiete des Wollens vom Denken und vom Empfnden. Das logische Ideal der Wahrheit setzt sich ungehemmt durch, sobald es seinen Feind im Irrtum überwunden hat. Nicht anders das Schönheitsideal, bei dem der Künstler über das, was schön und unschön ist, klar geworden ist. Soviel Streit unter den Menschen über die Wahrheit und die Schönheit herrschen mag, so vermag doch niemand absichtlich etwas Unwahres zu denken, und kein Maler wird absichtlich häßlich malen. Ganz anders steht es im Willensleben. Hier erleben wir es auf Schritt und Tritt, daß wir geflissentlich, mit vollem Bedacht, den Willensentschluß fassen, der unserem eigenen, deutlich erkannten moralischen Ideal widerspricht. Das heißt, der Wille gehorcht nicht der ethischen Norm im Bewußtsein des Menschen, wie das Denken der logischen und das Empfinden der aesthetischen Norm gehorcht Der Wille lehnt sich gegen die ethische Norm auf: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will, das tue ich", wobei Wollen für die Stimme der ethischen Norm in unserem Bewußtsein gesetzt ist und Tun für den Willensentschluß. In unserer früheren Formel ausgedrückt sind es Pflicht und Neigung, die um den Sieg kämpfen. Die Pflicht ist der Ausdruck unseres Norm- bewußtseins. Ob dieses sich aber durchzusetzen vermag, d. h. ob seine Motive stärker sind als die der Neigung, das ist eine Tatfrage. Aus dieser Divergenz zwischen der ethischen Norm und dem fak- tischen Willensentschluß, die eine Eigentümlichkeit des ethischen Lebens ist, entsteht nun derjenige innere Vorgang, den wir das Ge- fühl der Verantwortlichkeit oder das Gewissen nennen. Es ist ein ünlustgefühl, das sich bei dem Auseinandergehen des Normbewußt- seins und unserer Willensentschließung einstellt und umso heftiger wird, je weiter unser Wollen von dieser Norm abweicht. Es mindert sich entsprechend, je mehr sich dieses Wollen wieder der Norm nähert und geht, wenn Norm und Wollen übereinstimmen, in das

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Lustgefühl über, das wir das gute Gewissen, den inneren Lohn der guten Tat nennen. Wir beobachten also, daß dieses Verantwortlich- keitsgefühl eine bestimmte Funktion in unserm Innern ausübt, näm- lich unser Wollen dem Normbewußtsein anzunähern. Der Mensch sucht, was liUst und meidet, was Leid bringt. Lust und Leid wirken also als Motive auf seinen Willen. Die Funktion der inneren Ver- antwortung besteht also darin, inneres Leid zuzufügen, das zum Mo- tive wird, solches Handeln zu meiden, mit dem dieses Leid verknüpft ist und solches Handeln anzustreben, das Lust bringt In dieser selbsttätigen Wirkung der inneren Verantwortung in der Richtung auf die Verwirklichung der ethischen Norm liegt das, was man die teleologische Funktion der Verantwortung nennen kann.

Was nun diese im Innenleben des Menschen, das bedeutet in der äußren Lebensordnung die äußere Verantwortlichmachung, die wir in der Erziehung und Rechtspflege ausüben und die wir Strafe nennen. Auch sie ist die Zufügung eines Leides, das zum Motive werden soll, zu meiden, was Ursache des Leides war. Dieses Motiv wird im einzelnen Menschen wie in der Allgemeinheit durch Straf- drohung und Strafvollzug gesetzt, und die Setzung dieses Motives macht die Berechtigung des staatlichen Strafrechts aus.

Auch die staatliche Strafe erschöpft ihre Bedeutung in der teleo- logischen Funktion, die wir mit dem Worte „Vergeltung** bezeichnen und die frühere Zeiten als ein nicht erklärbares, religiös sanktio- niertes Dogma ansahen, das sie mit dem Spruche „Auge um Auge, Zahn um Zahn'' wiedergaben. Wir sehen daraus, daß es ein Irrtum ist, die Vergeltungstrafe der Zweckstrafe gegenüberstellen, dennn alle Strafe ist Zweckstrafe, und der von der Natur gesetzte Zweck liegt eben in der heilsamen Wirkung innerer Befriedigung, die man empfindet, wo das Verbrechen seine Sühne findet und deren heilsame Bedeutung auch der einfachste Mann des Volkes in seinem Innern fühlt und mit den selbstverständlichen Worten bekennt: „Strafe muß sein".

Die innere und die äußere Verantwortung in ihrer Bedeutung zusammenfassend, können wir deshalb sagen:

Die Verantwortung hat die Funktion, durch Ver- hängung eines Leides als Folge normwidrigen Tuns Motive für das normgemäße Verhalten der Menschen zu setzen. Wir haben somit den Begriff der Verantwortung vom determi- nistischen Standpunkte erklärt; es bleibt nur übrig zu untersuchen, woher die enge Verbindung kommt, die dieser Begriff mit der Vor-

über Windelband und den Streit um das Strafrecbt. 303

Stellung eines freien Willens zu haben scheint. Wir haben bereits am Anfange gesehen, daß frei sein das Fehlen von etwas Norm- widrigen bedeutet, und wir sahen weiter, daß die Freiheit die Ent- faltung einer bestimmten Kraft bedeutet. Aus beiden ergibt sich uns die Erklärung, was hier freier Wille bedeutet. Die sittliche Norm ist die Kraft, die sich ebenso wie die logische und aesthetische Norm im Bewußtsein des Menschen betätigt Die Betätigung ist bei dem ge- sunden und normalen Menschen ungehemmt, sie kennt ihrer Natur nach keine Fesseln ihrer Wirksamkeit, das Gewissen schläft nie, sagt man, und nur sofern das zutrifft, sprechen wir von Verantwortlich- keit. Geisteskranke, bei denen dieses Normbewußtsein gestört ist, und Kinder bei denen es noch nicht entwickelt ist, sind nicht verant- wortlich. Die Bedingung der Verantwortlichkeit ist also nichts anderes als diese Wirksamkeit der moralischen Norm. Sofern man sie freien Willen nennen will, hat der normale Mensch allerdings freien Willen und ist dieser freie Willen die Voraussetzung unserer Moral und unserer B^chtsordnung. Aber wir haben bereits gesehen, daß diese Kraft des Normbewußtseins nicht allein wirksam für den menschlichen Willensentschluß ist, sie ist nur eine unter den Triebfedern des menschlichen Willens, nur eines in der Reihe der Motive, die den Entschluß herbeiführen. Deshalb ist der Willensentscliluß selbst oder der menschliche Wille nicht frei in dem Sinne, daß die Kraft der sittlichen Norm ihn ungehemmt bestimmte, diese Freiheit ist keine Tatsache, sondern ein Ideal: Der Mensch, der in seinen Entschlie- ßangen der sittlichen Norm folgt, zeigt damit, daß er alle entgegen- stehenden, sie hemmenden Motive überwunden hat, daß sie also frei in ihm geworden ist. Diese Freiheit nennen wir deshalb die sittliche Freiheit.

In welcher Beziehung und vielfachen Vertauschung diese sitt- liche Freiheit mit der vorher besprochenen natürlichen Freiheit in den Erörterungen über menschliche Willensfreiheit erscheint, zeigt uns als lehrreiches Beispiel die christiiche Ethik. Ihre Grundidee geht davon aus, daß die Natur des Menschen böse ist und der Fessel durch das Sittengesetz mit religiöser Sanktion, wie es der mosaische Dekalog darstellt, bedarf. Somit bedeutet die böse Natur des Menschen die Kraft, das Sittengesetz die Fessel. Das Gesetz macht also den Menschen unfrei. Diese Auffassung kehrt nun das Christentum in ihr Gegenteil um. Seine Idee geht dahin, die Natur des Menschen der- gestalt umzuwandeln, daß er das Sittengesetz in sich aufnimmt und als das seiner Natur entsprechende aus eigenem Antriebe befolgt. In diesem Sinne allein ist die scheinbar so paradoxe Grundforderung

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der christlichen Ethik: ^Du sollst lieben'', zu verstehen, die etwas zu fordern scheint, was doch nur der allerspontansten inneren Betätigung menschlichen Empfindens entspringen kann. Sie erklärt sich nur daraus, daß das Christentum diejenige Gesinnung im Menschen schaffen will, die diese Liebe als reife Frucht hervorbringt. In diesem Sinne handelt der Mensch aus seiner inneren Natur heraus sittlich, er handelt also frei, denn seine Natur ist nach wie vor die Kraft, die sich betätigt, und sie ist nunmehr ungefesselt, denn kein Sittengesetz tritt von außen hemmend entgegen, sondern die sittliche Norm ist dem Men- schen selbst zur Natur geworden. Diese eigentümliche Urakehrung der Begriffe mit allen darin enthaltenen Paradoxen ist das Thema des Hauptwerkes der christlichen Ethik des Urchristentums: des Bömerbriefes. Und in diesem Sinne spricht auch Luther von der Freiheit eines Christenmenschen.

Wir wissen jetzt, wie die Unbekannte heißt, die wir in die vorhin aufgestellte Formel einsetzen müssen, um zum Begriffe der sittlichen Freiheit zu kommen. Statt „wollen können, was man wollen will**, muß es heißen: „wollen können, was man wollen soll**, dann gibt die Formel einen Sinn. Zwar nicht den, daß dieses Können eine Freiheit im Sinne der Handlungsfreiheit wäre, denn wir wissen ja alle, daß sich dieses soll eben nicht frei durchsetzt, sondern nur zu oft durch entgegenstehende Motive der Neigung gehemmt ist; der Sinn der Formel ist vielmehr der einer Triebfeder und Mahnung daran, daß die Kraft des Gewissens rege ist und sich betätigt „Du kannst,** bedeutet hier, daß eine innere Tendenz auf die Befolgung des Sittengesetzes hindrängt und daß eine Chance für seine Ver- wirklichung gegeben ist, die es auszunutzen gilt, indem man die er- forderlichen Motive zur Durchsetzung dieser Kraft hinzufügt durch das, was wir gewöhnlich Selbstzucht, Zusammenraffung, Selbst- erziehung, Selbstbeherrschung usw. nennen. Diese Begriffe sind keineswegs entwertet durch die Einsicht, daß alles Wollen und auch alles Motivsetzen in den Zusammenhang des kausalen Geschehens ein- gespannt ist, denn diese Begriffe der Verantwortung, des Gewissens, der Selbstbeherrschung und Selbstzucht, sie alle werden von diesem Zusammenhange mit umfaßt und spielen in ihm ihre bestimmte Bolle.

Der zu Ende gedachte Determinismus widerlegt den gewöhnlichen Einwand des oberflächlichen Denkens: was nützt alle Mühe und An- strengung? es kommt ja doch, wie es kommen soll! Sie nützt sehr viel, denn jedes Motiv, das durch sittliche Anstrengung in die Reihe aller wirksamen Motive miteingestellt wird, ist die notwendige Ursache einer Folge, die ohne es nicht eintreten kann. Also wird

über Wiüdelband und den Streit um das Strafrecbt 305

jede moralische Anstrengung selbst zur Ursache, von der alles weitere Geschehen mit abhängt.

Der zu Ende gedachte Determinismus schwächt nicht die Ver- antwortlichkeit, sondern stärkt sie durch die Einsicht in die notwen- dige, kausale Bedeutung, den jede menschliche Willensentschließung für den gesamten weiteren Verlauf alles Geschehens hat.

Der zu Ende gedachte Determinismus führt endlich allein zu einem befriedigenden religiösen Ausblick, denn er lehrt uns, daß das Menschenleben mit seinem ganzen geistigen Inhalt eingespannt ist in den Rahmen eines Weltgeschehens, das im Ganzen und allem Einzelnen das Werk einer überweltlichen Macht ist, von der jeder Einzelne ab- hängt. Diesem Gefühle der Abhängigkeit haben die größten Denker des Christentums aller Zeiten Ausdruck gegeben, ihm entspricht im Reiche der Werte das Bewußtsein der Unerreichbarkeit der sittlichen Norm, das Gefühl einer UnvoUkommenheit, das nach einer trans- zendenten Gnadeninstanz verlangt Das Wort Gnade entspringt keines- wegs rein theologischer Betrachtungsweise, es enthält einen allgemein menschlichen Gedanken, der sich im Gerichtssaal ebenso überwälti- gend geltend macht, wie im religiösen Leben. Das sagt uns Shakes- peare in den schlichten Worten, die er in der großen Gerichtsszene des Kaufmanns von Venedig der Porzia in den Mund legt:

Suchst du um Recht schon an, erwäge dies, Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner Zum Heile kam, wir beten all* um Gnade.

Ich bin am Schluß und suche das Fazit zu ziehen : in der grund- sätzlichen Betrachtung des Problems der Freiheit und Verantwortlich- keit sind die Deterministen im Unrecht, sie irren, wenn sie meinen, der Determinismus hebe Moral und Strafrecht aus den Angeln. Sie leiden hier an einer Einseitigkeit der Betrachtungsweis, die ihren historischen Grund hat Die extremen Deterministen sind über- wiegend Arzte und Naturforscher und sie stehen noch im Banne der alten Feindschaft^ die seit der Säkularisierung der Philosophie und Natur- wissenschaft zwischen dieser und der Kirchenlehre herrscht Die Naturforscher denken überall, wo sie von Moral hören, an die Moral, die mit einer Weltanschauung verknüpft ist, deren Feinde sie sind, nämlich der altkirchlichen. Es ist dies ein Vorurteil, an dem die Kirche nicht ohne Schuld ist, aber die Theologie, die heute auf unseren Universitäten die herrschende ist und es immer mehr zu werden verspricht, ist am Werke diese Kluft zu überbrücken und

AielkiT für Kriminalanthropologie. 27. Bd. 20

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eine Einigung wissenschaftlichen und religiösen Denkens herbei- zuführen auf einem Boden, der inzwischen von unseren zünftigen Philosophen, zu denen auch Windelband gehört, bereitet worden ist und auf dem die Interessen vorurteilsloser Wissenschaft und die idealen Weite des geistigen Lebens in gleichem Maße zu ihrem Bechte kommen.

Die größere Schuld aber scheint mir auf Seiten der Indetermi- nisten zu liegen ; sie überschätzen die praktische Bedeutung der Straf- funktion und sie unterschätzen die Kraft aller Motive, die das ver- brecherische Verhalten hervorrufen. Sie verschließen mit Unrecht ihr Auge den neuen und wichtigen Erfahrungen, die die neuen Wissenschaften der Biologie, Pathologie und Soziologie für die Er- forschung des Zustandekommens menschlicher Willensentschlüsse ge- geben haben und die uns erkennen lassen, daß die große Mehrzahl der Menschen nicht deshalb auf dem Wege Bechtens bleibt, weil das Rechts- und Pflichtgefühl sie abhält das zu tun, wozu sie ihre Nei- gung treibt, sondern, weil es an solchen Neigungen fehlt. Mit der zunehmenden Kultur können die der Kulturgüter Teilhaftigen ihre Neigungen auf dem Wege des Rechts befriedigen, es treibt sie des- halb nichts, ihn zu verlassen. Wo aber die Natur oder die soziale Not wirklich Motive zur Rechtsverletzung setzt, da sind Recbtsgefühl und Moral, ja auch die Furcht vor Strafe meist von recht geringem Einfluß. Diese Erkenntnis hat die moderne Straf rechtsschule zu ihrem Geständnis bewogen, daß die Strafe in der Bekämpfung des Ver- brechens eine untergeordnete Bedeutung hat, womit keineswegs ge- sagt werden soll, daß sie gar keine Bedeutung habe. Es ist nur der Ausdruck der Beobachtung, daß man den Willensentschluß des Men- sehen dadurch bestimmen muß, daß man den Motiven des Pflicht- gefühls und der Rechtlichkeit unter der Gesamtheit der konstanten Motive die Majorität verschafft. Dies kann geschehen, indem man diese Motive zu vermehren oder die entgegenstehenden Motive zu vermindern sucht, und die Erfahrung lehrt, daß das letztere meistens viel leichter ist, als das erstere. In unserem Beispiel vom Schul- jungen gleicht der Jurist dem Lehrer, der bei unzähligen seiner Schüler die Beobachtung gemacht hat, daß sie in der gleichen Lage wie dieser Junge der Versuchung nicht widerstehen können. Und so wichtig nun auch die Aufgabe der Erziehung ist, gegenüber sol- chen Versuchungen, die sich nicht fern halten lassen, die moralische Widerstandskraft zu stärken, viel wichtiger ist praktisch die Aufgabe, solche Versuchungen fern zu halten. Deshalb hat der Lehrer Recht, daß das beste Mittel dem Ubelstande abzuhelfen allerdings das ist,

über Windelband und den Streit um das Strafrecht. 307

dem Jungen ein Arbeitszimmer einzuräumen, in dem er nicht gestört wird. Das kleine Beispiel wird uns zum Symbol einer mit Recht mehr und mehr betonten Wahrheit: die Frage der Bekämpfung des Verbrechens ist zu einem erheblichen Teil eine Wohnungsfrage.

Die praktische Nutzanwendung, die der Determinismus mit seiner Einsicht in das Zustandekommen menschlicher Willensentschlüsse durch das Spiel der Motive lehrt, stimmt überein mit dem Ergebnis der praktischen Lebenserfahrung, das kürzlich Herr Geh. Bat Krohne hier in anderem Zusammenhange mit den Worten aus- sprach: das Verbrechen bekämpfen heißt seine sozialen Ursachen bekämpfen.

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XIIL Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder.

(Genesis der Geständnisse, Lügen gestandiger Morder in Nebenpunkten,

Gefühlsverrohung.)

Aus der Braunschweigischen Strafi'echtspraxis

mitgeteilt vom

Ersten Staatsanwalt Oberlandesgcrichtsrat Fessler, Braunschwclg.

Sowohl für den Strafrechtspraktiker wie für den Psychologen haben vor allen Arten der Verbrecher die Mörder ein ganz be- sonderes Interesse.

Ich greife im nachstehenden eine Anzahl Strafprozesse wegen Mordes aus unserer Braunschweigischen Praxis heraus, um auf einige psychologische Eigentümlichkeiten hinzuweisen, die mir bei den verurteilten Mördern aufgefallen sind.

Die anderweite schriftstellerische Behandlung und Darstellung der hier erwähnten Fälle behalte ich mir ausdrücklich vor.

Diejenigen Punkte, welche ich an dieser Stelle besprechen möchte, sind folgende :

A. Die Tatsachen und umstände, welche bei den ursprünglich leugnenden Mördern ein Geständnis verursacht haben. (Die Genesis der Geständnisse);

B. Die Tatsache, daß die in der Hauptsache vollständig ge- ständigen Mörder in Nebenumständen hartnäckig beim Lügen ge- blieben sind;

C. Die bei einzelnen der verurteilten Individuen hervorgetretene maßlose Gefühlsverrohung.

Der Tatbestand der ins Auge gefaßten Straf rechtsfälle ist in kurzen Worten folgender:

1. Im Dorfe Ampleben wurden eines Morgens eine 48 Jahre alte Frauensperson und deren 13jährige Tochter, welche in einem einsamen Häuschen gewohnt hatten, in ihrem Bett tot aufgefunden. Das Bettstroh war angesteckt, und die Leichen waren halb verkohlt

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 309

Durch Leichenschau wurde festgestellt, daß beiden Frauenspersonen mit einem schweren Werkzeuge die Schädel eingeschlagen waren. Die Barschaft der Ermordeten war geraubt.

Als des Doppelmordes verdächtig wurde der in der Nachbar- schaft des Tatorts wohnende 33jährige verheiratete, verschuldete Schuhmacher Jonas Segger verhaftet, weil er schon am Tage der Auffindung der Leichen seltene alte Münzen verausgabt hatte, die nachgewiesenermaßen im Besitze der Erschlagenen gewesen waren.

Der bisher hartnäckig leugnende Angeschuldigte legte plötzlich am zweiten Tage der Schwurgerichtsverhandlung das Geständnis ab, daß er nächtlich in die Wohnung der beiden Frauenspersonen ein- gedrungen sei, diese erschlagen, ihre Barschaft geraubt und dann das Bett angezündet habe, um ein Verbrennen der Leichen zu verursachen und ein Brandungliick vorzutäuschen.

2. Am Früh morgen eines Oktobertages wurde auf der Feldmark des Dorfes Meinkoth die Leiche des 40jährigen, in Meinkoth wohn- haft gewesenen, verheirateten Steinbruchsarbeiters Kaspar Koßmieder mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden. Neben der Leiche lag ein mit Steckrüben gefüllter Sack.

Als des Mordes verdächtig wurden der Kostgänger des Er- schlagenen, der 27jährige ledige polnische Arbeiter Anton Giepsz^ und die Ehefrau des Ermordeten, die 35jährige Antonie Koß- mieder geb. Bialsczynska, die schon längere Zeit mit einander in ehebrecherischen Beziehungen gestanden hatten, eingezogen.

Nach längerem hartnäckigen Leugnen gestand Anton Giepsz ein^ daß er mit der Ehefrau Koßmieder verabredet habe, deren Mann beim nächtlichen Steckrübenstehlen auf dem Felde zu erschlagen, und daß er die Tat der Verabredung gemäß ausgeführt habe. Die Ehe- frau Koßmieder, die bisher ebenfalls geleugnet hatte, legte nach Gegenüberstellung mit ihrem Mitbeschuldigten dann auch ein Ge- ständnis ab.

3. Beim Aufräumen eines wenig gebrauchten Gelasses der Aktien Zuckerfabrik in Salzdahlum fand man, im erdigen Fußboden verscharrt, eine stark in Verwesung übergegangene männliche Leiche, deren Schädel eingeschlagen war. Sie wurde als die eines Eichsfelder Fabrikarbeiters anerkannt, der 9 Monate vorher, während er Nacht- schicht im Gasbereitungsraum der Fabrik gehabt hatte, verschwunden und nie wieder aufgetaucht war.

In Verdacht geriet ein Landsmann und Mitarbeiter des Erschlagenen, der 21jährige ledige Clemens Jünemann, der inzwischen wieder in seine Eichsfelder Heimat zurückgekehrt war.

310 XIII. Pessleb

Zunächst leugnete Jttnemann, irgend etwas von der Tötung seines Kameraden zu wissen ; endlich gab er an, er habe letzteren in gerechter Notwehr mit einer Spitzhacke geworfen, wider seinen Willen habe dieser Schlag den Tod des Getroffenen herbeigeführt, und aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung habe er die Leiche yerscharrt, nach- dem er ihr Uhr und und Barschaft abgenommen habe.

Mit zynischer Ruhe und Dreistigkeit erzählte er diese Geschichte auch in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte. Nach einer Mittags- pause gestand er jedoch plötzlich zu, daß er sein Opfer in Raubmord- absicht im Schlafe beschlichen, vorsätzlich getötet und beraubt habe.

4. Im Dorfe Ostharingen wurden an einem Novembertage eine 67 jährige Witwe und ihr 22 jähriger Sohn, die gemeinschaftlich ihren kleinen Bauernhof bewirtschaftet und allein in ihrem Anwesen ge- wohnt hatten, tot aufgefunden.

Die Witwe lag mit zerschlagenem Schädel unter ihrem Bette, der Sohn war am Holme der Kuhkrippe an seinem Halstuche aufgehängt Durch Leichenöffnung wurde festgestellt, daß auch er durch einen Schlag auf den Kopf getötet und die Leiche dann aufgehängt war.

Die Wertpapiere, welche die Getöteten besessen hatten, fehlten.

Verdächtig des Doppelmordes war ein in Braunschweig wohn- hafter Neffe der erschlagenen Witwe, der 35 Jahre alte, verheiratete frühere Portier Heinr. Ö hl mann.

Nach langem Leugnen gestand er ein, zunächst seine Tante er- schlagen, dann seinen im Kuhstalle aufhSJtlichen Neffen beschlichen und ebenfalls totgeschlagen, sich auch die Wertpapiere der Ermordeten angeeignet zu haben.

5. Im Dorfe Neu - Ölsburg fand man eines Morgens die 60 jährige. Ehefrau eines Zugführers, deren Ehemann dienstlich ab- wesend war, an der Klinke ihrer Kammertür aufgehängt. Es wurde festgestellt, daß die Frau durch Erwürgen getötet und dann deren Leiche aufgeknüpft war. Eine Schürze war bei dem Würgeakte der Frau vor das Gesicht gehalten.

Der I9jährige Nachbarssohn, Arbeiter Wilh. Rühmann, ein nichtsnutziger Bursche, gestand ein, die alte Frau erwürgt, die Leiche behufs Vortäuschung einer Selbsttötung aufgehängt und sich dann das vorhandene Geld im Betrage von 60 M. angeeignet zu haben.

6. Eine im Dorfe Harvesse dienende 21jährige Magd war an einem Juniabend von einem Ausgange nicht zurückgekehrt Am anderen Morgen fand man ihre Leiche in einem nahe beim Dorfe liegenden Gehölze, an einer Kiefer erhängt, auf. Als Todesursache wurde Erdrosselung ermittelt.

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 311

In den Verdacht der Tat geriet der in Harvesse auf einem Bauern- höfe dienende, ledige 24 jährige Knecht Heinr. Stolte, der mit dem Mädchen in Beziehungen gestanden haben sollte, daneben aber mit einem in einem Nachbardorfe dienenden anderen Mädchen öffentlich verlobt war.

Stolte leugnete hartnäckig, auch noch in der Schwurgerichts- yerhandlung. Am dritten Verhandlungstage gestand er aber plötzlich ein, die Magd zu einem Stelldichein in das Gehölz bestellt, sie dort mittels eines ihr über den Kopf geworfenen Strickes erdrosselt und dann die Leiche an der Kiefer aufgehängt zu haben.

7. Der 9jährige Sohn eines Schlachters im Orte Dibbesdorf hatte sich eines Abends mit dem seit 3 Tagen im ELause anwesenden l6V2Jährigen Laufburschen Joseph Jankowski in den Futterraum des Pferdestalles begeben, um Häcksel zu schneiden. Als nach ge- raumer Zeit die beiden nicht wieder ins Wohnhaus zurückgekehrt waren, ging die Mutter des Knaben in die Stallungen, um ihren Sohn zu holen. Sie fand seine Leiche in dem dem Futterraum benachbarten Ziegenstalle. Am Hinterkopfe war eine von einem Hammer her- rührende Wunde sichtbar, der obere Teil der Schädeldecke war durch mehrere parallel laufende scharfe Beilhiebe gespalten.

Joseph Jankowsky war verschwunden, er stellte sich aber noch an demselben Abend in Braunschweig einem Polizeibeamten, dem er zugestand, den Knaben zunächst mit einem Hammerschlage be- täubt, ihn dann vom Futterraum in den Ziegenstall geschleppt und ihm hier mittels eines kleinen Handbeiles den Schädel gespalten zu haben.

8. Auf dem Klostergute Hagenhof bei Königslutter hatte der verheiratete 27jährige Kuhknecht Wilh. Duwe die 11jährige Tochter einer auf demselben Gute wohnhaften Witwe erstochen, weil ihm das Mädchen erklärt hatte, es werde frühere ünzuchtshandlungen, die Duwe mit ihr vorgenommen, ihrer Mutter mitteilen.

Diesen, in kriminalistischer wie psychologischer Beziehung in- teressanten Strafrechtsfall habe ich im: Pitaval der Gegenwart, Bd. 3. S. 103 138, ausführlich dargestellt. Ich nehme auf diese Darstellung Bezug und teile unten nur mit, was ich bei der Dar- stellung im Pitaval nicht erwähnt habe.

Abgesehen von dem (nur relativ straf mündigen) Joseph Jankowski, welcher 15 Jahre Gefängnis erhielt, sind die sämtlichen hier auf- geführten Mörder zum Tode verurteilt, und an allen ist auch die Todesstrafe vollstreckt.

312 XIII. Pessler

A.: Genesis der Geständnisse.

Jonas Segger hatte während der ganzen Voruntersuchung hartnäckig geleugnet. Er wollte zur Zeit der Tat sein Gehöft nicht verlassen haben. Dem Vorhalte, daß er schon am Tage der Auf- findung der Leichen alte seltene Münzen verausgabt hatte, die im Besitze der Verstorbenen gewesen waren, setzte er die Ausrede von dem „zufälligen Finden" dieser Münzen entgegen.

Am zweiten Tage der Hauptverhandlung demonstrierten in seiner Gegenwart die ärztlichen Sachverständigen, daß mit großer Wahr- scheinlichkeit angenommen werden müsse, die Schädelwunden der einen Erschlagenen seien mit einem bei Segger beschlagnahmten s. g. Schusterhammer verursacht, ja einer der Ärzte unterschied solche Wunden, die mit der „Platte" und solche, die mit der „Pinne" des Hammers zugefügt sein würden.

Nach Anhörung dieser Gutachten erklärte Segger plötzlich, daß er jetzt die Wahrheit sagen wolle, und nunmehr gestand er schlank ein, daß er nächtlich in die Wohnung der beiden Frauenspersonen eingedrungen sei, diese in ihrem Bette mittels eines von ihm mitgebrachten Beiles erschlagen und sich dann ihre Barschaft und die in ihrem Besitz befindliche Münzsammlung angeeignet habe, schließlich habe er, um die Verbrennung der Leichen herbeizuführen, das Bettstroh angesteckt. Mit großer Bestimmtheit betonte er aber, daß der bei ihm beschlagnahmte Schusterhammer zur Zeit der Aus- führung der Tat ruhig auf dem Tische seiner Werkstatt gelegen habe, und daß das von ihm gebrauchte Mordbeil noch in seiner Küche zu finden sei.

Ein sofort nach Ampleben geschickter Gendarm fand das be- zeichnete Beil an dem von Segger genau bezeichneten Orte, und nun- mehr erklärten die ärztlichen Sachverständigen, daß die an den Leichen festgestellten Wunden sehr wohl auch durch Schläge mit dem Rücken dieses Beiles verursacht sein könnten.

Anton Giepsz, dem die ehebrecherische Frau seines Logiswirts Koßmieder dazu vermocht hatte, mit dem schwächlichen, impotenten Manne nächtlich zum Steckrübenstehlen zu gehen und den mit dem Steckrübensacke beladen Koßmieder auf dem Heimwege hinterrücks mittels Beiles zu erschlagen, war trotz Vorhaltes aller Verdachts- momente beim Leugnen geblieben. Er hatte mit größter Ruhe eine von seiner Mittäterin erfundene Geschichte erzählt, nach welcher er und Koßmieder beim Steckrübenstehlen von zwei Männern, darunter einem Arbeiter Seh., überrascht seien, worauf Giepsz geflohen sei,

Ein Beitrag znr Psychologie der Mörder. 318

während Koßmieder jedeDfalls von den beiden Männern erschlagen sein würde.

Da wollte es die Vorsehung, daß der von Giepsz verdächtigte Arbeiter Seh., als er eines Tages in dem nahe am Tatorte vorüber- fließenden Bach spähte, um nach Fischen zu sehen, das Mordbeil fand, welches Giepsz gleich nach der Tat ins Wasser geschleudert hatte.

Der Tag, an dem ich Giepsz dies Überführungsstück vorzeigen wollte, war der Bußtag. Ich hielt das Beil zunächst verborgen, und Giepsz erzählte mit großer Ruhe und Breite wiederum seine Geschichte von den beiden fremden Männern. Plötzlich hielt ich ihm das Beil vor und fragte: „Giepsz, kennen Sie dieses Beil?" In demselben Augenblicke fiel gerade das Geläut der Bußtagsglocken der dem Ge- richtsgebäude benachbarten Kirche ein. Als er die Glockentöne hörte und dabei das Werkzeug seiner Mordtat vor sich sah, wurde Giepsz kreidebleich, er taumelte zurück und legte ein Geständnis ab.

Seine buhlerische Mittäterin war erst zur Anerkennung ihrer Mittäterschaft zu bewegen, nachdem ihr Giepsz bei einer Gegenüber- stellung alles haarklein ins Gesicht gesagt hatte.

GlemensJünemann war ein besonders hartgesottener Sünder. Habsucht, Eachgier, Verschlagenheit und Heuchelei bildeten seine Hauptcharakterzüge. Seine Geschichte von dem Notwehrakte trug er auch noch bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung mit solcher Kühe und Sicherheit vor, daß eigentlich niemand an einem. Freispruch seitens der Geschworenen soweit Mord oder Totschlag in Betracht kam zweifelte.

Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung legten die ärztlichen Sachverständigen den von ihnen präparierten Schädel des Ermordeten auf den Gerichtstisch und demonstrierten an ihm die Art der vor- gefundenen Verletzungen.

Von diesem Augenblicke an erschien Jünemann wie verwandelt. Sein bisher ruhiger, sicherer Gesichtsausdruck wich einer ängstlichen Miene, durch seinen Körper ging ein sichtbares Zittern und Beben, und trotzdem er alle Anstrengung machte, sich zusammenzunehmen, entrangen sich seiner Brust unterdrückte schluchzende Laute. Zuerst versuchte er mit erkennbarer Anstrengung einige scheue Blicke auf den Schädel zu werfen, dann blickte er krampfhaft seitwärts.

Jetzt trat eine Pause in der Verhandlung ein und Jünemann wurde in das Arrestzimmer abgeführt, wo ihn zwei Gendarmen be- wachten. Nach kurzer Zeit begannen seine Gesichtsmuskeln krampf- haft zu zucken, Jünemann ergriff die Hand des einen Gendarmen und legte nunmehr das Geständnis ab, daß er seinen Landsmann,

314 XIII. Pessler

um ihn zu töten und zu berauben, nächtlich im Gasraum der Fabrik beschiichen, ibn im Schlafe erschlagen, seiner Habseligkeiten beraubt und die Leiche beigescharrt habe.

Wieder in den Sitzungssaal geführt, wiederholte er dies ihm den Kopf kostende Geständnis unter heftigem Schluchzen.

Heinr. Öhlmann, dessen unvorsichtige Frau die Wertpapiere der Gemordeten an den Mann gebracht hatte und dabei ab- gefaßt war, versuchte mit unglaublicher Beharrlichkeit seinen Kopf dadurch zu retten, daß er „den großen Unbekannten", den er zuerst Meier, dann Weiß nannte, als den Mörder hinstellte. Selbst wollte er nichts weiter getan haben^ als die Leiche seines von dem Un- bekannten erschlagenen Neffen aufgehängt und die von seiner Ehefrau verausgabten Papiere von dem Unbekannten angenommen haben. Während der Voruntersuchung wurde er vom Untersuchungsgefängnis von Braunschweig aus mittels Wagen zum Tatort geführt, um dort an Ort und Stelle die von ihm geschilderten einzelnen Vorgänge zu erläutern.

Je näher der Wagen dem Schauplatze seiner Verbrechen kam, desto stiller und gedrückter wurde Ohlmann, und ehe noch das Dorf Ostharingen erreicht war, legte er den ihn bewachenden Polizei- beamten das Geständnis ab, daß er allein seine Tante und seinen Neffen in Baubmordsabsicht erschlagen und die ganze Geschichte von dem geheimnisvollen Meier oder Weiß erlogen habe. Dieses Geständ- nis wiederholte er vor dem Richter.

Heinr. Stolte hatte, mit seinen kalten hellblauen Augen die untersuchungsführenden Beamten ruhig anblickend, alles geleugnet. Er wollte nichts von einem geschlechtlichen Verhältnis mit der später tot aufgefundenen Magd wissen, er wollte in der Zeit vom Verschwinden des Mädchens bis zur Auffindung der Leiche die Ortschaft Harvesse nicht verlassen haben.

Auch in der Schwurgerichtsverhandlung beobachtete er dieselbe Taktik, und es „sickerte deutlich durch*', daß die Geschworenen auf die vorgebrachten Indizien hin die Schuldfrage nicht bejahen würden.

Am dritten Verhandlungstage wurde der Angeklagte zum Tatorte geführt, wo in Gegenwart des Gerichts, der Geschworenen und der Staatsanwaltschaft der Augenschein eingenommen wurde. Das ruhige, dreiste Benehmen Stoltes blieb zunächst dasselbe wie zuvor; gegen Schluß des langen Augenscheinstermins wurde er aber immer gedrückter und stiller, und auf der Bückfahrt zum Untersuchungsgefängnis in Braunschweig legte er zunächst den ihn begleitenden Polizeibeamten ein teilweises, am folgenden Tage in der Hauptverhandlung aber ein

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 315

umfassendes Geständnis ab. Er gab zu, daß er seine Geliebte zn einem abendlichen Stelldichein in das Gehölz bestellt, daß er ihr dort hinterrücks den Strick nm den Hals geworfen und sie erdrosselt, darauf aber die Leiche zu einer nahestehenden Kiefer geschleift und sie an dieser (behufs Vortäuschung eines Selbstmordes) aufgehängt habe. Wilh. Dnwe ist, wie ich im „Pitaval der Gegenwart'' ausführ- lich geschildert habe, durch das Verhalten eines Polizeihundes dazu bewogen, zunächst dem Gefangenenaufseher und gleich darauf auch dem Gerichte ein Geständnis des von ihm begangenen scheußlichen Mädchenmordes abzulegen.

B.: Das Lügen der in der Hauptsaohe geständigen Mörder über einzelne nebensäohliohe Funkte«

Clemens Jünemann hat, wie hervorgehoben, in der Haupt- verhandlung ein Geständnis abgelegt, aus dem der Tatbestand den Mordes, und zwar des s. g. Baubmordes mit völliger Klarheit hervorging.

Sein Landsmann hatte in der Mordnacht die Nachtschicht im Gasbereitungsraum der Fabrik gehabt. Gegen 2V2 Uhr hatte der revidierende Fabrikbeamte die Entdeckung gemacht, daß der Betorten- deckel des Gasbereitungsapparats abgeschlagen, der diensttuende Landsmann Jünemanns aber spurlos verschwunden war. Sofort wurde festgestellt, daß auch die Kleidungsstücke des Verschwundenen, die in einem gemeinschaftlichen Schlafsaal untermischt mit den Kleidungsstücken anderer Arbeiter gehangen hatten, ingleichen die sonstigen Habseligkeiten des Verschwundenen, sämtlich fort waren.

Hiernach wurde allseits angenommen^ daß der Bezeichnete, der kurz vorher einen Verweis seitens eines Fabrikaufsichtsbeamten erhalten hatte, aus Bache gegen die Fabrikorgane den Betortendeckel ab- geschlagen habe, um das Fabrikgebäude in Brand zu setzen, und daß er dann „ausgerückt'^ sei.

Nachdem Jünemann nun das oben bezeichnete Geständnis ab- gelegt hatte, war es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme un- zweifelhaft, daß er sich am Abend vor der Tat bereits vor dem Schlafengehen der Arbeiter die Kleidungsstücke seines späteren Opfers in dem gemeinschaftlichen Schlafsaal in aller Buhe zusammen- gesucht, darauf, ohne selbst im Schlafraum zu Bett zu gehen, in der Nähe des Gasbereitungsraums solange herumgelungert hatte, bis sein Landsmann (wie er dies stets zu tun pflegte) im Gasraum „sein Stündchen schlief, und daß er dann den Schlafenden gemordet hatte.

Diesem feststehenden Tatbestande gegenüber blieb Jünemann trotz aller Vorstellungen von der völligen Unmöglichkeit und der er-

316 Xm. Pessler

weislichen Unwahrheit seiner Angaben bei folgender zweifellos er- logenen Darstellung:

„Ich bin nach 11 Uhr abends im Schlafsaal (mit den anderen 10 Arbeitern) zu Bett gegangen. Nach einiger Zeit bin ich wieder aufgestanden, habe mich in den (ziemlich entfernt liegenden) Gas- bereitungsraum geschlichen, habe dort meinen schlafenden Kameraden ermordet, ihm Uhr und Geldbeutel fortgenommen und habe die Leiche verscharrt. Dann bin ich wieder in den Schlafsaal zurückgegangen^ habe (trotz der Dunkelheit und unbemerkt von den 10 dort lagernden Arbeitern!) sämtliche Sachen des Erschlagenen (trotzdem sie mit den Kleidungsstücken anderer Arbeiter untermischt hingen!), ohne ein einziges liegen zu lassen und ohne ein einziges falsches zu greifen (!) gefunden, bin, mit diesen Sachen beladen, wieder über den Hof zum Gasraum gegangen, habe die Kleidungsstücke dort im Gasofen ver- brannt, und dann habe ich, um ein ^.Ausrücken'^ meines Landsmanns vorzutäuschen, den Retortendeckel abgeschlagen. Hierauf habe ich mich schließlich wieder, ohne von jemand bemerkt zu werden, im Schlafsaal zu Bett gelegt."

Mit diesen offensichtlichen Lügen ist Jünemann in den Tod gegangen.

Eine fernere nachweisbare Lüge Jünemanns, von der er nicht ab- zubringen war, bezog sich auf den Hauptbeweggrund zum Morde. Ge- wiß mag es ihm nach der Barschaft seines Opfers gelüstet haben, nach dem ganzen Untersuchungsergebnis hat aber sein Landsmann zweifel- los deshalb sterben müssen, weil er mundtot gemacht werden mußte. Nicht nur gegen Jünemann selbst, sondern auch gegenüber ganz ein- wandfreien Zeugen hatte der später Getötete mit aller Bestimmtheit erklärt, er werde sofort nach der Heimkehr in die Eichsfelder Heimat der dortigen Behörde mehrere von Jünemann begangene Verbrechen, von denen er sichere Kunde habe, zur Anzeige bringen. Kurz nach diesen Drohungen war der Mord geschehen. Tatsächlich stellte sich denn auch später heraus, daß Jünemann verschiedene schwere Dieb- stähle begangen hatte, von denen der Erschlagene Kenntnis gehabt haben wird. Trotz des eindringlichsten Vorhalts, über den bezeich- neten Hauptbeweggrund seiner Tat der Wahrheit die Ehre zu geben, ist Jünemann zunächst stets dabei geblieben, daß er überhaupt keine Straftaten begangen habe, und als er dann der Diebstähle überführt war, mußte er diese zwar einräumen, er blieb aber dabei, daß sein Landsmann nichts von diesen oder anderen von ihm (Jünemann) be- gangenen Straftaten gewußt habe.

Daß endlich Jünemann über die Höhe des dem Ermordeten ge- raubten Geldbetrages und über die Mitnahme des zur Tat gebrauchten

£in Beitrag zur Psychologie der Mörder. 317

Werkzeugs bis an sein Ende gelogen bat, mag nur nebenbei erwähnt werden,

Heinr. Öblmann behauptete mit Beharrlicbkeit, er habe seine Tante in derjenigen Kammer totgeschlagen, in der später die Leiche gefunden wurde. Wieder und wieder wurde ihm vorgehalten, daß diese Angabe eine unwahre und widerlegt sei. Gleich nach Ent- deckung der Tat hatte ich mit dem Gerichtschemiker festgestellt, daß in dem engen, mit Möbeln und anderen Gegenständen vollgepfropften Baume, in dem die feine überall lagernde Staubschicht nicht im geringsten an den in Betracht kommenden Stellen verletzt war, die Tat tiberhaupt gar nicht begangen sein konnte, sondern daß die Leiche in die Kammer geschleppt sein mußte. Die alte Frau war zweifellos in einer (an der anderen Seite des Hauses liegenden^ Wurst- vorratskammer erschlagen, als sie aus diesem Baume früh morgens Schlachtwerk zum Frühstück hatte holen wollen.

Ferner blieb Öhlmann dabei, er habe seine beiden Opfer mittels einer Staketlatte erschlagen^ obwohl die bei den Leichen vorgefundenen Schädelverletzungen auf ein viel schwereres und anders geartetes Werkzeug hinwiesen.

Selbst, als ich ihm am Tage vor der Vollstreckung des Todes- urteils eröffnet hatte, daß sein Kopf nach 24 Stunden fallen werde, blieb der Verbrecher trotz nochmaligen eindringhchen Vorhalts bei den bezeichneten beiden erlogenen Angaben.

Da trat ein Ereignis ein, das ihm in letzter Stunde noch das Bekenntnis der vollen Wahrheit abrang.

Am Nachmittage vor der Hinrichtung sollte Ohlmann seinem Wunsche gemäß in dem im Erdgeschoß des Untersuchungsgefängnisses liegenden Sprechzimmer das heilige Abendmahl empfangen. Als er zwischen zwei ihn haltenden Gefangenenaufsehern die Treppe hin- untergeführt wurde, sprang er plötzlich, die Wächter fast mit sich reißend, in selbstmörderischer Absicht über das Treppengeländer. Er blieb aber, ohne in die erhebliche Tiefe zu stürzen, an einer Be- leuchtungsvorrichtung hängen und wurde wieder in seine Zelle ge- schafft. Dort lag er, als ich hinzugerufen wurde, mit zerschmettertem Schlüsselbein und schrie laut vor Schmerzen. Bei seiner Entkleidung fand sich in einem Hosenbein ein Strick, den er sich aus dem ab- gekauten Bande seiner Bettdecke hergestellt hatte, um sich, wenn möglich, vor der Hinrichtung noch zu erhängen. (Da durch die schwere Fesselung die Arme mittels einer Stange auseinandergehalten wurden, hatte er nur mit den Zähnen an der Bettdecke arbeiten können!) Als ihm die nötige ärztliche Hilfe geleistet war und er

318 XIII. Pessleb

sich beruhigt hatte, gab ich ihm nochmals anheim, mit der voUeD Wahrheit auch in den bezeichneten Nebenpunkten herauszukommen, ehe er morgen seinen letzten Gang anträte.

Jetzt endlich kam Öhlmann damit heraus, daß er tatsächlich seine Tante in der oben bezeichneten Wurstkammer beschlichen, er- schlagen und dann die Leiche in die Schlafkammer geschleppt habe; auch erklärte er, daß er beide Mordtaten nicht mit einer Staketlatte, sondern mit einer s. g. „Schute" begangen habe und zwar habe er mit der eisernen „Öse^ dieses Grabscheits auf seine Tante und auf seinen Neffen eingeschlagen.

Seine jetzige Angabe über den Tatort stimmte genau mit den Ermittelungen und den aus ihnen gezogenen Schlüssen; seine Aus- sage über das gebrauchte Werkzeug bestätigte sich durch Nach- prüfung:

Es wurde eine der (massenhaft fabrikmäßig hergestellten) s. g. Schuten von einem Kaufmann herbeigeholt, und zwei zugezogene ärztliche Sachverständige stellten fest, daß die Form der „Öse** genau in die Verletzungen des präparierten Schädels der Erschlagenen paßte.

Wilh. Ruh mann hat in seinem (gleich beim ersten Angriff abgelegten und bei allen späteren Vernehmungen wiederholten) Ge- ständnis über die Herkunft des von ihm zum Aufhängen der Leiche der Erdrosselten gebrauchten Strickes folgendes angegeben:

„Als ich mich früh morgens in das Haus der später Getöteten eingeschlichen hatte, bin ich vom Hausflur aus die Treppe hinauf auf den Boden gegangen, um dort nach einem geeigneten Stricke zu suchen. Ich fand dort denjenigen Strick, an dem ich nachher die Leiche aufgehängt habe."

Eine Untersuchung des Strickes ergab, daß dieser ein solcher war, den der s. g. „Selbstbinder^ einer Dampfdreschmaschine geknotet hatte. Es wurde festgestellt, daß auf dem in Frage kommenden (übrigens winzig engen) Boden niemals ein derartiger Strick, auch niemals Stroh gelegen hatte, das von einem Selbstbinder gebunden war; außerdem war es ja auch ganz unglaublich, daß der Mörder erst im Hause seines Opfers auf gut Glück nach einem Stricke ge- sucht haben sollte. Alles dieses wurde Rühmann vorgehalten, doch er blieb bei seinen Angaben. Die weiteren Ermittelungen ergaben folgendes:

Rühmann hatte die letzte Nacht vor der Ausführung der Tat auf dem Felde in einer Kornstiege genächtigt. Es wurde festgestellt, daß kurz vorher auf einem benachbarten Felde, welches Rühmann auf dem Wege zum Tatorte überschritten hatte, eine Dreschmaschine tätig gewesen war, deren Selbstbinder Stricke geknotet hatte, deren

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 319

Beschaffenheit genau mit dem zum Aufhängen der Leiche gebrauchten Stricke übereinstimmte.

Auch diese ihm vorgehaltenen Ermitteluugen vermochten Eühmann nicht zu dem Bekenntnis zu bringen, daß er den Strick schon vom Felde mitgebracht habe. Ebenso bestritt er den Gebrauch der Schürze.

Heinr. St ölte hat ebenfalls über die Herkunft des Strickes, mit dem er seine Geliebte erdrosselt und an dem er dann deren Leiche aufgehängt hatte, bis ans Ende hartnäckig gelogen. Er gab an :

„Erst am Abend der Tat, als ich zu dem verabredeten Stelldichein ging, suchte ich im Hofschauer meines Dienstherm nach einem ge- eigneten Stricke. Ich fand dort auch den nachher zur Ausführung des Mordes gebrauchten und steckte ihn zu mir. Am Ende des Strickes saß ein Messingring.''

Der Strick war, wie die weiteren Feststellungen ergaben, aus Jute gedreht, an das eine Ende war ein Messingring geknotet, wie solche an Pferdegeschirren gefunden werden. Durch Umfrage im Dorfe wurde ermittelt, daß von den dortigen Landwirten nie Stricke von der hier in Betracht kommenden eigentümlichen Beschaffenheit gebraucht wurden, und der Dienstherr Stoltes sowie sein Personal erklärten, daß sie auf ihrem (kleinen und leicht zu übersehenden) Ge- höft niemals einen derartigen Strick gehabt hätten.

Auf Vorhalt, daß seine Angabe über die Herkunft des Strickes falsch sei, und daß er selbst augenscheinlich den Messingring deshalb an dem Ende des Strickes befestigt habe, damit sich bei der beab- sichtigten Erdrosselung seiner Geliebten die Schlinge rasch und sicher zuziehe, beharrte Stolte bei seinen Angaben; er ist auch beim Lügen geblieben, trotzdem die anderweitige Herkunft des Strickes durch folgende Tatsachen festgestellt war:

Etwa 3 4 Tage vor dem Morde hatte sich Stolte unter dem Verwände, eine Ausbesserung an seinem Fahrrade vorzunehmen, in der Werkstatt eines benachbarten Handwerkers zu tun gemacht. In dieser Werkstatt hatte genau solcher Strick, wie der zum Morde gebrauchte, gehangen, auch hatten Messingringe dort gelegen, die von derselben Beschaffenheit waren wie der an den Mordstrick geknotete. Nach Stoltes Hantieren in der Werkstatt war der Strick verschwunden gewesen.

Auch auf Vorhalt dieser Tatsachen blieb Stolte bei seinen früheren Angaben.

Eine weitere wissentliche Unwahrheit des in der Hauptsache völlig geständigen Stolte war folgende:

Die später Ermordete hatte schon seit langer Zeit mit der für sie charakteristischen Offenheit erzählt, daß sie seit Monaten mit Stolte

320 XIU. Pessler

im Geschlechtsverkehr stehe, auch waren von einwandfreien Zeugen abendliche Zusammenkünfte des Paares an verschiedenen Orten be- obachtet, die auch nicht den geringsten Zweifel darüber bestehen ließen, daß Stolte das Mädchen häufig geschlechtlich gebraucht hatte. Stolte ist trotz aller Vorhalte stets dabei geblieben, daß er mit dem Mädchen (abgesehen von dem Beischlafe am Mordtage) überhaupt nur einmal geschlechtlich verkehrt habe.

Noch in einem dritten Punkte ist Stolte beharrlich beim Lügen geblieben.

Als ihm das Mädchen mitgeteilt hatte^ es glaube bestimmt von ihm schwanger zu sein, hatte er es schon zwei Tage vor dem Morde (genau in derselben Weise wie am Mordabend selbst) zu einem abend- lichen Stelldichein in ein nahe gelegenes Gehölz bestellt Das Mädchen war auch festgestelltermaßen zum verabredeten Orte gegangen, doch Stolte war ausgeblieben und hatte nachher einen ziemlich albernen Vorwand für sein Nichterscheinen angegeben. Nach allen ermittelten Tatsachen unterlag es keinem Zweifel, daß Stolte schon an diesem Abend den Mord hatte ausführen wollen, entweder aber im letzten Augenblicke vor der Tat zurückgeschreckt oder wider seinen Willen am Erschemen auf dem Platze des Stelldichein gehindert war. Stolte blieb dabei, an dem betreffenden Abend noch gar nicht an den Mord ge- dacht zu haben, trotzdem er durchaus keinen glaubhaften Grund dafür anführen konnte, daß er das Mädchen, mit dem er sonst stets im Dorfe selbst zusammengekommen war, gerade an diesem Abend in das ziemlich weit abgelegene Holz bestellt hatte.

Endlich ist Stolte bei einer vierten Unwahrheit geblieben:

Seine offenherzige Geliebte hatte ihrer Freundin und Mitmagd vor ihrem Fortgange zum Schauplatze des Verbrechens ausführlich erzählt, daß ihr Stolte geheißen habe, einen bestimmt vorgeschrie- benen Weg zu nehmen, und daß er ihr eingehend geschildert hatte, auf welchem anderen Wege er selbst gehen werde. Es sollte niemand im Dorfe, wie er geäußert hatte, von der Zusammen- kunft etwas merken. In der Untersuchung wurde festgestellt, daß das Mädchen und Stolte sich auf den beschriebenen Wegen tatsächlich „getrennt marschierend^ zu dem Platze des Stelldichein begeben hatten.

Stolte hat trotz allem Vorhalts jede Mitteilung an das Mädchen über den vonihmselbstzu wählenden Weg bis zum Tode in Abrede gestellt.

JosephJankowski, der degenerierte, verwahrloste 1 6 V2 jährige Mörder, war seit frühester Jugend ein unverbesserlicher Gewohnheits- dieb; seit seinem vollendeten 12. Lebensjahre war er wegen Diebereien (teils schwerer Art) von einem Gefängnis ins andere gewandert.

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 321

Arbeitsscheu und Hang zur Grausamkeit veryollständigten sein Cha- rakterbild.

Von der ^Wanderschaft*', d. h. vom ümherbummeln, hatte ihn sein Dienstherr, der Dibbesdorfer Schlachtermeister, ins Haus ge- nommen. Schon am ersten Abende seiner Anwesenheit hatte in seinem Beisein ein Nachbar dem Schlachtermeister eine Summe Bargeld aufgezählt, und dieser Nachbar hatte sofort darauf aufmerksam ge- macht, daß Jankowski in bedenklicher Weise die aufgezählten blanken Geldstücke mit den Augen geradezu gierig verschlungen hatte. Am folgenden Tage hatte es das Unglück gewollt, daß der Bursche ge- sehen hatte, wie seine Dienstherrin aus einem auf ihrer Schlafkammer stehenden Schranke eine größere Summe Geldes herausholte.

Am dritten Abend seiner Anwesenheit im Hause war sein Dienstherr verreist, die übrigen Hausbewohner hatten sich zu einer länger dauernden Verrichtung in die Wohnstube zurückgezogen, und Jankowski selbst war mit dem später von ihm ermordeten 9 jährigen Sohne seines Diensthern und dessen jüngerem Bruder beim Häcksel- scbneiden im Futterraume. Planmäßig hatte Jankowski den jüngeren Knaben unter Verabreichung einer Ohrfeige aus dem Futterraume verwiesen ; seinen 9 jährigen Bruder hatte er nicht loswerden können. Dieser war ihm das einzige Hindernis, die überaus günstige Gelegenheit zum Stehlen zu benutzen : den sonst für ihn freien Weg zu der Schlaf- kammer seiner Herrschaft zu betreten, um dort den Schrank zu plündern und mit dem Gelde zu verschwinden.

Um dieses einzige Hindernis seines diebischen Planes aus dem Wege za räumen, hatte er dann den 9 jährigen Knaben mittels der im Stalle vorhandenen Werkzeuge, einem Hammer und einem kleinen Handbeile, ermordet, und gleich nachher war er in das mit im Wohnhause liegende Schlachthaus gegangen, um sich von dort ein sehr schweres, zum aufbrechen von Schränken vorzüglich geeignetes Werkzeug (ein s. g. Ochsenbeil), das er sich an der Tür des Schlacht- hauses vorher zurecht gestellt hatte, zu holen. Zufällig war aber in diesem Augenblick die Magd des Schlachters einen Augenblick im Schlachthause anwesend gewesen, Jankowski hatte deshalb, da er den Weg zur Schlafkammer, der durch das Schlachthaus führte, nun nicht mehr unbemerkt einschlagen konnte, seinen Diebstahlsplan als gescheitert angesehen, und er war, nachdem er das schwere Ochsenbeil weggeworfen hatte, entflohen. Alles dieses war, wie hier im einzelnen nicht näher ausgeführt werden kann, durch die Untersuchung ein- wandfrei festgestellt.

Jankowski hat den geschilderten Hergang nie zugestanden, er

AichiT fllT Kriminalanthiopologie. 27. Bd. 21

320 XUI. Pe88L£b

im Geschlechtsverkehr stehe, auch waren von einw»'' ehlieben, daß abendliche Zusammenkünfte des Paares an versc' oe weil äeser obachtet, die auch nicht den geringsten Zwe*' ließen, daß Stolte das Mädchen häufig geschl Stellung im Pitaval Stolte ist trotz aller Vorhalte stets dabei r .\^^j^ ^ ^q|2 seines Mädchen (abgesehen von dem Beischi»' ^. ganzen Untersuchung, nur einmal geschlechtlich verkehrt ha^ ^ dem Schwurgericht, bei

Noch in einem dritten Punkte ^nkten geblieben, und erst

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Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins de- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jünemann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatta

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 323

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^%^ ^stelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, hatte dort

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^Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben !**

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab.

Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten frühmorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Kornstiege geschlafen habe. Xoch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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322 XIII. Pessleb

ist vielmehr bei der gänzlich unglaubwürdigen Angabe geblieben, daß er den Knaben nur deshalb kaltblütig erschlagen habe, weil dieser ihn ^ geneckt^ hätte.

Wilh. Duwe endlich ist, wie aus der Darstellung im Pitaval der Gegenwart a. a. 0. des näheren zu ersehen ist, trotz seines Geständnisses in der Hauptsache während der ganzen Untersuchung, und auch noch in der Hauptyerhandlung vor dem Schwurgericht, bei einer ganzen Reihe von Lügen in Nebenpunkten geblieben, und erst durch den Druck, den das Todesurteil auf ihn ausgeübt hat, ist er bewogen, mir am Tage nach der Verurteilung seine Lügen einzugestehen.

C: Züge unglaublicher G^mütsverrohung.

Anton Giepsz und seine Mittäterin Ehefrau Koßmieder zeigen, ganz abgesehen von der begangenen Bluttat, arge Züge einer nur als „viehisch" zu bezeichnenden Verrohung.

Als Giepsz seinen Logiswirt Koßmieder auf dem Felde hinterrücks ermordet hatte und die blutende Leiche vor sich liegen sah, hatte er doch für Augenblicke die Wahrheit des Wortes an sich erfahren:

„Ein anderes Antlitz, eh' sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat:"

Von Angst und Gewissensbissen gequält, war er querfeldein ge- laufen; das Mordbeil hatte er in den vorüberfließenden Bach geschlen- dert Zu Hause angekommen, hatte er sich dann weinend auf das Bett der Eheleute Koßmieder geworfen; er war außer sich gewesen.

Bald aber hatte ihn die buhlerische Ehefrau des Ermordeten zu beruhigen gewußt, und es hatte das ehebrecherische Mörderpaar, wie es mir selbst zugegeben hat, im Ehebette des Erschlagenen den Beischlaf miteinander vollzogen, als das warme Blut des Gemordeten noch gen Himmel rauchte!

Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt nnd am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jünemann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte.

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von der Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, hatte dort den Schrank des Erschlagenen anfgebrochen und sofort in größter Gemütsruhe dessen Mundvorräte verzehrt.

Heinr. 0hl mann tat, als er mit den ersten, wenn auch noch von Lügen wimmelnden, Anfängen eines Geständnisses herauskam, ganz zerknirscht und verzweifelt und bat inständigst, seine Kinder, ein Paar kleine Knaben, sehen zu dürfen. Ich erfüllte seinen Wunsch . Als ich am folgenden Tage die Knaben hatte hereinführen lassen, brach Öhlmann in lautes Schluchzen und Weinen aus, nahm seine Kinder auf den Schoß und herzte und küßte sie leidenschaftlich. Dies danerte aber nur wenige Minuten. Öhlmann benutzte die noch übrig bleibende Zeit des Zusammenseins mit seinen Kindern dazu, mir mit der größten Umständlichkeit auseinanderzusetzen, daß er vor dem Fenster seines Hauses noch eine Gans hängen habe, und er bat mich dringend» dafür zu sorgen, daß diese (N.B. von dem geraubten Blutgelde gekaufte!) Gans ja nicht verdürbe.

Als ich Öhlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund- zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich, nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte auch; daß ich ihm das Rauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver- brecher den Trost der Religion in ergreifender Weise spendete, weinte and lamentierte Öhlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck hatte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Öhlmann in der Tür noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:

^Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!"

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab-

Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten Frübniorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Kornstiege geschlafen habe. Xocb mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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ist yielmehr bei der gänzlich unglaubwürdigen Angabe geblieben, daß er den Knaben nur deshalb kaltblütig erschlagen habe, weil dieser ihn ^ geneckt^ hätte.

Wilh. Duwe endlich ist, wie aus der Darstellung im Pitaval der Gegenwart a. a. 0. des näheren zu ersehen ist, trotz seines Geständnisses in der Hauptsache während der ganzen Untersuchung, und auch noch in der Hauptrerhandlung vor dem Schwurgericht, bei einer ganzen Keihe von Lügen in Nebenpunkten geblieben, und erst durch den Druck, den das Todesurteil auf ihn ausgeübt hat, ist er bewogen, mir am Tage nach der Verurteilung seine Lügen einzugestehen.

C: Züge unglaublicher Gtomütsverrohung.

Anton Giepsz und seine Mittäterin Ehefrau Koßmieder zeigen, ganz abgesehen von der begangenen Bluttat, arge Züge einer nur als „viehisch" zu bezeichnenden Verrohung.

Als Giepsz seinen Logiswirt Koßmieder auf dem Felde hinterrücks ermordet hatte und die blutende Leiche vor sich liegen sah, hatte er doch für Augenblicke die Wahrheit des Wortes an sich erfahren:

„Ein anderes Antlitz, eh' sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat:"

Von Angst und Gewissensbissen gequält, war er querfeldein ge- laufen ; das Mordbeil hatte er in den vorüberfließenden Bach geschleu- dert Zu Hause angekommen, hatte er sich dann weinend auf das Bett der Eheleute Koßmieder geworfen; er war außer sich gewesen.

Bald aber hatte ihn die buhlerische Ehefrau des Ermordeten zu beruhigen gewußt, und es hatte das ehebrecherische Mörderpaar, wie es mir selbst zugegeben hat, im Ehebette des Erschlagenen den Beischlaf miteinander vollzogen, als das warme Blut des Gemordeten noch gen Himmel rauchte!

Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jünemann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte.

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von der Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, hatte dort den Schrank des Erschlagenen aufgebrochen und sofort in größter Gemütsruhe dessen Mundvorräte verzehrt.

Heinr. 0hl mann tat, als er mit den ersten, wenn auch noch von Lfigen wimmelnden, Anfängen eines Geständnisses herauskam^ ganz zerknirscht und verzweifelt und bat inständigst, seine Kinder, ein Paar kleine Knaben, sehen zu dürfen. Ich erfüllte seinen Wunsch . Als ich am folgenden Tage die Knaben hatte hereinführen lassen, brach Öblmann in lautes Schluchzen und Weinen aus, nahm seine Kinder auf den Schoß und herzte und küßte sie leidenschaftlich. Dies danerte aber nur wenige Minuten. Öhlmann benutzte die noch übrig bleibende Zeit des Zusammenseins mit seinen Kindern dazu, mir mit der größten Umständlichkeit auseinanderzusetzen, daß er vor dem Fenster seines Hauses noch eine Gans hängen habe, und er bat mich dringend, dafür zu sorgen, daß diese (N.B. von dem geraubten Blutgelde gekaufte!) Gans ja nicht verdürbe.

Als ich Ohlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund- zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich, nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte auch, daß ich ihm das Rauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver- brecher den Trost der Religion in ergreifender Weise spendete, weinte und lamentierte Öhlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck hatte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Ohlmann in der Tür noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:

^Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!"

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab.

Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten Frühraorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Komstiege geschlafen habe. Noch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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ist vielmehr bei der gänzlich unglaubwürdigen Angabe geblieben, er den Knaben nur deshalb kaltblütig erschlagen habe, weil dieser ihn ,, geneckt^ hätte.

Wilh. Duwe endlich ist, wie aus der Darstellung im Pitaval der Gegenwart a. a. 0. des näheren zu ersehen ist, trotz seines Geständnisses in der Hauptsache während der ganzen Untersuchung, und auch noch in der Hauptrerhandlung vor dem Schwurgericht, bei einer ganzen Reihe von Lügen in Nebenpunkten geblieben, und erst durch den Druck, den das Todesurteil auf ihn ausgeübt hat, ist er bewogen, mir am Tage nach der Verurteilung seine Lügen einzugestehen.

C: Züge unglaublicher G^mütsverrohung.

Anton Giepsz und seine Mittäterin Ehefrau Koßmieder zeigen, ganz abgesehen von der begangenen Bluttat, arge Züge einer nur als »viehisch" zu bezeichnenden Verrohung.

Als Giepsz seinen Logiswirt Koßmieder auf dem Felde hinterrücks ermordet hatte und die blutende Leiche vor sich liegen sah, hatte er doch für Augenblicke die Wahrheit des Wortes an sich erfahren:

„Ein anderes Antlitz, eh' sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat:**

Von Angst und Gewissensbissen gequält, war er querfeldein ge- laufen ; das Mordbeil hatte er in den vorüberf iießenden Bach geschlen- dert Zu Hause angekommen, hatte er sich dann weinend auf das Bett der Eheleute Koßmieder geworfen; er war außer sich gewesen.

Bald aber hatte ihn die buhlerische Ehefrau des Ermordeten zu beruhigen gewußt, und es hatte das ehebrecherische Mörderpaar, wie es mir selbst zugegeben hat, im Ehebette des Erschlagenen den Beischlaf miteinander vollzogen, als das warme Blut des Gemordeten noch gen Himmel rauchte!

Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jüneraann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte.

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 323

von der Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, hatte dort den Schrank des Erschlagenen aufgebrochen und sofort in größter Gemütsruhe dessen Mundvorräte verzehrt.

Heinr. 0hl mann tat, als er mit den ersten, wenn auch noch von Lügen wimmelnden, Anfängen eines Geständnisses herauskam, ganz zerknirscht und verzweifelt und bat inständigst, seine Kinder, ein Paar kleine Knaben, sehen zu dürfen. Ich erfüllte seinen Wunsch . Als ich am folgenden Tage die Knaben hatte hereinführen lassen, brach Öhlmann in lautes Schluchzen und Weinen aus, nahm seine Rinder auf den Schoß und herzte und küßte sie leidenschaftlich. Dies dauerte aber nur wenige Minuten. Ohlmann benutzte die noch übrig bleibende Zeit des Zusammenseins mit seinen Kindern dazu, mir mit der größten Umständlichkeit auseinanderzusetzen, daß er vor dem Fenster seines Hauses noch eine Gans hängen habe, und er bat mich dringend, dafür zu sorgen, daß diese (N.B. von dem geraubten Blutgelde gekaufte!) Gans ja nicht verdürbe.

Als ich Öhlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund- zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich, nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte auch, daß ich ihm das Rauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver- brecher den Trost der Religion in ergreifender Weise spendete, weinte und lamentierte Öhlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck hatte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Öhlmann in der Tür noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:

.Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!"

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab.

Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten Frühraorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Komstiege geschlafen habe, Noch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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320 XIU. Pessleb

im Geschlechtsverkehr stehe, auch waren von einwandfr^'aeben daß abendliche Zusammenkünfte des Paares an verschied«" j ^eil ^eser obachtet, die auch nicht den geringsten Zweifel ließen, daß Stolte das Mädchen häufig geschlecht^' ^ellung im Pitaval Stolte ist trotz aller Vorhalte stets dabei gebl» nen ist, trotz seines Mädchen (abgesehen von dem Beischlafe ' j- ganzen Untersuchung, nur einmal geschlechtlich verkehrt habe, or dem Schwurgericht, bei

Noch in einem dritten Punkte is*^ .punkten geblieben, und erst geblieben. auf ihn ausgeübt hat, ist er

Als ihm das Mädchen mitge' eilung seine Lügen einzugestehen, ihm schwanger zu sein, hatte '

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Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Koßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jünemann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte.

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Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 323

* Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt^ hatte dort

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Als ich Ohlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund- zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich, nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte auch, daß ich ihm das Rauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver- brecher den Trost der Religion in ergreifender Weise spendete, weinte und lamentierte Ohlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck hatte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Ohlmann in der Tür noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:

„Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!"

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab.

Wilh. Rühmanns Gefühlsverrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten Frühraorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Komstiege geschlafen habe. Noch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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322 XIII. Pessleb

ist vielmehr bei der gänzlich unglaubwürdigen Angabe geblieben, daß er den Knaben nur deshalb kaltblütig erschlagen habe, weil dieser ihn „geneckt" hätte.

Wilh. Duwe endlich ist, wie aus der Darstellung im Pitaval der Gegenwart a. a. 0. des näheren zu ersehen ist, trotz seines Geständnisses in der Hauptsache während der ganzen Untersuchung, und auch noch in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht, bei einer ganzen Reihe von Lügen in Nebenpunkten geblieben, und erst durch den Druck, den das Todesurteil auf ihn ausgeübt hat, ist er bewogen, mir am Tage nach der Verurteilung seine Lügen einzugestehen.

C: Züge unglaublicher Q^mütsverrohung.

Anton Giepsz und seine Mittäterin Ehefrau Eoßmieder zeigen, ganz abgesehen von der begangenen Bluttat, arge Züge einer nur als „viehisch" zu bezeichnenden Verrohung.

Als Giepsz seinen Logis wirt Eoßmieder auf dem Felde hinterrücks ermordet hatte und die blutende Leiche vor sich liegen sah, hatte er doch für Augenblicke die Wahrheit des Wortes an sich erfahren:

„Ein anderes Antlitz, eh' sie geschehen. Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat:"

Von Angst und Gewissensbissen gequält, war er querfeldein ge- laufen; das Mordbeil hatte er in den vorüberfließenden Bach geschleu- dert Zu Hause angekommen, hatte er sich dann weinend auf das Bett der Eheleute Eoßmieder geworfen; er war außer sich gewesen.

Bald aber hatte ihn die buhlerische Ehefrau des Ermordeten zu beruhigen gewußt, und es hatte das ehebrecherische Mörderpaar, wie es mir selbst zugegeben hat, im Ehebette des Erschlagenen den Beischlaf miteinander vollzogen, als das warme Blut des Gemordeten noch gen Himmel rauchte!

Nachdem Giepsz das oben geschilderte Geständnis abgelegt und am folgenden Tage in sichtlicher Erregung der Ehefrau Eoßmieder ihre Mittäterschaft ins Gesicht gesagt hatte, sollte er wieder ins Ge- fängnis abgeführt werden. Er bat noch eine Bitte vortragen zu dürfen. Ich glaubte, daß er unter dem furchtbaren Eindrucke der eben vollendeten Verhandlung etwa nach einem Geistlichen oder nach einem Gebetbuche verlangen würde, doch zum Erstaunen aller An- wesenden trug er vor:

„Ich bitte darum, daß ich jetzt morgens Wurst zu meinem Früh- stück bekomme!"

Clemens Jünemann war, wie er zugestand, nachdem er eben die Leiche seines von ihm ermordeten Landsmanns verscharrt hatte.

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 323

von der Mordstelle in den Eßsaal der Fabrikarbeiter geeilt, hatte dort den Schrank des Erschlagenen aufgebrochen und sofort in größter Gemütsruhe dessen Mundvorräte verzehrt.

Heinr. 0hl mann tat, als er mit den ersten, wenn auch noch von Lägen wimmelnden, Anfängen eines Geständnisses herauskam, ganz zerknirscht und verzweifelt und bat inständigst, seine Kinder, ein Paar kleine Knaben, sehen zu dürfen. Ich erfüllte seinen Wunsch . Als ich am folgenden Tage die Knaben hatte hereinführen lassen, brach Öhlmann in lautes Schluchzen und Weinen aus, nahm seine Kinder auf den Schoß und herzte und küßte sie leidenschaftlich. Dies dauerte aber nur wenige Minuten. Öhlmann benutzte die noch übrig bleibende Zeit des Zusammenseins mit seinen Kindern dazu, mir mit der größten Umständlichkeit auseinanderzusetzen, daß er vor dem Fenster seines Hauses noch eine Gans hängen habe, und er bat mich dringend, dafür zu sorgen, daß diese (N.B. von dem geraubten Blutgelde gekaufte!) Gans ja nicht verdürbe.

Als ich Öhlmann eröffnet hatte, daß nach Ablauf von vierund- zwanzig Stunden sein Kopf fallen würde, fragte ich ihn, wie üblich, nach seinen Wünschen in Beziehung auf leibliche Genüsse, erwähnte auch, daß ich ihm das Kauchen gestatten würde. Hierauf ließ ich den würdigen Gefängnisgeistlichen eintreten, und als dieser dem Ver- brecher den Trost der Religion in ergreifender Weise spendete, weinte und lamentierte Öhlmann heftig und laut, sodaß ich den Eindruck halte, er sei von tiefer Reue ergriffen und nur von dem Gedanken an seinen nahen Schritt in die Ewigkeit beherrscht. Als er dann wieder abgeführt werden sollte, drehte sich Öhlmann in der Tür noch einmal um und erklärte, noch etwas vortragen zu wollen. Mit Sicherheit erwartete ich eine wichtige, auf seine Tat oder doch auf sein sonstiges Vorleben sich beziehende Mitteilung. Als ich ihn aber aufforderte, sich auszusprechen, sagte er:

^Herr Staatsanwalt, ich wollte sie nur daran erinnern, daß Sie die Zigarren nicht vergessen, die Sie mir versprochen haben!"

Befriedigt zog er dann mit meinem ihm sofort gereichten Zigarren- vorrat ab.

Wilh. Rühmanns Gefühls Verrohung verrät schon die von ihm zugestandene Tatsache, daß er mit dem Plane, den Mord am nächsten Frühraorgen auszuführen während der ganzen Nacht vortrefflich in einer ihm zum Unterschlupf dienenden Kornstiege geschlafen habe. Noch mehr tritt aber seine Entmenschtheit durch sein folgendes Ver- halten zutage: Nachdem er eben seine, von ihm stets „Tante" genannte alte Wohltäterin mit eigenen Händen erwürgt und die Leiche an den

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324 XIII. Pessler

Kammertürpfosten aufgehängt hatte, stellte er zunächst, wie er selbst angibt, mit aller Kaltblütigkeit durch Befühlen des Pulses fest, ob der Tod auch zweifellos eingetreten sei. Dann bemächtigte er sich der im offenen Pulte liegenden Barschaft und eilte spornstreichs nach einem nahe dem Tatort gelegenen Arbeitsplatz. Hier rief er einen Arbeiter heran, dem er einige Mark schuldete, zeigte ihm mit Froh- locken die drei geraubten Goldstücke mit dem Bemerken, er habe eben den zweiwöchigen Lohn in dem Kaliwerke bekommen und wolle nun seine alte Schuld bezahlen. Dann ging er mit dem Arbeiter in die nächste Kneipe, ließ ein Frühstück auftragen und verzehrte mit den ungewaschenen Mordhänden Fleischwaren darunter Blutwurst mit größtem Wohlbehagen.

Heinr. Stolte hat das unglaublichste in der hier in Rede stehenden Richtung geleistet.

Wie schon mitgeteilt, hatte er seine Geliebte zu einem zärtlichen Stelldichein in ein einsames Gehölz bestellt, um sie dort zu erdrosseln. Sie sollte sterben, weil er fürchtete, sie sei schwanger geworden, und er werde nach der Geburt eines KindBs nicht nur zu Geldopfern ge- zwungen werden, sondern namentlich auch mit seiner „wirklichen Braut", einem in einem Nachbardorfe dienenden Mädchen, das etwas „Geld hatte" in ein Zerwürfnis geraten. Den Mordstrick hatte er in der Tasche. An einem Grabenrande setzte sich das Paar nieder, tauschte Zärtlichkeiten aus, und schließlich vollzog Stolte, wie er selbst eingesteht, und wie die später an der Kleidung des Mädchens durch den Mikroskopiker gefundenen Spuren bestätigen, mit dem von ihm auserkorenen Opfer rite den Beischlaf. Gleich nachdem ihm die Ahnungslose diese „höchste Liebeshuld" gewährt iatte, legte Stolte in erheuchelter Zärtlichkeit den linken Arm um die Schultern des Mädchens, zog heimlich mit der rechten Hand den Strick aus der Tasche, warf ihn seiner Geliebten um den Hals, erdrosselte sie und hängte ihre Leiche an der nahe stehenden Kiefer auf.

Wilh. Duwe vermochte es, wie aus dem Pitaval der Gegenwart näher zu ersehen ist, i) unmittelbar nach dem von ihm verübten Morde frivole Witze mit seiner gerade im Bett liegenden Ehefrau zu machen ; seine völlige Verrohung zeigte sich aber in seinen allerletzten Stunden, über welche ich im Pitaval der Gegenwart in Rücksicht auf den ausgedehnten Leserkreis dieses Sammelwerks keine Angaben gemacht habe:

1) Siehe dort auch die falsche Anschuldigung, welche Duwe noch am Abend vor der Vollstreckung des Todesurteils gegen einen ganz Unschuldigen wegen einer (von ihm selbst verübten) Brandstiftung machte.

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 325

In seiner letzten Nacht begann er mit den ihn bewachenden beiden Gefangenenaufsehern „sich gemütlich was zu erzählen^. Hierbei kam er auf das ihm in wenigen Stunden bevorstehende ^Köpfen" zu sprechen. Er sagte zu seinen Wächtern u. a. folgendes:

^Ich habe immer sagen hören, daß der Kopf eines Gerichteten, wenn er vom Rumpfe getrennt ist, noch sehen und denken kann. Wenn ich nun morgen früh geköpft bin, dann passen Sie einmal ordentlich auf. Hat mein Kopf dann noch Bewußtsein, dann will ich zum Zeichen hierfür dreimal die Zunge aus den Mundwinkeln herausstrecken !^ Hierbei machte er den Gefangenenaufsehern die entsprechenden Bewegungen vor.

Am folgenden Morgen ordnete ich Schlag 8 ühr die Vorführung Duwes behufs Vollstreckung der Todesstrafe an. Die Vorführung nahm etwas längere Zeit in Anspruch; als nach meiner Berechnung nötig war. Nach Vollendung der Hinrichtung berichtete mir der wegen dieser Verzögerung befragte Gefängnisinspektor folgendes:

„Duwe war, als ich zu seiner Vorführung in der Zelle erschien, gerade dabei, noch eine Tasse von dem ihm gereichten (guten und starken) Kaffee zu trinken. Als ich ihn zum Schafott führen lassen wollte, erklärte er, auf seine noch etwa halb gefüllte Tasse deutend: „Da (sc. der Kaffee) sali noch middel^S dann schlürfte er ruhig seine Tasse aus.

„Da sali noch midde!'' waren die letzten Worte, welche der entmenschte Verbrecher in diesem Erdenleben sprach.

Daß nicht nur bei Mördern sondern überhaupt bei hartnäckig leugnenden schweren Verbrechern sehr oft ganz eigentümliche Umstände, die der untersuchende Beamte gar nicht in Rechnung ziehen konnte, ganz plötzlich und unerwartet ein Geständnis zeitigen, welches durch die geschicktesten Vorhalte und den bestgemeinten Zuspruch nicht zu erreichen war, ist eine jedem Kriminalpraktiker bekannte Tatsache. Es ist uns mit unserem Fühlen und Denken oft gar nicht möglich, die psychologischen Vorgänge zu verstehen, die im Inneren des Ver- brechers durch einen anscheinend unerheblichen äußeren Umstand verursacht werden und ihn so zu sagen zwingen, plötzlich mit der Wahrheit herauszukommen.

Die vorausgeschickte kleine Kasuistik soll nun drei ziemlich häufige Umstände klar legen, welche die nächste Veranlassung zu den plötzlichen Geständnissen von leugnenden Verbrechern der schwersten Art gegeben haben. Diese Umstände sind:

1. Die mit unwiderstehlicher Gewalt in dem Beschuldigten auf- tauchende Wut und Empörung, die lediglich ihren Grund darin hat,

326 XIII. Pessler

daß in der Untersuchung oder Verhandlung etwas objektiv unwahres von den beteiligten Zeugen oder Sachverständigen vorgebracht wird, das den Widerspruch des Verbrechers herausfordert

2. Die Hinführung des Verbrechers zum Schauplatze seiner Tat und das damit verbundene innere Wiedererleben des Verbrechens in der Psyche des Schuldigen.

3. Der Einfluß, welchen die aus der Kindheit stammenden Reste von Mystik und anerzogener Religiosität auf den Verbrecher ausüben.

Daß der zu 1 gedachte „Geist des Widerspruchs" plötzlich ein Geständnis „hervorzaubert", habe ich schon recht häufig in meiner Praxis erlebt. Oft ereignete es sich, daß, wenn ein Zeuge ohne jede böse Absicht, lediglich aus menschlichem Irrtum, über ganz gering- fügige Nebenumstände etwas unrichtiges aussagte, und ich dann diesen Zeugen dem leugnenden Beschuldigten gegenüberstellte, der Verbrecher plötzlich in große Erregung geriet und mit den in den verschiedenen Fällen fast stereotyp wiederkehrenden Worte herausplatzte:

„Das ist aber nicht wahr, nun will ich auch alles sagen, wie es wirklich gewesen ist"

Darauf erfolgte dann schlank das bisher hartnäckig verweigerte Geständnis.

Hiemach erklärt sich ungezwungen die Genesis des plötzlichen Geständnisses von Jonas Segger.

Die ärztlichen Sachverständigen demonstrierten in der Haupt- verhandlung in Seggers Beisein mit ziemHcher Entschiedenheit, daß mindestens eine der Mordtaten höchstwahrscheinlich mit dem bei dem Angeklagten beschlagnahmten Schusterhamm^r ausgeführt sei; bei einer der ermordeten Personen sollten sogar einige Verletzungen mit der Platte, andere mit der Pinne des Hammers wahrscheinlich verursacht sein. Das war ja aber alles nicht wahr, sagte sich Segger, sein Schusterhammer war niemals von seinem Arbeitstisch fortgekommen, er hatte ein ganz anderes Werkzeug, ein Beil, zu seiner Tat benutzt!

Seggers Widerspruchsgeist regte sich mächtig gegen diese objektiv unrichtigen Schlüsse; noch mehr wurde er erregt, als ihm nun der Vor- sitzende die sich darauf gründenden Vorhalte machte.

Noch einen Augenblick hatte er Überlegung genug, nicht durch ein „Herausplatzen mit der Wahrheit" sich als Täter zu bekennen, als er aber gleich darauf in das Arrestantenzimmer abgeführt war dort über die von ihm gehörte und ihn empörende „Unwahrheit" nachgrübelte, trat für ihn jede andere Rücksicht in den Hintergrund, und er konnte seinem Drange selbst auf Kosten seines Kopfes nunmehr mit dem richtigen Sachverhalte herauszukommen und da-

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 327

durch zugleich die Sachverständigen (gewissermaßen triumphierend) ^abzuführend, nicht länger widerstehen. Die Eonsequenz dieser inneren Vorgänge war das Geständnis.

Der psychologische Vorgang, welcher sich bei H e in r. 0hl mann und bei Heinr. St ölte abspielte, als bei diesen durch die zu 2 er- wähnte Veranlassung, durch die Hinführung zum Tatorte^ plötzlich ein Geständnis „ausgelöst^ wurde, ist einfacher Natur.

Die Betrachtung des Tatortes^ oder auch nur die (gezwungene) Annäherung an denselben, rief in der Seele der beiden Verbrecher alle Einzelheiten ihrer Tat in der lebhaftesten Weise wach. Der Wider- stand, den sie bei der Verübnng ihrer Verbrechen in ihrem Innern hatten überwinden müssen, „die Hemmungen^, wie der psycho- logische Eunstausdruck lautet, traten mit Lebhaftigkeit vor ihre Seele, während die bei der Tat in ihnen herrschenden „Lustgefühle^ jetzt nach langem Zeitlauf und der Ausschaltung der bei der Tat vor- banden gewesenen Leidenschaft, verschwunden oder doch völlig in den Hintergrund getreten waren. Gezwungen durchlebten die Täter innerlich noch einmal die Einzelvorgänge, sie sahen mit ihrem geistigen Auge nochmals ihre Tat; aber jetzt mit „dem anderen Antlitz, das die voll- brachte Tat zeigt 1"^ Alles dieses übermannte die Schuldigen; es traten Angstgefühle in ihnen auf, und diese bewirkten jene „Spannung^ die sie gewaltsam „lösen^ mußten, und nur durch die Ablegung eines Geständnisses lösen konnten. Die Ablegung des Geständnisses war für die beiden (geistig normalen) Männer in gleicher Weise die „sie erlösende Tat", wie ja auch bei psychopathischen (nament- lich mit Zwangsgedanken behafteten) Persönlichkeiten irgend eine außer- gewöhnliche, meist gewaltsame, Handlung, das innere Gleichgewicht wenigstens momentan wieder herstellt.

Von ganz besonders hervorragender Bedeutung für die Entstehung von Geständnissen ist aber der zu 3 gedachte Einfluß, den der Best von Mystik und anerzogener Beligiosität selbst auf den verworfensten Menschen auszuüben vermag.

Das Einfallen der Bußtagsglocken im Augenblicke der Vorzeigung des Mordbeils riefen in Anton Giepsz, der ihm plötzlich vor die Augen tretende grinsende Schädel des Ermordeten rief in Clemens Jünemann (beide waren Eatholiken) plötzlich mystische und reli- giöse Empfindungen wach, die noch aus ihrer Enabenzeit stammten. Längst waren diese Empfindungen durch das Leben bei ihnen zwar abgestumpft, aber nicht getötet; sie schlummerten nur in ihrem Inneren, und mit elementarer Gewalt brachen sie blitzartig wieder hervor, als die Bedingungen für dieses Hervorbrechen plötzlich gegeben waren.

328 XIIL Pessler

Wie den vor dem Selbstmorde stehenden Faust das Osterlied und die Osterglocken wieder in die Zeit seiner Kindheit plötzlich zurückver- setzen und ihm „vom letzten ernsten Schritt zurückhalten^, so läuteten auch den hier genannten Verbrechern die Jugendglocken, ihr „Kinder- glaube" und ihre „Kinderfurcht^ trat für den Augenblick mit unbe- zwinglicher Kraft wieder in ihre Rechte und sie übten einen derartigen inneren Zwang auf die sonst hartgesottenen Sünder aus, daß alle GegenvorstelluDgen, alle kühlen Überlegungen in den Hintergrund traten und sie gezwungen wurden, sich durch ein Geständnis Luft zu machen.

In ganz ähnlicher Weise ist auch das erste Geständnis des oben genannten Wilh. Duwe entstanden. Auch in ihm war es das Mystisohe, das er in dem Verhalten des Tieres, des vielumfabelten Hundes erblickte, das Gottesurteil, das für ihn darin lag, daß er meinte^ das Tier habe ihn als Mörder erkannt und „gerichtet^, was ihn unwiderstehlich zwang, ein Geständnis seines Verbrechens abzulegen.

Beispiele der hier geschilderten Art wird jeder erfahrene Kriminal- praktiker erlebt haben; namentlich wird er bestätigen können, wie auch oft der eigentliche „Aberglaube'' eines Verbrechers bei irgend einem geeigneten Anlaß plötzlich ein Geständnis hervorgebracht hat

Wenden wir uns nun zu den Lügen der in der Hauptsache ge- ständigen Verbrecher über anscheinend ganz nebensächhche Punkte. Daß ein derartiges Manöver immer wieder kehrt, steht für jeden er- fahrenen Praktiker fest.

Von den Kollegen, mit denen ich diese „kuriose Tatsache'' be- sprochen habe, sagen einige: „Es läßt sich kein stichhaltiger Grund für diese Lügen in Nebenumständen ermitteln/ Andere meinen: „Es ist entweder geradezu eine Art Sport, den sich die Verbrecher durch Lügen in Nebenumständen leisten, oder es ist der in solchen Personen vorhandene Hang zum Lügen. Oder aber ein noch vorhandener Rest des Widerstandes, alle Umstände der Wahrheit gemäß anzu- geben, treibt die in der Hauptsache Geständigen zum Lügen in Neben- punkten.''

Gewiß mag in Einzelfällen der Hang zum Lügen des Rätsels Lösung sein, denn gerade wie bei gewissen Arten psychopathisch be- lasteter Personen findet man auch unter den schweren Verbrechern recht viele „habituelle Lügner", die, nicht etwa aus Berechnung, um Vorteile zu erlangen, sondern lediglich deshalb die Wahrheit ver- drehen, weil sie ;;das Lügen nicht lassen können".

Von größerer Erheblichkeit zur Erklärung unseres Kuriosums dürfte ein fernerer Umstand sein:

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 329

In zahlreichen Fällen und so in fast sämtlichen in unserer Kasuistik angeführten Beispielen war das Geständnis in der Haupt- sache durch einen impulsiv wirkenden mächtig hervorbrechenden inneren Trieb ausgelöst, der durch ein ganz bestimmtes äußeres, auf die Psyche des Verbrechers überwältigend einwirkendes Ereignis ver- ursacht war. Diesem „Triebe^ war der Verbrecher gefolgt und deshalb war er mit dem Geständnis in der Hauptsache s. z. s. „herausgeplatzt^. Zurück konnte er nicht mehr, zumal die untersuchende Behörde die von ihm angegebenen HauptzUge der Tat sofort nachgeprüft hatte und es dem Geständigen klar geworden war, daß jetzt ein Widerruf gänzlich zwecklos erschien. Nun trat aber mit der wieder eingetretenen Buhe und berechnenden Überlegung ein anderes Gefühl in dem Ver- brecher auf: Er schämte sich, daß er als Lügner dastand. Ja, so wunderbar es klingt, dieses Schamgefühl finden wir bei Verbrechern, denen sonst „das Schamgefühl im weiteren Sinne längst abhanden gekommen ist. Geht nun „der Inquirent^ mit seinem logischen Sezier- messer an die Erörterung der Nebenpunkte, die zum Teil schon vor der Ablegung des Geständnisses wahrheitswidrig angegeben waren, so sucht „der Inquisit^, eben weil er sich schämt, in allen Punkten gelogen zu haben, sich noch einen Schein von Wahrheitsliebe da- durch zu retten, daß er in diesen nebensächlichen Tatsachen wider besseres Wissen bei seinen unwahren Angaben beharrt, indem er der Hoffnung ist, in diesen Nebensachen werde ihm geglaubt werden.

Ganz abgesehen von unseren wenigen hier angeführten Beispielen habe ich den geschilderten psychologischen Vorgang schon in zahl- reichen anderen Fällen zu beobachten Gelegenheit gehabt. Geradezu mit einer gewissen Entrüstung sagt der in der Hauptsache völlig ge- ständige Verbrecher, wenn man auf einen offenbar noch lügenhaft dargestellten Nebeopunkt zu sprechen kommt: „Nein das ist aber genau so, wie ich es gesagt habe; weshalb sollte ich denn auch in diesem Punkte etwas unwahres angeben, wo ich doch nun alles ein- gestanden habe und meine Strafe kriege?'^ Diese Bedewendung ist bei Individuen, wie wir sie hier im Auge haben, nach den von mir gemachten Erfahrungen geradezu stereotyp.

Übrigens ist es nebenbei bemerkt das Schamgefühl, das den Verbrecher in manchen Fällen abhält, trotzdem er sich selbst überführt glaubt, überhaupt ein Geständnis abzulegen. Der Schuldige kann es nicht über sich gewinnen, sich als Lügner zu be- kennen. Ganz besonders schwer wird es ihm, der bisher hartnäckig geleugnet hat, gerade demjenigen Untersuchungsbeamten gegen- über, den er beharrlich „angelogen hat", mit der Wahrheit heraus-

330 XIII. Pessleb

zukommen. Es wird deshalb auch oft mit Erfolg das ^changer les cavaliers" im üntersuchungsverfahren angewendet, indem man den leugnenden Beschuldigten durch einen anderen Beamten als denjenigen, den er bereits wiederholt angelogen hat, nochmals vernehmen läßt. Diesem neuen, ihm bisher unbekannten Beamten gegenüber tritt das Schamgefühl des Schuldigen nicht so stark hervor, und seine Über- windung, die früheren Lügen zu bekennen, geht rascher vonstatten. Besonders leicht wird dem bisherigen Lügner die Überwindung des Schamgefühls, wenn der neueintretende „Inquirent" nicht, wie bisher, ein höherer Justizbeamter (Richter oder Staatsanwalt), sondern ein Polizist, Gendarm oder dergleichen ist. Derartigen Organen gegen- über kommen die Verbrecher, wie auch ein Teil unserer Beispiele zeigt, leichter mit einem Geständnis heraus wie gegenüber den höheren Strafjustizbeamten; vielleicht, weil sich Personen der erstgenannten Art leichter der ganzen Denkungsweise des zu Vernehmenden anzupassen wissen wie der „studierte** Richter oder Staatsanwalt.

Man soll den Grund für das Lügen der im übrigen geständigen Verbrecher über einzelne von dem untersuchenden Beamten als „nebensächliche Punkte" angesehene Tatsachen aber nicht von vornherein in dem Hange zum Lügen oder in dem Schamgefühle des Beschuldigten suchen, sondern man muß vor allen Dingen danach forschen, ob es nicht doch aus Berechnung geschieht, ob nicht die von uns als gleichgültig angesehene Tatsache, ,;der Nebenpunkt*' nach der Anschauungsweise des Verbrechers (der ja in der Regel weder juristisch noch logisch genügend gebildet ist, um die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der Einzeltatsache und ihren Einfluß auf das Urteil richtig zu erkennen) sich nicht als eine wesentliche Tatsache, als „ein Hauptpunkt" darstellt; ob nicht der Verbrecher den ihm klar bewußten Zweck hat, durch das Lügen über die hier in Rede stehenden Tatsachen sein Verbrechen irgendwie zu beschönigen und dadurch ein günstigeres Urteil zu erreichen.

Bei Anwendung gehöriger Sorgfalt wird es gewiß in vielen Fällen gelingen, den Zweck, den der Verbrecher mit seinem Lügen verfolgt zu ermitteln, und hat man einen solchen Zweck einwandfrei fest- gestellt, so fällt selbstverständlich das auf den ersten Blick so wunder- bare in dem geschilderten Verhalten der in der Hauptsache geständigen Täter fort.

Es kommt vor, daß ein in allen Hauptpunkten völlig ge- ständiger Verbrecher, der über einige durchaus für die Beurteilung der Sache gleichgültig erscheinende Punkte beim Lügen blieb, wenn er seine Strafe bereits angetreten hat und an seinem Urteil nichts

Ein Beitrag zur Psychologie der Mörder. 331

mehr zu ändern ist, bei einem gelegentlichen Vorhalt über das ^albem^ erschienene Lügen gutmütig grinsend sagt: ^Ja, Herr Staatsaanwalt, ick harre aber doch wat derbie!^ Dann setzt der Mann den Zweck seiner Lüge auseinander, und es fällt wie Schuppen von den Augen, wenn man sich ganz in die Seele und die krause Denkungsweise des Verbrechers hereinversetzt hat

Versuchen wir einmal, bei einigen der von uns angeführten Beispielen den Zweck zu ergründen, den die im übrigen geständigen Mörder mit ihren Lügen in Einzelpunkten verfolgten, und schicken wir erläuternd voraus, daß Mörder fast immer sehr genau wissen, wieviel auf das Moment der Überlegung bei der Tat und auf den Grad dieser Überlegung ankommt Jedenfalls merken sie dies im Laufe der Untersuchung, bei der ja naturgemäß auf denjenigen vor, bei oder nach der Tat liegenden äußeren Umständen, aus denen auf den inneren Vorgang der Überlegung Schlüsse gezogen werden können, wieder und wieder (venia sit verbo) „herumgeritten wird".

Clemens Jünemann hatte, wie wir gesehen haben, nachdem er sich überzeugt, daß mit seinem ersten Leugnen jeder VTissen- Schaft von der Todesursache seines Landsmanns nichts zu erreichen war, noch in der Hauptverhandlung mit großem Geschick die Taktik verfolgt, die Sache auf eine „gerechte Notwehr'*, mithin auf eine straflose Handlung, hinauszuspielen.

Als ihm dann infolge der oben geschilderten psychologischen Vorgänge das Geständnis in der Hauptsache mit unwiderstehlicher Gewalt über den iQ7Log ddövrcov geglitten war, trat sofort bei ihm wieder die Berechnung soweit in ihre Bechte, daß er das Moment der Überlegung bei Ausführung der Tat durch erlogene (und, wie er glaubte), nicht zu widerlegende Tatsachen, um möglicherweise den Kopf noch zu retten^ auf ein Minimum herabzuschrauben suchte. Aus diesem Grunde wollte er nicht zugeben, daß er die Tat „von langer Hand" vorbereitet, indem er bereits früh am Abend die Hab- sehgkeiten seines Opfers aus dem Schlafsaal beseitigt, daß er stunden- lang vor der Gasbereitungsanstalt herumgelungert hatte, um den rechten Augenblick zum Morde zu erspähen.

Er hoffte noch immer (was übrigens auch aus verschiedenen von ihm geschriebenen Briefen hervorgeht) mit einer zeitigen Freiheits- strafe davonzukommen.

Traf aber seine Hoffnung ein, so durfte er, wie er weiter über- legte, auch nicht zugeben, daß der Ermordete um schwere von ihm (Jünemann) begangene Verbrechen gewußt hatte, denn sonst hätte er neue schwere Straftaten bekennen müssen, die ihm mindestens eine

332 XIII. Pessleb

erhebliche Verlängerung seiner Freiheitsstrafe eingetragen haben würden. (Die Straftaten, um die der Erschlagene wußte, waren offenbar weit schwererer Natur als die nachher von Jünemann eingeräumten Dieb- stähle!)

Daß Jünemann auch im letzten Augenblick vor der Vollstreckung der Todesstrafe nicht mit der Wahrheit herauskam, erklärt sich aus der bekannten Hoffnung der zum Tode Verurteilten von der „Be- gnadigung im letzten Augenblick^.

Heinr. Ohlmann versuchte durch die lügenhafte Angabe, er habe seine Tante in derjenigen Schlafkammer erschlagen, in der die Leiche gefunden wurde, die Sache als einen (vielleicht nach §214 RS.G.B. erschwerten) Totschlag vor den Geschworenen hinzu- stellen. In der fr. Schläfkammer stand der Koffer, aus dem er die Wertpapiere gestohlen hatte, und nach seiner Angabe sollte seine Tante auf den Diebstahl zugekommen sein. In diesem Augenbliel^ wollte er die Von ihm allerdings schon in eventum vorher be- schlossene — Tötung mit der bereit gestellten Latte verübt haben. Dann wollte er, in Verzweiflung darüber, daß ja sonst seine Tat so- fort an den Tag kommen würde, auch seinen Neffen erschlagen haben. Diese Darstellung klang nach Ohlmanns Ansicht doch ganz anders und für ihn günstiger, als wenn er die (im letzten Augenblicke ein- gestandene) Wahrheit angab, daß er seine (arglos Würste holende) Tante in der Vorratskammer heimtückisch beschlichen und getötet, und dann, den geeignetsten Augenblick ruhig abwartend, auch seinen Neffen erschlagen hatte.

Bei seiner Lüge über das Mordwerkzeug hat Öhlmann, wie ich glaube, folgenden wenn auch etwas sonderbaren Ideengang verfolgt:

„Eine Staketlatte ist ein viel harmloseres Werkzeug als der schwere Eisenteil einer Schute, setzt du deshalb an die Stelle der wirklich gebrauchten Schute die Latte, so sieht die ganze Sache milder aus, als wenn du der Wahrheit gemäß zugibst, daß du gleich mit der (sicher tötlich wirkenden) Schutenöse zugeschlagen hast^ min- destens kann doch für die Begnadigungsfrage die nicht zu wider- legende Lüge von Wichtigkeit sein!"

Heinr. Stolte, ein überaus aufgeweckter, ja intelligenter Mann, hat im wesentlichen denselben Zweck bei seinen Lügen ver- folgt, wie Ohlmann.

Seine Angaben, daß er seine Geliebte, als er sie bereits zwei Tage vor der Tat zu einem abendlichen Stelldichein in ein einsames Gehölz bestellt hatte, nicht schon bei dieser Gelegenheit töten wollte,

Ein Beitrag zur Psyehologie der Mörder. 333

fiolUe die ÄDnahme von der Hand weisen, daß sein Mord „yon langer Hand^ geplant war, daß er sich die Sache schon mindestens mehrere Tage überlegt hatte.

Eine Eonsequenz dieser Lüge war die fernere, daß Stolte ab- tstritt, sich bereits 3 Tage vor der Tat den Mordstrick in der Werk- statt des Nachbarn angeeignet zu haben, denn gab er diese wahre Tat- sache zn, so gestand er damit ja wieder ein, daß er schon am Tage vor der Bestellung des Mädchens zu dem ersten Stelldichein, also mindestens drei Tage vor der Tat selbst, diese bereits eingehend über- legt hatte.

Auf eine Einschränkung des Moments der Überlegung lief es auch hinaus, daß Stolte nicht zugab, er selbst habe, um ein Zuziehen der Schlinge zu erleichtem, den Messingring an den Strick gebunden, und daß er bestritt, er habe dem Mädchen die ausführlichen Angaben über den von ihm zum verabredeten Platze einzuschlagenden Weg gemacht

Endlich erklärt sich auch der Zweck seiner lügenhaften Angabe, er habe, abgesehen von dem Mordabende, nur einmal mit der Magd Geschlechtsverkehr gehabt, wenn man Nachstehendes berücksichtigt:

Stoltes Bestreben ging dahin, den Glauben zu erwecken, daß er durch das Verhalten seiner Geliebten selbst aufs äußerste zu seiner grausigen Tat gereizt sei, er wollte so halb und halb behaupten, das Mädchen hätte eigentlich selbst Schuld daran^ daß er es ge- tötet habe.

Seine Geliebte hatte ihm (und zwar, wie sich bei der Leichen- öffnung herausstellte, irrtümlicherweise) einige Tage vor dem Morde gesagt, sie sei von ihm schwanger. Stolte suchte nun glauben zu machen, daß das Mädchen sich jedenfalls von einem anderen habe schwängern lassen, er aber „Vater spielen^* und die Folgen tragen sollte. Dieses von ihm als „empörend^ geschilderte Verhalten des Mädchens sollte der Stachel gewesen sein, der ihn zu dem Morde hingerissen hatte. Um eine solche mindestens für die s. g. „Gnadeninstanz^ möglicherweise erhebliche mildere Auffassung seines Verbrechens hervorzurufen, gab Stolte nur einen einmaligen Bei- schlaf mit dem Mädchen, welchen er überdem (wie aus anderen An- deutungen hervorgeht) anscheinend unter Anwendung s. g. Präservativ- mittel vorgenommen haben wollte, zu, indem er seine Meinung, das Mädchen könne von ihm nicht geschwängert worden sein, dadurch zu motivieren suchte.

Wilh. Kühmanns Lügen über die Herkunft des bei der Tat gebrauchten Strickes erklären sich in derselben Weise wie die gleich-

334 XIII. Pessler

artigen Lügen des Heinr. Stolte. ßübmann wollte den Glauben er- wecken, daß er die Einzelheiten der Ausführung seines Plans erst überlegt habe, als er beim Hause seines Opfers angelangt war. Gab er nun aber der Wahrheit gemäß zu, daß er den Mordstrick schon auf dem ziemlich weit vom Tatort liegenden Felde zu sich gesteckt hatte, so gestand er damit ja ein, daß er schon zu dieser Zeit über das Aufhängen der zu Ermordenden eingehend nach- gedacht hatte.

, Für Kühmanns zweite Lüge über den Nichtgebrauch der Schürze bei dem Erdrosselungsakte kann ich den von dem Verbrecher dabei ver- folgten Zweck nicht angeben, ich glaube aber sicher, daß er auch hierbei ein bestimmtes Ziel im Auge gehabt hat

Joseph Jankowski, der jugendliche degenerierte und ver- wahrloste Gewohnheitsdieb und Müßiggänger besaß trotz seiner „moral insanity'^ im früher modernen Sinne eine gerade derartigen Leuten oft innewohnende Schlauheit. Er war gerieben genug, sich zu sagen, daß seine Tat als eine ganz besonders schwere und raffinierte an- gesehen werden würde, wenn er der Wahrheit gemäß zugab, daß er den Knaben getötet habe, um einen von ihm geplanten schweren Dieb- stahl bei seinem Dienstherm zu ermöglichen. Aus diesem Grunde, und um eine vorhergegangene Reizung zur Tat ins Feld zu führen, gab er an, er habe den unschuldigen neunjährigen Jungen nur des- halb ermordet, weil dieser ihn vorher geneckt habe.

W i 1 h. D u w e endlich hat, wie im Pitaval der Gegenwart aus- führlich angegeben ist, durch sein nach der Fällung des Todesurteils abgelegtes neues Geständnis selbst eingehend zugegeben, welchen Zweck er bei den einzelnen, in seinem früheren Geständnis enthaltenen Lügen mit großer Hartnäckigkeit verfolgt hat.

Wenn ich als „Eigentümlichkeit" unserer besprochenen Mörder eine Anzahl Züge von besonderer „Verrohung" hervorgehoben habe, so kann man, glaube ich, nicht behaupten, daß diese Züge bei Leuten, welche die Tötung eines ihrer Mitmenschen mit Über- legung ausführen, nichts besonders bemerkenswertes sind. Ich glaube vielmehr, daß die in dieser Eichtung angeführten Tatsachen denn doch weit über das selbst bei einem Mörder vorauszusetzende Maß der Verrohung hinausgehen.

Wie es Anton Giepsz und seiner Genossin Ehefrau Koßmieder überhaupt physisch möglich war, im Ehebette des Ermordeten, als dessen Leiche noch nicht erkaltet war, sich der geschlechtlichen Wollust hinzugeben; wie der einzige Gedanke des Giepsz unmittelbar nach der {selbst die beteiligten üntersuchungs-

Ein Beitrag zur Psychologie der Morder. 335

beamten aufs tiefste erschütternde) Geständnisszene sein konnte, die Erlangung von Wurst zu erstreben; wie es zu ei^klären ist, daß Clemens Jünemann unmittelbar nach dem grausigen Morde mit Appetit die dem Erschlagenen gehörenden Mundvorräte verzehren konnte, und daß Wilh. Rühmann nach Erdrosselung der alten Frau trotz der ungewaschenen Hände, unter deren Nägeln noch die Haut- fetzen vom Halse der Getöteten kleben mußten, mit größter Behaglich- keit ein Blutwurstfrühstück einzunehmen vermochte, wie H e i n r. Ö h 1 - mann unmittelbar nach den geschilderten ergreifenden Szenen nur an die vor seinem Fenster hängende Gans und an die ihm versprochenen Zigarren denken, wie Wilh. D u w e seine letzten Stunden zu frivolen Witzen benutzen konnte, erscheint sehr schwer begreiflich. Noch weit schwerer begreiflich aber ist es, daß Heinr. Stolte, den Mordplan im Herzen und den Mordstrick in der Tasche, das ahnungslose, von ihm dem Tode geweihte Mädchen in heißer Sinnen- lust umfangen, und daß er, unmittelbar nachdem seine Geliebte sich ihm hingegeben hatte, diese erdrosseln konnte!

Die geschilderten Züge von völliger Gemütsverrohung, die man, wenn sie in einem „Schauerromane" erzählt würden, als plumpe, ekel- hafte Unglaublichkeiten ansprechen würde, scheinen mir denn doch za Betrachtungen Anlaß zu bieten, die ich der berufeneren Feder eines Psychologen oder Kriminalpsychiaters überlassen zu müssen glaube.

Zum Schluß seien mir noch einige Bemerkungen gestattet.

Man könnte einwerfen, daß ich in einigen Fällen Lügen der in der Hauptsache geständigen Mörder behauptet habe, wo nicht durch die endlichen Schlußgeständnisse und eine Nachprüfung (wie bei Öhlmann und Duwe) die Lügen als solche festgestellt sind, daß also die von mir auf Grund eines „Indizienbeweises" ausgesprochene Meinung, es handele sich tatsächlich um Lügen, irrig sein könnte. Gewiß gebe ich als alter Kriminalpraktiker die Möglichkeit eines Irrtums in dem einen oder anderen Falle zu, ich kann aber versichern, daß sowohl ich als meine sonstigen den Akteninhalt genau kennenden Kollegen einen derartigen Irrtum für ausgeschlossen halten. Sollte ein solcher aber trotzdem in einem Einzelfalle in Betracht kommen, so dürften doch wenigstens bei Unterstellung der Richtigkeit meiner Ansicht, die erörterten Fälle zum weiteren Nachdenken, und vielleicht auch zu weiteren Ausführungen, über den Erfahrungssatz von dem „Lügen der in der Hauptsache geständigen schweren Verbrecher in Einzelpunkten'' Anlaß zu bieten geeignet sein.*)

1) Vgl. Hans Groß, ^ Kriminalpsychologie", 2. Aufl., p. 132ff.

336 XIII. Pessler

Da ich mich bei meiner „aus dem vollen Menschenleben** ge- griffenen Plauderei nur auf eine Verbrecherkategorie, auf Mörder, beschränkt habe, sei es mir gestattet, noch zu erwähnen, daß in den innerhalb des letzten halben Jahrhunderts in unserem Herzog- tum geführten Prozeßen wegen Mordes nur eine Freisprechung meines Wissens erfolgt ist (die rechtliche Qualifikation der Tat war in einzelnen Fällen eine verschiedene), daß von den zum Tode verurteilten 18 Personen nur vier, und zwar ein Baub- mörder und drei Giftmörder, ohne Geständnis der Tat selbst verurteilt, und daß von diesen zum Tode verurteilten Per- sonen eine Begnadigung (zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe) nur in vier Fällen stattgefunden hat. (In drei Fällen handelte es sich um Mädchen, die ihr wenige Wochen altes Kind getötet hatten, im vierten Falle waren nach der Verurteilung Bedenken über das Vorliegen des Moments der Überlegung aufgetaucht). An den übrigen 14 Personen ist die erkannte Todesstrafe vollstreckt. Ungesühnt sind seit 66 Jahren nur vier Morde geblieben.

Endlich ist es vielleicht nicht ohne Interesse zu erfahren, daß bei den im Herzogtum zur Sprache gekommenen Verbrechen der vorsätzlichen Tötung in zahlreichen Fällen der Täter einen Un- glücksfall oder einen Selbstmord des Getöteten in äußerst geschickter Weise vorzutäuschen versucht hat Dieses Manöver hat mich dazu veranlaßt, in den s. g. Leichensachen ^ trotz aller Kedereien über „das viele unnütze Obduzieren und Sezieren" mit ganz besonderer Sorgfalt zu verfahren.

XIV. Meuchelmord zweier Friseurlehrlinge.

MHgvtsOt Ton Dr. Biohard Bauer» k. k. StaatsanwaitBBabstitnt in Troppau.

Sonntag den 11. November 1906 nach 8 Uhr abends kamen die Friseturlehrlinge Adolf R. nnd Oustay W. mit der Kunde zu ihrem Lehrherrn S., welcher in dem kleinen Städtchen H. einen Friseurladen hatte, daß der Gehilfe Moritz H. oben in der Dachkammer tot in seinem Blute liege. Diese Dachkammer war 3,5 m breit, 2,7 m tief, und standen in derselben die Betten des Gehilfen Moritz H. und der Lehrlinge R. und W. Der rasch herbeigeholte Gendarm fand die Leiche des Moritz H. zwischen der Tür und dem Bett auf der Erde liegen, die linke Hand ausgestreckt mit geballter Faust, die Finger der rechten Hand eingebogen, die Füße übereinandergeschlagen, den Kopf in einer ziemlich großen Blutlache liegend. Auf den Bettpolstem fanden sich feuchte Blutflecken, unter dem Bett lag ein blutbeflecktes Taschenmesser, und auf einem Teller lag ein mit Bleistift beschrie- bener Zettel, auf welchem die Worte standen: ;,bei normalem Ver- stände habe ich mich erschlagen". Die am 14. November 1906 vor- genommene Obduktion ergab nachstehende Wunden am Haupte des Moritz H.:

1. Am linken Stirnbein eine 1,5 cm lange, etwas klaffende, blutig suffundierte, nicht ganz bis auf den Knochen reichende, fast scharf- randige, elliptisch geformte Wunde.

2. Am Schläfenbein, 5,5 cm oberhalb der linken Ohrmuschel, eine oberflächliche, die Haut in ihren obersten Schichten nur leicht trennende, 1,5 cm lange Wunde mit blutig suf fundierten Bändern.

3. Am linken Scheitelbein 11,5 cm vom linken Augenbrauen- bogen entfernt eine 1,5 cm lange, bis auf den Knochen reichende, dreieckig gestaltete, zu den zwei vorhergehenden fast parallel ge- stellte, scharfrandige, mit noch hellem Blute bedeckte Wunde.

Arehir fttr Kriininalanthropologie. 27. Bd. 22

338 XIV. Bauer

4. Von dieser 2 cm entfernt eine auf die Kichtung der letzteren senkrecht stehende, gleichfalls 1,5 cm lange, scharf randige, elliptisch geformte, bis auf den Knochen reichende, blutbedeckte Wunde.

5. In der Höhe des oberen Randes der rechten Ohrmuschel eine 1,5 cm lange, die Haut durchsetzende, nicht bis auf den Knochen reichende, scharfrandige, elliptische Wunde.

6. 1 cm von letztbeschriebener Wunde rechts hinten, oben ent- fernt eine 2,5 cm lange, stärker klaffende, bis auf den Knochen reichende, scharfrandige Wunde.

7. Bei den zwei letztbeschriebenen Wunden eine 1,5 cm lange, scharfrandige, klaffende, nicht ganz bis auf den Knochen reichende Wunde.

S. Auf der Höhe des Scheitels eine 1,5 cm lange, nur die oberen Schichten durchtrennende, scharfrandige Wunde.

9. Über dem Hinterhauptbein 10,5 cm vom oberen Rande der linken Ohrmuschel entfernt, eine 1,5 cm lange, klaffende, bis auf den Knochen reichende, scharfrandige Wunde.

10. Am rechten Stirnbein, unmittelbar über dem rechten Auge, begrenzt von der klaffenden Umrandung der Augenhöhle und vom Augenbrauenbogen eine 3,5 cm lange, stark klaffende, scharfrandige, etwas dreiekig gestaltete Wunde, welche vom äußersten Rande des Augenbrauenbogens von innen oben nach unten leicht schräge ver- läuft. — Das obere Augenlid ist blutig unterlaufen. Nach Entfer- nung der Weichteile von der letzterwähnten Wunde präsentiert sich eine etwas ovale, vom äußeren Augenbrauenbogen bis zur Mitte der Ohrmuschel reichende, 8 cm lange, nach unten convex verlaufende Knochenwunde, von welcher der obere Teil 1,5 cm gegen das Schädel- innere hineingedrückt ist. Zwischen den bloßgelegten Knochen- wänden ist in einer Ausdehnung von 5,5 cm das Stirnhirn durch- zutasten.

Auch ein Arzt wurde bald nach dem Auffinden der Leiche ge- holt, welcher nach der Untersuchung der Wunden erklärte, daß wahr- scheinlich — ein Selbstmordl vorliege. Diese Äußerung veran- laßte den Gendarmen und die Behörde, nicht sofort mit der größten Energie die Erhebungen durchzuführen. Erst, als bei näherer Über- legung die UnWahrscheinlichkeit eines Selbstmordes immer stärker und der Verdacht schon laut ausgesprochen wurde, daß Moritz H. von den beiden Lehrlingen W. und R. ermordet worden sei, wurden dieselben am 13. November 1906 verhaftet und dem im selben Orte befindlichen Gerichte überstellt Nachdem die Burschen zuerst an- gegeben hatten, daß sie den H^ in Notwehr töteten, schritten sie bald

Meuchelmord zweier Friseui-lohrlinge. 339

zu einem umfassenden Geständnisse, laut dessen sieb die Mordtat folgendermaßen abspielte. W. und K. hatten ' scbon seit einigen Wocben die Ermordung des ibnen mißliebigen Gehilfen H. beschlossen und einigten sich endlich dahin^ denselben mit einer Holzhacke, welche sie schon durch einige Zeit im Bett des W. versteckt hatten, umzu- bringen.— Sonntag den 11. November 1906 legte sich Moritz H., der sich diesen Tag etwas unwohl fühlte, gegen 4 Uhr nachmittags in seiner Dachkammer zu Bett, und bald darauf verabredeten die Bur- schen bis ins kleinste Detail den nun zur Ausführung zu bringenden Plan. Als sie sich vor 7 Uhr abends zu H. in die Dachkammer begaben, lag dieser auf seinem Bett und las bei dem Scheine einer Kerze die Zeitung. H. schickte nun die beiden Jungen in ein Gast- haus um ein Nachtmahl, welches die Beiden wohl brachten, allein dasselbe im Vorhause stehen ließen und mit der Ausrede, es sei noch nicht fertig, ohne dasselbe zu H. in die Kammer zurückkehrten.

Während sich nun W. zu IL auf den Rand des Bettes setzte und ihn im Scherze auf der Brust kitzelte, stellte sich unbemerkt mit erhobener Hacke an dem Kopfende des Bettes auf und führte nun einen Hieb auf den Hinterkopf des H., welcher die Hände aufhob und zu schreien begann, worauf nun B. noch einige Schläge auf das Haupt des H. sausen ließ, während ihm indessen W. die Hände hielt. Nun schlug W., welcher inzwischen die Hacke von R. über- nommen hatte, zweimal heftig auf das Gesicht des H., „damit dieser nicht so lange leiden müsse,^ und verursachte ihm so die unter 10. angeführte Verletzung. Da sich nun H. nicht mehr rührte, zogen ihn nun W. und R. vom Bett herunter und legten ihn auf die Erde. Beide Burschen beschlossen nun, einen Selbstmord des H. zu mar- kieren. — Erst befestigte W. einen Strick an einem in der Mauer befindlichen Nagel, ließ aber bald von diesem Vorhaben ab, da er einsah, daß ein Aufhängen bei dieser Sachlage nicht glaubhaft er- scheinen würde. Dann ließ W. durch R. aus einer Tasche des toten H. ein Notizbuch herausziehen, und schrieb unter Nachahmung der Schriftzüge des H. den schon anfangs erwähnten Zettel. W. wischte nun die blutige Hacke ab, versperrte die Dachkammer, und beide Burschen begaben sich zum Mühlgraben, warfen den blutigen Fetzen, mit dem die Hacke gereinigt worden war, ins Wasser, steckten dann die Hacke in das Eellerfenster. Hierauf nachtmahlten sie in der Küche, gingen dann in die Dachkammer, um gleich darauf mit der Schreckensnachricht zu ihrem Lehrherm zu eilen, der sich sofort mit ihnen auf den Tatort begab.

Erwähnenswert wäre noch, daß W., als er vom Arzte den Selbst-

22*

340 XIV. Bauer

mord bestätigen hörte, sein Taschenmesser mit Blut befleckte und unter das Bett des H. legte, wobei er sich mit R. besprach, eventuell anzugeben, daß er dieses Messer vor einiger Zeit dem H. verkauft hatte. Am 12. November 1906 schrieb W. an einen Bekannten eine Postkarte des Inhalts, daß sich der Gehilfe H. erstochen habe.

Viel erörtert wurde in dieser Strafsache der Beweggrund, der die beiden jungen Burschen zu einer so gräßlichen Tat veranlaßt haben könnte.

Beide gaben übereinstimmend an, daß sie deshalb über H. so erbittert gewesen seien, weil er sie öfters beim Meister „verklatscht** habe. Es wurde festgestellt, daß der Gehilfe H. ein äußerst gut- mütiger Mensch war, der die Lehrjungen nicht nur nicht quälte, sondern sich sogar von ihnen manche Frechheiten gefallen ließ. Nur manchmal, wenn sie es schon zu arg trieben, machte er dem Meister Mitteilung, welcher sie dann hie und da mit einer Ohrfeige bedachte.

Nach anderen Motiven wurde nach allen Richtungen, allein ver- gebens, geforscht, so daß man annehmen muß, daß diese gering- fügige Ursache die beiden Burschen zu dem Mord veranlaßte.

Gustav W. ist am 12. Januar 1890 geboren, wird von seinem Meister als intelligent, aber unaufrichtig geschildert. Die Leitung einer Schule, welche er von 1896 1900 besuchte, gab ihm nach- stehendes Zeugnis: „Verleumdet, lügt, ist roh und hinterlistig!''

Bei der Hauptverhandlung sprach W. fließend und unbefangen, suchte sich in ein möglichst vorteilhaftes Licht zu setzen und die geistige Urheberschaft auf R. zu wälzen.

Adolf R. ist am 17. März 1891 geboren, wird als verlogen, trotzig und unintelligent bezeichnet. Sein Benehmen machte den Eindruck, als ob er unter dem geistigen Einflüsse des W. gestanden wäre.

Beide genossen die gewöhnliche Volksschulbildung.

Bei der am 21. Januar 1907 abgehaltenen Schwurgerichtsverhand- lung wurden W. und R wegen des Verbrechens des Meuchelmordes zu schwerem Kerker in der Dauer von 8 Jahren verurteilt.

XV. Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur.

Von

Dr. jur. Hans Sohneiokert, Berlin.

la unserer Zeit der BeformbestrebuDgen auf dem Gebiete des Strafprozesses und Strafvolizages verlohnt es sich, einen Blick auf die ßeformbestrebungen unserer Vorfahren zurückzuwerfen und jener Männer zu gedenken, deren aufklärenden Schriften wir vor allem die Abschaffung menschenunwürdiger Beweismittel im Strafverfahren, be- sonders der Tortur, in Europa verdanken, und die sich in der Ge- schichte der Eriminalgesetzgebung ein dauerndes Denkmal gesetzt haben. Der ganze Kampf gegen die kriminalistischen Terroristen des Mittelalters ist reich an interessanten Tatsachen, und gar manches goldene Wort jener humanen Vorkämpfer für strafprozessuale Freiheit und Schonung hat heute noch nicht an Wert verloren.

Es sei mir gestattet, hier einige kurze sachdienliche Daten aus der Geschichte der Tortur vorauszuschicken. Die Folter (tortura), die im 13. Jahrhundert mit dem römischen Recht aus Italien nach Deutschland übernommen und nicht nur bei Angeschuldigten, namentlich Leibeigenen, sondern auch nicht selten bei Zeugen und Klägern zur Erpressung von Geständnissen angewendet wurde, beruht auf dem Glauben, daß die Gottheit durch dieses Gewaltmittel, wie beim Duell^ Schuld oder Unschuld auf eine außerordentliche Weise erklären und auf keinen Fall zugeben werde, daß ein Unschuldiger unterliege. Der römisch e Strafprozeß war nach dem Grundsatze: nemo judex sine actore ein Anklageprozeß; erst allmählich wurde neben dieser Prozeßart auch die Berechtigimg eines Verfahrens „per inquisitionem,^ also ohne Ankläger, in der Gesetzgebung anerkannt, bis schließlich der Inquisitionsprozeß mit allen seinen grausamen Zwangsmaßregeln und Beweismitteln allherrschend wurda Kein Volk der Erde blieb eigentlich von der strafprozessualen Tortur verschont ^), auch die hoch-

1) Eine aasf&hrliche and zuverlässige Qaellensammlung bietet Franz Belbing in seinem Werke „Die Tortur** (Verlag von Dr. P. Langenseheidt,. Beriin-Gr.-Lichterfelde).

342 XV. SCHNEICKERT

kultivierten Völker machten hiervon keine Ausnahme, zeichneten sich vielmehr noch dadurch aus, daß sie sich in der systematischen Grau- samkeit gegenseitig überboten.

Fast fünfzehnhundert Jahre verstrichen, bis man die Unzuverlässig- keit und Ungerechtigkeit jenes grausamen Zwangsverfahrens begriffen hatte und durch die Gesetzgebung dem Mißbrauch der Tortur Ein- halt gebot. Und zwar geschah dies zum Teil schon durch die Caro- lina, die auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahre 1532 zum Reichsgesetz erhobene „Peinliche oder Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.". Die Carolina spielte im Kriminalrecht des Mittelalters eine sehr bedeutende Rolle und blieb nicht ohne Einfluß auf die Partikulargesetzgebung der nachfolgenden Zeit. Nur wenige Gesetze deutschen Ursprungs sind so häufig herausgegeben, übersetzt, erläutert, ergänzt, gelobt und getadelt worden wie die Carolina. Aber gerade durch diese Bearbeitungen wurde der Weg zu reiferen Versuchen ge- bahnt, den human gesinnte Kriminalisten und Philosophen mutig betraten.

Wie eine Erlösung aus Jahrhunderte langer demütigender Kerker- haft wurde das um die Mitte des 18. Jahrhunderts erschienene Lebenswerk Montesquieu' s „De Pesprit des lois** in der gebildeten Welt empfunden.!) Dieses in dreißig Bücher eingeteilte Werk, dem Montesquieu zwanzig Jahre seines Lebens gewidmet hat und das einen großen Schritt vorwärts in der Befreiung der Menschheit von unwür- digen Gesetzen bedeutet, erlebte sehr zahlreiche Veröffentlichungen, Erläuterungen und Übersetzungen und wurde in Europa vielen neuen Gesetzesentwürfen zugrunde gelegt. Von ihm sagte Voltaire: Uhumanite avait perdu ses titres, Montesquieu les a retrouvvs. Folgende Stelle aus Band VI, Kap. IX, ist für den Geist seiner Grund- sätze sehr bezeichnend: La severite des peines convient mieux au gouvernement despotique, dont le principe est la terreur, qu'ä la monarchie et ä la republique qui ont pour ressort Vho7ineur et la vertu, Dans les etats moderes, Vamour de la patrie^ la honte et la crainte du hlame sont des motifs reprimants qui peuvent arreter bien des crimes. La plus grande peine d'une mauvaise action sera d'en Stre convaincu. Les lois civiles y corrigeront done plus ais^ment et nauront 2)as besoin de taut de force. Dans ces etats, un bon legislateur s'attachera moins a punir le^ crimes qua les prevenir.

Sechzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Werkes schrieb der Mailänder Marquis Caesare Bonesano de Be|ccaria (1735 1794)

1) Die Literaturangaben sind dem „Handbuch der Literatur des Kriminal- rechts" von Georg Wilhelm Böhmer (Göttingen 1S16), entnommen.

Die Strafrechtsreformer aus dem Zeitalter der Tortur. 343

ein Buch „Über Verbrechen und Strafen", dem Montesquieu's Werk als Vorbild diente und das gleichfalls von hoher Bedeutung für die Kriminalgesetzgebung Europas wurde. Selbst in Deutschland, wo die Stimme des Reformers Christian Thomasius (1655—1728) fast un- gehört verhallt war, begründete Beccaria's Werk eine auf humaner Basis beruhende Periode des Kriminalrechts.

In einer Dissertation 0 ^ „Principis cura leges" (Leipzig 1765) ver- teidigte Karl Ferdinand Ho mmol, ohne den in Deutschland damals noch ganz unbekannten Beccaria gelesen zu haben, einen großen Teil der von diesem aufgestellten Grundsätze. Einige davon seien hier zitiert:

1. Härte schadet, übertriebene Gesetze werden lächerlich und am wenigsten gehalten. . . Als man die Hexen verbrannte, gab es deren viele; jetzt, da man sie nicht verbrennt, gibt es deren keine mehr.

2. Wir haben kein charakteristisches Kennzeichen von einem göttlichen allgemeinen Positivgesetze. Alle Kennzeichen, welche man seitlier davon gegeben hat, trügen.

3. Ich wünschte, daß die Strafen, welche bloß aus einer üblen Anwendung der mosaischen Gesetze entstanden, unter dem Trommelschlage abge- schafft und für jüdische erklärt werden möchten, weil das mosaische Gesetz uns ganz und gar nichts angeht

4. Man muß Sünde, Verbrechen und verächtliche Handlungen nicht unter einander wei-fen. ... Es kann etwas schändlich, es kann etwas sünd- lich und doch bürgerlich kein Verbrechen sein.

Freilich fehlte es in jener Zeit auch nicht an Vertretern des kriminalistischen Rigorismus, unter denen vor allem der Leipziger Kirchenlehrer Benedikt Carpzov (1595—1666) hervorragt. Er wurde zwar als Verfasser des ersten ausführlichen Systems des deutschen Kriminalrechts der „Vater der Kriminalisten" genannt, war aber ein fanatischer Anhänger der Todesstrafen. Von ihm wird berichtet, daß er im Laufe seiner richterlichen Tätigkeit gegen 20000 Todesurteile, namentlich in Hexenprozessen, veranlaßt habe.

Doch blieben bei der fortschreitenden Erkenntnis der Ungerechtig- keit grausamer Strafen und Zwangsmaßregeln die Gegner der Tortur in der Mehrheit. Von ihnen verdienen noch folgende genannt zu werden :

Johann Christian Quistorp, der in einem „Entwurf zu einem Gesetzbuch in peinlichen und Strafsachen" (1782) die Tortur gänzlich verwirft: „Das barbarische Mittel, durch Schmerzen oder andere zu- gefügte Übel jemand zum Bekenntnis oder Geständnis der Wahrheit

1) Dissertatio extemporanea praescripti argumenti praesente Ser. Sax. Eleo- tore D. Friederico Augusto, d. XXX Aprilis 1765 defensa.

344 XY. SCHNEICKEBT

bringen zu wollen, . . . soll künftig unter keinen Umständen weiter stattfinden, selbst ancb nicht einmal zur Herausbringung der Mit- sohuldigen ferner angewandt werden.^

Gal. AI. Klein sehr od verlangt in einer (1798 in Halle er- schienenen) Schrift: „Das Strafsystem beruhe auf Gelindigkeit und größtenteils richtiger Proportion zwischen Verbrechen und Strafen. Das peinliche Verfahren zeichne sich durch Pünktlichkeit und Schonung der Rechte der Menschheit aus/

Karl Freiherr von Dalberg fordert in seinem „Entwurf eines Gesetzbuches in Eriminalsachen^ (Leipzig 1792) , daß durch die möglichst gelindesten Mittel das möglichst größte Gute bewirkt werde. „Es ist unbillig und demjenigen zuwider, was ein Mensch dem andern schuldig ist, wenn man einem Verbrecher mehr Leid zufügt, als wegen der öffentlichen Sicherheit unumgänglich nötig ist"

Die Schriften des Wiener Professors der Staatswissenschaften, Joseph von Sonnenfels (1732—1817), des deutschen Montesquieu, haben nicht nur auf die Kriminalgesetzgebung seines Vaterlandes, sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten einen wohltätigen Einfluß ausgeübt. Hervorzuheben ist seine Schrift: „Memoire sur PaboUtion de la torture^ und seine „Grundsätze aus der Polizei etc.^ (3 Bde., Wien 1765). v. Sonnenfels war als Kommissions- mitglied auch an den Vorarbeiten zu dem „Neuen Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen in den k. k. deutschen Erbstaaten" (Wien 1803) beteiligt.

Ernst Lorenz Michel Bathleff geht in seinem Buche »Vom Geist der Kriminalgesetze" (Hamburg 1777) von Montesquieu s und Beccaria's humanen Ideen aus und eifert ebenfalls gegen die Tortur. „Was soll man von den schrecklichen Werkzeugen des Todes halten, welche die sinnreichste Grausamkeit ausgedacht hat? Auch der größte Verbrecher erhält Mitleiden in dem Augenblicke, da er den Lohn seiner Taten empfängt, und es sollte den Gesetzen billig daran gelegen sein, daß man in diesem Augenblicke den Richter nicht mehr hasse als den Verbrecher.^

Auch Julius Graf von Soden bekennt sich in seinem Werk „Geist der deutschen Kriminalgesetze^ (Dessau 1782, Frankfurt 1792) als einen von dem edelsten Wohlwollen für Menschheit, der größten Achtung für Sittlichkeit und Menschenrechte belebten Kriminalisten.

Ebenso erklärt Ernst' Karl Wieland in semem Buche „Geist der peinlichen Gesetze^ (Leipzig 1783) die Tortur für gänzlich unzulässig.

Allmählich drang in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts das Verlangen nach einer menschenwürdigeren Strafgesetzgebung

Die Strafrecfatsreformer aus dem Zeitalter der Tortur. 345

in weite Volkskreise ein. Bezeichnend für diese neue Zeitströmung ist die Aussetzung verschiedener Preise, die der „Ökonomischen Ge- sellschaft in Bern'' von unbenannten Menschenfreunden zur Verfügung gestellt wurden für den Verfasser derjenigen Schrift, die nach dem Urteile dieser Gesellschaft den vollständigsten und ausführlichsten Plan einer Kriminalgesetzgebung nach bestimmten Anhaltspunkten darstellte, wobei u. a. als zu beachtende Grundsätze „möglichste Schonung im Untersuchungsverfahren, schleunige Bestrafung; größte Ehrfurcht für Menschlichkeit und Freiheit" vorgeschrieben wurden. Als Preis waren 50 Louisd'ors ausgesetzt. Voltaire erhöhte diesen Preis um weitere 50 Louisd'ors unter gleichzeitiger Erläuterung der Bemer Preisfrage in einer besonderen Abhandlung: „Prix de la justice et de Phumanit^ parPauteur de la Henriade.'' (Femey 1778; deutsch : Leipzig 1778, 120 S.)

Unter 44 fast aus allen Gegenden Europas eingelaufenen Preis- schriften wurde die folgende preisgekrönt: „Abhandlung von der Eriminalgesetzgebung von Hans Ernst von Globig und Johann Georg Huster." (Zürich 1783, 440 S.).

Jedenfalls hat die Bemer Preisfrage auch in Deutschland gute Früchte gezeitigt und manchen Bekämpfer der Tortur und Verfechter der Menschenwürde und Freiheit neu erstehen lassen ; sie trugen schließ- lich auch den Sieg über die kriminalistischen Terroristen davon, die noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein die Ausführung ihrer Ideen erlebten. Die Tortur wurde gesetzlich abgeschafft : in Preußen durch Friedrich den Großen 1740 (bzw. 1754), in Sachsen 1770, in Öster- reich 1776, in Bayern und Württemberg 1809, in Hannover 1822 und erst 1828 in Gotha.

Wenn wir auch heute unsere Kampfmittel nicht mehr gegen physische Tortur bereitzustellen haben, so doch gegen die fast ebenso empfindlichen psychischen Torturen der in ein Strafverfahren ver- wickelten Personen. Als eine dankenswerte Vorarbeit in diesem Sinne sind die Beschlüsse unserer „Kommission für die Reform des Strafprozesses" anzusehen, die u. a. eine viel schonendere Vorunter- suchung und eine Verbesserung der Bestimmungen über die Ver- hängung der Untersuchungshaft anstreben. Vergessen wir nie, daß auch im 20. Jahrhundert ein in jener Schreckenszeit geprägtes Wort noch volle Geltung haben muß: Uhumanite est un sixiöme sens!

XVI.

über eine gewisse Form von Erinnerungslücken und deren Ersatz bei epileptischen Dämmerzuständen

Von Dr. Clemens Gudden, Nervenarzt in Bonn a. Rh.

Vollständige Erinnerangslosigkeit bei epileptischen Dämmerzu- ständen ist ein bekanntes und allgemein anerkanntes Vorkommnis, bei dessen Verwertung in forensischen Fällen der sachverständige Arzt gegenüber Laien und Berufsrichtern nicht sehr häufig auf Wider- spruch oder Verständnislosigkeit stoßen wird, indem er unter Berück- sichtigung der allgemeinen ursächlichen Krankheitserscheinungen; kurz gesagt unter Nachweis der epileptischen Grundlage aus der absoluten Erinnerungslosigkeit des Angeklagten Rückschlüsse auf dessen verän- derten Bewußtseinszustand in der kritischen Zeit des Delikts macht. Es schließt eine derartige Deduktion sich eben zwanglos und glatt an die Forderung des § 51 Str.G.B. an. Schwieriger wird die Sache in foroy wenn die Erinnerung des Angeklagten sich als lückenhaft erweist. Doch auch für diesen Fall steht schon längst eine Unzahl von einwandfreien Beobachtungen zur Verfügung, auf Grund welcher den Richtern der Nachweis geliefert werden kann, daß die Erinne- rung an einzelne Phasen der inkriminierten Tat sehr wohl vereinbar ist mit der Annahme, daß sie trotzdem vollständig in einem krank- haft veränderten Bewußtseinszustand vollführt wurde und demgemäß straflos bleiben muß. Aus dem Vorhandensein einzelner „Inseln** klarer Erinnerung darf nicht der Schluß gezogen werden, daß zur fraglichen Zeit ein normaler Bewußtseinszustand bestanden hat (ViToUen- berg, Moeli).

Geradezu tragisch kann aber eine Verhandlung verlaufen, Wie wir kürzlich in einem Strafprozeß gegen einen Epileptiker gesehen haben (Fall Tessnow in Stralsund), wenn die Erinnerungslücken sich gerade mit einer Reihe strafbarer Handlungen decken, eine gute Er-

über eine gew. Form v. Erinnerungslücken u. deren Ers. b. cpil. Dämmerzust 347

innerung aber für gewisse Momente besteht, die zwischen den straf- baren Handlungen eingestreut sieh abgespielt haben und die teils die yerbrecherische Tat in milderem Licht erseheinen zu lassen, teils ihre Spuren zu verwischen geeignet sind und deren Betonung endlich auch von dem Angeklagten benutzt wird, um sich zu exkulpieren. Diese Konstellation hat trotz Vorhandenseins aller übrigen auch vielleicht von den Richtern anerkannten Grundbedingungen eines epileptischen Dämmerzustands das Mißtrauen erregt und den Gedanken an Simu- lation erweckt, was die Verurteilung zur Folge hatte. Siemerling sagt: „Es ist begreiflich, daß das eigenartige Verhalten der Erinne- rung: Haftenbleiben von belanglosen Ereignissen, Ausfall oft der wichtigen Daten mit besonderer Tragweite den Verdacht auf Simu- lation erweckt"; ja wenn schon diese Form der Erinnerungslücken Schwierigkeiten in der Beurteilung zu machen geeignet ist, um wie- viel mehr dann, wenn die Verhältnisse kompliziert wie oben ange- deutet liegen. Nur drängt sich unwillkürlich die Frage auf, mit welchem Recht wirkt eine solche auf den ersten Blick sicher frap- pierende Auswahl von Erinnerungsinseln verdächtig? Liegen innere Widersprüche vor, spricht die ärztliche Erfahrung dagegen oder ist sie nicht vielmehr unter Umständen geradezu eine Forderung des wechselnden Bewußtseinszustandes? Zur Beantwortung möchte ich folgenden Fall anführen, der einwandsfrei und ganz beziehungslos ist, insbesondere fehlt jeder Zusammenhang mit Kriminalität. Er eignet sich also gerade deshalb vorzüglich zu einer Exemplifizierung in forensischer Beziehung.

Frau X. aus Z., erblich belastet, hatte mit 17 Jahren einige epileptische Anfälle. Anfang der zwanziger Jahre heiratete sie, blieb von Anfällen verschont, gebar einige Kinder, die sich normal ent- wickelten. Im Frühjahr 1906 bekam Patientin zum erstenmal wieder einen kurz andauernden epileptischen Anfall; im Anschluß an ihn wurde Pat. verwirrt, sie halluzinierte in verschiedenen Sinnesgebieten, die Erregung steigerte sich, kurz ein postepileptisches Irresein machte ihre Aufnahme in eine Anstalt nötig. Nach mehrmonatigem Aufent- halt erfolgte die Rückkehr nach Hause. Das Befinden war annähernd normal bis Mitte Dezember. Damals trat wieder ein kurzer Anfall auf, an den sich ein ähnlicher Zustand anzuschließen schien wie im Frühjahr. Ich sah die Pat. am zweiten Tag der Erkrankung. Der Mann gab an, daß das Wesen der Pat. ihn ängstige, sie sei manch- mal merkwürdig still wie traumverloren, dann sei sie wieder ge- schäftig ohne rechtes Ziel. Sie habe angefangen, alte Briefe zu ord- nen und sich für Abend ein Bad bestellt. Während der ungefähr

348 XVI. GüDDEN

einstündigen Untersuchung wechselte das Wesen der Kranken ziem- lich häufig und stets ganz plötzlich. Bald beteiligte sich Frau X. mit Interesse an der Unterhaltung, ihre Form war verbindlich, dem Bildungsgrad entsprechend, sie gab klare und richtige Antworten, bald versank sie in einen schlaffen oder auch starren Zustand, in dem die Antworten zögernd, falsch oder auch gar nicht gegeben wurden und das Benehmen war dann im höchsten Grade unhöflich, brüsk. Einmal stand Fat triebartig auf, suchte den Ausgang des Zimmers zu finden, aber auf der falschen Seite, wo keine Tür war» Einmal nestelte Fat. in der Art, wie man es nach einem epileptischen Insult häufig beobachtet, an ihrer Bluse herum, so daß sie sich teil- weise entblößte, um wenig Minuten später in großem Schrecken über die ihr plötzlich zu Bewußtsein kommende Situation sich zu ent- schuldigen und zwar charakteristischer Weise folgendermaßen : Frau X. erklärte in dem Tone und der Form absoluter Glaubwürdigkeit, daß sie ein Bad habe nehmen wollen und da habe sie schon angefangen, sich auszuziehen, als sie durch meinen Besuch gestört worden sei. In Wirklichkeit hatte sie wenige Augenblicke vorher vor meinen Augen das Kleid geöffnet Ohne erhebliche Einwände zu machen, ließ sich Fat in eine Anstalt bringen. Von einem ihrer Kinder nahm sie traurigen Abschied und empfahl es dem Schutze der Um- gebung. In der Folge wurde der, etwa als besonnenes Delirium zu bezeichnende Dämmerzustand abgelöst durch schwerere Erscheinungen. Insbesondere des Nachts traten starke Erregungszustände auf, Fat sah Feuer, schrie heftig, drang auf das Fflegepersonal ein, während tagsüber tiefe Benommenheit vorherrschte. Nur ein kleiner Krampf- anfall trat noch auf. Nach einigen Wochen besserte sich das Be- finden. Für die Zeit der schweren Erkrankung bestand fast völlige Amnesie, nur ganz summarische Erinnerung, völlige Einsichtslosig- keit. Wenige Tage nach der Aufnahme, bevor noch eine Verschlim- merung des Zustandes eingetreten war, fiel die eigentümliche Form der Erinnerungsstörung auf, welche Fat. bezüglich der Vorgänge während der ersten Untersuchung darbot Am besten vergleichbar war das Erinnerungsbild mit einem grob durchlöcherten Sieb und zwar fehlte die Erinnerung ganz ausnahmslos und völlig für die Momente, in denen eine Änderung ihres Wesens zu konstatieren war, ihre Antworten zögernd oder unrichtig erfolgten und sie triebartige Handlungen vollzog. Diese Momente offenbar veränderten Bewußt- seins schienen auch mit einer Erweiterung der Fupillen einherzu- gehen, eine genaue Bestimmung ist leider unterblieben. Frau X. er- klärte ganz genau bei der Rekapitulation: „Das habe ich nicht ge-

über eine gew. Fonn v. Erinnerungslücken u. deren Ers. b. epil. Dämmerzust 349

sagt, das habe ich gesagt, das weiß ich, jenes ist nicht wahr, wie können Sie so etwas behaupten?'^ Pat. wurde trotz der Oleich gültig- keit der Tatsachen oft ganz unwillig, wenn sie einer Behauptung widersprechen zu müssen glaubte. Über ihr bekannte Vorgänge wußte sie ausführlich und richtig zu berichten. Absolut entfallen war ihr, um nur einiges anzuführen, daß wir über die Schule ge- sprochen, wo ihre Söhne waren, und daß sie den Namen der Lehrer nicht gewußt. Dagegen erinnerte sie sich sehr wohl des Abschieds vom Kinde, aber nicht, wer mit ihr im Wagen zur Anstalt gefahren war. Auf die Entkleidungsszene bin ich aus naheliegenden Gründen nicht zurückgekommen. Auf den Vorhalt, warum denn Pat. plötzlich ihre Briefe geordnet und ein Bad verlangt habe, erinnert sie sich des ersten Faktums nicht, wohl des zweiten, aber sie erklärte sofort das erste, sofern es wirklich richtig sei, mit einer schon längst gehegten Absicht und leugnet entschieden, Todesgedanken gehabt zu haben.

Die Analyse des geschilderten Falles ergibt unter Weglassung des Nebensächlichen folgendes: Eine Epileptika leidet an einem Dämmerzustand ohne allzu auffällige Erscheinungen, währenddessen aber doch, wie Siemerling treffend sich ausdrückt „ein schnelles Nebeneinander von anscheinend geordneten, gleichgültigen mehr unauf- fälligen Erscheinungen mit befremdlichen, unerwarteten zu beobachten ist^. Die spätere Untersuchung zeigt, daß die Erinnerung während dieser Periode erloschen ist für die diejenigen Vorkommnisse, die in einem veränderten Bewußtseins- zustand sich abgespielt haben; es sind das die auffälligen Vorkommnisse, welche dem Grundcharakter der Pat., einer sonst ver- ständigen, mit ziemlich gutem Gedächtnis begabten, gebildeten und auf äußere Form achtenden Frau, widersprechen. Erhalten dagegen ist die Erinnerung für jene Momente, in denen Pat. ihrem Grundcharakter (normaler Bewußtseinszu- stand) entsprechend sich gezeigt hatte. Und endlich dort, wo Pat das Bestreben hat zu korrigieren oder auffällige Tatsachen, die ihr nachträglich entweder durch Vorhalt oder eigene Erkenntnis zum Bewußtsein gekommen sind, zu erklären, da tut sie es in ganz natürlichem Bestreben, das ihr sonst fremde Be- nehmen in Einklang zu bringen mit ihrem normalen Empfinden und Handeln, aber ohne Rücksicht auf die objektive Wahrhaftigkeit

Übertragen wir nun die gefundenen Tatsachen auf einen beliebig konstruierten Kriminalfall und es steht dem nichts entgegen, da es sich nicht um prinzipielle Unterschiede handelt, sondern nur um

350 XVI. GuDDEÄ

eine Unterstreichung gewisser Symptome, ihre schärfere Betonung oder Färbung, so ergibt sich in erster Linie der zwingende Schluß daß die ausschließliche Koinzidenz der Erinnerungsinseln mit nicht belastenden Handlungen und Äußerungen keine Erscheinung ist, die bei dem urteilenden Richter Mißtrauen zu erregen braucht. Sie scheint vielmehr unter gewissen Umständen geradezu eine Notwendigkeit zu sein. Sehr oft, wenn ein im Dämmerzustand befindliches, natürlich nicht an sich verbrecherisches Individuum zu kurzer Klarheit auf- taucht, wird es durch das Einsetzen des normalen Denkens und Fühlens verpflichtet und befähigt, korrigierend in den Gang der bisher von einem fremden „Ich" geleiteten Handlungen einzugreifen, es wird z. B. die Spuren der mehr oder weniger scharf zur Wahr- nehmung bezw. Erkenntnis gekommenen strafbaren Handlung zu ver- wischen suchen, nach Ausreden fahnden, die den Eindruck bewußter Lügen machen. Dann wieder in den veränderten Bewußtseinsznstand versinkend wird es die verbrecherische Handlung vielleicht trotz- und alledem weiterfuhren und nach Wiederholung des Wechselspiels vollenden. Bei der späteren Vernehmung sind es dann nicht etwa nur nebensächliche Momente, an die sich der Angeklagte erinnern kann, während er das ihn belastende völlig vergessen hat, sondern es sind die Augenblicke, in denen er wirklich selbst, mit dem eigenen ^Ich" oder mit weniger krankhaftem Bewußtsein han- delnd eingegriffen hat. Daß dieses Eingreifen unter unsem Voraus- setzungen ein mehr oder weniger vernunftgemäßes, den Interessen des Individuums dienendes^ zweckmäßiges sein wird, ist klar. Für Simulation spricht dabei nichts. Der Nachweis solcher eigentümlichen Erinnerungsinseln ist also diagnostisch ebenso wichtig wie der Nachweis partieller Amnesie im allgemeinen, ,,die kaum oder schwerer als eine totale Amnesie zu simulieren ist" (Wollenberg). Als zweite auffällige Erscheinung, die den Gedanken an einen absichtlichen Täuschungsversuch aufkommen lassen könnte, imponiert in unserm Falle der Entschuldigungsversuch wegen des offenen Kleides. Er gleicht den Versuchen gesunder Ver- brecher, sich zu exkulpieren^ wie ein Ei dem andern. Den Laien und leider vielen Sachverständigen erscheint das Vorbringen solcher Unrichtigkeiten, falls es sich um einen Angeklagten handelt, höchst verdächtig aber sehr mit Unrecht, denn die scheinbare Ausrede oder „raffinierte Lüge" ist ein psychologisch notwendiger Versuch, einen Ausgleich zwischen bewußter Überlegung und krankhaftem unbewußten Handeln herbeizuführen. Daraus ergeben sich leicht auch viele Widersprüche dh. Abänderungen in den Erklärungsversuchen der

über eine gew. Fonn v. Erinnerangslückon u. deren Ers. b. epil. Dämmerzust. 361

Kranken. Damit glanbt man dann den Angeklagten der Lüge und Simulation „überführt" ansehen zu müssen. Als kriminelles Beispiel eines Erklärungsversuchs sei der Fall von Cramer angeführt, wo der wahrscheinlich einem epileptischen Dämmerzustand verfallen gewesene Exhibitionist die Tatsache, daß er mit dem Penis in der Hand ange- troffen wurde, dadurch erklären zu können glaubte, daß er auf der Promenade habe urinieren müssen. Der gewiß banal erscheinenden Entschuldigung wohnt nach unserer Beobachtung eine große Wahr- scheinlichkeit inne.

Nach Fertigstellung dieses Aufsatzes fand eine Gerichtsverhandlung in Dessau statt, in welcher ein ärztl. Gutachter wiederum glaubte aus der oben geschilderten Form von Erinnerungslücken Schlüsse ziehen zu müssen, deren Berechtigung oder Notwendigkeit ich nicht aner- kennen kann. Nach den Meldungen der Tagesblätter äußerte sich nämlich Herr Dr. von Feilitzsch-Dessau: „Zurzeit liegt eine geistige Störung beim Angeklagten nicht vor. Was seinen Zustand zur Zeit der Tat anbetrifft, so muß zugegeben werden, daß bei Epilepsie Zu- stände vorkommen können, sogenannte Dämmerzustände, die die freie Willensbestimmung ganz oder teil weite ^ aufheben. Er könne nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, daß Epilepsie vorliege. Es könne sich auch bei den Erampfanfällen um Reizzustände infolge von Alkoho- lismus gehandelt haben. Die von den Zeugen geschilderten Anfälle entsprechen ja ziemlich dem Bilde der Epilepsie, aber es handle sich um die Beobachtung von Laien, da sei immerhin ein Irrtum möglich. Ein Dämmerzustand würde aber der Umgebung aufgefallen sein. Die von den Zeugen bekundeten Vorgänge fallen durchaus nicht sämtlich in den Bahmen des Dämmerzustandes. Denn es ist auffällig, daß der Angeklagte sich verschiedener Umstände erinnert, anderer Umstände aber, die ihm ungünstig sind, sich nicht erinnert. Alles dies lasse ihn schwer dazu kommen, einen Dämmerzustand zur Zeit der Tat anzunehmen. Auch die Alkoholwirkung möchte er relativ recht gering anschlagen. Der Angeklagte habe am Nachmittag höchstens 174 Liter Schnaps getrunken; in Anbetracht dessen aber, was er vertrage, könne dies nicht als übermäßig großes Quantum gelten. Es sei also kein genügender Grund vorhanden, einen epileptischen Dämmerzustand an- zunehmen." — Wie die Berliner Blätter melden, lautete das Urteil gegen Galbierisch auf Todesstrafe.

XVII.

Einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die Identit&t

von Sachen oder Personen.

Von

Dr. Albert Hellwlg.

Schon des öftern sind in diesen Blättern Fälle mitgeteilt worden, wo Zeugen sich unglaublich geirrt hatten. Daß aber ein Mann eine fremde Frau, die mit seiner eigenen gar keine Ähnlichkeit hat^ für seine eigene hält, dürfte doch selten vorkommen. In emem kleinen Lokalblatt fand ich folgende Notiz: ^

„Braunschweig, 22. November. Daß jemand seine eigene Frau nicht erkennt, ein gewiß seltener Fall, ereignete sich am Sonnabend hier. Ein an der Eisenbüttelerstraße wohnender Straßenbahnführer hatte am Sonnabend Abend mit seiner Frau einen ehelichen Zwist, der damit endigte, daß die Frau erregt das Zimmer verließ. Nach kurzer Zeit hört der Zurückgebliebene im Garten, der nach der Oker führt, Lärm. Als er aus dem Hause trat, vernahm er, daß eben eine Frau in den Fluß gesprungen und ertrunken sei. Inzwischen hatte Herr Restaurateur Kaselitz die Selbstmörderin an Land geschafft und Wiederbelebungsversuche gemacht, die aber vergeblich waren. Als der Straßenbahnführer von dem Selbstmord der Frau hörte, glaubte er fest, es sei seine Frau, die in der Erregung in das Wasser ge- sprungen sei. Er trat an die Leiche heran und vermeinte, die Tote als seine Frau zu erkennen. Auch auf Befragen eines herbeigerufenen Polizeibeamten gab er seiner Ansicht bestimmten Ausdruck. Er zog der Toten den Trauring ab und nahm das Geld, das sie in der Tasche trug, an sich. Nachdem die Leiche im Ciss6eschen Leichenwagen in das Herzogl. Krankenhaus geschafft war, trat der betrübte Straßen- bahnführer wieder in seine Wohnung und suchte nach kurzer Zeit die Kammer auf, um sich zur Buhe zu begeben, soweit sein erregter

1) nlntelligenzblatt**, Wittenberge, 24. November 1904.

Eimge merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 853

ZuBtand eine solche zuließ. Da, was war denn das? Er glaubte zu träumen, denn im Bette seiner Frau regte es sich. Er stttrzt hinzu und findet seine Frau lebend. Die Tote war eine fremde Frau, deren Namen noch nicht festgestellt ist''

Ich bat darauf Herrn Bestaurateur Easelitz unter Übersendung jenes Zeitungsausschnittes um gütige Mitteilung, ob sich der Vorfall in der Tat so wie geschildert zugetragen habe. Herr Easelitz war so liebenswürdig, mir einen ausführlichen Bericht, sogar mit einem Situationsplan, zu schicken. Der Bericht enthält viele interessante Einzelheiten, welche es als angebracht erscheinen lassen, ihn hier ausführlich wiederzugeben, trotzdem die Angaben jener Zeitungsnach- richt im Großen und Ganzen durch ihn nur bestätigt werdefn. Die Zeitungsnotiz habe ich aber auch wörtlich angeführt, weil ich gleich- zeitig einen Beitrag geben wollte zu der von mir schon wiederholt berührten Frage, welchen Wert Zeitungsnachrichten für den Krimi- nalisten haben, worüber ich demnächst ausführlicher zu handeln gedenke.

An dem fraglichen Abend befand sich Herr Easelitz mit ver- schiedenen Stammgästen in gemütlicher Stimmung in seinem Lokal, als gegen 1 1 ühr abends zwei Straßenbahnschaffner eintraten mit der Bitte, doch schnell mit dem Kahne zu kommen, es hätte sich eben vor ihren Augen eine Frau ins Wasser gestürzt Schleunigst eilten sie durch den Bestaurationsgarten und bestiegen ein Boot. Ehe sie zur Unfallstätte kamen und die Leiche auffischen konnten, vergingen immerhin einige Minuten. Mittlerweile waren die beiden Schaffner zu dem Bewohner des Grundstücks gegangen, von dem aus sich die Frau ins Wasser gestürzt. Dies war ein gewisser Straßenbahnführer Kirstein, der auch mit Flaschenbier, Viktualien u. s. w. einen kleinen Handel treibt Die beiden Schaffner machten ihm Mitteilung davon, daß sich soeben ca. 20 m von seinem Grundstück eine Frau ins Wasser gestürzt hätte und ertrunken wäre.

Zufälligerweise hatte nun Kirstein kurz vorher mit seiner Frau sehr heftige Differenzen gehabt. Die Frau hatte sich daher in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und soll sich so aufgeregt haben, daß sie in Krämpfe verfiel. Wenigstens behauptet sie das und will damit erklären, daß sie von dem, was in den nächsten Minuten vor sich ging, nichts gehört haben ; dann will sie vor Müdigkeit in Schlaf ver- sunken sein und so von den lärmenden Szenen, die sich in den nächsten Stunden abspielten, nicht das mindeste wahrgenommen haben. Doch ist dies ja auch nur nebensächlich: Wichtig ist nur, daß der Streit der Eheleute ungewöhnlich heftig gewesen war, und daß die Frau in größter Aufregung von ihrem Mann weggegangen war.

Archiv für Krimi nalanthropologie. 27. Bd. 23

354 XVn. Hellwig

Als Kirstein daher von den beiden Schaffnern von dem Selbst- morde einer Frau bei seinem Grundstücke hörte, war er von vorn- herein fest überzeugt, seine Frau habe sich in der ersten heftigen Aufwallung das Leben genommen. Hierdurch wurde er aufs hef- tigste erschüttert, nahm die Tischlampe, deren Kuppel er in seiner Aufregung entzwei machte, und eilte mit den beiden Leuten in den Garten. Schon dort glaubte er beim Scheine der Lampe in der mitt- lerweile ans Ufer gebrachten Leiche seine Frau wiederzuerkennen, weinte laut und war ganz außer Fassung. Unterdessen waren auch sein Bruder und seine Schwester, die mit ihm im selben Hause wohnten, durch den Lärm herbeigelockt, heruntergekommen. Mit ihrer Hülfe wurde die Leiche in das Zimmer getragen. Dort wurden Wiederbelebungsversuche gemacht^ aber vergeblich. Kirstein befand sich in einer furchtbaren Aufregung, er jammerte fortwährend laut, leuchtete der Leiche ins Gesicht und schrie in einem fort: „Ach, Emma, das durftest du doch nicht machen!^' Unterdessen war die Polizei von dem Vorfall benachrichtigt worden. Gegen 2 Uhr nachts kam der Wagen, um die Leiche abzuholen. Auf Anraten der Be- amten und Geschwister zog Kirstein der Frau den Trauring ab und nahm das wenige Kleingeld, das sich in der Tasche der Ertnmkenen vorfand, an sich. Sein Jammern hörte nicht auf.

Mit der Zeit legte sich doch die heftigste Aufregung, so daß sich die drei Geschwister die nötigsten Maßnahmen überlegen konnten. Kirstein meldete sich für den nächsten Tag vom Dienst ab, beschloß am frühen Morgen an die Eltern zu telegraphieren u. s. w. Plötzlich fiel ihm ein, seine Frau müsse doch entschieden mehr Geld bei sieh gehabt haben als die paar Pfennige, die sich in den Taschen der Leiche gefunden hatten. Die Schwester meinte, Frau Kirstein hätte das Geld vielleicht in der Tasche eines anderen Kleides gehabt oder habe sich vor der verhängnisvollen Tat erst umgezogen. Kirstein be- gab sich darauf in das Schlafzimmer und suchte nach den Kleidern seiner Frau. Da er nicht mehr recht wußte, welches Kleid seine Frau am Tage angehabt hatte, rief er seinen Geschwistern, die in der Wohnstube geblieben waren, zu: „Was hat sie denn angehabt?" Zu Tode erschrocken war er, als er plötzlich dicht neben sich von dem Bette seiner Frau eine Stimme hörte, die der seiner Frau aufs Haar glich und sagte: „Was ich angehabt habe, hängt da!" Wie vom Blitze getroffen, prallte Kirstein zurück und stürzte ins Wohnzimmer mit den Worten: „Jetzt glaube ich an Gott, soeben ist Emma als Geist in der Kammer!'' Nun wagte sich keiner mehr ins Schlaf- gemach; das beklemmende Gefühl, das sich aller bemächtigt hatte»

Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Per&onen. 355

wich erst, als bald darauf Frau Kirstein wohlbehalten in eigener Person erschien. Der Gedanke, daß die Tote nicht Eirsteins Frau gewesen sein könne und daß sich so die angebliche Geistesstimme auf sehr natürliche Weise erklären lasse, war niemand gekommen.

Soweit der interessante Bericht über den fraglichen Vorgang. Was den Irrtum Kirsteins ganz besonders wichtig macht, ist, daß ¥nn Kirstein und die Frauenleiche keine Spur von Ähnlichkeit mit- einander haben. Auffallen mußte schon, daß sie ganz andere Kleidung und Schuhe trug. Femer ist Frau Kirstein blond, die Leiche dagegen dunkel, auch war die Selbstmörderin augenscheinlich korpulenter und älter als Frau Kirstein. Auch in den Gesichtszügen bestand keinerlei Ähnlichkeit.

Und doch hat der eigene Ehemann die Tote nicht nur im Garten beim Lampenschein für seine Frau gehalten, sondern auch während dreier Stunden bei heller Beleuchtung er leuchtete der Leiche öfters ins Gesicht den Irrtum nicht gemerkt, hat der Leiche den Trauring vom Finger gezogen, der doch andere Buchstaben trug, hat ihr das Geld aus der Tasche genommen und sich nicht darüber ge- wundert, daß es nur ein paar Pfennige waren, hat vielmehr bis zu- letzt fest geglaubt, daß die Tote seine Frau wäre. Auch als ihm bei seinem Nachdenken über die Benachrichtigung, Beerdigung u. s. w., wobei er naturgemäß an die Kosten denken mußte, einfiel, daß seine Frau noch eine größere Summe gehabt haben müsse und daß sich dieses Geld doch irgendwo vorfinden müsse, auch da kommt er nicht auf den Gedanken, die Tote sei garnicht seine Frau gewesen. Ja, was noch viel wunderbarer ist, selbst als seine Frau ihn anrief, glaubt er, der sonst anscheinend nicht allzu gläubig veranlagt ist ^Jetzt glaube ich an Gott!^ einen Geist zu hören, stürzt aus dem Schlaf- zimmer heraus und traut sich nicht wieder hinein, da ihm auch nicht einen Augenblick der Gedanke kommt, seine Frau lebe noch und er habe sich nur geirrt, als er die Tote für seine Frau hielt. Bei Kirstein selber ist dieser auffällige Rekognitionsirrtum noch durch seine hoch- gradige Erregung zu erklären. Seine Frau hat nach heftigstem Streite das Zimmer verlassen; kurz darauf wird ihm mitgeteilt, daß eine Frau sich soeben vor seinem Grundstück ertränkt habe« Daß er da auf den Gedanken kam, diese Selbstmörderin müsse seine Frau sein, ist nur allzu natürlich. Als er draußen beim ungewissen flackernden Lampenlicht, von dieser Voreingenommenheit schon befangen, die Leiche sah, setzte sich in ihm der Gedanke, daß dies seine Frau sei, unumstößlich bei ihm fest. Die Möglichkeit eines Irrtums kam ihm keinen Moment Durch diese autosuggestive hochgradige Befangen-

23*

356 XVII. Hellwig

heit ist es auch erklärbar, daß Kirstein auch drinnen in der Stube seinen Irrtum nicht merkte, trotzdem er stundenlang bei der Leiche war, mit ihr in engste Berührung kam, indem er Wiederbelebungs- versuche machte, die Leiche aufs genaueste betrachtete, indem er ihr mit der Lampe ins Gesicht leuchtete. Vielleicht sah er wohl rein körperlich die großen Verschiedenheiten in Körpergestalt, Gesichts- zügen, Haarfarbe und Bekleidung darauf scheint zu deuten, daß er der Leiche offen ins Gesicht leuchtete , aber er nahm sie nur wahr, ohne sich ihrer bewußt zu werden. Er war fest überzeugt da- von, die Tote sei seine Frau und übertrug nun die ihm bekannten Züge seiner Frau auf die Leiche, so daß er in der Tat seine Frau zu sehen glaubte. Es handelt sich also um eine duch Autosuggestion hervorgerufene Illusion. Für die Stärke dieser Illusion autosuggestiven Charakters ist ganz besonders bezeichnend, daß sie selbst der Geister- stimme stand hielt: Eher hielt der sonst nicht leichtgläubige Kirstein die Stimme für die Stimme des Geistes seiner Frau als für die seiner Frau selber. Ein solcher Grad von autosuggestiver Illusion ist zwar ungewöhnlich, läßt sich aber durch die Stärke der Autosuggestion, die in den ganzen Umständen begründet war, immerhin erklären. Schier unglaublich aber klingt es, wenn es nicht so sicher be- zeugt wäre, daß auch die minder stark an dem Ereignis Beteiligten, nämlich Kirsteins Geschwister, und die wenig beteiligten Dritten, die doch offenbar auch die Verstorbene kannten, die ganze Zeit sich in demselben Irrtum befunden haben. Eine gewisse Disposition war allerdings bei allen Beteiligten vorhanden: Bei den Geschwistern Kirstein, weil sie diesen kannten, bei den andern, weil die Frau sich bei Kirsteins Grundstück ertränkt hatte, weshalb sie zunächst an- nahmen, die Frau gehöre dorthin; aus diesem Grunde begaben sich ja auch die beiden Kollegen des Kirstein gleich zu ihm und machten ihm von dem traurigen Funde Mitteilung. Auch ist es durchaus ver- ständlich, daß alle Beteiligten zunächst der Überzeugung waren, es handle sich in der Tat um Frau Kirstein, da sie ja die feste Über- zeugung Kirsteins sahen, der doch seine Frau am besten kennen mußte. Merkwürdig aber» ist, daß diese Suggestivvorstellung auch bei ihnen so stark war, daß sie auch später die auffallenden Ver- schiedenheiten nicht bemerkten, ja selbst an die Erscheinung des Geistes der Frau glaubten und sich nicht ins Schlafzimmer herein- trauten, ebensowenig wie der Ehemann selber. Dieser vollkommen verbürgte Fall zeigt, in wie hohem Grade autosuggestive und suggestive Wahnvorstellungen die Wahrnehmungsfähigkeit trüben können.

Einige merkwürdige Fälle v. Irrtum über die Identität v. Sachen od. Pei-sonen. 357

Derartige erstaunliche Fälle von Irrtum über die Identität einer Person kommen häufiger vor. So stand in der Zeitschrift „Das Neue Blatt" (1904, Nr. 50), die ihre Notiz wiederum dem „Leipziger Tage- blatt" entnommen hatte, vor nicht langer Zeit ungefähr folgendes zu lesen. Im August 1904 war der vierundzwanzigjährige Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten Fr. aus Sachsen bei einem Geschäftsmann (Bleicher) in der Steckshoperstraße in Hamburg in Stellung. Der junge Mann war auf die abschüssige Bahn geraten, hatte schon mehrere Straftaten verübt und machte sich auch seinem Prinzipal gegenüber der Unterschlagung schuldig. Er flüchtete und schrieb an den Bleicher, er werde sich im Falle einer Anzeige erschießen. In der Nacht vom 25. zum 26. August wurde nun ein junger Mann in der Hudtwalkerstraße bei einem Einbruch bei der Witwe Zimmer- mann ertappt und verfolgt. Als er sah, daß es für ihn kein Ent- rinnen mehr gab, erschoß er sich auf der Flucht. In seiner Tasche wurde ein Zettel mit den Worten gefunden: „Ich heiße Moriturus. Forscht nicht nach mir!" Durch angestellte Erkundigungen und namentlich durch die bestimmte Aussage des Bleichers und anderer Personen, die mit Fr. verkehrt hatten, wurde der Erschossene als jener Fr. erkannt Auch die bei dieser Leiche gelegenen Sachen wurden von diesen Personen als dem Fr. gehörig bezeichnet. Durch diese Erklärungen wurde die Polizeibehörde genugsam überzeugt, daß man es in der Tat mit Fr. zu tun habe, und ließ die Leiche beer- digen. Der Vater des Fr. wurde von der Polizei von dem Vor- gefallenen benachrichtigt. Da der Vater auf die bei der Leiche ge- fundenen Sachen verzichtete, wurden sie vernichtet. Nach einigen Wochen tauchte nun aber plötzlich der wirkliche Fr. wieder auf. Man hatte also einen gänzlich unbekannten Menschen als den Sohn des sächsischen Fabrikanten rekognosziert und beerdigt. Der wirk- liche Fr., der sich zur Zeit des Einbruchs und des Selbstmordes des Unbekannten außerhalb Hamburgs befand, hatte sich in ver- schiedenen Städten verborgen gehalten, bis er in Bremen bei einem Einbruch erwischt wurde. Bei der gegen ihn eingeleiteten Unter- suchung kam auch die Unterschlagung bei seinem früheren Prinzipal, dem Bleicher in Hamburg, zur Sprache. Nachdem er in Bremen seine Strafe verbüßt hatte, wurde er nach Hamburg transportiert* Gegen Ende des Jahres fand auch dort die gerichtliche Verhandlung gegen ihn statt, und der Bleicher, der als Hauptzeuge geladen war, konnte sich überzeugen, daß er sich bei der Ermittelung der Persön- lichkeit des erschossenen Einbrechers gründlich geirrt hatte. Eine Ermittelung der Persönlichkeit des Erschossenen dürfte jetzt nur noch

358 XVII, Hellwio

durch einen Zufall möglich sein, da ja alle Erkennungszeichen, wie Kleidungsstücke usw., vernichtet sind.

Auch dieser Fall kann als durchaus feststehend erachtet werden, wenngleich ich ihn weder aktenmäßig, noch durch Darstellung eines Augenzeugen erweisen kann. Ich wandte mich unter Darstellung des Sachverhalts an die Hamburger Polizeibehörde mit der Bitte, mir womöglich die Akten zu übersenden. Diesem Wunsche konnte freilich nicht entsprochen werden, da die Hamburger Polizeibehörde grund- sätzlich an Privatpersonen keine Akten abgibt. Der Abteilungsvor- stand der Abteilung V (Wohlfahrtspolizei), Rat Dr. Stürken, war aber gleichzeitig so liebenswürdig mir mitzuteilen, daß die gegebene Schil- derung in allen wesentlichen Einzelheiten den Tatsachen entspreche. Ich hätte mich nun ja noch an das Hamburger Gericht wenden können, doch versuchte ich das gar nicht, einmal weil mir der Name des Verurteilten nicht bekannt ist, dann auch weil ich nicht erwarten konnte, irgend etwas wesentlich Neues zu erfahren.

Von Interesse wäre es gewesen zu erfahren, ob die Person des Selbstmörders und die des jungen Fr. einander auffallend ähnlich waren oder ob sie einander so wenig glichen, daß sie bei nicht voreingenommener Betrachtung unterschieden werden mußten; dann welche Gegenstände, die bei der Leiche gefunden waren, von dem Bleicher und anderen Personen als dem Fr. gehörig rekognisziert wurden, und ob diese Gegenstände überall vorhandene Fabrikware waren oder irgend welche charakteristischen Merkmale aufzuweisen hatten; endlich, welche Personen außer dem Bleicher den Fr. rekog- nosziert haben und wie weit sie ihn kannten.

Doch auch so ist der Fall schon interessant genug, besonders deshalb, weil es sich hier nicht wie im vorigen Falle um einen in großer Aufregung begangenen Irrtum bei der Rekognition handelt sondern um eine Rekognition psychisch nicht näher mit dem Be- treffenden in Verbindung stehender Personen, denen es im Grunde genommen gleichgültig sein konnte, ob derjenige, dessen Identität sie feststellen sollten, X. oder Y. war. Mit einer gewissen Voreingenom- menheit werden auch der Bleicher und die anderen an die Rekog- nition herangegangen sein. Hierzu wird besonders beigetragen haben der Brief an den Bleicher, in dem Fr. drohte, sich bei Entdeckung zu erschießen. Sollte nicht eine sehr große Ähnlichkeit des Selbst- mörders mit Fr. gegeben sein, so bliebe der Irrtum mehrerer ruhiger Personen- immerhin noch sehr merkwürdig.

Aber selbst unter der Annahme, daß Fr. und der Selbstmörder einander ähnlich waren zu beachten ist noch, daß zwischen dem

Einige merkwürdige Fälle v. Irrtom über die Identität v. Sachen od. Personen. 359

Verschwinden des Fr. und der Rekognition des Selbstmörders nur wenige Wochen liegen bliebe noch als sonderbares Faktum be- stehen die gleichzeitige Rekognition der Sachen des Selbstmörders als diejenigen des Fr. Es wird doch wohl kaum anzunehmen sein, daß auch diese einander auffallend ähnlich gewesen seien. Mag dies selbst bei dem einen oder anderen Stück, so z. B. bei einem Taschen- messer als einer Fabrikware, der Fall gewesen sein, so wird der Selbstmörder aller Wahrscheinlichkeit nach auch Sachen gehabt haben, in denen er sich auffällig von dem Fr. unterschied, z. B. Kleidungs- stücke. Weniger sonderbar erscheint uns aber das Faktum, wenn wir einmal selber in Gedanken versuchen festzustellen, welche Farbe der Anzug von Leuten hat, mit denen wir tagtäglich des öfteren in Berührung kommen, z. B. eines Kollegen oder unseres Wirtes oder Wirtin. Wenn die betreffenden Kleidungsstücke nicht gerade eine ganz auffällige Form oder Farbe haben, werden wir im allgemeinen über einen allgemeinen Eindruck über die Farbe nicht herauskommen. Verständlich ist es daher, daß jemand, der denjenigen, den er iden- tifizieren soll, seit mehreren Wochen nicht gesehen hat, die Kleidungs- stücke der betreffenden Person ohne weiteres als demjenigen ge- hörend anerkennen wird, für den er das Objekt der Rekognition hält, es sei denn, daß entweder die Kleidung der Leiche usw. oder dessen mit dem sie der Betreffende verwechselt hat, besonders auffallende Eigentümlichkeiten habe. Diese Überlegung zeigt, wie vorsichtig man bei der Rekognition namentlich auch von Sachen sein muß. Es können dabei optima fide die haarsträubendsten Irrtümer vor- kommen, namentlich wenn noch der Einfluß der Zeit hinzukommt. Es wird sich daher stets empfehlen, bevor man die Gegenstände zur Rekognoszierung vorlegt, ihre möglichst genaue Beschreibung von dem Zeugen zu verlangen. Dabei muß man sich natürlich davor hüten, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen, bei jeder nicht ganz geringfügigen Differenz zwischen Beschreibung der Sache durch den Zeugen und ihrem wirklichen Aussehen die Identifikation als mißlungen zu betrachten, da das Gedächtnis des Zeugen vielfach auch nicht mehr einwandfrei produzieren wird.

Jetzt will ich einen in anderer Hinsicht nicht minder interes- santen Fall mitteilen, für den mir nicht weniger als drei verschiedene Quellen zu Gebote stehen, nämlich ein Zeitungsbericht, eine beglaubigte Abschrift des gerichtlichen Urteils, sowie einige briefliche Mitteilungen des in dieser Sache als Verteidiger fungierenden Rechtsanwaltes.

Was zunächst die Zeitungsnotiz anbelangt, so stand am 23. Sep- tember 1904 im „Berliner Lokal-Anzeiger" folgendes zu lesen:

360 XVIL Hellwig

„Der Doppelgänger. Wie man sich beim Wiedererkennen von Personen täuschen kann, zeigte ein gestern vor dem Schöffengericht verhandelter Betrugsfall. Ein Mann namens Wiese, der seit Jahren in einem kaufmännischen Geschäfte tätig ist, wurde eines Abends in einer Restauration in der Friedrichstraße auf Veranlassung zweier Männer verhaftet, die ihn dort zufällig getroffen hatten und behaup- teten, daß er gegen sie einen Betrug ausgeübt habe. Nach ihren Angaben sind sie eines Abends in der Friedrichstraße von einem Manne angesprochen worden, der ihnen billige Goldsachen zum Kaufe angeboten habe. Der eine Zeuge habe auch einen der offerierten Gegenstände gekauft; es habe sich aber herausgestellt, daß dieser absolut minderwertig war. Die Zeugen behaupteten mit aller Be- stimmtheit, daß der Angeklagte der Verkäufer gewesen sei, was dieser ebenso bestimmt bestritt. Er wurde, nachdem er längere Zeit auf der Polizeiwache hatte zubringen müssen, wieder entlassen; aber die An- klage wegen Betruges wurde erhoben. Im gestrigen Termin konnte sein Verteidiger, Rechtsanw. Dr. Löwenstein, für ihn einen ganz un- anfechtbaren Alibibeweis führen. Der Angeklagte war nämlich zu seinem Glücke noch im Besitze einer Postkarte, laut deren Inhalt er daran erinnert wurde, daß er zu derselben Stunde, als er den Be- trug ausgeübt haben sollte, fernab von dem Tatort mit einem Herrn längere Zeit zusammengewesen war. Dieser bestätigte als Zeuge, daß Wiese unmöglich der Täter sein könne. Beide Belastungs- zeugen blieben dennoch unter ihrem Eide dabei, daß nach ihrer An- sicht jeder Irrtum in der Person ausgeschlossen sei. Der Gerichts- hof, der die volle Unschuld des Angeklagten für dargetan hielt, kam bei dieser Sachlage zu dem Schluß, daß letzterer einen Doppelgänger haben müsse. Er sprach den Angeklagten nicht nur frei, sondern legte auch die Kosten der Verteidigung der Staatskasse zur Last."

Aus dem Urteile des Schöffengerichts Berlin vom 20. September 1904 (140 D. 862/04) ergibt sich folgendes Bild der Sachlage. Am 18. Juli 1904 abends gegen 8V2 Uhr ging der Hausdiener Hensel die Mittelstraße zu Berlin entlang. Ein unbekannter Mann bot ihm eine angeblich wertvolle Ubrkette und einen Bing zum Kaufe an. Beide gingen hierauf wieder die Mittelstraße zurück und verhandelten über den Ankauf. An der Ecke der Neustädtischen Kirchstraße trat ein zweiter junger Mann an beide heran und fragte nach dem Wege nach Schöneberg, wobei er kurze Zeit stehen blieb und erfuhr, daß es sich um den Verkauf der Uhrkette und des Ringes handele. Als dieser junge Mann dem Hensel bestätigte, daß beide Gegenstände wertvolle Stücke seien, entschloß sich Hensel zum Kaufe für den

Einige merkwürdige Fälle v, Irrtum über die Identität v. Sachen od. Personen. 361

Preis von 6 Mark. Später stellte sich heraus, daß Kette und Eing fast wertlos waren. In der Hauptverhandlung haben nun die Zeugen Hensel und Denner den Angeklagten ,^mit ziemlicher Bestimmtheit'^ als diejenige Person wiedererkennen wollen, welche dem Hensel zu dem Kaufe zugeredet hat. Denner hat bei dem ganzen Vorgang in einiger Entfernung auf der Straße gestanden. Hensel glaubt sich zu erinnern, daß der betreffende junge Mann damals eine weiße Weste getragen habe. Dem gegenüber ist jedoch durch die eidliche Aus- sage des Zeugen Bosenthal erwiesen, daß der Angeklagte an dem betreffenden Abend von 8 bis 10 Uhr in der Elsässerstraße und Brunnenstraße mit ihm zusammengewesen ist, so daß auf selten des Hensel und Denner eine Personenverwechslnng vorliegen muß. Dies ist um so wahrscheinlicher, als dem Angeklagten von seinem Dienst- herm, dem Buchbinderraeister Most, das denkbar günstigste Zeugnis ausgestellt ist und ihm daher eine solche Tat kaum zuzutrauen ist. Daß die Aussagen des Hensel und Denner, insbesondere die des letzten, mit Vorsicht aufzunehmen sind, erhellt aus seiner weiteren Be- kundung, der Angekla^e habe ihm bereits einmal, um Ostern 1904, an der Spandauerbrücke eine Uhr zum Kauf angeboten, woraus sich ergibt, daß der Angeklagte offenbar das Opfer einer Personen- verwechselung geworden ist. Daher wurde er kostenlos freigesprochen und die ihm erwachsenen notwendigen Auslagen der Verteidigung der Staatskasse auferlegt.

Aus den brieflichen Mitteilungen des Kechtsanwaltes Dr. Löwen- stein ergeben sich einige Modifikationen dieses Sachverhaltes. Danach fand die ßekognition durch die Zeugen nicht mit „ziemlicher" Be- stimmtheit statt, vielmehr bezeichneten die Zeugen den Angeklagten mit voller Bestimmtheit als den Täter. Auch ist im Urteil die Art des Alibibeweises nur unvollständig angegeben. Er wurde haupt- sächlich durch eine Postkarte geführt, die der Angeklagte am Tage nach dem Zusammentreffen mit dem Zeugen Bosenthal an diesen geschrieben hatte und in der er auf das Zusammentreffen vom „gestrigen Abend'* Bezug nimmt.

Diese Beispiele, die der Praxis von neuem zeigen, wie schwer eine sichere Kekognition ist, lassen sich noch bedeutend vermehren. Und da Rechtsanwalt Löwenstein so gütig war, mir zu versprechen, mir weiteres üterarisch verwertbares Material zur Verfügung zu stellen, hoffe ich in einiger Zeit auf das Thema zurückkommen zu können«

XVIII.

Aus dem gerichtsärztlichen Institut und dem AIlerbeiligen-Hospital

in Breslau.

Brinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort.

Von

Dr. med. Eugen Jakobsohn,

Assistenzarzt am Allerheiligen-Hospital in Breslau.

Die Reproduktion von Erinnerungsbildern kann durch mannigfache krankhafte Zustände eine Einbuße erleiden. Diese erstreckt sich ent- weder nach der quantitativen Seite hin, indem für umgrenzte Zeit- abschnitte mehr oder minder vollständige Erinnerungslosigkeit eintritt, oder sie ist qualitativer Art, d. h. sie ist mit inhaltlichen Veränderungen des Beproduzierten verknüpft. Neben diesen Störungen des Gedächt- nisses finden sich noch recht häufig solche in der zeitlichen, sehr selten in der örtlichen Einordnung der Erinnerungsbilder. Mit letzterem soll gesagt werden, daß bei fast fehlender quantitativer wie qualitativer Gedächtnisanomalie nur ein sich auf die örtlichen Verhältnisse be- ziehender Erinnerungsausfall besteht.

Eine derartige Erinnerungsentstellung, allerdings nicht ganz rein, sondern kombiniert mit einer Störung auch der zeitlichen Einordnung des Erinnerungsbildes, soll in Folgendem geschildert werden :

Der Fall, um den es sich handelt, betrifft die 53 Jahr alte Frau M. aus Breslau. In der Nacht vom 21. zum 22. VII. 06, ca. Val Uhr, wurde die M. auf der Füllerinsel, einem von einem Holz- zaune umgebenen Platz, von mehreren jungen Burschen überfallen. Der Holzzaun hatte eine Tür, die abends 10 Uhr verschlossen wird. Nachts ca. 7»^ Uhr bat die Frau vorübergehende junge Leute, ihr herauszuhelfen. Einige von ihnen rissen Latten aus dem Zaune, stiegen dann hinüber und vergewaltigten die Frau oder leisteten Bei- hilfe bei diesem Akt. Die Frau schrie und bat um Schonung« Ein in der Nähe befindlicher Schutzmann hörte den Lärm und ging an den Ort der Tat. Es gelang ihm, von den fliehenden Burschen einen festzunehmen. Die anderen wurden im Laufe der nächsten Tage

ErinneraDgstäaschuDg in Bezag auf deu Ort. 363

hinter Schloß und Riegel gebracht Die M. war, als der Schutzmann hinzakam, bei Besinnung. Auf dem Heimweg in ihre Wohnung er- zählte sie ihm, daß sie von ihrem Aufenthalt auf der FttUerinsel nichts wisse, auch nicht, wie sie dorthin gekommen sei. „Ich bin,^ so sagte sie, ^abends 9 Uhr in völlig nüchternem Zustande auf die Straße gegangen und habe mich auf einer Bank auf dem Roßplatz (einem ca. 5 Minuten von der FttUerinsel entfernten Ort,) hingesetzt Auf dieser Bank bin ich gegen 10 Uhr von 4 Burschen vergewaltigt worden. Einige haben mich gehalten, andere das Verbrechen voll- führt Außerdem habe ich eine Reihe heftiger Schläge gegen Kopf, Brust and Bauch erhalten. Schließlich verlor ich die Besinnung. Ich bleibe dabei, daß sich dieser Vorgang auf dem Roßplatz abge- spielt hat^.

Die Frau kam dann ins Allerheiligen-Hospital zu Breslau, wo sie mehrere Wochen wegen eines Haematoms der rechten Scheitel- region, eines linksseitigen Rippenbruches sowie verschiedener Eontusions- wunden beider Brustseiten, des Schambeines und der Innenflächen der Oberschenkel behandelt wurde. Auch hier im Hospital und nach der Entlassung bei den verschiedenen Vernehmungen, ferner bei der späteren Nachuntersuchung durch den Gerichtsarzt hält sie die Be- hauptung, daß sich die Affaire auf dem Roßpatz, nicht auf der Füller- insel abgespielt habe, aufrecht und erklärt mit aller Entschiedenheit, sie könne sich in dieser Angabe nicht irren.

Im November 1906 fand die Schwurgerichtsverhandlung gegen die Angeklagten statt. Fast alle waren geständig, das Verbrechen entweder selbst ausgeführt oder Beihilfe geleistet zu haben und zwar auf der Füllerinsel. Soweit wäre also der Sachverhalt sehr einfach und klar gewesen, hätte nicht die M. wiederum die bestimmte, durch nichts zu ändernde Aussage abgegeben, daß sie nicht auf die Füller- insel, sondern auf dem Roßplatz genotzüchtigt und mißhandelt sei; ja, sie wollte sogar genau die Bank zeigen können, auf der die An- griffe gegen sie vorgenommen seien.

Diese Angabe sollte nun im Verlauf der Gerichtsverhandlung von einer nicht zu unterschätzenden forensischen Bedeutung sein. Der Staatsanwalt erhob die Anklage wegen Notzucht, Versuchs der Notzucht oder Beihilfe dazu, außerdem aber auch wegen Mißhandlung. Letzteres geschah aus folgendem Grunde: Es stellte sich nämlich während der Verhandlung heraus, daß Notzucht im Sinne des Gesetzes- paragraphen, d. i. Ausübung des außerehelichen Beischlafes unter Anwendung von Gewalt und unter Überwindung eines Widerstandes, im vorliegenden Fall evtl. nicht in Betracht komme, weil es nicht

364 XVm. Jacobsohn

klar zu Tage trat^ daß die M. eine Potatrix und wenigstens in den früheren Jahren auch puella publica wirklich ernsthafte Gegenwehr geleistet hatte. Der Staatsanwalt erklärte daher in seiner Rede, daß, falls die Geschworenen die Frage der Notzucht verneinen sollten, sie die Angeklagten der Eörpermißhandlung für schuldig sprechen müßten.

Die Verteidigung suchte nachzuweisen, daß Notzucht gar nicht vorliege ; was die Eörpermißhandlung anbeträfe, so sei diese natürlich nicht zu bestreiten, aber sie könne den Angeklagten mit Bestimmtheit nicht zur Last gelegt werden.

Die Frau M. erkläre immer wieder, daß sie auf dem Boßplatz überfallen sei Da dürfe man sich doch nicht ganz der Ansicht ver- schliessen, daß an demselben Abend zwei Mal ein Gewaltakt an der Frau M. vollführt worden sei, das erste Mal auf dem Boßplatz, das zweite Mal auf der Füllerinsel. Die nachgewiesenen Verletzungen könnten sehr wohl von den Attentätern des ersten Schauplatzes her- rühren. Daß die Frau später auf der Füllerinsel gefunden wurde, habe seine Erklärung darin, daß die Missetäter ihr Opfer, das durch den ausgestandenen Schreck und die erlittenen Mißhandlungen be- sinnungslos geworden, dorthin geschleppt hätten. Dieses alles klinge zwar sehr abenteuerlich ; die Möglichkeit jedoch, daß es so geschehen, sei nicht bestimmt in Abrede zu stellen, und da die Möglichkeit vor- handen, müßten die Angeklagten auch wegen der ihnen zur Last ge- legten Eörpermißhandlung freigesprochen werden.

Die Geschworenen legten anscheinend auf diese Beweisführungen der Verteidiger kein zu großes Gewicht ; ihr Urteil lautete gegen zwei der Angeklagten auf schuldig des Verstoßes gegen die §§176 resp. 177, bei den anderen auf schuldig der ausgeführten Eörpermißhandlung.

Dier Fall ist nach zweierlei Bichtung von Interesse. Einmal zeigt er uns einen solitären Gedächtnisdefekt, der sich in der Haupt- sache auf eine Erinnerungsabweichung in bezug auf den Ort bezieht Zwar ist auch die zeitliche Einordnung des Erinnerungsbildes insofern nicht ganz richtig, als die Frau M. die Zeit, in der das Attentat statt- fand, ca. 2V2 Stunden zu früh angegeben hat; jedoch das eigentlich Hervorstechende und Charakteristische an diesem Bilde ist die Ver- legung eines im großen und ganzen quantitativ und qualitativ richtig reproduzierten Gedächtnisbildes an einem falschen Ort

Ais Ursache dieses Erinnerungsdefektes können wir in der Haupt- sache das Eopftrauma annehmen, daß die Frau M. während des Über- falles erlitten hat. Dazu kommt dann noch eventuell eine vor dem Attentat bestandene Alkoholwirkung. Diese wird zwar von der Frau

Erinnerungstäuschung in Bezug auf den Ort. 365

an dem betreffenden Abend geleugnet; allein man wird sie doch nicht ganz von der Hand weisen können, weil sich die Frau nach- gewiesenermaßen dem Alkoholgenuß hingegeben hat. Rausch, und Kopftrauma können aber eine derartige Wirkung auf das Erinnerungs- vermögen hervorrufen.

Das Zweite, was an dem Fall interessiert, sind die Folgen, die aus der Aussage der Frau M. resultierten. Dadurch, daß sie immer wieder bestimmt behauptete, die Tat sei auf dem Roßplatz, nicht auf der Füllerinsel vorgenommen, wurde das sonst ganz klar und einfach vorliegende Beweismaterial verdunkelt und kompliziert. Die Ver- teidigung suchte die M.'schen Angaben in der vorhin erörterten Weise zugunsten der Angeklagten zu verwerten.

Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof. Lesser für die Anregung zu dieser Veröffentlichung meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.

Kleinere Mitteilungen,

Von Medizinalrat Dr. P. Näcke.

1.

Dr. P. Möbius. In memoriam. Anfang Jannar 1907 starb im 54. Lebensjahre der bedeutende Neurolog und Schriftsteller P. Möbins, der auch die wundersame Kunst verstand, gut deutsch und allgemein verständ- lich zu schreiben. Erst studierte er Theologie, dann Medizin, habilitierte sich in Leipzig für das Fach der Nervenheilkunde, trat von seinem Amte aber bald zurück, um ganz der Praxis und seiner Wissenschaft zu leben und zu sterben. Er litt zuletzt schwer und tapfer, ließ sich aber nicht ärztlich behandeln, lebte überhaupt einsam. Seine . ausgesprochene Misoygnie (siehe besonders im: „physiologischen Schwachsinne des Weibes**) kam wahrscheinlich zum guten Teile von einer traurigen Ehe. Er hatte eine ausgedehnte Konsiliarpraxis und wurde von seinen Patienten vergöttert, während er, namentlich in seinen Schriften, oft sehr scharf war und ver- letzte. Er war ein großer Gelehrter, origineller und geistreicher Sdirift- steller, Denker und Pfadfinder, der freilich auch eigensinnig gewisse Rich- tungen verfolgte (z. B. in der Wiederbelebung der GalPschen Phrenologie, in der Feindschaft gegen die experimentelle Psychologie etc.) und oft die nötige Kritik vermissen ließ. Sein Größtes leistete^ er in seinem Spezial- fächer der Neurologie. Er war kein gelernter Psychiater, hielt sich aber für einen solchen und irrte sich daher öfters. Er gab viel Anregungen allerlei Art, bekämpfte den Alkoholismus, trat für die Fechner'sche Philosophie ein und wohl nur wenigen Gebieten war er fremd. Eine un- geheure Belesenheit zeichnete ihn aus. In den letzten Jahren gab er sich besonders mit den sog. ^^Pathographien'^, d. h. dem Aufsuchen der patho- logischen Momente im Leben und Wirken großer Männer ab und war da meist glücklich. So haben wir von ihm Schriften über Göthe, Nietsche, Rousseau, Schopenhauer etc. Unendlich viel hätte er noch geben können! Freuen wir uns aber des schon Geleisteten und möchte er uns in vielem vorbildlich sein und bleiben! Titel und Orden hatte er nicht, aber sicher wog er Hunderte von Inhabern solcher auf.

Kleinere Mitteilungen. 367

2.

Dr. L. Woltmann. In memoriam. Anfang Febr. 1907 ist ein be- deutender Denker, Philosoph, Sozio- und Anthropolog elendiglich beim Baden i) an der Riviera gestorben: Dr. L. Woltmann, der Gründer der ausgezeich- neten und auch an dieser Stelle öfters erwähnten ^^Politsch-Anthropologischen Revue^y die jetzt soeben den 5. Jahrgang beendete. Er hat darin vor- treffliche Beiträge und scharfe Kritiken mit leider nicht selten persön- lichen Spitzen geschrieben. Seine Hauptwerke aber sind außer früheren philosophischen und sozialen Schriften: die Politische Anthropologie (1903), die Germanen und -die Renaissance in Italien (1905) und Ende vorigen Jahres: die Germanen in Frankreich. Er war einer der Hauptbegründer und Verbreiter der „Germanentheorie*', d. h. daß die Germanen nicht nur im Norden Deutschlands; Südschwedens etc. entstanden, sondern^ daß sie auch die Bifite der Arier darstellten und als solche in den romanischen Ländern, speziell in Frankreich, Italien und Spanien die Hochkultur, die Renaissance geschaffen haben. Man muß sagen, daß er seine Thesen wenigstens sehr wahrscheinlich zu machen verstand, bei seinem weitem Wissen, scharfer Kritik und wissenschaftUcher Methodik. Wenn die Geschichte, wie kaum zu be- zweifeln steht, sich immer mehr vorwiegend der anthropo-biologischen Be- trachtungsweise zuwenden wird, so ist dies sicher mit sein Verdienst und zwar ein ganz außerordentliches! Überall sonst auch focht er für Wahr- heit und licht gegen alle Sorten von Dunkelmännern und er führte da- bei eine scharfe Klinge. Wieder wandte sich der vielgereiste Mann seinem geliebten Italien zu, um neue Studien für seine Lieblingsideen zu machen, als ihm die unerbittliche Atropos an der Eingangspforte den Lebensfaden absdinitt Erwarberufen, noch viel zu leisten; er war ein Kenner und Könner ersten Ranges! Ehre daher seinem Andenken, das uns ein neuer Antrieb zum steten Forschen und Denken sein soll!

3.

Können Augenblicks-Eindrücke forensischen Wert haben? In seinem grausigen Verbrecher-Roman „La b^te humaine^', der eine Fülle von Verbrecher-Psychologie enthält, schildert Zola auch folgenden Vorgang. Ein Lokomotivführer, Jaques Lautier, streift einmal nachts in öder Landschaft herum und findet sich am Bahngeleise, als er nach leisem Donner aus einem Tunnel den Pariser Schnellzug von SO km Geschwindigkeit heraustieten sieht. Wie ein Blitz fuhr der Zug vorbei. „Und Jaques (pag. 63) sali sehr genau in der Viertelsekunde, durch die flammenden Fenster eines Coupes einen Mann, der einen anderen auf die Bank auf den Rücken ge- legt festhielt und ihm ein Messer in die Brust stieß, während eine schwarze

1) Mit Entrüstung weise ich die vermutete Möglichkeit eines Selbstmords bei seiner Lebensfreude, seinem Kampfesmute und seinem Wissensdurste zurück ! Er hatte einen Herzfehler und ist wohl an Herzschlag gestorben.

368 Kleinere Mitteilungen.

Masse, vielleicht eine dritte Person, vielleicht herabgefallenes Gepäck, mit aller Gewalt auf die gekrampften Beine des Ermordeten drückte. . . " Er fnig sich gleich, ob er richtig gesehen habe, er wagte nicht die Wirklichkeit dieser Vision zu behaupten. „Nicht ein einzelner Zug der zwei handelnden Personen des Dramas war ihm lebhaft zurückgeblieben." Er glaubte aber doch am Mörder ein schmales, blasses Gesicht unter dichtem Haarwuchse zu erkennen. Bei dem Verhör spielte diese Szene natürlich eine Rolle. Lautier erzählte seine Beobachtung und glaubte bei sich plötzlich in dem mitanwesenden Roubaud den Mörder zu sehen, wie es auch der Fall war. Später ward ihm dies sogar zur Gewißheit. Noch später suggestioniert er sich, daß die herabfallende Masse eine Reisedecke war, während es die Frau Roubauds gewesen war, die auf das Opfer niederkniete, um ihrem Manne die Mordtat zu erleichtern. Es fragt sich nun, ob Lautier wirkhch das gesehen haben kann. In tiefster Nacht rast plötzlich aus einem Tunnel ein Schnell- zug heran. Das plötzlich auftauchende Licht müßte wohl jeden blenden, weniger allerdings einen Lokomotivführer, der an solche Lichteffekte gewöhnt ist. Ohne besondere Aufmerksamkeit sieht Lautier die hell- erleuchteten Fenster der Waggons dahinfliegen und bemerkt in einem Coupö obige Szene, in vielleicht V^ Sekunde. Ist dies wohl möglich, wenn man nicht speziell aufmerkt? Kaum oder doch nur ganz verschwommen! lautier hat aber sogar auch das schmale, blasse Gesicht des Mördera unter dichten Haaren gesehen. Das halte ich für fast unmöglich! Am Tage vielleicht eher. Sitzen wu' tagsüber im Schnellzuge und blicken zei-streut hinaus, so sagen wir uns niclit selten, daß wir z. B. soeben einige Leute auf dem Felde bei der Arbeit salien. Meist können wir aber nicht sagen, wie viele es waren, oft auch nicht, was sie taten, erst fecht nicht, wie sie aussahen. Anders, wenn wir auf einen bestimmten Punkt unsere ganze Aufmerksamkeit konzentrieren. Wissen wir z. B,: jetzt kommt eine schöne Kirche, so sehen wir auch in dieser Schnelligkeit ziemlich viel auf einmal. Man sieht, solche Augenblicks- Szenen, wie sie Zola beschrieb, könnten vorkommen z. B. auch bei Ein- stürzen, Zusammenstößen etc. und zu' ernsten Erwägungen, aber auch Bedenken führen. Die ganze Szene kann suggestioniert sein, und einzelne Data natürlich um so leichter, wie z. B. Lautier später in der schwarzen drückenden Masse eine Reisedecke erkennen will. Noch zweifelhafter frei- lich ist es, daß er ohne es zu äußern nachher fest Überzeugt ist, daß Roubaud der Mörder war, selbst wenn wir zugeben, daß später gewisse unbemerkte oder wenig markante Beobachtungen ins Bewußtsein treten und so ein leidliches Bild der Wkklichkeit geben können. Das Fazit unserer Er- wägungen also ist, daß ein Richter stets mit der größten Skepsis solchen Augenblicks-Eindrücken gegenüber stehen muß, daß aber auch hier von Fall zu Fall zu unterscheiden ist, jedenfalls aber eine solche Beobachtung nie für das Urteil ausschlaggebend werden darf.

4.

Motive des Aberglaubens. Seit jeher fand ich es anziehend, den vei-schiedenen Motiven zu abergläubischen Praktiken nachzuspüren. Be- trachtet man nämlich letztere genauer, so wird man finden, daß doch ein gewisser physio- oder psychologischer Sinn auch im Unsinn liegt und vielleicht

Kleinere Mitteilungen. 369

nur relativ selten findet man keine Verbindungsbrücke und muß zum Schlüsse kommen, daß gerade der Unsinn der Handlung als solcher be- zweckt war, um ja das Wunderbare des Erfolgs noch krasser hervortreten zu lassen. Schon früher glaube ich einmal bemerkt zu haben, daß den Ingredienzen der Uebestränke : Schweiß, Menstrualblut etc. ein starker Ge- ruch eignet, der bei vielen in Beziehung zum Geschlechtstrieb tritt, bewußt oder unbewußt. Freilich ist der physiologische Vorgang namentlich zeitlich ein ganz anderer, als diese Philtra es wollen. Neulich las ich nun in dem vortrefflichen Buche von A. Harpf : Morgen- und Abendland (Stuttgart 1905) folgenden Passus (Seite 211): „Im ganzen Orient suchen die Frauen des Volkes auf allerlei abergläubische Weise zu bewirken, daß sie empfangen, wenn dies längere Zeit ausbleibt Sie gehen zu Hinrichtungen in der Ab- sicht, um, wie sie sagen, durch den Schrecken des vergossenen Blutes und das Anschauen der Todeszuckungen empfänglich zu werden. Sie gehen jetzt so zahlreich mit derselben Absicht in das Schlachthaus von Kairo und sehen dort dem blutigen Handwerk zu, daß man dafttr im letzten Jahre ein Eintrittsgeld zu erheben begann. In derselben Absicht wird vor den Augen der Braut, wenn sie in feierlichem Hochzeitszuge und reich ge- schmückt am Hause des Bräutigams angelangt ist, an der Hausschwelle ein großer Hammel geschlachtet, und das ist in gleicher Weise bei Musel- männern und Kopten Brauch. Doch das alles mag vielleicht noch nicht einmal jedes natürlichen Zusammenhanges entbehren, wenn man die be- kannte, oft zu perversen Neigungen führende Parallelwirkung ins Auge faßt, welche bei manchen Menschen zwischen fließendem Blute und geschlecht- lichem Reiz beobachtet wurde." Und darin hat Harpf völlig Recht, nur daß zugleich dort zeitlich eine Verschiebung des Reizes stattfindet. Die sadistischen Handlungen geschehen nämlich vor oder am Anfange des Ooitus, bisweilen zuletzt, oder stehen allein als Äquivalent für den Bei- schlaf, nie aber längere Zeit vorher, wie es doch in obigen Fällen statt- finden müßte. Solche phjrsiologische Ungenauigkeiten kommen im Aber- glauben eben vor. Aber alles das reizt nur den Geschlechtstrieb an, hat zunächst nichts mit der Empfängnisfähigkeit direkt zu tun, deren Be- dingungen uns z. T. noch sehr dunkel sind. Auf rascheres oder lang- sameres Ablösen der Eichen aus dem Eierstocke hat kaum irgend etwas Einfluß, und es scheint, als ob sogar bei Blutarmut etc., wo keine Periode eintritt, trotzdem regelmäßig die Eilösung erfolgt. Anders steht es mit dem erleichterten Eintritt des Samens in die Gebärmutter. Es steht jetzt wohl fest, daß während des Coitus der ganze Genitalschlauch, besonders aber die Gebärmutter sich kontrahiert und öffnet, verkürzt. Starke Geschlechts- reizung muß dies befördern, also eventuell auch solche auf sadistischem Wege erzeugte und demnach könnten so manche Mittel als Empfängnis befördernd gelten. Bei organisclien Fehlem ist freilich Hopfen und Malz verloren, ebenso bei impotentia generandi auf beiden Seiten. An vielen Orten, Wallfahrtsorten bei uns und in Indien aber geschieht das Wunder der Empfängnis oft auf sehr natürliche Weise, was noch mehr Frauen zu den heiligen Stätten hinzieht. Der oben geschilderte Aberglaube steht wohl einzig da. Dagegen scheint mir die Schlachtung des Hammels vor der Braut an der Türschwelle nur ein reines Opfer zu sein, um böse Geister zu bannen, was nichts mit sadistischen Dingen zu tun hat. Harpf gibt

Arehir für Kriminalfintiiropolog:ie. 27. Bd. 24

370 Kleinere Mitteilungen.

noch eine ganze Reihe aberglänbischer Praktiken bei den Ägypterinnen, die alle sich bis zu einem gewissen Grade erklären lassen, wenn auch anders, als bei den oben erwähnten.

5.

Gefährliche Träume. Dem Bericht über die psychiatrische Litera- tur im Jahre 1905, Literaturbericht zum 63. Bd. (1906) der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie etc. (pag. 169*) entnehme ich folgendes Referat: „Knauer, G., Progressive Paralyse? Münchner medizin. Wochenschrift Nr. 8. Ein syphilitisch gewesener Kaufmann träumte mit Verfolgern zu ringen und fand beim Erwachen, daß er seine Frau fast erwürgt hatte; einige Wochen später träumte er, mit Licht etwas suchen zu müssen, und erwachte, ein brennendes Zündholz in der Hand. Belastung, Wutausbrüche seit der Kmd- heit, Alkoholmißbrauch machen doch zweifelhaft, ob, wie K. annimmt, Epi- lepsie „ganz ausgeschlossen^ ist Matusch.^ Zu der von mir wiederholt betonten Gefahr, Träume für Wirklichkeit zu halten und unter Umständen aggressiv zu werden, bietet obiger Fall eine neue Dlustration. Leider ist nicht sicher, ob der Betreffende ein Paralytiker oder fast noch wahr- scheinlicher, wie es auch Referent hervorhebt ein Epileptiker war, ja es ist nicht einmal sidier, ob er deutlich krank war. Doch das ist Nebensache. Solche überaus lebhafte Träume mit plastischer Deutlichkeit und Reaktion darauf können bei Gesunden und Kranken vorkommen, bei Letzteren vielleicht häufiger. Namentlich sind in dieser Hinsicht die Epi- leptiker sehr verdächtig mit ihren vorwiegend schreckhaften Träumen. In- teressant ist in obigem Falle audi, daß bei demselben Kranken zweimal solche gefährliche Handlungen durch den Traum ausgelöst vorkamen. Man könnte noch die Frage aufwerfen, ob bei wiederholtem Auftreten solcher Reak- tionen niclit die Verwahrung eines solchen Träumers wegen Gemeingefähr- lichkeit beantragt werden sollte.

6.

Schranken in der Größe des Schätzens, Erkennens und Beurteilens bei demselben Individuum. Prof. Groß behauptet in seiner Arbeit: Die Zeugenprüfung (Monatsschrift für Kriminalpsychologie etc. 1906, p. 580) daß, „wer heute eine Entfernung, eine Menge, eine Zeit usw. richtig schätzt, wer heute einen Menschen auf ungewöhnliche Distanz er- kennt, wer heute für irgend etwas ein gutes Gedächtnis, gute Unterscheidungs- gabe und gutes Vergleichsvermögen zeigt, der hat dieselbe Gabe auch vor 8 Tagen gehabt und wird sie in 14 Tagen auch wieder haben . . . Aber bei der Frage des Wahmehmens, Merkens und Wiedergebens wissen wir im allgemeinen manches, jedoch nicht genug, um im einzelnen Falle be- weisende Experimente machen zu dürfen.'^ Nun, ich glaube, daß wenn auch bez. des Schätzens und Erkennens der Gegenstände Stimmung, Auf- fassung, Affekt etc. nicht so großen Einfluß haben, als beim Wahrnehmen, Merken und Wiedergeben, sie doch auch bei jenen psychischen Tätig- keiten mitredend und dalier zu berücksichtigens sind. Ein halbverschlafener oder stark ermüdeter Förster z. B. wird eine Distanz heute nicht so richtig

Kleinere Mitteilungen. 371

eingchätzen^ wie gestern, wo er frisch war. Zu diesem Einschätzen gehören ja nicht nur Schärfe des Gesichts, sondern auch starke Eonzentrierung der Aufmerksamkeit und nicht weniger ein gewisses Gedächtnis. Alle diese Komponenten müssen selbstverständlich unter Ermüdung, Affekt, Versdilafen- sein etc. leiden und dies sogar, wenn auch weniger, bei denen, die gewohn- heitsmäßig Entfernungen (Geometer) oder Gewicht (Fleischer) schätzen. Es müßte also, wenn einer heute gut Distanz schätzt, immer nodi eruiert werden, unter welchen geistigen und körperlichen Bedingungen er früher beim Distanz-Abschätzen etc. stand, um sicher zu sein, daß die Schätzung richtig war.

7.

Feinfühligkeit eines Idioten. Wenn auch im Allgemeinen, wie ich dies oft betont habe, die ethische mit der intellektuellen Entwickelung Hand in Hand geht und der Intellekt auch auf die ethische Seite zurück- wirken kann, so gibt es davon immerhin Ausnahmen, wie jeder solche kennt. Audi bei Idioten ist meist die ethische Seite ganz verkümmert und w^o etwa Anhänglichkeit an Personen besteht, so dürfte sie sich kaum über die des Tieres erheben. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So haben wir z. B. einen 1 1 jährigen Idioten hier, auch körperlich schlecht entwickelt, mit vielen Entartungszeichen behaftet, der in Folge schwerer Zangengeburt eine Kopfverletzung davontrug, wonach bald Krämpfe auftraten und eine Halblähmung der ganzen rechten Seite zurückblieb. Er ist unehelich ge- boren; der Vater hat die Mutter bald verlassen. Im vierten Jahre erst lernte das Kind gehen und konnte nie ordentHch sprechen. Immerhin ver- steht man ihn einigermaßen. Er ist aufmerksam, ahmt gut nach, kennt die Gegenstände und ist unter unsem Idioten-Kindern entschieden ein lumen. Er ist für jede Aufmerksamkeit, jedes gute Wort sehr dankbar, errötet vor Freude und sucht zu helfen, wo er kann, so daß er von den Pflegern und Mitkranken sehr gern gesehen wird. Erwähnt man ihm gegenüber nun, daß er ein uneheliches Kind ist, so errötet er schamhaft, obgleidi er offenbar nicht die volle Tragweite der unehelichen Geburt kennt. Er eri'ötet aber auch, wenn erzälilt wird, daß sein Vater die Mutter verlassen hat, sie sitzen Üeß. Sicher sind das hohe Beweise einer angeborenen Feinfühligkeit. Seine intellektuellen Kräfte sind aber, wie schon gesagt, für einen Idioten noch recht anerkennenswerte. In seinem feinen Takte und in seinem sozialen Verhalten dürfte er manche normal Geistige sicher beschämen.

24*

Besprechungen.

1.

Dr. Friedri ch Stein, Professor in Halle: „Zur Justitzreform", sechs Vorträge. Tübingen. J. C. B. Mohr (Paul Sie- beck). 1907.

Vor nicht ganz einem Jahre ist die Schrift „Gmndlienien durch- greifender Justizreform'* von F. Adickes erschienen, in welcher die eng- lischen Justizeinrichtungen als Grundlage für ein neues deutsches Zivil- und Strafverfaliren empfohlen werden. Der Widerlegung dieser Vorschläge sind die Vorschläge Steins gewidmet, der in klarer und überzeugender Weise die Unmöglichkeit solcher Umformungen dartut und beweist, daß manches von den Justizeinrichtungen Englands auch dort nicht mehr be- friedigt, manches andere aber auf unsere Verhältnisse nicht paßt. Beide Schriften, die von Adickes und die von Stein beanspruchen das größte Interesse und eingehendes, vergleichendes Studium. Redit haben dürfte Stein, die Anregung zur neuerlichen Überlegung der Fragen hat aber Adickes gegeben. Hans Groß.

2.

L. S. A. M. von Römer, med. Dr. und Nervenarzt in Amsterd,'am: Die Uranische Familie. Untersuchungen über die Ura- nier. Beiträge zur Erkenntnis des Uranismus. Deutsch von E. W. Lpzg., Amsterdam, Maas u. van Suchtelen. 1906.

Das klug und überlegsam geschriebene, mit \ielen Diagrammen aus- gestattete Heft kommt zu einer Anzahl von Grundsätzen, die wichtig zu sein scheinen: Uranismus an sich vererbt sich wenig, aber familiäres Vor- kommen ist sehr häufig; ihr Prozentsatz beträgt minimum 2 %, maximum 33 "/o 1 ^61* Altersunterschied zwisohen Vater und Mutter ist häufig be- sonders groß; in uranischen Familien kommt Carcinom viel häufiger vor, als Tuberkulose; Anlage zum Uranismus zeigt sich meistens sehr früh; bleibender (echter) Uranismus ist Prädisposition, die durch äußere Momente ausgelöst, aber nicht hervorgerufen werden kann ; Heilung durch Suggestions- therapie ist verachwindend selten, diese Therapie ist wegen der zumeist anzuwendenden Nebenmittel als verwerf licli zu bezeichnen.

Hans Groß.

Besprechungen. 373

3.

Carl Kurtz, Amtsgerichtsrat: Die Untersuchungen von Körperverletzungen insbesondere der tötlichen. Zu- sammenstellung der hierauf bezüglichen gesetzlichen und Verwaltungs- Bestimmungen einschließlich der neuesten Vorschriften über Leichenuntersuchungen zum Gebrauch für Gerichts- und Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichtsärzte. Textausgabe mit Vorbemerkungen^ Anmerkungen, Beispielen, Ge- bühren- und Reisekosten-Vorschriften und Sachregister. Düsseldorf, 1906, L. Schwarz.

Zweck und Inhalt der sehr bequemen und übersichtlichen Zusammen- stellung ist aus dem umständlichen Untertitel deutlich zu entnehmen. Mit den selbständigen Ansichten des Verf. bin ich nicht überall einverstanden; so wird in einem „Beispiele für die Praxis" in der ersten Vorerledigung einer Anzeige, der Amtsvorsteher aufgefordert, ein Lokal zur Obduktion bereit zu halten, „wohin die horizontal zu lagernde Leiche vorsichtig zu schaffen ist". Es wird also von vornherein darauf verzichtet, an der Leiche des erschossen im Walde Aufgefundenen in loco rei sitae einen Augenschein vorzunehmen!

In dem folgenden „Beispiel" (Protokoll der Leicheneröffnung des Er- schossenen) fehlt negative Feststellung, daß in der Leiche kein Geschoß, kein Kugelpflaster oder Pfropfen, kein, von den Kleidern mitgerissener Fetzen etc. gefunden wurde. Es ist auch nicht möglich, aus dem Befunde zu entnehmen, ob es sich um mehrere Kugelschüsse, einen Pfosten- oder Schrotschuß handelt, auch vom Brandsaum, eingesprengten Pulverkömem etc. (was auch negativen Falles festgelegt werden muß) ist nicht die Rede etc. Hans Groß.

4.

Ernst Zitel mann: „Ausschluß derWi der rechtlich keif. Tübingen 1906. J. C. B. Mohr (Sonderabdruck a. d. 99. Bd. des „Arch. f. d. ziv, Praxis*).

Die heute so vielfach behandelte, freilich auch außerordentlich wichtige Frage nach der Widerrechtlichkeit hat durch die feine, schwungvolle und tiefgründige Arbeit Zitelmanns namentlich deshalb eine so wichtige Be- reicherung erfahren, weil sie Verfasser namentlich von der zivilistischen Seite beleuchtet und sie hierdurch auf eine breitere, sicherere Grundlage stellt. Man liest das Buch mit, ich möchte sagen, Spannung und legt es mit Dank für den Verf. aus der Hand.

Wenn man einen Zweifel nennen dürfte, so ginge er dahin, ob Verf. wohl Recht hat, wenn er viele Fälle, namentlich bei der Frage nach der Einwilligung, dahin löst, dass manche Einwilligung, als gegen die guten Sitten verstoßend, nichtig sei.

Wenn ich mich, sagt Zitelmann, über Mittag vom fortgehenden Be- amten in der Bibliothek einsperren lasse, so handelt der Beamte natürlich nicht strafbar; wenn aber der, der einen Dieb erwischt, ihn mit seiner Ein-

374 Besprechungon.

wiUigung statt der Anzeige 24 Standen im Keller einsperrt^ so ist das straf- bar, weil die Einwilligung contra bonos mores verstößt, also ungültig ist. Ich glaube der Grund der Strafbarkeit liegt darin, daß die Einwilligung erpresst war: ^entweder läßt du dich einsperren, oder ich übergebe dich der Polizei".

Ebenso: wenn sidi die Frau vom Arzt kastrieren läßt, um (etwa wegen erblicher Belastung etc.) keine Kinder zu bekommen, so sei die Ein- willigung nichtig, weil gegen die guten Sitten verstoßend. Ich glaube, die Strafbarkeit liegt hier im Dilemma: entweder ist eine solche Operation be- denklidi, dann hat der Arzt das Leben der Frau nicht gefährden dürfen, oder sie ist gleichgültig, dann verallgemeinert sich die Sitte, wir bekommen wenig Nachwuchs und zu wenig Rekruten. Vielleicht könnte man aber den Vorgang auch als nicht strafbar bezeichnen? Sagen wu", der Gatte ist geisteskrank, Abstinenz ist nicht zu erreichen, verlassen will sie den Mann auch nicht hat die Menschheit etwas davon, wenn geisteskranke Kinder gezeugt werden?

Wir müssen uns dahin bescheiden, daß wir so oft nichts Gutes schaffen, sondern nur das geringere Übel passieren lassen müssen. Wenn ein ge- sunder Mensch vom Arzt die Vornahme einer Blmddarmoperation verlangt, weil er die Angst vor einer solchen überstanden haben möchte, so wird ihn der Arzt abweisen; er wird das aber nicht tun, wenn Patient schon oft ernste Mahnungen einer Blinddarmreizung hatte und jetzt eine Reise nach Südafrika antreten muß, wo er gegebenen Falles nicht operiert werden kann und zugrunde gehen muß.

Im ersten Falle ist operieren das größere, im zweiten Falle das ge- ringere Übel, und die Abwägung der Übel also ist für uns bei der Be- urteilung eines Vorganges die freilich armselige, aber oft einzige Anweisung, wie wir entscheiden müssen. Hans Groß.

5.

Dr. jur. Karl Weidlich: „Die englische Strafprozeßpraxis und die deutsche Strafprozeßreform''. Berlin 1906. J. Guttentag.

Diese Arbeit ist zwar durch die von Stein und Adikes überholt, bietet aber einerseits für diese eine gute Unterstützung und ist auch andrerseits durch ihre klare Zusammenstellung von W^ert. Verf. kommt zu dem Sdiluß, daß vieles im engl. Prozeß und auf national -englischen Boden wurzelt und daher nicht übertragbar sei; das meiste sei auch durch deutsche Ein- richtungen überholt. Hans Groß.

6.

Dr. Max Altberg, Gerichtsassessor: ,,Vo]lendung und Real- konkurrenz beim Meineid des Zeugen und Sachver- ständigen'* (zugleich eine Lehre vom fortgesetzten Ver- brechen). Berlin 1906. J. Guttentag.

Die Schrift befaßt sich mit der Einzelbekundung und Gesamtaussage {Vollendung und Verbrechenseinheit), die Vollendung, Fixieining des „Ab-

Besprechungen. 375

Schlusses der Vernehmung", Verbrechenseinheit und -Mehrheit und den Kon- sequenzen der Auffassung, daß mehrere falsche Einzelbekundungen ein fort- gesetztes Verbrechen bilden. Hans Groß.

/.

Dr. med. Arnemann in Großschweidnitz: „Über Jugendirre- sein^ (Dementia präcox). Leipzig 1906. B. Konneger.

Ob es richtig ist, wenn heute der Begriff der Dementia präcox so weit ausgebildet wird, daß für alle anderen Geisteskrankheiten verhältnis- mäßig wenig übrig bleibt, das haben wir Juristen nicht zu erörtern, \iir wissen aber, daß für den Kriminalisten kaum eine andere Psychose so wichtig ist, als die Dementia präcox (vielleicht neben den larvierten Formen der Epilepsie), da sie am leichtesten den Laien in medizinischen Dingen irreführen« kann. Einerseits kann dieser selbst weit vorgeschrittene Formen mit Eigensinn, Bosheit, Faulheit, Hinterlist und allen möglichen anderen Übeln Eigenschaften verwechseln, ohne überhaupt an das Vorhandensein einer Krankheit zu denken, andererseits wird der Laie und selbst der psychiatrisch nicht besonders geschulte Arzt mitunter zwar die Erscheinung von Irrsein wahrnehmen, diese aber, eben nach der seltsamen Natur der Dementia präcox, für Simulation halten. Da nun aber gerade der Richter, der medizinische Laie, derjenige ist, welcher die psychiatrische Untersuchung eines Beschuldigten zu veranlassen hat, so sollte er doch über das Wesen der fraglichen so rätselhaften Krankheit so weit informiert sein, daß er auch hier weiß, wann er nicht an Bosheit, nicht an zweifellose Simulation zu glauben, sondern den Arzt zu fragen hat.

Das vorliegende Schriftchen (47 S.) informiert hierüber in klai'er, jedem gebildeten Laien verständlichen Weise vortrefflich, seine Lektüre kann vor schweren Irrtümern bewahren. Hans Groß.

8.

Prof. Dr. Max Ernst Mayer in Straßburg i. E.: „Die Befreiung von Gefangenen.'^ Eine Ergänzung zum ersten Bande der auf Anregung des Reichsjustizamtes herausge- gebenen ^Vergleichenden Darstellung des Deutschen und ausländischen Strafrechts'^ (besonderer Teil). Leipzig 1906. C. J. Hirschfeld.

Die im Titel genannte Materie, welche aus Rücksicht auf den Raum im großen Sammelwerke nicht Platz fand, wird hier als besondere Arbeit in erschöpfender und übersichtlicher Weise bearbeitet. Die äußere An- ordnung ist dieselbe, wie im großen Sammelwerk: zueret das Deutsche Recht (Objekt und Subjekt der Befreiung und Befreiungshandlung) und das ausländische Recht (mit derselben Materieneinteilung). Die Schrift stellt sich als eine erwünschte Ergänzung des genannten Sammelwerkes dar.

Hans Groß.

376 Besprechungen.

9.

Dr. Ed. Löwenthal: ^Grundzüge zur Reform des Deutschen Strafr'echts und Strafprozesses. 2. Aufl. Berlin. H. Mus- kalla. 1905. Auf 1& Seiten -wird dargelegt^ daß das ^Budistabenrecht'^ zu sehr im Vordergrunde stehe, das Ermittlungsverfahren müsse In der Form des Verf. bei Privatbeleidigungsklagen umgestaltet werden, das Beweisverfahren sei zu reformieren und z. B. ein notorischer Feind des Beschuldigten nicht als Zeuge zuzulassen, Untersuchungshaft darf nur bei Mord und Todschlag vorkommen etc. Hans Groß.

10.

Wilhelm Wundt: „Völkerpsychologie". Eine Untersuchung^ der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. II. Bd. Mythus und Religion. 2. Teil. Leipzig 1906. W. Engelmann. Ich beziehe mich auf das über dieses großartige Werk schon früher (Bd. IV p. 359, Bd. VII p. 179, namentlich Bd. XXIV p. 185) Gesagte. In dem vorliegenden ' Bande dieses Standard work hat nun Verf. mit be- wundernswerter Übersicht und Belesenheit die Frage der Seelenvorstellungen behandelt, was in der Tat eine Grundlage für die Entwicklung des für uns so wichtigen kriminellen Aberglaubens darstellt. Es wäre dringend zu wünschen, daß ein Kenner des Kapitels „Krimineller Aberglauben^^, z. B. A. Hellwig, diesen Band ad hoc ausbeutet und die daselbst vorfindlidie große Menge von Tatsachen, die Erklärungen, Untersuchungen und Er- örterungen Wundts für unsere Zwecke verwertet Das wäre eine dankens- werte Aufgabe. Besonders wichtig wären die Abschnitte: Das Blut al» Seelen träger; Hauchzauber; der Seelen vogel; Vision und Ekstase; Wach- und Traumvision, die Prophetie; Seelen, Geister und Dämonen; Zauber- glaube; Fetischismus (nicht im psychiatrischen Sinne); Ursprung des Sülm- opfers, Kannibalismus und Menschenopfer; Gespenster; Behexung; Krank- heits- und Wahnsinnsdämonen etc. kurz Belehrung und Aufklärung über Geschichte, Entstehung und Wesen vieler Aberglaubensformen ist überall in dem schönen Werk zu finden. Hans Groß.

11.

Hans Ostwald: „Das Berliner Dirnentum. 5. Band: Männliche Prostitution". Leipzig, Walter Fiedler. Ohne Jahres- zahl.

Viel Neues enthält dieses Heft nicht: Zeitungsberichte über die be- kannten Erpressungsgeschichten der letzten Zeit (Hasse, Israel, Acker- mann etc.) und auch ähnliche, weniger oft genannte, Auszüge aus den Arbeiten von Dr. Magnus Hirschfeld, Berichte über Bälle und sonstige Unterhaltungen der Homosexuellen etc. Aber im ganzen ist das so entsetz- lich widerliche Thema gut dargestellt.

Ob blos Not die männliche Prostitution erzeugt ist ebenso zweifelhaft, wie die Erwartung, daß mit der Beseitigung des § 175 D. R.St.G. und

Besprechnngeo. 377

§ I29b Oestr. St.6. alle Erpressung verschwinden würde. Dann würden die Erpresser eben mit Mitteilung an die Frau, an Vorgesetzte, an die Öffent- lichkeit; mit Briefen und Postkarten drohen. Man kann Betätigung der Homosexualität zu etwas Nichtstrafbarem, aber sicher nie zu etwas Sym- pathischem, nicht Ekelhaftem machen, sodaß immer noch erpreßt werden würde. Hans Groß.

12.

Theodor Lipps: ^^Leitfaden der Psychologie". Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig 1906. Wiih. Engelmanu.

Es hat selten eme Behauptung so rasch bei den betreffenden Leuten Geltung ei'langt, als die, daß der moderne Kriminalist unbedingt als Psy- chologe ausgebildet sein muß, daß er sich um die Lehren der Allgemein- psychoiogie und dann um die der Kriminalpsychologie eingehend zu kümmern hat. Der Nutzen, den die Verbreitung dieser Überzeugung gebracht hat, ist ein unabsehbar großer, kein gewissenhafter Kriminalist zweifelt mehr an der Notwendigkeit^ sich die betreffenden Kenntnisse zu erwerben, es wird höchstens darum gefragt, wie dies am besten und einfachsten geschieht. Diesfalls kann das klare, erschöpfende und vollständig moderne Buch des berühmten Münchener Pliilosophen dringend empfohlen werden.

Hans Groß.

13.

Med. und phil. Dr. Georg Buschan: „Gehirn und Kultur". Wiesbaden 1906. J. F. Bergmann.

Die so wichtige Frage nach der Bedeutung der Himmenge ist über- sichtlich und für jedermann verständlich dargestellt. Manche Ergebnisse der Forschung geben vielfach Anlaß zum Überlegen : z. B. daß man die größten Gehirne bei Idioten und Epileptikern, dann aber bei den bedeutendsten Männern gefunden hat; weiter: nicht nur haben gebildete Leute durch- schnittlich mehr Gehirn und größere Köpfe, als ungebildete, sondern es wurde (in Cambridge) festgestellt, daß die Studenten mit erster Note die giößten, die mit zweiter Note kleinere Köpfe hatten, und die Durchge- fallenen hatten die kleinsten Köpfe. Da werden ja die Examina über flüssig! Bei Hutmachem hat man erhoben, daß sie erfahrungsgemäß die ordinären Hutsorten (für minder günstig gestellte und weniger unterrichtete Leute) in viel kleineren Nummern erzeugen müssen, als die feinen Hüte (für günstig gestellte und gebildete Leute). Solche und zahlreiche ähnliche Daten bringen zur Überlegung, daß die Frage über die Kopf große der Leute vielleicht einmal von erheblicher kriminalistischer Bedeutung werden kann. Hans Groß.

14.

Dr. med. Emil Lobedank, Stabsarzt in Hann. M iinden: „Rechts- schutz und Verbrecherbehandlung*^ Ärztlich-natur- wissenschaftliche Ausblicke auf die zukünftige Kri- minalpolitik. Wiesbaden 1906. J. F. Bergmann.

380 Besprechungen.

eine zweite bei den Opfern selbst, die sicli zweifellos im Bunde mit dem Teufel geglaubt haben. So nahm dieser Wahn immer größeren Umfang an, es wurden auch Weiber gerichtet, die wußten und sich darüber klar waren, daß sie unschuldig sind.

Diese Momente sind kriminalistisch von großer Bedeutung, und so nehmen wir die Arbeit von Günther gerne entgegen. Sie liest sich übrigens auch gut und spannend. Hans Groß.

21.

Hugo Marx: Einführung in die gerichtliche Medizin für praktische Kriminalisten. Mit 14 Textfiguren. Berlin 1907. Aug. Hirschwald.

Im engen Rahmen von vier Vorträgen untemchtet der Verf. Anfänger übersichtlich, zweckmäßig und gut über die wichtigsten Fragen der gericht- lichen Medizin. Wie der Titel besagt, beabsichtigt das Werk keine end- gültige Belehrung, sondern bereitet nur auf das Studium eines Lehrbuches für gerichtliche Medizin zweckmäßig vor.

Ausnahmsweise sei es mir hier gestattet, etwas pro domo zu sagen, da mir Verf. Vorwürfe macht, die ich mir nicht gefallen lasse. Er sagt (pag. 32): „Ganz besonders widerrate ich, nach dem Vorschlage von Groß die sogen. Quajakprobe . . . an Ort und Stelle vorzunehmen. Sie könnte auf solche Weise das kostbarste Material vergeuden.^^ Wie lautet aber bei mir») die angegriffene Stelle?

„Die einzige Reaktion, welche zu machen ich dem U.R. auf Blut zu machen gestatten würde, wäre die mit Quajaktinktur, wie sie Dragendorf angegeben hat. Aber auch das wäre nur gestattet, wenn:

1. die Sache äußerst dringend ist, etwa eine Verhaftung davon abhängt, und in der Tat nicht so lange gewartet werden kann, bis man das Gutachten des Gerichtschemikers erlangt also weit entfernt vom Ge- riditsort;

2. mehrere Flecken zur Verfügung stehen, so daß durch den Verlust eines derselben durchaus kein Nachteil entstehen kann;

3. ein Arzt oder doch ein Apotheker zur Hilfeleistung vorhanden ist." Wenn man das unter 2. angegebene liest, so begreift man allerdings

nicht, wie Herr H. Marx behaupten kann, ich hätte zur „Vergeudung von kostbarem Material" angeraten.

Ein ähnlicher Vorwurf findet sich auf pag. 33; es heißt: „Eine nicht sehr empfehlenswerte, von Groß vorgeschlagene Maßregel ist die, schwer zu entfernende Blutspuren mittelst feuchten Fließpapier abzusaugen; auch dabei kann kostbares Material verloren gehen. In Fällen von bedeutender Wichtigkeit würde ich viel eher empfehlen, den Sachverständigen selbst an Ort und Stelle zu zitieren, als zu solchen nicht absolut zuverlässigen Mitteln zu greifen." Wie lautet aber die hier angegi'iffene Stelle 2)? „In despe- raten Fällen muß man sieh noch anders helfen. Ich hatte einmal auf einem Felsen (grober, nicht geschichteter, sehr harter „gewachsener" Gneis)

1) Handbuch f. U.R., 4. Aufl., 11. Band, pag. 111.

2) Pag. 121 loc. eit.

Besprechungen. 381

eine wichtige BlutBpur zu behandeln. Absprengen gestattete die Härte und Struktur des Gesteines nicht, schaben war wegen der allzu großen Rauhheit der Oberfläche unmöglich. Die Fläche, auf der der Tropfen auflag, war etwas geneigt; idi machte also aus Wachs um den Blutstropfen einen Rand, und tropfte nun etwas reines Wasser auf den Tropfen. Dieser war nach etwa einer halben Stunde erweicht und gelöst. Ich rührte mit einem reinen, spitzen Hölzchen um und saugte das Gemenge mit Filtrierpapier auf. Das getränkte F^trierpapier wurde in einem reinen Fläschchen verwahrt, durch einige Tropfen Wasser feucht erhalten und dem Sachverständigen unter genauer Bekanntgabe des Sachverhaltes (und Ansdiluß des Wachsrandes, des RührhölzchenS; unbenutzten Filtrierpapiers und einer Probe des benutzten Wassers) übergeben.'*

Ich möchte wissen, wer diesen Vorgang angreifen kann. In unseren Fällen darf man eben nicht immer mit den Verhältnissen der Reichshaupt- stadt rechnen, wo man um die richtigen Sachverständigen telephoniert. Da ich von „desperaten Fällen*' und davon sprach, daß die Blutspur sich auf „einem Felsen'' befand, so wai* zu entnehmen, daß dies auf dem Lande war (tatsächlich im Gebirge, 6 Stunden vom nächsten Orte), so daß ich die Sachveratändigen sicher nicht vor einigen Tagen hätte daliin geleiten können. Wie hätte ich die Blutspur gegen Tiere, Menschen, Regen und Sonne schützen sollen, bis die Sachverständigen kommen? Etwa gericht- lich versiegeln? Oder einen Gendarmen, den ich übrigens nicht zur Ver- fügung hatte, einige Tage dabei stehen lassen, der bei Regen seinen Helm über die Blutspur hält? Ich glaube, daß ich das Zugeständnis beanspruchen darf, nichts Unsinniges oder Bedenkliches vorzuschlagen und wxnn Herr H. Marx die Verhältnisse, unter welchen der U.R. auf dem flachen Lande oder im Hochgebirg arbeiten muß, vielleicht nicht kennt, so möge er anderen keine ungerechten Vorwürfe machen. Ich wiederhole: In meinem Vorschlag ist nicht gesagt, wo sidi der Fall zutrug, aber bei aufmerksamen Lesen der fraglichen Stelle konnte man entnehmen, daß es sich um einen „des- peraten" Fall gehandelt hat.

Einen dritten Angriff erhebt Verf. gegen „einen jungen Juristen", der in diesem Archiv (Bd. XXV, p. 1) zum Dilettantismus anregen wolle. Wer diesen Aufsatz genau liest, muß zu der Überzeugung kommen, daß dessen Verf. zweierlei beabsichtigte:

1. Der Kriminalist möge sich mit Hilfe eines Taschenmikroskopes (um 5 6 Mark) an verschiedenen harmlosen Objekten einige Kenntnisse darüber verschaffen, was man mit dem Mikroskope überhaupt erreichen kann, was also der Kriminalist vom Mikroskopiker (der ja den aller^'er- schiedensten sachlichen Fächern angehören kann) verlangen kann. Er soll also angeleitet werden, der Arbeit der Mikroskopiker nicht völlig verständ- nislos gegenüberzustehen.

2. Er soll aber auch in die Lage versetzt werden, in den sogen, „desperaten" Fällen wenn also 1. die Sache dringend ist, 2. kein Sach- verständiger zur Verfügung steht, und 3. nichts verdorben werden kann sich selber vorläufig Hilfe zu schaffen.

Auch hier darf man nicht die Verhältnisse in der Reichshauptstadt allein vor Augen haben, man denke auch an den U.R. an ferne ab gelegenen kleinen Orten und noch dazu bei einer Lokalerhebung in einsamer Gegend,

382 Besprechungen.

wo er höchstens einen alten Landarzt zu Hilfe hat; der anch nicht mehr Yom Mikroskopieren versteht als der U.R. Es heißt doch, empfindliche Eifersüchtelei zu weit treiben, wenn man behauptet, daß dieser nicht genau schauen darf!

An dem Tage, als ich U.R. wurde, habe ich ein ausgezeichnetes in Nickel gefaßtes Koneopsid an meiner Uhrkette befestigt (an der es heute noch hängt), und mit Hilfe dieser Lupe habe ich mir erlaubt, in einer sehr großen Menge von Fällen wichtige Klärung zu schaffen und ich habe ge- wiß nicht ein einziges Mal „wichtiges Material vergeudet**. Ich möchte daher dem Herrn Verf. raten, die Erfahrungen erst einmal genauer anzu- sehen, bevor er sie angreift. Hans Groß.

. 22.

Dr. Gustav Radbruch, Privatdozent der Rechte in Heidelberg, „Geburtshilfe und Strafrecht*, Jena. GustFischer. 1907.

In sympathisch vorsichtiger tiberlegsamer Weise behandelt Verf. die schwierige Frage, welche Rechte dem Geburtshelfer zustehen, wenn es sich um Tötung der Frucht zur Rettung dör Mutter handelt; hierbei bespricht er natürlich das gesamte schwierige, heute mit Vorliebe behandelte „Ärzte- recht*, nennt und verwertet die ganze Literatur und kommt klugerweise zu keinem bestimmten Vorschlag, sondern nur zu Möglichkeiten: Die eine geht dahin, daß die Perforation eine chirurgische Operation ist, die man in einem künftigen St. G. zngleicli mit einer Bestimmung über die Recht- mäßigkeit chirurgischer Operationen decken könnte. Die andere geht auf die Regelung einer besonderen Bestimmung über die Rechtmäßigkeit der Perforation was allerdings eine Menge Zweifel rege machen würde. Jedenfalls, sagt Verf., müßte dann eine Reformierung der Notstandsfrage geschehen, etwa dahin, daß Notstand vorliegt, wenn .... Einer . . einen Anderen (also nicht bloß sich und seine Angehörigen) aus einer Gefahr . . rettet

Durch seine vorsichtigen Äußerungen hat Radbruch der wichtigen Sache mehr genügt, als durch einen bestimmten, vielleicht doch nicht haltbaren Vorschlag*). Hans Groß.

23.

Dr. jur. Oskar Holer: „Die Einwilligung des Verletzten. Ein Beitrag zu den allgemeinen Lehren des Strafrechts. ^' (Aus den „Züricher Beiträgen zur Rechtswissenschaft^^). Zürich 1906. Schultheß & Comp.

Die scharfsinnige Arbeit, so ungefähr in der Richtung von Hold V. Femecks ^ Rechtswidrigkeit" gehalten, erörtert zuerst die objektive und subjektive Seite der Rechtswidrigkeit, dann den Begriff der Einwilligung und die Frage, ob sie die Rechtswidrigkeit zu beseitigen vermöge. Die gefundenen Interpretationsregeln werden dann an Beispielen geprüft; Ein-

1) Meine Ansicht über die Frage habe ich in einem dem „Vereine für Psychiatrie und Neurologie in Wien" am 21. Februar 1905 erstatteten Referate („Wiener klinische Wochenschrift'', XVUI. Jhrgg. Nr. 10 ex 1905) niedergelegt

Besprechimgcn. 383

willigung beim bedingten und unbedingten Reditsgüt (Körperverletzung^ ärztlicher Eingriff, Zweikampf). Hans Groß.

24.

Josef Poppenscheller: Die Daktyloskopie als Erkennungs- mittel für Wechselfälschungen. Prag 1906. Selbstverlag,

Verf. schlägt vor, den Aussteller und Akzeptanten eines Wechsels zu veranlassen, auf jedem Wechsel den Abdruck eines bestimmten Fingers an- zubringen. Kontrollabdrücke müßten dann in den Bankinstituten erliegen. Hier liegt aber eine Verwechslung vor. Damit, daß auf der ganzen Welt vieUeicht nicht zwei Menschen gleiche Papillarlinien haben, ist nicht gesagt, daß ein Fingerabdruck nicht nachgemacht werden kann. Freih'ch muß man einen Wechsel mit einem echten Abdruck haben, aber dann kann man mit Hilfe von Photogi-aphie und Photogravure unkenntliche Abzüge in beliebiger Menge machen, wie man sie in allen Lehrbüchern der Dak- tyloskopie findet. Auch zur Unterschriftsfälschung muß man eine echte Vorlage haben es wäre also mit dem Vorschlage nichts geholfen.

Hans Groß.

25.

Dr. Erich Wulffen, Staatsanwalt in Dresden: „Georges Manolescu und seine Memoiren. Kriminalpsychologische Studie. Dr. F. Langenscheidt, Berlin-Groß-Lichter- felde-Ost. Ohne Jahreszahl.

Georges Manolescu, „Der Fürst der Diebe^^, hat vor Kurzem durch seine Taten und Schicksale viel Aufsehen erregt. Ein auffallend schöner, kräftiger und sicher intelligenter Mensch ohne eigentliche Bildung, Sohn eines rumänisches Offiziers, genießt er keinen eigentlichen Schulunterricht, gerät früh auf Abwege und stiehlt unzählige Male in Hotels und bei Juwe- lieren, treibt sich als Hochstapler unter dem Namen Prinz Georges Lahovary herum, wird oft und empfindlich bestraft, heiratet eine deutsche Gräfin, verläßt sie wieder, stiehlt und wird wieder eingespeiTt, kommt ins Irren- haus, geht durch und stiehlt wieder, geht als Goldgräber nach Nordkanada, bricht den Arm, kommt wieder heim, schreibt zwei Bände Memoiren, und heiratet eine sehr reiche Französin, nachdem ihm der Arm im Schulterge- lenk abgenommen wurde.

Wulffen hat sich nun der großen Mühe unterzogen, die Memoiren auf Ginind* der Gerichtsakten und sonstiger verläßlicher Behelife genau zu prüfen, eine Menge liichtigstellungen vorzunehmen und namentlich die großen Über- treibungen, die Manolescu begeht (besonders bei Angabe des Wertes des Gestohlenen), zu korrigieren. Memoiren von Verbrechern haben zweifachen W^ert: einerseits bezüglich des Dargestellten als Vorgang und als psycho- logisches Moment, wobei allerdings die Frage nach der Wahrheit der An- gaben offen bleibt; anderseits als Tatsache, daß der Verbrecher dies ge- schrieben hat, wobei uns nur dieses, oft so eigentümliche Vorgehen inter- essiert. Wulffen hat uns nun die Memoiren M.'s in beiden Richtungen wertvoll und lehrreich gemacht, indem er uns zeigt, was daran wahr ist

384 Besprechungen.

und indem er alle einzelnen Vorgänge scharfsinnig vom kriminalpsycholo- gischen Standpunkte aus untersucht. Wenn Verbrediermemoiren nodi weiter in ähnlicher Weise bearbeitet werden, so hat Wulffen eine wertvolle Art der kriminellen Forschung inauguriert. Hans Groß.

26.

Robert Gaupp: Wege^und Ziele psychiatrischer Forschung. Eine akademische Antrittsvorlesung. Tübingen 1907. H. Laupp.

In formschöner Sprache und alle einzelnen Momente wissenschaftlicher Forschung auf psychiatrischem Gebiete von Heinroth an bis in unsere Tage kurz streifend, kommt der ausgezeichnete Tübinger Forscher zu dem Er- gebnisse, daß die Aufgabe modemer Psychiatrie darauf hinausgeht, Samm- lung der Tatsachen vorzunehmen und das gefundene, zweifellos gesicherte Tatsachenmaterial zu gruppieren, die Symptome zu Symptomenkomplexen und diese zu Krankheitseinheiten zusammenzufügen.

Das ist, wie Verf. selbst sagt, allerdings nicht neu, aber, wie er zu diesen Ergebnissen mit fortwährenden Seitenblicken und Ausblicken auf die Zukunft kommt ist überzeugend, schön und belehrend durchgeführt.

Hans Groß.

27.

Rechtsanwalt Rothe in Chemnitz: „Gegen den Gottesläste- rungsparagrapheu'^ und

Pfarrer Adolf Schreiber in Wedlitz: „Gegen das Jesuiten- gesetz." Tübingen 1906. J. 0. B. Mohr.

Der erste Vortrag zeigt uns die für die Gesetzgebung wichtige Tat- sache, daß wenigstens ein großer Teil der protestantischen Orthodoxen einen „Gotteslästerungsparagraphen" (d. h. den ganzen § 166 D, R. G. B.) im künftigen Gesetze nicht mehr wtlnscht. Hierfür werden eine Menge von Gründen angegeben^ von denen als wichtigster, nur indirekt ausgesprochener der zu sein scheint, daß Gotteslästerung immer weniger und weniger be- straft wird, so daß es am klügsten erscheint, wenn die zunächst Betroffenen selbst auf Bestrafung verzichten.

Der Herr Verf. wolle als Jurist zur Kenntnis nehmen (ad pag, 6), daß in Österreich „die Verleitung eines Christen zum Abfall vom Christen- tum" und „die Ausstreuung einer der christlichen Religion widerstrebenden Irrlehre" seit fast 40 Jahren (Ges. v. 25. 5. 1868 No. 49 R. G. Bl.) nicht mehr strafbar ist.

Die zweite Rede über die Jesuiten interessiert hier nicht.

Hans Groß.

ARCHIV

FÜR

KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE

UND

KRIMINALISTIK

MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN

HERAUSOEOEBEN von

Pbof. Dr. HANS GROSS

ACHTTHrDZWAIZI&STER BAlim.

LEIPZIG

VERLAG VON F. C. W. VOGEL

1907.

Inhalt des achtnndzwanzigsten Bandes.

Erstes und Zweites Heft

ausgegeben 3. Oktober 1907.

Original*Arbeiten. s«ite

I. Über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. Von

P. Näcke . 1

II. Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. Von Professor Dr. Robert Gaupp 20

III. Ein Wiederaufnahmsfall ob falsa. Mitgeteilt von Prof. Dr. Rosen- blatt 49

IV. Aus den Erinnerungen eines Polizeiheamten. Von Hof rat J. Hölzl 57 V. Versuchter Meuchelmord eines Epileptikers. Mitgeteilt vom Unter- suchungsrichter Dr. Huber 61

VI. Die Rache einer Stiefmutter. Mitgeteilt von Dr. Bauer ... . 70 Vn. Suggestibilität im postepileptischen Zustande. Von Dr. Alexander

Marguli6s 78

Vin. Presse und Recht Von Landgerichtsdirektor Rote ring . . . . 91 IX. Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. Von Professor

Dr. Günther 112

Kleinere Mitteilungen.

Von Medizinalrat Dr. Paul Näcke:

1. Dr. F6r^. In memoriam 193

2. Ein Fall von Panik 194

3. Erröten beim Beten 194

4. Die Wichtigkeit der kollateralen orblichen Belastung . . . 195

5. Determinismus und freier Wille , .... 196

6. Vorsicht bei der Stellung der Diagnose: Homosexualität! . . 197

7. Die Wertung des Weibes als Kulturmesser 199

8. Die Feinde der Assoziations-Psychologie 199

9. Angebliche Vererbung der Neigung zur Ehelosigkeit . . . 201

10. Merkwürdige Motivation onanistischer Handlungen seitens Geisteskranker 202

Von Dr. Heinrich SvorSik:

11. Das Anerbieten einer Prostituierten an einen Bordellbesitzer 202

Von Privatdozent Dr. Hans Reichel:

12. Reservatio mentahs eines Zeugen 208

ly Inhaltsverzeicbnis.

Seite BficherbeBprechungen.

Von HanB Groß:

1. Dr. Hermann Pfeifer: Die Vorschale der gerichtlichen Medizin 205

2. Dr. med. Moritz AUberg: Die Grundlagen des Gedächt- nisses, der Vererbung und der Instinkte ...*.... 205

3. Dr. M. Rumpf: Gesetz und Richter ... * 206

Von Dr. P. Näcke:

4. Bresler: Religionshygiene 206

5. Laquer: Der Warenhaus-Diebstahl 207

6. Elstadistica de la Administracion de justicia en lo criminai etc. 207

7. Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfrajgen der Theologie und Medizin 208

8. Rudeck: Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutsch- land 208

Drittes und viertes Heft

ausgegeben 4. Dezember 1907.

Original -Arbeiten.

X. Über die mexikanische Gaunersprache (Calö mexicano). Von Amts- gerichtsrat Sommer 209

XL Simulation von Paralysis progressiva. Mitgeteilt von Untersuchungs- richter JüDr. Ant Glos 215

XU. Der „böse Blick" als Mordmotiv. Von Dr. Albert Hell w ig . . 220

XIII. Über Schartenspuren. Von Landgerichtsdirektor Knauer . . . 223

XIV. Die Strafrechtsreform im Auf klärungszeitalter. Von Professor Dr. L. Günther 226

XV. Einige Worte über den internationalen Kurs der gerichtlichen Psycho- logie und Psychiatrie zu Gießen. Vom k. k. Staatsanwaltssubstitut

Dr. Richard Bauer 292

XVI. Unwahre Geständnisse. Mitgeteilt vom Staatsanwalt Dr. Richard

Jung 818

XVII. Ein Fall gewohnheitsmSJSiger Majestätsbeleidigung. Mitgeteilt vom

Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Max Po Hak 331

XVIIL Versuchter Meuchelmord eines Fünfzehnjährigen. Mitgeteilt vom

k. k. Staatsanwaltssubstitut Dr. RichardBauer 344

XIX. Identitätsnachweis an Kindern. Vom Medizinalrat Dr. G. Näcke XX. Ein eigenartiger Diebsaberglaube in Europa und Asien. Von Dr.

Albert Hellwig 358

XXL Das „Backen** von Kranken. Von Dr. AlbertHellwig . . . 361 XXII. Das Ameisenbad als Heilmittel. Von Dr. Albert Hellwig . . 366

XXIII. Erbschlüssel und siebentes Buch Mosis. Von Dr. Albert Hellwig 369

XXIV. Appetitliche Zaubertränke. Von Dr. Albert Hellwig .... 371 XXV. Regenwurmmedizin. Von Dr. AlbertHellwig 376

InhaltsverzeichniB. Y

8«ito Kleinere Mitteilungen.

Von Medizinalrat Dr. P. Näcke:

1. Nekrolog für Prof. Mendel 879

Von Hans Groß:

2. Falsche Würfel in Japan 379

S. Brief an den Heransgeber. Von Dr. A. Reiß 881

Vom Landgerichtsrat Ungewitter:

4. E^n Fall von dementia praecox .... * 382

Bficherbesprechungen.

Von Dr. P. Näcke:

1. Adler: Studie Über Minderwertigkeit von Organen .... 884

2. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten . . 384

3. Krauss: Historische Quellenschriften zum Studium der Anthro- pophyteia 385

4. Kötscher: Das Erwachen des Geschlechtsbcwußtseins . . . 386

5. Otto Groß: Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irresein Kracpelins . . . 386

6. Weygandt: Die abnormen Charaktere bei Ibsen .... 387

7. Kreusor: Geisteskrankheit und Verbrechen 387

8. Bloch: Der Ursprung der Syphilis 388

9. Morselli: La tuberculosi nella etiologia e nclla patogenesi delle malattie nervöse e mental! .* 888

10. Toulouse: Les le^ons de la vie 389

IL Siemerling: Streitige geistige Krankheit 389

12. Westermarck: Uraprung und Ent Wickelung der Moral begriffe 390

13. Iwan Bloch: Das Texualleben unser Zcitschr. 891

14. N. 0. Bady: Aus eines Mannes Mädchenjahren 391

15. NÄvrat: Der Selbstmord 391

16. Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik 392

Von Dr. Ernst Lohsing:

17. Kompendien des österreichischen Rechtes 393

Von Hans Groß:

18. Schmidtmann: Handbuch der gerichtlichen Medizin . . . 394

19. Der Pitaval der Gegenwart 395

20. Dr. med. Moritz Olsberg: Die Grundlagen des Gedächt- nisses, der Vererbung und der Instinkte 395

21. Gerichtsassessor Dr. M. Rumpf: Gesetz und Richter . . 395

I.

Über Kontrast-Träame und speziell sexaelle Kontrast-Träume.

Von

Medizinalrat Dr. F. Käcke in Hubertusburg.

Immer mehr hat man eingesehen, daß der Traum nicht das regellose Durcheinander ist, als welches er dem Laien und oberflächlich Blickenden erscheint Je tiefer man sich mit der Psychologie dieses Phänomens abgibt, um so mehr erkennt man, daß hier alles deter- miniert ist und zwar, wie jede gute oder schlechte Handlung, von innen und von außen zugleich bedingt, wobei einmal mehr das endo , das andere Mal mehr das exogene Moment die Tat auslöst

Seit uralter Zeit hat das Traumleben die Menschen angezogen und zu allerlei Aberglauben geführt, sogar mit einer Wurzel die Ur- Beligion gebildet 0 Aber einzudringen in das tiefe psychische Sätsel des Traumes hat man erst in neuester Zeit angefangen.

Wie bei jedem psychischen Phänomen hat man die Selbst- beobachtung^ die fremde Beobachtung und endlich sogar das Experi- ment mit Erfolg herangezogen. Die Sache ist aber eine so spröde, daß nur sehr wenige wirkliche Traum-Psychologen da sind, ja von zünftigen Psychologen wird der Traum immer noch stiefmütterlich, um nicht zu sagen geringschätzig behandelt. Und doch habe ich in letzter Zeit wiederholt auf die forensische Bedeutung des Gegenstandes hingewiesen, mehr als andere. ^) De Sanctis in B^m hat vor einigen

1) Die Lehre von der Seelenwandenmg ist z. T. wohl sicher auf Träume zurückzuführen. Dieselben lehren aber auch weiter, daß der Mann, auch der zivilisierte, von Haus aus polygam angelegt ist

2) Näcke. a) Die forensische Bedeutung der Träume. Dies Archiv, Bd. 5, p. 114 ff. b) Der Traum als feinstes Reagens für die Art des sexuellen Empfindens. Monatsschr. für Kriminalpsychol. etc. 1905, p. 560. Dazu noch c) Nachtrag zu den „sexuellen Träumen'^, ibidem, p. 637. Diese Arbeiten sind in ihrer Art die ausführlichsten.

ArohiT fOr Kriminalanthropologi«. 26. Bd. 1

2 L Näcke

Jahren ein interessantes Buch fiber Träume geschrieben, auf großer Erfahrung beruhend. Vaschide in Paris machte außerordentlich wichtige Beobachtungen an sich, indem er längere Zeit hindurch sich zu bestimmten Zeiten wecken ließ und so nachweisen konnte, daß er stets träumte, vor Mittemacht sich fast nur mit der Vergangenheit, nach Mittemacht mit der Gegenwart und Zukunft beschäftigte. Er konnte dasselbe auch an anderen Personen in gleicher Weise erhärten, was ein wichtiges Ergebnis darstellt Waren nun schon früher direkte Experimente an Schlafenden gemacht worden, so wurden sie systematisch nach einer bestimmten Richtung hin neuerdings von Vold in Christiania wieder aufgenommen, wodurch der große Einfluß des äußeren Reizes von neuem nachgewiesen ward. Dann kam Freud mit seinem Buche 1900: Die Traumdeutung, welcher psychoanalytisch vorging, höchst Interessantes entdeckte, aber mit seiner Hauptthese, daß nämlich der Traum nur als „Wunschtraum'' aufträte, offenbar weit über das Ziel hinausschoß, ebenso ein in seiner Psychoanalyse der Hysterie, Zwangsneurose etc. In nächster Zeit wird uns voraus- sichtlich der ausgezeichnete englische Psycholog Havelock Ellis mit einem Buche über Traumpsychologie erfreuen. Seit Jahren habe auch ich mich mit Traumpsychologie beschäftigt und ein großes Material angesammelt, das hoffentlich einmal in extenso verarbeitet werden wird. Unterdes habe ich verschiedene größere Arbeiten und kleinere Mitteilungen über den Gegenstand veröffentlicht, die mein reges Interesse daran genugsam bekunden.

Man hatte sich aber nicht mit dem Aufsuchen der Determination bei Träumen begnügt, sondem wollte noch weitergehen und suchte sogar nach spezifischen Träumen. Da sollten zunächst die Ver- brecher mehr oder weniger solche haben (Lombroso), dann die Geisteskranken, wie das besonders S. de Sanctis an eigenem Materiale zu beweisen suchte. Eigene Verbrecherträume gibt es aber nicht und auch von spezifischen bei Irren habe ich mich trotz jahrelangen Suchens bei sehr großem Materiale nie wirklich überzeugen können. Ja, nicht einmal das konnte von mir festgestellt werden, ob die Irren mehr träumen als Gesunde ! Da man es bei Träumen nur mit subjektiven Angaben zu tun hat, kann man nicht vorsichtig genug sein und speziell Geisteskranke sind hierin sehr unsicher. Bei Epileptikem etc. wollte man ebenfalls charakteristische Träume gefunden haben ; auch das ist nicht zutreffend, wenn auch hier vielleicht schreckhafte und solche mit Feuerschein etc. häufiger als sonst vorkommen.

Die interessante Frage der Träume bei Tieren ist weiter durch- aus noch nicht einwandfrei gelöst, wenn auch manche Beobachtungen

über Kontrast-Traume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 3

dafür zn sprechen scheinen. Die uns noch näher angehenden Kinder- tränme sind wenig erforscht und die psychologisch so wichtigen bei den sog. Wilden noch viel weniger, obgleich z. B. de Sanctis manches Material hierüber herbeibringt.

An dieser Stelle will ich nur ein kleines Gebiet der Traum- psychologie betreten, das fast Neuland genannt werden muß und hier zum 1. Male näher untersucht wird, nämlich das der Kontrast- Träume! 0 Zuvor aber noch einige Erläuterungen. In meiner ange- zogenen Arbeit (unter b) setzte ich auseinander, daß mehr als im Wachen die Instinkte in Träumen walten, das sog. „primäre Ich", namentlich die zwei Grundtriebe der Selbsterhaltung und der Fort- pflanzung. Daher auf der einen Seite die Signatur der meisten Träume der Egoismus ist, auf der anderen häufig der Erotismus^), der ja auch schließlich als eine Art Egoismus sich auf- fassen läßt Es wird nun von vielen Umständen abhängen, ob beide Grundtriebe stark oder schwach oder scheinbar gar nicht anklingen. Vor allem ist hier die angeborene Stärke jener Instinkte ausschlag- gebend, dann in zweiter Linie die Stärke und Festigkeit des „sekundären Ichs^, d. h. also des durch Erziehung, Leben und Milieu erworbenen und „superponierten^ geistigen Zuwachses, das im Wachen als Regulator der Handlungen auftritt und die Triebe bis zu einem gewissen Grade niederhalten kann oder sie stärken, wenn sie zu schwach ausgefallen waren. Sehr wichtig ist auch die Tiefe des Schlafs und wahrscheinlich auch, ob der Schlaf ein natürlicher oder künsüicher, d. h. also die Instinkte z. T. scheinbar erregender ist

Beobachtet man sich nun genau, so wird man finden, daß sehr oft das moralische Niveau des Einzelnen im Traume sinkt,

1) S. de Sanctis (J Sogni, Torino 1899), p. 152, spricht von „Eontrast- träumen^ (sogni di contrasto), aber nur bei Hysterischen, wo er sie bisweilen an- traf. Seine Definition deckt sich fast ganz mit der meinen. Er unterscheidet solche nper contrasto intellettaalo'' und „per contrasto emotivo". Letztere be- ziehen sich nur auf den Affekt-Kontrast gegen die gewohnliche Stimmung oder die am Abend vorher. Ich untersuche hier nur die erstere Gruppe (deren Name freilich nicht gut gewählt ist), für welche (wie auch die zweite) S. de Sanctis keine nähere Erklärung gibt. Von sexuellen Kontrastträumen spricht er über- haupt nicht. In meiner oben angeführten Arbeit habe ich auch gams kurz schon jener gedacht unter sexuellen Träumen verstehe ich solche, in welchem der Träumende aktiv oder passiv eine sexuelle Szene miterlebt.

2) Wenn Jung (Über die Psychologie der Dementia praecox, Halle, Mar- hold 1907, p. 52) meint, daß die meisten Träume und die meisten Hysterien erotisch- sexuelle seien, so ist das eine starke Übertreibung besonders bez. der Träume. Jung hat sich leider durch Freud zu sehr beeinflussen lassen I

1*

4 I. Nagke

vielleicht sogar stets, soweit es sich nicht um gleichgültige Dinge handelt Man wird also z. B. ruhig Ungerechtigkeiten yomehmen sehen, ohne zu murren, ruhig kleine Diebereien, Betrügereien begehen, auch gefährliche Liebeleien, ja sogar einmal Ehebruch, ohne Reue zu empfinden etc. Das wird nun bei den einzelnen aber in sehr ver- schiedener Stärke sich zeigen und eben von den verschiedenen ge- nannten Momenten und ihrer Ausprägung abhängig sein. Im ganzen wird sich freilich trotzdem der gute oder schlechte Charakter des Träumenden fast nie verleugnen und deshalb hat der Traum auch einen charakterologischen Wert, der sich aber nur durch Serienträume feststellen läßt, d. h. also durch eine Reihenfolge von Träumen, möglichst aus weiter auseinander liegenden Zeiten und das ist nur selten zu haben. Dann würde man z. B. bei einem kaltblütigen Mörder, Raubmörder, schweren Einbrecher etc. nachweisen können, daß der Betreffende ein schlechter Mensch war, dagegen nicht, daß er ein Mörder, Einbrecher etc. werden würde. Ein Mörder wird auch durchaus nicht immer, ja wohl nur sehr selten vom Morden oder gar von seinem Morde träumen u. s. f. Jeder, der nähere Selbstschau übte, wird sich im Traum auf seinen geheimsten Fehlern ertappen, aber auch auf seinen guten Seiten. Der Gelehrte, Suchende, wird oft im Traume allerhand Probleme behandeln, wenn sie auch weit ab von seinen Wachgedanken liegen, der Edle wird vornehm agieren, worüber er sich sogar während des Traumspiels freuen kann etc.

Kontrast-Träume nenne ich nun diejenigen, die in schreiendem Kontrast zum gewöhnlichen Charakter stehen, also nicht solche, die dem gewöhnlich niedriger eingestellten Moral-Niveau im Traum entsprechen. Wenn also z. B. ein seelensgtiter Mensch einmal träumt, er habe Jemanden ermordet, um ihn zu berauben, oder aus Neid, oder wenn ein keuscher Jüngling sich als raffinierten Wüstling auftreten sieht, oder wenn ein Halunke von Kindesbeinen an die Rolle eines edlen Mannes spielt,^) so sind das Kontrast-Träume. Man erkennt sie auch daran, daß sie meist den Träumer so tief affizieren, daß er darüber aufwacht und froh ist, daß der böse Spuk vorüber ging. Während die gewöhnlichen Träume zum größten Teile vergessen werden, so geschieht es mit jenen meist nicht Sie können sogar noch den ganzen Tag über im Wachen die Stimmung regieren, die Gedanken hemmen oder fördern.

1) Dieser Fall dürfte sehr selten sein, kommt aber doch wohl einmal vor, obgleich ich keinen solchen kenne. Theoretisch wenigstens ist die Möglichkeit dazu gegeben.

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 6

Bei dazu Disponierten könnte im ersten Falle vielleicht einmal der Anstoß zu einer Psychose, besonders zu Melancholie gegeben sein. In ihrer erregenden Wirkung ähneln sie den sog. prämonitorischen* (Ahnungs-) Träumen, auf die ich später einmal zurückzukommen gedenke.

Wie hat man sich nun den Mechanismus solcher Kontrast-Träume zu denken? Meiner Ansicht nach etwa folgendermaßen. Es muß zu einer gegebenen Zeit aus irgend welchen Ursachen entweder das sekundäre Ich ganz oder zum größten Teile ruhen, sodaß ein relativ starker Grundinstinkt nun mehr oder minder nackt hervortritt und im Spiele der Assoziationen einen Kontrast-Traum erzengt Oder: das sekundäre Ich bleibt ziemlich unberührt und der bestehende Instinkt wird aus inneren oder äußeren Ursachen in besondere Er- regung versetzt Oder endlich der Fall 1 und 2 treten kombiniert auf, sodaß dann selbst ein schwach angelegter böser Instinkt zu relativ gefahrdrohender Höhe anwächst. Da nun Fall 1 normalerweise gewiß nur selten eintritt, so bleiben für gewöhnlich nur die Fälle 2 und 3 übrig und es wird dann von Fall zu Fall zu ent- scheiden sein, ob man annehmen soll, daß vorwiegend nur das „primäre Ich^ gereiztf oder aber auch gleich- zeitig das ^ySekundäre'^ geschwächt wurde.

Nun lassen sich verschiedene Ursachen dafür denken. Da unter gewöhnlichen Verhältnissen solche Kontrast- Träume wahrscheinlich nicht oder nur abnorm selten sind, so müssen außergewöhnliche Ursachen vorliegen. Das wird z. B. stattfinden können, wenn große geistige oder körperliche Anstrengungen am Tage vorher stattfanden, oder starke Affekte oder Erschütterungen eingewirkt hatten. Es ist dann wohl nicht zu gewagt sich als möglich vorzustellen, daß dadurch das sekundäre Ich geschwächt erscheint, die Gedankenkomplexe gelockert sind, und dies besonders bei Personen mit gering entwickeltem sekundärem Ich oder bei schon schwer heruntergekommenen Menschen. Es würde eventuell auch ohne alle Reizung der großen Gehimganglien, wohin man sich das „primäre Ich'^ vorwiegend konzentriert denkt, ein Kontrasttraum dann wohl möglich sein. Ist unsere Hypothese richtig, so müßten solche Träume besonders bei sehr Nervösen, körperlich und geistig Überangestrengten z. B. nach großen Bergtouren, Badfahrpartien, durchwachten Nächten etc. häufiger sein, aber auch bei sonst ge- sunden Kindern und sog. Wilden mit ihrem geringer entwickelten sekundären Ich Leider ist uns hierüber nichts bekannt Wahr- scheinlich aber ist es, daß gleichzeitig durch die oben angeführten

6 I. Näcke

Momente giftige Stoffwechselprodnkte im Körper sich anhäufen und diese nicht nur die höheren Gefühle u. s. f. schwächen, sondern zu- gleich auch die Grundtriebe reizen. Das scheint der gewöhnliche Modus zu sein. Andrerseits der 3. Fall gibt es wohl gewisse Gifte, be- sonders Alkohol, Aether, Morphium, Absinth etc., die wieder vorwiegend aber kaum allein auf die Grundtriebe ein- wirken und sieso erregen, daß diese alle sich entgegensetzenden Schranken durchbrechen. Bei jenen Vergiftungen müßten daher solche Träume häufiger sein, was aber auch noch zu beweisen ist. Fall 2 scheint mir also der häufigste zu sein, wenn nicht überhaupt der einzig mögliche. Es dürfte sich jedoch um gewisse Kumulativ Wirkungen handeln, da vorher der Träumende nicht aufwachte, wohl aber dann, wenn der schreckliche Kontrasttraum eintritt, was, da wohl stets die ganze Nacht durch geträumt wird, auf vorhergehende mehr gleich- gültige Träume hinweist Die Katastrophe tritt dann scheinbar etwa so plötzlich ein wie das delirium tremens.

Natürlich ist das hier Vorgetragene nur Hypothese. Man wird aber zugeben, daß obige Erwägungen durchaus im Bahmen der Mög- lichkeit sich bewegen. Auch aus dem Wachleben können wir analoge Zustände anführen, die unsere'Hypothese noch mehr empfehlen. Wir wissen nämlich, daß die Moral der Masse stets niedriger ist als die des Einzelnen, was vorwiegend auf die stark suggerierende gegenseitige Einwirkung zu schieben ist, bei möglichst gleichem Milieu. Jeder, der die vor Lust glänzenden Augen der Zuschauer bei einem Stierkampfe gesehen hat besonders bei den Frauen hat ein weiteres Beispiel dafür, wie durch diese Massen-Suggestion etc. die grausamen Triebe zum Vorschein kommen. Sicher gibt es trotzdem unter den Zuschauern ebensoviele wirklich gute Menschen wie bei uns, die mit Abscheu an jene Szenen zurückdenken, soweit es sich wenigstens um das rohe Blutvergießen der Pferde handelt. Wer hat nicht von den entmenschten Weibern der großen Revolution gehört, den tricoteuses, wie sie frenetisch die Carmagnole sangen, oder von den p6troleuses während der Kommune? Sicher gab es darunter nicht wenige, die nicht wirklich entmenscht waren. Sie wurden es durch die Macht des Beispiels, der Ansteckung der Leidenschaft etc. Und in wie roher Weise zeigt sich nicht selten der Erhaltungstrieb bei schweren Unglücksfällen, wie Schiffsstrandungen, Überschwemmungen etc. selbst bei sonst guten Menschen? i) Alle diese Umstände haben es also

1) Mir ist es daher ganz unerfindlich, wie ein so hervorragender Schriftsteller wie Henri Lavedan in einem kurzen Artikel, betitelt : les femmes sous la Revolution, in den „Annales, noel 1906, La Frangaise i\ travers les ages" folgenden Satz

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 7

vermocht, einerseits die Grandinstinkte aufzustacheln und wahr- scheinlich andrerseits gleichzeitig die Macht des sekundären Ichs zu schwächen. Auch hier treten, wie es scheint, Stoffwechselanomalien ein, die das abnorme Verhalten physiologisch erklären könnten. Man sieht jedenfalls die Ähnlichkeit dieser auch meist vorübergehenden Zustände mit den Kontrastträumen, die sogar so groß ist, daß man fast an eine Identität der physio- und psychologischen Verhältnisse denken könnte, zumal auch bei jenen Wachzuständen eine Art Extase entstehen kann, eine Einengung des Bewußtseins, die lebhaft an einen Schlafzustand erinnert

Will mau nun dieses mehr oder minder momentane Durch- brechen der Grundtriebe im Traume als einen Atavismus bezeichnen, so kann man es tun, vergesse aber nicht, daß es sich dabei wahrschein- lich stets um einen leichten oder schweren pathologischen Zustand i) handelt.

Wenden wir uns jetzt den sexuellen Kontrastträumen zu, 80 mögen zuvor noch einige einleitende Sätze gestattet sein. Seit Jahren, besonders aber in meiner angezogenen ersten Arbeit, habe ich auf den Traum, als ein wohl untrügliches Reagens für die spezielle Art des sexuellen Empfindens eines jeden hingewiesen. Dies wird auch immer mehr anerkannt und erscheint daher forensisch als ein nicht unwichtiges Mittel, um iu die Vita sexualis eines An- geschuldigten zu dringen^ wenn es gelingt^ Serienträume zu er- halten. Übrigens haben die Wichtigkeit der sexuellen Träume schon F6t6, V. Krafft-Ebing und Havelock Ellis erkannt, indem sie diese in ihren Krankengeschichten oft erwähnen. Zum ersten

schreiben kann : ^Les catastrophes ont toujours attendri les femmes et les grandes cruaut^s politiques et sociales ont pour invariable et premier effet de les rendre moins craelles". Ein Satz, den die Geschichte und Kulturgeschichte überall wider- legt Freilich gibt es genug Männer und Frauen, die so glücklich beanlagt sind, daß auch jene plötzliche Umstände sie nicht fallen lassen. Daß sie aber dadurch noch besser werden sollten, durfte eine ungeheure Ausnahme sein, wenn man z. B. auch Fälle kennt, wo schwere Verbrecher in Gefahren zu großer Aufopferung bereit waren. Anders freilich als plötzliches wirkt lang anhaltendes Unglück irgend welcher Art Hierbei kann und zwar scheinbar gar nicht allzuselten ein wahres inneres Läuterungswerk eintreten.

1) Ich habe nie Kontrastträume bei Geisteskranken angetroffen. Gerade hier sollte man sie a priori häufiger erwarten. Auch bei ihnen wird aber im großen und ganzen der frühere Charakter in der Krankheit bewahrt, wenn auch verzerrt, hier atrophiert, dort hypertrophiert etc. Eine totale und bleibende Um- wandlung sah ich kaum je! Das dürften auch die Träume bezeugen. Wo frei- lich schon Blödsinn oder Aufhebung des Bewußtseins eingeti*eten ist, kann von Charakter mcht mehr gut die Rede sein.

8 L Nagke

Mal jedoch hat, so viel ich sehe, Moll in seinem Buche: Die kon- träre Sexnalempfindnng (Berlin 1891) auf die diagnostische Wichtigkeit derselben aufmerksam gemacht und zwar speziell bez. der Homo- sexuellen. Er sagt (1- c. p. 193) klipp und klar, „daß die erotischen Träume gewöhnlich denselben Inhalt haben, wie die Geschlechts- empfindungen im wachen Zustande^ i). Er kennt allerdings einige Ausnahmen, die ich aber als Kontrastträume ansehe und erkläre. Diese Diagnostik erscheint mir daher so gesichert, daß ich bis jetzt keine Ausnahme kenne oder höchstens nur Scheinausnahmen. Jede Nuance der Geschlechtsempfindung wird auf das genaueste wiedergegeben. Und der Wert dieses diagnostischen Mittels erscheint um so größer, als, wie Havelock Ellis (in einer Besprechung meiner obigen Arbeit im Journal of Mental Science, 1906) richtig be- merkt — und das gilt auch von den nicht sexuellen Träumen! die Leute lieber ihre Träume, als ihre Handlungen kundtun. Das- selbe sagt übrigens schon Moll. Nur muß man auch bei den sexuellen Träumen sich ruhig und unabsichtlich erzählen lassen, um möglichst vertrauenswürdiges Material zu gewinnen. In meiner Arbeit (b., p. 505) hatte ich weiter gesagt: „Der von Jugend auf Homo- sexuelle träumt nur homosexuell, nieanders; der Bisexu- elle natürlich hetero- und homosexuell, d. h. entweder ab- wechselnd so oder während gewisser Zeiten nur homo-, während anderer nur heterosexuell, der tardiv Homosexuelle nur zuletzt homosexuell, der temporäre Homosexuelle nur tempo- rär so.''

Als Erster habe ich dagegen wohl auf eine andere Wichtigkeit der sexuellen Träume in foro hingewiesen. Es handelt sich nämlich bis- weilen um Bektifizierung irrtümlicher Geschlechtsbestimmung mit ihren Folgen, also in Fällen von Scheinzwittern, da echte (d. h. also Personen mit Hoden und Eierstöcken zugleich) bisher nur einigemale beschrieben wurden. Hier könnten nun Serien- träume große Dienste leisten und ziemlich sicher auf das richtige Geschlecht schließen lassen. Stets auf den Mann gerichtete libidinöse Träume sprechen durchaus für ein Weib, das umgekehrte Verhalten für einen Mann. Natürlich muß man an eine mögliche Homosexualität denken, doch wissen wir hier- über bei Scheinzwittem wohl noch nichts, auf alle Fälle sind es nur große Ausnahmen. Bei echten Zwittern anderseits würden unserer Theorie nach wegen Vorliegen beider Arten von Keimdrüsen, wenn

1) Im Text ist dieser Satz gesperrt gedruckt.

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 9

sie gleich stark entwickelt sind, auch bisexuelle Träume eintreten. Bis jetzt hat man leider alif die Träume der Zwitter, d. h. also meist der Scheinzwitter, nur wenig geachtet. Wo es dennoch geschah, zeigt sich durch nähere Untersuchung meine Theorie glänzend bestätigt. So hat wieder ganz kürzlich Hirschfeld 0 zwei Fälle von Schein- zwittem vorgestellt, die sich bei genauer ortlicher Untersuchung in vivo als Männer erwiesen; sie hatten stets auf Weiber gerichtete Geschlechtsträume gehabt Interessant ist aber auch ein von Hirschfeld zitierter Fall von Garr^e, und zwar deshalb, weil man im Bruchsacke des Zwitters einen Hoden mit Eierstock verbunden vorfand, was auch die mikroskopische Untersuchung erwies. Hier waren menses, Pollutionen mit Erektionen und „libidinösen Träumen, die sich auf das Weib bezogen" eingetreten. Die betreffende Person fühlte sich ganz als Mann, wie auch die sexuellen Träume zeigten. Warum traten dieselben nun hier nicht bisexuell auf, da doch Hode und Eierstock sich vorfanden? Das wird wohl vom Vorwiegen der tätigen Hoden über die Eierstockssubstanz abgehangen haben, was natürlich nur die Sektion entscheiden könnte. Ob in dem im Bruch- sacke Vorgefundenen mehr Hoden als Eierstock da waren, ist leider nicht angegeben. 2)

Endlich wies ich auch darauf hin, daß eine sichere Diag- nose der sexuellen Abnormitäten durch die Träume „nicht nur einen gewissen forensen Wert, sondern auch einen prognostischen und therapeutischen^ (1. c. p. 508) besitzt, da bei von Jugend auf konstant gebliebener Perversion und also genau derselben entsprechenden sexuellen Träumen jede Hoff- nung auf eine erfolgreiche Therapie so gut wie ausgeschlossen er- scheint, nicht aber da, wo sie nur schwach auftritt oder in Form von Bisexualität, oder nur spät oder vorübergehend.

Jetzt endlich kommen wir zu den sexuellen Kontrast- träumen. Ich nenne so libidinöse Träume, die der ge- gewöhnlichen Geschlechtsempfindung des Träumenden entgegengesetzt sind, also wenn ein sonst durchaus heterosexuell Empfindender ein- oder mehrmals deutliche homosexuelle Träume hat, oder wenn ein echter Homosexueller einmal heterosexuell träumt. Die Bedingungen dazu scheinen dieselben zu sein wie bei den nicht-

1) Drei Fälle vou irrtümlicher Geschlechtsbestimmung. Medizinische Reform, Nr. 51, 1906.

2) Auch in der eingehendsten Selbstbiographie eines Scheinzwitters , die wir besitzen, in dem Buche N. 0. Body's: Aus eines Mannes Mädchenjahren Berlin, Riecke, 1907) finden wir wieder unsere These bestätigt.

10 I. Näcke

sexuellen Eontrastträumen. Über Vorkommen, Häufigkeit derselben etc. wissen wir noch weniger als bei jenen, es scheint aber fast sicher, daß der Heterosexuelle über einen homosexuellen Traum fast noch mehr erschrickt als über einen andern Eontrasttraum, da die meisten Heterosexuellen einen anerzogenen gewiß nicht angeborenen ! Abscheu vor der Homosexualität haben.

Ich kann mich nicht entsinnen, in der Literatur bez. Hetero- sexueller diese Art von Träumen gefunden zu haben, was freilich für ihre Häufigkeit oder Seltenheit wenig besagen will. Gewiß werden manche, die solches erlebt haben, schweigen, weil sie von der Inversion überhaupt nichts wissen, die andern, weil sie sich schämen. Vergessen werden diese Träume gewiß nicht so leicht. In einer früheren Mitteilung brachte ich einen Fall eines typisch Heterosexuellen, der in seinen späteren Jahren vielleicht 3—4 mal deutlich homosexuell träumte, mit Orgasmus etc. Heute bin ich nun in der Lage, über einen weiteren zugehörigen Fall zu berichten. Einer meiner Eorres- pondenten, gleichfalls ein Heterosexueller, hatte einige Male homo- sexuelle Träume. Einen solchen teilte er mir kürzlich im folgenden mit. Er stammt von Mitte Dezember 1906.

„Ich wurde von einem kleinen Jungen, der sein Wasser abschlagen wollte und sich allein nicht behelfen konnte, zu Hülfe gerufen. Als ich, um ihm diese zu leihen, sein Hoschen aufknöpfte und seinen Peniculus hervorzog (Dinge, die beiläufig bemerkt, im Leben nie an mich herangetreten sind), bemerke ich mit Erstaunen, daß der vordere Teil desselben mit einem weißen Läppchen umwickelt und dieses durch eine sog. Fingerdute aus buntem Stoff mit Bändern befestigt war. Nachdem ich dieses Hindernis entfernt, zerfloß der Traum, ohne daß ich erwachte oder eine Pollution eingetreten wäre. Der Traum kam mir erst im Wachen wieder zum Bewußtsein. So tief mußte der Eindruck also doch ge- wesen sein, daß er nachwirkte; nur daß ich natürlich mir gleich darüber klar war, daß es sich um einen Traum und nicht um ein wirkliches Erlebnis handelte. **

Dieser Tranm ist typisch nnd auch sonst psychologisch vielfach interessant Der betreffende Herr hat nie mit Jungen zu tun gehabt und doch träumt er einmal davon, ohne zunächst aufzuwachen oder Orgasmus zu empfinden. Daß beides nicht geschah, ja der Traum sogar vergessen schien, mochte vielleicht daher kommen, daß dieser Herr schon öfter ähnlich geträumt hatte, also dagegen etwas abgestumpft war. Vergessen aber war der Traum nicht, da er kurz darauf durch irgend welche Assoziationen im Wachen wieder aus dem Unterbewußtsein hervortrat. Der Betreffende hatte sonst mit Ausnahme, wie gesagt, einiger homosexueller Träume nur „Unanständigkeiten** mit Frauen im Traume gehabt, war also ein typisch normal Empfindender und dazu (trotz eintretenden Orgasmus mit Pollutionen) ein quasi plato-

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 11

nischer Heterosexueller, da er nie in seinem Leben mit Weib (noch weniger natürlich mit einem Mann) geschlechtlich verkehrt hatte.

Ich habe selbst nicht von heterosexuellen Träumen echter Urninge gehört, doch zweifle ich nicht einen Moment daran, daß auch sie vorkommen. Nebenbei erwähnt sie Moll (1. c.) als bisweilen eintretend und Hirschfeld (Mitteilung vom 12. Jan. 1907) schreibt mir: „Über Eontrastträume bei Homosexuellen erinnere ich mich im Augenblick nur einiger Fälle von Homosexuellen, welche häufige Angstträume hatten, die sich auf den Verkehr mit Frauen bezogen." Demnach rief also der Kontrasttraum bei ihnen kein Entsetzen aus Scham^ wie bei den Heterosexuellen, sondern geradezu Angst hervor, weil der Verkehr mit Frauen sie entsetzlich dünkt. Man sieht also, wie wenig gerade die Kontrastträume zur Theorie Freuds bez. der Erklärung der Träume als „Wunschtraum'' passen und so passen noch viele andere Träume nicht hinein. Übrigens ist es geradezu grotesk, welche Assoziationen Freud seinen Träumenden unterschiebt, um seine Theorie zu retten. Man möchte oft von „kindisch'' reden, wenn es nicht in einem ernsthaften Buche sich vorfände und nicht oft dürfte ein Autor seine Kritik über eine geliebte Theorie so leicht verloren haben, wie er! Bekannter als diese Kontrastträume bei Homosexuellen da- gegen ist es, dass Sadisten nicht nur sadistische Träume haben, sondern öfter auch, oder sogar kombiniert, masochistische; dasselbe gilt von den Masochisten. Das erscheint freilich nicht wunderbar, da Sadismus und Masochismus so nahe miteinander verwandt und sogar oft miteinander verbunden sind und gleichsam das Doppelgesicht derselben Sache darstellen.

Schwieriger liegt allerdings die Erklärung bei den andern sexuellen Kontrastträumen. Das homosexuelle Fühlen ist nicht etwa nur die Kehrseite des heterosexuellen, sondern ein toto coelo Verschiedenes, und alle Phantasietätigkeit eines Heterosexuellen wird ihm das Gefühl eines Homosexuellen nicht nahe bringen können. Nun sagt H. EUis ein- mal folgendes: „Obgleich Träume immer determiniert sind, so sind sie es oft nicht durch die Urinstinkte (radical instincts) des Träumers sondern durch ein Ineinanderfließen (fusion) von unzusammenhängenden (incongruous) und stets sich ändernden Bildern (imagery), was oft sehr wohl imstande ist, einen homosexuellen Traum bei einer normalen Person zu erzeugen." H. Ellis nimmt also hier zunächst das Vor- kommen von homosexuellen Träumen bei Heterosexuellen als häufig an. Ich weiß nicht, wie er das belegen will. Bekannt ist darüber z. Z. wohl, wie schon gesagt^ so gut wie nichts. Daß aber irgend- welche Assoziationsbilder einen gleichgeschlechtlichen

12 L Näck£

Tranm wirklich erzeugen können, wäre erst noch zu be- weisen. Ich glaube es nicht An anderer Stelle spricht H.EUis (das konträre Geschlechtsgefühl, übersetzt von Eurella, Leipzig, Wigand 1896, p. 221) von heterosexuellen Kontrast-Träumen, die sich ge- wöhnlich aus den früheren oder neuesten Erlebnissen des Träumenden erklären sollen. Wenn in seinem Falle X bei einem „unzweifelhaft kongenital Konträren^ häufiger Weiber- als Männerträume eintraten, so handelte es sich sehr wahrscheinlich um einen echten Bisexuellen, während Fall XI weniger häufig solche hatte, also weniger bisexuell beanlagt erscheint Fall XII, wo „anfangs immer Träume von Weibern^ da waren, ist sehr wahrscheinlich ein „tardiv'' Homosexueller. Und so lassen sich wohl alle Ausnahmen als nur Schein- Ausnahmen erklären.

Es steht wohl jetzt außer allem Zweifel, daß der Mensch bez. der Generationsorgane bisexuell angelegt ist Dafür sprechen Onto- und Pbylogenie eine zu laute Sprache und selbst beim Erwachsenen beider« lei Geschlechts finden sich dafür noch Anzeichen genug. Gibt man das zu, so wird man verlangen dürfen, daß ebenfalls bei ein und der- selben Person männliche und weibliche Eigenschaften, die ja direkt oder indirekt mit der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen zusammen- hängen, in versch iedener Mischung vorkommen. Männlich nennen wir einen Charakter, bei dem die sog. männlichen Eigen- schaften überwiegen, weiblich, bei welchem die weiblichen es tun. Männliche Eigenschaften finden sich also z. B. beim Durch- schnittsmann 750/0, bei der Frau 25<^/o, während weibliche dort 25o/o, hier 75®/o vorkommen.') Dieses mehr oder weniger starke Anklingen der somatischen und psychischen Eigenschaften bei Mann oder Frau an das entgegengesetzte Geschlecht kann man sehr gut als Zwischen- stufen vom Mann zum Weib und umgekehrt bezeichnen. Gibt man auch dies zu und ernste Einwände dagegen dürfen sich kaum er- heben — so scheint mir auch die Zwischenstufentheorie auf die Geschlechtsempfindung selbst übertragen werden zu müssen.

Waren ursprünglich wie es der Fall gewesen zu sein scheint die beiden Keimdrüsen gleich stark entwickelt, so müssen es wohl auch die beiden heterosexuellen Geschlechtsempfindungen gewesen sein. Mit der allmählichen Atrophie der einen Keimdrüse verschwand dann auch das entsprechende heterosexuelle Gefühl und es blieb in summa ein eingeschlechtliches Individuum mit heterosexuellem Fühlen übrig. Der Schritt der physischen und psychischen Bisexualität zur Einge- schlechtlichkeit auf dem Wege der Auslese wahrscheinlich mußte

1) Es gibt also an sich keine spezifischen rein männlichen oder weiblichen physischen Eigenschaften!

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 13

jedenfalls aus teleologischen Oründen erfolgen, da so allein eigentlich eine wirkliche Weiterentwickelung denkbar ist Nur so konnte jedes Geschlechtsorgan zur vollen Höhe emporwachsen und damit die ent- sprechenden psychischen Eigenschaften, speziell auch das sexuelle Fühlen. Letzteres ward so intensiv, daß es nicht nur die andern Eigenschaften quantitativ, sondern auch qualitativ abänderte. Daher kommt es, daß der Mann nicht etwa bloß männliche und weibliche Eigenschaften besitzt, sondern das männliche sexuelle Fühlen färbt alles so eigentümlich, daß in der Tat der Mann nie und nimmer in die wirkliche Psychologie des Weibes eindringen kann und umgekehrt^ was namentlich in foro wichtig ist. Hier werden Frauen von Männern mit männlicher Psychologie ver- urteilt, wie überhaupt das ganze Recht der männlichen Psychologie seinen Ursprung verdankt, leider zur schweren Schädigung der Frau. Welcher Mann kann z. B. sich wirklich in die Psyche einer Menstruierenden, einer Schwangeren, einer Gebärenden, also auch einer Eindsmörderin etc. versetzen? Wir ahnen nur gewisse Zusammenhänge und deshalb hat man mit Recht verlangt, daß beim Ver- urteilen der Frauen unter den Geschworenen auch Frauen sein sollen, die allein die weiblichen Ange- klagten innerlich verstehen können.

Wie aber ist die Homosexualität zu erklären? Fassen wir als Zweck der Menschheit lediglich die Fortpflanzung auf, so ist die gleichgeschlechtliche Liebe absolut nicht zu verstehen oder nur als ein Pathologisches. Über den Menschheitszweck wissen wir jedoch nichts und werden nie Sicheres wissen. Unter solchen Umständen sind uns aber gewisse Hypothesen gestattet; es kommt nur darauf an, sie mundgerecht zu machen. Könnte die Entwicklung der Keim- drüsen mit ihren Keirastoffen und deren Ausstoßung nicht noch einen andern Zweck verfolgen, als bloße Fortpflanzung? Wir wissen, daß unter den gegebenen Umständen der Mensch meist auf der Höhe seiner körperlichen und seelischen Entwicklung steht; ja letztere ist sicher zumeist von der Entwicklung der Genitalien abhängig. Also zunächst völlige Entwicklung der Menschen wäre das Ziel aller Wesen. Zeitweise Orgasmus mit Ausstoßen der Keim- stoffe wird dadurch bedingt; der Reiz dazu ist jedoch nicht immer der gleiche. Gewöhnlich geht er vom andern Geschlechte aus, doch zeigt er hier wieder unendliche Abstufungen ; die bloß über eine grosse Breite hinaus als pathologische Erscheinungen auftreten oder auftreten können, da z. B. manche Autoren selbst ausgeprägten Sadis- mus oder Masochismus noch zur normalen Variationsbreite der ge-

14 I. Nacke

wohnlichen libido rechnen. Es ist also dann nicht abzuweisen, d&ß dieser Beiz bei gewissen Personen vom gleichen Geschlechte aus- gehen kann, ohne an und für sich pathologisch sein zu müssen. Wir hätten also dann die libido als vom gleichen oder ent- gegengesetzten Geschlecht angeregt uns zu denken, mit gleicher oder ähnlicher Wirkung auf Körper und Geist, bis auf die Fortpflanzung. Untersuchungen haben immer mehr ergeben, daß die Homosexualität sehr wahrscheinlich keine pathologische Erscheinung ist, sondern eine Variation der libido darstellt, wenn auch einer nicht zu verachtenden Minorität Dafür spricht ihre Geschichte undUbiquität Die gemeinsame Zweck- setzung der Hetero- und Homosexualität könnte man also sehr wohl in der Hervorbringung von Erwachsenen und nützlichen Gliedern der Menschheit finden, bei den Heterosexuellen außerdem in der Fortpflanzung, die aber de facto nur von einem sehr geringen Teile derselben besorgt wird.

Wie entstand aber diese Variation der libido? Man könnte sich vorstellen, daß zu der Zeit, als beide Keimdrüsen sich an einem Individuum vorfanden, das sich selbst befruchtete, durch Berührung der eigenen Haut etc. bei Bewegungen Gefühle angenehmer Art ausgelöst wurden, die sich zu mehr oder weniger klaren sexuellen ausbildeten. Man leitet ja in der Tat die Genese des Geschlechts- gefühls vom Berührungsgefühl als eine Variation ab. Ist dem aber so, dann wäre das homosexuelle nicht nur das ältere und erste Geschlechtsgefühl und das heterosexuelle folglich eine Weiterbildung, eine höhere Stufe, sondern nach Analogien vieler andern Tatsachen der Biologie ist ein langes Nachwirken dieser Geschlechtsempfindung durch Vererbung trotz weiterer Ab- schwächung unter Zunahme der heterosexuellen Empfindung, als hei der bisexuellen gleichen Anlage zwei Individuen sich paarten oder gar, als nur noch eingeschlechtliche Befruchtung eintrat, durchaas nicht unmöglich. Die Auslese tat dabei das ihrige. Weiter denkbar wäre es, gleichfalls nach Analogien, daß unter bestimmten Umstanden, die wir nicht kennen, jener homosexuelle Anteil der libido, der im Laufe der Zeit verschwunden zu sein schien, wieder erwachte und so die Homosexualität als eine Art von Atavismus er- schien, der aber nicht pathologisch begründet zu sein

braucht^

1) Wenn sie auch vielleicht so eine gewisse Entwickelungshemmnng daistellt

über Kontrast-Träame and speziell sexuelle Kontrast-Träume. 15

Dieser Atavismus ist noch leichter möglich, wenn wir annehmen, daß der homosexuelle Hang bei der Weiterent- wicklung des Menschen nicht wirklich bis auf etwaige Bückschläge verschwand, sondern stets im Keime bei jedem vorhanden blieb und nun bei gewissen Anlässen vorbrechen, ja sogar die hetero- sexuelle Neigung ganz unterdrücken konnte. Gerade das immerhin relativ häufige Auftreten der Homosexualität dürfte sehr für ein kon- stantes Vorhandensein einer solchen Neigung in jedem Heterosexuellen, wenn auch bloß im Keime, sprechen. Noch mehr natürlich plä- dieren dafür das scheinbar nicht allzu seltene Auftreten von homosexuellen Träumen bei Normalen, wie endlich auch der zeitweise Durchbruoh echten Urningtums bei heterosexuellen 0 eis tesk ranken, speziell Schwachsin- nigen. Das wären nebenbei auch weitere Stützen für die bisexuelle Anlage des Menschen.^) Eine noch offene Frage wäre aber die, warum diese homosexuelle Anlage, stark oder schwach, gerade bei deutlichen „sexuellen^ Zwischenstufen und besonders gern, nach Einigen, bei femininem körperlichen und geistigen Typus sich vorfindet ^)

Der Mechanismus des sexuellen Kontrasttraumes wäre also nach Obigem ziemlich analog dem der übrigen Kontrastträume. Die latente homosexuelle Komponente würde im Traume einmal durchbrechen können und so entsprechende Träume erzeugen. Hauptbedingung ist aber stets: Vorhanden- sein einer mehr oder minder starken latenten homosexuellen Komponente.

Der Leser, der mir bis jetzt gefolgt ist, wird zugeben, daß die obige Darlegung und Hypothese durchaus nicht unmöglich erscheint, daß sogar eine Beihe von Momenten direkt dafür sprechen. Rechnen wir gar zur Homosexualität die nicht so seltenen Fälle von homo- sexuellen Handlungen in Schulen, Internaten, besonders aber in Ge- fängnissen und auf Schiffen, wo es an Frauen fehlt, und ich sehe keinen prinzipiellen Grund ein, dies nicht zu tun so wird unsere Hypothese und Darlegung immer wahrscheinlicher, besonders wenn man an die so häufige sexuelle Indifferenzzeit der Pubertäts- jahre denkt, wo erst nach längerem seelischen Schwanken und Hin-

1) Siehe Näheres bei Näcke: Einige psychiatrische Erfahrungen als Stfitze für die Lehre von der bisexuellen Anlage des Menschen. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. YUI. Jahrgang, 1906.

2) Ich selbst habe aber den femininen Typus bei Homosexuellen nicht so oft gefunden, wie andere, wenigstens nicht in ausgeprägterer Form.

16 I. Nacke

gezogen werden zu beiden Geschlechtern schließlich die Kompaßnadel der libido auf die bleibende Geschlechtsrichtnng sich einstellt.

Die vorgetragene Theorie könnte noch eine Variation haben, die ich aber weniger empfehle. Ich ging bei der Ableitung des homo- sexuellen Gefühls vom taktilen aus und zwar von dem des eigenen Körpers am somatisch bisexuell angelegten Vorfahren, der sich selbst befruchtete. Man könnte nun als Ausgangspunkt die nächst höhere Stufe annehmen, wo nämlich zwei bisexuelle Individuen sich paaren und sagen, in jedem muß ein doppeltes heterosexuelles Gefühl dasein, welches sich durch Berührung des andern Körpers entwickelte. Durch komplizierte, uns ganz unverständliche Verhältnisse, würde nun infolge fortschreitender und kreuzweiser Unterdrückung der somatischen und sexuellen Eigenschaften in einem eingeschlechtlichen Wesen die auf das eigene Geschlecht gerichtete libido zurückgeblieben sein. Mir scheint meine oben skizzierte Annahme natürlicher zu sein. Daß aber auch im echtesten Homosexuellen noch ein Minimum heterosexueller Richtung besteht, auch wenn sie sich nicht in Kontrastträumen kundgibt, sehe ich darin, daß der Homosexuelle stets geistig und körper- lich ihm entgegengesetzt geartete Personen (Homo- oder Heterosexuelle) zu Freunden wählt, d. h. also, wenn er selbst femininen Typus zeigt, nur solche, die männlichen aufweisen und umgekehrt Das kann nicht streng genug betont wer- den und könnte sogar verleiten, die homosexuelle libido als eine Abart der heterosexuellen hinzustellen, was sie wahrscheinlich schon aus phylogenetischen Gründen nicht ist, sondern sie ist etwas ganz Selbständiges.

Iwan Bloch hat nun in seinem letzten Buche ^) eine neue Theorie der Homosexualität aufgestellt, die, wenn richtige unsere oben dargelegten Hypothesen und Darlegungen hinfällig machen würde. Er hat darin zunächst Recht, daß er meint, die angeborene Inversion sei wohl dem Menschen ausschließlich eigentümlich 2) also gäbe es dafür keinen phylogenetischen Anknüpfungspunkt. Hirschfelds und v. Kraf ft - Ebings „Zwischenstufentheorie" erkläre wohl die Bisexualität und die unbestimmte geschlechtliche Empfindung, nicht aber die eindeutige gleichgeschlechtliche libido,

1) Das Sexualleben unserer Zeit. Berlin, Marcus, 1907, p. 5S2 sc.

2) In der Tat sind überhaupt wohl echte Fälle von Homosexualität bei Tieren nicht streng nachgewiesen. Wenn koitusartige Versuche bei Hunden, Pferden etc. vorkommen, so ist es immerhin fraglich, ob homosexuelle Geffihle dabei vorliegen, da dieselben Tiere, wenn nicht anders, auch durch Reiben an X beliebigen Gegenstanden ihres Samens etc. sich entledigen.

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 17

besonders nicht , wo sie bei „Fehlen jeder Abweichung vom Typus '^ aufträte. Er meint weiter, daß die normale ^Sexualspannung^ eine große (? Näcke) Unabhängigkeit von den Keimdrüsen besitze und wohl durch chemische Einflüsse stattfinde. Würde nun hierin be- reits embryonal eine Störung eintreten^ dann entstände so vielleicht die Homosexualität, was auch den Umstand erklären dürfte, weshalb sie so oft in völlig gesunden Familien auftritt. Diese „chemische Theorie^ hat sicher manches Bestechende, aber auch ihre großen Be- denken. Es ist freilich wahrscheinlich, daß durch die Keimdrüsen chemische Stoffe bereitet und in den Saftstrom geworfen werden, die fast alle Gewebe zur erhöhten Tätigkeit anregen, daher das Sichaus- bilden der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Pubertätszeit Nach- gewiesen hat sie aber bis jetzt noch niemand und wir wissen also auch erst recht nicht, wann sie sich zu bilden beginnen. Im allgemeinen herrscht ein ziemlieh strenger Parallelismus zwischen Keimdrüsen und Pubertätsentwicklung, der aber kein Kausalitätsverhältnis zu involvieren braucht. ^) Die Fälle, wo bei Kastraten noch libido, sogar bisweilen starke, besteht, könnte man sich wohl so erklären, daß bei gewissen Entmannungsverfahren nicht alle Hodensubstanz untergeht oder vielleicht noch andere Drüsen, als die Keimdrüsen, die fraglichen chemischen Substanzen liefern. Mög- licherweise werden solche aber auch vom wachsenden Gehirn selbst geliefert. Dafür könnte z. B. der Umstand sprechen, daß manche tiefe Idioten trotz gut entwickelter innerer und äußerer Genitalien keine libido zeigen, und anderseits selbst bei schlecht entwickelten von geistig Gesunden bisweilen sich gute libido findet.

Vor allem aber bleibt bei der chemischen Theorie ganz unauf- geklärt, warum gerade eigengeschlechtliche Geschlechtsrichtung sich entwickelt. Freilich ist dies auch der schwache Punkt meiner Theorie, aber bei Ableitung der libido vom taktilen Sinne ist immerhin doch <lie Möglichkeit einer homosexuellen Empfindung gegeben und es würde wohl nicht direkt dagegen sprechen, daß phylogenetisch dar- über nichts bekannt ist Möglich, daß beim Tiere diese Komponente fio schwach ausgeprägt war, daß sie nie eigentlich zum Durchbruch kam, erst beim Menschen^ wie ja auch hier verschiedene psychische Seiten sich entwickelten, die in dem Tierreiche nicht nachweisbar fiind, latent aber irgendwie wohl bestanden haben müssen, da die Natur sonst kaum Sprünge macht Es würde wohl die Annahme nicht zu kühn erscheinen, daß gewisse Abnormitäten im gröberen oder feineren Gehirnbau den gleichgeschlecht-

1) Siehe darüber weiter unten.

AxchiT ffir EriminaUinthiopologie. 2& Bd. 2

18 I. Näcke

liehen Beiz zur libido werden lassen. Hierin trafen wir uns dann mit Bloch, nur daß wir anatomische, er chemische embryonale Störungen annimmt. Diese gewiß nur leichteren Abnormitäten hätten sicher eine Funktionsveränderung zur Folge, brauchen aber keine solche des Stoffwechsels zu erzeugen. Ich habe s. Z. darauf hin- gewiesen, wie wertvoll es wäre, eine Reihe von Hirnunter- suchungen bei echten Homosexuellen vorzunehmen, was bis jetzt mangelt. Ich glaube fast, wir würden, den Nor- malen gegenüber, manche leichtere Abnormitäten dort finden, die uns dringend wieder die erfolglose Therapie gegen solche Fälle predigen würden. Fragt es sich ja doch, ob überhaupt die Entwickelung der Keimdrüsen unabhängig von der des Gehirns ist. Vieles spricht dafür, daß das Gehirn mehr das Gebende hierbei ist als das Nehmende, folglich muß sich dies auch in seinem Baue zeigen, da zuletzt das Sexuelle doch ein Geistiges, auf ana- tomischem Substrate Beruhendes ist, und also das Gehirn den Aus- schlag zu geben hat, ob hetero- oder homosexuell gefühlt wird.

Man sieht: Theorie gegen Theorie! Von zwei Theorien ist aber nicht jede gleich gut. Der Leser hat also zu wählen. Ich will nur noch hinzufügen, daß bei Blochs Theorie das Auftreten sexueller Kontrastträume, das episodische Auftreten von Inversion bei Geistes- kranken usw. kaum oder nur sehr schwer zu denken ist, viel leichter dagegen bei der meinigen, indem die latente Funktionierung postu- lierter anatomischer Anomalien für gewöhnlich völlig unbemerkt bleibt und nur unter besonderen, uns noch unbekannten Verhältnissen zu- tage tritt. Daß unter gleichen Umständen ein derartiger chemisch ab- normer Stoffwechsel eintreten müßte, der gerade die homosexuelle libido erzeugen soll, ist entschieden viel schwerer zu denken.

Zu guter Letzt noch ein Wort, nicht pro domo, sondern pro scientia. ICürzlich hatte ein bekannter Arzt in einem unserer ersten medizinischen Blätter über das schon erwähnte, hochbedeut- same neue Buch Iwan Blochs: ,,Das Sexualleben unserer Zeif* einige herablassende Worte geäußert; er fand es passend, gleichzeitig über die Schriftstellerei bez. der Sexualsphäre zu schimpfen. Ich be- merke, daß der Referent, so weit ich wenigstens weiß, nie etwas über Physiologie oder Pathologie der Sexualität geschrieben hat und wahr- scheinlich in diesen Dingen wenig zu Hause ist. Wenn nun schon so viele Laien in gleicher Weise schimpfen, so mag es noch hingehen. Tun dies aber Mediziner, so ist es schlimm und stellt nicht nur die Wissenschaft, sondern sie selbst bloß.

Bez. der sexuellen Arbeiten und Schriften muß man scharf drei

über Kontrast-Träume und speziell sexuelle Kontrast-Träume. 19

Kategorien unterscheiden: 1. die pornographischen, nur auf Sinnes- kitzel ausgehenden und selbstverständlich zu verdammenden; 2. die Aufklärungsschriften, unter denen leider sehr viele schlechte sind, während die guten durchaus lobenswert, ja sogar nötig erscheinen^); 3. die eigentlich wissenschaftlichen , die natürlich ebenso berechtigt sind wie jede andere wissenschaftliche Tätigkeit DieWissenschaft hat nicht nach gut und schön, sondern nur nach Wahr- heit zu fragen, oder was dasselbe ist: nach Kausalität. Je mehr man sich mit der normalen und pathologischen Sexual- psychologie beschäftigt hat, um so mehr staunt man nicht nur über die unzähligen Probleme, sondern die unzähligen Verbindungen, die dies Gebiet mit dem ganzen Mikrokosmus besitzt. Schon dieser kleine Abschnitt daraus die Kontrastträume , welchen wir oben behandelten, zeigt die großen Schwierigkeiten der Forschung und ihr stetes Hinübergreifen in Anthropologie und Biologie. Immer mehr ist es erkannt, daß die Familie, der Stamm und Erhalter unserer Kultur, und in zweiter Linie der Staat, schließlich auf sexuellen Beziehungen beruhen, wie auch Kunst, Literatur und Religion ohne solche kaum oder nur notdürftig existieren würden. Nicht nur in der Geschichte gilt das berühmte Wort: est la femme. Alles dreht sich um Hunger und Liebe; letztere ist vielleicht auch nur eine Art Hunger. Wer heute dies und anderes im Ernste leugnen wollte, würde sich einfach lächerlich machen! Und wie das Sexuelle direkt oder in- direkt den Forscher interessieren muß, brauche ich nicht erst zu betonen. Ein großer Teil unserer heutigen großen sozialen Fragen: die Frauenrechte, Kindererziehung, Ehereform usw. beruhen in letzter Instanz auf dem Sexuellen; wer das schöne Buch Blochs gelesen hat, wird über das gewaltige Gebiet billig staunen. Ich rechne es mir daher geradezu als ein Verdienst an, daß ich eine große Keihe sexuell psycho- und pathologischer Arbeiten unternahm und immer gern in den „kleineren Mitteilungen" auf dies so überaus wichtige Ge- biet zurückkomme. Mögen Dunkelmänner und prüde Geister noch so auffahrend und grob sich benehmen, sie werden die Fortschritte der Wissenschaft auch nicht einen Moment aufhalten können. Und die Wissenschaft arbeitet auch nicht umsonst: sie befruchtet die Praxis und läßt uns immer tiefer in die Psychologie des Menschen blicken.

1) Als solche kann ich dem Laien dringend bez. d. Homosexualität empfehlen: a) Hirschfeld: Was soll das Volk vom dritten Geschlechte wissen? Leipzig, Septbr. 1901 und b) Meissner: Uranismus etc., Leipzig, Septbr. 1906. Bez. der gesamten Sexualspbäre aber besonders Bloches schon zitiertes Werk, das populär und hoch wissenschaftlich zugleich ist.

2*

IL Zar Lehre Tom psychopatbischen Aberglauben,

«

(Mordversadi und Mord aas Hexenwahn, i

Von

Professor Dr. Bobert Ckkupp, Tubingeo.

Die Bedentang des Aberglaubens für das Strafirecht ist in den letzten 10 Jahren in immer zunehmenden Maße Gegenstand fach- männischer Erörterung geworden. Die Arbeiten von A. Lowen- stimm^ Hans Groß und Albert Hellwig sind den Lesern dieses Archivs bekannt. In seinem Aufsatz : ^Der kriminelle Aberglaube in seiner Bedeutung für die gerichtliche Medizin"*) gibt Hellwig eine kurze Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Frage, soweit sie für den Gerichtsarzt von Bedeutung ist ; die Abhandlung enthalt auch die ganze einschlägige Literatur zusammengestellt Der Jurist orien- tiert sich am besten im Handbuch für den Untersuchungsrichter von Hans Groß; der Kulturhistoriker lernt den deutschen Volksaber- glauben der Gegenwart aus dem Buche von AdolfWuttke kennen.

Hellwig weist mit Recht darauf hin, daß es eine für alle Zeit gültige scharfe Begriffsbestimmung des Aberglaubens nicht gibt und nicht geben kann. Er sagt: ^es existiert keine einzige Form des Aberglaubens, welche nicht zu einer gewissen Zeit oder bei dieser oder jener Klasse von Menschen als wahrer Glaube gegolten hat* Er definiert den Aberglauben als „denjenigen Teil des Volksglaubens, welchen die herrschende wissenschaftliche Richtung unserer Zeit als irrig erachtet* Ich möchte glauben, daß es nicht ausschließlich auf die „wissenschafüiche Richtung der Zeit*, sondern überhaupt auf die Anschauungen der für die Kultur maßgebenden Teile des Volkes an- kommt; diese Anschauungen sind nicht immer streng wissenschaftlich fundiert Doch ist dies mehr nebensächlich; im Ganzen kann man sich die Definition Hellwigs wohl gefallen lassen 2). Kriminellen

1) Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 1906, Nr. 16 ff.

2) Auch Löwenstimm's Definition (Aberglaube und Gesetz, H. Groß' Archiv 25, S und 4) trifft das Wesentliche des Aberglaubens recht gut: ^niit dem

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 21

Aberglauben nennt man den Teil des Aberglaubens, der für den Kriminalisten wichtig werden kann. Er spielt in verschiedenen Ländern Europas eine sehr verschiedene Bolle. In Eußland z. B. ist er noch heute ein kriminalpsychologisches Moment von großer Bedeutung; dementsprechend beschäftigt sich das russische Strafgesetzbuch aus- drücklich mit ihm. In Deutschland ist dies nicht der Fall und die Zahl der schwereren Delikte, die im Aberglauben wurzeln, ist nicht eben sehr groß. Hans Groß hat in seinen trefflichen Aus- führungen über den psjchopathischen Aberglauben dargelegt, daß bei geistig normalen Personen der Aberglauben auf ein bescheidenes Maß beschränkt bleibt. Normale werden von der Verwertung einer aber- gläubischen Meinung zurückgeschreckt, wenn bei derselben strafrecht- liche Grenzen energisch überschritten werden müssen.

Auf Grund dieser Erwägungen, denen die Erfahrungen des Lebens durchaus Recht geben, kommt Groß zum Begriffe des „psycho- pathischen Aberglaubens^. Die abergläubische Idee muß, soll sie eine kriminelle Handlung im Gefolge haben, überwertig werden; die normalen ethischen Hemmungsvorstellungen müssen den äußeren Verhältnissen unterliegen oder innerlich geschwächt worden sein. Ein Mensch, der in sich selbst keinen genügenden Halt hat, in unsicheren Existenzbedingungen lebt, den Einflüssen der Religion besonders stark unterliegt, eine mangelhafte Bildung genoß, läßt sich noch am ehesten zu Verbrechen aus Aberglauben hinreißen.

Wie richtig dies ist, möge der Fall zeigen, den ich unten des Ge- naueren mitteilen werde.

Eine historisch besonders wichtige Form des Aberglaubens ist der Hexen wahn. Er hat auch für Deutschland heute noch eine gewisse kriminelle Bedeutung, da er, wie Naecke mit Recht betont, noch immer im deutschen Volke lebendig ist Hellwig hat erst vor kurzer Zeit Fälle von Beleidigung und Körperverletzung infolge Hexen wahns mitgeteilt (Monatsschrift für Krim. III, 1906 und Archiv für Krim. 1 905). Dort erörtert er die Möglichkeit, daß es beim Hexen- wahn auch einmal zu Mißhandlungen kommen könne, und er fährt dann fort: „Vielleicht wird sich über kurz oder lang ein deutsches Gericht auch mit einer solchen Ausgeburt des Hexenwahns zu be- fassen haben." Diese Prophezeihung ist eingetroffen, wie Hellwig

Worte Aberglauben muß man einen logischen oder tatsächlichen Fehler bezeich - nen, welcher darin besteht, daß der abergläubische Mensch infolge von Ansichten, welche sich auf ihn von seinen Vätern vererbt haben, von der modernen Wissen- schaft aber verworfen werden, zwei Erscheinungen in einen kausalen Znsammen- hang bringt, welche ihrer Natur nach keinen Einfluß aufeinander haben können.''

22 IL Gaupp

meiner Arbeit entnehmen wird. An anderer Stelle (Arztl. Sacfaverst- Zeitung, 1906) sagt der gleiche Autor: „Hoffentlich beschenken uns recht bald Gerichtsärzte mit eingehend begründeten Ausarbeitungen über die psychologische und psychiatrische Seite derartiger Hexen- prozesse.^ Möge er das von mir erstattete ausführliche Gutachten als einen solchen Beitrag ansehen.

Unter den Krankheiten, die von abergläubischen Menschen auf die Einwirkung böser Geister (Zauberer, Hexen etc.) zurückgeführt wurden, spielt seit den ältesten Zeiten die männliche sexuelle Im- potenz eine hervorragende Rolle. Schon Thomas von Aquino kennt das Vorkommen der Impotenz durch Verhexung (Hansen, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexen wahns im Mittelalter, 1901). Bei Byloff (Das Verbrechen der Zauberei, Graz 1902) lesen wir, daß die „impotentia ex malificio^^ eine ständig wiederkehrende Er- scheinung in den Ehescheidungsprozessen des 15. 18. Jahrhunderts sei, wo sie eine „quaestio qnotidiana" bilde. Im alten Recht gab es eine „Impotentia ex operatione diaboli", die zur Trennung der Ehe berechtigte. Dieser Glaube an eine Impotenz durch Verhexung hat sich bis auf unsere Zeit erhalten. Löwenstimm erwähnt in seinem Buche über ^,Aberglaube und Strafrecht^' ein Vorkommnis in Rußland, wo ein Bauer seine Frau erschlug, weil er glaubte, sie habe ihm die Geschlechtskraft abgehext Hellwig macht darauf aufmerksam, daß namentlich solche Leiden gerne auf dämonische Einflüsse zurückge- führt werden, deren Entstehungsursache am schwersten zu ergründen ist und deren Krankheitsbild dem medizinisch Ungeschulten das Ein- wirken einer dämonischen Macht am meisten nahe legt Dies ist durchaus richtig. Bei der Impotenz kommt noch hinzu, daß der Ver- lust der Manneskraft den Affekt gewaltig erregt, Gefühle der Wut und Scham aufwühlt und damit einen Boden schafft, auf dem aber- gläubische Vorstellungen leicht Wurzel fassen und sich üppig ent- wickeln können. Und da es sich um einen bleibenden gesundheit- lichen Defekt handelt, an den der geschädigte Mann oft und vielleicht auch in peinlicher Weise erinnert wird (wenn er z. B. verheiratet ist), so kann sich gerade in einem solchen Falle der Haß gegen die ver- meintliche Urheberin des Übels allmählich zu einer Stärke entwickeln, daß Beleidigung, Körperverletzung und Mord die Reaktion des em- pörten Abergläubischen werden.

Ein solcher Fall sei nun im Folgenden mitgeteilt. Ich lege meiner Darstellung in der Hauptsache das Gutachten zu Grunde, das ich im Januar 1907 für das Schwurgericht in Ulm erstattet habe und das alles Wichtige enthält. Einiges Unwesentliche wurde hier weggelassen.

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 28

Am 29. Oktober 1906, abends 10 Uhr, kam der Hausierer Jo- hami B. aus 0. in Krain nach dem Bericht des Polizeiwachtmeisters K. rasch auf die Polizeiwache in 6. und rief in aufgeregtem Tone: „Sperren Sie mich nur ein, ich habe eben einen beim ,,Beben^ (Name eines Wirtshauses) gestochen, dort liegt er/' B. gab an, daß er schon längere Zeit mit dem Verletzten in Feindschaft lebe und ihm deshalb ein Messer in den Leib gestoßen habe, so daß er nun weg sei. Er selbst (B.) habe vorher „im Reben^ ein Glas Bier getrunken gehabt, sei dann dort weggegangen. Beim Verlassen der Wirtschaft sei ihm der Josef 6. begegnet; nunmehr habe er schnell sein Messer gezogen und es dem 6., ohne ein Wort zu sagen, in den Unterleib gestoßen. Bei diesem Vorgang habe niemand zugesehen. Nach vollbrachter Tat sei er sofort zur Polizeiwache gegangen.

Auf Veranlassung des Polizeiwachtmeisters war der Schutzmann W. alsbald zur Bebenwirtschaft gegangen, wo er einen Mann in seinem Blute hegend fand, um den mehrere Personen herumstanden. Die Angabe des B., daß er vor Begehung der Mordtat nur ein Glas Bier in der Rebenwirtschaft getrunken habe, wurde von der Frau des Bebenwirtes bestätigt Letztere nahm an, B. habe im Hausgang der Wirtschaft auf den G. gewartet Auch sei ihr durch Äußerungen des B. bekannt gewesen, daß die beiden schon längere Zeit einen Haß auf einander gehabt haben. Aus den sofort gemachten Angaben des Zeugen T. St ist bemerkenswert, daß sofort nach dem Messerstich B. selbst laut nach der Polizei gerufen habe. B. wurde in Haft genommen und am folgenden Tage vor dem Amtsgericht Geislingen erstmals richterlich vernommen. Hier gestand er die Tat unumwunden ein. Als Motiv seiner Tat bekannte er eine schon seit 8 Jahren bestehende Feindschaft mit G., dessen Frau ihm vor 8 Jahren als Hexe durch eine überirdische Macht das „Mannesrecht^' genommen habe, so daß er zeugungsunfähig geworden sei. Diese Hexe habe er vor 4 Jahren im Wartezimmer des Gerichtsgebäudes zu Tsch. fünfmal gestochen, sei dafür aber nicht gestraft worden, weil ihn zwei Ärzte für geisteskrank erklärt haben, so daß er für 10 Monate in eine Irren- anstalt bei Laibach verbracht worden sei. Er sei jedoch damals nicht geisteskrank gewesen, sei es auch heute nicht Sein Haß gegen G. habe jedoch immer fortgedauert. Letzterer habe 1905 seine (des B.) Frau beinahe totgeschlagen, sei aber dafür nur mit 8 Tagen Gefäng- nis bestraft worden, während die Frau B. 14 Tage Gefängnis be- kommen habe. Er sei sich schon längst darüber klar gewesen, daß er den G. aus der Welt schaffen müsse ; auch sei er der Überzeugung, daß G. ihn bei Gelegenheit würde getötet haben. Am 29. Oktober,

24 IL Gaupp

dem Tage der Bluttat, habe er mit 6. nicht den geringsten Wort- wechsel gehabt; auch sei die Tat von ihm in ganz nüchternem Zu- stande begangen worden. ^Um halbzehn Uhr ging ich die Treppen ^hinab und hoffte den 6. zu treffen, und hatte gleich im Sinn, ihn „zu töten. Zu diesem Zweck habe ich extra dieses Messer ~ ich ,,handle mit solchen Messern zu mir gesteckt, und war damit in „den Beben gegangen. Wie ich nun die Treppe im Reben hinabging, „kam 6. gerade des Wegs daher. Kaum hatte er den unteren Haus- „öhm betreten, wobei er kein Wort zu mir sprach, wie auch ich nicht „zu ihm, so zog ich das Messer, das ich in Papier eingewickelt ge- „habt hatte, aus meiner rechten Hosentasche heraus und rannte es „ihm in den Leib. Ich sah ihn noch taumeln und schreien; sofort „darauf eilte ich rasch auf die Polizei und erklärte einem dort an- „wesenden Schutzmann, daß ich soeben den 6. erstochen habe. Ich „habe keine Beue über meine Tat ; ich wußte ja, daß 6. oder ich tot „sein müsse, ich rechne mein Leben für nichts mehr auf dieser Welt'' B. fügte dann hinzu (ob auf Frage oder Vorhalt, ist aus den Akten leider nicht ersichtlich), es wäre ihm doch lieber, wenn nichts pas- siert wäre.

Die amtsärztliche Sektion der Leiche des 6. ergab als Todes- ursache Verblutung durch Verletzung der linken Schenkelblutader, die das Messer durchschnitten hatte.

Der Rebenwirt A. schilderte den B. bei seiner Vernehmung als einen ruhigen und nüchternen Mann, an dem er nie Zeichen geistiger Störung wahrgenommen habe, obwohl er ihn seit Jahren kenne. B. und 6. haben noch nie in der Reben Wirtschaft Streit oder Händel angefangen. Am Abend der Tat sei B. gegen 9 Uhr in die Wirt- schaft gekommen, habe ein Glas Bier getrunken, ohne daß er sich dabei auffällig benommen habe. Ruhig habe B. die Wirtschaft ver- lassen und eine Viertelstunde später habe er ( A.) den 6. rufen hören : „ich bin gestochen'*.

Bei der Vernehmung durch den Oberstaatsanwalt von ü. am 30. Oktober 1906 machte B. genauere Angaben über die Motive seiner Mordtat. Er berichtete, daß er seit 37*2 Jahren nicht mehr zu Hause bei seiner Familie gewesen sei. „Meine Leute haben nämlich von „anderen Krämern erfahren, daß ich gegen die Frau des Getöteten „Drohungen ausgestoßen habe, und mir deshalb geschrieben, es sei ,,besser, wenn ich nicht nach Hause komme. Diese Frau, Katharina G., „ist nämlich eine Hexe. Sie hat vor ungefähr 8 Jahren zunächst „mich und mein Kind verhext, dann auch meine Frau; wir sind mit „Hilfe von Sympathie wieder gesund worden; mir haben ein Dillinger

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 25

„Kapuziner und der Bauer und Schäfer Josef Ba. auf Scb. geholfen ; „die Hexe hatte mir die Mannesehre (Mannbarkeit) genommen, aber, ,,wie gesagt, das erste Mal konnte Ba. helfen. Am 18. Januar 1899 „waren ich und meine Frau mit ihr vor Gericht in Erain. Beim „Verlassen des Oerichtsgebäudes hat sie damit, daß sie uns beiden „mit den Händen über die Brust heruntergefahren ist, uns wieder „Krankheiten angehext und mir zum zweiten Mal die Mannesehre „genommen, so daß mir der Samen von selbst abgeht Jetzt kann „man mir nicht mehr helfen. Am 10. Juli 1902 wollte ich sie er- „stechen und habe ihr auch fünf Stiche beigebracht; sie ist aber da- „von gekommen, da man sie als Hexe nicht hinmachen kann. Ich „wurde verhaftet, in das Irrenhaus St bei L. verbracht und am Kar- „freitag 1903 nach Hause entlassen. Eine Strafe habe ich nicht er- „halten, aber Kosten und Schmerzensgeld habe ich zahlen müssen; „diese Leute haben mich um viel Geld gebracht; ich glaube, daß sie „mich um 3000 Gulden gebracht haben. Im Mai 1903 habe ich 0. „(seinen Heimatsort) verlassen und seitdem nicht wieder gesehen. Ich „habe auch kein Verlangen nach Hause; die Hexe ist schuldig, ich „habe nichts mehr vom Leben. Ich habe den G. getötet, weil er mir „nach dem Leben getrachtet hat und hat mich des öfteren bedroht „und mit mir Händel angefangen; er ist stärker als ich. Solche „Drohungen hat mitangehört der Händler Georg M. Ich habe ihn „auch deshalb getötet, weil er weiß, daß seine Frau eine Hexe ist „und doch zu ihr steht und ihr hilft Ich habe mein Leid auch dem „Fostexpeditor in L. geklagt und der hat zu mir gesagt, er wisse „wohl, daß es böse Leute gebe und die (Frau G.) hätte er schon „längst totgeschlagen. Daß G. mich am letzten Kirchweihtag in D. „mit dem offenen Messer bedroht hat kann der schon genannte M. „bezeugen. Im Jahre 1905 hat er meine Frau halbtot geschlagen. „Er war, wenn auch kein Hexenmeister, so jedenfalls kein Guter. „Ich war, als ich ihm das Messer in den Leib stieß, ganz nüchtern. „Ich dachte: Deine Frau hat mich bailacht (wallacht), jetzt bailach „ich auch Dich, jetzt muß ich oder mußt Du hin sein.^^ In dem Protokoll wird beigefügt, der Beschuldigte lebe und sterbe darauf, daß es Hexen gebe und daß die Frau des Getöteten eine Hexe sei und ihn, seine Frau und sein Kind verhext habe. Von den Aussagen des Michael B., des Bruders des Angeschuldigten, ist hervorzuheben: Die ganze Familie sei körperlich und geistig gesund. „Mein Bruder „hat oft zu mir gesagt, es müsse anders werden, Gott verlasse ihn nicht, „Gott helfe ihm ; so könne es nicht fortgehen, er werde ihn (den G.) er- „stechen, weil er seiner Frau recht gebe. Ich bin sehr häufig mit

26 II. Gaupp

,,ibm znsammeDgetroffen, wir sind immer gut miteinander ausge- „kommen. Mein Bruder ist gescheiter als mancher andere. Dem 6. ,,hat er es übel genommen, daß er seine Frau gegen die Verdäch- „tigung der Hexerei verteidigt hat. Mein Bruder wurde dadurch in ,,dem Glauben, 6. halte selbst seine Frau für eine Hexe, bestärkt. „Die Frau 6. will gescheiter sein, als alle B. Mein Bruder ist durch „sie um viel Geld gekommen; er hat bei mir Geld entlehnt und „schuldet mir über 4000 Mark."

Der Handelsmann Johannes Bi. schildert den Getöteten als einen „rechten Mann", gegen den er nichts sagen könne; B. habe sich nicht ausreden lassen, daß die Frau G. eine Hexe sei und ihm seine Im- potenz angehext habe. B. habe geäußert, wenn er nach Hause komme, werde man sehen, was er tue. B. hat viel gebetet und von Gott ge- sprochen. Der Zeuge S. schildert den B. als einen ganz vernünftigen Geschäftsmann, aber als einen Mann, der fest an sein Verhextsein glaubte. G. habe sich neutral verhalten, jedes Zusammentreffen mit dem B. vermieden.

Dem die Untersuchung führenden Oberstaatsanwalt machte der Angeschuldigte, abgesehen von seinem Hexenglauben, den Eindruck eines geistig völlig gesunden Menschen.

Am 6. November 1906 schrieb die Witwe des Ermordeten, Frau G., an das K. Amtsgericht Ge. einen Brief, aus dem namentlich her- vorzuheben ist, daß B. 1903 auf Verantwortung seiner Verwandten aus der Irrenanstalt entlassen worden sei. Er habe schon damals öfters erwähnt, er werde noch drei Leute erstechen.

Der Zeuge Hermann Bl. schilderte bei seiner Vernehmung am 7. November 1906 den B. als einen fleißigen, ruhigen, zuverlässigen Geschäftsmann, der nie Spuren von Geistesstörung geboten habe ; um- habe er den Wahn, daß die Frau G. eine Hexe sei und in dieser Eigenschaft ihm und seiner Familie schon viel Böses angetan habe. B. habe ihm gegenüber öfter Äußerungen gebraucht wie: „die Hexe muß verrecken, ich bringe sie unter allen Umständen um". B. habe gesagt, wegen der Hexe habe er keine Heimat mehr; er gehe noch einmal nach Hause, dann bringe er sie um. Bl. erzählte, der Bru- der des B. in L. sei ebenfalls des Wahns, die Frau G. sei eine Hexe. Ihm gegenüber habe dieser Michael B. geäußert, sein Bruder habe den G. töten müssen, er habe nicht anders gekonnt.

Bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter am 16. November 1906 machte B. im Wesentlichen die gleichen Aussagen wie früher. Er stellte in Abrede, am Abend der Mordtat auf den G. gewartet zu haben, dieser sei ihm vielmehr gerade am Hauseingang

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 27

begegnet Das Messer, mit dem er die Tat ausgeführt habe, habe er stets bei sich getragen, da er fürchtete, 6. werde ihm etwas antun.

unter dem 25. November 1906 erstattete Dr. X. in ü. ein Gut- achten über den Geisteszustand des Angeschuldigten. Dr. X. kon statierte bei dem B. einen etwas beschleunigten Puls (90), etwas be- legte Zunge, lebhafte Patellarreflexe, etwas gebückte Haltung. Das Wesen des B. war gelassen bei trüber Grundstimmung, er äußerte Lebensüberdruß, weil ihm die Hexe die Potenz genommen und ihn krank gemacht habe. Er lebe nur noch, um für seine Kinder zu sorgen. Sein Wissen erwies sich als seinem Bildungsgang ent- sprechend, sein Gedächtnis intakt, die Erinnerung an die Straftat ungetrübt. Keue äußerte er nicht, er sei jetzt erst zur Buhe gekommen. „Gott hilft mir und Wahrheit, da hab' ich gute Buh.^ Der Arzt fand, daß B's. Fühlen und Denken von seinem Wahne beherrscht sei und daß er seit Jahren an Verfolgungswahn leide; seine Mordtat sei unter dem Einfluß einer krankhaften Wahnidee vollbracht worden. Da jedoch die Erankheitssymptome nicht sehr markant seien, so empfehle sich die Beobachtung des B. in einer öffentlichen Irren- anstalt

Diesen Antrag entsprechend wurde B. der Psych. Klinik in Tübingen zur Beobachtung und Begutachtung überwiesen und daselbst am 14. Dezember aufgenommen.

Aus den Akten ergab sich Folgendes:

Am 7. Januar 1899 stellte Frau Katharina G. in 0. in Krain Strafantrag gegen den Johann B. wegen Beleidigung und Verleum- dung; B. habe sie am 30. Dezember 1898 mitten im Dorfe vor seinem Hause angefallen, sie angeschrieen, sie sei eine große Hexe; sie sei nach Deutschland gegangen, um seinem Leib ein Ende zu machen. Diese Beschuldigung habe ihr das Herz zusammengeschnürt, sie be- zeuge bei Christus, daß sie dieser bösen Tat nicht schuldig sei. Sie habe ihm ruhig geantwortet: ,, täusche Dich nicht! oder weißt du es nicht, daß es einen Gott im Himmel gibt, der alle unseren Gedanken und Wünsche kennt? Darum glaube an den einen alleinigen Gott, nicht an Hexerei und an einen falschen Gott.^ B. habe darauf er- widert: „Du Katharina G. bist eine große Hexe, das bezeuge ich durch Aufheben der Finger, daß du es bist Ich möge Gott niemals schauen, wenn Du nicht eine große Hexe bist, denn Du betreibst es mit dem Teufel und dienest dem Teufel." Das habe B. vielmals gerufen in Gegenwart von Vielen. Auch spreche er oft aus, daß er sie noch erschlagen werde. Auch die Marina B. (seine Ehefrau) habe immer geschrieen, daß sie (die G.) eine große Hexe sei und ihn und

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sein Kind verderbe und fresse. Derart habe sie fortwährend geschrieeDi worauf ihr die E^atbarina 6. (die Klägerin) geantwortet habe: ^Gott der Allmächtige möge mich verderben, wenn ich den Wunsch gehabt habe, sie oder ihr Kind oder irgend jemand zu verderben, oder wenn ich schuldig bin solcher bösen Tat Denn ich glaube gar nicht an diese Sachen, noch viel weniger verstehe ich etwas derartiges. Aber in dem Hause des Johann B. glaubt man, daß es Hexen in Wirk- lichkeit gibt Schon der Vater des Johann B. hat über ein Frauen- zimmer das Gerücht ausgestreut, daß sie eine Hexe seL Auch in der Fremde bezichtigt mich Johann B. als Hexe, spricht schandbare Dinge über mich und verleumdet mich sehr. Denn mein Mann Josef G. hat mir schon dreimal davon nach Hause geschrieben. Das ist für mich eine schwere Verleumdung, denn ich bin unschuldig daran."

Die Klägerin nahm damals die Anklage wieder zurück, es kam zum Vergleich. Allein die Beschuldigungen hörten nicht auf und im August 1899 sah sich die Frau G. abermals veranlaßt, gegen den Johann B. wegen Beleidigung mit einer Klage vorzugehen. Sie teilte dem Gericht in T. am 17. August 1899 mit, B. habe sie vor vielen Leuten beschimpft und ihr mit Ermorden gedroht, da er das Bacht habe, sie als Hexe zu ermorden. Mit diesen Beschimpfungen bringe er viele Schande über sie, gebe ihr keine Buhe; dabei wisse sie von dem allem gar nichts, sei vielmehr ganz still und ruhig über ihn. Sie bat um strenge Bestrafung des B.

Am Verhandlungstage entfernte sich der Angeklagte vor der Verhandlung aus dem Gerichtsgebäude, so daß in seiner Abwesenheit das Urteil gefällt wurde. Durch Zeugenaussagen wurde erwiesen, daß die Angaben der Frau G. auf Wahrheit beruhen, B. habe die Klägerin angeschrieen: „Es möge Dich das heilige Kreuz und das Gestein der Kirche erschlagen; du bist eine Hexe, ich hab ein Recht, dich zu erschlagen; ich werde dich ermorden; was hast Du aus mir gemacht und meinem Kinde." Die G. habe darauf erwidert : „was sprichst du da, dir ist nicht recht im Kopf, ich bin an Dir nicht schuldig und weiß von nichts/' Darauf habe sich B. gegen die Leute ge- wandt und habe gerufen: „da, seht sie euch an, das ist eine große Hexe/ Sodann habe B. zwei Schritte nach vorne gemacht, habe sich umgekehrt und gerufen : „wenn du keine Hexe bist, so verfluche dich jetzt, wie auch ich mich jetzt verfluchen werde. Es mögen mich jetzt aus dem heiteren Himmel vor der strahlenden Sonne alle Blitze erschlagen, wenn du nicht eine Hexe bist und wenn du mich nicht verhext hast." Die Klägerin fuhr fort: ich habe darauf ge-

Zar Lehre vom psychopathisthen Aberglauben. 29

antwortet: ^ich will mich nicht verfluchen, weil man mir in der Beichte gesagt hat, daß ich mich nicht verfluchen darf und daß ich Dir sagen soll, daß ich dir etwas zufügen werde, daß du es merkst^ Er antwortete darauf: „0 ja, du wirst es mir zufügen, denn du kannst alles. Auf dashin habe ich mich trotzdem verflucht, es möge mich die strahlende Sonne nie mehr bescheinen, wenn ich etwas von Hexerei verstehe.^ B. fing darauf an zu schreien: „du bist eine Hexe, ich habe das Recht dich zu erschlagen und werde es tun."

B. wurde damals vom Bezirksgericht T. wegen Beleidigung zu 3 Wochen Gefängnis verurteilt; das Gericht nahm an, er habe diese Beleidigungen nicht ganz ohne Verstand ausgesprochen. Der Ver- urteilte legte Berufung ein, doch bestätigte das Obergericht die Strafe. In seinem Berufungsschreiben behauptete er, alles, was er zu der G. gesagt habe, sei wahr, sie habe ihm seine Männlichkeit genommen.

Am 4. Juni 1902 teilte der Polizeiwachtmeister V., Bezirk T. mit, die Katharina G. habe sich bei ihm darüber beschwert, daß der Johann B. ihr nachgehe, um ihr das Leben zu nehmen, wobei er behaupte, sie sei eine Hexe und habe ihn an seiner Gesundheit be- schädigt. Sie sei dadurch in Furcht versetzt und getraue sich nicht mehr, ins Freie zu gehen. B. habe dem Wachtmeister auf Vorhalt geantwortet, er werde schon noch seine Meinung tun, wenn ihm die G. das von ihr verursachte L^bel nicht beseitige. J. Butala sei nicht bei normaler Vernunft Die Heimatgemeinde des B. äußerte sich auf Anfrage des Gerichts damals über ihn, er glaube fest an Hexen ; das komme daher, daß er häufig ins Glas schaue und geringe Fähigkeiten besitze. Aber das liege in der Verwandtschaft; er sei der Sohn des alten „üsin^ (alten Quaerulanten), sei auch vor einigen Jahren richtig närrisch gewesen und gewiß noch nicht ganz ausgeheilt. Am 1 0. Juni 1902 sollte es zur Verhandlung gegen B. wegen Beleidigung und Be- drohung der G. kommen. Im Vorzimmer des Gerichtssaals stürzte sich der Angeklagte B. plötzlich in sinnloser Wut auf die Klägerin und brachte ihr mit einem Messer mehrere Stiche in Bauch und Bücken bei, worauf er sich flüchtete. Er wurde festgenommen und machte bei seiner Vernehmung vor dem Eichter am 10. Juni 1902 ausführliche Aussagen, die auch für die jetzige Straftat von großer Bedeutung sind, so daß ihre wörtliche Wiedergabe hier am Platze sein dürfte. Er sagte: „Maria S., Tochter meiner Kousine gleichen Namens, hat vor 4 Jahren bei der Katharina G. als Dienstmagd ge- dient. Sie wäre auch das andere Jahr in dem Dienste verblieben, aber weil meine Frau, Marina B., ihr etwas mehr Lohn angeboten hat, hat Maria S. den Dienst bei der Katharina G. gekündigt und

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ist bei meiner Frau als DieDstmädchen eingetreten. Ich habe damals in Deutschland den Hausierhandel betrieben. Als ich nach Hause gekommen bin, war Maria S. schon bei uns im Dienst und Ka- tharina G. hat wegen dieser Sache nie irgend eine Feindschaft gegen uns gezeigt Sie hat mit uns in aller Freundschaft verkehrt, und ich habe ihr sogar 2 mal Geld geliehen, einmal 20 Gulden, das andere Mal 5 Gulden. Am Anfang Oktober 1898 bin ich wieder nach Deutschland gegangen, um zu hausieren, um die Zeit Allerheiligen erhalte ich von meiner Frau einen Brief mit der Nachricht, daß sie sich mit Katharina G. wegen eines Schadens, den die Hühner ange- richtet hatten, überwerfen habe. Als ich das Josef G^ der zu der Zeit auch in der Nähe von U. den Hausiererhandel im Württembergichen betrieben hat, erzählte, antwortete er mir, daß seine Frau auf meine Frau ärgerlich sei, seitdem sie ihr die Magd genommen habe.

„Bald darauf habe ich im Unterleibe Schmerzen gefühlt; infolge- dessen habe ich mich dem Josef G. gegenüber beklagt, daß es mir seit der Zeit, seitdem seine und meine Frau sich überwerfen haben, nicht mehr recht sei. Bei der Gelegenheit habe ich ihm in Gegenwart anderer Hausierer gesagt, daß seine Frau nicht ganz „sauber^ sei, d. h. daß seine Frau „schlecht'' ist, daß sie andern Leuten böses wünscht und zufügt Darauf gab mir G. zur Antwort: „Warum hat mir deine Frau mein Mädchen genommen, da ich immer ein Waisen- kind bin.'' Darauf habe ich meiner Frau einen Brief geschrieben, daß ich von der Zeit an, da sie sich mit der G. überwerfen habe, nicht mehr ganz recht sei, und habe sie darauf aufmerksam gemacht, daß sie auf die Kinder achtgeben solle, damit den Kindern nichts Böses geschehe. Bald darauf bekam ich die Antwort, daß zu Hause alles in Ordnung ist Kaum sind darüber etliche 14 Tage vergangen, bekam ich von zu Hause ein Schreiben, daß das kleine Töchterlein eine geschwollene Hand habe, die immer schwärzer wird und immer mehr anschwillt Ich habe daraus gefolgert daß die Ursache dieses Übels nur die Bosheit der Katbarina G. ist. Ich habe deshalb einen gewissen Johann Ba. in Seh. im Bayerischen aufgesucht, der weit und breit bekannt ist, daß er mit großem Erfolge alle Krankheiten heilt Als ich ihm gesagt habe, daß mein Töchterlein nach der An- gabe meiner Frau eine schwarze geschwollene Hand habe, die immer weiter schwelle, hat er mir befohlen, daß ich ihm die genaue Adresse des Kindes mit Angabe des Bezirks, der Hausnummer und des Lan- des geben solle. Diese genaue Adresse legte er daraufhin auf ein Fenster, hat einige Kreuze um dieselbe gemacht und hat während- dessen dabei murmelnd seine Gebete verrichtet. Das geschah an

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einem Freitag, bald darauf bekam ich von meiner Frau ein Schreiben mit der Nachricht, daß am Sonntage die Geschwulst bei dem Kinde plötzlich vergangen ist Dem Johann Ba. habe ich daraufhin gesagt bei der Gelegenheit, als er Gebete für das Kind verrichtete, daß ich ein ganz anderer Mann geworden bin.'^ „Ich bin ein ganz anderer Mann/ Darauf antwortete dieser das Folgende: da hat sie Ihnen das Mannesrecht genommen. Ba. hat darauf, mich an meinem Kopfe haltend, über mir einige Gebete verrichtet und gab mir in einem Fläschchen eine gelbschillernde Flüssigkeit, von der ich 4 mal den Tag trinken sollte, worauf mir der Schmerz gleich vergangen ist. Das erste Mal gab ich ihm eine Mark, später aber jedesmal Waaren im Werte von einer Mark.

„Als ich darauf einige Tage vor den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1898 nach Hause gekommen bin, hat mir meine Ehefrau er- zählt, daß Katharina G. meiner Schwägerin Margarete Bu. gesagt habe, ihr Mann Josef G. habe ihr aus Deutschland nach Hause geschrieben, daß mir die Hoden geschwollen seien, und daß ich nicht recht bei Verstände sei, da ich sie (die Kath. G.) für eine Hexe ausgebe. Kurze Zeit nach den Weihnachtsfeiertagen habe ich Kath. G. zum 1. Male gesehen, denn ich war eben zu Hause, als sie Dünger aufgeladen hat. In einem vorwurfsvollen Tone sprach ich zu ihr: du bist mir eine gute Nachbarin, worauf sie antwortete, daß sie gar nicht an meinem Leiden schuld ist, daß sie Mitleid mit mir habe, daß sie aber meinem Weib wohl etwas zufügen möchte, wenn sie es dürfte. Weil ich ihr darauf vorgeworfen habe, daß sie. sowohl mich als auch mein Kind verhext habe, und sie eine Hexe geschimpft habe, hat sie mich in den ersten Tagen des Monats Januar im Jahre 1899 bei dem k. k. Bezirksgericht in T. wegen Ehrenbeleidigung verklagt Bei der diesbezüglichen Verhandlung hat sie mir zwar verziehen und sowohl mich als auch mein Weib mit den Fingern an der Brust berührt, dabei die Worte sprechend: ^Ihr fürchtet euch vor mir, ich werde euch nun berühren, damit Ihr nicht an mich denkt, so euch etwas fehlen würde.** Wie ich später in Deutschland von verschiedenen Seiten gehört habe, hätte ich damals der Katharina G. auf die Hand schlagen sollen und sie hätte keinerlei Macht mehr über mich be- kommen.

^Nach Ostern des Jahres 1899 ging ich wieder nach Deutsch- land, dem Hausiererhandel obzuliegen. Weil es mir im Kopfe gesummt hat, und ich auch im Unterleib öfters Schmerzen gespürt habe, habe ich in Deutschland verschiedenen Leuten erzählt, was mir widerfahren ist, und sie haben gesagt, wie ich es vorher bemerkt

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hatte, daß Kath. G. alle Macht über mich und mein Weib verloren hätte, wemi ich sie damals, als sie mich mit den Händen an der Bmst berührt hatte, auf die Hand geschlagen hätte. Einige haben mir damals geraten, ich möge mich bei den Patres in Dillingen, im Bayerischen, benedizieren lassen. Darauf bin ich in das Kloster ge- gangen und habe einem Pater gesagt, daß ich krank bin durch böse Leute. Er antwortete darauf: ,Ja das gibf s^ und hat einen anderen Pater gerufen, der mich ausfragte, ob ich verheiratet und getauft bin, ob ich bei der Beichte gewesen bin, und als ich das alles bejaht habe, legte er mir das hier aufliegende Skapulier über die Schulter und erklärte mir, daß er mir nun den päpstlichen Segen geben werde; dabei betete er aus großen Büchern über mir. Dafür gab ich ihm eine Mark und bald darauf haben die Kopfschmerzen nach- gelassen.

Anfang Äpgust kehrte ich wieder heim. Am 15. August 1899 habe ich der Kath. G. vorgeworfen, daß ich jetzt bereits es weiß, warum sie damals beim Gericht mich berührt habe, daß ich es weiß, daß sie schuld sei an meiner Krankeit; ich habe sie eine Hexe ge- scholten und zu ihr gesagt, daß ich sie erschlagen werde und daß ich auch das B,echt habe, sie zu erschlagen. Kath. G. hat mich deshalb wieder bei dem Bezirksgericht in T. wegen Ehrenbeleidigung verklagt und ich wurde zu 3 Wochen Arrest verurteilt; diese Strafe hat auch das Berufungsgericht in B. bestätigt. Damit ich wenigstens für kurze Zeit der Strafe entgehe, bin ich im Oktober des Jahren 1899 wieder nach Deutschland gegangen, wo ich im bayerischen und württembergischen Gebiet dem Hausierhandel oblag.

„Weil ich nicht schlafen konnte und auch in den Stunden des Schlafes träumte und schwitzte, bin ich wieder zu Jobannes Ba. ge- gangen, der mich für einige Zeit mit der gelbschillernden Flüssigkeit gesund machte. Im Februar des Jahres 1900 ging ich. zu einem ge- wissen Jobann L. in E. im Württembergischem, der sich auch mit dem Gesundmachen der Leute beschäftigt Kaum hat der mich er- blickt, rief er mir zu: „Ist schon wieder^', aus dem ich gefolgert habe, daß er sofort erkannte, daß ich verhext bin. L. hat nun eine kleine Schüssel (oder ein kleines Tischchen) geöffnet und sprach da- bei : „es ist schon zum Helfen.^^ Dann schloß er sie wieder zu. Ich habe ihm dafür ein paar Hosenträger gegeben und ging von dannen. Daraufhin kehrte das Scblafenkönncn für einige Zeit zurück. Bald darauf fühlte ich wieder Schmerzen in der Brust und mein Mund trocknete mir aus, als ob ich auszehrend wäre. Als mich die Hausierer in Gegenwart des Josef G. befragten, was mir fehle, antwortete ich

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ihnen, daß ich es nun bereits weiß, was mir ist, und daß ich nach Hause gehen und sie erschlagen werde. Bald darauf erhielt ich von meinem Bruder Michael B., der einen Besitz in L. im Bayerischen hat, dabei aber auch dem Hausierhandel obliegt, ein Schreiben, daß ich zu ihm kommen soll, denn er kenne einen Menschen, der mich gesund machen könne. Ich ging dort zu einem alten Manne aus der Umgebung, der über mir einige Gebete verrichtete und mich darauf 3 mal mit Weihwasser besprengte, worauf ich mich wieder besser fühlte. 20 Monate bin ich in Deutschland geblieben und An- fangs des Monats August 1901 kehrte ich nach Hause zurück und habe dann der Strafe des 3 wöchigen Arrests genüge geleistet Den 12. Oktober 1901 ging ich wieder nach Deutschland. Ich fühlte wieder ein Summen im Kopf und wiederholt schmerzte mich meine Brust. Am Tage der heiligen drei Könige 1902 fühlte ich aber, als ob mich jemand mit seiner Hand an den Hoden halten würde. Weil sich dieser Zustand wiederholte, habe ich vor 14 Tagen den Entschluß gefaßt, nach Hause zurückzukehren, mit der Absicht, Eath. G. zu ermorden, weil dieselbe die Ursache meines Unglücks ist und es nicht mehr zugibt, daß ich so friedlich leben könnte, als vorher. Zuerst hatte ich die Absicht, Kath. G. zu erschießen, aber weil mein Bruder die Flinte vor mir versteckte, entschloß ich mich, Kath. G. zu erstechen. Da es aber der Kath. G. bekannt war, daß ich ihr nach dem Leben trachte, blieb sie immer im Hause; wenn sie aber etwas außer dem Hause zu verrichten hatte, war sie immer mit einem kleinen Beil bewaffnet, darum habe ich mich nicht an sie getraut Als ich am 10. Juni 1902 als Angeklagter wegen eines Vergehens oder Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit vor das Gericht in T. kam, habe ich das hier vor mir liegende Messer zu mir ge- nommen; denn ich dachte bei mir, daß sich mir eine Gelegenheit bieten werde, die Kath. G. totzustechen. Auf dem Hausflur nahm ich die Gelegenheit wahr, da Kath. G. unter lauter Frauen saß und da habe ich sie mit dem Messer einigemale gestochen, in der Absicht, dieselbe aus den ebengenannten Gründen zu ermorden. Ich habe zwar jetzt, da ich die Kath. G. ermordet habe, nicht die Meinung, daß es mit mir und meiner Verwandtschaft besser werde, weil sie nun alle Macht über uns verloren hat, ich wollte sie vielmehr nur aus dieser Welt schaffen, denn sie hat mir alle Lust am Leben genommen.^

Der als Zeuge vernommene OrtsYorstand M. schilderte am 14. Juni 1902 den Vater des B. als einen unbescholtenen, aber nicht ganz normalen Mann, der in der Trunkenheit sehr erregt sei und immer eine und dieselbe Angelegenheit betreibe, die ihn gerade beunruhige;

Archiv für Eriminslanthropologie. 28. Bd. 3

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er belästige wegen eines Diebstahles, den er erlitten habe, die Gerichte fortwährend, obwohl die Angelegenheit längst genchtlich entschieden sei. Auch von dem Angeklagten Johann B. heiße es, er sei nicht ganz bei gesundem Verstände und zwar seit jener Zeit, als er die Eath. 6. Hexe geschimpft und behauptet habe, sie habe sein Kind verhext. Auch gehe von ihm das Gerücht, er habe sich aus Deutsch- land Figürchen mitgebracht, die er zur Herstellung seiner Gesundheit erhalten habe.

Am 14. Juni 1902 wurde B. durch die Arzte P. und D. be- gutachtet Sie gaben an, B. stamme aus einer psychopathisch belasteten Familie, der Vater leide seit Jahren an Querulantenwahn, die übrigen Verwandten in aszendenter und deszendenter Linie seien angeblich normal. Die häusliche Erziehung sei keine besonders sorgfältige ge- wesen, dagegen habe er in der Schule befriedigend gelernt. Das psychische Gleichgewicht habe möglicherweise durch Mißbrauch von geistigen Getränken und durch wiederholte gerichtliche Untersuchungen femer durch Erscheinungen in der sexuellen Sphäre gelitten. Er sei vor mehreren Jahren in der L. Irrenanstalt wegen Melancholie längere Zeit behandelt worden. (Diese Angabe ist nicht richtig, B. war noch nie in einer Irrenanstalt, sondern nur in einem gewöhnlichen Kranken- haus gewesen). Die Arzte fanden bei B. apathischen Gesichtsaus- druck, stupiden Blick, schwermütige Apathie, Verstimmung über den Verlust seiner Potenz durch die Hexenkünste der Frau G. und über die Verhexung seiner Kinder. Als Motiv seiner Tat gab der Ange- klagte den Ärzten Rache an der Urheberin seines Unglücks an; er habe bei vollem Bewußtsein den lange geplanten Mordversuch aus- geführt Die Tat sei der einzige Ausweg gewesen, um seinem trost- losen Zustand ein £)nde zu machen. Was weiter mit ihm geschehe, kümmere ihn wenig; das gegenwärtige Leben habe für ihn ohnedies keinen Wert gehabt Mit Hülfe des allmächtigen Gottes sei es ihm geglückt, die gottlose Zauberin unschädlich zu machen. Die Arzte kamen zu der Ansicht, der Angeklagte scheine an Melancholie bezw. Verfolgungswahn zu leiden und die Tat unter dem Druck seiner Wahnideen verübt zu haben. Da eine Simulation nicht ausgeschlossen werden könne, so beantragten die Gutachter die Beobachtung des B. in einer Irrenanstalt

Am 28. Juni 1902 äußerte sich der Gemeindevorstand in 0. über den B. dahin, er habe sich bis in die letzte Zeit gut betragen, sorge für die Ernährung von Weib, 5 Kindern, Eltern und einem Bruder, habe mit Schulden belastete Liegenschaften im Werte von 4050 Kronen; er sei ,,nicht ganz rein im Verstände, habe aber bisher

Zur Lehre vom psychopathischen AberglanbeD. 35

keinerlei Narretei betrieben/* Auch seine m&nnlichen Verwandten könne man nicht unter die Normalen zählen.

Am 10. Juli 1902 gaben die Sachverständigen Dr. V. und Dr. D. auf Grund 14tflgiger Beobachtung ein Gutachten über den Geistes- zustand des B. ab. Dieser habe sich ruhig und geordnet benommen, zeige aber die fixe Idee, er habe die ganze Lebenslust durch die Zauberei der Frau G. verloren. Diese psychische Störung werde von allerlei Sensationen begleitet: Sensationen im Kopfe, schmerzhafte Gefühle im Unterleibe, namentlich in der Blasen- und Schamgegend, Schlaflosigkeit und Druckgefühl in den Hoden, weswegen er zur Beseitigung dieser Zustände seine Zuflucht zu mehreren Charlatanen in Bayern genommen habe. B. leide an Wahnsinn (Paranoia per- secutoria sexualis), habe die Tat unter dem Zwange einer fixen Idee, also in unzurechnungsfähigem Zustande begangen; er sei gemein- gefährlich. Auf Grund dieses Gutachtens wurde das Strafverfahren gegen B. eingestellt, er selbst als gemeingefährlich in die Irrenanstalt S. bei L. eingewiesen, wo er bis zum 9. April 1903 verblieb. In den Akten findet sich endlich noch ein Schreiben der Frau Marina B. vom 26. August 1902 an das Ereisgericht in R, worin die Schreiberin mitteilt, die Kath. G. habe vor einigen Tagen zu dem Johann B. gesagt: „ich werde Dich verhexen, daß du noch heute entzweiplatzest. ^ B. habe sie „als Seh wachsinniger'' dann aus Angst beschädigt

Der uns von der Direktion der Irrenanstalt in St. überlassenen Krankengeschichte des B. ist zu entnehmen, daß er auch dort als Geisteskranker (Dementia praecox, phantastische Verrücktheit) gegolten hat Es wurde festgestellt, daß B. früher noch nie in einer Irren- anstalt war. Der Mann erschien als bedeutend „dement^, gab sein Verbrechen quasi als selbstverständlich zu, er habe nur in gerechter Notwehr gehandelt. Seit Jahren sei er wegen der Hexe schlaflos und habe keine Minute Euhe. Es heißt dann: „Halluzinationen aller Art werden unumwunden zugegeben." Er gab willig etwas gewundene, weitschweifige Auskünfte und führte eine Sprach weise, die „für den bestehenden Zustand ziemlich bezeichnend ist." ,,B. benahm sich während seines Anstaltsaufenthaltes völlig geordnet. Sobald der Grund seiner Intemierung berührt wird, ergeht sich Pat in einem endlosen Wortschwall, verwickelt sich in alle möglichen Einzelheiten, wird ab- schweifend und umständlich, erzählt in phantastisch gefärbter Form von allen möglichen Erlebnissen, bringt Einzelheiten, die jeden sach- hchen Zusammenhanges entbehren, in mystischem Märchenton mit einander in Verbindung."

3*

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Leider enthält die kurze snmmariscbe Krankengeschichte keine irgendwie verwertbaren Einzelheiten, sondern begnügt sich mit diesen allgemeinen Ausführungen, die die angenommene Diagnose der ,, Dementia praecox^ in keiner Weise zu begründen vermögen. Es ist weiterhin auch nicht ersichtlich, weshalb B. trotz seiner erwiesenen enormen Gefährlichkeit schon nach wenigen Monaten wieder entlassen wurde, wenn man doch glaubte, es bei ihm mit einem schwachsinnigen Geisteskranken zu tun zu haben.

Bei der Bedeutung, welche im vorliegenden Falle eine genauere Kenntnis der abergläubischen Anschauungen der slovenischen Hausierer haben mußte, sah ich mich veranlaßt, noch weitere Erkundigungen über diesen Punkt einzuziehen.

Der Hausierer Peter F. aus R., ein Heimatgenosse des B. gab mir im Januar 1907 Folgendes an: B. sei immer ein ausgezeichneter Mensch gewesen, nur sei er bald nach 1870 eine Zeit lang nicht recht gewesen, in Deutschland sei die Störung ausgebrochen, er habe damals in Günzburg Waren weggeworfen und sei sehr fromm geworden. In seiner Heimat seien die Leute fromm, aber B. sei als ganz Junger nicht frommer gewesen, als andere. Er, F., sei damals mit dem B. nach Hause gefahren, letzterer habe gerne Kirchen besucht und dabei einmal in der Kirche in Yillach die Bemerkung gemacht, dem Petrus dort (einem Heiligenbild) sei der Bart gewachsen. Später sei er dann wieder ganz normal gewesen. Er, F., sei auch der Meinung, daß es Hexen gebe und daß die Frau G. keine richtige Person sei ; ihm habe ein Mann namens Sp. gesagt, die Frau G. sei der reine Teufel, sie sehe immer auf den Boden; auch ihr Schwiegervater habe Angst vor ihr als einer Bösen gehabt, es deshalb nicht gewagt, sie zu schlagen ; der G. sei wegen dieser Person zu bedauern gewesen. G. habe anderen Leuten erzählt, wenn man träume, gehe die Seele aus dem Leibe heraus; er habe nämlich gesehen, daß sein Weib wie tot da- gelegen und nicht mehr geatmet habe und sie habe nachher gesagt, sie habe nur geträumt; es wandle ihre Seele dann weiter, ohne daß sie selbst dabei sei. Er wisse nicht, ob G. ein gefährlicher oder ge- walttätiger Mensch gewesen sei, doch habe B. erzählt, G. habe ge- droht, daß er dem B. das Messer 3 Hand breit in den Leib steche, B. solle sich hüten. In seiner Heimat Krain spreche man viel von bösen Leuten und Hexen. Er sei auch überzeugt, daß man das Vieh verbexen könne. Eines sei auch auffällig gewesen: G. habe sich geschämt, wenn im Wirtshaus von Hexen und namentlich von seiner Frau die Rede war. Wenn einer gefragt habe : wo ist der Mann der Hexe? so habe G. nach unten gesehen und gesagt: meine Frau ist

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 37

gescheiter als alle B. zusammen. B. habe sicher einen Grund ge- habt, weshalb er den G. gestochen habe; er sei ein sehr anständiger Mensch.

Am 5. Januar 1907 wurde der Bruder des B., Michael B. ver- nommen ; aus seinen Angaben ist hervorzuheben, daß auch er glaubt, daß die Frau G. eine Hexe ist, es gebe viele solche böse Menschen, auch in L. „Meine Frau kam neulich ins Kindsbett und da ließen wir, bevor das Kind getauft war, eine solche böse Frau nicht herein. Ich sage nicht, wer diese böse Frau ist, aber sie hätte unser Kind behexen können."

Dieser Bruder des Angeschuldigten, Michael, besuchte nun am 20. Januar 1907 den Angeschuldigten in der Klinik und wir nahmen dabei Anlaß, ihn über seine Beurteilung der G. genauer zu befragen. Zunächst ergab sich, daß auch Michael fest davon überzeugt ist, daß die G. eine Hexe sei und den Angeschuldigten krank gemacht habe. Und zwar habe sie dies dadurch erreicht, daß sie einen Schinken, den Frau B. dem G. für ihren Mann mitgegeben habe, verhext und dadurch seine Gesundheit zu Grunde gerichtet habe. G. habe jedenfalls davon gewußt; denn er habe, wenn davon die B«de ge- wesen sei, immer gesagt: recht hat sie. Einmal erzählte ein Nachbar des G., er habe gehört, wie G. mit seiner Frau Streit bekam und ihr im Zorn zurief: „gelt du willst mich hinmachen wie den B.'^ Michael bedauert ebenfalls, daß die G. nicht den Verletzungen erlegen sei, weil sein Bruder dann gesund worden wäre.

„Oh, das möchte ich noch erleben, daß die stirbt, denn auf dem Totenbett muß es herauskommen, daß sie schuldig ist, mein Bruder ist so heilig wie auf 50 Kilometer kein Mensch; er ist unschuldig, das ist gewiß." Man habe sich allgemein darüber gewundert, daß G. auf alle Anschuldigungen des B. nie mit einer Klage reagiert habe; er habe eben selber an die Schuld seiner Frau geglaubt Der Ange- schuldigte habe immer gesagt: „ach wenn ich nur gesund würde, dann würde ich gerne alles verzeihen." Würde B. nur ein einziges Mal gesagt haben, es tue ihm leid, daß seine Frau so handle, er könne nichts dafür, so würde der Angeschuldigte „eine ganz andere Fassung'^ bekommen haben. Aber statt dessen habe G. immer gesagt; recht hat sie, recht hat sie.'' Wenn B. im Wirtshaus seinem Hasse gegen die Hexe Luft gemacht habe („wenn sie nur verrecken würde**), so habe der G. in der Regel nichts gesagt, bisweilen habe er aber auch im Zorn geäußert: „wart^ nur, wenn wir einmal wieder zu Hause sind, werde ich Dir schon kommen.** G. sei ein grober Mensch ge- wesen, im Oktober 1906 habe er einmal am Wirtshaustisch gegen

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den Angeschuldigten hin geäußert : ^dir muß dais Messer noch so tief hinein/ wobei er eine Bewegung mit der Hand machte. Diese Äußerung habe seinem Bruder sehr zu schaffen gemacht und er habe sich gedacht, einer von beiden muß hinsein. Michael B. bestreitet, daß sein Bruder jemals geisteskrank gewesen sei, er sei sogar ein kluger Mensch.

Das Bezirksgericht in T. teilte am 10. Januar 1907 auf Anfrage mit, daß die Frau 6. sich eines guten Rufes erfreue, im Wohnort nicht als Hexe gelte, sondern als eine vernünftige und verträgliche Frauensperson geschildert werde. Die Familien B. und 6. seien seit Jahren mit einander verfeindet

Der Hausierer M. sagte bei seiner Vernehmung vor dem Bezirks- gericht in T. am 12. Januar 1907 aus, B., 6. und er selbst seien am 19. Oktober 1906 „im Löwen zu D. zusammengesessen, B. habe,^ wie gewöhnlich mit dem G. zu streiten angefangen, wobei B. dem Anderen vorwarf, daß seine Frau ihn verhext habe. Tags darauf sei es abermals zum Streit gekommen, im Verlauf dessen 6. sein Taschen- messer auf den Tisch legte, den Zeigefinger an die Grenze zwischen Heft und Klinge legte und dabei sagte; „Nur soviel möchte ich es in ihm haben.^ Dies habe dann M. dem B. auf Fragen wieder er- zählt, worauf dieser etwas Unverständliches vor sich hingemurmelt habe. Einige Tage später sei abermals Streit ausgebrochen, wobei B. gedroht habe, der Frau G. den Garaus zu machen. Darüber sei 6 sehr aufgebracht gewesen, habe bald nach B. das Gasthaus verlassen und dabei gesagt: „nun gehe auch ich, werde jedoch ein Messer in die Tasche stecken." M. meinte, B. habe die fixe Idee, die Frau G. habe ihn verhext, sonst sei er aber ganz vernünftig.

Das K. I^andgericht U. requirierte femer auf meine Bitte beim Bezirksgericht T. die Strafakten der Katharina G. und des er- mordeten Josef G. Ihnen ist noch Folgendes von Belang zu ent- nehmen: Am 7. Januar 1899 verklagte Johann B. die G. wegen Beleidigung, weil sie von ihm ausgesagt habe, seine Hoden seien angeschwollen und seine Vernunft habe sich getrübt. Es kam zum Vergleich. Im November 1901 wurde die Katharina G. verklagt, weil sie ihre 15 jährige Dienstmagd sehr beschimpft und mißhandelt habe, so daß diese sich schließlich aus Verzweiflung habe im Fluß das Leben nehmen wollen; sie sei nur zufällig von 2 Frauen gerettet worden. Diese Mißhandlungen seien erfolgt, weil das Mädchen das Kind der G. schlecht beaufsichtigt habe. Die Mißhandelte machte bei ihrer Vernehmung Aussagen, welche die G. als eine sehr heftige, rohe und brutale Person erscheinen ließen; Frau G. bestritt jedoch die

Zur Lehre vom psychopathischen Aberglauben. 39

Aussagen der Klägerin und wurde vom Gericht freigesprochen, da nicht zu erweisen war, daß sie das Zfichtigungsrecht der Arbeitgeberin überschritten habe.

Am 5. August 1905 verklagte die Frau Maria B. den Josef 6. wegen Körperverletzung ; dieser habe sie mit einem großen Prügel so geschlagen, daß sie hingestürzt sei und geblutet habe, sie sei ganz zerschlagen gewesen. 6. sei ihr feindselig gesinnt und habe schon 1 904 gedroht, daß er ihr den Kopf zurichten werde. Der Arzt stellte leichte Verletzungen fest Das Bürgermeisteramt zu B. stellte dem O. bei diesem Anlaß ein gutes Zeugnis aus; am 3. August seien ihm 2 Kinder gestorben und dies habe ihn wohl betrübt und aufgeregt gehabt 6. gab bei der Verhandlung zu, daß er die Frau B. auf Brust uud Schulter gestoßen habe, so daß sie zu Boden gefallen sei, dann habe er sie auf den Hintern geschlagen; sie habe ihn am gleichen Tage gekränkt gehabt 6. wurde vom Gericht zu einer Woche Arrest verurteilt und hat diese Strafe in T. abgesessen.

Endlich liegt noch ein Fascikel Akten vor, der eine Klage der Katharina G. gegen den Vater des B., den 74 jährigen Johann B. zum Inhalt hat Frau G. verklagte am 6. September 1 902 den Alten, weil er am 31. August 1902 mit Bezug auf sie gesagt habe: Jetzt muß sie der Teufel holen, es wird das nicht lange anstehen.** Über diesen Johann B. gab der Bürgermeister in Hadence das Zeugnis ab, er sei als ein Ehrenmann bekannt, verständig, erzähle nur in Wein- laune Spaßiges. Dagegen habe die Klägerin, die Frau G. eine böse Zunge und das sei der Grund der Zwistigkeiten; „ich würde nicht Unrecht tun, wenn ich dieser Partei 8 Tage Arrest geben würde. ** Eine Wachtmeistermeidung an das Bezirksgericht in T. bestätigt, daß der alte Johann B. nicht als geisteskrank gelten könne, es habe noch niemand Zeichen wirklichen Irreseins an ihm wahrgenommen.

Untersuchung und Beobachtung des B. in der Klinik:

B. wurde vom 14. Dezember 1906 bis zum 25. Januar 1907 in der psychiatrischen Klinik beobachtet und wiederholt eingehend untersucht. Er bot im Ganzen ein stets gleichförmiges Bild. Er war völlig orientiert über Zeit, Ort und Umgebung, benahm sich stets ganz ge- ordnet, gab freundlich über alles Auskunft, was er gefragt wurde, war mit der Verpflegung zufrieden, unterhielt sich mit den anderen Kranken in durchaus ruhiger und sachlicher Weise. Er gab nie zu irgendwelchen Klagen Anlaß, war nie mißtrauisch. Irgendwelche Symptome, die auf Sinnestäuschungen oder Beziehungswahn hinge-

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wiesen hätten, kamen niemals zur Beobachtung. Die körperliche Untersuchung ergab: B. befindet sich in mäßigem Emährungs- zustand, ist ein für sein Alter rüstiger Mann. Au den Schläfen sind die Schlagadern leicht geschlängelt. Die Reaktion der Pupillen auf Lichteinfall ist vorhanden^ scheint aber etwas langsam zu erfolgen. Im Übrigen war der körperliche Befund völlig normal; es fanden sich keine Zeichen von Tabes oder einer anderen Bückenmarks- erkrankung, auch keine körperlichen Symptome des chronischen Alkoholismus. Bei der Stuhlentleerung trat aus der Harnröhre gelegentlich ein milchig gefärbtes Sekret aus, ein Vorgang, den B- dem Arzt mit Entrüstung als Beweis seiner Verhexung zeigte.

In seelischer Beziehung erwies sich B. als ein keineswegs schwach- sinniger Mensch ; seine Kenntnisse und sein Urteil auf allen Gebieten, mit denen ihn das Leben als Hausierer in Berührung gebracht hatte, waren ganz gute; bereitwillig beantwortete er bei einer Prüfung seines Wissens alle an ihn gerichteten Fragen. Seine Ausdrucksweise war dabei nach keiner Richtung hin auffällig, niemals verschroben oder auch nur besonders umständlich. Die Gefühlsbetonung alles dessen, was er von sich aus oder auf Fragen äußerte, war stets eine normale; bei gleichgültigen Dingen blieb er ruhig; bei Dingen, die seine Person, seine Familie, seine Zukunft angingen, geriet er in ganz angemessene Erregung, bei Erzählung seiner Verhexung wurde er leidenschaftlich, betonte unter öfterer Einflechtung religiöser Beteuerung (so wahr ein Gott im Himmel lebt, Gott rufe ich zum Zeugen an" etc.), wie sehr er gelitten habe, wie schlecht es von der Frau sei, ihn so zu schädigen, wie sicher es für ihn erwiesen sei, daß alles das Werk der Hexe sei, die ihn zu Grunde richte. Immer betonte er, er sei nicht geisteskrank, sei es nie gewesen, damals, als man ihn in St in die Anstalt brachte, so wenig wie heute. Auch er habe früher gezweifelt, ob es Hexen gebe, bis er es am eigenen Leibe erfahren habe. Sein Vater sei immer davon überzeugt gewesen, sein Bruder sei es ebenfalls und ebenso sehr viele Krainer. Auch in Württemberg und Bayern habe man seine Meinung geteilt, und zwar nicht blos Bauern und Schäfer, sondern auch Geistliche und andere Gebildete. Die Kirche habe ihm anfänglich helfen können, weil sein Leiden das Werk teuflischer Macht sei. Aber jetzt sei nichts mehr zu machen, jetzt sei er für immer seines Mannesrechtes beraubt.

Seine Vergangenheit und die Motive seiner Mordtat schilderte B. genau, wie es in den Akten niedergelegt ist und von mir oben bereits ausführlich mitgeteilt wurde, so daß es zwecklos erscheint, nochmals alles zu rekapitulieren. Im Oktober 1898 sei die Impotenz einge-

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treten und seither sei er verhext. Der Getötete Bei kein Hexenmeister gewesen, aber er habe das Treiben seiner Fraa gekannt und gebilligt, habe ihm niemals gesagt, daß es ihm leid tue, daß die Frau so schlecht sei. Damit habe sich O. zum Mitschuldigen gemacht Der gegenseitige Haß sei in den Monaten vor der Tat besonders groß gewesen, namentlich seit Frau B. von dem G. halbtot geschlagen worden sei und dieser dafür weniger Strafe bekommen habe, als die Geschlagene. Die Überzeugung, daß G. ihn bei günstiger Gelegen- heit niederstechen werde, habe er haben müssen, da G. eine solche Drohung ausgestossen habe. Ihm habe es festgestanden, daß einer von beiden „hinsein^ müsse, und darum habe er den G. an dem Abend des 29. Oktober niedergestochen. Er sei dabei nicht betrunken gewesen, auch sei kein Streit vorausgegangen ; er selbst sei auch bei klarer Besinnung gewesen. Da die Akten einen Hinweis darauf ent- halten, daß B. viel trinke, so wurde er hierüber ausgefragt Er gab an, daß er in den letzten Jahren ziemlich viel getrunken habe, etwa 7 9 Glas Bier, oft auch Most, seltener Schnaps, fast nie Wein ; doch habe er große Mengen vertragen können, sei nie betrunken ge- wesen, habe nie in angeheitertem Zustande etwas Dummes oder gar etwas Strafbares getan.

B. zeigte niemals Beue über die Tat Er schlief immer ganz gut Er betrachtete die Tat als eine Art Gottesurteil, als einen Akt berechtigter Notwehr gegen die Verhexung der Hexe, die man eben „als Hexe nicht hinmachen^ könne („sonst wäre sie damals verreckt, als ich sie 5 mal gestochen habe'^) und als eine Handlung der Klug- heit, da sonst sicherlich er das Opfer des G. geworden wäre. Nie- mals jedoch brüstete er sich mit der Tat, zeigte überhaupt gegenüber den anderen Kranken niemals ein gehobenes Selbstgefühl, sondern ein ruhiges, leicht gedrücktes Wesen. Für freundliche Worte war er stets dankbar. Seine Frömmigkeit hatte nichts Auffälhges an sich, wurde nicht aufdringlich, sondern machte sich nur deutlich bemerk- bar, wenn er sein ganzes Verhalten gegenüber der Familie G. zu rechtfertigen suchte, namentlich wenn man ihm den Vorwurf der Brutalität machte, der ihn sehr kränkte. An seinem Hexenglauben hielt er fest; sagte ihm der Arzt, es gebe doch keine Hexen, so ant- wortete er: ja so habe ich früher auch gedacht; solange einem nichts Schlimmes passiert, glaubt man nicht daran ; ich habe es aber erfahren. Bei uns zu Hause glauben manche dran, andere nicht Bei eingehenderen Untersuchungen, die auf jede nur mögliche Weise angestellt wurden, konnte niemals irgend etwas von Sinnestäuschungen festgestellt werden. Den Ausdruck „Stimmen** verstand er nicht. Er

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bestritt aach auf das Bestimmteste, daß er während seines Aufent- haltes in der Irrenanstalt in St. Sinnestanschnngen (Stimmen, Bilder^ sonderbare Hantempfindnngen, Gemchstanschnngen) gehabt habe, nur habe er schon damals, wie auch jetzt, bisweilen ein schmerzhaftes Ziehen am Damm nnd in den Hoden verspürt, das mit der Impotenz znsammenhänge, also der Hexe znr Last falle. Andere Feinde als die 6. habe er nicht; er sei ein stiller, friedliebender HenscL

Gedächtnis nnd Merkfahigkeit erwiesen sich als intakt, er erzählte stets alles in gleicher Weise wie früher nnd alle seine Angaben, die wir an der Hand der Akten kontrollieren konnten, erwiesen sich als richtig. Es bestand sicher keine Neigung znr Lüge oder znr Simula- tion irgend welcher Erscheinungen. Es war sogar geradezu frappant, wie fast wörtlich seine jetzigen Aussagen mit seinen 1902 gemachten An- gaben übereinstimmten. Seine Auffassung der Yerhexung hat sich seit 1S9S in keiner Weise geändert noch auch nach irgend einer Bich- tung weiter ausgedehnt Gegen die Arzte, die ihn 1902 für geistes- krank erklärt hatten, hegt er keinerlei Groll ; er meint, sie haben sich geirrt; sein Glaube an die Hexerei der G. sei kein Wahn, keine Geisteskrankheit, sondern Wahrheit Hexen habe es zu allen Zeiten gegeben und das haben ihm auch gebildete Leute bestätigt

Gutachten.

Die Fragen, deren Beantwortung mir obliegt, sind:

1. Ist B. zur Zeit geisteskrank?

2. War er, falls dies verneint werden muß, am Abend des 29. Oktober 1906 bei der Ermordung des G. geisteskrank oder be- wußtlos im Sinne des § 51 des Str.G.B.?

Da die Akten keinerlei Anhaltspunkt dafür enthalten, daß der Angeschuldigte am Abend der Tat sich in einem anderen Zustande befand, als heute, so fallen beide Fragen sachlich zusammen. In Be- tracht käme für die 2. Frage nur sinnlose Trunkenheit oder ein Dämmerzustand. Beides ist nach dem Akteninhalt und nach den bestimmten Angaben des Angeschuldigten selbst auszuschließen. Die Frage lautet also kurzerhand: ist B. ein Geisteskranker? Diese Frage ist bisher von den ärztlichen Sachverständigen dahin beantwortet worden, daß er mit Verfolgungswahn behaftet und deshalb unzu- rechnungsfähig sei. Im Jahre 1902 wurde bei ihm Paranoia per- secutoria sexualis (sexuelle Verrücktheit) und Dementia praecox mit Schwachsinn angenommen. Ist diese letztere Diagnose richtig? Dies muß auf das Bestimmteste verneint werden. B. bietet heute auch

Zur Lehre vom psychopathifichen Aberglauben. 43

nicht ein einziges Symptom der Dementia praecox. Er ist weder schwachsinnig, noch verworren, er hat keine Sinnestäuschungen, keinen allgemeinen Beziehungswahn. Vor allem fehlt ihm das Grund- symptom der lange bestehenden Dementia praecox, die gemütliche Verblödung vollständig, auch zeigt er keinerlei Willensstörungen. Ferner ist aus dem vorliegenden Aktenmaterial mit Sicherheit zu entnehmen, daß sein Hexenwahn in den letzten 8 Jahren (also seit seinem Bestehen) gar keine Veränderung erfahren hat, er ist nach keiner Richtung progressiv geworden, er trat niemals in dem psychi- schen Zusammenhang auf, der für Dementia praecox charakteristisch ist.

Können wir also die Frage, ob bei B. Dementia praecox vorliegt, mit Sicherheit verneinen, so ist die andere Frage, ob er nicht viel- leicht ein Verrückter, ein Paranoiker ist, weniger einfach zu beant- worten. Bei oberflächlicher Beurteilung scheint ja B. in der Tat die Symptome der Verrücktheit aufzuweisen : er glaubt sich seit 8 Jahren verfolgt, er projiziert seine körperlichen Leiden auf eine bestimmte Person und hält mit der Starrheit eines Paranoikers an diesem Hexen- wahn fest, ohne durch Andere, auch nicht durch die gerichtliche Be- strafung in dieser Auffassung wankend zu werden. Er steht seiner Mordtat jetzt mit der Gelassenheit gegenüber, die wir sonst nament- lich bei verrückten Verbrechern finden, die in ihrem Delikt nur die Erfüllung einer höheren Mission erblicken. AU dies erinnert sehr an das Verhalten bei Paranoia. Allein trotzdem ist die Annahme der Paranoia bei B. abzulehnen.

B. hat keinen paranoischen Wahn, sondern nur einen starren Aberglauben. In relativ jugendlichem Alter wird er ge- schlechtlich impotent, erkrankt also an einem realen Leiden, das dem sonst rüstigen und kräftigen Manne ganz unerklärlich ist, und das von Alters her bei der ungebildeten Bevölkerung mit dem Einfluß von Hexen in Verbindung gebracht wird. Auch B. hält seine Im- potenz für das Werk einer Hexe und er verfällt dabei auf die Frau G., weil er sich von ihr nach dem Streite mit seiner Frau Böses ge- wärtigt. Seine Annahme findet Stütze in dem Zustimmen anderer Leute, vor allem des Paters und in dem Umstand, daß die Suggestiv- behandlung des Paters, also eines Dieners der christlichen Kirche, das Leiden vertreibt: für den slavonischen Hausierer ein Beweis, daß seiner Impotenz nicht ein organisches Leiden seines Körpers, sondern ein unchristlicher Einfluß zu Grunde liegen müsse. Mit einer Logik, die keineswegs für Schwachsinn spricht, sondern dem einfachen Manne nahe liegt, sagt er sich: böser Einfluß einer Hexe hat mich krank gemacht^ also muß mich das Gebet und die Beschwörung wie-

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der gesund machen können. In der Tat gelingt den Kurpfuschern durch die Macht der Suggestion ein vorübergehender Erfolg ei^o muß die Ursache in der Einwirkung böser Leute gelegen haben.

Die wissenschaftliche Literatur lehrt, daß bei den Slaren der Aberglaube, namentlich der Glaube an das Anhexen von Krankheiten noch heute eine große Gewalt über die Menschen hat Wir erfahren, daß Bs. Vater an Hexen glaubt, und ich habe mich selbst davon überzeugt, daß auch der Bruder des Angeschuldigten an diesem Aber- glauben teilnimmt; er ist felsenfest davon überzeugt, daß Frau G. tatsächlich eine Hexe ist. Und wo der Angeschuldigte bei uns in Württemberg und Bayern hinkam, fand seine Annahme Zustimmung. So fixiert sich bei ihm der Aberglaube. Um ein Urteil darüber zu gewinnen, welche Macht der Glaube an Hexen und Hexenbanner noch bei uns im Volke hat, habe ich mir vom Königl. Landgericht Tübingen die Akten Georg Sp. (wegen Meineids 1896 verurteilt) er- beten, die einen interessanten Einblick in das Blühen des Hexen- glaubens bei unserer schwäbischen Bevölkerung in der Gegend von Urach gewähren. Aus diesen Akten geht hervor, daß auch bei uns in Deutschland der Hexenglaube ganz ähnliche Formen trägt, wie der slavonische Hausierer sie zeigt Auch hebt dieser immer selbst hervor,daß manihm im Bayerischen undWürttembergischen überall geglaubt habe, und sein Bruder bestätigte diese Behaup- tung nachdrücklich.

Ist also die Tatsache, daß 6. sich verhext glaubt, an sich noch keinerlei Beweis, daß er ein Verrückter sei, so sprechen nun noch andere, schwerere Beweisgründe direkt gegen die Möglichkeit eines paranoischen Wahns. B's. geistige Verfassung hat in den letzten 8 Jahren (also seit dem Beginn der „Verhexung"); keine Veränderung erfahren; er ist immer der gleiche geblieben, keine einzige andere Verfolgungsvorstellung ist hinzugekommen, kein anderer Mensch ist mit in den „Wahn^ hineingezogen worden, niemals sind Sinnes- täuschungen sicher erwiesen worden. Die Paranoia ist aber eine Krankheit, die ihrem ganzen Wesen nach progressiv verläuft; der Wahn zieht bei ihr immer weitere Kreise; unter dem Einfluß der fortschreitenden Hirnerkrankung kommt es zu immer weiterer Aus- dehnung des Verfolgungswahns, der Standpunkt des Kranken gegen- über der Außenwelt wird allmählich „verrückt", daher der Name „Verrücktheit". Ein Paranoiker, der seit 8 Jahren krank ist, hat nicht bloß eine einzige Wahnidee, er hat ein ganzes System, in dem auch meist die Größenvorstellungen nicht fehlen. Von all dem ist bei B. keine Rede. Noch schwerer wiegt aber folgendes Moment:

Zur Lehre vom psychopatbischen Aberglauben. 45

Der Wahn des Paranoikers kommt auf ganz andere Weise zu Stande, als dies bei dem Hexenglauben des B. der Fall war. Hier sehen wir einen Mann, der in Unkenntnis der menschlichen Pathologie die ihm unverständliche frühe Impotenz, die als ein reales Übel vorhan- den ist, in der Weise erklärt, die ihm als abergläubischen Südslaven nahe liegt, die einer Yolksmeinung entspricht. Die gewissermaßen zufällige Projektion auf die Frau G. erklärt sich aus dem Umstände, daß sie die einzige Frau war, mit der er in der kritischen Zeit eine Differenz gehabt hat und die wegen ihrer bösen Zunge wohl Anlaß zu Streit und Haß geben mochte. Der Wahn des Paranoikers ent- stammt anderen Quellen; auf dem Boden eines dauernden patho- logischen Mißtrauens kommt es unter dem Einfluß krankhafter Stim- mung zu Mißdeutungen, zu Trugwahmehmungen, zu einem allmählich sich ausdehnenden Wahn. Wenn der Paranoiker sich verhext glaubt (was zweifellos vorkommt), so rührt dieser Hexenwahn bei ihm in der Hauptsache nicht von der falschen Deutung wirklich vorhan- dener körperlicher Leiden her, sondern er fühlt sich beeinflußt, in seinem freien Handeln beschränkt, er hört Stimmen, ohne die Sprechen- den sehen oder greifen zu können. Der Hexenwahn entsteht bei Geisteskranken fast immer unter dem Einfluß akuter Angst, geheimnis- voller Stimmen, mannigfaltiger Visionen, peinlicher Trugwahmeh- mungen in der Körperfühlsphäre (vergl. die Coitushalluzinationen der geisteskranken Frauen, die in früheren Zeiten angaben, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.) Niemals bleibt auch bei Geisteskranken die Vorstellung, von einem bestimmten Menschen verhext zu sein, die einzige Wahnidee im Laufe vieler Jahre. Es sind z. B. zur Zeit 2 Kranke in der Klinik, die in ihren verworrenen Wahnbildungen auch von Hexen reden ; allein in beiden Fällen ist dieser Hexenwahn nur eines der vielen Symptome, durch die sich die Geisteskrankheit der Patienten verrät; er entstand in akuter halluzinatorischer Er- regung. So ergibt also die genauere klinische Betrachtung der gei- stigen Persönlichkeit des B., daß er nicht an Paranoia leidet, daß sein Hexenglauben und seine Verfolgungsideen kein Wahn im Sinne der Psychiatrie darstellen.

Noch ist aber ein Einwand zu erledigen. Wohl ist der Aber- glaube eine Macht im Leben der ungebildeten Menschen, aber im Allgemeinen ist es doch bei uns selten, daß er zu verbrecherischen Handlungen führt. Spricht nicht gerade der Umstand, daß B. seinem Haß gegen die Hexe das Verbrechen folgen ließ, für eine pathologische Grundlage? In der Tat ist das Verbrechen aus Aber- glauben bei uns in Deutschland selten und das Strafgesetzbuch

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beschäftigt sich daher nicht ausdrücklich mit dieser Verbrechensart Allein einmal ist nicht zu vergessen, daß B. Slave ist und die wissen- schaftliche Forschung gerade der letzten Jahre hat gezeigt, daß in den slavischen Ländern Delikte aus Aberglauben weit häufiger sind als bei uns. (Löwenstimm, Hans Groß, Uellwig). Femer ist zu be- denken, daß B. seinen Aberglauben bei einer körperlichen Störung verankert hat, die dauernd fortbesteht, ihn dauernd schwer deprimiert, ihn damit gemütlich nicht zur Buhe kommen läßt und so in dem Manne im Laufe der Jahre einen Haß anwachsen ließ, der kein Hindernis mehr kannt Außerdem haben wir eine Reihe von Tat- sachen, die uns darauf hinweisen, daß B. ein abnorm leidenschaft- licher, aus abnormer Familie stammender psychopathischer Mensch ist, der schon einmal in jungen Jahren an einer (vielleicht hysterischen) Gemütsverstimmung gelitten hat. Dazu kommt, daß er seit Jahren ziemlich viel trinkt; erfahrungsmäßig ist der chronische Trinker reiz- bar und neigt zu Gewalttaten, weil der Alkohol die feineren sittlichen Gefühle abstumpft und die Triebhandlungen erleichtert. Auch dürfen wir es nach dem Inhalt der Akten (Zeugenaussage des M.) als er- wiesen annehmen, daß B. Anlaß hatte, sich vor dem G. zu fürchten. Eine langjährige Feindschaft, die beiden Parteien gerichtliche Strafen eingetragen hatte, schürte den bei erregbaren Südslaven leicht auf- flackernden Haß bis zu einem Grade, daß die Vernichtung des Gegners im Vorstellungsleben des Angeschuldigten den Charakter einer be- rechtigten Notwehrhandlung annehmen konnte. Daher die Gemüts- ruhe B. nach vollbrachter Tat, sein Mangel an Reue, die bei dem sonst ordentlichen und durchaus nicht gemütsrohen Manne zunächst so schwer verständlich erscheint.

Ich faßte mein Gutachten dahin zusammen: B. befand sich bei Begehung der ihm zur Last gelegten Straftat nicht in einem Zustand von krankhafter Störung der Geistestätig- keit oder Bewußtlosigkeit, durch den seine freie Willens- bestimmung völlig ausgeschlossen gewesen wäre. Indem ich aber über die mir gestellte Frage bewußt hinausgehe, gestatte ich mir beizufügen, daß B. meines Erachtens ein erblich belasteter und abnorm veranlagter und ein durch chronischen Alkoholismus ge- schwächter Mann ist, der unter dem Einfluß eines starren Aber- glaubens die ruhige Besonnenheit und Überlegung verloren hat. Würde unser Strafgesetzbuch den Begriff der verminderten Zu- rechnungsfähigkeit kennen, so würde er in diesem Falle ganz gewiß in Anwendung zu kommen haben.

Soweit mein Gutachten. Bei der Schwurgerichts verband-

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lung in U. bot B. das gleiche Verhalten^ wie während seines Auf« enthaltes in der Klinik. Er gestand seine Tat unumwunden ein, machte durchweg wahrheitsgetreue Angaben, motivierte den Mord mit der Angst vor dem größeren und stärkeren G., der 8 Tage vor- her tatsächlich mit Erstechen gedroht hatte, und namentlich mit seinem Haß auf die Familie 6., weil ihm die Eath. 6. die Potenz geraubt habe. Seinen Hexenwahn hielt er in gleicher Weise wie bisher fest. Von typisch psychopathologischen Symptomen (krankhafte Eigen- beziehung auf anderen Gebieten, Sinnestäuschungen, Erinnerungs- fälschungen, Wahnbildungen) trat auch während der sehr langen Verhandlung nicht das Geringste zu Tage. B. benahm sich beschei- den, gab ehrlich Auskunft, weinte bisweilen, wenn er scharf auge- fahren wurde oder wenn man von seiner Familie und seiner Impotenz sprach. Der Staatsanwalt plaidierte auf Mord, unter gleichzeitigem Hinweis darauf, die Geschworenen sollen ihn der Gnade des Regenten empfehlen; der Verteidiger beantragte in erster Linie Freisprechung, weil der fanatische Aberglaube in seinem Einfluß auf das Handeln dem Wahn des Geisteskranken gleichkomme; sollte die Freisprechung auf Grund des § 51 abgelehnt werden, so käme die Verurteilung wegen Totschlags in Frage. Die Geschworenen verneinten die Frage des Mords, sprachen B. des Totschlags schuldig.

Der mitgeteilte Fall zeigt in krasser Weise den Einfluß des Aber- glaubens auf eine psychopathische Persönlichkeit. Hellwig sagt: „Soviel steht fest, daß diejenigen, welche im unerschütterlichen Glauben an die Macht der Hexen befangen sind und sich hierdurch in einer Art irrig angenommener Notwehr zu strafbaren Handlungen hinreißen lassen, im weitesten Grade die Milde und Nachsicht des Straf richters verdienen.^ Diesen Standpunkt nahm auch ich bei meinem mündlichen Gutachten vor dem Schwurgericht ein und diesem Standpunkt trug offenbar auch die Geschworenenbank Rechnung, indem sie den B. wegen Totschlags verurteilte, obwohl die Tat selbst sich juristisch zweifellos als Mord charakterisierte. Gross macht die Bemerkung: „Gelingt es einmal festzustellen, welche riesige und ein- greifende Verbreitung der Aberglauben heute noch in krimineller Be- ziehung hat, können wir namentiich beweisen, daß eine große Reihe allerschwerster Verbrechen nur durch den Aberglauben veranlaßt wird^ dann ist es auch höchste Zeit, einmal ernsthaft darnach zu fragen, welchen Einfluß der Aberglauben auf die Zurechnungsfähig- keit hat, d. h. ob eine auf Aberglauben beruhende Überzeugung als entschuldbarer Irrtum aufzufassen ist." Der berichtete Fall ist meines Erachtens derart, daß er zu solchem Nachdenken besonders anregen

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muß, zumal es sich um ein Delikt handelt, für das unser deutsches Strafgesetzbuch unbegreiflicher Weise nur eine einzige Strafe kennt. De lege lata konnte aber eine Exkulpierung auf Grund des § 5t des B.Str.G.B. nicht statthaben.

Die psychiatrische Bedeutung des Falles soll an dieser Stelle nicht eingehender erörtert werden, da diese Erörterung sich auf rein klini- schem Boden bewegen müßte. Das Wichtigste ist oben im Gutachten schon auseinandergesetzt werden. Der Kernpunkt ist: Ein noch so auffälliges Einzelsymptom (Hexenwahn) beweist noch nicht das Vor- handensein eines psychischen Krankheitsprozesses, einer Geisteskrank- heit Wichtiger als das Einzelsymptom selbst ist seine Entstehung, seine Stellung zum übrigen Bewußtsein, seine Verbindung mit an- deren psychopathologischer Zeichen. Die klinische Psychiatrie der Gegenwart kennt keine partielle Geistesstörung, die in einer einzigen „fixen Idee" bestünde. (Vergl. Jolly, Irrtum und Irrsinn. Berlin 1893.)

IIL Ein Wiederaufnahmsfall ob falsa.

Strafsache dee k. k. Bezirks -Veterinfire Feiwel M. wegen Mißbrauches

der Amtsgewalt

Mitgeteilt Ton

Prof. Dr. Boaenblatt in Krakau.

Der Tierarzt und k. k. Bezirks-Veterinär Feiwel M. wurde vom

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Schwurgericht in Rzeszöw mit urteil vom 10. Juni 1903 Vr. '

auf Grund des Verdiktes der Geschworenen des Verbrechens des Mißbrauches der Amtsgewalt nach § 101 Str.GB. schuldig gesprochen und hieffir zu einer dreimonatligen verschärften Kerkerstrafe ver- urteilt.

Das ihm zur Last gelegte Verbrechen soll darin bestanden haben, daß der Angeklagte im November 1901 als Staatsbeamter^ und zwar als von der k. k. Bezirkshauptmannschaft zur Tilgung der Schweine- seuche delegierter Bezirks-Veterinärarzt sein Amt als Vorsitzender der Tierseuche -Kommission dadurch mißbraucht hat, daß er ein zur öffentlichen Versteigerung gebrachtes Schwein einer von ihm prote- gierten Person, d. i. dem Ludwig M. verkauft habe, und zwar für einen niedrigeren Preis, als das bei der Versteigerung gebotene höchste Offert betrug, wodurch dem Staatsärar ein vermögensrechtlicher Schade hätte zugefügt werden sollen.

Gegen obiges Urteil überreichte der Angeklagte die Nichtigkeits- beschwerde an den obersten Gerichtshof, in welcher er unter anderem durch Vorlage einer notariellen Erklärung von zwei Zeugen den Nachweis führte, daß die Geschworenen anfangs einig und ent- schlossen waren, den Angeklagten freizusprechen, und nur, als ihnen der Obmann erklärte und versicherte, daß im Falle eines Freispruches der Anzeiger (ein Selcher) zu einer viel strengeren Strafe verurteilt werden würde, sich entschlossen haben, die ihnen vorgelegte Schuld- frage zu bejaheui

Aiühir tHx S^iimliudanthropologie. 26. Bd. 4

50 III. ROSENBLATT

Der Kassationshof verwarf die auf diese Tatsache gestützte Nichtigkeitsbeschwerde.

Es worden in den Tagesblättem Stimmen laut, daß der Kasssr tionshof doch in einem so krassen Falle hätte die Nichtigkeitsbe- schwerde berficksichtigen oder wenigstens im Wege der außerordent- lichen Revision ex § 362 Str.PO. dem Verurteilten Abhilfe gewähren sollen, denn es wäre doch unerhört, wenn der Angeklagte trotz obiger Sachlage verurteilt bleiben müßte.

Wir haben uns damals über diesen Fall in folgender Weise ge- äußert *) : Es dürfte vor allem gar keinem gegründeten Zweifel unter- liegen, daß der obangeführte Tatumstand keinen Nichtigkeitsgrund abgeben kann, da er sich unter keinen der gesetzlichen Nichtigkeits- gründe des § 344 Str.PO. subsummieren läßt. Es läßt sich zwar nicht behaupten, daß die Vorgänge im Beratungszimmer der Geschworenen überhaupt der Anfechtung im Wege einer Nichtigkeitsbeschwerde entrückt sind, denn, wenn beispielsweise eine fremde Person wälirend der Beratung der Geschworenen im Beratungszimmer anwesend war, so würde dies den Nichtigkeitsgrund des § 344 z. 4 in Verbindung mit § 327 Str.PO. abgeben. Die Art und Weise aber, wie das ord- nungsmäßig kundgemachte Verdikt der Geschworenen zustande kam, insbesondere der Gang der Beratung und die Motive, durch welche sich dieselben bei der Beantwortung der ihnen vorgelegten Fragen leiten ließen^ können sicherlich keinen Nichtigkeitsgrund abgeben. Auch zur Anwendung des § 362 Str.PO. gibt aber die obangeführte Tatsache betreffend den Vorgang bei der Abstimmung der Geschwo- renen an und für sich keinen Anlaß, denn Voraussetzung für die An- wendung des dem obersten Gerichtshofe vorbehaltenen Rechtes der außerordentiichen Revision sind: ,, erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Urteile erster Instanz zugrunde gelegten Tat- sachen". Liegen solche Bedenken, trotz des oben geschilderten Ver- fahrens der Geschworenen bei der Beratung und Abstimmung, nicht vor, dann hat auch der oberste Gerichtshof keinen Anlaß, von dem Rechte des § 362 Str.PO. Gebrauch zu machen; findet er aber in den Akten gegründete Bedenken gegen die dem Urteile erster Instanz zugrunde gelegten Tatsachen, dann hat er es auch nicht notwendig, seine eventuellen Maßnahmen mit Hinweis auf den Vorgang der Ge- schworenen zu motivieren.

Wenn somit der oberste Gerichtshof zur Anwendung des § 362 Str.PO. wegen des in Rede stehenden Vorganges bei der Beratung

1) Siehe A. österr. Gerichtszeitung ex 1903 Nr. 50.

Ein Wiederaafnahmsfall ob falsa. 51

und Abstimmung der Geschworenen keinen Grund gefunden hat, so kann deswegen kein Einwand erhoben werden.

Nun drängt sich aber die Frage auf: Gibt es tatsächlich in der Strafprozeßordnung kein Mittel, gegen den in Rede stehenden Vorgang bei der Beratung und Abstimmung der Geschworenen Abhilfe zu ge« währen und dem offenbar durch einen inkorrekten Vorgang Verur- teilten zu helfen?

Wir glauben, daß unsere Str.PO. ein solches Mittel kennt, und das ist die ordentliche Wiederaufnahme des~ Strafverfahrens im Grunde des § 353, Z. 1. Diese Gesetzesstelle bestimmt nämlich:

„Der rechtskräftig Verurteilte kann die Wiederaufnahme des Strafverfahrens selbst nach vollzogener Strafe verlangen, wenn dar- getan ist, daß seine Verurteilung durch Fälschung einer Urkunde oder durch falsches Zeugnis oder Bestechung oder eine sonstige strafbare Handlung einer dritten Person veranlaßt worden ist.^ Ein Wiederaufnahmegrund des Strafverfahrens liegt also unter anderem vor, wenn dargetan ist, daß die Verurteilung durch eine strafbare Handlung einer dritten Person veranlaßt worden ist

unsere Str.PO. verlangt hier nicht, wie so manche andere Straf- prozeßgesetze (der Code d'instr. crim. und die auf diesem basierenden Strafprozeßordnungen), daß die strafbare Handlung, wegen welcher die Wiederaufnahme des Strafverfahrens bewilligt werden soll, durch ein strafgerichtliches Urteil konstatiert sein soll, sie verlangt nur Oberhaupt, daß dargetan wird, daß die Verurteilung durch eine straf- bare Handlung veranlaßt worden sei (vgl. Mayer, Kommentar, III, S. 392; Mitterbacher S. 600 u.v.a.). Es hat somit das Gericht welches über das Wiederaufnahmsbegehren zu entscheiden hat, nach freiem Ermessen festzustellen, ob eine strafbare Handlung objektiv vorliegt und ob dargetan erscheint, daß die Verurteilung durch eine solche veranlaßt worden ist.

Nun glauben wir aber, daß ein Geschworener, der wider seine bessere Überzeugung einen Angeklagten, den er für unschuldig hält, schuldig spricht oder auch umgekehrt, sich das Verbrechen des Miß- brauches der Amtsgewalt zu Schulden kommen läßt, sowie daß der- jenige Mitgeschworene, sowie jede dritte Person, welche einen Ge- schworenen verleitet, wider seine bessere Überzeugung das Urteil ab- zugeben, sich der Anstiftung zum Mißbrauch der Amtsgewalt nach § 5 bezw. § 9 und § 101 bezw. § 102 Str.GB. schuldig macht, und zwar nicht nur dann, wenn dies im Wege einer gewöhnlichen Be- stechung erfolgt, sondern auch dann, wenn es sich nicht um eine eigentliche Bestechung, sondern um eine durch was immer für ein

4*

52 IIL BOSENBIJLTT

Mittelf z. B. Drohungen oder, wie im gegebenen Falle, durch falsche Vorspiegelungen j verübte oder versuchte Verleitung zum Mißbrauche der Amtsgewalt handelt (vgl. Lammasch, Grundriß, S. 88). Daß sich ein Geschworener des Mißbrauches der Amtsgewalt schuldig machen kann, ist sowohl in der Literatur (vgl. Lammasch I. c. und Finger, Straf r. II S. 406), wie in der Judikatur (vgl. die E. des KH. v. 24. Februar 1877, Z. 8332, KH. 142 und v. 9. Mai 1897, Z. 627, KH. 201) anerkannt. Eonsequenterweise dürfte es aber auch nicht bestritten werden können, daß ein Geschworener, ebenso wie ein gelehrter Richter sich des Mißbrauches der Amtsgewalt schuldig macht, wenn er sich durch irgendwelche nicht in der Sache selbst gelegenen Motive verleiten läßt, wider seine bessere Überzeu- gung den Angeklagten, den er nicht für schuldig hält, zu verurteilen, oder umgekehrt den Angeklagten, den er für schuldig hält, freizu- sprechen. Der Mitgeschworene aber, der ihn hierzu zu verleiten sucht, macht sich entweder der Mitschuld am Verbrechen des Mißbrauches der Amtsgewalt oder der versuchten Verleitung zu demselben schuldig.

Der strafprozessuale Vorgang bei Geltendmachung obigen Wieder- aufnahmegrundes wäre nun folgender:

Der Verurteilte müßte beim zuständigen Gerichte erster Instanz um die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im Grunde des § 353 Z. 1 Str.PO. ansuchen und es müßte der angeführte Wiederaufnahms- grund ordnungsmäßig nachgewiesen werden, d. h. die vor einem Notar privatim abgegebene Erklärung zweier Geschworenen kann nur eine Tatsache bilden, auf Grund welcher erst vom Untersuchungs- richter gemäß der Bestimmung des § 357 Str.PO. die erforderlichen Erhebungen durchzuführen sein werden.

Daß zufolge dieser Erhebungen der Vorgang im Beratungs- zimmer der Geschworenen, die Art und Weise der Beratung und Ab- stimmung zum Gegenstande einer gerichtlichen Untersuchung gemacht wird, kann kein Hindernis für die Erhebung bilden, ebensowenig wie im Falle, wenn z. B. die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme zu Ungunsten des Freigesprochenen im Grunde des § 355, Z. 1 Str.PO. deshalb beantragen würde, weil Geschworene zugunsten des Ange- klagten bestochen worden sind.

Nur im Falle einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens aus dem Gesichtspunkte des § 353, Z. 1 resp. § 355, Z. 1 Str.PO. lassen sich die Vorgänge im Beratungszimmer der Geschworenen, insbeson- dere die rechtswidrigen Beeinflussungen, Verleitungen zur Abstimmung wider die bessere Oberzeugung, Bestechungen usw. einer gerichtlichen Feststellung und Überprüfung unterziehen.

Ein Wiederaufnahmsfall ob falsa. 53

Selbstverständlich wird aaf Grundlage der Ergebnisse dieser Er- hebungen der Gerichtshof, welcher berufen sein wird, über den Wiederaufnahmeantrag zu entscheiden, nach freiem Ermessen erkennen^ ob der Wiederaufnahmegrund des § 353, Z. 1 resp. § 355, Z. 1 Str.PP. tatsächlich vorliegt, d. h. ob es dargetan ist, daß die Verurteilung des Angeklagten durch eine strafbare Handlung veranlaßt worden ist

Wird nun der Gerichtshof auf Grund der Ergebnisse der Er- hebung in einem dem Verurteilten gUnstigen Sinne entscheiden, dann ist ihm auch geholfen, ohne daß es notwendig wäre, an das außer- ordentliche Rechtsmittel des § 362 Str.PO. zu appellieren oder die Nichtigkeitsbeschwerde geltend zu machen, wo kein Nichtigkeits- grund vorliegt

Tatsächlich hat nun der Angeklagte resp. rechtskräftig Verur- teilte beim k. k. Ereisgerichte in Bzeszöw um Wiederaufnahme des gegen ihn durchgeführten Strafverfahrens im Sinne obiger Ausfüh- rungen angesucht Der Antrag wurde abgewiesen.

Der unermüdliche Angeklagte wiederholte aber sein Wiederauf- nahmsbegehren und erneuerte seine Anträge so lange, bis endlich das Ereisgericht nach Durchführung von Erhebungen mit Beschluß

vom 24. Dezember des Jahres 1905 Vr. -^^ dem Wiederaufnahms- begehren des Angeklagten Folge leistete und den Schuldspruch vom 10. Juni 1903 außer Kraft setzte.

Die k. k. Staatsanwaltschaft erklärte sohin, die Strafverfolgung gegen M. nicht weiter aufrechterhalten zu wollen, so daß derselbe endlich nach mehr als 2 und V^ Jahren post tot discrimina rerum mit Entscheidung des Kreisgerichts Bzeszöw vom 10. Februar 1906

Vr. -~^ endgültig und rechtskräftig außer Verfolgung gesetzt und das

Strafverfahren gegen ihn eingestellt worden ist

Der uns interessierende Teil der Begründung der die Wiederauf- nahme bewilligenden Entscheidung lautet wie folgt:

„Durch welche Motive sich die Geschworenen bei der Bejahung der ihnen vorgelegten Schuldfrage leiten ließen, ist, mit Rücksicht darauf, daß die Geschworenen gemäß § 326 Str.PO. die Gründe ihrer Überzeugung nicht angeben, unbekannt; jedenfalls soll aber das Ver- dikt der Geschworenen, wie dies § 313 Str.PO. vorschreibt, sich auf die während der Hauptverhandlung für und gegen den Angeklagten vorgebrachten Beweise stützen, ohne der Stimme der Zu- oder Abnei- gung Gehör zu geben usw.

Bezugnehmend auf die den Geschworenen bezüglich der dem M.

54 III. ROSENBULTT

zur Last gelegten Tat gestellte Hauptfrage hätten sich also die Ge- schworenen nur durch die bei der Hauptverhandlung vorgebrachten Beweise leiten lassen sollen.

Solche Beweise wären die beeideten Aussagen der bei der Ver- handlung einvernommenen Zeugen usw.

Die vom verurteilten M. nach Rechtskraft des ürteiles über- reichten Eingaben um Wiederaufnahme des Strafverfahrens haben aber neue Umstände ergeben, welche jedenfalls die Sicherheit, daß das Verdikt der Geschworenen und somit auch das Urteil des Ge- richtshofes das Ergebnis, einer solchen, auf Beweisen basierten, Über- zeugung waren, erschüttert haben und in Frage stellen, ob, wenn diese neuen Umstände vor Fällung des Spruches bekannt gewesen wären, das Ergebnis der Überzeugung der Geschworenen das gleiche gewesen wäre.

Diese Umstände, welche die auf Begehren des M. durchgeführten Erhebungen ergeben haben, sind folgende:

In erster Linie hat der Zeuge Stanislaus S., welcher in der Sache des verurteilten Feiwel M. als Hauptgeschworener funktioniert hat, ausgesagt, daß während der Hauptverhandlung gegen M. in der freien Zeit, wo keine Verhandlung stattgefunden hat, sowie noch vor der Verhandlung dem Zeugen nicht näher bekannte Leute den Geschwo- renen nachgingen und dieselben beredeten, den M. zu verurteilen, indem sie sagten, er hätte als Veterinär den Fleisch selchem gut zu- gesetzt und, wenn die Geschworenen ihn freisprechen würden, werde es schlecht ergehen.

Derselbe Zeuge hat femer vor Gericht deponiert, daß während der Beratung der Geschworenen sich ein Geschworener (der Obmann) geäußert habe, man müsse den M. verurteilen, denn im entgegen- gesetzten Falle würde der Zeuge Johann M., der durch seine Aus- sage den Angeklagten belastet hat, wegen Betruges zur Verantwor- tung gezogen werden und müßte dem M. die Kosten ersetzen, wobei er noch hinzufügte, der Angeklagte M. sei ein Jude, der Zeuge M. ein Katholik; am Juden sollte aber den Geschworenen nicht gelegen sein.

Obige Aussagen des Zeugen Stanislaus S. bestätigte teilweise, als Zeuge in dieser Sache verhört, ein zweiter Geschworener, Sebastian S^ welcher auch gesehen hat, wie einige der Geschwo- renen mit Rzeszöwer Selchem gesprochen haben.

Es muß hier bemerkt werden, daß der Anzeiger Johann M. Selcher in Rozwadöw ist, und daß derselbe, wie dies die beeideten Aussagen des dortigen Bürgermeisters Ludwig M. bestätigen, mit dem verurteilten M. in Feindschaft lebt.

Ein Wiederaufnahmsfall ob falsa. 55

Zwar haben die übrigen Geschworenen, welche in der Sache des M. fnngirt haben, die Aussagen des Stanislans S. nicht bestätigt, es ist aber auch nicht erhärtet worden, daß diese Aussagen der Zeugen Stanislaus S. und Sebastian S. falsch wären.

Ein weiterer neuer durch Zeugenaussagen konstatierter Umstand ist damit gegeben, daß der Zeuge Kasimir P., welcher bei der frühe- ren Verhandlung gegen den Angeklagten ausgesagt hat, bei der Ver- steigerung des Schweines des Klemens M. gar nicht anwesend war und trotzdem dem Gerichte Einzelheiten über den Vorgang bei der Versteigerung mitgeteilt hat

Schon im I^ufe der früheren Hauptverhandlung hat der Ange- klagte laut Beweis des VerhandlungsprotokoUes eingewendet, daß der Zeuge P. bei der Versteigerung des Schweines gar nicht anwesend war, da aber dieser Zeuge standhaft behauptete, damals wohl anwe- send gewesen zu sein, und da auch der Zeuge Klemens M. Eigen- tümer des versteigerten Schweines dies bestätigte, wurde die Sache nicht näher untersucht. Nun wurde aber durch die oben an- geführten Beweise, insbesondere durch die Aussagen des Gendarmen Anton W. und des Zeugen Johann K. erwiesen, daß P. in Wirklich- keit bei der Versteigerung nicht anwesend war, daß somit seine Aus- sagen, wie auch die diesbezügliche Aussage des Klemens P. falsch waren.

Zwar sind weder gegen den Zeugen P. noch gegen Klemens M. Erhebungen wegen fidscher Zeugenaussage durchgeführt worden, noch ist ein Strafurteil in dieser Richtung gegen dieselben ergangen, es liegt aber auch gar kein Grund vor, die Aussagen des Gendarmen Anton W. und der Zeugen Johann K. und Josef W. nicht für wahr zu halten.

Ein weiterer durch die Akten der k. k. Statthalterei konstatierter neuer Umstand ist der, daß der bei der Versteigerung des Schweines des Klemens M. erzielte Preis von 30 h für 1 kg lebenden Gewichtes nicht als niedrig betrachtet werden kann im Vergleiche zu den an- derwärts bei ähnlichen Versteigerungen erzielten Preisen, daß zu solchen Preisen wiederholt bei Versteigerungen Schweine an den Meistbietenden verkauft worden sind, und daß die kompetente k. k. Bezirkshauptmannschaft nach den gegen den Angeklagten durch- geführten Disziplinarerhebungen ein Verschulden desselben nicht an- genommen hat.

Ein fernerer neuer Umstand, welchen die Zeugen Jacob B. und Israel K. bestätigt haben, ist darin enthalten, daß der Zeuge Klemens B. vor seiner Einvernahme im Gericht gedroht habe, er werde den An-

56 ni. ROBEKBLATT

geklagten gut einseifen, weil er ihnen (den Selchem) alle Schweine schlage (wegen der Seuche). Diese Drohung wirft ein licht auf die Aussage dieses Zeugen, welcher bestätigte, daß Kasimir P. bei der Versteigerung des Schweines anwesend war.

Endlich ist zu bemerken, daß der Angeklagte Feiwel M. bei der ersten Verhandlung noch vorgebracht hat, daß auch der Zeuge Wojeiech S., welcher gegen ihn über Einzelheiten der vorgenommenen Versteigerung ausgesagt hat, ebenfalls bei derselben nicht anwesend war. Es wurden sogar diesbezüglich gegen diesen Zeugen Vorerhe- bungen wegen falscher Aussage durchgeführt

Da aber diesbezüglich widersprechende Aussagen vorlagen, indem mehrere Zeugen aussagten, daß Wojeiech St bei der Versteigerung nicht anwesend war, andere Zeugen aber behaupteten, daß er wohl anwesend war, so wurden die Erhebungen eingestellt Welche Zeu- genaussagen aber Glauben verdienen, muß dem Ermessen des Ge- richtes überlassen werden.

Diese oben angeführten umstände sind nun in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen, wenn dieselben den Geschworenen bekannt sein werden, geeignet, die Freisprechung des Angeklagten von der gegen ihn erhobenen Anklage zu begründen. Angesichts dessen erscheint die Zulassung der Wiederaufnahme des gegen Feiwel M. durchgeführten Strafverfahrens und die Aufhebung des verurteilenden Erkenntnisses vom 10. Juni 1903 gerechtfertigt.^

Der hier mitgeteilte Wiederaufnahmsfall scheint uns in mehr- facher Richtung interessant und beachtenswert zu sein.

Er bietet vor allem einen Beitrag zur Beurteilung des Wertes der Geschworenengerichte, welcher wohl den Gegnern des Instituts willkommener sein wird, als dessen Anhängern.

Es wirft aber obiger Fall auch ein grelles Licht auf die Ver- läßlichkeit oder richtiger Unverläßlicbkeit der Zeugenaussagen, indem über denselben tatsächlichen umstand direkt entgegengesetzte Ausr sagen vorliegen und es dem Gerichte unmöglich gemacht wird, aus den widersprechenden Angaben der Zeugen das Wahre herauszu- finden.

Endlich spricht aber auch der oben mitgeteilte Fall nicht nur für die Beibehaltung, sondern auch für die Notwendigkeit der Er- weiterung und Erleichterung des Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, zufolge welcher der Straffall nach durchgeführter Revision oft in ganz anderem Lichte sich darstellt, als es im ersten Verfahren der Fall war.

IV. Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.

Von Hofrat J. Hdlsl.

IL Merkwürdige Znf iUle.

In die erste Zeit meiner Amtstätigkeit, die ich als junger, noch wenig bekannter Polizeibeamter in Graz verbracht habe, fällt ein Er- lebnis, das uns zeigt, welch' große Rolle oft der Zufall spielt

Eines Morgens erfuhr ich durch eine Zeitungsnotiz, daß in der Idlhofgasse, im zweiten Stockwerke des Hauses No. 669, Bilder zu verkaufen seien, und ich beschloß nun, mir dieselben am Nachmit- tage anzusehen. Im bezeichneten Hause und Stockwerke angekommen, sah ich verschiedene Ttlren, so daß ich nicht wußte, wohin ich mich der Bilder halber wenden sollte ; es war mir deshalb sehr angenehm, daß zufällig eine Dame erschien, die mir auf meine diesbezügliche Frage in liebenswürdiger Weise den richtigen Weg wies. Sie meinte nur, daß vielleicht Niemand zu Hause sein werde. Auf mein Klopfen wurde mir jedoch geöffnet, ich besichtigte die Bilder, die aber nicht meinem Geschmacke entsprachen, und konnte sohin schon nach kurzer Zeit das Haus wieder verlassen. Als ich durch die nicht sehr belebte Straße weiterging, fiel mir ein Mann auf, der langsam vor mir herschritt und ein schottisches Shawituch über den Arm hängend trug. Näherkommend erkannte ich in dem Manne einen bereits wiederholt wegen Diebstahls abgestraften und deshalb unter Polizei- aufsicht gestellten Maurer Namens Josef H. Da derselbe aber das Shawituch ganz offen trug und damit langsam ging, konnte ich nicht sofort annehmen, daß er das Tuch gestohlen habe müsse, und da er mir überdies als ein gewalttätiger Mensch bekannt war, so wollte ich ihn auch nicht auf der Straße anhalten, sondern ging an ihm vorüber, so daß auch er mich sehen konnte.

Wie groß war nun mein Erstaunen, als ich am nächsten Morgen im Amte eine Anzeige vorfand, in welcher eine Offizierswitwe Frau N. mitteilte, daß ihr tagszuvor, und zwar am Nachmittage, aus ihrer Wohnung, Idlhofgasse No. 669, II. Stock, während einer kurzen Ab-

68 IV. HÖLZL

Wesenheit ein schottisches Shawltuch und ein Portemonnaie mit Geld entwendet worden sei. Die Eingangstiire zur Wohnung wäre nicht versperrj; gewesen und ihre Tochter, welche sich in einem Neben- raume aufgehalten, habe wohl gehört, daß Jemand die Wohnung be- treten und den Kasten, an welchem der Schlüssel gesteckt, aufge- sperrt habe, in der Überzeugung jedoch, daß dies nur die Mutter sein könne, habe sie nicht weiter nachgesehen. Als des Diebstahls sehr verdächtig bezeichnete Frau N. einen gut gekleideten jungen Mann mit Augengläsern, der sich unter dem Verwände Bilder zu kaufen im Hause aufgebalten und dem sie selbst diesbezüglich eine Auskunft erteilt habe. Dieser junge Mann war natürlich ich. Mein Verdacht fiel selbstverständlich sofort auf Josef H., den ich ja mit einem schottischen Shawltuche in der Idlhofgasse gesehen hatte, und ich veranlaßte daher dessen Festnahme, welche noch am selben Tage erfolgte, ohne daß jedoch das gestohlene Gut bei ihm gefunden werden konnte. Bei der Einvernehmung verlegte sich Josef H. auf hartnäckiges Leugnen. Er wollte weder von einem Shawltuche etwas wissen, noch wollte er mich tagszuvor gesehen haben, noch überhaupt zur kritischen Zeit in der Idlhofgasse gewesen sein. Trotz- dem ließ ich ihn vorläufig in den Arrest abführen, gab jedoch noch vorher und in seiner Gegenwart den Auftrag, in den verschiedenen Trödlerläden, in erster Linie in jenen nächst der Idlhofgasse, nach dem verschwundenen und höchst wahrscheinlich bereits verkauften Shawltuche zu forschen, wobei ich demjenigen, der das Tuch bringen würde, eine spezielle Belohnung meinerseits in Aussicht stellte. Es lag mir ja begreiflicherweise viel daran, so schnell als möglich in den Besitz des gestohlenen Gutes zu gelangen, um I^>au N. von der Unrichtigkeit ihres Verdachtes zu überzeugen.

Kurz darauf ließ Josef H. um eine neuerliche Vorführung bitten und als er mir gegenüber stand, sprach er: „Herr Kommissär haben gesagt, wer das Shawltuch bringt, bekommt eine Belohnung; geben sie mir die Belohnung und ich sage, wo das Tuch ist"" Josef H. gestand nunmehr den in Bede stehenden Diebstahl ein und ermög- lichte hierdurch die rasche Zustandebringung des von ihm tatsächlich an einen Trödler verkauften Shawltuches sowie des gestohlenen Portemonnaie's, welches er seiner Geliebten zum Geschenke gemacht hatte. Durch weitere Erhebungen wurde dann auch festgestellt, daß Josef H. noch einige andere Diebstähle, gleichfalls durch Einschleichen in Wohnräume und Dachböden, ausgeführt hatte^ und es wurden auch Gegenstände aus diesen Diebstählen, wie Pretiosen, Kleider, Wäsche u. dergl. zustande gebracht Er hatte das Gestohlene immer

Aus den Erinnerangen eines Polizeibeamten. 59

gleich verkauft und den Erlös in Gesellschaft seiner Geliebten in Gasthäusern und Branntweinschänken durchgebracht Das Landes- gericht, an welches Josef H. wegen der von ihm begangenen Dieb- stähle eingeliefert wurde, verhängte über denselben eine mehrjährige schwere Kerkerstrafe, die er jedoch nicht überlebte.

Aus dem Vorangeführten ist wohl deutlich zu ersehen, daß die schnelle Eruierung des Diebes sowie des gestohlenen Gutes nur einem Zufalle zu verdanken war; es ist aber hierbei auch zu bedenken, daß der von Frau N. geäußerte Verdacht sich leicht hätte verhängnisvoll gestalten können, wenn nämlich der verdächtigte junge Mann ein an- derer gewesen wäre, als ich.

Gerade für mich als jungen Polizeibeamten war das eben ge- schilderte Erlebnis noch von besonderer Bedeutung, denn es hat mir klar und deutlich bewiesen, daß selbst dann, wenn augenscheinlich zutreffende Verdachtsmomente gegeben sind, ein Irrtum doch noch immer nicht ausgeschlossen ist, was mich fernerhin stets und nach- drücklichst zur Vorsicht mahnte. Vorsicht zu üben ist für den Kriminalisten überhaupt immer von größter Wichtigkeit, weil dadurch nicht nur mancher Mißgriff vermieden, sondern oft auch schweres Un- recht hintangehalten werden kann, wie beispielsweise im folgenden Falle:

Vor Jahren lebte in Graz ein Portraitmaler, der durch seine Kunst einen bedeutenden Namen erlangt und sich deshalb großen Zuspruchs zu erfreuen hatte. Auch ein Professor saß diesem Künstler zu einem Bilde, und als dasselbe der Vollendung nahe war, ersuchte letzterer den Professor um die Zusendung seiner Kravatte mit Brillant- nadel, damit diese auf dem Gemälde möglichst genau wiedergegeben werden könne; besagte Brillantnadel war nämlich das Geschenk einer hohen fürstlichen Persönlichkeit und als solches für den Professor von besonderem Werte. Dem Wunsche des Malers entsprechend, fibergab nun der Professor seiner Magd die Kravatte sammt der Brillantnadel mit dem Auftrage, dieselbe in das Atelier des Malers zu bringen und sie diesem persönlich einzuhändigen.

Es verging hierauf geraume Zeit, und als sich die beiden Herren gelegentlich begegneten, machte der Professor die scherzhafte Be- merkung, daß die Kravattennadel wohl nicht leicht zu malen sein müsse, nachdem er sie noch immer nicht zurückbekommen habe. Hierbei stellte es sich heraus, daß der Maler die Kravatte mit der Brillantnadel gar nicht erhalten hatte. Begreiflicherweise geriet hier- über der Professor in große Aufregung, umsomehr, als ihm nun auch auffiel, daß gerade an dem Tage, an welchem er die Magd zum Maler gesendet, diese um die Erlaubnis gebeten hatte, wegen plötz-

60 IV. HÖLZL

licher schwerer Erkrankung ihrer Mutter sogleich auf kurze ZiCit nach Hause reisen zu dürfen, was ihr anstandslos gewährt worden war. Seither war die Magd noch immer nicht zurückgekehrt und es wurde daher sowohl beim Professor als auch beim Maler der Ver- dacht rege, daß die Erkrankung der Mutter nur ein Vorwand ge- wesen sei, damit das Mädchen mit der kostbaren Brillantnadel unbe- hindert aus Graz verschwinden konnte.

Von diesem Gedanken erfüllt, erschienen beide Herren bei mir im Amte, um gegen die Magd ein schnelles und energisches Ein- schreiten zu erwirken, was gewiß auch nicht schwer zu rechtfertigen gewesen wäre; allein in der Erinnerung an mein vorerwähntes E^ lebnis und die dadurch gewonnene Überzeugung ließ ich auch in diesem Falle wieder Vorsicht walten, und ich tat gut daran.

Durch die eingeleiteten Erhebungen wurde alsbald festgestellt, daß sich die bisher vollkommen unbescholtene Magd des Professors tatsächlich in ihre Heimat begeben hatte und auch noch immer dort befand, da mittlerweile die erkrankte Mutter gestorben war. Außer- dem kam auch fast gleichzeitig durch einen glücklichen Zufall die vermißte Kravatte samt der Brillantnadel zum Vorschein. Ein Kauf- mann aus dem Stadtteile, in welchem der Professor wohnte, hatte in seinem Geschäftsladen ein verschlossenes Paket vorgefunden, von welchem er vermutete, daß es Jemand dort vergessen habe ; da aber längere Zeit vergangen, ohne daß darnach gefragt worden war, so brachte er dasselbe uneröffnet zum Amte. Das Paket enthielt unver- sehrt die Kravatte sammt der Brillantnadel und war es nun auch nicht mehr zweifelhaft, daß es die Magd des Professors gewesen, die ge- legentlich eines Einkaufes das Paket im Kaufladen niedergelegt und auf dasselbe beim Weggehen, in Folge der Aufregung über die plötz- liche Erkrankung der Mutter, vergessen hatte.

Der Verdacht, unter welchem das eigentlich schuldlose Mädchen längere Zeit gestanden, ward dadurch vollständig behoben, zur freu- digsten Überraschung für den Professor und Maler, wie nicht weniger zur Freude auch für mich, wenn ich daran dachte, daß durch ein vorsichtiges und daher minder scharfes Vorgehen einer ohnehin schwerbetroffenen Familie neues Ungemach erspart werden konnte. 0

1) Anmerkung des Herausgebers. Nehmen wir an, die Krankheit der Mutter wäre eine Ausrede gewesen und die Magd wäre z. B. zu ihrem Geliebten gereist Dienstbotenausrede, wie sie alle Tage vorkommt und weiter: das Paket mit der Nadel, das viele Tage im Laden des Kaufmanns unbeachtet lag, wäre in Verstoß geraten oder wäre entwendet worden, was alles ebenso gut hätte geschehen können. In diesem Falle wäre die Magd nicht bloß verhaftet, sondern vielleicht auch verurteilt worden.

V. Versuchter Meuchelmord eines Epileptikers.

Mitgeteilt ▼om

Untereuchungsrichter Dr. Huber in Bozen.

Johann D. aus Vinstgau, geboren 1884, stand durch mehr als 3 Jahre als Schneiderlehrling bei dem Meister Johann St. in L. in Verwendung.

In der Nacht zum 19. August 1904 schlich er sich aus seiner Schlaf kammer im 2. Stocke des St 'sehen Hauses herab in die im 1. Stocke gelegene Schlafkammer der Meisterseheleute, nachdem er zuvor einer Lade der nebenan befindlichen Werkstätte das Basier- messer seines Meisters entnommen hatte, trat an das obere Ende des Ehebettes nnd versetzte dem Meister rasch drei Schnitte über den Hals. St wurde anscheinend nur dadurch vor dem Tode bewahrt, daß ein Beinknöpfchen die volle Kraft der Schnitte aufhielt Durch den Buf des Oatten vom Schlafe geweckt entzündete Frau St das elektrische Licht und sah zu ihrem Schrecken den Lehrling mit der Waffe in der Hand. D. lieB das Messer auf die Aufforderung des Meisters erst fallen, als ihm dieser versprochen hatte ihm nichts zu leide zu tun. Dann sprang er durch das Fenster ins Freie. So die Darstellung der Eheleute St

D. trug bei der Tat nur Hose und Weste, war barhaupt und barfuß. Am folgenden Tage trieb er sich in der Nähe eines Schieß- standes herum und beschäftigte sich mit dem Ausgraben von Blei- geschossen, die er einem Knaben um 22 Heller verkaufte. Am 20. August wurde er verhaftet Das Motiv der Tat war rätselhaft, ein Baubmordversuch erschien nach den umständen ausgeschlossen. Schon die erste Oendarmerieanzeige sprach aus, daß die Tat ohne Zweifel im Zustande momentaner Sinnenverrückung (nach dem Aus- drucke des österreichischen Strafgesetzes) begangen sei. Beim ersten Verhör vor dem Strafrichter des (ländlichen) Bezirksgerichts am 20. August gab D. an, er habe in der Nacht des 18., wie öfters.

62 V. Huber

nicht einschlafen können, habe über seine Lage nachgedacht und be- sonders darüber, daß ihn die Meisterin des öfteren ganz ungerechter Weise schelte und ihm wegen Trägheit, wegen Stehlens von Zwirn u. dergl unverdiente Vorwürfe mache. Sie sei nie mit ihm freund- lich, sondern immer zänkisch gewesen und schließlich sei auch der Meister durch sie aufgehetzt worden und zeige ihm nicht mehr das freundliche Benehmen. Obwohl schon über 3 Jahre bei St als Lehrling, habe er keinen Lohn und die Verköstigung sei nicht be- sonders reichlich und gut So sei ihm das Ehepaar schließlich ganz verhaßt geworden und er habe gegen beide, besonders aber gegen die Frau, einen starken Zorn gefaßt In schlaflosen Nächten habe er über sein elendes Dasein nachgegrübelt, so sei auch in jener Nacht sein Zorn beim Nachsinnen heftiger geworden und er habe sich gedacht: „Heute werde ich Meister und Meisterin ermorden und so meinem elenden Dasein ein Ende bereiten.'' Als er dann nach 10 Uhr in das Zimmer der Meisterleute geschlichen sei, habe er gerade das elektrische Licht entzünden wollen, als ihm die Meisterin damit zuvorkam. Er habe dann dem Meister, der gleichfalls schon wach war, hinter einander mehrere Schnitte in den Hals versetzt um ihn zu ermorden, doch sei es St gelungen ihn am Arme zu er- fassen, so daß er die Tat nicht vollenden konnte. Die Meisterin sei inzwischen aus dem Zimmer gelaufen. Er habe die Absicht gehabt auch sie auf die gleiche Art zu ermorden. Auch der Meister sei plötzlich davoDgelaufen, er, D., habe das Messer fallen gelassen und sei durch das Fenster, das er erst öffnen mußte, davon geeilt, ohne sich um die drei im Zimmer schlafenden Kinder St's. zu kümmern, denen er auch nie ein Leid habe tun wollen. „Meine Absicht^ fährt das erste Verhör fort , „war nur die, mich meiner Meisters- leute zu entledigen und sie zu töten, nicht aber zu rauben oder zu stehlen. Ich handelte mit voller Überlegung und nur durch Sach- sucht beeinflußt^

Er habe sich dann im Walde herumgetrieben und sich am

20. August früh nach begeben um sich dem Gerichte zu

stellen. Da sei er von einem Gendarm aufgegriffen worden. Er fügt sich dem Haftbeschlusse mit dem Beisatze: „Ich sehe ein, daß ich Strafe verdiene, so kann ich mein Unrecht gut machen.^

Der Gendarm, der die Verhaftung vorgenbmmen hatte, gibt an, D. habe ihm, als er ihn ansprach, sofort seinen richtigen Namen an- gegeben und auf die Frage, was er hier mache ^ erklärt, er habe seinen Meister umgebracht; dann sei er hierher geflohen, habe zur Zerstreuung Bleikugeln ausgegraben und von dem Erlöse von 22 b

Versuchter Meuchelmord eines Epileptikers. 63

einen Kreuzer beim St. Martinskirchlein geopfert Er schien der Meinung zu sein den Meister tatsächlich ermordet zu haben und gab auch an, er sei im Begriffe ^sich zu stellen.^

Aus der Aussage der Meistersleute interessiert, daß der Lehrling am Abend vor der Tat noch einige Zeit mit dem Meister und ein paar Nachbarn im Oespräche vor dem Hause saß, daß er nie über schlechte Behandlung klagte und daß er das letztemal am 9. August, also neun Tage vor der Tat, von der Meisterin Schelte bekam, weil er einen Besuch in der Heimat ohne Urlaub auf 3 Tage ausgedehnt hatte. Früher hatte man öfters mit ihm gezankt, weil er unreinlich war, die Wäsche nicht wechseln wollte, L&use acquirierte, auch sein Bett wiederholt verunreinigte. Zeitweise sei er auch träge zur Arbeit gewesen und es sei manchmal vorgekommen, daß er Stoffabschnitte oder Zwirn sich aneignete, weshalb er auch wohl getadelt wurde. Die Kost hatte er am Tische der Meistersleute; sie sei gut gewesen.

Der Meister charakterisiert D. als eher kopfhängerisch, nie recht fröhlich, im Sprechen einsilbig, wenn er auch andrerseits mit anderen Leuten über Viehzucht, Landwirtschaft und über sein Handwerk ganz vergnügt geredet habe.

Zur Tat Ds. selbst gibt St an, er habe, als er die Schnitte fühlte, den Burschen gepackt und gefragt, was er da mache. D. habe ganz ruhig erwiedert: „Dem Meister die Ourgel abschneiden.^ Es ist interessant, daß die Meisterin diese Worte nicht hörte und daß der Meister selbst als Zeuge bei der Hauptverhandlung am 12. Dezember 1904 jene Angabe nicht mit Bestimmtheit aufrecht hielt: er wisse nicht zweifellos, ob D. diese Worte wirklich gesprochen habe, er habe nur diesen Eindruck. Gesprochen habe D. aber ohne Zweifel. Es dürfte sich hier wohl eher um eine Erinnerungstäuschung auf Seite St's. handeln: Die furchtbare Erkenntnis dessen, was D. vorhatte, verdichtete sich in der Erinnerung St's. geradezu zu bestimmten Worten, in denen er unbewußt den D. diese Absicht aussprechen ließ.

Der wiederholten Aufforderung das Messer fallen zu lassen habe D. dann erst entsprochen, als der Meister sagte: „Ich tue Dir nichts'^, worauf er hervorgestoßen habe: „Laßt mir gehen !^, das Messer fallen gelassen und sich mit einem Sprunge durch das Fenster ent- fernt habe.

Der Leumund D's. wird sowohl von der Heimats- als von der Aufenthaltsgemeinde als „unbescholten in jeder Beziehung^ bezeichnet Nach den Erhebungen der Gendarmerie genießt er wegen seines ruhigen und bescheidenen Wesens allgemeine Achtung. Sein Katechet, inzwischen zur Leitung einer großen Pfarre berufen, äußert sich.

64 V. HUBEB

daß er an D. zwar nie Spuren von Geistesgestörtbeit wahrgenommen habe^ doch sei er von schwacher Begabung gewesen, der auch die Leistungen in der Schule entsprachen. Doch lasse sein sanfter und gutmütiger Charakter die Tat völlig unerklärlich erscheinen. Die Eltern seien brave, arbeitsame Bauersleute und die Erziehung gewiß nicht schlecht gewesen.

Die Erhebungen ergaben auch das Vorkommen von Geistes- krankheiten in der mütterlichen Verwandtschaft. Ein Vetter mütter- licher Seite ist Kretin.

Es wurde nun die Untersuchung von D's. Geisteszustand durch zwei Gerichtsärzte veranlaßt Dem Befunde entnehmen wir folgen- des : Die Entwicklung des 20jährigen D. entspräche eher einem Alter von 15 Jahren. Die Schädelbildung ist asy metrisch, die rechte Ge- sichtshälfte hypertrophisch, die Pupillen beiderseits gleich, prompt reagierend. Bei der Untersuchung durch die Ärzte zeigt D. ein ruhiges, affektloses Wesen. Er antwortet auf alle lYagen logisch und korrekt und auch sein Erinnerungsvermögen für Details ist als nor- mal zu betrachten. Von Wahnideen konnte keine Spur entdeckt werden. Doch fiel sofort eine ziemlich bedeutende Herabsetzung der Intelligenz auf. D. erzählt ganz ruhig und naiv und wie sich nach den Zeugenaussagen konstatieren läßt, auch wahrheitsgetreu die Be- weggründe seiner blutigen Tat: das kränkende Verhalten der Meisterin, ein Kachegefühl und der Drang einen unleidlichen Zustand zu be- enden. Auf die P'rage, warum er nicht einfach davon gelaufen sei, antwortet D., das sei verboten und er hätte Strafe gefürchtet Die schwere Strafbarkeit eines Mordes scheint ihm nicht hinreichend klar, obwohl er über das Strafwürdige seiner Tat nicht im unklaren sich befindet Das Gutachten lautet dahin, daß D. nicht wahnsinnig, auch trotz erblicher Belastung nicht im engeren Sinne geisteskrank, wohl aber in seiner intellektuellen Entwicklung zurückgeblieben und daher vermindert zurechnungsfähig sei.

Die Anklage lautete auf versuchten Meuchelmord, der „tückischer Weise'' geschehen sollte (§§ 134, 135 ZI. 1 östr. Str.G.).

Bei der Hauptverhandlung am 12. Dezember 1904 wich der Angeklagte etwas von seiner früheren Darstellung ab. Er sagte, die Meisterin habe sich vom Bette erhoben, er habe ihre Stelle einge- nommen und die Schnitte gegen den Hals des Meisters geführt Doch erklärte er auf Vorhalt seiner früheren Angaben diese als richtig.

Die Geschwomen bejahten einstimmig die auf versuchten Meuchel- mord gestellte Hauptfrage und die erste Zusatzfrage, ob der Angriff

Versuchter Meachelmord eines Epileptikers. 65

tückischer Weise geschehen sei. Die zweite Zusatzfrage auf Begehung der Tat ^in einer Sinnenverwirrnng, in der sich D. seiner Hand- lungen nicht bewußt war^, wurde einstimmig verneint

Das Urteil lautete auf schweren Kerker in der Dauer von drei Jahren mit Verschärfung.

Der Verteidiger hatte vor der Hauptverhandlung und im Laufe derselben den Antrag auf Einholung eines Fakultätsgutachtens über D.'s Geisteszustand gestellt und gründete auf dessen Ablehnung die Nichtigkeitsbeschwerde. Der oberste Gerichts- und Kassationshof ver* warf zwar diese, hob aber gemäß § 362 StPO. MO. das Urteil samt dem zugrunde liegenden Wahrspruche der Geschwomen auf und ver- wies die Sache zur Wiederaufnahme des Verfahrens an die erste Instanz. Die Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde whrd damit be- endet, daß das ärztliche Gutachten an sich nicht mangelhaft, dessen Überprüfung durch eine medizinische Fakultät aber nicht obligatorisch, sondern dem richterlichen Ermessen anheimgestellt sei. Allein mit Rücksicht auf das Verhalten des Angeklagten vor und nach der Tat, die Art der Begehung, das geringfügige Motiv, die erbliche Belastung des Angeklagten und dessen körperliche Gebrechen ergeben sich dem Kassationshofe erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Urteile zugrunde gelegten Tatsache, daß der Angeklagte zur Zeit der Verübung der Tat den vollen Gebrauch seiner Vernunft hatte. Auch die Annahme einer verminderten Zurechnungsfähigkeit durch die Sachverständigen lasse im konkreten Falle die Einholung eines Fakul- tätsgutachtens geboten erscheinen. Der zitierte § 362 berechtigt den Kassationshof nach Anhörung des Generalprokurators die Wieder- aufnahme des Strafverfahrens zu gunsten des Verurteilten zu verfügen, ohne daß er an die sonstigen Bedingungen einer Wiederaufnahme gebunden wäre, wenn sich erhebliche Bedenken gegen die Richtig- keit der dem Urteile zugrunde gelegten Tatsachen ergeben, welche auch nicht durch einzelne vom Kassationshofe angeordnete Erhebungen beseitigt werden.

D. wurde nunmehr der psychiatrischen Klinik in Innsbruck über- stellt und über seinen Geisteszustand ein Fakultätsgutachten eingeholt (Ref. Prof. C. Mayer und Prof. C. Ipsen). Wir entnehmen demselben folgendes: Neu wird nach den Angaben der Mutter Ds. angeführt, daß dieser ungefähr vom 10. bis zum 14. Lebensjahre öfters an leichten Kopfschmerzen litt und in früheren Jahren infolge Aufgeregt- heit nachts wiederholt aufschrie, femer, daß er vor 2 Jahren wegen Magenleidens durch 4 Wochen zu Hause krank war, welches Leiden sich zu Anfang 1903 wiederholte. Auch damals klagte D. über

ArahiT fttr Krimiiudantliropologie. 28. Bd. 5

66 V. Httbeb

leichte Kopfschmerzen. Bei seinen Besuchen daheim habe sich D. wohl manchmal über die Meisterin beklagt, den Meister aber so- gar gelobt

„Der untersuchte überrascht durch sein knabenhaftes Aussehen; die Körperlänge beträgt 157 cm. Er ist im allgemeinen von gutem Kräfte- und Ernährungszustände, frischer Oesichtsfarbe, jedoch voll- kommen bartlos. Es besteht leichte Schiefköpfigkeit wegen geringerer Entwicklung der linken Stimscheitelgegend. Beiderseits springt die hintere Scheitelgegend kantig vor. Auch das Gesichtsskelett ist leicht asymetrisch zu Ungunsten der linken Seite. Der Brustkorb ist vorne kielförmig verbildet, das Glied und die Hoden knabenhaft klein, die Schamhaare spärlich. Beiderseits besteht hochgradige Schwerhörig* keit bei Unversehrtheit des Trommelfells.^

In Ds. geistigem Wesen sei eine gewisse Stumpfheit und auf- fallende Gleichgültigkeit zu bemerken, in seinen meist kurzen Ant- worten eine leicht undeutliche Artikulation mit gelegentlichen An- sätzen zum Stottern. Auch stelle sich öfter fluxionäre Bötung der Gesichtshaut ein. Die Antworten seien durchaus zutreffend, weder Verwirrtheit nach Wahnideen seien nachweisbar. Hinsichtlich seines intellektuellen Besitzstandes und seiner Urteilsfähigkeit stehe er über dem Durchschnitte seiner bäuerlichen Altersgenossen.

D. erzählt, seine Gesundheit sei nicht gut, seitdem er im 6. oder 7. Lebensjahre 2.5—3 m hoch von einem Heufuder herabstürzte. Er sei danach ohnmächtig gewesen, hatte eine Wunde an der linken Kopfseite und mußte durch 14 Tage wegen Hitze und Kopfschmer- zen das Bett hüten. Sein Kopfleiden und die Schwerhörigkeit am linken Ohre führt er darauf zurück. Seit Jahren habe er an hefti- gem Kopfschmerz zu leiden in Form von Schmerz und Ziehen in der Unken Kopfseite und Schwere über den Augen von mehrtägiger Dauer. Danach sei ihm übel und er habe auch manchmal im An- schlüsse daran erbrechen müssen. In den letzten Jahren sei der Kopfschmerz in Pausen von 3 4 Wochen aufgetreten; alle paar Tage sei ihm überdies der Kopf durch einen halben Tag „mürb^. Seit Jahren schlafe er schlecht, meist erst nach Mitternacht, und sei dann morgens müde. Vor schlechtem Wetter spüre er Krämpfe im Magen. Seit einigen Jahren leide er an Schwindelanfällen durch ein paar Minuten und es werde ihm schwarz vor den Augen; alles gehe „um und um^. So sei es auch im Sommer 1904 vorgekommen und auch während der Haft in Bozen. In seinem Dienstorte L. habe er manch- mal bemerkt, daß er morgens beim Erwachen aus dem Munde blutete, weil er sich im Schlafe auf die Zunge oder in die Lippen gebissen

Versuchter Meuchelmord eines Epileptikers. 67

hätte. Bis zu seinem 17. Lebensjahre habe er nachts ins Bett genäßt Nächtliches Aufstehen und Vor-sich-hin-reden sei schon zu Hanse Yorgekommen, und auch die Meisterin habe von seinem lauten Reden bei Nacht erzählt, ohne daß er davon gewußt hatte.

Schon durch einige Zeit vor der inkriminierten Handlung habe er trübe Gedanken gehabt, wenn er nachts nicht schlafen konnte. Zwei Tage vorher litt er an Kopfschmerzen und Schwindel, am 18. sei dies besser gewesen, doch sei er an diesem Tage im Gfemüte be- sonders niedergeschlagen gewesen, ohne zu wissen, was ihm fehlte. Es sei auch mit der Arbeit wenig vorwärts gegangen, worüber ihm der Meister auch Vorwürfe machte. Nach dem Abendessen habe sich sein Kopfschmerz nach einem Gang ins Freie etwas gebessert Ohne Erregung gegen den Meister habe er sich um halb 9 Uhr vou diesem verabschiedet und sei dann in seine Schlafkammer in den 2. Stock hinaufgegangen. Er kann keinen Aufschluß darüber geben, ob er sich ins Bett legte oder ob er auf dem Bette saß. Die Erin- nerung ist für die Zeit seines Aufenthaltes im Zimmer überhaupt eine lückenhafte. Er führt die „finsteren Gedanken'^ ähnlich wie im Verhöre aus, weiß nicht, ob er dazwischen schlief. Doch erinnert er sich, es sei ihm vorgekommen, als müsse er fort, als müsse er hin- untergehen und etwas tun. Wie das gekommen, weiß er nicht Er erinnert sich an die Stiege, an den Mondschein am Fenster, doch weiß er nicht, wie er vom Bett zur Stiege kam, auch nicht, daß ihm einfiel, nachzudenken, warum er hinuntergehe. In der Werkstätte sei er eine Weile auf einem Stuhle gesessen, »weil er sich nicht recht auskannte^. Da sei ihm eingefallen, daß er fortspringen solle, dann wieder, daß es ihm nichts nützen würde, weil er keine Kleider an- ziehen könne, ohne daß die Meistersleute es merkten. Er könne aber so nicht fort ohne Werkzeug, Geld, Arbeitsbuch. Dann sei ihm so eingefallen^ daß er den Meister umbringen solle, damit er fortkomme. Er könne nicht sagen, ob er habe beide umbringen wollen. Nun habe er schnell das Messer genommen; niemals habe er früher an dieses gedacht gehabt Er sei nun gleich ins Zimmer, auf die Bank neben dem Bette, habe licht machen wollen, aber gezögert und ge- dacht, daß er zurückgehen müsse. Da habe die Meisterin Licht ge- macht, und nun habe er schnell den Meister angepackt, weil er sich entdeckt sah. Er hält daran fest, daß er bei Licht dem Meister die Verletzungen beigebracht habe. Die Meisterin habe gefragt: „Hansl, was machst Du?'^ Daß er selbst antwortete, weiß er nicht Nach der Flucht ins Freie sei ihm alles wie ein Traum erschienen, dann aber kam ihm seine Tat schrecklich vor. Sie erscheint ihm bei wie-

5*

68 V. Huber

derholter, eingehender Erorternng unverständlich, er glaubt nicht, daß er bei klarem Verstände so etwas habe begehen können. Er sieht ein, daß er Strafe verdiene.

Nach diesem Befunde findet das Gutachten in D. eine Reihe von Zügen, die als Ausdruck einer krankhaften Artung des Nervensystems zu bezeichnen sind. Hieher gehören die leichten Sprechstomngen, die fluxionäre Bötung der Gesichtshaut, das lange fortdauernde Bett- nässen, das nächtliche Aufreden, schlechter Schlaf, Müdigkeitsgefühl beim Erwachen, abnorme Empfindungen im Kopfe, zeitweise heftige Kopfschmerzen mit Brechneigung und namentlich die Schwindelan* fälle, femer die gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit, überhaupt sein kopfhängerisches, stilles Wesen. Hand in Hand mit diesen krankhaften Erscheinungen des Nervensystems gehe eine Reihe von auffallenden Veränderungen auf körperlichem Gebiete, mangelhafte Entwicklung des Geschlechtsapparates und der sekundären Geschlechts- charaktere^ Wachstumsstörungen am Knochen (Schiefköpfigkeit, Ver- bildung des Brustkorbes). Zusammengehalten mit diesen körperlichen Veränderungen seien die von seite des Nervensystems bestehenden Störungen als konstitutionelle, angeborene aufzufassen, wahrscheinlich begründet in einer von der Mutterseite ererbten krankhaften Anlage.

Besondere Beachtung beanspruchten unter diesen Symptomen die zeitweise auftretenden Schwindelanfälle mit Gesichtsfeldverdunkelung in der Dauer von einigen Minuten und das Vorkommen von nächt- lichen Zungenbissen. „Diese an sich vollkommen glaubwürdigen und von D. immer gleichartig geschilderten Erscheinungen tragen das Ge- präge von epileptischen Zufällen an sich. Erfahrungsgemäß verber- gen sich nicht selten hinter solchen gelegentlichen wiederholten nachts liehen Zungenbissen nächtliche epileptische Anfälle, die als solche nicht zum Bewußtsein kommen, sowie andererseits die von D. ge- gebene Darstellung der Schwindelanfälle mit dem Ablaufe abortiver epileptischer Anfälle, des sogenannten epileptischen Schwindels, über- einstimmt^ Eine solche Krankheitsveranlagung sei auch bei D. an- zunehmen und aus dieser heraus könne die inkriminierte Tat als eine triebartige, impulsive, aus einem Zustand krankhaft veränderten Be- wußtseins hervorgegangene ungezwungen gedeutet werden. Für einen solchen Zustand spreche die unklare, verwaschene Erinnerung des D. für die Zeit des Aufenthaltes in der Schlafkammer, das Fehlen der Erinnerung für einzelne Phasen des kritischen Vorfalles und die teil- weise den Zeugenaussagen widersprechenden Angaben über das Hineinlangen in das Bett der Meistersleute, sowie über den Zeitpunkt der Erhellung des Raumes.

Versuchter Meuchelmord eines Epileptikers. 69

Das Triebartige der Handlang komme zum Ansdmcke in dem plötzlichen Aoftaachen der Vorstellung bei D., er müsse fort, er müsse hinantergeben und etwas tun, welcber Impuls zunächst ohne Zielvorstellung auftrat, woran sich in ganz unklarer Verknüpfung der Gedanken des Nichtfortkonnens, weil die Meistersleute es hören würden, die Vorstellung der Notwendigkeit des Überfalles, um ent- fliehen zu können, anschloß. Wie auch sonst wohl in ähnlichen IMen erscheine die im Zustande getrübten Bewußtseins auftauchende und das Handeln D.s bestimmende Vorstellung nicht ohne Beziehung zu seinem sonstigen Bewußtseinsinhalt, indem seine sonstige Unzu- friedenheit mit manchen Härten des Dienstes, seine Sehnsucht, nach Hause zu kehren Dinge, die ihn auch bei Tage beschäftigten , sich in dem Drange fortzulaufen spiegeln. Dennoch werde die njichtliche Handlung beim Erwachen am nächsten Morgen in charak- teristischer Weise als etwas Fremdartiges empfunden, an dessen Wirk- lichkeit D. zunächst nicht glauben will.

Daß die Angaben D.'s vor Gericht in teilweisem Widerspruch mit diesem Befunde stehen, erklären die Psychiater zum Teil darausi daß D. sich selbst das Zustandekommen der ihm eigentlich unver- ständlichen Handlung in ftlr ihn plausibler Weise zurechtzulegen sucht Das Gutachten spricht schließlich aus:

Johann D. leidet an Epilepsie. Die Handlung vom 18. August 1904 ist ein Ausfluß eines durch epileptische Veranlagung bedingten krankhaften Bewußtseinszustandes. D. hat also die Handlung in einem Zustande abwechselnder Sinnenverrückung zu der Zeit, da die Verrückung dauerte, begangen 2 österr. Str.G.).

Demnach wurde das Strafverfahren nach § 109 Str.PO. einge- stellt und D. der Landesirrenanstalt überstellt, jedoch im Januar 1907 gegen Bevers seinem Bruder in Pflege übergeben.

VI. Die Rache einer Stiefmutter.

MitgeteUt yon

Dr. Biohard Bauer, k. k. StaatsanwaltBBubstitut in Troppau.

Der Fabrikarbeiter GoBtay S. aus E., einem Dorfe im Gebilde Westseblesiens, hatte vor ungefähr 3 Jahren in zweiter Ehe die im Jahre 1875 geborene Anna S. geheiratet nnd brachte in diese Ehe seine Kinder, die 16jährige Hermine, die 15jährige Marie nnd den 13 jährigen Gustav mit. Anna S. vertrug sich aber mit ihren Stief- kindern und auch mit ihrem Manne nicht und verließ denselben mehrere Male, um schlieBlich wieder zu demselben zurückzukehren.

Im Mai 1906 behauptete Anna &^ daß ihr aus versperrtem Koffer 50 Kr. entwendet wurden und beschuldigte dieses Diebstahls ihre beiden Stieftöchter bei der Gendarmerie, welche aber keinerlei Ver- dachtsgrfinde gegen dieselben finden konnte, so daß es schon damals den Anschein hatte, als ob Anna S. diesen Diebstahl nur zu dem Zwecke fingiert hätte, um den Gustav S. mit seinen Töchtern zu entzweien.

Letzterer war über das Vorgehen seiner Frau so empört, daß er dieselbe aus dem Hause jagte, worauf sie zu ihrem Bruder in den ungefähr 2 Stunden entfernten Ort £. zog.

Schon Ende Juni 1906 fand die Marie K., die Hausfrau des Gustav S., die Anna S. eines Morgens hinter Holzbündeln in der Scheune versteckt, woselbst sie die ganze Nacht zugebracht hatte, ohne hierfür einen glaubwürdigen Erklärungsgrund vorbringen zu können.

Im August 1906 übersiedelte Gustav S. mit seiner Familie in ein im selben Orte gelegenes, ihm gehöriges kleines Häuschen. Dasselbe war mit Ausnahme einer Mittelmauer ganz aus Holz her- gestellt, hatte ein Schindeldach und bestand aus einem einzigen Zimmer.

Dieser Wohnraum war 4,1 m breit, 5 m tief und 2V2 hoch und wurde von 3 kleinen Fenstern beleuchtet. Während Gustav S. mit

Die Bache einer Stiefmutter. 71

seinem Sohn in einem Bette schlief, benutzten die beiden Mädchen gemeinsam ein gegenüberliegendes Bett.

Am Sonntag, den 23. September 1906, kam Gustav &^ der mit einer seiner Töchter bei einer Unterhaltung gewesen war, erst gegen 11 Uhr nachts nach Hause, während die andere Tochter und der Sohn des Abends das Zimmer überhaupt nicht verlassen hatten. Gegen 3 Uhr morgens erwachte Gustav S. plötzlich und sah vor dem gegenüber befindUchen Bette, in welchem seine beiden Töchter schliefen, eine Flamme hoch emporlodern, während er zugleich eine Person mit bloBen Füßen aus dem Zimmer laufen hörte.

Dem Gustav S., der rasch aus dem Bette sprang, gelang es mit Aufbietung aller seiner Kräfte, einen vor und unter dem Bette seiner Töchter liegenden und zu brennen anfangenden Strohhaufen ansein- anderzureißen und so das Feuer zu löschen. Am nächsten Morgen fand man, daß der Eaum unter dem Bette der beiden Mädchen ganz mit Stroh ausgefüllt war, und daß bereits ein Teil des hölzernen Fußbodens zu brennen angefangen hatte. Im Bette der Mädchen lag unten über mehreren quer gelegten Brettern Stroh, über welches erst ein Strohsack gebreitet war.

Wäre Gustav S. nur einige Minuten später erwacht, so hätten die Flammen bereits das Stroh des Bettes erfaßt, und die beiden fest- schlafenden Mädchen wären rettungslos dem Feuer- oder Erstickungs- tode preisgegeben gewesen. Ebenso gewiß ist auch, daß das alte hölzerne Häuschen, das eigentlich nur aus Brennmaterial bestand, binnen kurzem dem verheerenden Elemente zum Opfer gefallen wäre, wobei es noch sehr fraglich bleibt, ob sich Gustav S. mit seinem Sohne aus dem Bauch und Qualm hätte retten können.

Der Verdacht des Gustav S., daß nur in seiner Ehegattin die Urheberin dieser teuflischen Tat zu suchen sei, rechtfertigte sich tat- sächlich. Anna S. wurde dem Gerichte eingeliefert und gab an, daß sie sich des Abends, vom Begen überrascht, in das Haus ihre^s Ehe- gatten geflüchtet und daselbst unter der Bodenstiege versteckt habe. Gegen 3 Uhr morgens sei sie von einem plötzlichen Zorne erfaßt worden, sei nun in das Zimmer geschlichen und habe Stroh, das sie im Vorhause gefunden, unter das Bett ihrer Stieftöchter gesteckt und dasselbe angezündet, damit, „wenn sie nichts habe, ihr Mann auch nichts haben solle^.

Allein das Beweisverfahren ergab, daß Anna S. nicht in einem plötzlichen Anfalle von Haß, sondern nach einem wohlüberlegten Plane gehandelt hatte. So wurde ihr z. B. nachgewiesen, daß sie erst um halb 7 Uhr abends aus ihrem, von K. ungefähr 2 Stunden

72 VL Bauer

entfernten Wohnorte E. aofgebrochen war^ so daß sie damit rechnen maßte, in E. za übernachten, und weiter, daß sie das Stroh nicht etwa aus dem Vorhause, wo sich überhaupt keines befand, genommen, sondern aus einem ziemlich weit entfernt Scheuer bereits mitgebracht hatte.

Die Handlungsweise der Anna S., welche aus ihrem Hasse gegen Mann und Stieftöchter gar kein Hehl machte und die Be- schuldigung wegen der angeblich gestohlenen 50 Er. fortwährend aufrecht erhielt, deutet wohl in erster Linie darauf hin, daß sie es auf das Leben ihrer Stieftöchter abgesehen hatte, da sie eine Brand- legung ohne weitere Nebenabsicht in viel einfacherer Weise durch Anzünden von Stroh unter der hölzernen Bodenstiege hätte ausführen können. Jedenfalls war ihr Plan sehr schlau erdacht, da man bei Umkommen der Bewohner des Häuschens kaum an eine Brand- legung, viel eher an eine Unvorsichtigkeit der spät abends nach Hause gekommenen Verunglückten gedacht hätte.

Bei der am 18. Januar 1907 beim Landesgerichte Troppau ab- gehaltenen Schwurgerichtsyerhandiung beantworteten die Geschwo- renen die erste Hauptfrage, lautend auf das Verbrechen des ver- suchten Meuchelmordes, mit 4 Stimmen ja, 8 Stimmen nein, die zweite Hauptfrage, lautend auf das Verbrechen der Brandlegung, mit 12 Stimmen ja.

Anna S. wurde zu 4 Jahren schweren Eerkers verurteilt

VII.

Ans der k. k. psychiatrischen Klinik des Herrn Professor A. Pick

in Prag.

Saggestibilit&t im postepileptischen Zustande.

Von Dr. Alexander Margnli^s, I. AssiBtent der Klinik.

Das Stndinm der Zustände nach epileptischen Krampfanfällen hat sich bisher in vielen Beziehungen als erfolgreich und nutzbringend erwiesen. Vornehmlich haben die dabei zu Tage tretenden Herder- scheinungen, ganz besonders im Gebiete der Aphasie und Apraxie, das Interesse der Beobachter erregt, aber auch der allgemeine Be- wußtseinszustand, die eigentlichen psychischen Symptome halte ich einer genaueren Analyse wert Schon im allgemeinen klinischen Interesse erscheint eine eingehende Betrachtung jener Periode not- wendig, wo sich nach dem eigentlichen Sopor unter allmählicher Klärung ein Bewußtseinszustand entwickelt, in dem, bei oft weitgehen- der Orientierung und Besonnenheit, Störungen, die vorwiegend die Stimmungslage des Kranken betreffen, gefunden werden. Wir sehen dabei, ganz allgemein betrachtet, daß die Individuen neben einer ge- wissen schläfrigen Müdigkeit, einem wechselnden Grade von Schwer- besinnlichkeit, einer mehr oder weniger hochgradigen Einengung des Vorstellungskreises, vor Allem eine auffallende Gereiztheit und eine eigentümliche morose Verstimmung zeigen.

Eine genauere Darlegung der einzelnen dabei beobachteten Symp- tome ist ganz besonders im Hinblick auf die Auffassung der Lehre Kraepelin's, der in der periodischen Verstimmung ein hervorragend wichtiges, diagnostisches Kriterium sieht, gerechtfertigt, da wir so nicht nur einen Einblick in das klinische Bild der Störung selbst gewinnen, sondern zugleich auch die feineren Merkmale zur Abgrenzung von ähnlichen, periodisch auftretenden Störungen beobachten können.

Meine heutigen Untersuchungen sollen nun ganz besonders einem Symptome gelten, das wir wiederholt im postepileptischen Zustande

76 VIL Mabguli^

M. stand vom 24./VIII. bis 27./IX. 1901 in Beobachtong der psychiatrischen Klinik des Herrn Prof. A. Pick in Prag. Ich erwähne zunächst ans der Anamnese des Vaters, daß von 9 Geschwistern des Observanten 6, darunter eins an Fraisen gestorben sind. Ein Bruder befindet sich mit progressiver Paralyse in einer Irrenanstalt. Die ersten Eiämpfe traten bei M. im 6. Monate auf und wiederholten sich immer seltener werdend bis zum 3. Lebensjahre. Mit 13 Jahren trat neuerdings ein Anfall von Bewußtlosigkeit zunächst ohne und am nächsten Tage mit Krämpfen auf und diese Anfälle bestehen in verschiedener Intensität und Häufigkeit bis zum heutigen Tage fort M. ist seit 6 Jahren verheiratet und hat 3 Kinder, von denen eins schwachsinnig ist Seit 2—3 Jahren fühlt Patient angeblich das Herannahen eines Krampfes durch ein Kriebeln im linken Daumen und hat auch beobachtet^ daß er häufig im Stande ist, durch festes Drücken dieses Daumens den Anfall hintanzuhalten oder abzu- schwächen. Tritt der Anfall dennoch ein, so ist Patient gewöhnlich eine halbe Stunde bewußüos und dann kehrt erst nach einigen Stunden allmählich das Bewußtsein wieder. Wiederholt hat der Vater beobachtet, daß während dieser allmählichen Wiederkehr des Bewußt- seins M. ganz sinnlos in Büchern herumblättert oder unzusammen- hängende Worte oder Ziffern aufschreibe. Zur Zeit als er den Droh- brief schrieb, habe er besonders häufig Anfälle gehabt

Bei den klinischen Untersuchungen gibt Pat die Tatumstände in der gleichen Weise an, wie bei seiner Verantwortung vor dem Richter und erklärt über seine Anfälle befragt, daß diese immer mit einer Ängstlichkeit, einem eigentümlichen Herzklopfen und Zucken in der linken Hand beginnen, dabei sei die Zunge ganz wie in Milch gebadet; hierauf habe er ein Gefühl, als ob der linke Daumen über- streckt würde; in einem solchen Zustande habe er einmal, wie er nachträglich erfuhr, den Vater geschlagen; er sei in diesem Zeitpunkte noch nicht ganz bewußtlos, er könne nur nicht sprechen und habe das Gefühl, als ob es in seinem Kopfe arbeiten würde, dann trete volle Bewußtlosigkeit ein. Nach dem Anfalle gehe er herum, sei aber schon manchmal umgefallen; er habe heftigen Kopfschmerz, fühle sich verschlafen, finde aber keinen Schlaf. Durch die ge- häuften Anfälle der letzten Zeit habe sich seine Aufregung sehr gesteigert

Während seines Aufenthaltes werden wiederholt Anfälle be- obachtet, die alle ungefähr folgendermaßen verlaufen: Die Anfälle setzen mit einem Oppressionsgefühl und leichter Benommenheit ein, dann folgen zunächst Zuckungen im linken Daumen, die rasch auf

Suggestibilität im postepileptischen Zustande. 77

den linken Arm übergehen nnd gewöhnlich nach maximaler Streckung des linken Daumens sistieren. Nach dem Anfalle ist Patient deut- lich verstimmt und stumpf, so daß unmittelbar oder kurze Zeit nach* her, ein Gespräch mit ihm nicht durchzuführen ist

Bezüglich der intellektualen und moralischen Vorstellungen des M. ist zu bemerken, daß er einen Bildungsgrad besitzt, der etwa dem Wissen entspricht, das durch den Besuch einer Volksschule von einem mäßig begabten Menschen erworben wird. Er übersetzt die Bedeutung des Wortes ^respektive" mit „wiederholt", schreibt „direkt" mit „ie" und ähnl. Nach längerem Zögern gibt er zu, sich am politischen Leben beteiligt und auch einer bestimmten Partei angehört zu haben, kennt aber die Bedeutung und die Ziele der einzelnen Parteien nicht Als ihm die traurigen Folgen seiner Tat vorgehalten werden, zeigt er aufrichtige Beue und erklärt, es tue ihm leid, daß sich Dr. H. das Leben genommen habe.

Aus dem körperlichen Status sei bezüglich nervöser Symptome erwähnt: Eine geringe Innervationsdifferenz des Facialis zu Ungunsten der linken Seite, Konjunktival-, Gorneal- und Scleralreflexe fehlen, Würgreflexe lebhaft Mäßiger Tremor der Zunge und der ausge- streckten Finger; das Eniephaenomen sehr lebhaft mit kräftigem ünterschenkelausschlag, die übrigen Sehnenreflexe sehr lebhaft. Außer- dem finden sich am ganzen Körper ausgedehnte Hautnarben und teilweise auch Substanzverluste im Knochen als Ausdruck einer alten Osteomyelitis.

Bis zum Schlüsse seines Aufenthaltes erzählt M. seine Tat immer in der gleichen Weise, nur fällt dabei auf, daß er ein eigentümlich gedrücktes, scheues, zurückhaltendes Wesen zeigt, als ob er noch etwas am Herzen hätte. Vorher war schon der Verdacht rege, daß es mit dem Briefe eine eigene Bewandnis haben müsse, weil M. ein- zelne Wörter in jenem nicht verstand und auch die Form der späteren Schriftprobe nicht ganz mit der des Briefes übereinstimmte. Am 26JIV. läßt er einen Assistenten rufen und gibt ihm nach Zuspruch Folgendes an; er sei durch Ehrenwort verhindert, die volle Wahrheit einzugestehen; jetzt aber habe er sich doch entschlossen, zu sagen, daß ihm der Brief diktiert wurde. Er sei von einem Herrn, dessen Namen er nicht nennt, dem er Geld schuldig war und der eine poli- tische Bolle in seinem Heimatsorte spielte, eines Tages aufgefordert worden, einen Drohbrief an Dr. H. zu schreiben, habe dies aber ab- gelehnt Einige Tage später sei er wieder zu den Betreffenden ge- rufen worden ; er habe gerade unmittelbar vorher einen Anfall gehabt, 30 daß er noch, wie er es immer nach den Anfällen tue, mit einem

78 VIL Mabouli^

nassen Tuch nm die Brust gewickelt hingeeilt sei. Als er hinkam, sei er noch so aufgeregt, zerstreut und wiUensschwach gewesen, daß er nicht wußte, was mit ihm vorgehe und er habe nun demselben Ansinnen ganz willenlos nachgegeben und sich den Brief diktieren lassen. Er sei noch so verwirrt gewesen, daß er später, als die Sache herauskam, nur ungefähr wußte, daß er einen Brief an den Dr. H. geschrieben und daß darin Anspielungen auf die Gerächte, die damals im Orte herumgingen, waren*

Bei der, nach erfolgter Mitteilung seitens der Klinik weiter- geführten gerichtlichen Untersuchung, gibt der, als intellektueller U^ heber des Briefes, ausgeforschte Kaufmann B. nach anfänglichem Leugnen zu, daß er M. den Brief diktiert habe. Er gestehe auch, daß dieser damals eben einen Anfall überstanden hatte, und alles unter seinem Einflüsse niedergeschrieben habe; des Inhaltes aber müsse sich M. bewußt gewesen sein, da er einmal aufstand und eine Stelle nicht schreiben wollte, dann sich aber doch dazu hergab, als er ihm sagte, daß seine Handschrift weniger bekannt sei.

Einen Monat später widerruft allerdings B. diese seine Aussage und gibt an, daß er von dem Vormunde eines Friseurgehilfen, an dem Dr. H. conträrsexuale Handlungen begangen haben soll, das Konzept eines Briefes erhalten habe, das er nicht selbst abschreiben wollte, und deshalb dem^M. übergeben habe. Dieses Konzept decke sich übrigens nicht mit dem Inhalte des wirklich abgeschickten Briefes. B. fügt noch hinzu, er habe die früheren Angaben nur in der durch die Untersuchungshaft bedingten Aufregung gemacht. Bei der Haupt Verhandlung verantwortet er sich in der gleichen Weise und wird auch im Sinne dieser Verantwortung freigesprochen.

Am 10. und 11. Dezember 1902 wird M. in Fortsetzung des gegen ihn weitergeführten Verfahrens neuerlich auf der Klinik unter- sucht, er macht dabei ungefähr die gleichen Angaben, wie bei seinem Geständnis am 26./IX. und fügt noch ausdrücklich bei, daß er nur infolge der durch den vorangegangenen Anfall bedingten Schwäche und Benommenheit dem B. nachgegeben und den Brief nach dessen Diktat, ohne selbst recht zu wissen, was ihm diktiert werde, ge- schrieben habe.

Das vom Herrn Prof. Pick der Fakultät erstattete Gutachten ging zunächst von der Feststellung aus, daß die Beurteilung des Falles wesentlich dadurch erschwert erscheine, daß während der Untersuchung Umstände zu Tage getreten sind, die die Tat in ver- ändertem Lichte erscheinen lassen und daß die einzelnen Zeugen teil- weise Gründe haben, die Vorgänge der Handlung zu verschleiern,

Soggeatibilitat im postepileptischen Zustande. 79

und geht dann zu der weiteren Feststellnng ttber, daß M. zweifellos an Epilepsie leidet Diese Erkrankung ist trotz mancher Anhalts« punkte, die dafür sprechen würden, daß es sieh um symptomatische epileptische Anfälle bei einem Himleiden bandeln könnte, doch mit Bücksicht auf das Qesammtbild als idiopathische Epilepsie aufzufassen, wobei auch ganz besonders hervorzuheben sei, daß außer der in der Klinik beobachteten postepileptischen Verstimmung und Hemmung vom behandelnden Arzte entsprechende Erregungszustände konstatiert wurden. An die Feststellung der Epilepsie knüpft sich nun die weitere Frage, ob M. zur Zeit der Begehung der Tat unter dem Ein- flüsse einer Geistesstörung gestanden, die erfahrungsgemäß bei Epi- lepsie vorkomme. Nun lasse sich sowohl ein höherer Grad von Geistesschwäche, als Ausdruck sogenannter epileptischer Degeneration, als auch das Bestehen eines Dämmer- oder Traumzustandes zur Zeit der Begehung der Tat, entsprechend den anscheinend ganz zutreffen- den Ausführungen der ersten Gutachter ausschließen, aber damit sei der Kreis der Möglichkeit einer Beeinflussung durch die Epilepsie noch nicht geschlossen, insofern das eine feststeht, daß eine Einwirkung einer zweiten Person auf M. stattgefunden hat. In dieser Beziehung ist zunächst zu bemerken, daß M., als er den Brief schrieb unter dem Einflüsse der Nachwirkung eines Anfalls stand und daß, wie bekannt dieser Einfluß, ganz abgesehen von Bewußtseinstrübungen in der Form von Dämmerzuständen, auch darin bestehen könne, daß infolge der geistigen und körperlichen Erschöpfung neben einer aus- gesprochenen gemütlichen Verstimmung ein Zustand sich entwickelt, in welchem ganz speziell eine Willensschwäche sich in derBichtung kundgibt, daß das Individuum infolge mangelnder Gegenvorstellungen leichter fremdem Willen Untertan wird. Und dies wird umsomehr der Fall sein, wenn bei demselben die Intelligenz doch in etwas alteriert ist und die sitüichen Vorstellungen und Gefühle nicht so fest gegründet sind wie bei geistig höher Stehenden. Diese all- gemeine Darstellung muß nan im speziellen Falle auf beide Mög- lichkeiten geprüft werden, die sich sowohl aus der Darstellung der Sachlage des M. als der durch den ihn beeinflussenden B. ergeben. Die Angaben M's. lassen sich ungezwungen mit der allgemeinen Dar- stellung in Einklang bringen und es ist leicht verständlich, daß die ohnehin mäßige Intelligenz M's. durch den Anfall in ihrer Urteils- fähigkeit zu herabgesetzt und das Verhältnis zu B. als Schuldner zu mächtig war, um in dieser Situation den früher geleisteten Wider- stand gegen das Ansinnen aufrecht zu erhalten, ganz im Sinne der früher erwähnten erhöhten Suggestibilität Dem widerspricht auch

80 VII. Mabgüli^

nicht der von B. angeführte Umstand, daß M. während des Diktats einmal nicht weiter schreiben wollte, sich aber doch dazu herbeiließ. Die gleichen Erwägungen kommen M. aber auch zugute^ wenn die Darstellung des B., daß M. einen Brief, der in veränderter Form das Konzept, das B. ihm übergeben, enthielt, an Dr. H. geschickt hat Es liegt im Rahmen der Möglichkeit, daß M. den Brief auf Grund- lage des Konzepts aufgesetzt hat, ohne sich über die Tragweite der ganzen Handlung irgendwie klar zu sein, ja es läßt sich nicht aus- schließen, daß er das Schreiben auch ohne das Konzept verfaßt hätte, einzig unter dem suggestiven Einfluß der vorangegangenen Unterredung mit B. und der in der Stadt über Dr. H. kursierenden Gerüchte. Allerdings erscheint es wahrscheinlicher, daß M. den Brief unter dem Diktat von B. geschrieben hat, wofür die unkorrekte Schrift und der Gebrauch von Worten spricht, deren Bedeutung M. kaum kennt

Auf Grund der vorstehenden Darstellung läßt sich nicht aus- schließen, daß M. zur Zeit der Begehung der Tat sich infolge Nach- wirkung des epileptischen Anfalles in einem Zustande abnormer Geistestätigkeit befunden habe, in welchem seine freie Willens- bestimmung soweit herabgesetzt war, daß er unter einem unwider- stehlichen Zwange im Sinne des Gesetzes gestanden hat.

Mit Bücksicht auf den Umstand, daß in dem soeben skizzierten Gutachten alle für die Beurteilung des Geisteszustandes des M. wesent- lichen Momente hervorgehoben sind, habe ich nur auf einige Punkte näher einzugehen. Zunächst möchte ich noch betonen, daß die Art der Entstehung und des Verlaufs des ganzen Anfalls, ganz besonders mit Bücksicht auch auf die in der Klinik beobachteten psychischen Erscheinungen der morosen Verstimmung und Hemmung, die Diagnose auf idiopathische Epilepsie rechtfertigen^ trotzdem die Art der Aura und die Beschränkung der Krämpfe manchmal allein auf den linken Arm zunächst den Verdacht auf symptomatische Epilepsie hervor- rufen könnte. Die uns im vorliegenden Falle zunächt interessierenden psychischen Störungen zeigen durchaus den Charakter der auch sonst bei der Epilepsie bekannten und sprechen jedenfalls dafür, daß regel- mäßig bei M. eine psychische, allmählich abklingende Nachwirkung der Anfälle besteht. Für den Nachweis des Bestehens einer ge- steigerten Suggestibilität bot die klinische Beobachtung selbst aller- dings keinen direkten Hinweis, so daß ich in dieser Frage ent- sprechend den Ausführungen in dem Gutachten mich darauf be- schränke, ihr Bestehen nur nach der Aktenlage anzunehmen und nicht weiter gehen kann, als eben in dem Gutachten ausgeführt wurde.

Saggestibilität im postepileptischen Zustande. 81

daß die Möglichkeit nicht ansgeschlossen werden könne, daß M. zur Zeit der Begehung der Tat eine Willensschwäche zeigte, die ihn fremdem Einflüsse zugänglicher machte als g'ewöhnlich. Nun könnte allerdings der an sich nicht ungerechtfertigte Einwand gemacht wer- den, daß sich die vorstehenden Erwägungen, ganz abgesehen von der allgemeinen Darstellung im vorliegenden Falle, auf die Aussagen eines Angeklagten stützen, der allen Grund hat, seine eigene Schuld in möglichst mildem Lichte erscheinen zu lassen. Zufällig hatten wir aber gerade in der letzten Zeit Gelegenheit, bei forensisch nicht kom- plizierten Fällen den Einfluß gesteigerter Suggestibilität auf das Den- ken und Fühlen im postepileptischen Zustande zu verfolgen, und ganz besonders konnten wir vor kurzem gerade mit Rücksicht auf den Fall M. bei einem Kranken, der auch schon vorher Zeichen gesteigerter Suggestibilität geboten hatte, gewissermaßen ein Experiment anstellen, das die Richtigkeit der aus dem Falle M. gezogenen Schlüsse bestä- tigte und über das ich nachstehend im Rahmen eines Auszuges der Krankengeschichte berichten will.

Am 31, Dezember 1906 wurde der 30jährige Taglöhner W. K., aus Groß-ÜUersdorf bei Mähr.-Schönberg gebürtig, zur Klinik aufge- nommen. Fat. soll seinen eigenen Angaben zufolge seit 5 Jahren an Epilepsie leiden. Körperlich zeigt er in seiner anfallsfreien Zeit von Seiten des Nervensystems nur sehr gesteigertes Kniephänomen, rechts noch mehr als links, beiderseits Patellarklonus ; Bauchreflexe links deutlicher als rechts. Psychisch zeigt er für gewöhnlich, d. i. außer- halb der Anfälle, ebenfalls nur wenig auffallende Symptome, seine Intelligenz ist innerhalb normaler Grenzen mäßig, sein Fühlen erweist sich nicht irgendwie stärker alteriert, nur besteht dauernd ein gewisser Grad von langsamen Denken und Apathie. Wiederholt werden an ihm in der Klinik epileptische Krämpfe beobachtet, die manchmal nur die rechte Seite, manchmal den ganzen Körper betreffen und stets von voller Bewußtlosigkeit begleitet sind. Nach den Anfällen ist immer der rechte Arm etwas schwächer, und finden sich sehr häufig Zangenbisse. Regelmäßig steht Fat. auch durch längere Zeit unter der Nachwirkung der Anfälle und zeigt dementsprechend morose Stimmung und eine das bei ihm gewöhnliche Maß weit überschrei- tende Denkhemmung; sehr oft werden auch bei ihm delirante, post- epileptische Zustände beobachtet, bei denen eine ganz besondere Suggestibilität in die Erscheinung tritt und über die ich dann des Weiteren berichten will.

In der Nacht zum 2. April d. J. hatte Fat. wiederum einen An- fall; am Morgen bei der klinischen Visite ist er verstimmt und ge-

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82 VII. MARGULlis

hemmt, aber zeitlich, örtlich und Ober seine Persönlichkeit orientiert. Er wird im Lanfe des Gespräches aufgefordert, einen Schuldschein auf 1000 fl. auszustellen, lehnt es aber ab mit der Begründung, daß er kein Geld habe, und bleibt auch bei der Ablehnung, als ihm zu- geredet wird; er sagt: „Ich möchte das Geld dann nicht haben und Schulden will ich mir keine machen.^ In der nächsten Nacht hat Fat wieder 3 Anfälle; am nächsten Morgen klagt er über heftige Kopfschmerzen, ist neuerlich ausgesprochen verstimmt und stumpf. Heute aufgefordert, einen Schuldschein auszustellen, ergreift er ohne Widerstreben einen Bleistift und schreibt nach Diktat: „Ich ver- pflichte mich, Ihnen einen Schuldschein von 500 Kronen zu bezahlen", schreibt dann spontan seinen Namen darunter und „Prag, deutsche Klinik^, und endlich, nach wiederholter Aufforderung, das richtige Datum: „3. April 1907''.

Es wird ihm dann nochmals ein Schuldschein vordiktiert, auf 5000 Kronen und zahlbar binnen einer Woche lautend, den er eben- falls ohne Widerspruch nachschreibt. Nach dem Diktat weiß er, daß er einen Schuldschein auf 5000 Kronen ausgestellt und fängt dann auch, als er darauf aufmerksam gemacht wird, daß er binnen einer Woche die Summe werde zahlen müssen, zu klagen an, er habe kein Geld und werde nicht zahlen können; er habe nur unterschrieben, weil er folgsam sein wollte und der Professor es ihm diktiert habe, und führt weiter zur Entschuldigung an, er habe es nicht eigentlich geschrieben, sondern nur die Feder. Am nächsten Tage, wo Pat. wesentlich freier ist, fängt er selbst wieder von dem Schuldschein zu reden an und erklärt wieder, er könne nicht zahlen, er habe nur unterschrieben, weil er dachte, der Professor mache einen Spaß, da er doch kein Geld habe und man von einem Schaf nichts anderes bekommen könne, als Wolle. An diesem und den folgenden Tagen lehnt er es regelmäßig energisch ab, einen neuen Schuldschein aus- zustellen.

Ich habe schon erwähnt, daß sehr häufig bei Pat. delirante post- epileptische Zustände beobachtet werden, in denen die Wirkungen gesteigerter Suggestibilität deutlich zu Tage treten, und will jetzt zunächst als Beispiel derartige Szenen beschreiben, die sich wenige Tage, nachdem er den Schuldschein unterschrieben, abgespielt haben. Am 7. IV. 07 ist Pat ebenfalls nach einem Anfall stumpf, verstimmt, fast gar nicht zum Sprechen zu bewegen. Plötzlich fällt sein Blick auf einen blinden Patienten, er geht auf ihn zu, legt ihm die Hände auf und sagt: „Ich bin Jesus, Du wirst gesund werden''; als man dann wieder mit ihm spricht, behält er seine stolze pathetische Hai-

Snggestibilität im postepileptischen Zustande. 83

tung bei und erklärt auf Befragen, er sei Jesus, er wisse das seit heute^ es sei ihm eingegeben worden, und zwar von Gott. Er wie- derholt dann ausdrücklich, er habe es nicht gehört, sondern es sei ihm eingegeben worden, und spricht dann unzusammenhängend von seinen Kindheitserlebnissen, von der Taufe und der Firmung. Hierauf in energischem Tone gefragt, ob er Jesus oder der E. sei, antwortet er rasch: „Der E.'', und gibt auf weiteres Befragen an, er habe sich nur eingebildet, Jesus zu sein, weil er ein schwaches Gehirn habe. Als dann im nächsten Augenblick die Frage an ihn gerichtet wird, ob er Jesus sei, bejaht er sie wieder und verkennt die anwesenden Arzte in dem Sinne, den Professor als Gott Vater, einen Assistenten als heil. Joseph u. dergl. Aufgefordert, sich ins Bett zu legen, wehrt er sich und gibt, über den Grund befragt, an, er gehöre nicht ins Bett, er könne es nicht bezahlen. Den ganzen Tag über ist Fat. in sichtlich gehobener Stimmung, grimassiert lebhaft und spricht nur in schreiendem Tone ; in der Nacht steigert sich die Erregung, er wirft sich im Bette hin und her, schlägt mit Eopf, Händen und Füßen an den Bettrand, springt häufig heraus, macht sich etwas zu schaffen, behauptet, in Mähr.-Schönberg in einer Wollfabrik zu sein, schimpft häufig auf eine Frau Bichter, schimpft, daß man ihn mit Wasser be- gossen habe, daß Wanzen im Bette sind und weist früh das Früh- stück zurück, weil er sich ekle, bei dem „Sauluder, der Richtern^, etwas zu essen. Am Vormittag ist Fat entschieden etwas freier, schwankt aber in der Auffassung der Umgebung, weiß nicht ob er in Prag oder in Mähr.-Schönberg ist, glaubt, die Frau Richter müsse auf dem Eorridor sein; er wird dahin geführt, blickt sich orientie- rend überall um und sagt plötzlich : „Hier sind nur Männer, wir sind in Prag in der Irrenanstalt", und nun entwickelt sich das nachfol- gende Zustandsbild. Er gibt zunächst über Befragen an, er sei hier in Prag, er habe in der Nacht nur geglaubt, daß er nach Mähr.- Schönberg in seine Heimat fahre, weil er immer den Zug pfeifen hörte (entspricht den Tatsachen), er sei auch nicht hier, sondern in seiner Heimat in Weikersdorf bei Schönberg von Wanzen gebissea und mit Wasser begossen worden. Nun weiter gefragt, wo er also sei, springt er auf und sagt, doch in Weikersdorf in der Wollfabrik, oder Papierfabrik ; der Professor ist der Professor von der Wollfabrik, vom Verein, der ein Erankenhaus in Weikersdorf hat. Auf die Frage: ist hier eine Fabrik oder ein Erankenhaus? entgegnet er: ein Erankenhaus, ich habe nur geglaubt, daß hier eine Wollfabrik ist, weil sie hier so viel mit Wolle oder Baumwolle, mit der Watte hantiert haben (es wurden tatsächlich früh mehrere Verbände ange-

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84 VII. Maroüli^s

legt). Wieder gefragt, wo er sei? Hier ist das Vereinshaus, der mit- schreibende Arzt sei der Schreibervom Verein, die anderen anwesen- den Arzte bezeichnete er jetzt als Schulkameraden, aus seiner Heimat. Auf die Frage: was ist also hier? Eine Schule, eine Irrenschule. Nun aufgefordert, zu erzählen, was in der Nacht war, gibt er an: „Weil ich hab' so ge wirtschaftet im Bette in der Nacht, da habe ich geglaubt, daß sie mich haben geschlagen, und da ist mir die Ge- schichte von Weikersdorf durch den Kopf gegangen, die habe ich immer im Kopfe, weil ich ein gutes Gedächtnis habe; ich habe mit den Füßen geschlagen, weil sie mich ja, das war ja nicht da, das war in Weikersdorf, wie ich noch jung war, bei dem Bichter. Ich habe halt geglaubt, daß ich nach Hause fahre, weil der Zug immer gepfiffen hat." Jetzt bezeichnet er den Professor richtig als Professor Pick von der Irrenklinik in Prag, aber unmittelbar darnach glaubt er wieder in Weikersdorf zu sein, verkennt die Umgebung und so wechseln immer in dem gleichen Sinne die Ant- worten ab, je nach der Fragestellung oder der Beeinflussung durcb die vorgehende Antwort. In den nächsten Tagen wird Pat immer freier und gibt nun spontan ganz geordnet die Schilderung seines Zustandes so, wie es schon aus den abrupten Äußerungen erschlossen wurde. Er habe nachts den Zug pfeifen gehört und geglaubt, daß er nach Hause fahre, und weil ihn von dem Herumwerfen im Bette alles geschmerzt habe, habe er sich erinnert, wie schlecht es ihm bei dem Richter in Weikersdorf ergangen war; die Frau sei ein Sau- luder gewesen, habe den Arbeitern nur ekelhaftes Essen gegeben, so daß er nichts anrühren wollte, und die Betten waren dort voller Wanzen. Er habe dann früh gesehen, daß die Wärter Wattepakete aufmachen, und da habe er geglaubt, weil er damals in Weikersdorf auch in einer Fabrik war, daß hier eine Wollfabrik ist.

Ähnliche Zustände waren auch schon vorher bei Pat. beobachtet worden; so hatte er eines Tages einen Brief von seiner Schwester, die in Komom in Ungarn in einer Spinnfabrik arbeitet, erhalten. In der Nacht hatte er mehrere Anfälle und am nächsten Morgen be- hauptet er, in der gleichen Weise abwechselnd mit richtigen Angaben, er sei in Mähr.-Weißkirchen in Ungarn in einer Spinnfabrik und gab nachher zur Erklärung an, er habe plötzlich nicht gewußt, wo er sei, habe darum zum Fenster hinausgesehen und die w e i ß gestrichene Anstaltskirche gesehen, und da sei es ihm eingefallen, daß er in Weißkirchen sei; zusammen mit dem Inhalt des gestern erhaltenen Briefes habe er nun geglaubt, dort und in Ungarn, und zwar bei seiner Schwester in der Spinnfabrik zu sein.

Suggestibilität im poBtepilepdschen Znstande. 85

Wenn wir die sich aus dem vorliegenden Falle ergebenden Ge- sichtspunkte überblicken, so finden wir zunächst in dem Verhalten des Kranken gegenüber der Forderung, einen Schuldschein auszu- stellen^ eine volle Bestätigung der in dem Gutachten über M. ge- brachten allgemeinen Darstellung. Das erste Mal besitzt der Kranke, obwohl psychisch durch einen Anfall affiziert, genügend Gegenvor- stellungen, um dem Verlangen entsprechenden Widerstand entgegen- zusetzen, aber schon am nächsten Tage, durch neue Anfälle noch mehr erschöpft^ gibt er sofort der Aufforderung nach. Dabei erfolgt die ganze Handlung äußerlich ganz geordnet, der Kranke setzt den ersten Schuldschein in geänderter Form, und zwar ziemlich korrekt auf; die Erinnerung, daß er den Schuldschein unterschrieben, wird auch in seine normale Zeit herübergenommen, und unmittelbar nach- dem er geschrieben, ist er sich über die Folgen ganz klar; trotzdem findet er diesmal, im Gegensatz zu seinem früheren und späteren Ver- halten, nicht die Kraft^ zu widerstreben. Ganz interessant ist auch die unmittelbare Motivierung, daß er folgsam sein wollte, weil es der Professor verlangte, und die späteren Motivierungen ganz im Sinne einer Ausrede, daß er nicht selbst, sondern die Feder das geschrie- ben habe, daß das Ganze nur Spaß sei^ weil auch dieser Umstand zum Teil sich mit den bei M. beobachteten Erscheinungen deckt. Für das Zutreffende der Anschauung, daß auch ohne direkte Ein- flußnahme seitens einer zweiten Person ein suggestiver Einfluß denk- bar wäre, wie z. B. im Falle M. die in der Stadt kursierenden Ge- rüchte, dafür sprechen einzelne Momente in den beobachteten diliranten Zuständen. Diese selbst erweisen sich sowohl in ihrer Entstehung, als auch in ihrem Verlauf direkt als Ausdruck der gesteigerten Suggestibilität. So ruft zunächst der Anblick eines blinden Mitkran- ken bei H. die Vorstellung hervor, daß er Christus sei und ihn heilen müsse, oder erweckt in ihm ein Zugpfeifen den Gedanken, daß er in die Heimat fahre und damit, daß er auch dort sei. Dieses An- knüpfen an nachweisbare äußere Einflüsse, die eigene Aussage des Kranken, sowie sein ganzes Verhalten lassen damit die Annahme, daß es sich um direkt halluzinatorisch bedingte Zustandsbilder handle, hinfällig erscheinen. Aber auch außer bei der Entstehung zeigt sich der suggestive Einfluß in dem eigentlichen Wechsel der &schei- nungen. Es erinnert dieses fortwährende Hin- und Herschwanken zwischen zutreffenden und wahnhaften Antworten, der Wechsel zwi- schen richtiger und fehlerhafter örtlicher und persönlicher Orientie- rung direkt an die oszillierenden Bewußtseinszustände bei Hysterischen. Aber bei näherem Zusehen treten doch deutliche unterschiede hervor.

36 VII. Margülies

Zunächst ganz wesentlich der, daß der eigentliche Bewußtseinszustand nicht direkt, wie beim Hysterischen, 'suggestiv beeinflußt und geän- dert wird, sondern eine richtige, der normalen Orientierung ent- sprechende Antwort eben durch die gestellte Frage hervorgerufen wird, genau so wie die falsche durch die entsprechende Frage be- ziehungsweise andere suggestive Einflüsse geweckt wurde; dabei aber bleibt der allgemeine Bewußtseinszustand, im Sinne der vorherrschen- den Verstimmung, Denkhemmung und erschwerten Auffassungsfähig- keit bei eingeengtem Vorstellungskreise bei beiden der gleiche. Ferner ruft bei unserem Kranken jede Frage einen schon durch den äußeren Ton der Stimme bestimmten Einfluß hervor, so daß eigentlich hier die Suggestion noch intensiver, zum mindesten wahl- loser ist, als beim Hysterischen. In manchen Zügen führt auch eine Brücke zu den Konfabulationen im Korsakow'schen Symptomen- komplex; es ist ja auch bei diesen, natürlich abgesehen von dem der eigentlichen Störung zugrunde liegenden Merkfähigkeitsdefekt, für die Entstehung der einzelnen Konfabulation ein suggestiver Ein- fluß unverkennbar. So erinnert die Art, wie der Kranke seine richti- gen und falschen Vorstellungen in Einklang zu bringen trachtet, z. B. behauptet, der Professor sei Professor an einem Vereinskran- kenhause der Fabrik in Weikersdorf direkt an Korsakow'sche Kon- fabulationen. Aber der wesentliche Unterschied liegt darin, daJß bei dem epileptischen Kranken solche Einfälle, die er gelegentlich als Eingebungen deutet, nicht zur augenblicklichen Ausfüllung im Reden verwendet werden, sondern auch in seinem Denken und sogar Han- deln wirksam sind und so die Quelle eines anscheinend deliranten Verhaltens werden. Sehen wir nun zu, welcher Art die suggestiven Einflüsse sind, die so bei dem Kranken wirksam sind, so finden wir erstens den Einfluß einer anderen Person durch Frage und Auffor- derung, zweitens das der Ideenflucht verwandte Anknüpfen an zu- fällige, gewöhnlich ganz gleichgültige äußere Ereignisse oder zufällig in den Gesichtskreis getretene Gegenstände und drittens die Nach- wirkung von entweder kurz zurückliegenden oder bedeutsam fixierten Vorstellungen. Das dritte Moment erinnert schon einigermaßen an Autosuggestion, aber es wird, soweit man es verfolgen kann, nie direkt willkürlich hervorgerufen, sondern immer nur in Verbindung mit einem der ersten beiden Momente. Unter allen Umständen ist es bemerkenswert, daß sich dem äußeren Anschein nach so schwere delirante Zustände im Halbbewußtsein entwickeln, wo sicher ein immerhin beträchtlicher Grad von Orientierung, Besonnenheit und sogar etwas Urteilsfähigkeit vorhanden sind, und es bilden offenbar

Suggestibilität im poBtepileptiBchen Zustande. 87

diese snggeBtiyen Delirien einen Übergang zwischen den eigentlichen epileptischen Dämmer- oder Tranmznständen und jenen feinsten Stö- rungen, die wir bei M. vorausgesetzt und bei E. beobachtet haben. Ich glaube auch, daß unseren bisherigen Erfahrungen nach solche epileptische, suggestive Delirien nicht gar zu selten sein dürften und daß sie auch durch längere Zeit fortbestehen können, beweist ein dem eben besprochenen vielfach ähnlicher Fall, über den ich nachstehend berichten will.

Am 21. Dezember 1906 wird der 21jährige Schuhmachergehilfe A. W. aus Blottendorf vom Erankenhause in Aussig unserer Elinik überwiesen. Fat. leidet seit 7 Jahren an Epilepsie; seit 4 Tagen soll er sehr aufgeregt sein und in einem Tobsuchtsanfalle seine Mutter und die ganze Umgebung geschlagen haben. Im Erankenhause blickte er stier vor sich hin, wollte nichts essen, sprach unzusammen- hängend und sang unflätige Lieder. Zur Elinik gebracht, ist er zu- nächst gar nicht auffällig, macht über Alter, Name, Wohnort u. dgl. ganz richtige Angaben, weiß, daß er in Prag ist; weiter gefragt, was hier für ein Haus sei, erwidert er mit hoheitsvoller Pose : der Himmel, und erklärt dann, er sei der Herrgott und filhrt dann fort: „Ich habe es dem Herrn versprochen, weil ich, daß ich will Herr Gott werden, weil er schon zu alt ist^ Hierauf bezeichnet er sich wieder als Christus, dann nochmals gefragt: „Also sind Sie Christus oder A. W.?^ sagt er: „Ich bin A. W., ich bin nur anders geworden, weil ich habe die Erankheit bekommen.^ Auf die Frage: „Was hat die Erankheit aus Ihnen gemacht?'' sagt er: „Jesus Christus^, und fährt fort: „Ich bin jetzt im Himmel, wir sind alle dort, und ich werde jetzt sorgen für die ganze Welt^ Sein Alter gibt er hierauf wieder mit 21 Jahren an und beantwortet die weiteren Fragen korrekt; er heiße W., sei in Blottendorf geboren, wohne in Neulerchenfeld und habe die Schusterei gelernt, bejaht aber dann sofort wieder die Frage, ob er im Himmel und Herrgott sei. Pat erkennt Gegen- stände und bezeichnet sie richtig, führt einfache Bechnungen aus und schreibt auch, wenngleich mühselig und häufig unterbrochen, ziemlich korrekt Im E^rankenzimmer ist Pat. im allgemeinen sehr still, nur manchmal, wenn er angesprochen wird oder zu einem anderen Eran- ken tritt, nimmt er plötzlich die Heilandspose an. In seinem Wesen zeigt sich sonst im allgemeinen eine ausgesprochene Hemmung und vorwiegend eine morose, ablehnende Haltung. Die Hemmung und Erschwerung des Gedankenablaufes tritt vornehmlich dann zutage, wenn Pat. längere Gespräche führen und eine Sache ausführlicher erklären soll ; so ist er z. B., im Gegensatz zu seinem späteren Ver-

88 VII. Mabguli^s

halten in der anfallsfreien Zeit, nicht imstande, über den Verlauf seiner Krankheit und die Art seiner Krämpfe geordnete, zusammen- hängende Aufklärungen zu geben. Die Wahnidee^ daß er Herrgott oder Jesus Christus sei, tritt bis zum 29. Dezember immer in der gleichen Weise in Erscheinung, und es zeigt sich im klinischen Examen der Wechsel in den zutreffenden und wahnhaften Antworten immer ganz deutlich als durch die Fragestellung hervorgerufen, z. B.:

Wie heißen Sie? A. W.

Was sind Sie? Schuhmacher.

Woher? Aus Neulerchenfeld bei Aussig.

Sind Sie krank? Ja, ich habe die hinfallende Krankheit

Haben Sie häufig Anfälle? Manchmal ja, dann werde ich damisch.

Wo waren Sie zuletzt? In Aussig im Krankenhaus.

Warum haben Sie sich so eigentümlich benommen, als Sie her- kamen? — (Aufstehend): Ich will sorgen, für Euch sorgen, ich bin der Herrgott.

Sind Sie der liebe Gott? Ja.

Sie sind doch Schuhmacher? Ja, Gehilfe.

Und Jesus Christus? Das bin ich.

Seit wann? Schon lange.

Sind Sie auch gekreuzigt worden? Ja, gestern.

Ist heute Charsamstag? Ja.

Wann werden Sie auferstehen? Morgen.

Wo? Zu Hause.

Wo wohnen Sie? In Neulerchenfeld.

Wie konnten Sie als Schuster Christus werden? Das war der erste, ich habe es übernommen, weil er schon zu alt war.

In der gleichen Weise spielen sich immer bis zum 29. Frage und Antwort ab. An diesem Tage ist nun Fat. sichtlich freier und gibt über seine Erkrankung ziemlich geordnete Auskünfte. Er habe die Krankheit durch einen Steinwurf bekommen, früher war er nur be- wußtlos bei den Anfällen, aber in der letzten Zeit hatte er 12 bis 15 Anfälle täglich, und da habe es ihm so im Kopfe gesummt, und plötzlich .habe er so ein Gefühl bekommen, als ob er fliegen würde, er glaube, er habe dabei auch gekräht; dann habe er geglaubt, daß er im Himmel sei, glaubt auch Engel gesehen zu haben; dann habe ihm im Krankenhause ein neben ihm liegender alter Fat. gesagt, daß er sein Geschäft übernehmen könne, und da sei es ihm so vorgekommen, als ob der Herrgott zu ihm spreche, und er habe selbst geglaubt, daß er der Herrgott sei. Fat. bleibt nun bis zum H.Januar vollkommen

Suggestibilit&t im postepileptischen Zustande. 89

geordnet und orientiert; er erweist sich im ganzen als mäßig begabt and etwas kindisch, aber doch sowohl intellektuell als moralisch in der Grenze des Normalen. In der Nacht zum 14. Januar hat Pat. drei typische epileptische Anfälle; nachher ist er zunächst soporös, später sehr moros, unzugänglich, zeigt sich aber in den wenigen Ant- worten, die man von ihm erhält, vollkommen orientiert; auch am nächsten Tage ist das Verhalten das gleiche. Am 16. 1. tritt wieder die Wahnidee, daß er Herrgott oder Heiland sei, zum Vorschein, und zwar ganz genau in gleicher Weise wie das erste Mal, abwech- selnd mit richtiger Orientierung, und jedesmal der Wechsel bedingt durch die entsprechende Fragestellung. Hie und da tritt auch eine Mischung von falschen und richtigen Antworten in die Erscheinung, so z. B. gibt er an, er sei jetzt in Prag, im Himmel, Prag sei auch im Himmel, er sei in den Himmel gekommen und habe alles mitge- nommen. Der gleiche Zustand dauert diesmal bis zum 26. L, wo ziemlich plötzlich Klärung eintritt; während der ganzen Dauer besteht auch wiederum die ärgerliche Verstimmung, Denkhemmung und Schwerbesinnlichkeit fort Sobald Pat klar geworden, erinnert er sich und auch in der Folgezeit wohl daran, daß er sich für den Herr Gott gehalten hat und gibt an, er habe, als er die Anfälle hatte, das Gefühl gehabt, als ob die ganze Welt um ihn herum versinke, und dann plötzlich seien ihm die Augen ganz starr geworden und er habe alles ganz klar gesehen und darum wieder geglaubt, daß er im Himmel sei; diesmal habe niemand zu ihm gesprochen, sondern der Gedanke, daß er der Herr Gott oder Jesus Christus sei, sei ihm durch die Krankheit in den Kopf gekommen, weil er nach den An- fällen ganz blöd sei. Pat zeigt bis zu seiner am 18. III. erfolgten Entlassung keine weitere Störung in seinem psychischen Verhalten. Wir sehen also auch hier, daß sich nach epileptischen Anfällen Wahnideen entwickeln, die suggestiv entstanden und suggestiv beein- flußbar sind. Ebenso wie beim früheren Falle tritt dadurch ein steter Wechsel zwischen richtigen und wahnhaften Antworten zutage und erweist sich hier dieser Wechsel ganz besonders bedingt durch die entsprechende Fragestellung. Ein Unterschied liegt nur vorwiegend darin, daß die Wahnidee länger bestehen bleibt und nicht immer durch eine andere abgelöst wird ; aber auch hier wirkt sie ihrem In- halt entsprechend auf Denken und Handeln des Kranken und verän- dert vorübergehend nicht nur sein Persönlichkeitsbewußtsein, sondern auch ihrem Inhalt angepaßt die Umgebung. Es liegt nahe, für die Erklärung der Festigkeit der Wahnidee die Stärke der ihr zugrunde liegenden Suggestion heranzuziehen und dabei in unserem Falle auf

90 VII. Mabgüli^

die bekannte Hinneigung der Epileptiker zu religiösen Dingen zurück- zugreifen, die sich ja auch so häufig in dem Inhalt der postepilepti- Bchen Visionen äußert.

Wenn ich die Ergebnisse meiner Beobachtungen nochmals zu- sammenfasse, so hat sich ergeben^ daß sich in einem gewissen Sta- dium nach epileptischen Anfällen als Ausdruck der fortbestehenden Erschöpfung ein Zustand entwickeln kann, in dem erhöhte Suggesti- bilität eine ganze Reihe von Symptomen hervorruft, die wieder durch Suggestion in der Art ihres Verlaufes bestimmt werden. Die Suggestion selbst kann wieder deutlich werden als Einwirkung einer fremden Person oder zufälliger Erscheinungen in der Umgebung und endlich als Nachwirkung älterer Vorstellungen, die zufällig durch einen äußeren Beiz geweckt werden. Gerade das letzte Moment halte ich für bedeutsam im Hinblick auf die forensische Seite der Frage, die den Ausgangspunkt meiner Erörterungen gebildet hat Denn des- wegen ist es in entsprechenden Fällen notwendig, bei Beurteilungen strafrechtlicher Verfehlungen der Epileptiker alle begleitenden Um- stände und den ganzen Vorstellungskreis des zu Beurteilenden in Erwägung zu ziehen, denn sonst könnte leicht der Fall eintreten, daß eine der verminderten Widerstandsfähigkeit beziehungsweise der er- höhten Suggestibilität entspringende Tat fälschlich als gegründete und überlegte Handlung aufgefaßt wird.

vm.

Presse und Recht.

Voa Landgerichtsdirektor Botering-Magdeburg.

I. Unterhaltuiig und Belehrung.

Keineswegs die yornehmste, aber die älteste Aufgabe der Tages- presse ist diejenige der Unterhaltung. Die ersten Zeitungen dienten diesem Lebenszwecke ausschließlich. Als nach der Wende des Mittel- alters das Unausgeglichensein politisch - konfessioneller Streitigkeiten dem großen Kriege zudrängte, waren die bange Ahnung der schweren Not kommender Tage, eine krankhaft erregte Volksstimmung, der krankhafte Wunderglaube und Sensationsifistemheit die Signatur der Zeit. Und ihr entspricht die Etikette, unter welcher die ältesten Tageszeitungen ihre Verbreitung fanden. Die Entwicklung war eine allmähliche. Mit ihrem Erscheinen vollzog sich eine Anlehnung an die Flugblätter, welche schon in der Beformationszeit dem theologi- schen Gelehrtenstreit seine Bedeutung zuerkannten. Als „griindliche und wahrhaftige", „doch schreckliche und erbärmliche^, „unnatür- liche^, „klägliche neue Zeitung" kündigen sie selbst sich an, um zu berichten von Himmelsersch einungen, Feuer- und Blutzeichen, dem jüngsten Tage, dem Antichrist und neuen Propheten, dem Wieder- erscheinen verschollenen Menschentums, dem Verbrennen von Un- holden, den Künsten höllischer Mächte. Doch schon 1605 erschien in Frankfurt die erste Wochenzeitung, welche mehr den Bedürfnissen der besseren Leserwelt die Bechnung trug. Aber bei dem Nieder- gange des öffentlichen Lebens, dem erlahmenden Volksinteresse für staatliche Angelegenheiten boten noch lange sensationelle Ereignisse, und zwar bei der einschränkenden Zensur solche, welche im Aus- lande sich ablagerten, oder Kriegshändel, aber solche, die „fem in der Türkei" sich ausleben mochten, den Stoff für die periodisch er- scheinenden Druckerzeugnisse.

92 VIII. ROTERING

So sehr nun der Unterhaltnngsstoff für die sich abwickelnde Kulturperiode sich ausgewachsen hat bis ins Ungemessene, interessiert auch die Betrachtung in der Richtung, in welcher Tragweite sich die der Unterhaltung dienende Tagespresse, da es ein anderes Privileg nicht gibt, auf den Schutz des § 193 Str.GB. zu berufen vermag.

Beachtlich ist nun, daß die der Unterhaltung dienende perio* dische Presse nicht allein ein dringendes Volksbedürfnis befriedigt, daß vielmehr der Herausgeber kontraktlich gehalten ist, den Lesestoff auf demselben Gebiete zu belassen, die Haupltendenz der Zeitung nicht zu wechseln. Er darf den Lesern einen dem bisherigen frem- den Lesestoff nicht darbieten, weil diese Vertragsleistung der verab- redeten gegenüber ein aliud wäre.

Nun ist anzuerkennen, daß die Presse im Sinne des § 193 ein berechtigtes Interesse verfolgt, wenn sie der Vertragspflicht zu ge- nügen sucht, ein Volksbedürfnis zu befriedigen sich abmüht, genau so, als wenn die von einem Unternehmen herausgegebene Fachzeit- schrift bestimmungsgemäß die Vorzüge jener Gründung hervorhebt oder Mängel der Konkurrenzanstalten nicht verschweigt. Damit ist aber nicht behauptet, daß nun jeder Unterhaltungsstoff in den Schutz jenes Gesetzes fällt. Vielmehr inwieweit das zutrifft, bestimmt sich nach dem durch die Auslegung des Gesetzes gewonnenen Resultate.

Interessen im Sinne des Strafgesetzes sind aber diejenigen Lebens- beziehungen, welche, weil sie unser Wohl fördern, von uns aufrecht- erhalten oder erstrebt werden. Das Gesetz hat diese den unmittelbar vorher hervorgehobenen „Rechten^ scharf entgegengesetzt, es sind daher die berechtigten Interessen 0 ein aliud und^ da sie ein Mehreres nicht sein können, weniger als Rechte. Das entspricht auch der Be- deutung des Wortes „berechtigt", soweit die Umgangssprache in Frage kommt. 2) Wir sagen „zu der Auffassung, der Hoffnung berechtigt**. Es soll aber für die Auslegung des Gesetzes nicht die Umgangs- sprache entscheiden, weil dieses mit seinen Worten einen „technisch- juristischen Sinn" verbindet. 3) Kann daher dieses Moment als ein durchschlagendes nicht erachtet werden, so führt doch das Zweck- moment zu einem gleichen Ergebnisse. Das nämlich, was § 193 fest- legen will, ist die Entscheidung zwischen kollidierenden Interessen. Es schließt das Gesetz sich anderen an, welche gleichen Zweck ver- folgen, wie diejenigen im Rechtskreise der Polizeiübertretungen,

1) § S21. (810 rechtliches ? Interesse) B.G.B. und § 6 Ge|. betreffend den Wettbewerb.

2) V. Bulow, Gerichtssaal S. 279, Bd. 46.

3) Binding, Handbuch S. 465.

Presse und Recht. 93

welche, weil das Setzen der bedingungsweise untersagten Handlung ein Volksbedürfnis, diese aber auch für die Interessen derjenigen nicht ganz ungefährlich ist, welche in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, die Handlung selbst von der Entscheidung der Behörde ab- hängig machen ^) oder davon, daß die Selbstkontrolle ergeht hinsicht- lich der „erforderlichen Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung von Be- schädigungen^ (§ 367}/^j So macht der § 193 aus Zweckmäßigkeits- grfinden eine Konzession den Anforderungen des praktischen Lebens, derselbe anerkennt, daß die Verfolgung einzelner Lebenszwecke von so eminenter Bedeutung ist, daß ihnen gegenüber nicht die absicht- liche Beleidigung, wohl aber die bloße Gefährdung der Ehre durch die Äußerung für glaubhaft erachteter, aber noch unbewiesener Tat- sachen zurücktreten soll. Jene Lebenszwecke also erfordern, wie so manche andere wie die gefährlichen Gewerbe insbesondere , wie das Leben überhaupt ein gewisses Risiko,'^) weil so oft über- wiegende Interessen in Frage stehen.

Ist das richtig, so kann eine Konzession niemals gemacht wer- den solchen Lebenszwecken, welche, an sich dem Recht zuwider- laufend, vom positiven Gesetze reprobiert sind. Das Gegenteil wäre die Begünstigung des Unrechts. Ist das richtig, so folgt einen Schritt weiter, daß auch ein der Sittlichkeit, dem praeceptum juris des honeste vivere widersprechendes Streben durch das berechtigte Inter- esse nicht gedeckt wird. Denn auch der Unsittlichkeit kann das Recht Konzessionen nicht machen, sie nicht befördern wollen.

So erübrigt kaum noch, nach der Methode der Rechtsanalogie zu operieren, aus einer Mehrheit von Gesetzen ein höheres Prinzip zu entnehmen. Daß aber ,,Recht und Moral in Einklang^ zu bringen, die Ansicht, „das Recht dürfe seine Hand nicht dazu bieten, das sittliche Bewußtsein des Volkes zu verletzen", haben auch die Motive (II. Kom.) zum § 814 BGB. schon angemerkt. Daß ein „gegen die guten Sitten" verstoßender Zustand nicht aufrechterhalten werden soll, lassen §§ 139, 819 BGB.-») erkennen, nicht minder §§ 123, 124 Gew.Ordg. Die „Aufrechterhaltung der guten Sitten und des An- standes" betont § 62 Hand.GB., nicht minder § 120 b Gew.Ordg. und schließlich § 9 Ges. betr. Wettbewerb entbietet in der Fassung

1) §§ 367. 3. 8. 11. 15; 36S. 3 R.St.G.B.

2) § 366 5. 8.

3) Finger, Lehrb. d. St.R. S. 105.

4) Auch § 276 betreff, das pactum de dolo dou praeatando. Türk-Nieden- fuhr, Bürg. Recht S. 372, der Gegensatz: legibus ac moribus comprobatus 1. s. Dig. 50 13 .

94 VIII. ROTEBTNO

^gegen das Gesetz oder die guten Sitt^^ dasselbe Grundprinzip, i) Dafür, daß das Becht der Unsittlichkeit keine Konzession^ macht, wäre auch zu verweisen auf §§ 534. 814. 1446. 1641. 1804. 2113. 2205. 2330 BGB.

Wenn aber § 193 bezweckt, soweit hier der nicht bloß deklara- torische Bestandteil dieses Gesetzes in Frage steht, einen gewissen Mittelweg zu finden, wenn einmal die Verfolgung nicht minderwerti- ger Lebenszwecke nur auf Unkosten der Ehre durchgesetzt werden kann, so kann die Gefährdung der letzteren jedenfalls nur dann noch straflos ausgehen, wenn diese das einzige und notwendige Mittel ist, um jene anderen Interessen zu wahren. So lange nämlich ein an- derer Ausweg bleibt, ist ein Widerstreit der schutzbedürftigen Lebens- güter nicht vorhanden.

Und schließlich kann eine Entscheidung im EoUisionsfalle immer nur statthaben unter der Signatur des Prinzips der Verhältnismäßigkeit Denn unter diesem Zeichen wickelt sich das Verkehrsleben ab, fast alle wirtschaftlichen Vorteile werden mit Opfern erkauft Und es ist eine antiökonomische Maßregel, welche den geringeren Vorteil auf- wiegen läßt durch ein größeres Opfer. Dieser Gesichtspunkt hat auch in der Gesetzgebung den bestimmten Ausdruck ^ gefunden (§§ 228. 904. 138. 320 BGB., 105 f. Gew.O., 302a Str.GB,). Der Be- griff des berechtigten Interesses ist ein relativer.

Die Anwendung dieser Bechtsgrundsätze auf die Bestrebungen der sogenannten Unterhaltungspresse führt aber zu folgendem Ergeb- nisse: Auszuscheiden von der Betrachtung ist zunächst derjenige Teil der Tagespresse, welcher des negativ harmlosen Charakters nicht darbt Glücklicherweise wohl in dem geringeren Bestandteile unserer Tagesliteratur lagern die Erzeugnisse sich ab auf dem Nährboden, welchen die niedrigen Leidenschaften befruchten, der Haß, der Neid und die Schadenfreude, die ihnen entspringende Sensationslust, welche alle sich befriedigen sollen auf Unkosten fremder Achtungsbedürftig- tigkeit. Die gesamte Tagespresse, welche dem NationalhaB fröhnt, dem Elassenhaß, dem konfessionellen Hader, politischer Verfolgungs- sucht, dem Konkurrenzneid, Wahlmanövem, der bloßen Klatschsucht und der Tagedieberei, dem bloßen Haschen nach Neuigkeiten, vermag sich nicht auszuleben auf dem Boden der Ethik. Und schon das Gewand der sogenannten Winkelblätter und staatsfeindlichen undeut- schen Tagesschriften läßt erkennen, daß wenigstens die von solchem Geiste getragenen Mitteilungen nicht aus dem Motive der Verfolgung

1) Schon § 138 Preuß. Gesinde-O.: „Handlungen, welche wider die Gesetze oder wider die guten Sitten laufen."

Presse and Recht. 95

berechtigter Interessen ins Leben getreten sind. Und mit der nega- tiven Sittlichkeit dieses Mittelzwecks kann auch der anf Erwerb ge- richtete Endzweck solcher Tagespresse als ein solches Interesse nicht mehr bezeichnet werden.

Allein in weiterem Umfang kann auch die gesamte, auch die bessere Unterhaltungsliteratur den Schutz des § 193 nicht beanspruchen, sobald die Mitteilungen geeignet sind, bei anderen Mißachtung hervor- zurufen. Der Unterhaltungsstoff nämlich, welchen das Menschenleben sowohl als das Leben und Weben in der Natur darbieten, ist ein so mannigfaltiger, nicht auszudenkender, daß es des Angriffs auf die Achtungswürdigkeit eines bestimmten Bechtsgenossen niemals bedarf, um die der Unterhaltung gewidmeten Spalten überhaupt auszufüllen. Der Fall widerstreitender Interessen ist also niemals gegeben. Die Befriedigung des Unterhaltungsbedürfnisses erheischt gar kein Opfer auf dem Altare der fremden Ehre. Es geht auch so.

Schließlich aber, und damit wird dem dritten in der vorgehen- den Betrachtung aufgestellten Gesichtspunkte sein Recht, kann das Unterhaltungsbedürfnis allein kein Interesse bilden, welches entgegen dem Bedürfnisse der sozialen Vollgeltung im Kreise der Volksgenossen als ein berechtigtes, d. h. als ein solches erscheint, welchem entgegen das letztere zurückzutreten hat Vielmehr leidet nun einmal der Be- griff des berechtigten Interesses im Sinne des Strafgesetzes an einer gewissen Relativität, es fragt sich immer, ob berechtigt einem be- stimmten Faktor gegenüber? Einem minimalen Lebensinteresse ent- gegen darf^) niemals die soziale Stellung im Gesellschaftsleben er- schüttert werden. Und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit weist darauf hin, daß die Ehre des einen höher steht als das Amüsement des andern. Gerade dieser Gesichtspunkt ist es, welchen der höchste Gerichtshof in seiner Entscheidung Bd. 15 S. 15 betont, darauf näm- lich komme es an, ob das Recht die Interessen anerkenne, „und zwar auch gegenüber dem Rechte auf Achtung der Person*^. Die poten- tielle Gefährdung der Ehre bleibt deshalb strafbar, wenn sie nur er- folgt zwecks Unterhaltung des Leserkreises.

Eine andere Aufgabe der Presse, nicht allein der Tageszeitung, sondern auch der wissenschaftlichen Zeitschriften, ist diejenige der Belehrung. Daß die Belehrung ein berechtigtes Lebensinteresse ist, kann nicht zweifelhaft erscheinen. Das Wirtschaftsleben und das Gesellschaftsleben können ihrer nicht entbehren, und der Staat be-

1) Frank» Komm. § 193.

96 VIIL ROTEWNG

zweckt, dem VolksbedürfniBse abzuhelfen durch Bildungsanstalten, er setzt die Ergebnisse der Belehrung voraus für seine Angestellten, er hat damit die Vollberechtigung dieses Ijebenszweckes anerkannt Dieser Mittelzweck für das Preßuntemehmen heiligt den Erwerbs- zweck als solchen. Der Rechtsstandpunkt ist hiemach ein von dem- jenigen wesentlich verschiedener, welcher hinsichtlich des ünterhal- tungsbedürfnisses festzulegen war. Das Volksbedürfnis der Belehrung ist zum Staatsbedürfnis geworden, wie das hinsichtlich der Unterhal- tung nicht oder nur in ganz beschränktem Maße (Theaterwesen) zu- trifft. Es gab nur eine Zeit, in welcher auch dem Staate es aufge- drungen war, das Volk zu unterhalten (panem et circenses). Damals war die Blüte des staatlichen Lebens im Niedergange. Es läßt sich daher nicht allgemein und ausnahmslos behaupten, die Belehrung sei kein berechtigtes Interesse gegenüber dem Bechte auf Achtung der Person. Vielmehr die soziale Stellung im Kreise der Rechtsgenossen ist ebenso abhängig von dem Vollbesitze der Ehre als davon, ob die Individualität infolge genossener Belehrung ihre Kulturaufgaben erfüllt

Von den für die Entscheidung in einem Kollisionsfalle nicht un- maßgeblichen Momenten aber ist das eine auch hier mit Sicherheit zu verwerten, die Belehrung wird wohl ausnahmslos erfolgen können, ohne den Angriff auf den einzelnen, geschweige denn ohne eine auf diesem Wege ergehende Einmischung durch die Presse. Die Strafbarkeit der unnötigen Einmischung ergibt sich damit von selbst, kollidierende Interessen sind eben noch nicht da.

Ein Rechtsumschwung tritt aber ein, sobald mit dem Zwecke der Belehrung ein anderer zusammengeht, sobald jene erfolgt gleichzeitig zum Zwecke der Gefahrverhütung. Der im Recht Jahrgang 1907 aus der Rechtsanalogie durch Ausdehnung des der Notwehr, der erlaubten Selbsthilfe und negotiorum gestio zugrunde liegenden Gedankens gewonnene Schuldausschließungsgrund trifft dann zu, wenn die Hin- weisung auf Tatsachen nicht zu umgehen war trotz ihrer Rechtsnatur als potentieller Ehrengefährdung in Rücksicht auf andere Personen. So wenn die Belehrung ergeht über ein der Gesundheit abträgliches Verfahren eines Naturarztes, über die Geringwertigkeit der Grund- stoffe eines neuerfundenen Heilmittels, über die Schädlichkeit von Fleischkonserven im Betriebe bestimmter Handelsfirmen oder des Färhens von Getränken, die Schädlichkeit der Zusatzstoffe, über Vor- sichtsmaßregeln beim Gebrauche von Kochgefäßen, über die für die

1) Verß^l. Alt. 240 StG.B. für Sachsen: „Bei der Abwehr unerlaubter oder unsittlicher Handlungen oder Zumutungen von sich oder Anderen."

Presse und Recht. 97

öffentliche Sicherheit mangelhafte Einrichtung der Kleinbahnen, über die UnVollständigkeit der Sicherheitsmaßregeln gegen ansteckende Krankheiten, Viehseuchen oder anderer öffentlicher Einrichtungen. In Erörterungen über Gegenstände dieser Gattung nämlich leitet natur- notwendig die Belehrung dem Fallbewandtnis nach über zur Gefahr- wamung. Sie kehrt dann auch ihre Spitze nur zu oft gegen be- stimmte Persönlichkeiten, Fabrikanten, Unternehmer oder andere Ge- werbetreibende, staatliche oder im Privatdienste angestellte Beamte. Das tritt um so leichter in die Erscheinung, als die Zeitschrift einen relativ kleinen Verbreitungskreis hat, damit leicht erkennbar ist, gegen welche Person die Beschwerde sich richtet Immer aber ist Voraussetzung der Straflosigkeit solcher Veröffentlichung, daß die Einmischung der Presse nötig, nämlich Zahl und Individualität der Gefährdeten unbekannt sind, eine vertrauliche Warnung nicht erfol- gen kann, schließlich auch, daß sich die Bekanntmachung nicht mehr als nötig mit demjenigen beschäftigt, gegen welchen die Be- schwerde sich richtet.

n. Haftpflicht der Presse. Beeht der Kritik.

Es unterstellt die Volksauffassung und ihr entsprechend die Redeweise, wie sie im Volke lebt, ein Recht der Kritik. 0 Es darf eben ein jeder alles kritisieren, was er sieht und hört, das sei sein gutes Recht. Und ein solches vindiziert sich auch die Presse. Ja noch mehr, es erscheint als die Berufsaufgabe der Tagespresse, all- gemein interessierende Tatsachen mitzuteilen, die Leser sozusagen auf dem Laufenden zu erhalten, dann aber auch sich des Urteils nicht zu entschlagen.

In dieser Auffassung liegt Wahres mit Falschem gemischt. Wohl gibt es ein Recht der Kritik, aber es ist nicht überall da zu finden, wo man ein solches zu erkennen glaubt. Berücksichtigt man vielmehr, wie oft im Leben berufen und unberufen Kritik geübt wird, so ist zu sagen, ein Recht der Kritik solchen zahllosen Tageserschei- nungen gegenüber ist eine Singularität Jene aber sind auch gleich- gültig für das Rechtsleben, Veränderungen in demselben hervorzu- rufen sind sie nicht geeignet. Sie gehen spurlos vorüber, wenn auch zufällig einmal das Urteil einer Autorität an anderer Stelle nicht ohne Rücksicht bleibt. Anders immer da, wo die Kritik ein Recht ist und als solches zur Ausübung kommt. Sie ist hier nur zu oft bestimmend für das Lebensgeschick der ihr unterworfenen Volksgenossen, kann

1) Stenglein, Komment St.G.B. S. 413. Anhir ffir Krlminalaiithiopologie. 28. Bd. 7

98 VIII. ROTERING

mindestens ihr Fortkommen erheblich erschweren oder gegenteils demselben eine sichernde Unterlage daxbieten.

Nun ist aber ein Becht, ja sogar eine Pflicht der Kritik überall da gegeben, wo der vorgesetzte Staatsbeamte ein Urteil abzugeben hat in Beziehung auf Leistungen und Fähigkeit des ihm unterstellten Staatsdieners, der staatlich angestellte Lehrer oder Examinator über das Wissen und Können des Examinanden. Und es gehört zu den im § 193 Str.GB. hervorgehobenen ähnlichen Fällen, wenn in der privaten Guts- oder Eisenbahnverwaltung oder in anderen privaten Unternehmungen sich ein ähnliches Über- und Unterordnungsver- hältnis unter den Privatbeamten herausgebildet oder die Familie einen Hauslehrer zur Kindererziehung berufen hat 0

Ein Recht der Kritik ist auch da anerkannt^ wo das Gesetz ein solches anknüpft au ein auf Dauer bestehendes Vertragsverhältnis. So, wo das Ausstellen von Zeugnissen vorgeschrieben ist, oder wo Innungen bestehen, das Ausstellen von Lehrbriefen, wo dem Lehrimg ein Zeugnis vom Lehrherrn, dem Handlungsgehilfen ein solches vom Prinzipal 127 c Gew.O., § 73 Hdls.GB.), dem Gesinde ein solches von der Herrschaft gegeben werden soll oder mindestens verlangt werden kann.

Und schließlich ist das Recht der Kritik auch Folge eines bloßen Auftrags, es besteht daher für die berufenen Taxatoren oder Preis- richter. Und so kann ausnahmsweise auch einmal die Presse kraft Auftrags das Recht der Kritik ausüben wie da, wo ihr ein Werk zur Besprechung zugesandt worden, wo die Fachpresse zur Entscheidung in einem Wettkampfe berufen ist, die Theaterrezension um eine Ver- öffentlichung von den Interessenten selbst angerufen worden.

Von solchen besonderen Lebenserscheinungen jedoch abgesehen hat auch die Presse ein Recht der Kritik mit nichten. Vielmehr wenn sie kritisiert, nimmt sie nur eine aus der rechtlichen Freiheit sich er- gebende Möglichkeit rechtlich erlaubten Verhaltens wahr, was sie in Ausübung bringt, ist ein sog. bloßes Fakultätsrecht, res merae facul- tatis. Was sie wahrnimmt, ist nur eine Befugnis, wie denn jeder Mensch befugt ist, von seinen körperlichen Fähigkeiten durch belie- bige Körperbewegung den beliebigen Gebrauch zu machen. Gerade hierin aber ist gelegen eine fernere Differenzierung zwischen der Kritik über fremde Leistungen, wie eine solche einem jeden freistellt und keinem untersagt werden kann, oder aber dieser als dem Aus- flusse eines Rechts, über dieselben Lebenserscheinungen sein Urteil

1) Abhandl. d. Verf. Gerichtssaal 02, S. 52.

Presse und Recht. 99

abzugeben. Jene allgemeine Befugnis nämlich geht nur bis an die Grenze des fremden Rechts, eine Verletzung oder Gefährdung der fremden Ehre wird nicht dadurch straflos gestellt, daß sie in Form der Kritik entäußert worden. Ganz anders aber, wo die Kritik auf- tritt als das Ergebnis eines Rechts oder gar eines solchen und der Pflicht Hier nämlich bringt das Recht ein Opfer den Bedürfnissen des Lebens; letztere treten so dringend hervor, daß sie sich durch- setzen sollen nötigenfalls auch auf Unkosten der fremden Ehre. Daher verhält es sich mit der berechtigten Kritik nicht anders als mit den im § 193 Str.GB. hervorgehobenen „Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen", welchen gleichstehen „dienstliche Urteile von seiten eines Beamten''. Soweit die Presse ein Recht der Kritik nachzuweisen vermag, wird daher die Mittei- lung auch dann noch nicht in den Schatten des Strafrechts gerückt, wenn sie an und für sich eine Beleidigung entbietet, so lange nicht der Exzeß in der Form oder den Umständen sich kundbart. Karrika- turen sind nicht gestattet, auch nicht der Witz, welcher das plus quam ridiculum schlecht verhehlt.') Es entspricht der kulturellen Entwick- lung und der Verbreitung der Tageszeitungen, bis in die niederen Schichten der Bevölkerung hinein, wenn nicht allein die Mitteilung allgemein interessierender Ereignisse, sondern deren Beurteilung also die Kritik nicht selten in bestimmter politischer oder konfessioneller oder literarischer Färbung von der Presse verlangt und. eine Zeit- schrift refüsiert wird, welche solchen Anforderungen nicht entspricht. Solche Postulate sind die natumotwendige Folge allgemein verbrei- teter und verbesserter Schulbildung. Diesen Anforderungen aber hat die Gesetzgebung keine Konzessionen gemacht Vielmehr diesen Veröffentlichungen ist die Barre da gestellt, wo dieselben das Gewand der potentiellen Gefährdung fremder Ehre umzulegen sich unter- fangen. In gewissem Sinne läßt sich sagen, die Gesetzgebung ging mit der Zeit nicht mit. Allein diese Rückständigkeit ist nicht auf dem Blatte verzeichnet, auf welchem die Fehler eingetragen sind, welche auch ihr anhaften, wie allem menschlichen Bestreben. Viel- mehr sind es rechtspolitische Momente, welche einem Fortschritt hin- dernd entgegenzutreten scheinen. Wenn die revolutionären Strömun- gen jenseits des Rheins in ihrer Nachwirkung auch für die deutschen Lande allerdings die Zensur beseitigt hatten, welche bei der Stagna- tion des politischen Lebens insbesondere während des achtzehnten Jahrhunderts so lange eine lähmende Fessel gewesen war für die

1) Nicht das vexandi causa 1. 13. 3 Big. de injur.

7*

100 VIII. ROTERING

immer mächtiger sich entfaltende Tagespresse, so mußten naturgemäß dieselben Strömungen das Caveant consules der Legislatur da zu- rufen, wo die Gefahr besteht, daß auch die Presse ihnen ein Opfer bringen könnte auf Kosten dessen, was als das Rechtsgebiet der boni mores und des jus publicum von den Alten einst bezeichnet worden. Das adversus bonos mores convicium cui fecisse durfte nicht straflos ausgehen, auch für die Presse blieb immer das praetorische Verbot, ne quid infamandi causa fiat. Es trifft daher nicht zu, wenn aus der modernen Verkehrsüblichkeit heraus die Aufgaben der Presse, wie das Wirtschaftsleben allerdings sie stellt, entwickelt werden und aus diesen heraus der Einwand des berufsmäßigen Gebahrens auch dann erhoben wird, wenn bei loyaler Absicht, in gutem Glauben ehrenkränkende Tatsachen kundgegeben werden, welche doch nicht zu beweisen sind. Dieser Einwand ist nicht geeignet, die Behauptung unwahrer Tatsachen dem Schatten des Strafrechts hinwiederum zu entrücken. Die Gesetzgebung ging eben mit der kulturellen Ent- wicklung doch nicht mit und die Reserve des Gesetzgebers hat ihren guten Grund, ist ihm aufgedrungen durch das Vorhandensein kolli- dierender Interessen des Volksbedürfnisses auf der einen Seite, der Staatssicherheit auf der anderen, und mit ihr des Schutzes der bür* gerlichen Ehre der Rechtsgenossen.

Zu einem entgegengesetzten Ergebnisse führt auch nicht etwa die Auslegung des § 193 RStr.GB. Wenn das Gesetz „tadelnde Ur- teile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen^ nur für strafbar erklärt, insofern ^das Vorhandensein einer Beleidi- gung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen^ her- vorgeht, so hat die normative Satzung in diesem ihrem Bestandteile nicht etwa der Freiheit der Kritik ein weiteres Feld eröffnen wollen, sie hat überhaupt keine disponierende Bedeutung, ist vielmehr aus- schließlich deklaratorischer Rechtsnatur. Gerade hier ist nicht zu- rückzuweisen die geschichtliche Entwicklung^) als Auslegungsmittel für das Gesetz. Denn wir kennen die Kräfte, wir kennen die sozia- len Lebenserscheinungen, welche in der Zeit seines Werdeganges für den legislatorischen Gedanken die mitbestimmenden Faktoren waren. Die Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts wendete bei dem Er- starren des öffentlichen Lebens unter dem Drucke einer lähmenden Zensur den kleinlich lokalen Interessen ihre Aufmerksamkeit zu, die ständische Gliederung zersplitterte sie in sich abschließende, sich be- feindende, beneidende Kreise, das Ringen um äußerliche Ehrenvorzüge

1) Finger, Lebrb. I, S. ISl.

Presse und Recht. 101

leitete über zur Überspannung des Ehrbegriffes, diese zu einer in massenhaften Zweikämpfen sich auslebenden, zu den landesherrlichen Duellmandaten nötigenden gesellschaftlichen Reibung, vermehrt durch das Haschen nach den Vorzügen des Standes, des Ranges und der Titulatur mit einer in dem Grade unvernünftigen Wertschätzung, daß nichts unsympathischer war als der Gedanke, diese Differenzierung könnte einmal niedergelegt werden in den Regionen, welche für uns alle ein unbekanntes Land sind. Daher die Ehrenbezeugung, welche auch dem Verstorbenen zuzumessen war, genau nach dem, was ihm im Leben zustand. Ohne die Höflichkeitsprädikate selig wohl- selig — hoch-, schließlich höchstselig wäre auch ein ewiges Leben nicht auszudenken gewesen. Daher die Häufung der Titulaturen, wie man einst zu sagen pflegte, der Solemnes adlocutionis-for- mulae 0 für die höheren Stände, sie reichten bis zu dem „ehrenfesten, weitberichteten Meister des Handwerks herunter, das Sichverlieren „in die unendliche Verletzlichkeit des individuellen Gefühls und Stan- desvorurteils". 2) Die Epidemie der Injurienprozesse, wenn einmal das unterlassene Grüßen, Nachtrinken, schließlich die Nichtbefolgung der gerichtlichen Ladung 3) oder gar die Herabsetzung wissenschaft- licher, künstlerischer, technischer Leistungen strafrechtlich zu rügen waren, wenn in jeder zurückgehaltenen Ehrenbezeugung dem Beamten entgegen die Beleidigung lag, war erklärlich. Es war in jener Zeit, als die Versagung des „Ew. Gnaden" zum Verluste des Lehns führte, die Klagen, Beschwerden und Suppliken mehr Titulaturen und Erge- benheitsausdrücke darboten als gesunde, sachentsprechende Gedanken. Diese Überreizung entsprach der beschränkten örtlichen Gebundenheit der Zeit. Die Stadt oder das Dorf, die engere Heimat waren die Welt Wohl war der ritterlichen Standesehre die Rechtsbasis ent- zogen, längst hatte in den Städten der echte Begriff der bürgerlichen Ehre sich entwickelt, aber der Bauernstand oder wer sonst zu „den armen Leuten" gehörte, war dieser Ehre nicht teilhaftig. Ein ge- wisses Stück Menschheit zählte noch nicht mit.*) Der Bauer lebte in Stumpfsinn dahin, „leg dich krumm und Gott hilft dir", war die Devise, ein altes Bauemwort. Endlich aber nahm die Doktrin doch Stellung diesem ^) so schwer pathologischen Zustande der Gesellschaft

1) Pütter, Staatsrecht, § 24.

2) Koßlin, S. 72.

3) Weber III, S. 216. H elf fehl Jurisp. for., S. 252. Verweigerung des Tanzes, Händedrucks, v. Bülow, Gerichtssaal 46, S. 270.

4) Roßhirt, Gesch. d. St.R. II, § 103. Hälschner, System I, S. 213. Osenbrügger, Alamannisches St.R., S. 243. Köstlin, S. 13, 76.

5) Rieh! , Burg. Gesellschaft I, 1.

102 Vm. ROTEEIKG

entgegen, und das war in jenen Tagen, als das achtzehnte Jahrhun- dert sich zum Abschluß neigte. Auch die Bedaktoren des Allgemei- nen Preußischen Landrechts hatten das Kranken der Volksseele nur zu wohl erkannt. Nun vollzog sich, was Weber *) angebahnt, es er- folgte eine gesunde Reaktion. Und diese einzuleiten waren die §§ 552 u. f. IL 20 des Gesetzbuchs berufen. Erwägt man, daB gerade das achtzehnte Jahrhundert^ zumal in der keineswegs allein die schönen Wissenschaften oder die Dichtkunst beeinflussenden Periode des Sturmes und des Dranges, unter der Signatur des Aufschwungs zur Rüste ging, daß die Erzeugnisse der Dichtkunst, Malerei und Archi- tektur, die Umwälzung auf dem Gebiete der Technik fort und fort das offenfliche Urteil herausforderten, so erklärt sich, daß gemäß der Auffassung Webers, „daß freimütige Urteile über Werke des Geistes und der Eunst^ bloß darum, weil sie eine unangenehme Empfindung erregen, eine Beleidigung nicht sind, der § 562 Tit 20 II den ani- mus injuriandi nicht vermuten ließ „bei öffentlichen Urteilen über Werke oder Handlungen der Kunst, des Geistes oder des Fleißes", insofern sie eingeschränkt werden auf den Gegenstand selbst Allein damit war der Übelstand nicht allsofort beseitigt Es wiederholte sich eine Erscheinung, welche das ganze Mittelalter beherrscht, das Rechtsleben hält fest an alter Grundlage, wie eben „ein und der- selbe Geist" dasselbe Jahrhunderte hindurch durchwehte. Noch immer erschien als Ebrenkränkung die Unterlassung des Grußes, die Nichterwiderung, das Verweigern des Tanzes oder des Mittrinkens, *-) die Reaktion nach der Wende Jahrhunderts war der Nivellierung der Stände wieder abträglich, und so erschien die Aufnahme desselben Rechtsgedankens in den § 154 Preuß. Str.GB. als der Versuch „eines praktischen Fingerzeigs" als noch nicht unentbehrlich. Aber nicht als Ergebnis der Gesetze, vielmehr als die naturnotwendige Folge der sozialen Entwicklung, der Verkümmerung alles politischen und öffent- lichen Leben, wie sie die Jahrhunderte gezeitigt hatten, war auch dann noch nicht überwunden, was Köstlin bezeichnet als den „übertriebenen Selbstkultus verweichlichter Stubenhockerempfindlich- keit", Binding als „die alte unjuristische Gefühlstheorie" ^), und so wurde der wesentliche Inhalt des § 154 Str.GB. in das RStr.GB. übernommen. Aber auch das geschah mit nichten, um etwa ein neues bis dahin unbekanntes Recht der Kritik zu begründen,^) viel-

1) Weber 1, S. 124.

2) Tittmann, Ilandb. S. 198, IL Köstlin, S. 48. Zöpfl, Rechtsalter- thümcr II, S. 393. Heffter, Lebrb., §300. v. Bülow, Gerich tssaaU 6, S. 270.

3) Binding, Lchrb. I, § 132.

4) Jedoch v. Bülow, Gericht8saal 46, S. 274.

Presse und Recht. - 103

mehr nur, wie die Motive bemerken, um anzudeuten, daß die Hand- lung mit Bücksicht auf den Gegenstand ungeeignet sei, „den Schluß auf einen rechtswidrigen Willen zu gestalten^, also im Hinblick auf die in einer abgeklungenen Eulturperiode sich ablagernde Bechtsver- wirrung, im Hinblick darauf, daß es so unendlich schwer ist, Irr- tümer eines eingewurzelten Bechtsgefühls zu Grabe zu tragen.

Soviel hatte man längst erkannt, daß tadelnde Urteile über die Leistungen eines Bechtsgenossen eine Beleidigung der Person nicht sind, weil diese Leistungen ein von dieser getrenntes Dasein führen. Wer sein Werk herausgibt, „löst es dadurch von seiner Person, *) daher unterliegt die Kritik der letzteren rechtlich einer anderen Be- urteilung, sie wird durch den § 193 nicht gedeckt.

Man hat aber die Freiheit der Kritik der im Gesetze hervorge- hobenen Leistungen als etwas so Selbstverständliches erachtet, daß die normative Satzung doch wohl ein weiteres, nämlich auch das bezweckt habe, „die aus Anlaß einer wissenschaftlichen usw. Leistung erfolgende Kritik der Person für straflos** zu erklären. 2)

Dieser Rechtsansicht wird beigetreten, jedoch die Straflosigkeit der Kritik der Person nur in bestimmter Tragweite aus anderem Grande behauptet Die Kritik der Person nämlich ist jedenfalls in- soweit freigegeben, als sie sich mit Notwendigkeit aus dem Geleiste- ten oder Geschaffenen selbst ergibt. Denn da dieses von der Person losgelöst und dem Urteile der Offentiichkeit preisgegeben ist, so hat die Person selbst auch dieses Urteil vorausgesehen und genehmigt. In dieser Tragweite kann sie sich durch die Kritik nicht beleidigt fühlen, volenti non fit injuria. So wenn der Inhalt der Schrift den Schluß gestattet, der Verfasser sei ein Gottesleugner oder Anarchist oder dem Aberglauben verfallen. Insoweit nämlich ermangelt der Verfasser der Achtungsbedürftigkeit und damit der Fähigkeit, belei- digt zu werden. Selbst wo infolge Mißverständnisses eine Schrift falsch beurteilt, z. B. die Ironie nicht erkannt wird, kann die an und für sich nicht zutreffende Kritik der Person als entschuldbar er- scheinen. £s fällt ins Gewicht, daß man dem Verfasser nicht sugge- rieren darf, er glaube selbst nicht, was er ausführe.

m. Haftpflicht der Fresse. Büge allgemeiner Übelstände.

Das berechtigte Interesse im Sinne des § 193 BStr.GB. hat seine Begrenzung in der Bichtung zunächst, daß unser Werturteil nicht

1) Kronocker, Ger. S. 38 zu III.

2) Frank, Kommentar, § 193.

104 VIII. ROTERIKG

verstoßen darf gegen das Becht und die guten Sitten. Hier nämlich hört das Interesse auf, ein berechtigtes zu sein.

Eine andere Betrachtung muß ergehen in der Richtung, wann das Interesse beginnt, ein berechtigtes zu werden? Verweist nun auch das Wort ^berechtigte der Umgangssprache wohl entsprechend keineswegs auf das Dasein eines subjektiven Rechts, so doch jeden- falls auf das Rechtsleben. Die Lebensbeziehungen, auf deren Be- stehen das Gewicht gelegt wird, müssen schlechterdings auf der Ebene des Bechtslebens sich ablagern. Und dem Bechtsleben entgegen steht gewissermaßen als ein Minus das soziale oder das bloße Gesellschafts- leben. Es gibt Rechtsvorteile und Rechtsnacbteile, es gibt aber auch Vorteile und Nachteile, welche unter jene Kategorie noch nicht fallen. Bloße Unannehmlichkeiten, auch Zurücksetzungen im Gesellschafts- leben 0 sind solche nicht, Unhöflichkeiten sind keine Beleidigung, das alles, wenn solche Dinge nicht ausnahmsweise, wie in den Kreisen des hohen Regimes, der Politik, der Diplomatie und des Hoflebens bestimmungs- oder usancemäßig die Stelle bestimmter Willenserklä- rungen vertreten sollen. Der Grund ist darin gelegen, daß anders nur unser Gefühlsleben durch dieselben berührt wird, aber gerade dieses in der Gesetzgebung als ein zu schützendes Rechtsgut nur ganz ausnahmsweise in das Rechtsgüterinventar ist eingereiht worden. Der Rechtsschutz, bekannte Ausnahmen (§§ 116. 189. 183. 360 n. 13; Vogelschutz-Ges.) hinweggedacht, begnügt sich „mit einer Sicherstel- lung starker, allgemeiner, also inhaltlich gleicher Empfindungen^. ^Rechts- und Rechtsgüterschutz ist die Aufgabe der Rechtsordnung und nicht Gefühlsschutz." *^)

Das Affiziertwerden unseres Gefühlslebens aber ist Tagesereignis infolge der Zugehörigkeit zu einer der unzähligen Personenmehr- heiten. Jeder Rechtsgenosse hat eine weitere oder engere Heimat, gehört dem Staate an, der Provinz, der Ortsgemeinde, seine Geburt verweist auf eine solche immer, sein Glaubensbekenntnis, wenn auch nicht ausnahmslos, auf Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemein- schaft, einer politischen Partei, die Nationalität und die Sprache ver- weisen auf die Zugehörigkeit zu einem Verbände, welcher durch die Mehrheit, unbestimmt welcher und wievieler Personen, mithin durch das Unabgeschlossene seines Daseins sich kennzeichnet Bisweilen treten verschiedene dieser die Gemeinsamkeit begründenden Lebens- erscheinungen verbunden auf, die Katholiken polnischer Zunge, die braunschweigischen Weifen sind Beziehungen, welche die Tagespresse

1) Betreffend den geselligen Verkehr E. Kassel, Goltd.Arch. 53, S. 86.

2) Binding, Nonnen I, S. 347. 363,

Presse und Hecht. 105

ZU besprechen pflegt Bisweilen auch treten die Verbände der Kechts- genossen auf in noch weniger oder ganz und gar nicht geschlossener Einheit. Die Vertreter der Kunst oder die Vertreter der Wissenschaft sind dieses nur infolge allgemeiner Anerkennung ihrer Leistungen oder Kenntnisse, sie darben nur als solche der formellen Legiti- mation.

Je intensiver nun das Interesse der Individualität besteht für die idealen, die Gemeinsamkeit erst begründenden Lebensbeziehungen, je mehr die Heimatliebe sich erhalten hat, die Pietät als das gemein- same Fühlen mit der religiösen Gesamtheit, je reger die Beteiligung am politischen Leben in die Erscheinung tritt, das nationale Empfin- den, die Pflege der Muttersprache, schließlich der Kunst und der Wissenschaft 0 überhaupt, um so tiefer wird es empfunden, wenn sich die Angriffe von feindlicher Seite gegen das richten, was als Lebensideal nun einmal erkannt worden. Und allsofort erhebt sich die Frage, ob die Abwehr solcher Angriffe als Wahrnehmung berech- tigter Interessen im Sinne des § 193 Str.GB. erscheint, ob sie also straflos gestellt ist trotz potentieller Gefährdung jener Persönlichkeit, von welcher die Invektive ausgegangen ist

Und zu einem negativen Ergebnisse führt die Betrachtung um deswillen, weil das Affiziertsein des Gefühls- und Empfindungslebens zwar als ein Übel aufscheint, keineswegs aber schon als em Übel im Bechtssinne. Denn jene Unzuträglichkeit läßt unsere Bechtsstellung nach wie vor intakt, alles bis dahin Geschehene hat sich noch nicht abgelagert auf der Ebene des Rechtslebens selbst Wohl mag unser Interesse verletzt sein, es hält schwer, diesen Begriff zu begrenzen, wohl mag auch ein Interesse der Abwehr gegeben sein, aber ein berechtigtes Interesse, und zwar ein solches im Sinne des Berechti- gungsparagraphen, tritt noch nicht in den Blickpunkt der Reflexion, ist auch das soziale Leben, das Gesellschaftsleben in Mitleidenschaft gezogen. Nicht bloß an dieser Stelle im Recht tritt uns dasselbe Phänomen entgegen. Die Erregung antipathischer Gefühle, des Un- willens und des Zorns in der Gesellschaft sind noch nicht grober Unfug. 2) Auch das Unabgeschlossene des Gesellschaftskreises beein- flußt dieses Urteil nicht Erst die Störung der öffentlichen Ordnung in der Außenwelt, die Erregung des Tumults, Zusammenlaufs, Ge- dränges, der zur Ungebühr gehemmten oder beschleunigten Bewe- gung des Publikums verschiebt die Rechtslage. Denn in demselben xiugenblick erhebt sich die abstrakte Gefahr der Rechtsgüterverletzung.

1) E.R.G. Goltd.Arch. 52, S. 85.

2) Goltd.Arch. 52, S. 205.

106 VIII. ROTERING

Wie oft ist es nicht die so geschaffene Reibung zwischen Personen oder Sachen oder zwischen der Person zur Sache, welche als die Vorbedingung der Verletzung hinsichtlich der Integrität der Indivi- dualität oder des Sachguts in Wirksamkeit getreten ist? Nicht anders in dem Reehtskreise der Erpressung. Die hier als Delikts- merkmal fungierende Drohung muß sein eine solche im Rechtssinne, eine solche mit dem, was nur erst unangenehm ist, unser Gefühl verletzt, ist nicht geeignet, als kausal in der engeren strafrechtlichen Betrachtungsweise aufscheinen zu können. Letztere vielmehr darbt der Eigenschaft, den psychologischen Zwang zu bewirken, sie ist nur geeignet, etwa zufällig andere, dem Drohenden unbekannte Mo- tive zu wecken, dadurch zur Handlung oder Unterlassung die Ver- anlassung zu bieten. ') Deshalb soll das angedrohte Übel seine Be- ziehung haben auf Vermögen, Ehre, Freiheit, den Hausfrieden oder auch öffentliche Berechtigungen, 2) welche auf dem Rechtsboden des sozialpolitischen Lebens zur Geltung kommen. Ein Übel aber, welches unser Rechtsleben allganz unberührt läßt, ermangelt der erforderlichen Intensivität, um eine für den Vermögensbestand erhebliche Handlung oder Unterlassung auszulösen, die Rechtsgenossen können unmöglich bloß zwecks Abhaltung der täglich und aller Orten auf sie eindrin- genden antipathischen Gefühle auf Kosten Ihres Vermögensbestandes ein Opfer bringen.^) Dasselbe Rechtsphänomen wiederholt sich innerhalb eines anderen Rechtskreises, und zwar desjenigen, welcher das Gebiet der Urkundenfälschung bestreicht. Und zwar dieses, soweit das Gebrauchmachen von der falschen Urkunde in Frage ge- stellt ist. Denn auch hier muß der Gebrauch statthaben zu dem Zwecke, „rechtliche Wirkungen" auszulösen, eine „rechtlich bedeut- same Handlung oder Unterlassung".^) Auch hier reicht nicht aus die alleinige Absicht, auf das Gefühlsleben anderer einzuwirken, es ist (Frank) ^) kein Gebrauch machen, wenn der Student die quittierte Schneiderrechnung dem Vater an den Weihnachtsbaum hängt, bloß um ihm eine Freude zu bereiten. Dann also auch nicht das Vor- zeigen einer gefälschten Quittung, bloß um das Gefühl des Neides in einem Konkurrenten zu erwecken. Denn die rechtswidrige Absicht des § 267 RStr.GB. ist schlechterdings auf einen Zweck gerichtet, welcher nicht ausschließlich im Gesellschaftsleben sich auslebt, die

1) Hälschner, StR. II, S. 3Sl.

2) V. Schwarze, Komm., § 259.

3) Binding, Grundriß, § 183.

4) Binding, 1. c. III, S. 206.

5) Komm. § 267, VI.

Presse und Recht. 107

Eecbtsgenossen bloß von der Seite des Gefühlslebens in Mitleiden- scbaft zieht

Es geht nicht an, ^eine Rechtsverletzung darin zn suchen, daß irgend ein Seelenzustand in uns gegen unseren Willen hervorgerufen wird*. 0 Um den ausschließlich inneren Vorgang, um ein vorüber- gehendes, bald sich verflüchtigendes Unlustempfinden kümmert sich nicht das trockene Becht. Es ist eben das menschliche Empfmdungs- leben nicht allgemein ein schutzwürdiges, schutzbedürftiges Bechtsgut. Nur ganz ausnahmsweise wird dem Gefühl eine Beachtung geschenkt, wenn die Umschau ergeht nach Schutzgütern des Strafrechts. *'^)

Allein es ist mit nichten etwas der Persönlichkeit Unwürdiges, wenn das Gefühlsleben affiziert wird durch Angriffe auf das Vater- land, die engere Heimat, die Religion oder die einzelne Kirchen- gesellschaft, selbst auf die Sprache oder die Landessitten, zumal wenn solche ergehen etwa fern von der Heimat oder da, wo die eigene Kirche ecclesia pressa ist oder durch Angriffe auf die Kunst oder Wissenschaft, zumal von seiten solcher Individualitäten, welche das Leben nur von der Vergnügenskante aus zu beurteilen verstehen. Niemand wird sagen, daß solche Vorkommnisse nicht uns nahe an- gehende Angelegenheiten sind.

Wenn daher gleichwohl der höchste Gerichtshof die Kränkung des Werturteils hinsichtlich jener idealen Lebensbeziehungen nicht als eine den Angehörigen solcher Gemeinschaften angehende, ihn treffende „individuelle Angelegenheit** betrachtet 3), so daß derselbe in Wahrnehmung eines berechtigten Interesses auch die Abwehr selbst unter potentieller Ehrenkränkung für denjenigen, von welchem die Invektive ausgeht, unternehmen darf, so kann der Rechtsgrund dieser Entscheidung nur darin gelegen sein, daß die sich ausschließlich in unserem Gefühlsleben ablagernde Unstimmigkeit die Entscheidung Rechtens nicht bestimmt, vielmehr nur der Reflex auf das Rechts- leben. So sind es nur die Rechtsinteressen, deren Wahrnehmung auch eine potenziell beleidigende Äußerung straflos zu stellen geeignet ist. In dem Kreise des durch den § 193 beizulegenden Wettstreits kollidierender Interessen wiegt die alleinige Gefühlsverletzung die Ehrenverletzung nicht auf. Eine Rechtsauffassung im Sinne Gegen- teils würde den Zaun des Ehrenschutzes an so ungezählten Stellen durchbrechen, daß ein für das Gesellschaftsleben ausreichender Schutz

1) Glaser, Abh. d. Österreich. St.R., S. 12.

2) Binding, Normen II n. 766, I S. 364.

3) E.R.G. Goltd.Arch. 43, S. 3S4 und 45 S. 504 und E.R.G. 23, S. 422.

108 VIII. ROTERING

Überhaupt nicht mehr gegeben wäre. 0 I^^r Seelenschmerz, über- haupt das Affizieren des Empfindungslebens, dieser rein interne Vor- gang, will ertragen sein, die Ehrenkränkung mit ihrer unausbleib- lichen Bückwirkung für unsere soziale Stellung und Wirken harrt der strafrechtlichen Keaktion. Dieses ist der utilitare Gesichtspunkt, welcher seine Bücksicht fordert. Die Herabminderung der subjek- tiven Ehre unterbindet dem Beleidigten die Möglichkeit sozialen Schaffens. *^)

Wohl ließe sich speziell für die Presse eine Ausnahme dann wenigstens aufstellen, wenn die Bekanntmachung eines Ubelstande^ in wohlmeinender Absicht statthat. Es gibt Legislaturen, welche diese Ausnahme machen. So bestimmt Art 261 Str.GB. für Italien:

„Es liegt weder Schmähung noch Schmähschrift vor, wenn der Täter augenscheinlich im allgemeinen Nutzen gehandelt hat."

Auch Bulgarien 239 verordnet Straffreiheit, wenn die Verbrei- tung „im Interesse des Staats oder der Gesellschaft" getan ist, es ge- stattet auch Solothurn 130 den Beweis, daß die Veröffentlichung ^nicht in böswilliger Weise geschah'' die Wahrheit der Tatsache vorausgesetzt

Das BStr.GB. hat das Bestreben, im Interesse der Öffentlichkeit einzugreifen, als einen Strafausschließungsgrund nicht anerkannt Es kann daher die Presse die Büge über allgemein empfundene Übel- stände, welche sich aber nur für das Empfindungsleben anderer be- merkbar machen, im Publikum antipathische Gefühle erzeugen, die Mißbilligung bis zur Entrüstung hinan, nur ergehen lassen bis an die Barre der potentiellen Ehrenkränkung solcher Personen, welche jene Unzuträglichkeiten verschulden sollen. Auch die gute Absicht, „im Interesse des Staates oder der Gesellschaft" die Preßrüge ergehen zu lassen, hat eine schuldausschließende Wirkung keinesfalls. ^) Vielmehr jenen Unwillen, die Entrüstung, als das bloße intensive Mitfühlen mit fremdem Leid muß die Gesellschaft ertragen, sie kann den Kampf nicht aufnehmen mit allen Dingen, welche ihr unsympathisch sind.

Mißgriffe in der Gesetzgebung, Übelstände in der Staats-, Finanz-, Kirchen-, Gemeinde-, Schul-, Transportverwaltung, schäd- liche wissenschaftliche Theorien, Abweichungen von der anerkannten Kunstrichtung sind der Gegenstand der nimmer ruhenden Preßan- griffe; vielleicht nicht der bessere Teil des Leserpublikums ist so

1) E.R.G. Goltd-Arch. 45, S. 53. E.K.G. 23, S. 422.

2) Kohl er, Goltd.Arch. 47, S. 4 und f.

3) Jedoch Kohl er, Goltd.Arch. 47, S. 111.

ProBse und Recht. 109

sensationslüstern geworden, daß die besonnenere Tagespresse als zu wenig des Interessanten bietend abgelehnt wird. Aber die Ehre des geringsten Staatsbürgers steht so hoch, daß die relativ minderwertige Tendenz, die Sensationslust zu befriedigen, deren Gefährdung nicht aus dem Schatten des Strafrechts entrückt.

Allsofort ändert sich die Eechtslage, wenn jene Interessen in ihrer Gefährdung einen ungünstigen Einfluß ausüben auf die Eechts- lage dessen, welcher sie wahrnimmt, wenn sie für diesen also Rechts- interessen werden. So wenn behördliche Maßnahmen sein Wahlrecht beschränken, die staatliche, kirchliche, gemeindliche Vermögensver- waltung in der Tendenz der Abgabenerhöhung sich auslebt, die Schulverwaltungsmaßnahmen der Gesundheit oder Ausbildung seiner Kinder, die Anstellung untüchtiger Sicherheitsbeamten oder auch schon die Ausführung der Straßenreinigung oder -Beleuchtung die Gefährdung seines körperlichen Wohlseins nicht ausschließt, Trans- Porteinrichtungen auf seine geschäftlichen Unternehmungen verzögernd einwirken, wenn die Unbilligkeit in der Konzessionserteilung ihn nicht unberührt ließ, wenn die Angriffe auf seine wissenschaftliche Methode oder technischen Ausführungsmaßnahmen, wie bei ärztlichen Eingriffen des realen Hintergrundes nicht ermangeln, überhaupt wenn solche Dinge auszulaufen scheinen in einer für den Vermögens- bestand, die persönliche Sicherheit, Freiheit oder der Kultur ent- sprechenden Entwicklung abträglichen Endtatsache. Denn in dem- selben Moment sind sie auch eine ihn individuell nahe angehende Angelegenheit, sie sind eben erstarkt, sie sind aus einem Interesse geworden zu einem berechtigten Interesse des § 193.

Gewissermaßen ein Prüfstein in der Kichtung, ob unser Inter- esse den Boden des ausschließlich Idealen verlassen hat, ist gegeben in der Reflexion, ob die öffentlichen Behörden verpflichtet und ge- halten sind, auf unser angebliches Rechtsbegehren nicht bloß zu ant- worten, sondern zu entscheiden. Und zwar dieses den Umständen nach erst nach stattgefundener causae cognitio und Beschwerde vor- behalten. Denn alle Dinge, welche ausschließlich das Empfindungs- und auch das Gesellschaftsleben betreffen, gehören nicht dahin.

Steht nun aber fest, daß dasjenige Interesse, dessen Wahrneh- mung nicht ohne Angriff auf die fremde Ehre sich ausgelöst hat, ein Rechtsinteresse ist, so geht es nicht an, nach Rechtsgrundsätzen zu forschen, welche auch die Entscheidung treffen, daß dieses Inter- esse im Kollisionsfalle auf Kosten fremder Ehre sich durchsetzen darf. Solche normative Vorschriften kann es nicht geben, so wenig eine Norm die Einzelhandlungen umschreiben kann, aus welchen die

110 Vm. ROTERING

Tötung resultiert. *) Das Menschenleben ist vielgestaltig, der Kom- plikationen sind unzählige, die Entscheidung ergeht von Fall zu Fall, sie hat zu berücksichtigen ^die Verhältnisse und Anforderungen des praktischen Lebens" ^), daß sich alles stößt und schiebt im Ver- kehr, der Gesellschaft, daß wie selbst das Eigentum, so auch einmal die Ehre sich Einschränkungen gefallen lassen muß, wenn anders die Koexistenz sich nicht zur Unerträglich keit gestalten soll ^)

Aber der Schwerpunkt der Prüfung ist darin gelegen, ob die Wahrung des Rechtsinteresses immerhin eine so intensive Beeinträch- tigung der Ehre gestattet Geht der Angriff zu weit, so wird das vom Vorsatz umfaßte Übermaß auch durch das Bewirkungsverbot gedeckt *) Und darin liegt das Korrektiv gegen den Mißbrauch der Preßfreiheit. Sogar an erster Stelle ist zu erwägen, ob nicht das „Abmachen in der Stille" eine zureichende Reaktion gewesen wäre? Die Öffentlichkeit ist ultima ratio.

Dies freie Ermessen unter Rücksicht auf alle Postulate des Ver- kehrslebens trifft aber auch den Umstand, ob eine den Redakteur selbst oder die durch ihn vertretenen Personen nahe angehende An- gelegenheit im Sinne Rechtens in Frage steht? Ob solchenfalls die Wahrnehmung der Rechtsinteressen Dritter durch den Berechtigungs- paragraphen noch gedeckt wird? Und in die Betrachtung fällt hier keineswegs bloß die gesetzliche Vertretungsmacht, wie solche für den Vater, den Ehemann, den Vormund sich der bestimmten Anerkennung erfreut, vielmehr hat das Verkehrsleben andere Rechtsbeziehungen gezeitigt, welche, wo der Einwand aus dem Berechtigungsparagraphen einmal erhoben wird, nicht ignoriert werden dürfen. So kann die häusliche oder familiäre Aufsicht eine öffentlich rechtliche oder pri- vatrechtliche Haftpflicht begründen (§§ 5 resp. 11 Preuß. Feld- und Forst-Pol.Ges. resp. Forstdiebst.Ges., § 18 Wildschon-Ges.).

Ahnliches gilt für den Leiter von Versammlungen, für die Vor- steher von Vereinen, soweit Ordnungswidrigkeiten behauptet sind, die Unwürdigkeit von Mitgliedern, deren notwendiges Ausscheiden die Rechtsbeziehungen der Verbleibenden nicht unbeeinflußt läßt, überhaupt für die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, welche bei bestimmten Vorkommnissen öffentlich rechtliche Nachteile nach sich zieht. So der Verdacht,«^) „in sittlicher, artistischer und finan-

1) Finger, Lehrb., S. 103.

2) V. Bülow, I. c, S. 284.

B) Kohler, 1. c, S. 101 und f.

4) Goltd.Arch. 53, S. 298, E. Kassel.

5) § 32 Gewerbe-Odff.

Presse und Recht. 111

zieller Hinsicht^^ oder hinsichtlich solcher Tatumstände, welche für eine polizeiliche Erlaubnis, Genehmigung, Konzession von Belang sind, oder die polizeiliche Schließung eines Vereins. Solche Gesichts- punkte ergeben ein umfassendes Gebiet der Rechtsinteressen, welche auch der Kedakteur^ falls die öffentliche Erörterung nun einmal nicht zu umgehen ist, durch die Presse verfolgen darf, falls der Kechts- nachteil ihn selbst nicht würde unberührt lassen, oder solche Per- sonen nicht, deren Kechtsinteressen zu wahren er berufen ist. und der Redakteur der Fachpresse, als einer Zeitschrift, welche von einem Unternehmen zu dem Zwecke gegründet ist, dessen Interessen zu wahren, nimmt den Berechtigungsparagraphen soweit in Anspruch, als er glaubt, nur auf dem Wege der Öffentlichkeit Nachteile von dem Unternehmen fernhalten zu können. Nur ist die Parteipresse nicht auch eme Fachpresse, so wenig als das Rechtsinteresse ^) der Partei oder eines Genossen als solches schon jeden anderen Genossen betrifft, das bloße Mitgefühl aber noch vor der Schwelle des Rechts- lebens erstirbt.

Scheint aber das Ergebnis dieser Betrachtung abzuschließen mit einer gar zu großen Unterbindung einer gewissen Preßfreiheit, welche das lesende Publikum in Anspruch zu nehmen beliebt, so gestaltet sich in der Praxis die Rechtslage immer noch als eine mehr zufrie- denstellende. Denn zunächst ist Gerichtssaal B. 62 S. 44 darauf hingewiesen, daß ein Schuldausschließungsgrund dann gegeben ist, wenn die Presse die Publikation zur Abwendung einer konkreten Gefahr von den Volksgenossen für unentbehrlich erachtete. Ohne diesen auf dem Wege der Analogie gewonnenen Schuldausschließungs- grund kann das Leben nicht bestehen. Die Körperverletzung, Ope- ration, Perforation, die Sachbeschädigung, Entgleisung des Trans- ports,^) zu Zwecken des Rechtsgüterschutzes unternommen, führen sonst zu Urteilen, welche dem Rechtsbewußtsein widersprechen, das im Volke lebt. Und schließlich beseitigt die irrtümliche Unterstellung der Interessenerheblichkeit 3) und Publikationsnotwendigkeit das Be- wußtsein der Rechtswidrigkeit, wenn nur das, was verkannt ist, ins Gebiet des Tatsächlichen hineinfällt.

1) E.R.G. Goltd.Arch. 36, S. 165.

2) Olsbausen, Komm., § 315, Note 11.

3) Kohler, 1. c, S. 113, 117.

IX. Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter

nebst Vergleichen mit unserer modernen kriminalpolitischen Hcfonnbewegung

von Professor Dr. Ij. Qüiither, Giessen.*)

„Ceux qui veulent acqulrir ane connais- sance exacte de la mani^re dont il faut 6tablir ou abroger les lois ne la peuvent puiser que dans l'histoire.'^ Friedrich der Große in seiner ^Dis- sertation sur les raisoDs d'ltablir on d'ab- roger les lois" (Oeuvres de Frederic le Grand, T. IX [Oeuvres philos., T. II], BerL 1848, p. 11).

Die Geschichte des Strafrechts, das grofie Buch von dem zu allen Zeiten sich wiederholenden Kampfe der Begierden und Leiden- schaften des Einzelnen gegen die staatliche Ordnung, enthält begreif-

*) Die Abhandlung stellt die Erweiterung eines Vortrags dar, der von mir am 17. November 1906 in einer Gießener, aus Mitgliedern aller Fakultäten ge- bildeten akademischen Vereinigung gehalten worden. In diesem war daher einer- seits auf manches näher eingegangen, was dem Kriminalisten im wesentlichen bekannt ist, andererseits wieder zu genaues juristisches Detail vermieden worden. Bei der nachträglichen Umarbeitung des Vortrags für den Druck sind dann im eigentlichen Text einige Stellen gestrichen, andere dagegen durch Zusätze ver- mehrt worden, während die hinzugefügten Anmerkungen noch Einzelheiten, nament- lich aber Quellen- und Literaturbelege bringen. Eine völlige Erschöpfung des Themas lag nicht in meiner Absicht; sie wäre auch schon dadurch vereitelt worden, daß mehrere Werke aus dem 18. Jahrhundert mir leider nicht zugänglich waren. Die Mitberücksichtigung derselben würde freilich wohl kaum viel geändert haben an dem Gesamtbilde der kriminalistischen Aufklärungsbewegung des IS. Jahr- hunderts. Mit der Skizzierung dieses Bildes, wie es sich besonders bei uns in Deutschland gezeigt, wollte ich einen ergänzenden Beitrag liefern zu der bisher (ab- gesehen etwa von Rieh. L ö n i n g s Abhandlung in d. Z. f. d. ges. Str.-W., Bd. S. S. 2 19 ff. [stellenweise] und E Landsberg, Geschichte der deutschen Rechts- wissenschaft III, 1. Abtlg., München und Leipz. 1S98, S. 3S6ff.) fast lediglich in der Form von einzelnen Monographien erschienenen Literatur über das Strafrecht der Aufklärungsepoche (vgl. v. L i s z t , Lehrbuch des deutschen Strafrcchts, 14./15. Aufl., Berlin 1905, § 7, S. 33). Abeggs Abhandlung im „Gerichts-

Die Straf rechtsreform im Aufklärunjcszeitalter. 113

licberweis^ viel trübe und finstere Blätter, die uns Kunde geben nicbt nur von dem Übermut und der Verworfenheit verbreeheriscber Mitmenschen, sondern leider auch von der Willkür, dem Fanatismus und der Grausamkeit der über jene urteilenden Richter; dazwischen zerstreut finden sich aber doch auch einzelne hellere, freundlichere Bilder, auf denen noch in der Gegenwart unser Blick nicht ungern verweilt, da sie uns einen Kulturfortschritt der gesamten Menschheit zeigen. Dahin gehört auch die kriminalpolitische Beformbewegung in der sog. Aufkläxungszeit nach der Mitte bis zum Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts, eine Bewegung, die ein unter langer Herr- schaft veralteter, zum Teil barbarischer Strafgesetze zurückgehaltenes freieres Denken und humaneres Empfinden gleichsam mit elemen- tarer Gewalt zum Durchbruche gebracht und sodann auch in der Gesetzgebung zum Siege verhelfen hat. *) Es ist um mit Josef Kohler 2) zu reden „ein interessanter Zug der Völkerpsychologie, wie sich auf einmal die Völkerseele, die den Verbrecher mit Feuer und Schwert verfolgte, dringend seiner annimmt und ihn als ein Opfer der Gerechtigkeit bedauert/* Hierbei lag nun freilich die Ge- fahr nahe, daß der allzu „ungestüme Humanitätseifer'' in eine „krankkafte Sentimentalität*^ ausarte, und dieser Gefahr

saal", Bd. 15 (1863), S. 108 ff über ^Die Bestrebungen für Reform der Strafgesetz- gebung in der sog. Aufklärungsepoche am Ende des vorigen (d. h. 18.) Jahr- hunderts*^ ist trotz des ganz allgemein gehaltenen Titels hauptsächlich nur eine literärgeschichüiche Studie über eine einzelne Schrift (Karl v. Dalbergs ^Entwurf eines Gesetzbuchs in Kriminalsachen *", 1792). Auch L. Maiila rd, £tude historique sur la politique criminelle, (Paris 1899) enthält nicht das, was man nach dem Titel wohl erwarten konnte.

1) S. Richard L 5 n i n g in der Z. f. d. ges. Str.-W., Bd. 3 (1S83), S. 248, 249, der mit Recht hinweist auf den Zusammenhang der damaligen kriminalpolitischen Bewegung mit der allgemeinen „großen geistigen Umwälzung*^, die fast alle Ge- biete des menschlichen Lebens (Staatswesen, Literatur, Kunst, Philosophie usw.) ergriffen hatte, und die wir „kurz und treffend als definitive Abschüttelung und Überwindung des Mittelalters und seiner geistigen Unfreiheit bezeichnen können*^. Vgl. auch Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Bd. L, Leipz. 1861, § 56, S. 312: Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrecbts, II (Eriangen 1891), S. 161 u. Ann. 352. Daß auch unsere moderne strafrechtliche Reformbewegung „in engem Zusammenhangt steht „mit Wandlungen, die das geistige und gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit ergriffen", hebt u. a. richtig hervor F. Kitzinger, Die inter- nationale kriminalistische Vereinigung (Betrachtungen über ihr Wesen und ihre bisherige Wirksamkeit), München 1905, S. 3.

2) Einführung in die Rechtswissenschaft (1. Aufl., Leipz. 1902, S. 149), 2. verb. u. verm. Aufl., Leipz. 1905, S. 163.

Aichir ffir Kriminalanthropologie. 28. Bd. 8

114 IX. GüNTHEK

ist man damals in der Tat vielfach nicht entgangen. ^) Auch sonst noch hat man den Schriftstellern jener Zeit, die ja ^wie keine andere vorher oder nacher mit blinder Einseitigkeit" nicht nur „bewundert", sondern auch „geschmäht . . . worden ist" 2), gar mancherlei zum Vorwurfe gemacht, wie u. a. die allzu starke „Verachtung gegen alles historisch tTberlieferte*' ^) neben einer „grenzenlosen Erwartung von der gegenwärtigen Zeit" ^), einer „maßlosen Über- schätzung des eigenen Verdienstes und der eigenen Kraft" *), eine Scheu vor gründlicher wissenschaftlicher Forschung, ja eine teilweise in „leere Phraseologie'' aufgehende Oberflächlichkeit«)

t) Vgl. dazu etwa Hälschner, Geschichte dos brandenb.-preußischen Strafrechts, Bona 1855, S. 161; Glaser, Gesammelte kleinere Schriften über Strafrecht, Zivil- und Strafprozeß, Bd. I (Wien 1868), S. 25; Geib , a. a. 0. S. 312. Noch in der Aufklärungsepoche selber machte sich eine gewisse Reak- tion gegen die „übertriebene Gclindigkcif^, gegen eine „falsche Humanität'' usw. mancher Schriftsteller bemerkbar. Vgl. z. B : J. Fr. M a 1 b 1 a n k , Geschichte der P. G.-O. KaiserKarls V., Nümb. 1783, § 52, S. 236 („übertriebene E m p f i n d e 1 e i ^) u. bes. Chr. Gottl. Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen, Tüb. 1785, Vorrede, S. XUI, XIV, § 15. S. 35 u. § 16, S. 36, 37 („gezwungene Modeempfindel ei, welche oft die Vernunft bei Seite leget") ; vgl. auchnoch unten S. 125, Anm. 3. Ausdrückliche Zurückweisung solcher Voi-würfe aber bei H. A. Vezin (in der unten S. 131, Anm. 2 angeführten Schrift, S. 111 [Anm. 12], Note b). Über den auch der modernen Reformbewegung gemachten Vorwurfzu großer Milde gegenüber den Verbrechern s.noch unten S. 120, Anm. 2, a.E.

2) Fr. V. Liszt, Meineid und falsches Zeugnis, Wien 1876, S. 129. Eine Reihe abfälliger Urteile über die Aufklärungszeit im allgem. (aus dem An- fange des 19. Jahrh.) ist angeführt bei Ab egg im Gerichtssaal *", Bd. 15 (1863), S. 114 u. Anm. 11, S. 115 u. Anm. 12, S. 117, Anm. 13 a. E.; vgl. auch Geib, a. a. 0. S. 112. Eine allgemeine „Geschichte der Aufklärungsbewegung" von Prof. Dr. E. Troeltsch wird in dem von G. v. Below u. F. Meinecke herausgegebenen „Handbuch der mittelalterlichen u. neueren Geschichte" erscheinen.

3) Geib, a. a. 0. S. 312 u. § 57, S. 320; vgl. auch Löning, a. a. 0. S. 249 u. Glaser, Übersetzung von Beccaria „Über Verbrechen und Strafen", 2. Aufl., Wien 1876, Vorwort (zur 1. Aufl.), S. 3.

4) V. Savigny, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechts- wissenschaft, Heidelb. 1814, S. 4; Geib, a. a. 0. S. 312.

5) Geib, a. a. 0. S. 312; vgl. Löning, a. a. 0. S. 250. Prof. Claproth in Göttingen meinte z. B. in der „Vorrede" zu seinem nichts weniger als vollkommenen, 1774 veröffentlichten Entwurf eines Kriminalgesetzbuchs (vgl. unten S. 128, Anm. 1) „daß man dagegen alles vertauschen könne, was wir von Kriminalsachen haben", u. Karl v. D a 1 b e r g wollte es den Universitätslehrern „verstatten", von seinem „Entwurf eines Gesetzbuchs in Kriminalsachen ** (1792) „einen Auszug zu fertigen und zu ihren Vorlesungen drucken zu lassen*. Über H. A. Vezin s. Löning, a. a. 0. S. 251.

6) S. Geib, a. a. 0. S. 312 vbd. mit Glaser, Übersetzg. von Beccaria, Vorw. S. 4; vgl. auch Günther im Archiv f. Strafr., Jahrg. 48 (1901), S. 1,

Die Strafrechtsreform im Anfklärungszeitalter. 115

Allein diese Mängel erscheinen doch zu einem guten Teile mindestens entschuldbar. Man denke nur an den damaligen niedrigen Stand der rechtshistorischen Forschung '), an die eben damit wieder zusammenhängende fast alleinige Herrschaft des sog. Naturrechts auf rechtsphilosophischem Gebiete ^j; ja selbst eine gewisse Oberflächlichkeit war gleichsam unvermeidlich, wollte man endlich einmal ein allgemeineres, über den engen Kreis der Fach- gelehrten hinausgehendes Interesse für die Schäden der bisherigen Strafgesetzgebung erwecken. ^) Wenn schließlich heute uns Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts bei der so viel größeren Mannig- faltigkeit aller Lebensverhältnisse, bei der ungeheueren Veränderung der religiösen, politischen und sozialen Anschauungen manches von dem, was die Aufklärer erstrebt und erreicht haben, bereits als selbst- verständlich oder doch geringfügig, anderes wieder als ver- fehlt oder sonderbar erscheint, so sollten wir das eine doch niemals vergessen, daß erst seit jener Zeit unsere Strafgesetzgebung von den Fesseln befreit worden, die ihre ersprießliche Fortentwicklung bis da- hin noch gehemmt hatten, ja daß sie, wie wohl unser bedeutendster Krirainalpolitiker der Gegenwart, Franz v. Liszt, sich ausgedrückt hat *)j „ihre ganze Kraft aus dem vielgeschmähten Jahrhundert der Aufklärung geschöpft^ hat.

Anm. 1 u. im G.-S. 6], S. 181, Anm. ]. Schon K. v. Grolman, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, Vorwort (zur 1. Aufl., Gießen 1798), S. IV hat ^das viele seichte Räsonnieren und Deräsonnieren über Gegenstände der Philo- sophie des Kriminalrechts und der Kriminalgesetzgebung^ getadelt.

1) Ausführlicher hierüber L ö n i n g , a. a. 0. S. 273 („Von der Bedeutung der Rechtsgeschichte als Schlüssel für den Geist des bestehenden Rechts hatte man noch keine Ahnung''); vgl. auch Glaser, Übersetzg., Vorwort S. 4 u. Anm. * * ♦. Über die Verachtung des röm. Rechts und der Carolina s. noch unten S. 149. Anm. 3 u. S. 168, Anm. 3.

2) S. Abegg in G.-S. 15, S. 114ff, 117; Löning, a. a. 0. S. 275ff. (mit weitei'en Literaturangaben); vgl. i. allg. auch R. Frank, Naturrecht, geschicht- liches Recht und soziales Recht, Leipz. 1891; Solari, La scuola del diritto naturale nelle dottrine ethico-giuridiche dei secoli XVII e XVIII, Torino 1906.

3) S. darüber bes. Glaser, Übersetzg. von Beccaria, Vorwort S. 4, 5 ; vgl. Günther im Archiv f. Strafr., Jahrg. 48, S. 1, Anm. 1; über den Vor- wurf der „Phraseologie*^ s. auch Prof. E.Mayer in der „Beilage zur (Münchener) Allgem. Zeitung*^ v. 2. Mai 1902 (Nr. 101), S. 218, Sp. 2.

4) Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 5. Aufl., 1892, S. 64 )v vgl. auch F u 1 d , Die Ergebnisse der Strafgesetzgebung, in der „Gegenwart" v. 15. Dez. 1906 (Jahrg. 36, Nr. 50), S. 369: „Blicken wir uns unter den Ergebnissen der Strafgesetzgebung um, so konstatieren wir sofort die Tatsache, daß die Einflüsse des 18. Jahrhunderts und der Aufklärungsphilosophie, über welche vom hohen Piedestal herunter mit mitleidigem Spott sich zu äußern lange Zeit für wissen-

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116 IX. Günther

Gerade in unseren Tagen nun, wo die seit einigen Jahrzehnten auf eine ^Reform" des Straf rechts „an Haupt und Gliedern* ge- richteten Bestrebungen ihrer demnächstigen Erfüllung entgegensehen, schweift der Blick des Rechtshistorikers unwillkürlich zurück in die Vergangenheit, um die heutige Reformbewegung einmal mit jener älteren zur Zeit unserer Urgroßväter zu vergleichen. Eine solche Vergleichung ergibt wie man schon öfter kurz hervorgehoben hat ^) einerseits in mehr als einer Beziehung ganz überraschende Ähnlichkeiten, während anderseits begreiflicherweise auch wesentliche Unterschiede hervortreten.

Eine Ähnlichkeit zeigt sich um dies vorweg zu betonen zunächst schon äußerlich in der Entstehung und Ausbreitung beider Bewegungen. Sie tragen nämlich beide sozusagen einen inter- nationalen oder kosmopolitischen Charakter.^) Im achtzehnten Jahrhundert sind es vor allem die Franzosen, dann auch die Italiener gewesen, von denen der Anstoß zur Umgestaltung des Strafrechts ausging; darauf aber hat Deutschland die unbestrittene Führerschaft auf diesem Gebiet übernommen, so daß es selbst von seinen gallischen Nachbarn neidlos als ;;der Mittelpunkt^ der ganzen Bewegung an- erkannt worden ist ^) ; und in der Neuzeit hat sich dieser Kreislauf

schaftlich galt, doch weit, weit erheblicher sind als diejenigen des 19. Jahr- hunderts.^

1) Zu Tgl. u. a.Hagerup (auf dem nord. Juristentag in Kopenhagen 1S90), 8. Mitügn. der L K. V., Bd. 3 (1891), S. 102 u. Anm. 22; Zucker, Einige kriminalistische Zeit- und Streitfragen der Gegenwart, im G.-S. Bd. 44 (1S91), S. Iff.; Stooß in den Berichten der 1. Yersammlg. der Schweiz. Landesgruppe der I. K. V., Bern 1891 (S.-A. aus der Schweiz. Z. für Strafr., Heft 3), S. 21; Günth'er, Idee der Wiedervei^ltung, II (1891), Vorwort S. VII— IX u. Anm. 9 ff.; derselbe im Archiv f. Strafr., Jahrg. 48 (1901), S. 2, 3u. Anm. 5; Ad. Merkel, Vergeltungsidee und Zweck- gedanke im Strafrecht, Straßb. 1892, bes. S. Iff., 3ff., 10, 31, 44ff., 49, Anm. 1, 64; V. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vortrage, Berlin 1905, Bd. II, S. 135 ff. u. 139 ff.; s. auch noch Fritz Berolzheimer, System der Rechts- und Wirt- schaftsphilosophie, Bd. V (Strafrechtsphilosophie und Straf rechtsreform), München 1907, S. 25, 228, 231ff., 255 sowie die unten S. 121, Anm. 1 angeführten Stellen.

2) Manche Autoren des 18. Jahrhunderts erklären ausdrücklich, daß sie nicht „nur für eine einzige Nation'^, sondern „für die ganzeMenschheit*^ ge- schrieben hätten. So : Gaetano F i 1 a n g i e r i (vgl. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 185 ff., Anm, 461 ff.) in seinem Werke: La scienza della legislazione, Napoli 1780 ff., deutsch („System der Gesetzgebung") von Link, 3. verb. Aufl., 180S, Bd. rV, Buch 3, Teil 2, Kap. 46, S. 429. Auch die zahlreichen Gesetzentwürfe dieser Zeit sind in der Regel nicht speziell gerade für einem bestimmten Staat angefertigt worden.

3) Der spätere Girondist Jean Pierre Brissot de Warville hat schon 17S2 Deutschland als das „centre des reformes politiques*^ bezeichnet, s'^coulent

Die Straf rechtsrefonn im Aafklämngazeitalter. 117

gleichsam wiederholt So hat ohne Zweifel z. B. die berühmte Lehre des Italieners Lombroso und seiner juristischen Anhänger (Ferri, Garofalo u. a. m.) yom ,^eborenen Verbrecher" oder der Hinweis des geistvollen Tarde 0 und anderer Franzosen auf die sozialen Faktoren des Verbrechens auch bei uns Deutschen auf die moderne, psychologisch-soziologische Auffassung vom Straf recht eingewirkt; das meiste über „Kriminalpolitik'' ist dann aber entschieden jetzt wieder in Deutschland geschrieben worden. Auch bei der Gründung der speziell der Ausbreitung der neueren Reformbestrebungen ge- widmeten — „internationalen kriminalistischen Vereinigung" im Jahre 1889 stand ein Deutscher, v. Liszt, als „die Seele des Unternehmens" an der Spitze ^), und deutschem Gelehrtenfleiße zu verdanken sind die als Basis für die Umgestaltung des geltenden Rechts anzusehenden großartigen Sammelwerke „Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechts vergleich ender Darstellung" und die auf Anregung des Reichs- justizamts erscheinende, zur Zeit noch nicht abgeschlossene „Ver- gleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts." ^) Ein Hinweis auf diese Arbeiten läßt uns nun aber zugleich auch einen wesentlichen Unterschied zwischen unserer modernen Reform- bewegung und derjenigen des achtzehnten Jahrhunderts erkennen, nämlich: die viel fachwissenschaftlichere Behandlung des Gegenstandes in der Neuzeit. Während jene ältere Bewegung aner- kanntermaßen in erster Linie nicht von den eigentlichen Kriminalisten ausgegangen, vielmehr zunächst von philosophisch denkenden, phil- anthropisch gesinnten Männern aus allen Fakultäten gefördert worden ist^), deren Spuren die strenge Fachwissenschaft sogar anfangs nur

et 66 vendent taDt de livres snr la I^gislation'*; vgl. G. W. Böhmer, Handb. der Literatur des Kriminalrechts, Gott 1816, S. 231.

1) S. bes. dessen „CriminalitS compar^e'', Paris 1886, 4. Aufl. 1898; vgl. Ku- rella, Cesare Lombroso u. die Naturgeschichte des Verbrechens, Hambg. 1892, S.41ff.

2) Kitzinger, Die L K. V., S. 4 u. Anm. 1. Auch der Mitgliederzahl nach nimmt Deutschland die erste Stelle in der Vereinigung ein (näheres das. S. 4—6). Während schon 1889 eine deutsche „Landesgruppe*^ gebildet worden, ist in Frankreich eine solche erst im Jahre 1905 zustande gekommen; s. Mitügn. der L K. V., Bd. 13 (1906), S. 647.

3) Obwohl dieses (seit 1905 in Berlin bei Liebmann erscheinende) ^in seiner Art einzig dastehende Standard work'* (H. Groß im Archiv für Krim.- Anthrop., Bd. 26, S. 68) „ursprünglich nicht als Vorbild irgend einer natio- len Gesetzgebung gedacht war", sind tatsächlich doch „bei der Fortführung in erster Linie die Interessen der deutschen Gesetzgebung"^ ins Auge gefaßt worden, was V. Liszt schon im Jahre 1902 als wünschenswert bezeichnet hatte (s. dessen Strafrechtl. Aufsätze und Vorträge, II, S. 432).

4) S. darüber bes. Löning in d. Z. f. d. ges. Str.-W. Bd. 3, S. 249 und

118 IX. GÜNTHEB

zögernd zu folgen wagte ^), haben in der Gegenwart von vornherein vor- wiegend die Jurifiten die Bewegung geleitet, und erst nach und nach im letzten Jahrzehnt allerdings in stetig zunehmendem Maße haben sich ihnen auch „Laien^ als Bundesgenossen angeschlossen, so zunächst die teilweise durch Lombrosos Schriften angeregten Medi- ziner, insbesondere die Psychiater, sodann neuerdings, wo sich namentlich die wichtige Frage nach der Willensfreiheit der Verbrecher (bezw. der Zurechnung und der Berücksichtigung der Vergeltung bei der Strafe), wie man wohl gesagt hat, zu einem Kampfe „zweier Weltanschauungen^ zugespitzt hat^), auch einzelne Theologen und Philosophen. 3)

278; vgl. auch R. Frank, Die WolfTsche StrafrechtsphiloBOphic und ihr Ver- hältnis zur kriminalpol. Aufklärung des IS. Jahrhdts., Gott. 18S7, S. 86 u. insbes. über die französ. Aufklärung: Rieh. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, Leipzig 1895, S. 248.

1) Daß die kriminalpolitische Aufklärungsliteratur zunächst als eine von dem eigentlichen positiven ^peinlichen Recht" noch scharf getrennte Richtung erschien (s. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswiss. III 1, S. 462) zeigt sich recht deutlich z. B. bei G. A. Kleinschrod, der in der „Vorrede'* zu seiner „Systematischen Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinl. Rechts u. s. w. (1. Aufl. 1793 ff.), 2. Aufl. Erl. 1799, S. 1 ausführt, daß „die Schriftsteller sich entweder bloß mit der Natur der Sache und Kriminalpolitik oder bloß mit dem peinlichen Rechte, wie es ist^ beschäf- tigten, um dann den von ihm unternommenen Versuch zu motivieren, „das positive Recht in Verbindung mit den allgemeinen philosophischen Wahrheiten vor- zutragen". Später hat dann die strafrechtliche Doktrin nach Vorgang der gerichtlichen Praxis die Reformbewegung nicht nur als berechtigt anerkannt und ihre Forderungen näher geprüft, sondern sogar „sich . . selbst zur Trägerin und Führerin dieser Bewegung gemacht"; s. Loning, a. a. 0., S. 249 n. 273, der übrigens darin „einen Fehler" erblickt, an dessen Folgen die Strafrechts- doktrin noch heute zu laborieren habe; vgl das. auch noch S. 287.

2) So u. a.: Birkmeyer, Gedanken zur bevorstehenden Reform der deut- schen Strafgesetzgebung, im Archiv für Straf r., Jahrg. 48 (1901), S. 79. Ferd. Ton nies, Straf rechtsreform («„Moderne Zeitfragen", herausgeg. von Dr. Hans Lands berg, Nr. 1.), Berlin 1905, S. 11 bezeichnet die „verschiedene Art des Denkens über die Freiheit des Willens" als „das Wegekreuz", das den Zugang zu einem objektiven, wissenschaftlich gültigen Urteil über die Grundfragen des Straf rechts „versperrt". Eine zusammenfassende Übersicht über die Frage nach der Willensfreiheit (nebst Angabe der wichtigsten Literatur bis zum Jahre 1905) enthält J. Petersen, Willensfreiheit, Moral und Straf recht, München 1905; dazu noch W. V. Rohland, Die Willensfreiheit und ihre Gegner, Leipzig 1906; vgl. auch die folgende Anm. sowie die ausführl. Lit.- Angaben bei Berol zheimer, System V., § 5, S. 57, 38, Anm. 1.

3) Die wichtigsten neueren Schriften und Aufsätze kriminalpolitischen In- halts von Theologen und Philosophen sind zusammengestellt bei Birk- meyer, Strafe und sichernde Maßnahmen, Münchener Rektoratsrede, 1906, S. 27,

Die Strafrecbtsreform im Aufkläniogszeitalter. 119

Bei sämtlichen Schriftstellern beider Epochen zeigt sich Einig- keit in der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden^) in der „Negation", dem Wunsche nach „Vernichtung" oder Beseitigung der für unhaltbar erklärten geltenden Rechtszustände 2), ins- besondere in der Bekämpf ung des herrschenden Strafensystems; und es kann nicht sonderlich auffallen, daß sowohl die ältere als auch die neuere Eeformbewegung speziell hiervon ihren Ausgang genommen hat. Sind es doch ^gerade die Straffolgen, . . die jedermann am meisten zum Bewußtsein kommen und gegen die sich am ehesten der Sturm der allgemeinen Entrüstung entfesseln läßt", während etwa „die Formulierung der Tatbestände" einzelner Verbrechen u. dergl. „eine mehr technische Frage ist, bei der sich nur selten ein Reform-

Anm. 1 u. 3. Hen^orzuheben sind vou den ersteren außer der Tendenzschrift des Jesuiten Viktor Cathrein (Die Grundbegriffe des Straf rechts, eine recbts- philosophiscbe Studie, Freiburg i. B. 1905) bes.: v. Roh den, Das Wesen der Strafe im ethischen und strafrechtl. Sinne (aus den theolog. Arbeiten des rhein. Prediger-Seminars, N. F. Heft 7, S. 47fP.), Tüb. 1904, Paul Drews, Die Re- form des Straf rechts und die Ethik des Christentums, in den „Liebensf ragen**, herausgeg. von H. Weinel, Tüb. 1905, F. A. Karl Rrauß, Der Kampf gegen die Vorbrechensursachen, übersichtlich dargestellt für alle Volks- und Vaterlands- freunde, Paderborn 1905; von den letzteren: Th. Lipps, Der Begriff der Strafe, in derMonatsschr. f. Kriminalpsychologie usw., Bd. 3, 1906, S. 279 ff. und schon aus früherer Zeit etwa: £. Laas, Vergeltung und Zurechnung, in der Vierteljahrs- schrift für wiss. Philos., Jahrg. 5. (1881), S. 137 ff., 296 ff., 448 ff. u. Jahrg. 6. (1882), S. 189 ff., 295 ff. und J. Niemierower, Der Zusammenhang von Willensfreiheit, Gewissen, Belohnung und Strafe («s Bemer Studien zur Philos. u. ihrer Ge- schichte, herausgeg. v. L. Stein, Bd. 2, Bern 1896). Auf die rege Beteiligung der Mediziner an kriminalpolitischen Fragen in den letzten Jahren braucht an dieser Stelle wohl nicht noch besonders hingewiesen zu werden. Gegen eine zu befürchtende „Präponderanz der Psychiater im Strafrecht* bes. Birkmeyer in seiner Schrift ^Was läßt von Liszt vom Straf recht übrig ?^, München 1907, S. 57 ff.; s. dazu TesarinGroß' Archiv, Bd. 26, S. 65, 66.

1) Merkel, Vergeltungsidee und Zweckgedanke, S. 3.: „In beiden Perioden tritt ein großer Reformcifor und eine entschiedene Unzufriedenheit mit den bestehenden Einrichtungen hervor, die wirklichen oder vermeintlichen Grundlagen derselben werden zu einem Gegenstande des Angriffs'*. Aehnlich V. Liszt, Straf r. Aufs, und Vorträge, II. S. 135.

2) Für die Aufklärungszeit zu vgl. u. a.: G. W. Böhmer, Handb. der Lit des Kriminalrechts, § 4, S. 9: „Über die Mängel des Kriminalwesens gibt es nur eine Stimme'^ (was S 10 ff. durch Anführungen aus der Literatur des 18. Jahrh. näher bewiesen wird) ; Ed. Henke, Handb. des Kriminalrechts usw., Beri. u. Stattg. 1821, I, S. 49; Geib, Lehrb. I, § 57, S. 320 (mit Anführung von Voltaires Anspruch: „Voulez-vous avoir de bonnes lois? brülez les vötres et faitesen de nouvelles'* (Dict. philos., 6d. stör. Par. 1809, T. XI, Art. „Lois", sect I. p. 20]); Glaser, Übersetzung, von Beccaria, Vorwort, S. 3; v. Liszt; Meineid u. falsches Zeugnis, S. 129; Löning in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 3,

120 IX. Günther

bedürfnis mit elementarer Gewalt geltend macht/ *) Genaner be- trachtet zeigt sich dabei freilich in der älteren Bewegung eine andere, einseitigere Tendenz als in der heutigen. Die kriminalistischen Stürmer und Dränger jener Zeit, ganz erfüllt vom Geiste der Hu- manität, die man damals wohl geradezu als den „sechsten Sinn*^ bezeichnet hat (Servan), erstrebten fast ausschließlich die Milde- rung für unzeitgemäß gehaltener Härten, während in der Gegenwart die Verbesserungsvorschläge nur teilweise auf eine Abschwächung, teil- weise dagegen auch auf eine Verschärfung des heutigen Strafvollzugs gerichtet sind 2), was sich hauptsächlich aus der viel genaueren Son- derung der verschiedenen Verbrecherklassen" (so besonders der Gelegen- heits- oder Augenblicksverbrecher und der [besserungsfähigeaund unver- besserlichen] Gewohnheits- oder Zustandsverbrecher) erklärt ^) Übrigens

S. 248 ff.; Günther, Idee der Wiedervergeltung II, S. 196, 197 n. Anm. 520, S. 228 u. Anm. 624; derselbe im Archiv f. Strafr., Jahrg. 4S, S. 1 u. Anm. 3; für die Gegenwart s. bes. v. Liszt, Lehrbuch des deutsch. Strafrechts, 14/15. Aufl., Berl. 1905, §15, S. 74, Nr. II; vgl. auch Zucker im G.-S. Bd. 44, S. 1, 2; Birkmeyer im Archiv f. Strafr., Jahrg. 48, S. 79 (im Anschl. an Frank in d. Deutsch. Jur.-Ztg. IV [1899], S. 146). Übrigens gilt natürlich was Abegg (G.-S. 15, 8. 116) von der Aufklärungszeit bemerkt, daß doch ^nicht bloß das Negieren des Bestehenden stattfand, sondern auch das Streben, etwas Positives, für recht und gut Gehaltenes an die Stelle zu setzen", erst recht von unserer modernen Reformbewegung. Dabei verbindet sich dann wohl auch heute, ganz ähnlich wie damals (vgl. oben S. 114, Anm. 3 ff.), „mit der pessimistischen Beurteilung des Bestehenden*^ leicht eine allzu „optimistische Auffassung des Erreichbaren'^. Merkel, Vergeltungsidee und Zweckgedanke, S. 8; vgl. auch Zucker im G.-S. 44, S. 5; Kitzinger, Die I. K. V., S. 53.

1) V. Lilienthal, Heidelberger Lehrer des Straf rechts im 19. Jahrhundert (S.-A.), Heidelb. 1903, S. 4.

2) Es ist bekannt, daß neben der Befürwortung von Hausarrest, Ver- weis, Wirtshausverbot, der Zwangsarbeit ohne Einsperrung, der bedingten Verurteilung und anderen hauptsächlich die Milderung des herrschenden Strafen- systems und Strafvollzugs anstrebenden Einrichtungen auch der Wunsch nach Wiedereinführung der Prügelstrafe und nach Verschärfung des Vollzugs der kurzen Gefängnisstrafen (durch hartes Lager, Kostfichmälerung, Lichtentziehung usw.) öfter wiederholt worden ist Ebenso gehört in diese Richtung der Vorschlag einer Hinaufrückung des Mindestmaßes der Freiheitsstrafen und namentlich das Verlangen der „Unschädlichmachung** der sog. „unverbesseriichen"^ Verbrecher (das übrigens, wie noch nachzuweisen ist, auch der Aufklärungs- zeit schon nicht ganz unbekannt gewesen; vgl. bes. unten S. 161, Anm. 1.) Mit Rücksicht hierauf erscheint der der modernen Reformbewegung wohl gemachte Voi-wurf zu großer Milde, eines Sympathisierens mit den Verbrechern usw. keines- wegs ohne weiteres berechtigt. Vgl. u. a. Linden au im Jurist. Literaturblatt v. I.Juli 1905 (Bd. 17, Nr. 6), S. 179, Sp. 1 u. Tesar in Gross' Archiv, Bd. 26, S. 66

3) Nach dieser, u. a. bes. von v. Liszt (Z. f. d. ges. Str.-W. 16, S. 516ff. Lehrb., 14/15. Aufl., § 14, S. 71, 72) aufgestellten Unterscheidung sollen bei der Strafe

Die Stiiifrechtsrefonn im AufkläruDgszeitalter. 121

/

sind die Reformbestrebungen beider Epochen nicht bloß bei der For- demng einer Umgestaltung der Strafarten und -Formen stehen ge- blieben, haben sich vielmehr von dieser bedeutsamen Vorfrage aus allmählich auf fast alle wichtigeren Fragen des Strafrechts (sowie auch des Strafprozeßrechts) erstreckt, und daß sich auf diesem ganzen weiten Gebiete mehr als einmal auch eine innere, sachliche Übereinstimmung in beiden Perioden feststellen läßt^ daß viele heute für neu gehaltene Ideen schon damals gleichsam vorgedacht sind, so daß man wohl unsere neuzeitliche Bewegung „in manchem Betracht ... als eine durch umfassendere Kräfte getragene Wieder- aufnahme^ der älteren bezeichnen kann % das wird die nähere Be- trachtung der wichtigsten Anschauungen der Aufklärungsschriftsteller sogleich ergeben.

Zuvor aber sei es gestattet, in aller Kürze den äußeren Verlauf der kriminalistischen Aufklärungsbewegung zu skizzieren und dabei noch speziell einiger jener Männer zu gedenken, die zuerst oder doch

entweder die Zwecke der Abschreckung und der Besserung (bei den Augen- blicks- und den besserungsfähigen Zustandsverbrechern) oder der Sicherung bezw. Unschädlichmachung (bei den sog. unverbesserlichen Zustandsverbrechern) vor- wiegend berücksichtigt werden; vgl. auch noch unten S. 160, Anm. 2. Gegen diese Klasseneinteilung u. a. aber: Birkmeyer im G.-S. Bd. 67 (1905), S. 409ff.; Kitzinger, die I. K. V., S. 133 ff.; Hugo Meyer-Allfeld, Lehrbuch des deutsch. Straf r., 6. Aufl., Leipzig 1907, § 3, S. 12 u. Anm. 10; Bin ding, Grund- riß des deutschen Strafrechts, Allg. Teil, 7. Aufl. (Leipzig 1907), § 85, S. 207 u. Anm. 1; z. Teil auchMittertoaier in der Schweiz. Z. f. Straf r., Jahrg. 14, (1901), S. 149 ff. (mit einem Verbesserungsversuch der Grappierung nach „dem psychi- schen Momcnf). Über andere Einteilungen der Verbrecher s. noch Fr. Be- rolzheimer, Die Entgeltung im Strafrechte, München 1903, 8. 478ff. ; Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 2. Aufl. Heidelbg. 1906, S. 175 ff.; Binding, Grundriß (7. Aufl.), S. 207/8, Anm. 1.

1) Merkel, Vergcltungsidee, S. 3; s. neuestens auch Binding, Grundriß, 7. Aufl., Vorwort, S. IV, Anm. 1, der aber doch entschieden zu weit geht, wenn er meint, „daß in der ganzen ,modemen Bewegung' nicht ein einziger neuer Gedanke aufgetaucht** sei, ausgenommen etwa die bedingte Verurteilung, woran übrigens die Aufklärungszeit auch schon Anklänge gekannt hat; b. unten S. 158, Anm. 2 u. 3. Gegen eine solche Auffassung der modernen Reformbewegung als eines bloßen „Abklatsches^' von derjenigen des 18. Jahrhunderts s. v. Liszt, Strafrechtl. Aufsätze, IL S. 380; vgl. auch Berolzheimer, System V, S. 228. Ein wichtiger Unterschied ist u. a. auch der, daß in der Aufklärungs- zeit „im Allgemeinen die Autonomie des Individuums im Vordergrunde der theoretischen Betrachtung'' stand (Merkel, a. a. 0., S. 46; vgl. auch Frank, Die Wolff'sche Strafrechtsphilosophie, S. 81), wogegen wir heute auch im Straf- recht den sozialen Charakter in erster Linie betonen. Näheres hierüber bei Merkel, a. a. 0., S. 45ff.; vgl. auch Mitteilgn. der L K. V. 3 (1891), S. 102 (Hagerup) u. Kitzinger, Die I. K. V., S. 3,

122 IX. GÜMTHEB

besonders nachdrücklich als unerschrockene ^Bufer im Streit^ für die neuen Ideen hervorgetreten sind, Männer, deren Namen in unserer schnelllebigen Zeit bereits zum Teil der Vergessenheit anheimgefallen sind, und deren Verdienste wir auch deshalb leicht unterschätzen, weil heute niemand mehr durch eine engherzige Zensur in der Verbreitung seines kriminalpolitischen Glaubensbekenntnisses gehemmt wird, „während damals die Opposition gegen die ,herrschende Meinung' gegen die Wünsche der Regierung, die Ansichten weltlicher oder kirchlicher Behörden nicht selten mit persönlichen Gefahren ver- bunden war." 0

In Frankreich, wo die Greuel der Straf Justiz des sog. anciea regime um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kaum noch einer Steigerung fähig waren, ist, wie schon bemerkt, der Anfang der kri- minalistischen Aufklärungsbewegung zu finden.^) Hier, wo schon Montesquieu, der „Vater der Kriminalpolitik", mit seinem „Esprit des lois" (174S), Rousseau mit seinem „(Tontrat social" (1762) das rechtsphilosophische Denken gefördert hatten, wo bereits die sog. Enzyklopädisten „für religiöse Aufklärung und Duldung^ ein- getreten und „gegen Fanatismus und Aberglauben" zu Felde gezogen waren, 3) wo endlich in Voltaire, dem großen „Apostel der Humanität^, den Willkürlichkeiten und Härten der Straf rechtspflege ein sehr erbitterter Gegner erstanden war, 4) hier war der empfäng-

1) Günther in Archiv f. Strafr., Jahrg. 48, S. 3 vbd. mit S. 6 u. Anm. 2b, S. 18 u. Anm. 80, S. 14 u. Anm. 83.

2) Za dem im folgenden kurz gcßchUderten Gang der kriminalpolitiBchen Aufklärungsbewegung in Frankreich finden sich ausfiihrlichere Literaturangaben u. a. in der Einleitung zu meiner Abhandig. über Jean Paul Marat als Krimi- nalisten, G.-S. Bd. 61 (1902), S. 161—177, worauf hier verwiesen sei; vgl. auch m. Idee der Wiedervergeltg. II, S. 161 ff.

3) So: Ed Hertz, Voltaire und die französische Strafrechtspflege im ach- zehnten Jahrhundert, ein Beitrag zur Geschichte des Aufklarungsieitalters, Stuttg. 1SS7, S. 123. Über die Enzyklopädisten s. jetzt bes. die Monographie von Alfr. Frhm. v. Overbeck, Das Straf recht der franzosischen Enzyklopädie, ein Beitrag z. Gesch. der Aufklärung im achtzehnten Jahrhdrt, Karlsruhe 1902 Heft 1 der Freiburger Abhdlgn. aus dem Geb. des öffentl. Rechts); vgl. auch Be- rolzheimer, System V, S. 220 u. Anm. 34—86. Neben vereinzelten, fiir das Strafrecht mehr indirekt bedeutsamen Beiträgen von Diderot und d'Alem- bert, den beiden Herausgebern der Enzyklopädie, jenes großen „Reallexikons des Zeitalters der Aufklärung*' (Windel band), sind hauptsächlich die Artikel des Chevaliers de Jaucourt als kriminalpolitisch wichtig zu nennen, während die von den beiden Pariser Parlamentsräten Toussaint und Boucher d'Ar- gis gelieferten das Strafrecht „lediglich in referierender (historisch-dogmatischer) Weise" dargestellt haben. Näheres bei v. Overbeck, a. a. 0. S. 6—11.

4) Ober das erste Auftreten Voltaires zu Gunsten der durch die Härte

Die Straf rechcsrefoim im Aufklärungszeitalter. 123

lichste Boden für kriminaliBtische Reformgedanken. Ein einzelner besonders greller, noch dazu konfessionell gefärbter Justizmord ans dem Jahre 1762, nämlich die Verurteilung und (durch die schreck- liche Strafe des Bäderns vollzogene) Hinrichtung des fälschlich der Ermordung seines ältesten Sohnes beschuldigten protestantischen £[auf manns Jean C a 1 a s in Toulouse, ^) ließ die schon lange glim- menden Funken zu vollen Flammen ausbrechen. In den weitesten Kreisen erregte der Ausgang dieses Prozesses großen Unwillen, und Voltaire, der sich sofort der hinterbliebenen Mitglieder der Familie Calas angenommen, ruhte nicht eher, bis nach einer Revision des Verfahrens die Unschuld des Verurteilten festgestellt worden. Höchst- wahrscheinlich ist aber dieser Calas- Prozeß auch die äußere Ver- anlassung gewesen für die Veröffentlichung der berühmten Schrift des italienischen Marquis Beccaria „Über Verbrechen und Strafen", die gleichsam mit einem Schlage die Blicke aller Gebildeten auf die Gebrechen der Straf rechtspflege lenkte. ^) Eigentlich brachte ja dieses kleine, zuerst im Jahre 1764 anonym erschienene Büchlein, das sich gegen zu harte Strafen, namentlich auch gegen den zu ausgiebigen Gebrauch der Todesstrafe wandte sowie die Folter und andere Miß- bräuche des Strafprozesses bekämpfte, nichts absolut Neues, ^) es ist

der französischen Strafgesetze Bedrängten s. Hertz, Voltaire usw., S. 153 ff., überhaupt über diese ganze Tätigkeit Voltaires: ebd. S. 157—446; dazu jetzt noch E. Masmonteil, La l^gislation criminelle dans l'oeuvre de Voltaire, Paris 1901, p. 18—100; vgl. auch die Lit-Angabcn im G.-S. 61, S. 164, Anm. 3. Weitere Lit über Voltaire u. Rousseau auch bei Berolzheimer, System V, S. 221, Anm. 40.

1) Über den Calas-Prozeß und Voltaires Beteiligung daran s. u. a. Hertz, Voltaire, S. 157 ff. u. 186 ff.; Masmonteil, a. a. 0. p. 18-47 u. 280/81 („Biblio- graphie"); Beruh. Wege, Der Prozeß Calas im Briefwechsel Voltaires, Berl. Gymn.-Progr., 2 Teile, 1896/7 (das. II, S. 22, 23 Lit-Angaben).

2) S. Löning in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 3, S. 272ff. Über Beccarias Leben (1738—1794) und Werke, insb. die Ausgaben und Übersetzungen seiner Schrift „Dei delitd e delle pene'S s. jetzt bes. die Einleitg. (S. 1—58) der neuesten Übersetzung derselben von Dr. jur. Karl Esselborn (Leipzig 1905), dessen Literaturangaben übrigens keineswegs vollständig sind. Zu den kri- tischen Darstellungen des Inhalts der Beccaria'schen Schrift, insbes. seiner Strafrechtstheorie (vgl. G ünther, Wiedervergltg. n.,S. 177, Anm. 420), s. jetzt noch Maillard, Etüde historique sur la politique criminelle, Par. 1899, Chap. I, p. 22—38; vgl. auch v. 0 verbeck, a. a. 0. S. 114ff.; Esselborn, a. a. 0. S. 17ff.

3) 8, darüber schon J. E. F. Schall, Von Verbrechen und Strafen usw., Leipzig 1779, Einltg. S. 2 ff. und von Neueren bes. v. Bar, Handb. des deutsch. Straf rechts I, Berl. 1882, S. 233, Anm. 90 ; weitere Lit.-Angaben noch bei Günther im Arch. f. Strafr. 48, S. 3, Anm. 14; bes. betr. die Todesstrafe s.

124 IX. Günther

auch nicht frei von Widersprüchen und am wenigsten kann es wohl Ansprach auf Vollständigkeit erheben. Allein gerade durch seine gedrängte Fassung, ^) durch den Verzicht auf jeden gelehrten Ballast, vor allem aber durch seine zündende Sprache eine Sprache, wie sie nach Ausspruch eines Zeitgenossen „nur Engel reden'^ könnten/^) hat es seinen so ungeheueren Erfolg gehabt, ^) der sich natürlich zu- erst in den Ländern romanischer Zunge zeigte. Sofort hatten die französischen Philosophen das Werk gleichsam als ihr geistiges Eigentum betrachtet, und schon 1765 erschien es auf Anregung von Malesherbes in einer vom Abb^ de Morellet angefertigten Übersetzung, Diderot, der es als ein „bei ouvrage, plein de g^nie et de vertu" gelobt, *) veröffentlichte dazu mehrere „Noten'',*) Voltaire, der in Beccaria „einen Bruder" erkannte, ß) schrieb darüber einen sog. Kommentar, ') die Ökonomische Gesellschaft in Bern verlieh dem

noch Z. f. d. ges. Str.-W. 5, S. 721. Schon 1789 hatte J. L. E. Püttmann in seinen ^Stricturae in incl^'tum Beccariae de delictis et poenis libellom^ Miscell. ad. jus pertinent spec VIl; vgl. Böhmer, Handb., Nr. 5S5, S. 202, 203) die »^klassischen Aatoren" zusammengestellt, ,,au8 welchen der Italiener zweifellos geschöpft hatte*' (Landsberg, Gesch. d. deutsch. R.-W. III 1, S. 478). Über den Sizilianer Tomaso Natale, Marchese di Monterosa- to, dessen mit Beccarias Ideen vielfach verwandte Schrift „Riflessioni poli- tiche intorno all' efflcacia e necessitä delle pene'^ schon 1759 im Manuskript vollendet gewesen, aber erst 1772 durch den Druck veröffentlicht worden, s. näheres in meiner Abhandig. im Archiv f. Straf r., Jahrg. 48, S. 1—38.

1) Vgl. dazu Frank, Die Wolffsche Straf rech tsphilosophie, S. 70; Essel- born, a. a. 0. S. 19.

2) K. F. Hommel, Philosophische Gedanken über das Eriminalrecht, herausgegeben von K. Gottl. Rossig, Breslau 1784, S. 48; vgl. ebd. S. 53 („ein gottliches Werk"). Über die Überschätzung Beccarias durch die Zeit- genossen überhaupt s. Günther, Wiedervergeltg.il, S. 178, 179 u. Arch, f. Strafr. 48, S. 3, 4 u. die Anmkgn.

3) S. hierüber sowie zu den folgenden Ausführungen im Text bes. Glaser, Übersetzg., Vorwort S. 8 ff. u. Esselborn, Übersetzg., Einltg., S. 31 ff.; vgl. auch Pessina, II diritto pönale in Italia dal 1764 al 1890, Milano 1906, p. 18. Über die Gegner Beccarias s. bes. Esselborn, S. 20ff., 25, Anm. ♦; vgl. Hertz, Voltaire, S. 312ff., Günther, Wiedervergltg. II, S. 178, Anm. 423 u. Archiv f. Strafr. 48, S. 9, Anm. 45 u. G.-S. 61, S. 165, 166, Anm. 2; vgl. auch unten S. 125, Anm. 3.

4) S. Oeuvres complötes de Diderot (par I. Ass^zat et M. Tourneux, Par. 1875 ff.), T. IV., p. 69.

5) Abdruck derselben in d. Oeuvres compL, T. IV, p. 63 ff.; näheres darüber u. a. bei Esselborn, a. a. 0. S. 33, 34, der sie selber seiner Überset- zung als Fußnoten hinzugefügt hat, wie vor ihm auch schon ältere Übersetzer (s. Landsberg, Gesch d. deutsch. R.-W. III 1, S. 25S).

6) Esselborn, a. a. 0. S. 32.

7) Über diesen, zuerst anonym („par un avocat de province") 1766

Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter. 125

Verfasser unter Umgehung ihrer Statuten eine goldene Me- daille, Fürstlichkeiten und gekrönte Häupter bezeugten ihm unver- hohlen ihren Beifall, ja die Kaiserin Katharina II. von Bußland ließ ihm ein hohes Amt in Petersburg anbieten. In Friinkreich bekann- ten sich sogar viele praktische Juristen, insbesondere die Advokaten an den höheren Gerichten so vor allem der Generaladvokat am Parlament zu Grenoble, Jos. Antoine Michel de Servan offen zu Beccarias Grundsätzen, i) und Akademien und andere gelehrte Ge- sellschaften sorgten dann dort durch Preisausschreiben über Gegen- stände der Kriminalpolitik dafür, daß die einmal angefachte Bewe- gung im Flusse blieb. 2)

Erst verhältnismäßig spät ist dagegen die große Masse der Ge- bildeten in Deutschland auf Beccaria aufmerksam geworden, und noch länger hat es gedauert, bis man seine Ideen bei uns vor- urteilsfrei zu würdigen vermochte. Meinten doch noch gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts einzelne, sonst keineswegs beschränkte Bechtsgelehrte, daß vieles in dem Buche des italienischen Marchese „für eine andere Welt als diese^ geschrieben sei. ^) Im ganzen ist es daher nicht zu viel behauptet, daß Deutschland auf kriminalisti- schem Gebiete zunächst noch in seinem Winterschlafe verharrt hat, als sich bereits ringsherum im Auslande der Hauch eines neuen Geistesfrühlings regte. Zwar hatte in Preußen schon Friedrich der Große in seiner 1748 erschienenen „Dissertation sur les raisons

zu Genf (aber ohne Ortsangabe) erschienenen „Commentalre" (abgedruckt n. a. in Brissot de Warvilles Biblioth^que philosophique du l^gislateur [1782ff.), T. I, p. 201 ff.) 8. näheres bei Hertz, Voltaire, S. 173, 310 u. Anm. 2; Masmonteii, a. a. 0. p. lOSff., Landsberg, Gesch. III 1 (Noten) S. 258, Günther im G.-S. 61, S. 165, Anm. 2; Esselborn, a. a. 0. S. 32, 33.

1) Ober Servan und seine Schriften (insb. s. Discoras sur Tadministration de le justice criminelle, abgedr. in Brissot de Warvilles Biblioth^que philos. du Ißgislateur, T. II, p. 125ff.) s. näheres bei Hertz, Voltaire, S. 314ff., 451 Anm. 6, 456 und Günther, Wiedervcrgltg. II, S. 192, 193 u. Anm. 495 ff. u. im G.-S. 61, S. 166 u. Anm. 1.

2) S. darüber Hertz, a. a. 0. S. 448 ff.; Günther im G.-S. 61, S. 167ff., 169, 170 u. Anm. 1.

3) So: E. L. M. Rathlef, Vom Geiste der Kriminalgesetze (1. Aufl. in Hamb. 1777 anonym erschienen [vgl. Landsberg, Gesch. d. d. R-W. in 1, S. 411 u. Noten S. 267]), 2. Aufl., Bremen 1790, 8. 3. Über J. Claproths absprechende Beurteilung Beccarias s. Günther, Wiedervergeltg. IL, S. 178, Anm. 423 u. S. 215 u. Anm. 577. Noch der Philosoph Kant vermochte in Beccarias Gegnerschaft gegen die Todesstrafe bekanntlich nichts anderes als das Ergebnis „einer teilnehmenden Empfindelei einer affektierten Humanität'' zu erblicken. (Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl. Konigsb. 1798, S. 232.)

126 IX. Günther

d'ötablir ou d'abroger les lois" einige freisinnige Gedanken über eine gute Gesetzgebung entwickelt, die sich vielfach mit denen Montes- quieusund Voltaires berühren, *) allein in weitere Schichten des Volkes vermochten diese in französischer Sprache niedergelegten Aphorismen des „Philosophen auf dem Throne'' erklärlicherweise ebensowenig einzudringen, wie vereinzelte gute Vorschläge in den lateinisch ge- schriebenen Werken älterer deutscher Gelehrter. Welche Anschanun- gen bei uns z. B. noch 1765 also ein Jahr nach dem Erscheinen von Beccarias Schrift vorherrschten, beweist recht deutlich das kühle, ja ablehnende Verhalten, das ein sehr auserlesenes Publikum einer von dem Leipziger Professor Karl Ferdinand Hommel. einem vielseitig gebildeten, human und fortschrittlich gesinnten Juristen, 2} am 30. April des genannten Jahres gehaltenen kleinen, aber gehalt- vollen Universitätsrede gegenüber beobachtet hat. =*) Aufgefordert, in Gegenwart des damals noch minderjährigen Kurfürsten Friedrich August von Sachsen einen Gegenstand der Rechtswissenschaft öffent- lich zu besprechen, der „einem künftigen Landesherm dienlich sein könnte", hatte sich Hommel die Reform der Strafgesetzgebung zum Thema gewählt. Er wandte sich u. a. gegen die unzulässige Ver- mischung rein religiöser Vorschriften mit dem staatlichen Rechte, insbesondere gegen die unzeitgemäßen Bestimmungen, die den für uns völlig unverbindlichen mosaischen Gesetzen ihren Ursprung verdankten und die „unter Trommelschlag abge- schafft" werden müßten, er geißelte den Aberglauben früherer Zeiten, trat für Freiheit in Glaubenssachen ein, kritisierte das geltende Stra- fensystem, das vielfach zu hart erscheine, und suchte namentlich die Unwirksamkeit der allzu häufig verwendeten Todesstrafe nach- zuweisen. Sachlich hatte also der, übrigens in lateinischer Sprache gehaltene (als „principis cura leges" betitelte) Vortrag ^) offenbar mit

1) S. darüber bes. jetzt Ferdinand Willenbücher, Die strafrechtsphiloso- phischen Anschauungen Friedrichs des Großen (Tiib. Inaug.-Diss.), Breslau 1904. Über das Verhältnis des Königs zu Montesquieu s. auch: v. Liszt, Straf r. Aufsätze II, S. 138, zu Voltaire: Günther, Wiedervergeltg. II, S. 176, Anm. 41S.

2) Über Hommel (1722—1781) s. näheres jetzt bes. bei Landsberg, Gesch. der deutsch. R.-W. III 1, S. 386 ff. u. Noten S. 253 ff.; vgl. auch noch unten S. 130, Anm. 2, S. 13.5, Anm. 5, S. 149, Anm. 5.

3) Über die Veranlassung, den hauptsachlichsten Inhalt und die Wirkung der Rede s. Hommel, Vorrede zur Übersetzung Beccarias (von Phil. Jak Fiat he), 1. Aufl. Berlin 1778, S. Illff. u. Philosophische Gedanken usw., §Uff., S. 29 ff.; vgl. auch Böhmer, Handb. der Lit d. Krim.-R, Nr. 586, &87, S. 203 ff. u. Landsberg, Gesch. III 1, S. 390 u. Noten S. 257.

4) Über eine spätere deutsche Übersetzung (von Hankel, Leipz. u. Fran- kenhausen 1766) 8. Landsberg, a. a. 0., Noten S. 257.

Die Straf rechtsrefonn Im Aufklämngszeitalter. 127

dem, freilich dem Redner damals noch völlig nnbekamit gewesenen Buche Beccarias manche Ähnlichkeit anfzuweisenJ) Seine Wirkung auf die Zuhörer aber war nichts weniger als die gewünschte, denn sie bestand nach Hommels eigenen Worten nur in einem allge- meinen Eopfsschütteln. Wenn die Grundsätze dieses noch jungen Bechtsgelehrten, der wohl nur seinen Geist habe zeigen wollen, in die Praxis übertragen würden, dann so meinte man dürfe kein Mensch es mehr wagen, „des Nachts . . . über die Straße zu gehen, aus Furcht, erschlagen zu werden**. 2)

Aber nicht lange ist Hommel auch in deutschen Landen ohne Kampfgenossen geblieben.^) In Österreich war schon ungefähr gleichzei- tig mit ihm der Wiener Nationalökonom und Literat Josef v. Sonnen- fels in Vorlesungen und Schriften mit großer Entschiedenheit gegen veraltete Kriminalrechtseinrichtungen, insbesondere gegen die Todes- strafe und den Gebrauch der Folter aufgetreten, während in Bayern wenige Jahre darauf der Hofkriegsrats-Sekretär und spätere Lehrer der Philosophie (an der „Marianischen Landes- [dann Militär-] Aka- demie**) in München, Andreas Zaupser, trotz lebhafter Anfeindungen des katholischen Klerus, in ähnlicher Weise tätig gewesen. Im Jahre 1774 hatte der Göttinger Professor der Rechte, Hof rat Justus Clap- roth, „durch einen höheren Wink veranlaßt**, denjenigen Teil seines großangelegten „Ohnmaßgeblichen Entwurfs eines Gesetzbuchs" er- scheinen lassen, welcher das „Criminal-ßecht** zeitgemäß reorgani- sieren sollte, diesem Vorhaben aber freilich nur zum Teil gerecht geworden ist ^) Ungleich freisinniger erscheinen z. B. die Gedanken,

1) Dies hat Hommel selbst wiederholt (Vorrede zur Übers. Beccarias, S. VIII, IX u. Philos. Gedanken S.48, 49, S. 164, 169 ff.) mit Stolz hervorgehoben. Böhmer, Handb., S. 851 im Register nennt Hommel denn auch geradezu den ,,deat8chen Beccaria und mehr als dieser^.

2) Hommel, Philos. Gedanken, S. 47, 4S; vgl. Landsb erg, a. a. 0. S. 892.

3) Über die Spezialliteratur betr. die im folgenden erwähnten Schriftsteller (v. Sonnenfels, Zaupser, Claproth, Michaelis) und ihre Schriften s. bes. Landsberg, Gesch. d. deutsch. R.-W. III 1, S. 401—411 u. Noten S. 263— 267 sowie Günther, Wiedervergltg. II, S. 212—227; insbes. über v. Sonnenfels jetzt auch noch Högel, Gesch. des Österreich. Straf rechts usw., HeftI (Wien 1904), § 28, S. 107, 108 u. Berolzheim er, System V, S. 225, Anm. 75.

4) Über die von Claproth in seinem Entwürfe nach beibehaltenen vielen harten Strafen (insbes. auch die sog. qualifizierten Todesstrafen für einzelne Fälle; vgl. unten S. 165, Anm. 1, die schon den Unwillen der „fortgeschritteneren Zeitgenossen" erregt hatten, hat man übrigens meistens übersehen, daß der Verfasser, der nebenbei bemerkt auch ein prinzipieller Gegner der Folter ge-

128 IX. GÜNTHER

die Glaproths gelehrter Kollege aus der theologischen Fakultät der ^Georgia Augusta*^, der berühmte Rationalist Johann David Michaelis, in der 1775 veröffentlichten Vorrede zum sechsten Teile seines geist- reichen, als einen Beleg zu Montesquieus ,;Esprit des lois^' be- handelten ^Mosaischen Rechts^ niedergelegt hat.

Einen größeren Umfang hat jedoch die kriminalpolitische Schrift- stellerei in Deutschland erst seit dem Jahre 1777 angenommen, in dem von der ^Ökonomischen Gesellschaft zu Bem^ ein Preisausschrei- ben über den „vollständigsten und ausführlichsten Plan einer guten Eriminalgesetzgebung^ veranstaltet worden war, ^ und zwar auf Veranlassung des Hauptverteidigers im Calas-Prozesse, Elie de Bean- mont, und Voltaires, der zur Erläuterung der Aufgabe eine kleine Schrift, „Prix de la justice et de Thumanitö**, erscheinen ließ.-) Schon darum ist es begreiflich, daß sich unter den 44 Bewerbern um diesen Berner Preis auch mehrere Franzosen befanden, so unter anderen 3) der Parlamentsadvokat Antoine Nicolas Servin zu Ronen ^j und der aus den Greueln der französischen Revolution als „ami du peuple" bekannte Jean Paul Marat,*^) der hier sonderbarerweise

wesen, „der späteren Landcs^esetzgebuDg vielfach förderlich vorgearbeitet*' hat. So: Landsberg, Gesch. III 1, 8. 407, 40S, woselbst näheres.

1) Zur Literatur über diese sog. „Bemer Preisfrage" s. Günther, Wieder- vergltg. II, S. 193 u. Anm. 500 und im G.-S. 61, S. 16$, Anm. 3 (Abdruck des Wortlauts); vgl. auch Landsberg, Gesch. III 1, S. 411ff.; Esselborn, Übers. V. Beccaria, Einitg., S. 34, Anm.**.

2) Näheres über diese Schrift (erschienen in Femay 1778), von der sich ein Abdruck auch in Brissots Bibliothäque philos., T. V., p. 7 108 findet, bei Hertz, Voltaire, S. 427 ff. u. Masmonteil, a.a.O. p. 111; vgl. Glaser, Übers., Vorwort 8. 9, 10; Landsberg, a. a. 0., Noten S. 267, Esselborn, a. a. 0., Einltg., S. 34, Anm. ***.

3) Eine genauere Zusammenstellung der sämtlichen nach Bern eingeschick- ten franzosischen Preisschriften habe ich im G.-S. 61, S. 169, Anm. 1 gegeben. Über die ursprünglich gleichfalls zur Bewerbung um den Bemer Preis verfaßte ,, Theorie des lois criminelles" von Brissot de Warville (2. Vols., Nenchätel et Paris 1781) s. Hertz, Voltaire, S. 44S; Günther, Wiedervergltg. II, S. 195, Anm. 510 u. G.-S. 61, S. 174 u. 2 u. 3.

4) BiographischesüberServin bei Teichmann in v.Holtz endo rff 8 Rechts- Lex. III, S. 674/75. Seine Schrift „De la Ißgislation criminelle" etc. (gedr. Bäle 1782) hat mehrere deutsche Übersetzungen erhalten, so z. B. von Joh. Erast Grüner („Über die peinliche Gesetzgebung*^ Nümbg. 1786), nach der sie im folgenden angeführt ist

5) S. über Marats, zuerst anonym zu Neuchätel 1780 erschienene Schrift „Plan de l^gislation criminelle** (Abdr. in Brissots Bibl.T. V, p. 117 ff.) näheres in meiner Abhandlung: „Jean Paul Marat, der ,Ami du peuple*, als Krimi- nalist" usw., im G.-S. 61, S. 161 ff. u. 821 ff.

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 129

als ein Prediger der Humanität auftritt; aber die Mehrzahl bildeten doch deutsche Schriftsteller, und zwei deutschen Juristen, die eine gemeinschaftlich verfaßte „Abhandlung von der Eriminalgesetzgebung'' eingereicht hatten, nämlich den beiden sächsischen Praktikern Hans Ernst V. Globig und Joh. Georg Huster, wurde denn auch der Preis zugesprochen, ^) obwohl uns heute ihre Ausführungen im ganzen weniger ansprechen als diejenigen anderer Mitbewerber, wie etwa die in vielen Beziehungen reichhaltigeren, zum Teil freilich auch kon- servativeren Arbeiten des Tübinger Professors der Kechte Christian Gottlieb Gmelin^) oder des norddeutschen Juristen Dr. Johann Melchior Gottlieb Beseke. 3) Seit der „Bemer Preisfrage*' beginnt nun die frühere Zurückhaltung der deutschen Gelehrten gegenüber den kriminalpolitischen Zeit- und Streitfragen nicht nur zu weichen, sondern sogar einer Art Überproduktion Platz zu machen, die „Kriminalpolitik^ war jetzt „im schreibseligen Deutschland*^ zu einem „Modeartikel^) oder, wie ein Zeitgenosse sich ausdrückt, „zu einem solchen Lieblingsgegenstand der Schriftstellerei und Lek- türe geworden, daß das Publikum jede Messe (geradezu) mit einem

1) Ober V. Gl obig und Hub t er und ihre „Abhandlung" (Zürich 1783), zu der {Später noch „Vier Zugaben" (Altenburg 17 85) erschienen, 8.be8.Land8berg , Gesch. III 1, S. 412, 415 und Noten S. 268—270; vgl. v. Bar, Handb. I, S. 236ff., Günther, Wiedervergeltg. II, S. 253 ff. u. Anm. 700 ff.; s. auch ebd. S. 230, Anm. 629. Die Bedeutung der Schrift liegt teils darin, daß sie „gewissermaßen eine offiziöse Darstellung der damals herrschenden Ansichten" lieferte (v. Li szt, Meineid usw., S. 131/32), teils dann, daß „in ihr zum erstenmal eine Strafrechts- theorie als Vorarbeit für eine Gesetzgebung** durchgeführt worden (v. Bar, a.a.O. S. 237). Über ihre Verdienste in dem am besten ausgefallenen straf- prozessualen Abschnitt s. Landsberg, a. a. 0. S. 413.

2) Über Gmelin (1749—1818) und seine von den Preisrichtern „des Druckes für würdig erkannten" ,,Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen", CTüb. 1785), s. Landsberg, Gesch. III 1, 8. 412/13, 415/16 u. Noten S. 270/71; vgl. auch Günther, Wiedervergeltg. II, S. 229 u. Anm. 627.

3) Über J. M. G. Beseke (f 1802 zu Mitau in Kurland, wo er Professor der Rechte an der sog. „Petrinischen Akademie^ gewesen) und seinen, auf Ver- langen der Ökonomischen Gesellschaft zu Bern zum Drucke beforderten „Versuch eines Entwurfs zu einem vollständigen Gesetzesplan für Verbrechen und Strafen '^^ Dessau 1783 (n. Aufl. Berl. 1794) s. Böhmer, Handb., Nr. 651, S. 288-290 (der näher ausführt, daß sich in dieser Schrift „unter vielen brauchbaren Vor- schlägen^ auch manche rückständige und bizarre Gedanken befinden) n. Lands- berg, a. a. 0. S. 412/13 und Noten S. 267; vgl. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 229/30 u. Anm. 629.

4) Henke, Grundr. einer Gesch. d. deutsch, peinl. Rechts, Teil II (Sulzb. 1809), S. 314; vgl. auch Glaser, Ges. kl. Schriften I, S. 25.

Archiv für Kriminalanthropologie. 28. Bd. 9

130 IX. Günther

ganzen Schwann solcher Schriften überschwemmt^ wurde. 0 Als einige der hervorragendsten Autoren aus dieser Zeit dürften etwa neben dem immer noch tätig gebliebenen Nestor der deutschen Auf- klärer, K. F, H 0 m m e 1 , 2) besonders angeführt werden ^) : der Trierer Domherr Johann Friedrich Hugo y. Dalberg, ein Bruder und Ge- sinnungsgenosse des bekannten Eirchenfürsten Karl y. Dalberg, des letzten Kurfürsten von Mainz und späteren ^Grofiherzogs von Frankfurt", der sich ebenfalls auf unserem Gebiete betätigt hat; der wirkliche geheime Kanzleirat Heinrich August Vezin zu Osna- brück, der vielseitige Nationalökonom Graf Julius von Soden, der Leipziger Philosophieprofessor Ernst Karl Wieland, und unter den verschiedenen Professoren der Rechte namentlich Karl Otto Graebe an der preußischen Akademie zu Lingen, Job. Christ Quistorp in Rostock, Josias Ludw. Ernst Püttmann in Leipzig, Gallus Aloys Kaspar Kleinschrod in Würzburg, Ernst Ferdinand Klein in Halle, später Berliner Obertribunalsrat und bekannt als Mitarbeiter am preußischen Allgemeinen Landrecht, allenfalls auch noch Karl Ludwig

1) Malblank, Gesch. der P. G.-O, Nümb. 1783, § 59, S. 256. Der Franzose Brissot de Warville hat (in seiner Biblioth^que phil., T. X, p. 149) diese Art der deutschen rechtswissenschaftl. Literatur als einen „unerschöpflichen Schlund*^ (gouffre in^puisable) bezeichnet. Vgl. Böhmer, Handb., S. 244; Landsberg, Gesch. III 1, S. 412

2) Als Schriften Hommels aus dieser Zeit sind bes. zu nennen: die Vor- rede und die Anmerkungen zu der (von Flathe besorgten) Übersetzung Becca- rias (Breslau 1778) und die erst nach seinem Tode (1781) durch s. Schwieger- sohn, den Juristen und Natlonalokonomen K. Gottl. Rossig (vgl. Lands- berg, Gesch. III 1, S. 393 u. Noten S. 257/58) herausgegebenen und von einer „Vorerinnerung" begleiteten „Philosophischen Gedanken über das Kriminalredit'^ Breslau 1784. Vgl. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 230 u. Anm. 632/33.

3) Die folgende Aufzählung schließt sich im wesentlichen an Landsberg, Geschichte Ili 1, S. 412 ff. an. Ebendas in den Noten (S. 267 ff.) auch die näheren Angaben über das Biographische, die Titel der Schriften und die darauf bezügl. Literatur; s. femer S. 408—411 u. Noten S. 266/67 (über Quistorp), S.422, 461ff., 464ff., 470ff., 507, 515—517, 525 u. Noten, S. 257, 261, 266, 270, 296ff., 299ff.. 303/4, 318, 321ff. (über Püttmann, Kleinschrod, Klein u. v. Grolman). Vgl. auchLoning, Z. f.d. ges. Str.-W. 3, S. 276ff., 280; Günther, Wiederver- geltung II, S. 229ff. und in 1 (1895), S. 23, Anm. 17. Insbes. über K. v. Dal- berg's noch Abegg im G.-S. 15, S. lOSff. ; über E. F. Klein: v. Liszt: Straf r. Aufsatze II, S. 133 ff. u. bes. S. 140 ff. Unter den ausführlicheren Über- sichten der deutschen kriminalpol. Literatur dieser Epoche aus älterer Zeit sind hervorzuheben: Malblank, Gesch. d. P.G.-O., §59, S. 260ff; Hommel, Philos. Gedanken, S. 56ff; Graebe, Über die Reformation der peinlichen Gesetzct Münster 1784, § 17ff., S. 29ff.; Böhmer, Handb. d. Lit des Krim.-R., § 46ff., S. 259 ff., Nr 634 ff.

Die Straf recbtsreform im Aafklärungszeitalter. 131

Wilb. V. Grolman in Gießen (später hessischer Staatsminister), ob- wohl dieser bereits an der Schwelle der neueren, durch Kant einge- leiteten und durch Anselm Feuerbach fortgeführten Richtung des Strafrechts steht.

Wie die Aufklärungsschriftsteller den verschiedensten Ständen und Berufen angehörten, so sind natürlich auch ihre Arbeiten nichts weniger als gleichartig gewesen. Neben kleineren Broschüren und Aufsätzen finden sich mehrbändige Werke, neben der Darstellungs- form des Dialogs^) und des Staatsromans'^) Gesetzentwürfe, 3) juristische (oder recbtsphilophische) Lehrbücher und lehrbuchartige Abhandlungen (über das Strafrecht und in der Regel auch noch das Straf Prozeßrecht) 4), Monographien über einzelne allgemeine oder

1) So z. B.: Job. Fr. Hngo v. Dalberg, Ariston oder über die Wirksam- keit der peinlich. Strafgesetze, ein Dialog, Erfurt 1782, abgedr. auch in Plitts Repertorium f. d. p^l. Recht, Bd. I (1786), Nr. 2, S. 27 ff. Vorbildlich könnte dafür de Mablys, ebenfalls in Dialogform gehaltenes Werk „De la l^gislation ou prindpes des lois", 1776 (Oeuvres compl., T. XV., Par. 1790; vgl. Böhmer, Handb., Nr. 591, S. 207/8) gewesen sein.

2) So. H. A. Vezins namentlich gegen die Talionsidee, die Todesstrafe und deren Anhänger (Feder, Runde) sowie die Folter gerichtete Schrift: Das peinliche Halsrecht der Teneriffaner, ein Märchen, wie es mehrere gibt, mit Anmerkungen, erste (anonym erschienene) Aufl. Osnabrück 1780, 2. Aufl. ebd. 1798; vgl. Böhmer, Handb., Nr. 672, S. 302/3; Landsberg, Gesch. III 1, Noten, S. 267.

3) Über die wichtigsten Arbeiten dieser sehr zahlreic-hen Literatur- gattung (z. B. von E. F. Klein, Quistorp, K. v. Dalberg, M. Pflaum, V. Eberstein u. a. m.) s. Böhmer, Handb., § 46, S. 259ff und Günther, Wiedervergeltg. II, S. 229, Anm. 628, S. 233, Anm. 644 ff u. HI 1, S. 83, So, Anm. 182; vgl. auch Gelb» Lehrb. I, S. 321/22. Ober Glaproth u. Beseke, der wenigstens dem Titel nach auch hierher gehört, s. schon oben S. 127, Anm. 4 u. S. 129, Anm. 3.

4) Außer den schon erwähnten Werken von Gmelin (s. S. 129, Anm. 2, Kleinschrod(S. 118, Anm. l)undv. Grolman (S. 114/15, Anm. 6) sind etwa noch Püttmanns Elementa juris criminalis, Lips. 1779 u. Kl eins Grundsätze des gem. deutsch, peinl. Rechts (1. Aufl. 1796, 2. Aufl. Halle 1799) zu nennen; aber auch die preisgekrönte Abhandig. von v. Globig u. Huster, die Schriften von Rathlef (8.S. 125, Anm. 3) und Graebe (s.S. 130, Anm.3), besonders jedoch die um- fangreichen Darstellungen von V.Soden (Geist der peinlichen GesetzgebungTeutsch- lands, 1. Aufl. 1782, 2. [von mir benutzte] Aufl., 2. Bde., Frankf. 1792) und Wieland (Geist der peinlichen Gesetze, S Bde., Leipz. 1783/84) gehören im wes. dieser Klasse an. Über das anonym erschienene, unvollendet gebliebene Werk des kurfürstl. Mainziflchen Hofrats Martin v. Reder: Das peinliche Recht nach den neuesten Grundsätzen voUständig abgehandelt und meine Gedanken über den Entwurf zu einem neuen peinlichen Gesetzbuch, 4 Teile, Offen- bach a./M. 1783/85 8. die Lit-Angaben bei Günther, Wiedervergeltg. II, S.233, Anm. 645. Job. Chr. Quintorps, in 1. Aufl. schon 1770 (Rostock u. Leipzig) er*

9*

132 IX. Günther

besondere Gegenstände des Straf rechts, ^) und vollends sachlich gehen sie in mehr als einer Frage weit auseinander. ^) Bei fast allen kehren aber doch bestimmte, gleichsam zn allgemeinen Dogmen er- hobene Sätze wieder, ans denen sich ein immerhin ziemlich getreues Gesamtbild der damals herrschenden Anschauungen sowohl von Ver- brechen und Strafen im allgemeinen, als auch von den einzelnen De- likten und ihrer Strafwürdigkeit geben läßt ^) Nach der Skizzierung dieses Bildes (bei dem übrigens das Strafproze Brecht zur Ent- lastung des Stoffe« grundsätzlich außer Betracht bleiben soll) wird dann noch die Frage zu beantworten sein, welche Forderungen der Aufklärer bereits durch die Gesetzgebung des achtzehnten Jahr- hunderts ihre tatsachliche Erfüllung gefunden haben.

Die wichtigen allgemeinen Lehren vom Verbrechen,*) die in den modernen Strafrechtskompendien einen so breiten Platz einneh- men, haben selbst in den größten und besten Werken der Aufklärer im ganzen nur eine ziemlich stiefmütterliche und meistens unbefrie-

schienenen Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts (s. Landsberg, Gesch. III 1, S. 40S/9 u. Noten, S. 266) enthalten vorwiegend eine Darstellung de? geltenden Rechts und nur wenige eigentliche kriminalpolitische Betrach- tungen.

1) Erschöpfende Angaben über diesen Zweig der kriminalpol. Literatur können hier nicht gegeben werden. S. imallg. Böhmer, Handb., § 4S, S. 297ff. („Schriften über einzelne Gregenstande der Krimlnalpolitik**). Verdienstlich die Sammlung verschiedener Monographien dieser Art durch Joh. Friedr Pütt (s. Landsberg, Gesch. III 1, Noten, S. 267) in dessen „Repertorinm für das peinliche Rechf^ (2 Bde., Frankf. 1786 u. 1790) sowie die Zusammenstellung der wichtigsten „Meinungen über die Todesstrafe*^ durch den Popularphilosophen Joh. Adam B erg k (s.Lan d sb erg , a.a. 0. Noten, S. 258) m dem II. Teile seine Über- setzung von Beccarlas „Abhdlg. über Verbrechen und Strafen**, Leipz. 179*^ (S. 65-184); vgl. Landsberg, a. a. 0. S. 416/17 und Noten, S. 271.

2) S. darüber schon Malblank, Gesch. d. P. G.-O., § 60, S. 265.

3) S. Malblank, a. a. 0., S. 265. Daselbst S. 265—273 eine Übersicht über die „Hauptgrundsatze . . ., worin die meisten** Aufklärungsschriftsteller „über- einstimmen*'. Aus neurer Zeit vgl. dazu: Hälschner, Gesch. des brand.-preuß. Strafrechts, S. 169ff. u. Geib, Lehrb. I, § 56, S. 812ff, § 57, S. 320ff. a. bes. §58, S. 331 ff.; femer etwa noch Löning in d. Z. f. d. ges.Str.-W. 3, S. 248 ff., 273 ff.; V. Liszt, Strafrechtl. Aufs. II, S, 139 ff. u. I^hrbuch (fortlaufend in den einleitenden rechtshistorischen Bemerkungen zu den einzelnen Abschnitten); Günther, Wiedervergeltg. , II, S. 234ff.; Fr. Berolzheimer, System V, S. 217 ff.

4) Über den Begriff des „Verbrechens" bei den wichtigsten Anfklärnngs- schriftstellem (Wieland, Feder, Servin, v. Globig u. Huster, Cella. V. Soden, Stübel, Klein, v. Grolman) gibt eine Übersicht Klei nschrod, System. Entwicklung usw. (2. Aufl. 1799), I, § 5ff., S. 16ff. u. bes. § 9—11, S. 25—33.

Die Straf rechtsrefonn im Aufklärungszeitalter. 133

cligende Darstellung erfahren, was sieb zum Teil wobl daraus erklärt, daß diese Materien im großen ganzen ja weniger von kriminalpoliti- schem, als rein rechtlichem Interesse sind, zum Teil aber auch daraus, daß man damals noch nicht recht imstande gewesen, den Einfluß, den die veränderten kriminalpolitischen Anschauungen der Zeit konse- quenterweise immerhin doch auch auf diesen Teil des Strafrechts hätten äußern müssen, richtig einzuschätzen. ^) Namentlich gilt dies von den juristisch so bedeutsamen Erscheinungsformen straf- barer Handlungen: Tun und Unterlassen, Vorbereitung, Versuch und Vollendung, Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe, Einheit und Mehrheit der Verbrechen (Konkurrenz, Rückfall) usw. Ver- sagen hierfür zum Teil sogar die eigentlichen Rechtsgelehrten ^, trotzdem sie einzelne dieser Fragen oft sehr weitschweig behandeln, '^) »0 erst recht natürlich diejenigen Schriftsteller, die für das streng juristische Gebiet mehr oder weniger als „Laien^ zu betrachten sind. Gerade hierbei paart sich dann öfter unwissenschaftliche Oberfläch- lichkeit mit eigenem Selbstbewußtsein. So glaubte z. B. Graf von Sod^n, „alle Einteilungen der Kommentatoren" bezüglich der Lehre von der Teilnahme am Verbrechen durch einen einzigen, noch dazu ganz allgemein gefaßten Satz überflüssig machen zu können ^j ; Beccaria hat Versuch und Teilnahme, deren Begriffe nicht näher definiert sind, zusammen in einem kurzen Paragraphen behandelt und bei den Erörterungen über die letztere ausführlicher nur die kriminalpolitisch wichtige Frage behandelt, ob es ratsam sei, einem Teilnehmer an einem schweren Verbrechen, der seine Genossen anzeigt, Straflosigkeit zu versprechen, eine Frage, die er übrigens

1) Auch in der Reform bewegung der Neuzeit sind diese Fragen bislang noch mehr in den Hintergrund getreten gegenüber der Verbessemng des Strafen- systems, obwohl sie allerdings auf den Kongressen der I.K.V. (zu Linz und Lissabon) kurz zur Erörterung gelangt sind ; s. darüber Mitt der LK.V. 5, S. 336, :US, 513ff.u. 6, S. 305 ff, 340ff. u. dazu Kitzinger, die LK.V., S. 20ff. u. S.24ff. u. Anm. 2, S. 31 ff., 34 (bes. über die Behandlung des Versuchs und der Teil- nahme). Vgl. auch Mitter maier in der Schweiz. Z. f. Strafr., Jahrg. 14 (1901), S. 146.

2) Vgl. z. B. was Jos. Heimberger, Die Teilnahme am Verbrechen usw., Freib. u. Leipz. 1896, § 69, 70. S. 226ff., 230ff. bezügl. der Ansichten Kleins u. Kleinschrods über die Teilnahme ausgeführt hat

3) Geist der peinl. Gesetzgebung Teutschlands (2. Aufl. 1792), Bd. I, § 29, S. 45. Sehr kurz und allgemein (über dieselbe Lehre) auch K. v. Dal borg. Entw. eines Gesetzbuchs in Kriminalsachen, Frankf. u. Leipz. 1792, Teil II, Abschn. 3, S. 129 ff., desgleichen über Rückfall u. Verbrechenskonkarrenz: Rathlef, Vom Geiste der Kriminalgesetze (2. Aufl. 1790), Kap. 35, S. 108.

134 IX. Günther

Temeinend beantwortet. ^) Ein wenig besser ist es im ganzen in der Aufklärungsliteratnr schon mit der Sondemng der Sehuldarten (Vorsatz, Fahrlässigkeit usw.) bestellt gewesen. So gebührt z. B. von Soden das Verdienst, den sog. indirekten Vorsatz („dolos in< directus^), von ihm nicht unpassend „einwilligende Schuld^ genannt, richtiger gewürdigt zu haben, ^) woran u. a. später auch K F. Klein, „der erste Vertreter der modernen Doktrin" über den „dolus", angeknüpft hat;^) und aus dem Gebiete der sog. Schuldaus- schließungsgründe ist lobend hervorzuheben, daB in der Preis- Schrift von v. Globig und Huster die Notwehr, die man bis dahin stets nur ganz einseitig im Anschluß an die Tötungen behan- delt hatte, zum ersten Male ihre richtige systematische Stellung bei den allgemeinen Lehren des Strafrechts gefunden hat. ^)

1) Boccaria (Übere. von Esselborn), § 14, S. lOOff. ; vgl. Maillard, Etüde histor. sur la pollt crim., p. 34, der übrigens Beccarias Entscbeidong der Frage für eine Inkonsequenz gegenüber dem sonst von ihm vertretenen Prinzip der Nützlichkeit erklait. Übereinstimmend mit Beccaria auch Filangieri, System der Gesetzgebg., Bd. IV, (Buch 3, Teil 2) Kap. 57, S. 724ff.; abweichend dagegen: Diderot in seinen Noten zu Beccaria (Oeuvres compL T. IV, p. 66; vgl. Esselborn, Übers., S. 101, Anm.* u. Einltg., S. 34), desgl. Zaupser, Gedanken über einige Punkte des Kriminalrechts, 4. Aufl., Müncheu 1781, Abhdlg 3., S. 87 u. Kleinschrod, System. Entwicklung, Teil II, § 110, S. 291 u. a. m.

2) V. Soden, Geist usw. I, § Sff., S. 16ff., und dazu AI. Löffler, Die Schuldformen des Straf rechts im vergleich. -histor. u. dogmat Darstellung, Leipz. 1S95, S. 207, 208; vgl. auch Landsberg, Gesch., III 1, S. 415 u. Noten, S.270. Ziemlich ausführlich ist über den „indirekten Vorsatz'' auch v. Reder, Das peinliche Recht I, Kap. ni, § 8 ff., S. 45 ff.

3) S. bes. Klein, Grundsatze usw. (2. Aufl.), § 123, S. 102 u. dazu Löffler, a. a, 0. S. 208—210.

4) V. Globig u. Huster, Abhdlg., Teil I, Abschn. 3, S. 119ff. (ähnlich auch Bcseke, Versuch, S. 117, Nr. 14); vgl. v. Liszt, Lehrb., § 38, S. 144. Während sich dieser Behandlung der Notwehr z. B. Erhard, Tittmann, V. Dalberg (Entwurf, S. 133), Klein (Grundsätze, 2. Aufl., § 35, S. 33 ff.) an- schlössen, haben sich andere Schriftsteller noch längere Z^it dagegen ablehnend verhalten (so z. B. Quistorp, Ausführl. Entw. zu einem Gesetzb. in peinl. u. Strafsachen, Rost. u. Leipz. 1782, Abschn. 14, § 155 ff., S. 176ff., übereinstimmend mit s. Grundsätzen d. deutsch, peinl. Rechts, 3. Aufl., 1783,1, §237, S.450ff., 6. Aufl. 1 796, S. 368 ff. ; auch P f aum , Entwurf einer neuen peinl. Gesetzgebung, Frankf u. Leipz. 1793, Teil I, Abschn. 14, § 117ff, S. UOff.; desgl. Wieland, Gmelin, v. Eber st ein u.a. m.), bis dann Feuerbachs Ansehen der neuen Auffassung den endgültigen Sieg verschaffte; s.v. Liszt, a. a. 0., S. 144. Erwähnt sei noch, daß die früher oft nicht genügend gewürdigte und erst in der Neuzeit wieder mehr betonte Bedeutung dos hohen Alters alsSchuldausschließungs-bezw. M indem ngsgrundes von den Aufklärungsschriftstellem vielfach schon ausdrück- lich, und zwar meist als Seitenstück zu der geringeren Zurechnungsfähigkeit der Jugend-

Die Straf rcchtsreform ira AufkJärnngszeitalter. 135

Sehr geteilt waren schon damals ganz wie noch heute die Ansichten über das Problem der Willensfreiheit der Verbrecher, wenngleich dieses in jener Zeit bei weitem noch nicht die her- vorragende Bolle gespielt bat wie in der Gegenwart. 0 Während die Mehrzahl der Aufklärer noch geradezu mit einem gewissen Enthu- siasmus an der Allmacht des guten Willens festhielt, standen an- dere, wie z. 6. Diderot, dem Problem schon skeptischer gegen- über, 2) ja Voltaire, der anfänglich noch ein Verteidiger der Wil- lensfreiheit gewesen, bekehrte sich später völlig zum Determinismus ^) und hat so gerade den umgekehrten Entwicklungsgang durchge- macht wie sein königlicher Freund und Gönner, Friedrich der Große. ^) In Deutschland erscheint als konsequentester Vertreter des Determinismus jedenfalls Hommel, der unter dem Pseudonym Alexander von Joch schon im Jahre 1770 in einer besonderen Schrift „Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen^ das Strafrecht von diesem Standpunkt aus zu begründen und „die Ver- träglichkeit der Unfreiheit des Willens^ selbst „mit der Ethik . . . nachzuweisen^ versucht hat^)

liehen, hervorgehoben worden ist. Vgl. darüber u. a. bes.: Claproth, Entw. I, Hauptst 1, § 10, S. S; Quistorp, £ntw. I, § 75, S. 90 (3. auch s. Grundsätze d. deutsch, peinl. Rechts, 3. Aufl. 1783, 1, § 107, S. 198/99); v. Globig u. Huster Abhdlg., S. 116; Wieland, Geist I, § 273, S. 364ff.; v. Reder, Das peinl. Recht I, Kap. V. § S, S. 85flF. u. Kap. XVII, § 51, S. 389/90 u. Anm. (m. Lit- Angaben); Kleinschrod, Syst. Entwickig. I, §89, S. 177, 178; Ma rat, Plan etc. (a. a. 0. p. 140; 8. G.-S. 61, S. 228, Anm. 2); Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., 8. 122. Für die Neuzeit vgl. Kitzinger, Die 1. K. V., S. 50, 51; J. Bresler, Greise und Kriminalität, Halle 1907. Bd. V, Heft 3 der „Jurist. -psychiatr. Grenz- fragen", herausgeg. v. Finger, Hoche u. Bresler).

1) S. darüber näheres bei v. 0 verbeck, Das Straf recht der französ. Enzy- klopädie, S. 43, 46 ff. (zunächst mit bes. Bezugnahme auf die Enzyklopädisten).

2) S. darüber Hertz, Voltaire, S. 128 u. v. Overbeck, a. a. 0. S. 47ff ; über den Determinismus bei den franzÖs. Aufklärern überhaupt: Hert z , a. a. 0. S. 126 ff.

3) S. das nähere hierüber bei Hertz, Voltaire, S. 126, 127, 130; vgl. Masmonteil, La l^gisl. crim. etc., p. 196ff. und Willenbücher, Die straf- rechtsphilos. Anschauungen Friedrichs des Großen, S. 27 ff.

4) S. Willenbücher, a. 0., S. 27, 28, u. Anm. 1 (Polemik Friedrichs des Großen gegen Holbachs „Systeme de la nature*^).

5) So: Binding, die Nonnen und ihre Übertretung^ Bd. II (1. Aufl., Leipz. 1877), S. 25, Anm. 42; vgl. auch S. 4, Anm. 4, (Lob des Werkes, „aus welchem zu einseitig die abstoßenden Steilen zitiert zu werden pflegen' '), S. 23, Anm. 38; näheres noch bei Landsberg, Gesch. III 1, S. 393/4 u. Noten, S. 258. Zunächst hat Hommel in dieser Beziehung noch wenig Anhänger gefunden; u. a. (vgl. Böhmer, Handb., S. 812, Nr. 3107 über Joh. Tob. Sattler, Pseu- don3rm Frey) ausdrücklich gegen ihn auch Kleinschrod, Systemat Ent- wicklung usw. I, § 44, S. 104/5, der der „Paradoxie" Hommel s „das

136 IX. Günther

Noch unbekannt ist der damaligen Zeit im ganzen die realistisch- natnrwissenschaftlicbe Auffassung vom Verbrechen gewesen, wie sie heute von der sog. anthropologischen Schule Lombrosos vertreten wird, wonach die Verbrecher einen besonderen, auch an äußer- lichen Merkmalen erkennbaren Typus bilden sollen. Immerhin lassen sich aber schon einige schüchterne Ansätze auch zu dieser Rich- tung bei den Aufklärern, den Zeitgenossen eines Lavater und Gall, nachweisen; so wenn nach Montesquieus Vorgang^) der Einfluß des Klimas und der Bodenbeschaffenheit auf die Kriminalität be- tont wird, '^) oder wenn man auf die hellere oder dunklere Haarfarbe der Delinquenten Gewicht legt^ weil hiervon vermeintlich die kühlere oder hitzigere Beschaffenheit des Bluts und damit die geringere oder größere Geneigtheit zur Verübung von Missetaten abhängen sollte,'^) eine Ansicht, der bekanntlich auch noch Lombroso nicht abge-

Bild menschlicher Freiheit, welches denkende Philosophen (wie z. B. Feder, Michaelis, Klein) gezeichnet haben**, gegenüber stellt.

1) Esprit des lois (öd. Firmin-DidotetCie., Paris 1894), Li vre XIV, p. 187 ff. (,J)e8 loisdans le rapport qu'clles ontavecianatare duclimaf), insb.chap. 2, p. 188ff („Combienleshommes sont diff Brests dans les divers climats'*); vgl. auch noch Li vre XV XVII u. XVIII („Des lois dans le rapport qa'elles ont avec la naturo du terrain").

2) Derartige Bemerkungen erfreuten sich damals schon ziemlich allgemeiner Beliebtheit (vgl. v. Liszt, Strafrechtl. Auf f. II, S. 380). Über Einzelheiten s. z. B. Hommel, Philos. Gedanken, § 42, S. 79 („Das heiße Klima mäht grausam'*), § 43, S. 80 ff.; Rössig, „Vorerinnerung** dazu, S. XIV („Gebirgige Einwohner [sie] sind unternehmender und kühner als Bewohner der Ebenen. In feuchten Himmelsstrichen sind die Menschen melancholicher. . . [Sie] sind bösartiger, je mehr sie sich der Linie [Äquator] nähern und immer gutartiger, je näher man zu den Polen kommt"), vgl. S. XVII, Anm. * (Lit.-Angaben) ; Seeger in Pütts Reper- torium f. d. peinL Recht I (1786), S. 178/79; Filangieri, System der Gesetz- gebung, Bd. IV (B. 3, Teil 2), Kap. 25, S. 5, Nr. 8, Kap. 36, S. 217 ff, 220 ff. (dem aber doch Montesquieu zu weit geht; s. Bd. I, Kap. 14, S. 305 ff); nur Be- merkungen allgemeinerer Art bei Rathlef, Vom Geiste der Kriminalgesetze, S. llff.; Klein, Fragmente eines peinl. Gesetzbuchs usw., in dessen „Vermischten Abhandlungen über Gegenstande der Gesetzgbg. und R.-W., Bd. I, iStuck 2, Nr. 3 (Leipz. 1780), S. 40—42; Wieland, Geist usw. I, § ISff, S. 25ff; ausdrücklich dagegen bes. Gmelin, Grundsätze usw., § 19, S. 42, 43 u. i. wes. auch V. Globig u. Huster, Abhdlg., S, 16, 17 u. Vier Zugaben, S. 23ff.

3) So z. B. bes. Rüssig, a. a. 0., S. XV. „Je dunkler das Haar einer Nation im ganzen genommen ist, desto häufiger finden sich Verbrechen und Gegenstände des Kriminalrechts. Lavater (und John Howard) beobachteten, daß die größten Verbrecher (in den Gefängnissen) immer dunkles, schwarzes Haar hatten . .,;. Die Farbe des Haares hängt vom Blute ab und von diesem letzteren häufig unsere M o r a 1 i t ä t Dunkles Haar setzt ein heftiges, feuriges Blut voraus**, das zwar „zu großen, edlen Taten" treiben, ebenso aber auch zu „Bos- heiten" verleiten könne, „für welchen die Menschheit zurückschaudert**.

Die betraf rech tsreform im Aufklärungszeitalter. 137

neigt gewesen ist *) , ja vereinzelt, so z. B. bei dem Sizilianer Tomas o Xatale di Monterosato, finden sich sogar Bemerkungen über die Abhängigkeit der menscblichen Leidenschaften von den physiolo- gischen Verhältnissen des Körpers, die an die modernsten Ansichten italienischer Kriminalisten erinnern. ^)

Der verhältnismäßig dürftigen, im ganzen jedenfalls ungenügen- den Behandlung der allgemeinen Lehren vom Verbrechen bei den Auf- klärern steht eine um so eingehendere Beschäftigung mit der Straf e

und allem, was damit, wenn auch nur mittelbar, zusammenhängt

gegenüber. Hier ist nun gleich zu Anfang wieder eine inter- essante Übereinstimmung mit unseren heutigen Keformbestrebungen festzustellen; ich meine die starke Betonung der sog. prophylak- tischen Maßregeln, d. h. der Vorbeugungs- oder Verhütungs- mittel der Verbrechen noch abgesehen von der eigentlichen StraQustiz , die seit Montesquieu 3) einen charakteristischen Be- standteil fast aller damaligen kriminalistischen Verbesserungsvor- schläge bildeten *) und ebenso wiederum heute zu ^den auffallendsten

1) S. Lombroso, Der Verbrecher in anthropolog., ärztlicher u. juristischer Beziehung, deutsche Bearbeitung von 0. Fraenkei, Hamburg 1SS7, S. 223. 241.

2) S. T o m a s o N a t a 1 e , Riflessioni politicheetc. ( vgl. S. 1 23/24, Anm. 3), heraus^, von Guardione u. Impailomeni, Palermo, 1895, p. 9, 10, Anm. 1 und dazu Günther im Archiv f. Strafr., Jahrg. 48, S. 17 u. Anm. 9S, 99^ Ähnliche Äuße- rungen auch sonst noch hier u. da. So wirft z. B. Servin, Über die peinliche Gesetzgbg. I, Kap. 4, Abschn. 1, § 1,S. 215 die Frage auf, ^ob die Irrtümer unseres Geistes nichte benso gut aus einem Fehler der Organisation als auä der Bosheit des Herzens kommen können*", und K. v. D al b erg , Entw., S. US bemerkt, daß „der Körperbau . . . offenbar auf viele Laster Einfluß*' habe. Vergl. auch Willen- brichera.a.0. S. 9, 10, Anm. 2 u. 3 (über die Ansichten Friedrichs des Großen)

3) Esprit de lois, Li vre VI, chap. 9, p. 72: « un bon I^gislateur s'attachera

moins ä punir les crimes qu'ä les prövenir; il s'appliquera plus ä donner des moeurs qu'a Inf liger des supplices"". Ihm schließen sich an Beccaria, (§36 [Esselborn, S. 154J u. § 41 [Ö. 162 ff.]: „Es ist besser, den Verbrechen vorzu- beugen, als sie zu bestrafen'') und Voltaire (Commentaire, §1 (Brissot, Bibl. philos. T. I, p. 203]: „La v^ritablc jurisprudence est d'empecher les d^lits"; Prix de la justice, Ait.1 [Bibl. philos. T. V, p. 9]), mit dem auch Friedrich der Große übereinstimmt (Brief an Voltaire v. 11. Okt. 1777: „qu'il vaiait mieux em- pOchcr et prßvenir les crimes que les punir"; vgl. Masmonteil,a. a. 0. p. 209, 210). Von Franzosen s. auch noch Brissot de Warville, Discours couronnö v. J. 17S0 (in s. Bibl. phil. T. VI.), p. 23 ff. und Theorie, T I, chap. 1, p. 87 und ff. (..Moyens de prßvenir le crimes") ; M. 1. F., Plan de l^gislation sur les matidres cri- minelles (bei Brissot, Bibl. phil. T. V.), p. 336 ff. (^De la maniöre de prßvenir les crimes); de la Cretelle, Vues sur la justice criminelle (Bibl. phil. T. VIII, p. 338 ff. („Des moyens politiques de pr6venir les crimes"").

4) Zitate dafür zu häufen erscheint daher überflüssig. Vergl. i. allgem. Malblan k, Gesch. d.P.G.-O., § 60, S. 2()5, Ziff. 1; Hälschncr, Gesch. d. brand.-

138 IX. GfKTHER

Kennzeichen der modernen Richtong^ gehören, >) ja von manchen so stark in den Vordergrund gerückt sind, daß sie das ganze „Stiafrecht* am liebsten in den weiteren Begriff eines „Verbrechensbek&mpfongs- rechts^ aufgehen lassen möchten/-) Selbst in der Ausdrucks- weise tritt die Ähnlichkeit in den Anschauungen beider Perioden

preuß. Strafr., S. 171 ff., 197; Birkmeyerim Archiv für Straf r., Jahi^^. 48, S. 9T. Anm. 86; Günther, ebds. S. 34, 35, Anm. 165 u. 166 (betr. Prdsaossdireiben und die monographische Literatur über diesen Gegenstand nach Böhmer. Handbuch d. Lit. des Khminairechts) u. G.-S. 61, S. 206 ff. u. die AnmerkgiL Bes. merkwürdig ist die in sich widerspruchsvolle Schrift „Versuch über die gesetz- gebende Klugheit, Verbrechen ohne Strafen zu verhüten*' (Frankfort u. Leipzig 1778), deren Verfasser (nach Böhmer, Handb., S. 278, Nr. 645) E.H. Prätorins gewesen ist. Vergl. Allg. dtsch. Bibl., Bd. 39 (1779), S. 403ff., s. auch GUser, Übersetzg. v. Beccaria, S. 9 Anm. **.

1) Kitzinger, Die IKV., S. 23. Angaben von Spezialliteratnr u.a. bei Birkmeyer im Archiv für Straf recht, Jahrg. 48, S. 97, Anm. 86. Für die ge- schichtlichen Wandlungen von Interesse: E. v. Jage mann. Die Vorbeugung* mittel gegen Verbrechen einst und jetzt (Vortrag, gehalten auf dem 4. intemat. Pönitentiarkongreß in St Petersburg, 1890, S.-A. aus den Akten des Kongr., Bd.

1. S. 759ff.) 1891; bedeutsam auch Ferri, Das Verbrechen als soziale ErscheiDong. Grundzüge der Kriminalsoziologie, deutsch v. Kurella, 1896, S. 179 ff.: rg). femer noch die in den folgenden Anm. angeführten Werke.

2) S. bes. die Schriften von Andreas Thomson: Grundriß des Verbrechens- bekämpfungsrechts, enthaltend das Straf- und das sonstige Bekampfnngsrecht, 2 Teile, Berlin 1905 (Allgem. Teil, bes. die Vorrede, S.Vmff., XXIVff., XL XLI) und 1906 (Bes. Teil, namentl. das ,3chlußwort'') und Das deutsche Straf- recht, Vorieaungen, Beriin 1906/7, femer Z. f. d. d. ges. Str.-W. 26 (1906), S. 698 ff. n. 27 (1907), S.696ff., zum Teil auch schon Thomsons ältere Schrift: Kiiminal- politische Bekämpfungsmethoden, Beriin 1893. Vergl. auch Mittermaierind. Schweiz. Z. f. Straf r., Jahrg. 14 (1901), S. 153 (für die Ausgestaltung des alten Strafrechts zu einer neuen „Verbrechenswissenschaft''). Gegen die zq starke Berücksichtigung der prophylaktischen Maßregeln aber Bin ding, Grundriß. Allg. Teil, 7. Aufl. (1907), Vorwort S. VII ff. - Beachtenswert ist der Hinweis Thomsons (Grandriß I, Vorrede S. XIX) darauf, daß auch in der modernen Jjiteratur bereits mehr und mehr allgemein von einem „Kampfe'' gegen das Ver- brechen oder von „Bekämpfung*' des Verbrechens und seiner Ursachen statt nur von dessen „Strafe" oder „Bestrafung" gesprochen wird. Vergl. z. B. Stooß. Der Kampf gegen das Verbrechen, Bern 1894; Lombroso, Die Ursachen und die Bekämpfung des Verbrechens, deutsch von Kurella u. Jentsch, 1902; Asch äffen bürg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung (1. AnfL 1903),

2. Aufl. Heidelberg 1906; F. A. K. Krauß, Der Kampf gegen die Verbrecheos- ursachen usw., Paderbom 1905 (vergl. oben S. 119, Anm. 3). Übrigens ist natürlich die „Bekämpfung des Verbrechens" weder schlechthin identisch mit der „Vorbeogong'' (8. Ascbaff enburg, a. a. 0., Vorrede {zur 1. Aufl.], T. VI), noch bildet sie stets einen Gegensatz zur „Vergeltung"; s. darüber Birkmeyer, Strafe und sichernde Maßnahmen, München 1906, S. 43, Anm. 90 (gegen Kraepelin in der M.-S. für Kriminalpsych. 3, S. 25S).

Die Strafrccbtsreform im Aufklärungszeitalter. 139

zuweilen ganz deutlich hervor. So ist die in den „Satzungen^ der internationalen kriminalistischen Vereinigung in ihrer ursprüng- lichen Fassung (Art. II, d) aufgestellte Regel: „Die Strafe ist (nur) eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens, . . . aber nicht das einzige Mittel^ dazu (weshalb sie auch „nicht aus dem Zusammenhange'^ mit den übrigen Bekämpfungs-, insbesondere den Verhütungsmitteln „gerissen werden" dürfe) fast wörtlich in den Werken mancher Aufklärungsschriftsteller anzutreffen. 0 Auch der heute so überaus beliebte Vergleich des Gesetzgebers mit dem Ärzte, der dem Ausbruch von Krankheiten zunächst durch hygieni- sche Maßregeln zuvorzukommen suchen soll, ehe er zu deren Heilung scharfe Arzneimittel verwendet, ist bereits unseren Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert nicht unbekannt gewesen. ^) Aufgabe des Staats so lehrte man schon damals genau so wie heute ist es vor allem, die Ursachen des Verbrechens zu erforschen und zu be- seitigen, 3) seine Quellen zu verstopfen, 4) also Armut und Müßig-

1) S. bes. V. Soden, Geist usw. I, § 36, S. 60: „Der Endzweck der pein- lichen Gesetze überhaupt ist Verhütung der Verbrechen. Strafen sind aber nun eines der Mittel zu diesem Endzweck"; vgl. Günther, Wiedervgltg. II, Vorwort, S. IX, Anm. 15. Ahnlich auch Rathlef, Vom Geiste usw., S. 6; Beseke, Versuch, Kap. VI, Absobn. 7, S. 88, Nr. 4 u. Kap. VIT, Abschn. 1, S. 58 ff., 64; Wieland, Geist usw. I, §835, S. 453. Zu vgl. auch v. Globig u. Huster, Abhdig., S. 8. Wie femer in der Neuzeit u. a. v. Liszt (Straf r. Auf f. II, S. 139) noch ausdrücklich betont hat, daß die Strafe auch lange ,,nicht (einmal) das wirksamste '' Mittel zur Verhütung der Verbrechen sei, ganz ebenso ist dies öfter auch schon in der Aufklärungszeit geschehen; s. z. B. v. Soden, a. a. 0. § 73, S. 113 u. Corrodi in Plitts Rep. f. d. peinl. Recht n, S. 143; zu vgl. auch Gmelin, Grundsätzen sw., Einltg., § 1, S. 2 (im Anschluß an Servin).

2) S. u. a. bes. V. Gl obig u. Hnste'r, Abhdig., S. 12: . . Der peinliche Gesetzgeber ist der Arzt des Staates, und kann er durch gute Diät den Pa- tienten heilen, so fordert die Gerechtigkeit, daß er sich nicht heftiger Arzneien bediene^^; ähnlich auch Seeger in Plitts Repert f. d. peinl. Recht I, S. 18$.

3) S. im allgem. v. Liszt, Strafrechtl. Auff. 11, S. 380: . . die Trage nach den Ursachen der Kriminalität war den Schriftstellern der Aufklärungszeit nicht fremd'% nur fehlten ihnen noch ^die Mittel zur Losung des (kausalen) Problems", weil damals die Wissenschaften der Kriminalpsychologie und Krimi- nalsoziologie i. wes. noch unbekannt waren.

4) S.u.a. bes. Karl v. Eckhartshausen, Von den Quellen der Verbrechen und der Möglichkeit selben vorzubeugen, in dessen „Reden zum Wohl der Menschheit*', München 1784, Nr. V. (Böhmer, Handb., S. 303, Nr. 673); vgl. femer Klein, Fragmente usw., Kap. V, a. a. 0. S. 59ff.: „Wie verstopft man die Quellen der Verbrechen?"; Beseke, Versuch, Kap. 4, S. 19, 20 („man ver- stopfe . . nur die Quellen des Lasters, (so) wird es schon von selbst ver- schwinden"); vgl. auch ebd. Kap. 5, S. 22ff., Kap. 1, Absch. 1, S. 59; See g er in Plitts Repertor f. d. peinl. R. I, S. 184 („rätlicher^ als zu strengen

140 IX. Günther

gang, ^aller Laster Anfang'',^) Unwissenheit, Aberglauben^) nnd sonstige Vorurteile zu beheben und zunächst immer noch ohne das

Strafgesetzen zu greifen sei es „auf die Quellen (der Verbrechen) zuriickzugeheu und diese zu verstopfen zu suchen'*); v. Dalberg, Entwurf, S. 14S ff. („Prak- tische Bemerkungen über die Ursachen der Verbrechen", S. 187 ff. („Von den Ursachen der Verbrechen")i u. S. 190 ff. „Von den Mitteln, wie die Ursachen der Verbrechen zu heben sind''); vergl. auch die allgem. Literaturangaben über die Vorbeugung der Verbrechen oben S. ISS, Anm. 1.

1) V. Sonnenfels, Grundsätze, der Polizei, Handlung und Finanz (l.AofL Wien 1765, 9. Aufl., ebd. 1S19), Teil I, § 99, S. 115: „Müßiggang ... die Pfle?- schule des Lasters'*; R. v. Dalberg, £nt^\, S. 1SS:„ . .. gewiß ist, daß Müßig- gang der wahre Anfang zu allen Lastern und Verbrechen ist'; veigl- auch Klein, Fragmente; S. 60: „Faulheit auf der einen Seite, Mangel auf der anderen erzeugen die meisten Verbrechen.'' Cber die Bekämpfung bezw. Bestrafung der Bettelei und des Müßiggangs finden sich bald mehr allgemeine, bald speziellere Bemerkungen u.a. beiBeccaria, §34, ^^. 146 47 („Von dem politischen Müßiggang"»; Filangieri, System der Gesetzgbg. IV (3, 2), S. 509|10; Brissot de Warville, Discour» (Bibl. phil. T. VI), p. 68ff., Theorie I, chap. 1, p. 75ff. u. 258ff.; M. le F.. Plan de l^gislation en mati^res criminelles (bei Brissot, Bibl. phil. T. V) p. 33Sff., 342ff.; de la Cretelle, Vues etc. (Bibl. phil. T. Villi, p.340; Servin, Über die peml. Gesetzgbg., S. 328/9; v. Sonnenfels, a. a. 0. § 99, S. llSff., § 100, S. 117 ff., § 102ff., S. 121 ff., §119ff., S. 142ff.; Versuch einer gesetzgeb. Klugheit usw. (Allg. deutsch., Bibl., Bd. 39, S. 404); v. Dalberg, Ariston, in Plitts £ep. I, &34; Quistorp, Entwurf I, 2, § 42, S.46 („Verhütung des Müßiggangs"); B eseke, Ver- such, Kap. 7, Abschn. 2, Xr. 7, S. 77ff.; v. Globig u. Huster, Abhdlung, S. IT u. 252; Corrodi in Plitts Rep. II, S. 143; Wieland, Geist I, § 184ff., S. 241ff. („Von den Polizeianstalten wider den Müßiggang"), vergl. auch ebd. §193 ff.. S. 254ff.; Gmelin, Grunds., § 4, S. 7, S; Bergk, Übersetzung von Beccaria II» S. 278; vergl. auch noch die Angaben bei Günther, Wiedervergeltg., n S. 252 und Anm. 696 (Einsperrung solcher Personen, die aus Müßiggang und Faulheit zu Verbrechern geworden, in Arbeits- und Zuchthäusern). Über den Luxus als Quelle des Vcrbrecheus s. bes. J. Fr. H. v. Dalberg, Ariston, in Plitts Rep. I. S. 35 undK. V. Dalberg, Entw., S. 1S9, 193, Nr. 7; vergl. auch v. Globig und Huster, Vier Zugaben, S.364ff.; Gmelin, Grundsätze, § 4, S. 6, 7. Über, über- mäßiges Trinken^ (Alkoholismus) s. v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 123, S. l4S/.<, Gmelin, a. a. 0. S. 6, 7 u. bes. Vcrauch über die gesetzgebende Klugheit usw. (Allg. dtsch. Bibl., Bd. 39, S. 404). Über Verhütung der Armut (durch .Beför- derung des Nahrungsstandes'^, Verschaffung von Arbeit für die Arbeitsfähigen u. -willigen, Emchtuug von Armenhäusern usw.) s. v. Sonnenfels, a.a. 0. § lOU S. 119; Quistorp,EntwurfI, 2, §42, S. 46; B eseke. Versuch, Kap. 7, Abschn. 2, Nr. 4, S. 73ff.; v. Globigu. Huster, Abhdlg.,S. 13; Graebe, Befonnation usw.. § 53, S. 93; Corrodi in Pliits Rep. II, S. 143; Gmelin, Grunds., § 4, S. ^; v. Dalberg, Entwurf, S. ISS, 192, Nr. 3; Bergk, Übersetzung von Beccaria II, S. 278. Über Voltaire s. Masmonteil, a.a.O. p. 209. Über das schon da- mals teilweise (so von MorelU'u. de Mably) anerkannte »Recht auf Existenz* s. Anton Menger, Neue Staatslehre, 3. Aufl., Jena 1906, S. 98, Anm. 1.

2) Vergl. darüber bes. H o m m e 1 , Philos. Gedanken, § 39, S. 70 ff., § 4S, S. 97, § 77, S. 154/5; v. Dalberg, Ariston, a. a. 0. 1, S. 35.

Die Straf rech tsreform im Aufklärnogszeitalter. 141

scharfe Bepressivmittel der Strafe die sog. „Tugend" der Unter- tanen zu befördern.

Als hierzu geeignete Mittel allgemeiner Art werden dann namentlich richtige Erziehung der Jugend, Bildung des Volkes, seine Anhaltung zur Arbeit, Erhaltung seiner Religion, und nicht zum wenigsten endlich auch eine „gute Polizei^ genannt In einer Zeit, wo soeben Bousseau's „Emile^^ die Geister der Gebildeten beschäftigt, wo Pestalozzi die dort niedergelegten Ideen bereits praktisch durch- zufahren begonnen hatte, lag es ja nahe, vor allem auf eine gute Erziehung. der Kinder, der späteren Staatsbärger als „die erste, wichtigste und wesentlichste Angelegenheit des Staats" i) hinzu- weisen. ^) Die Bedeutung des Satzes „Sauvez Penfant et il n'y aura plus deshommes ä corriger ou ä punir"^) hatte man schon da- mals erkannt Leider fehlte es aber den meisten Schriftstellern gar zu sehr an pädagogischen Kenntnissen, um hierüber namentlich auch bezüglich der Reorganisation des eigentlichen Unterrichts mehr als allgemeine Redensarten vorzubringen, „Gewäsch" nennt es

1) Seeger in Pütts Rep. I, S. 216.

2) Von den französischen Juristen hat bes. Servan unter dem Einflüsse Kousseaus ^in der Erziehung ... das vomigliehste Yorbengungsmittel gegen Verbrechen'' erblickt. Hertz, Voltaire, S.317, wo d. nähere. ÜberMontesquieu (Esprit des lois, Liv. IV, p. 27ff.) s. Esselborn, Übers, von Beccaria, S. 16S, Anm. *; über Marat s. Günther, G.-S. 61, S. 206, Anm. 4; vgl. auch Brissot de Warville, Discoure (Bibl. phil. T. VI), p. 54 ff., Theorie I, chap. 1, p. 66ff.; auch de laCretelle, Vues etc. (Bibl. phil. T.Vin),p. 340 u. Servin, Über die pein- liche Gesetzgebung, S. 23 haben die Frage kurz berührt. Beccaria 41, S. 16S), der die „Verbesserung der Erziehung'' als „das sicherste, aber (auch) das schwie- rigste Mittel, die Verbrechen zu verhüten'', bezeichnet, ist gmndsatzlich nicht näher auf den Gegenstand eingegangen. Viel ausführlicher sind z. B. seine Lands- leute Tomaso Natale (s. n. bei Günther im Arch. für Strafr. 48, S 35ff ) und Filangieri, System der Gesetzgbg. IV i3, 2), Kap. 58, S. 734ff. In Deutschland finden sich fast bei allen kriminalpolit. Schriftstellern dieser Zeit kürzere oder längere Exkurse über die Erziehung und ihre Verbesserung; vcrgl. Günther im Arch. f. Strafr., Jahrg. 48, S. 35 u. Anm. 169. Eine lateinisch geschriebene Mono- graphie über gute Kindererziehung als sicherstes Mittel der Verbrechens- verhütung erschien 1795 in Leipzig von J. Fr. Aug. Baumann (s. Böhmer, Handb., S 806, Nr. 683). Über Vorschläge zur Verbesserung der Erziehung im allgemeinen in der Gegenwart s. etwa C. v. M a s s o w , Reform oder Revolution , 2. Aufl.Beri 1895, S. 58ff.; Tonnies, Strafrechtsreform, S.21ff. Über die „Pro- phylaxe durch Erziehung" s. auch Krauß, der Kampf gegen die Verbrechens- Ursachen**, S. 69 ff.

3) Ausspruch von Th^ophile Roussel*auf dem Internat. Gefängniskongreß in St Petersburg 1890, von As ehr Ott seiner Schrift „Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend und Vorschläge zur Reform'* (Berlin 1892) als Motto vorangestellt.

142 IX. Günther

geradezu einmal der etwas derbe HommeP), welcher der Ansicht ist, es sei nötiger, zunächst den Bildungsstand der Volksschull ehrer selber zu heben, die auch v. Soden nicht nur als die „yerachtetste"^ und ^dürftigste'^y sondern geradesu als „größtenteils die unwissendste Menschenklasse^ bezeichnet 2) Unter den Voraehlägen zur äußeren Umgestaltung des Erziehungswesens kehrt öfter wieder der Wunsch nach Befreiung von der namentlich in den romanischen Staaten auf diesem Gebiete damals noch überwiegenden Herrschaft des Klerus 3) sowie nach staatlicher Leitung und Oberaufsicht des Schul- wesens *) ; jamancheSchriftsteller sind nach antiken Vorbildern (Sparta) und zugleich in Übereinstimmung mit modernen sozialistischen Ideen^) zu der Forderung gelangt, die Kinder schon in frühester Jugend den Eltern ganz wegzunehmen, um ihnen bis zu einem bestimmten Lebensalter unter ausschließlicher Aufsicht des Staats, aber auch auf dessen Kosten, eine gemeinschaftliche, gleichmäßig geregelte Er- ziehung zu geben. ^) Nur vereinzelte Ansätze zeigen sich dagegen schon in dieser Zeit zu einer staatlichen „Fürsorgeerziehung^ nicht bloß der „verbrecherischen", sondern auch der „verwahrlosten Jugend." 7)

Neben verbesserter Jugenderziehung sollte dann auch Erziehung oder Bildung der Erwachsenen im Staate, ihre Veredlung in

1) Philosophische Gedanken, § 49, S. 9S.

2) Geist der peinl. Gesetzgb. I, § 76, S. 116.

3) Sobes.Toma8oNatale(8. Günther, Arch. f. Straf r. 48, S. 37, Anm. ISO); von Deutschen z. B.: Rathlef , Vom Geiste usw., S. S: „Die Pädagogik muß ganz von den Priestern genommen werden."

4) S. namentlich v. Sonnenfeis, Grundsätze I, § 70, S. 79, SO und dazu \V. Müller, Josef von Sonnenfels, biogr. Studie aus d. Zeitalter der Aufklärung in Österreich, Wien 18S2, S. 124.

5) Vgl. A. Menger, Neue Staatslehre, 3. Aufl., Jena 1906, S. 216 vbd. mit S. 138.

6) S. bes. schon Morel ly, Code de la nature ou le v6ntable esprit deslois (1755), p. 34 ff., 133 ff. u. namentl. p. 220 ff. („Lois d'dducation", bes. § 4 ff.; vergl. A. Meng er, a. a. 0. S. 13S, Anm. 2); femer: Francesco Paolo di Blasi (sizilian. Advokat, 1795 wegen poHtischer Verschwörung hingerichtet), Sulla legislationc della Sicilia (1779), § 5 („Deir educazione"), in den ,,Scritli di F. P. di Blasi" etc, ed. Francesco Guardione, Palermo 1905, p. 27,28; Filangieri, System der Gesetzgbg., Bd. V u. VI = 4. Buch, I.Teil („Von den Gesetzen, welche die Erziehung betreffen), bes. Bd. V, Kap. 2, S. 21 ff., Kap. 7, S. 50 ff. u. Bd. VI. Kap. 17, S. Iff. Dagegen aber: v. Sonnenfels, Grundsätze I, §70, 8. Sl, Anm. m.

7) So bes. bei v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 71, S. 82, Beseke, Ver- such, S. 109, Nr. 1 und Wieland, Geist I, § 138, S. 186, § 139 S. 187 ff.; ver^. auch v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 330/31.

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszcitalter. 143

Wissenschaften und Künsten USW. einhergehen. M Diese ,,Anfklärung^^ des Volkes, wie das allgemeine Schlagwort der Zeit lautet*), macht aber die Beligion noch keineswegs entbehrlich '), sie wird vielmehr neben der besonders als Bekäropfungsmittel des Müßiggangs em- pfohlenen — Arbeit wohl als ein wichtiges Beförderungsmittel der Gesittung eines Volkes angeführt, da sie wie der Sizilianer Tomaso Natale di Monterosato sich ausdrückt die ^Recht- schaffenheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit^^ verbreite.^) Auch in Deutschland hat sie noch viele Lobredner aufzuweisen gehabt, und zwar keineswegs etwa bloß unter den Theologen. ^) So ist sie z. B. von V. Globig und Huste r als „eine unsichtbare Führerin zur Tugend und zum ordentlichen Leben'* gepriesen^), von v. Soden

1) Vergi. etwa Tomaso Natale (Günther im Arch. f. Strafr. 48, S. 37); Fiiangieri, System, Bd. VII (4. Buch, 3. Teil), Kap. 49 ff., S. 147 ff.; v.Sonnen- feU, Grunds. I, §80, S. 93; v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 13; v. 8oden, Geist I, § 78, S. 117; femer die Angaben in der folgenden Anm.

2) Über die „Aufklärung'' des Volkes als Vorbeugungsmittel von Verbrechen s. bes. Beccaria, §41, S. 164ff. u. 166/7; Servin, Über die peinL Gesetzgbg., S. 22 u. 26; v. Sonnenfels, Grunds. I, § 80, S. 93; Rathlef, Vom Geiste, S.6; Corrodi in Pütts Rep. U, S. 143; vergl. auch Quistorp, Entw. I, 2, § 42, S. 46, Wieland, Geist I, §37, 38, S. 55—57 u. imallg. noch Hälschuer, Gesch. d. brand.-preuß. Strafr., S. 175.

3) Fr. Th. Vischer, Ästhetik, II. Teil, 1. Abt, Reutlingen u. Leipzig 1847, S. 82: ,,(Die Aufklärung war) keine wahre Kritik der Religion und darum ließ sie dieselbe bestehen.*^ Selbst Voltaire meinte: „s'i Dieu n'existait pas, il fau- drait Finventer (Masmonteil,. a. a. 0. p. 198).

4) S. dazu Günther im Arch. f. Strafr. 48, S. 37; ähnlich auch Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 58, S. 735/6 u. VIU (5. Buch), Einltg., S. 2, 3; Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 24 ff. und S. 211.

5) Daß diese gerade in der Religion „die festeste Stutze aller Tugenden" und in ihrem „Mangel^ die Hauptursache der Verbrechen sahen (v.Dalbergr Entw., S. 189/90, Nr. 8 u. dazu Ab egg in G.-8. 15, S. 133) kann um so weniger auf- fallen, als dies auch heute noch in den Kreisen der Theologen die herrschende Anücht ist S. Krauß, Der Kampf gegen die Verbrechensursachen, I. Teil. L Abschn., Kap. 3, § 5, S. 17 ff. u. bes. Kap. 5, § 9 ff., S. 34 ff. („Die Religionslosig- keit als Hauptursache des Verbrechertums^); 'vergl. dazu Kohlrausch in d, Z. f. d. ges. Str..-W. 26, S. 883. Über eine ü nte r Schätzung des Einflusses der Re- ligion im e. S. (im Gegensatze zur „Moral^) auf die Kriminalität bei neueren Schriftstellern, wie z. B. Bonget (dem Verfasser des Werkes „Criminalit6 et conditions ^conomiques,^ Amsterd. 1905), s. Näcke in Gross' Archiv für Krim.- Anthrop., Bd. 26 (1906), S. 112, 113.

6) Abhdlg., S. 22; s. auch Vier Zugaben, S. 293; vergl. Ischner a. a. 0. S. 198; V. Roh 1 and. Historische Wandlungen der Religionsverbrechen, in der Freiburger Festschr. zum 50 jähr. Regier.» Jubil. des Großh. von Baden, Freiburg 1902, S. 187.

144 IX. Gi'NTHER

als „die Basis gesellschaftlicher Verbindung''^), von v. Sonnenfels derber als ,,der Leitriemen'' bezeichnet worden, an dem der Regent seine Untertanen gängeln könne. 2) Hand in Hand mit diesen Verhütungsmitteln der Verbrechen soll dann noch eine „gnte (kluge oder aufmerksame) Polizei'* (oder auch „Polizeiaufsicht"') als „treue Gehilfin des peinlichen Rechts" (v. Gl ob ig) ihre präventive Tätigkeit zur Aufrechterhaltung guter Sitte und Ordnung ausfibeo. 'i Nur gehen die Ansichten über diesen Begriff noch auseinander. Meistens freilich räumt man der Polizei eine fast unbeschränkte Machtbefugnis ein, und nur wenige sind so vorurteilsfrei wie Bom- mel, der sich energisch gegen die „gesetzgeberische Mückenfängerei*' der damaligen nach seiner Meinung im Predigtton gehaltenen Polizeiordnungen wendet, „welche den Menschen zur Maschine machen" wollten, „die zu gehöriger Zeit schlafen, beten, essen und trinken" solle. *) Schließlich sei noch erwähnt, daß schon damals die nener-

1) Geist der peinl. Gesctzgbg. I, § 77, S. 116. Ähnlich: Sehott, Obsenat. de delict. et poenis etc., Tüb. 1767 (deutsch bei Schall, Von Verbrechen und Strafen, Leipzig 1779)» S. 29 („die stärkste Stütze der bürgerlichen Gesellschaft- 1.

2) Grundsätze der Polizei usw. I, § 63, S. 70; vergl. W. Müller, a. a. 0. S. 111. Übrigens bildet diese häufig zitierte Stelle nur den Schlnß einer längereo. überschwänglichen Lobrede auf die Religion (näher, s. § 63, S. 69 ff.), vergl. aoch §65, S. 72ff. S. im allgem. etwa auch noch Wieland, Geist I, § 27 ff., S. 41 ff.. § 37, S. 55; Gmelin, Grundsätze, § 3, S. 5ff.; Pütt i. ». Rep. I, Vorwort, S.22: V. Eber st ein, Entw., Vorrede, S. 4 u. Text S. 22 ff. u. S. 79 ff. u. a. m. (vergl. auch Günther im Areh. f. Strafr. 48, S 35, Anm. 169).

3) Schon Friedrich der Große bemerkt in einem Briefe an Voltaire V. 9. Nov. 1777): „üne bonne police emp^che autant de crimes que ladoucear des lois'MMasmonteil, a.a.O. p. 210). S. femer bes. v. Sonnen f eis, Grunds., S. 46Sff.; Rathlef , Vom Geiste, S. 8.; v. Soden, Geist I, § 74, 75, S. 115ff.: Quistorp, Entw. 1,2, §42, S. 46; Beseke, Versuch, S. 121, Nr. IX; v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 8, 19ff. u. 250 u. Vier Zugaben S.290ff.; Rossig, •Vor- erinnerung'* zu Homroels Phil. Ged., S.XXII, Nr. 8; Gmelin, Grandsatzc, §4. S. 6, 7; v.Dalberg,Entw., S. 187, 188,189, 192, Nr. 4, 194ff.; Brissot de War- ville, Discours (Bibi. phil. T. VI), p. 73 ff.: („mar^chauss^es, police"), Theorie, 1. p. 85 ff.; de la Cretelle, Vues etc. (Bibl. phil. T. VUI), p. 340; Schall, Von Verbrechen und Strafen, S. 92; Corrodi in Plitts Rep. II, S. 14.*J; Wieland. Geist I, § 103ff., S. 143ff.; Bergk, Übers, v. Beccaria II, S. 278. Über den Ein- fluß der ganzen Richtung der Zeit auf die Polizeiübertretongen s. noch Geib. Lehrb. I, S. 332; Hälschner, a. a. 0. S. 171ff. Auch die Neuzdt eriiennt an, daß ^zur Prophylaxe des Verbrechens" auch „die Ausbildung der Polizd" gebort Aschaffenburg, Die Bekämpfung usw., S. 205.

4) Bommel, Philosophische Gedanken, § 22, S. 42 vbd. mit § 26, S.45, § 71, S. 143; s. auch Übers, v. Beccaria, S. 217, Anm. a; vergl. Landsberg, Gesch. III 1, S. 396. Warnungen vor Überspannung der polizeilichen Überwachung auch bei Rathlef, Vom Geiste, S. 8 und v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 21.

Die Strafrech tsrefonn im Aufklärangszeitalter. 145

dings ebenfalls wieder mehrfach aufgeworfene Frage diskutiert wor- den ist, ob es sich nicht empfehle, dem Umsichgreifen der Verbrechen auch einmal dadurch zu steuern zu suchen, daß man die sog. „Tugend^', d. h. das Wohlverhalten der Staatsbürger positiv durch Gewährung von (gesetzlich bestimmten) Belohnungen befördere. Während da- für z. B. in Italien Beccaria und Francesco Paolo di Blasi, in Frankreich Voltaire und Diderot, in Deutschland Hommel, V. Gl ob ig und Huster u.a.m. eingetreten sind^), haben dagegen

1) S. Beccaria, §41, S. 168 (vergl. dazu Günther, Wiedervergeltung II, S. 181, Anm. 439 u. die dort Angeführten); Fr. P. di Blasi, Sulla iegislazione etc., §9 („dei premj"), ed. Guardione, p. 36—38; vergl. auch Giacinto Dragonetti (Advokat in Neapel), Trattato delle virtü e dei premi (u. dazu Brissots Bibl.pbil. T. IX, p. 289ff.); Voltaire, Prix de la justice, Art XXVIII (ßrissot, Bibi.phil. T.V,p.l05ff. ; vergl.Frank, DieWolffsche Straf recht8phil.,S. 65; Günther, Wieder- vergeltung II, S. 167. Anm. 377); Diderot, Oeuvres eompl. T. I: „Essai sur le m6rite et la vertu'', p. 17 ff., bes. p. 55, femer in den ^Lettres k Mademoiselle de Volland" (Oeuvr. T. XVIII, p. 353tf.) und im Artikel „Libertß*' der Enzyklopädie (s. V. 0 verbock, a.a.O. S. 48 u. Anm. 3 u S. 51); vergl. auch die Observations sur le trait^ des dälits et des peines bei Brissot, Bibl. phil. T. I, p. 311, 312 und M. le F., Plan de Mgisl. sur les matiäres criminelles, ebd. T. V, p. 336 ff.; Uommel, Übersetzg. v. Beccaria, S. 230, 231, Anm. f; v. Globig u. Huster, Abhandlung, S. 13; femer Rathief, Vom Geiste, S. 6; Quistorp, Entw. I, 2. §42, Ö. 46; Beseke, Versuch, Kap. 6, S. 30,31 u.Ab8chn.II, S. 122/23; Wieland, Geist I, § 8 ff., S. 10 ff. (der jedoch nur mit wesentl. Einschränkungen [s. bs. §9, S. 12, Nr. I— lU] dafür ist). Speziell noch über Belohnung der Keuschheit des weibl. Geschlechts: Rathief, Der Eindermord und seine Strafe usw., Anhang I zu seiner Schrift: Vom Geiste der ELriminalgeaetze, S. 170ff. u. Quistorp, Elntw. I, §326, S. 361ff., 363, Anm. c; vergl. auch Hommel, a. a. 0. S. 231, Anm. f; über Belohnung für gute Erziehung der Kinder: Wieland, Geist I, § 128, S. 174ff., § 140, S. 18Sff. (und dazu Graebe, Über die Reformation usw., § 29, S. 54); über Belohnung der Dankbarkeit: v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 15, 16; über solche für Verhinderung von Selbstmorden: Quistorp, Entw. I, § 254, S. 281 und Pflaum, Entw. I, § 188, S. 179; über solche für Anzeige eines bevorstehenden Zweikampfs s. Gmelin, Grands. § 75, S. 157; über solche für das Ausschlagen einer Herausforderung zum Duell näheres noch weiter unten. Über die „belohnende Vergel- tung"" bei den vorkantischen Rechtsphilosophen Karl Chr. Erfa. Schmid, Ludw. Heinr. Jakob u. Joh. Heinr. A b i c h t s. näheres bei Günther, Wiedervgltg. II, S. 265ff.; ebd. S. 266, Anm. 751 a. E. auch über J. G. H. Feder. Über das preuJB. All g. Landrecht s. noch weiter unten; aus späterer Zeit zu vergl. noch Jer. Beut harn (Th6orie des peines et des r^compenses par E. Dumont, 3. ed , Paris 1826, P. II, bes. Livre I, p. 1—162) und über ihn jetzt Maillard, £tude histor. etc., p. 39 ff. In der Neuzeit hat den iauch mehrfach in der Tagespresse erörter- ten) Gegenstand gründlich behandelt bes. der Brüsseler Advokat F. Holbach in seinem Werke: Justice laudative, Recherches des 616ments d'un droit social com- plämenture de ia justice pönale, Brax. et Paris 1904. Vergl. im allg. auch noch

Archir für Eriminalanthiopolofie. 28. Bd. 10

146 IX. Gi-XTHER

andere (wie z. B. Tomaso Natale, Marat, v. Sonnenfels xmi Gmelin) Bedenken geltend gemacht i), und zwar n. a. besonders ein- mal mit Rücksicht anf die Schwierigkeit einer Abgrenzung der Be- lohnnngswürdigkeit, falls diese nicht mit einer bloßen Nichtkoilision mit den Gesetzen (sog. „politische Tngend" inr Gegensatze zur .^moralischen'^) gleichbedeutend sein solle ^), sodann aber auch beznir- lieh der Beschaffung der geeigneten Belohnungs mittel für so viele Personen. ')

Wäre es nun auch der idealste Zustand der menschlichen Gesell- schaft, wenn sie strafbare Handlungen allein durch nicht-kriminelle Vorbeugungsmittel verhindern könnte, so wird sich dieser „seit alter Zeit** gehegte „Traum der Menschenfreunde'* *) in Wirklichkeit kanm je erfüllen, da es erfahrungsgemäß in jeder staatlichen Gemeinschaft stets doch einzelne Mitglieder gibt, deren egoistische, antisoziale Triebe nur durch stärkere Maßregeln zurückgehalten werden können. Daher bedarf der Staat zum Schutze seiner friedlichen Mitglieder auch des Zwangsmittels der Strafe. ^) Der eigentliche „Rechtsgrund" für dieses staatliche ..jus puniendi'' wird übrigens von den Aufklärern überein- stimmend auf die seit Rousseau herrschend gewordene und durch Beccaria speziell in das Strafrecht eingeführte naturrechtliche Theorie von dem sog. Gesellschafts- oder Bürgervertrage (contrat social) zurückgeführt ♦% obwohl dessen heute ziemlich allgemein

Thomsen, Kriminalpolit Bekämpf uni^sniethodcn, S. 5ff., 61 ff., 102 ff. u. Ötkcr in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 17 (1S9T), S. 553 ff. u. 564 (Literatur).

1) Über Tomaso Natale s. das nähere bei Günther im Arch. f. Strafr. 4S, S. 1%, tiberMarat, Plan de l^gisl., p. 12T,2S: G.-S. 61, S.205. v. SonnenfeU hat »eine ablehnende Haltung bes. in der ^Vorrede" zur 4 Aufl. seiner ^Grand- sätze-, S. IX— XII motiviert, Gmelin, Grunds. § 2, S. 4, 5 erklärt sich haupt- sächlich deshalb dagegen, weil zu befürchten sei, ^es mochten leicht schlechte Be- weggründe zu guten Handlungen führen".

2) Dagegen ausdrücklich z. B. v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 13, 14.

3) Die auch sonst noch gegen das System gesetzlicher Belohnungen sprechenden Gründe sind gut erörtert in der oben S. 119, Anm. 3 angeführten Schrift von Niemierower, Über den Zusammenhang von Willensfreiheit (usw.) und Strafrecht, Kap. II, § 5, 8. 5*5; vergl. das. auch § 4, S. S u. Laas in d. V.-J.-Schr. für wiss. Philos. V (ISSl), S. 329 ff.

4) A. Meng er. Neue Staatslehre, S. 150.

5) S. dazu; S ervin. Über die peinl. Gesetzgbg., S. 32: „Da eine traurige Erfahrung uns die Unzulänglichkeit aller dieser (Vorbeugungs-) Mittel (der Ver- brechen) lehrt, so wird der Gesetzgeber sich gezwungen finden, Strafe zu be- stimmen'*; ähnlich Gmelin, Grundsätze, Einltg., §6, S. 11.

6) Über die allgemeine Beliebtheit dieses Gesellschafts- oder Bürgenvertrags bei den Aufklärern s. Wahlberg, Ges. kl. Schriften, S. 76ff.; Günther, Wieder- verpcltung II, S. 197, 19S und Anm. 523 und im Arch. für Strafr. 4S, S. 16 und

Die Strafrechtsreform im Aufkläningszeitalter. 147

anerkannter Widerspruch mit der historischen Entwicklung der Staaten schon damals von einzelnen nicht verkannt worden ist. 0 Nach dieser Theorie welche anknüpft an die ältere, u. a. schon von Hobbes und Spinoza aufgestellte Fiktion eines staatenlosen Naturzustandes der Menschheit, eines fortwährenden „bellum omnium contra omnes" gilt der Staat als das Produkt eines auf Gründung einer friedlichen und gesicherten Gemeinschaft gerichteten Ver- träges. 2) Nach freiwilliger Übereinkunft verzichtet jeder einzelne auf einen möglichst kleinen Teil seiner bisherigen Freiheit zum Wohle der Gesamtheit, der Staatsgewalt, welche sich darstellt als die Summe der geopferten Freiheitsteile und als deren Träger der Souverän erscheint. Die Verbrechen, die nun aus dem Bestreben der Menschen entspringen, den von ihnen für die Gesamtheit geopferten Freibeitsanteil wieder zurückzuziehen und sich womöglich auch noch etwas von den Anteilen der anderen anzueignen, sind mithin als Vertragsbrüche aufzufassen, denen die Staatsgewalt durch Strafen entgegenzutreten berechtigt ist, jedenfalls wenigstens dann, wenn sie auch ihrer Verpflichtung zu geeigneten Vorbeugungsmaßregeln nachgekommen ist^) Eine weitere Bedingung für den Eintritt der Strafe ist aber noch die Bekanntmachung der gesetzlichen Gebote

Anm. 92 95 (bes. über Rousseau, Beccaria, Tomaso Natale) vbd. mit Hertz, Voltsure, S. 132, 306; Masmonteil, La l^gisi. crim., p. 200; v. Over- boek, a.a.O. S. 25 ff., 124; Willenbucher, a. a. 0. S.Mff., 12; Pessina, II dir. penale in Italia, p. 10, 11, 19 (über Filangieri); speziell über Beccaria 2, S. 69 ff.) 8. noch Maillard, ßtude histor , p. 23ff. u. Esselborn, Übers., Einltg., S. 17 ff.; über V. Sonnenfels: W.Müller, a. a. 0. S. 111.

1) S.bes. V. Globig u. Huster, Abhdig. S. 4 („die gewohnliche Fabel der Staatsrechtslehrer'^, „jener erdichtete Ursprung der Gesetze**), S. 9 („den fabel- haften Grundsatz des Ursprungs des Staats''), S. 37 („nach dem ebenso unent- behrlichen als fabelhaften Grundsatz*^ usw.). Ahnlich auch Hommcl, Übers, von Beccaria, S. 9, Anm. c (dagegen: v. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. I, § 3, S. 16 ff.); vergl. auch noch Observations sur le trait^ des dßlits et des peines (bei Brissot, Bibl. philos. T. I), p. 269/70 undMarat, Plan de l^sl., p. 119/20 (8. Günther im G.-S. 61, S. 198 u. Anm. 3).

2) Gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gesellschaftsvertrage finden sich auch schon bei Grotius u. Pufendorf, besonders aber bei dem Engländer Locke. Vergl. Hertz, Voltaire S. 125, Anm. 1; Günther im Arch. f. Strafr. 4S, S. 16 u. Anm. 95 vbd. mit Wiedervergltg. II, S. 105ff. (betr. Grotius), n2ff. (betr. Hobbes), 114ff. (betr. Locke und Spinoza), 117ff. (betr. Pufendorf); Pessina, II diritto penale, p. 9.

3) Daß nur in diesem Falle die Strafe gerecht (bezw. notwendig) erscheine,

betonen ausdrücklich v. Gl ob ig u. Huster, Abhdig., S. 8 und Servin, Über

die peinl. Gesetzgbg., S. 20 ff.; vergl. auch Malblank, Gesch. der P.G.-O., §60,

S. 266, Nr. 2.

10*

148 IX. GÜ^NTHER

und Verbote für alle Staatsgenossen. Der Staat kann nur dann den Grandsatz befolgen, daß Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schütze, wenn er seinerseits alles für eine möglichst ^eite Verbreitnng der Gesetzeskenntnis getan hat. ^) Er muß zu diesem Zwecke wie z. B. von Soden sich ausdrückt ^) jedes „Vehikel" benutzen, wie die Kanzel, die Kalender (die damals, zumal auf dem Lande, zum Teil noch die Tagespresse [„Intelligenzblätter'^] ersetzten) 3,) den Unterricht der Schulkinder in dem heute als „Bürgerkunde*^ *) be- zeichneten Fache ^) und namentlich in den Hauptgeboten d^ Straf- rechts. Sodann aber müssen die Gesetze selber nach Form and In> halt dem Verständnisse des Volkes angepaßt sein, ^j Ein gutes Straf-

1) Vergl. Kleinschrod, System. Entw. I, § 131, S. 240: . . . Wer vennag (die) Strafbarkeit (von Verbrechen) einzusehen, wenn er nicht davon belehrt war?'' Beccaria, § 5 S. 75: „Je großer die Zahl derer ist, die die anerkannte Sammlung der Gesetze verstehen und in Händen haben, desto weniger häofig werden die Verbrechen sein.^ Auch S ervin, Über die peinl. Gesetzgbg. S. 23, V. Soden, Geist I, § 78, S. 117 und Be>eke, Versuch, S. 94, Nr. 3 wün- schen, daß das Gesetzbuch des Staats sich in den Händen aller Untertanen be- finde. Vergl. über allgemeine Bekanntmachung der Strafgesetze auch Rathlef, Vom Geiste, S. 6; v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 25; Gmelin, Grundsätze, § 2, S. 5.

2) Geist der peinl. Gesetzgbg. I, § 30, S. 47.

3) V. Sonnenfels, Grunds. I, § 162, S. 207/8 erwähnt neben Bekannt- machung der Gesetze „durch Anschlagnng an die Tore der Stadt, der Kirchen, der Staats- und Gerichtshäuser'' usw. auch schon ausdrücklich ^die Einrückung in die Zeitung, in die Intelligenzblätter"; für die des Lesens unkundigen Bürger empHehlt er die „Ablesung von der Kanzel" oder „unter öffentlichem Ausrufe oder Trommelschlage^ u. dergl. mehr. Über Lesung des Strafgesetz- buchs in den Gefängnissen s. Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 33, S. 103.

4) Äußerungen aus neuester Zeit über die Bedeutung der Bnrgerkunde in den Schulen u. a. in der Deutschen Juristen-Zeitung vom 5. April 1905, Sp. 825 ff. (Glock), vom 15. Nov. 1905, Sp. 1045/46 (Hedemann) und vom I.Jan. 1907. Sp. 23 (Hamm).

5) Vergl. u.a. Claproth, Entw. I, Hauptst 1, §21, S. 13, 14; Beseke, Ver- such, S. 94, 95, Nr. 7 ; Kleinschrod, System. Entwicklung I, § 130, S. 239, §131, S. 241; Marat, Plan de l^gisl. er., p. 139/40 u. Anm. 1 (vergl. Günther, G.-S. 61, S. 227 u. Anm. 3); Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S, 23. Aus den mono- graphischen Behandlungen der Frage (vergl. auch Böhmer, Handb., § 34, S. 530 ff .^ bes. Nr. 1417, S. 531/32 [Schott]) sei erwähnt: E. F. Klein, Von der ersten Ein- führung der Jugend in die Kechtsgelehrsamkeit, bes. auf Schulen*', in dessen „Vermischten Abhdlgn.'* usw., 3. St, Leipz. 1780, S. 39 ff. u. bes. S. 44 ff.

6) S. ausdrücklich (betr. die Form) v. Sonnenfels, Grunds. I, § 161, S. 206: „(Der Gesetzgeber muß) im Ausdrucke oft zur Volkssprache herabsteigen*; V. Eberstein, Entw., Vorrede S. 2, 3 (eine Kriminalgesetzgebung sollte „nicht nur ... eine Anweisung für den Richter, sondern ein Volksbuch sein, ... ein Belehrungsbuch, ein Sittenspiegel für das Volk"). Über die Forderung einer

Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter. 149

gesetzbucb muß daher vor allem in der Nationalspracbe, nicht etwa in einem fremden Idiom abgefaßt sein O7 ebensowenig wie man einem Volke fremde Rechtseinrichtungen aufdringen soll^j, eine Forderung, bei der es sich einige Schriftsteller nicht entgehen lassen, ihrer Ab- neigung gegen das römische Becht durch einige scharfe Seiten- hiebe Ausdruck zu verleihen.*) Weiter aber muß die Gesetzes- sprache möglichst kurz und klar, bestimmt und deutlich sein^), sie soll unnütze Wiederholungen und „verwirrende Weitläufigkeiten^, (v. Soden), lateinische Brocken und juristische Eunstausdrücke tun* liehst vermeiden.^) Trotzdem soll dann aber das Gesetzbuch doch inhaltlich möglichst erschöpfend sein^), so daß selbst der gewöhn-

„volkstümlichen Gesetzgebung'^ als Schlagwort der Zeit s. im allgemeinen auch Hälschner, Gesch., S. 195.

1) S. darüber bes.: Beccaria, §5, S. 75; v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 162. S. 207; v. Soden, GeistI, § 30, S. 46; Beseke, Versuch, S. 62 und S. 85, Nr. 1.

2) Vergl. V. Globig u. Huster a.a.O. S. 26 u. Wieland, GeistI, §60, S. 87, 88 (über die ^mannigfachen und zum Teil unvermeidlichen bösen Folgen", die mit der ^ Auf nähme und Emführung fremder Rechte'^ verbunden sind).

3) S. bes. z. B. V. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 26. Als prinzipielle Gegner des romischen Rechts erscheinen femer Beccaria („An den Leser^, S. 61: „ein Ausfluß der b>irbarischsten Jahrhunderte^) imd Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 50, S. 569 („eine monströse Sammlung von Denkmälern der Weisheit, der Grausamkeit und der Schwäche der verschiedenen Gesetzgeber Koms^). Vergl* auch Marat, Plan de legisl. crim., p. 125 (G.-S. 61, S. 202/3); Pütt in s. Rep. f. d. peinl. Recht I, Vorwort, S. 3; Bergk, Übersetzung von Beccaria, Vorrede, S. I, Vil, VIU.

4) S.u.a. Beccaria, $5, S. 75 ff., § 7, S.80 u. §41, S. 163 (vergl. Mai 11 ard, Etüde histor., p. 27); v. Sonnenfels, Grundsätze I, §161, S.206; v. Globig u. Huster,Abhdlg., S. 24, 25; Beseke, Versuch, S.62u. S. 82, Nr. 1 u.2; v. Soden, GeistI, §30, S.46, 47; Wieland, GeistI, S44ff., S.64ff.; Kieinschrod, System. Entwicklung II, § 116, S. 304; Bergk, Übers, v. Beccaria II, S. 278; vergl. auch die folgende Anm. (5).

5) S. V. Soden, GeistI, S. 46; vergl. auch v. Sonn enfels, Grunds. I, § 161, S. 206, 207 (gegen „fremdes Gemengscl", Weitschweifigkeit usw.); Beseke, Ver- such, S. 85, Nr. 1; v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 25; Kleinschrod, Syst Entwicklung I, § 131, S. 240; Servin, Über die peinl. Gesetzgebung, S. 23, 24 (keine „Wortpracht" usw.). Über die Bemühungen Hommels in seiner Schrift „Teutscher Flavius" (1763, 4. Aufl. 1800) zur Verbesserung der „Barbareien*^ der Gerichtssprache damaliger Zeit (s. auch Philos. Ged., §34, S. 60) näheres bei Landsberg, Gesch. III 1, S. 389 u. Noten, S. 257; vergl. auch Feldmann, Zur Geschichte der deutschen Amtssprache*^, in der „Beilage zur (Münchener) Allgem. Ztg.»*, Jahrg. 1904, Nr. 184, S. 293.

6) V. Soden, GeistI, S.46; Beseke, Versuch, S. 63, vergl. auch ebd. S 85, 86, Nr. 2 u. 3; v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 29, 30; s. auch Servan, Dis- conrs sur Tadministration etc. (Bibl. phil. T. II), p. 192 ff , 196.

150 IX. Günther

liebe Mann aus dem Volke sich über eine einzelne Rechtsfrage selbst unterricbten, sozusagen also ,;Sein eigener Advokat sein kann.^ *} Damit sind wir bei einem Lieblingswunsche fast samtlicher Auf- klärungsschriftsteller angelangt, einem Wunsche, der sich unschwer erklärt als ,,die naturgemäße Reaktion^ '^) gegen die fast schranken- lose, bei der Auslegung der Strafgesetze überhaupt und bei der Strafzumessung insbesondere geübte Willkür der Richter in den vorauf- gegangenen Jahrhunderten, die ihrerseits wieder das Ergebnis der da- maligen lückenhaften und allmählich immer mehr veraltenden Gesetzes- bestimmungen gewesen. ^) Mehrere der älteren Aufklärungsschrift- steller haben sogar diese Art der Rechtsprechung nach richterlichem Ermessen, die geschickte Umgehung der zu harten Strafbestimmungen der Carolina im Interesse der Angeklagten noch ausdrücklich gut- geheißen. So meinte noch Hommel, daß es dem Richter nicht schwer fallen könne, „mit gutem Gewissen abgeschmackte Gesetze zu umschiffen", und hielt ein solches Verfahren für richtig*); Malblank lobte den älteren Meister in Göttingen nicht nur wegen seines „menschenfreundlichen Herzens^', das er überall „in seinen peinlichen Erkenntnissen^^ zeige, sondern auch wegen seiner hervorragenden Fähigkeit, „seine gelinden Gesinnungen mit den Gesetzen so schick- lich zu vereinigen, daß man niemals eine gewaltsame Abweichung davon^ merke und er doch immer seinen Endzweck erreiche,^) und Professor Gmelin in Tübingen, der sich über diesen Gegenstand in der Vorrede zu seinen „Grundsätzen der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen" ausführlicher ergeht, versichert, daß er als Mitglied in einem Spruchkollegium, „welchem sehr viele peinliche Fälle zur Ent-

1) V. Globig u. Huster, a. a. 0. S. 32.

2) So: Frank, Die Wolffsche Straf rechtsphilosophie, S. 71; zu verg"!. der- selbe, Naturrecht usw., S. 16; Günther, Wiedervergeltung II, S. 179, Anm. 424 a. E.; V. Liszt, Lehrb., § 6S, S. 274.

3) S. über die Willkür in der gemeinrechtl. Doktrin (Interpretation der C.C.C.i und Praxis u. a.: Malblank, Gesch. d. P.G.-O., S. 230, 249ff., 251ff.; Hälschncr, Gesch. d. brandb.-preuß. Strafr., S. 164, 203, 214ff.; Geib, Lehrb. I, S. 301 ff., 312, II, S. 102ff.; V.Bar, Handb.I, S. 141ff.; Löning in Z.f.d.gC8.Str.-W.8,S.264ff., 268 ff.; Günther, Wiedervergeltung II, S.7u. Anm. 8, S. 11, Anm. 19— 21; v. Liszt; Lehrbuch, §68, S. 274; bes. über Frankreich noch: Hertz, Voltaire, S. 10«»; Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilos., S. 66; v. Overbeck, a. a. 0. S. 14.

4) Hommel in seiner Übersetzung von Beccaria, S. 19, Anm. h (mit Hin- weis auf seine Rhapsodia Quaest. obs. 439: „Icti recte leges insulsas interpreta- tione cmendantet in melius provchunf^ etc.) Vergl. dazu Löning in d. Z f.d. ges. Str.-W. 3, S. 274; s. auch Landsberg, Gesch. III 1, S. 397.

5) Malblank, Gesch. d. P.G.-O., § 56, S. 249; vgl. Löning, a. .i. 0. S.274; Landsberg, G csch. III 1, S. 306.

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 151

scbeidang zugeschickt'' warden, sieb „nur äußerst selten ... in der Notwendigkeit befunden babe, durcb allzu deutlicheGesetze.. wider die (in der gericbtlicben Praxis angenommenen) gereinigten und vernünftigeren Grundsätze der Menschlicbkeit'' oder wider sein „inneres Gefübl einem Urteil beizustimmen.''^) Bald aber bat man dann gegen diese Praxis nicbt nur Widerspruch erhoben^), sondern ist bei ihrer Bekämpfung leider in das andere Extrem verfallen, in- dem man den Richter lediglich zu einem ganz mechanisch, gleich einer unbeseelten Maschine arbeitenden Handlanger des Gesetzes herabwürdigen wollte, dessen eigenem Befinden nichts überlassen wer- den dürfe 5), der daher aber auch wie z.B. von Globig und Hu st er in ihrer gekrönten Preisschrift in wesentlicher Überein- stimmung mit Beccaria^) ausdrücklich sagen nichts weiter zu besitzen brauche als „den vollkommenen Gebrauch der fünf Sinne, gute Beurteilungskraft und Rechtschaffenheit", während „Wissen- schaften" bei seinem Amte völlig „überflüssig^' seien. ^) „Glückliche Zeiten", so meinte man, würden dann anbrechen, „da der Einfältigste mit leichter Mühe seine Schuldigkeiten gegen den Staat und seine Jlitbürger erfahren..." könne und „da so viele Schwätzer und spitz-

1) Gmelin, Grunds., Vorrede, T. VI, VII; Löning, a. a. 0. S. 274 (ebds. auch über v. Sodenj; vergl. y. Lilien thal, Heidelberger Lehrer des Straf recht», S. 3, 4.

2) Vergi. zu der ganzen Frage Klcinschrod, System. Entw. II, § 131, S. 342 ff. (,,l8t es gut, dem Richter viel Willkür zu lassen?"; das. S. 342, Anm. a auch Angabe zeitgenöss. Spezialliteratur).

3) S. schon Montesquieu, Esprits dos lois, Livro XI, eh. 6, p. 134 («Leä juges de la nation ne sont . . . que la bouche qui prouonce les paroles de la loi, des ütres inanimes qui n'cn peuvent modercr ni les forces ui les rigueurs" (vergl. Binding in Z. f. d. ges. Str.-W. 1, S. 7, Anm. 5), femer Voltaire, Idecs republicaines, Art. XL u. XLI, Dict. philos., Art. „Crime'' ü. „Criminell, Prix de la justice Art XIV (Bibl.phil.T. V, p.66; vergl. Frank, Die Wolffsche Straf rechtsphil., S. 66, Anm. IS; Masmonteil, a. a. 0. p. 242); Letrosne, Vues sur la justice criminelle (Brissot, Bibl. phil. T. II), p. 310 (^les magistrats. . . ne doiventetre, que l'organe de la loi'O; Marat, Plan etc., p. 249 (vergl. Günther, G.-S. 61 S. 203, 204, Anm. 4); v. G lob ig u. Huster, Abhdlg., S. 31 („Der Richter ist nur der mechanische AusQber der klaren Bestimmungen des Gesetzes'^); vergl. auch ebd. S. 96, 97 und v. Dalberg, Entwurf, S. 139, femer die Angaben unten S. 152/53, Anm. 4 und im allgem. noch Günther, im Archiv für Straf r. 4S S. l.und Anm. 2 (Literatur).

4) Beccaria, § 4 (^Auslegung der Gesetze^), S. 72 u. bes. § 7 („Indizien und Gerichtsverfassung""), S. 80 (Zur Urteilsfallung durch den Richter gehört ^nur der einfache und gewöhnliche gesunde Menschenverstand'') ; vergl. Maillard, £tude histor., p. 25, 26.

5) V. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 32.

152 IX. Günther

findige Ausleger endlich gezwungen" würden, „dem Staate durch gute Künste und Wissenschaften nützlich zu sein." ^) Auch das Gewohnheits- recht, diese „wächserne Nase der Rechtsgelehrsamkeit" aus „den Zeiten der Barbarei, da niemand an Gesetze dachte"'^, glaubte man viel- fach bei einem vollständigen Gesetzbuch entbehren zu können^), und jede ausdehnende oder einschränkende Interpretation desselben hielt man nicht nur gleichfalls für überflüssig, sie sollte nach manchen sogar „bei nachdrücklicher Strafe^ verboten sein. ^) In einer Zeit, wo man eine solche Gebundenheit des Richters für ersprießlich er- achtete, konnte natürlich auch bei seiner Tätigkeit noch kein Platz für eine individualisierende Behandlung der Verbrecher sein, auf welche die moderne Eriminalpolitik gerade so viel Gewicht legt, daß

1) V. Globig u. Haster, Abhdlg., S. 32 ; yergl auch S. 30, 31 : ^Die Recbts- gelehrsamkeit wird alsdann aufhören, eine Wissenschaft zu sein, und die pedan- tischen Anhäoger derselben werden trauern. Allein die Menschheit wird sich freuen, daß das Leben, die Ehre, die Güter des Staatsbürgers nicht mehr von sophistischen Streitigkeiten, von vergötterten Meinungen alter Heiligen derXhemis, sondern bloß von der Beurteüung der gesetzgebenden Gewalt abhängen." Auch bei diesen Stellen ist die Ähnlichkeit mit Beccaria, § 4, S. 74 u. § 7, S. 80 ganz unverkennbar. Über Verwandtschaft des Schlusses der im Text zitierten Steile aus V. Globig und Huster (S. 32) mit den Anschauungen Friedrichs des Großen, dessen Haß gegen die Juristen, insbes. die Advokaten, ja allgemein bekannt ist, s. näheres bei Bin ding in d. Z. f. .d. ges. Str.-W. Bd. 1, S. 8, Anm. 6. Gegen jene Knebelung der richterlichen Meinungsfreiheit als verkehrt haben sich zum Teil schon die Zeitgenossen selber gewandt, wie z.B. Graebe, Über die Reformation usw., S. 74. Von neueren vergl. Glaser, Übers, v. Beccaria, Vorwort, S. 12; Binding in d. Z. f.d. ges. Str.-W. 1, S. 8 («krankhafte Träume*'); V. Bar, Handb. I, S. 233; Esselborn, Übers., Einltg., S. 18. Übrigens sind in der Neuzeit auch schon wieder manche Stimmen für Einschränkung des „viel zu weit gehenden richterlichen Ermessens'' laut geworden (s. Birkmeyer im Arch. für Strafr. 48, S. 76 u. die Literaturangaben ebd. S. 96, Anm. 80—82; vergl. auch Hedemann in der Deutschen Jur.-Ztg. v. I.Jan. 1906, Sp. 93 ff.), während dagegen freilich die allermodcmste bes. durch die Schrift von GnaeusFlavius (H. U. Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft (Heidelbeig 1906) angeregte sog. „freirechtliche Bewegung** der rechtschöpfenden Tätig- keit des Richters (nicht bloß in Strafsachen) nach freiem Ermessen noch einen weiteren Spielraum gewährt wissen will als bisher. Zur Literatur über diese Frage s. Radbruch in der Z. f. d. ges. Str.-W. Bd. 27, S. 241—245 u. S. 740/41.

2) V. Globig u. Huster, Abhdlg. S. 31.

8) S. gegen das Gewohnheitsrecht ausdrücklich (außer v. Gl. u. H.) auch Claproth, Entw. I, Hauptstück 1, § 2, S. 2; Quistorp, Entw., Teil I, Absdin. 1, § 1, S. 3, 4; vgl. auch v. Sonnenfels, Grunds. I, § 132, S. 158 u. § 134, S. 160ff.; dafür aber Wieland, Geist I, § 49, S. 70, 71.

4) So Claproth, Entw. I, 1, § 3, S. 2 (vergl. Hälschner, Gesch., S. 170; Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilos., S. 71, Anm. 40); s. auch Pflanm, Entw., Teil I, Abschn. 1, § 5, S. 3 4). Schon Montesquieu, Esprit des loi»,

Die ^trafrcchtsreform im Aufklärnngszcitaltcr. 153

man wohl ihr eigentlichstes Wesen darin erblickt hat. ^) Zwar findet sich hin nnd wieder wohl der Wunsch ausgesprochen, bei der Aus- messung der Strafe auf den Stand des Täters besondere Rücksicht zu nehmen 2), da man jedoch befürchtete, hierdurch in ein u. a. ausdrücklich schon von Beccaria yerworfenes Klassenstrafrecht

Livre III, eh. 3 hatte die Interpretation nacli dem „Geiste der Gesetze^ nur für solche monarchische Staaten für zulässig erklärt, in denen das Gesetz nicht bestimmt sei, bei der republikanischen Kegierungsform dagegen sei nach der Natur der Verfassung der Richter überhaupt anden Buchstabendes Gesetzes gebunden (vergl. Esselborn, Übersetzg. von Beccaria, S. 73, Anm. *). Gegen Interpretation der Strafgesetze sehr scharf femer : Beccaria, §4, S. 71 bis 74 (und dazu Frank, Die Wolff sehe Strafrechtsphilosophie, S. 71 u. Anm. 39; V. Overbeck, a. a. 0. S. 120); Lotrosne, Vues etc. (Brissot, Bibl. phil. T. D), p. 810; Quistorp, Entw. I, l, § 5, S. 6, 7, § 6, S. 8; v. Globig und Huster, Abhdlg., S. 24; vergl. auch v. Sonnenfels, Grunds. I, § Ißl, S. 209 a. E.; gemäßigter schon Kleinschrod, Syst Entw. II, § lt6ff., S. 304ff., bes. S.305/H (nur Mißbrauch der Interpretation nicht zu billigen); ausdrücklich dafür: Risi, Obseryations sur des mati^res de jurisprudence criminelle, bei Brissot, Bibl. phil. T. II, p. llOff., Wieland, Geist I, §45, S. 65 und bes. y. Grolman, Grunds.' (1. Aufl.). § 260, S. 142/3 vbd. mit § 136 ff., S. 63 (Der Richter kann ohne Gesetzes- auslegung gar ^nicht Richter sein").

1) y. Liszt, Lehruch, § 15, S. 73 hat bekanntlich den Begriff der ^Rriminalpolitik'^ geradezu als die „Bekämpfung des Verbrechens durch indiyi- dualisierende Einwirkung auf den Verbrecher'' definiert ; y ergl. auch M i 1 1 e r - maier in der Schweiz. Z. f. Strafr., Jahrg. 14, S. 146. Auch Vertreter der Vergel- tungsidee haben hierauf Gewicht gelegt, s. z. B. Birkmeyer im G.-S. 67, S. 418.

2) S. z. B. Tomaso Natale, Rifl. pol., p. 33 (und dazu Günther im Arch. f. Strafr. 48, S. 22 u. Anm. n9ff , S. 23, 24 u. Anm. 124); ycrgl. Seeger in Pütts Rep. I, S. 203ff., 208ff.; v. Eberstein, Entw., § 10, S 5; auch Gmelin, Grund- sätze, § 51, S. 110 u. a. m. Ausführliche Behandlung der ganzen Frage bei G. J. F. Meister, Über den Einfluß, welchen der Stand des Verbrechers auf die Strafe und das Verfahren in Strafsachen hat (Gott 1784), auch in Plitts Rep. I, S. Iff. Nur ganz ausnahmsweise ist man damals noch weiter gegangen nnd hat auch noch auf andere Verschiedenheiten der Verbrecher Rücksicht nehmen wollen. Sehr modern mutet z. B. in dieser Beziehung eine Stelle in Corrodis Abhand- lung „Von Bestrafung der Verbrechen ** in Plitts Rep. II (S. 140 ff.) an, die dem Wortlaute nach angeführt zu werden yerdient. Es heißt dort (S. 155/56): „Wer kann sagen, alle . . Verbrecher sind gleich schlimm, es ist gleich schwer, alle yon Wiederholungen ihrer Missetaten abzuschrecken . . . Um das zu entscheiden, müssen wir nicht die Verbrechen wissen, sondern die Verbrecher kennen, wissen, ob sie eine Fähigkgt in solchen Verbrechen erlangt haben, wie sie darein geraten sind, ob sie durchaus lasterhaft und yerdorben sind, oder ob sie yielleicht besser sind als yiele andere, welche die Ruhe der Gesellschaft nie auf diese Art gestört haben 7^^ usw. Vergl. etwa auch Quistorp, Entwurf, § 72ff., S. 86 ff. Ausdrücklich gegen die Berücksichtigung solcher Umstände als „ganz unrichtig'* aber Gmelin, Grunds., § 9, S. 16.

154 IX. Günther

ZU geraten ^), und zugleich den wahren Maßstab verübter Missetaten nicht in der verbrecherischen Schuld oder (wie heute nach der modernsten Richtung) in der verdorbenen bezw. gefährlichen (anti- sozialen) Gesinnung des Deliquenten, sondern vorwiegend rein ob- jektiv in dem der Gesellschaft zugefügtem Schaden erblickte'^), so vermochten sich jene spärlichen Ansätze zu einer freieren Tätigkeit des Bichteis bei der Strafzumessung nicht weiter zu entwickeln.

Nicht selten sind in der kriminalistischen Äufklärungsliteratur schon Erörterungen über den Zweck der Strafe anzutreffen, owohl der eigentliche Streit der sog. y,Strafrecht8theorien'^ über diesen Gegen- stand damals noch nicht entbrannt war. 3) Schon seit den Zeiten der französischen Encyklopädisten war man dabei im Wesentlichen einig in der Verwerfung des früher sogeläufig gewesenen Vergeltungs-

1) Beccaria, §27(S. 135ff.)un(l§41 (S. 163); vergl. Günther im Areh. für Strafr. 48, S. 24, Anm. 124; Maillard, £tade histor., p. 35, vgl. p. 26, 27; gegen ein Klaascnstraf recht im allgem. auch Marat, Plan delS^sl. er., p. 121 ff., 133ff. (vergl. G.-S. 61, S. 198, 199 u. Anm. 1, S. 222 u. Anm. 3-, Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., 8. 117/18 und überhaupt die Mehrzahl der französischen Auf- klärungsschriftsteller (s. darüber Hertz, Voltaire, S. 452; yergl. G.-S. 61, S. 222, Anm. 5). Die herrschende Meinung in Deutschland faßt zusammen Mal blank. Gesch. der P.G.-O. § 60, S. 270, Nr. 9: „Bei der Strafe muß nicht auf die Vei^ schiedenheit des Standes der Bürger gesehen werden, denn was die Strafe bei Vornehmen an Starke zunimmt, wird durch ihre größere Fähigkeit, sieh vor Verbrechen zu hüten, und das bessere Beispiel, womit sie vorangehen soUtcu ersetzt,"

2) S. darüber im allgem. v. Liszt, Strafr. Aufs. II, S. 380, wo auch ausgeführt ist, warum die Aufklärungszeit noch nicht die Gesinnung des Täters zum Maßstab der Strafe machen konnte. Im einzelnen s. bes. wieder Beccaria, § 24, S. 129ff. („Der wahre Maßstab der Verbrechen ist der der Gesellschaft zu- gefügte Schaden"; yergl. Maillard, Etüde bist, p. 29 u. p. 26ff., 33), dessen Ansicht sich auch die meisten deutschen Aufklärer (wie bes. Hommel [Phil. Gedanken, § 53, S. 106 ff., § 67, S. 137 ff. und Übersetzg von Beccaria, Vorrede S. XXI, XXXI, XXXIIIJ, ferner Beseke, Versuch, S. 89, Nr. 12 a. E. und V. Globig u. Huster, Abhdlg. S. 38 ff. u. a. m.) angeschlossen haben, so daß sie Malblank, Gesch. der P.G.-O., § 60, S. 266, Nr. 3 als die damals herrschende an- führen konnte; vergl. auch noch weiter unten über die Klassifikation der ein- zelnen strafbaren Handlungen nach diesem Maßstabe. Dagegen u. a. aber als zu einseitig schon v. Sonnenfels, Grunds. I, § 191, S. 245; Schott, Obser- vationes de delictis et poenis etc. (betr. Beccarias Schrift), Tüb. 1767 (deutsch bei Seh all, Von Verbrechen und Strafen usw., Leipzig, 1779S.24ff., 27ff.);desgl.Schan selbst, a. a. 0. S. 26, Anm.*; Vezin, Das peinliche llalsrecht usw., 2. Aufl., S.66ff. (Anm. 3) mit Anführung von Eenazzi u. Püttmann; Kleinschrod, System. Entw., I, § 43, S. 107 u. Anm. ** (Literaturl ; zweifelnd femer Seeger in Plitts Eep. 1, S. 160 ff. und mehr vermittelnd auch Klein, Fragmente, a. a. 0. S. 49 bis 55.

3) S. Geib, Lehrb. I, S. 314.

Die Strafrechtsreform im Aufklärungszcitalter. 155

gedankens, und zwar in erster Linie nicht sowohl in Folge der deterministischen Auffassung des Verbrechens 0 oder einer verän- derten Ansicht vom Wesen der „Gerechtigkeit im Strafrecht^ die uns heute vielfach entgegentritt ^)y als vielmehr aus grundsätzlicher Ab- neigung gegen theologische Einflüsse '), denen man nicht mit Unrecht vor allem das lange Festhalten an der Talionsidee im Strafrecht zu- schrieb.^) ^Theologische Sachen" dürfen aber wie Hommel einmal drastisch sagt ^^keinen Einfluß auf die Verwaltung der (staatlichen) Gerechtigkeit haben/^ mit der sie so wenig in Zusammen- hang stehen, wie etwa „die Chronologie mit der Hantierung eines Kupferschmiedes oder Seifensieders." ^) Müssen daher die „Bibel und das Corpus juris . . . zwei verschiedene Bücher bleiben", so entfällt auch die unrichtige Vorstellung, „daß Gott durch Hängen und Köpfen sich versöhnen lasse und daran einen Gefallen finde." ^) Die Vergeltung strafbarer Taten muß vielmehr dem göttlichen Richter im Jenseits

1) Daß auch diese, besonders in Frankreich, zur Zurückdrängung der Vergeltungsidee mitgewirkt hat, ist natürlich anzuerkennen. Vergl. Hertz, Voltaire, S. 127 ff.; Masmonteil, La Ißgisl. er., p. 198/99; v. Overbeck, a.a.O. S. 46. Daß in derNeuzeitmanche(wiebe8. Mittelstadt, Merkel, Liepmann) versucht haben, den Determinismus und die Vergeltnngsidee mit einander zu vereinigen, ist bekannt. S. bes. v. Liszt, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe (Strafr. Aufs. U, S. 25 ff. und bes. 8. 42 ff.); H. Meyer- Allfeld, Lehrb- § 2, S. 6, Anm. 9; Berolzheimer, System, Bd. V, S. 15, 14 u. die Anm.

2) S. namentlich Jos. Heimberg er, Der Begriff der Gerechtigkeit im Strafrecht, Leipzig 1903, bes. S. 9ff. (im wes. Anschluß an H. Seuffert, Ein neues Strafgesetzbuch für Deutschland, München 1902, S. 5 ff. und im Gegen- satze zu der älteren, namentlich in den Abhandlungen Birkmuyers [s. z.B. Archiv für Strafr. 48, S.73, G.-S.67, S. 402 ff., Münchener Rektoratsrede 1907, S. 9 ff.] vertretenen Ansicht, welche eine strafende Gerechtigkeit ohne Vergeltung nicht anzuerkennen vermag).

3) S. darüber bes. Merkel, Vergcitungsidce , S. 44 ff. mit interessantem Hinweis auf die grundsätzlich viel schroffere und systematischere Bekämpfung der Vergeltungsidee bei den modernen Strafrechtsreformem.

4) Vergl. dazu etwa Günther, Wiedervergeltung H, S. 12 u. Anm. 25 ff. (und die dort Angeführten), auch S. 165, 180; femer Glaser. Obers., Vorw., S. 16; Hertz, Voltaire, S. 5, 21, 132 ff. Henke, Grundr. e. Gesch. d. deutsch, peinl. H. IL, S. 311 hat die Straf rechtspflege zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht un- zutreffend als ein „rabbinischcs Blut- und Rachesystem^ bezeichnet.

5) Hommel, Philos. Gedanken, § 85, S. 162/3; vergl. auch Rössigs „Vor- erinnerung^ dazu, S. VIH. Ähnliche Bemerkungen auch schon bei Becoaria, S. 64 und § 24, S. 130/1.

6) Hommel, Philos. Gedanken, § 36, S. 67 vbd. mit § 50, 'S. 99 und § 85, S. 164; vergl. auch Übersetzung von Beccaria, Vorrede, S. XVUI und S. 157, Anm. g.

156 IX. GÜNTHER

tiberlassen bleiben 0. der wie K. v. Dalberg bemerkt „allein das Innere des Herzens erforscht und erkennt nnd angemessen zu bestrafen weiß"'')^ während sich der irdische mit Erreichung anderer Ziele begnttgen muß. Schon im Jahre 1755 hatte der Chevalier de Jaucourt in dem Artikel „Crime^' in der .»Enzyklopädie^ es ausge- sprochen, daß es „eine durch die Vernunft yerurteilte reine Grausam- keit^' sei, bloß deshalb «Jemanden Übles dulden^' (zu) lassen, . . . weil er selbst Böses zugefügt hat, und nur den Blick auf das Geschehene zu richten^ 3), und selbst dem Theologen Michaelis blieb es un- verständlich, wozu das bloße Straftibel „ohne weiteren Zweck, der es rechtfertigt'*, dienen sollte.^) Zwar spricht man wohl auch noch in dieser Zeit hin und wieder von einer „Stihne^ des Verbrechens durch die Strafe ^) oder hält eine auch über den Schadenersatz hinaus- gehende — Genugtuung des Verletzten (oder auch des Gemein- wesens) für berechtigte^), aber energisch protestiert man gegen die Ausübung einer „Rache'' gegen den Täter'), und auch die An-

1) Hommel, Übereetzg. von Beccaria, Vorrede, S. XXI: ^Gottes Gerichte und menschliche Gerichte sind heterogene Dinge und so schwerlich wie Wasser und Ol miteinander zu vermischen''; Klein, Fragm., a. a. 0. S. 53, 54: \pDie Obrigkeit (hat) gar nicht zur Absicht, in das oberste Richteramt Gottes einzugreifen/

2) Entwurf, S. 115 (s. Günther, Wicdervergeltung II, S. 288, Anm. 660). Vergl. auch Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 10.

3) Hertz, Voltaire, S. 131; vergl. v. 0 verbeck, a. a. 0. S. 30 u. Anm. 1.

4) Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 8; vergl. Günther, Wiedervergeltung II, S. 220, Anm. 594 ; Merkel, Vergeltungsidee, S. 4; Lands- berg, Gesch. III 1, S. 405.

5) Bei den Franzosen Marat (Plan etc. p. 133, 174, 289) und B risset de Warville (Theorie T. I, chap. 2, p. 128) findet sich die Bezeichnung „expiation'^ für die Eriminalstrafe; s. Günther, Wiedcrvergeltung n, S. 197, Anm. 521 und G.-S. 61, S. 210, Anm. 3 a.£. —Vgl. im allg. auch Hälschner, (resch., S. 197.

6) Ausdrücklich als ein Straf zweck (neben Sicherung, Besserung und Abschreckung anderer) anerkannt ist die Genugtuung z.B. von Rössig zu Hommel, Philos. Ged., S. 32, Anm. S. ferner Filangieri (vgl. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 187, Anm. 472); Marat (vgl. G.-S. 61, S. 209/10, Anm. 3); Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 68 u. 8lff. (vgl. m. Wiedervergeltg. II, S. 219, Anm. 591); Quistorp, Grunds, d. deutsch, peinl. Rechts (6. Aufl 1796), I, § 71, S. 90. Als Hauptzweck ist die Genugtuung sogar betrachtet bei V. Reder, Das peinl. Recht usw. I, Kap. VIII, §2. S. 141 {vgl Günther» Wiedervergeltg. II, S. 224/25, Anm. 111). Dagegen aber: Servin, Über d. peinl. Gesetzgbg., S. 15 und zum Teil auch Tomaso Natale (s. Arch. f. Straf r. 48, S. 20) und V. Sonnenfels (s. m. Wiedervergltg. 11, S. 225, Anm. 611).

7) Hierin herrscht fast ausnahmslose Übereinstimmung. Ausführlichere Be- lege bei Günther, Wiedervergeltung II, S. 198, Anm. 524 (Franzosen und Italiener) u. S. 23S, Anm 658 (deutsche Aufklärungsschriftsteller; s. dazu noch

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 157

hänger der Talion, sowohl in ihrer reinsten Form (^Leben um Leben Auge um Auge, Zahn um Zahn^) als in ihren verschiedenen Ab- Schwächungen, werden immer seltener. *) Statt dessen wird das Ge- wicht auf die in der Zukunft wirkenden Zwecke des Strafrechts gelegt. ^) An Stelle der so lange Zeit hindurch sehr beliebt gewesenen Definition der Strafe nach Hugo Grotius als ^malum passionis, quod infligitur ob malum actionis^^), wird jetzt überaus häufig eine Stelle aus Senecas Schrift ,,de ira^ (I, cap. 16): ,,Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur^ als „weiser Ausspruch^' *) gepriesen und zitiert, auch den kriminalpolitischen Abhandlungen wohl als Motto vorangestellt ^) Durch das Nicht-Begehen, das Unter-

Vezin, Das peinliche Halsrecht usw., S. 7ff.. 15 ff., 50 ff., 63 ff. und Anm. 1; vergl. auch Arch. f. Strafr. 48, S. 20 und G.-S. 61, S. 208 u. Anm. 1.)

1) Über Anerkennung derTalion oderVergeltungsidee bezw. Annäherungen und Konzessionen daran bei manchen Schriftstellern auch noch in dieser Zeit s. ausführlicheres in m. Wiedervergeltung II, S. 166, 168 ff., 173 ff., 176, 183 ff. 188, 189ff. u. Anm. 478, 201, 202, 207, 215/16. 217ff., 223ff., 241ff.; vergl. auch Arch. f. Strafr. 48, S. 21 und G.-S. 61, S. 209ff., 221 ff., 222, Anm. 2; femer unten S. 174, Anm. 3. Über v. Globig u. Huster s. m. Wiedervergeltung II, S. 253 ff. Nicht selten aber findet sich eine ausdruckliche Zurückweisung des Talions- oder Vergeltungsgedankens, so z. B. schon bei Voltaire, Prix de la justice, Art III (Bibl. phil. T. V, p. 16, 17; vgl. Günther, Wiedervergeltung II, S. 165/6, Anm. 370ff.; Hertz, Voltaire, S. 127); femerbeiBrissot de Warville (Theorie I, p. 142, 151 ff., II, p. 33) u. anderen Franzosen u. Italienern (s. Günther, Wiedervergeltung II, S. 200, 202, Anm. 533), bei v. S o n n e n f el s , Grunds. I, § 345, S. 426/7 (Günther, Wiedervergeltung II, S. 224, Anm. 608), Vezin, Das pein- liche Halsrecht, S. 9 ff., 20 ff. und 65 ff., Anm. 2 und anderen deutschen Auf- klärern (8. m. Wiedervergeltung II, S. 238/9 u. Anm. 659, 661).

2) S. Belege dafür bei Günther, Wiedervergeltung II, S. 198 u. Anm. 524 (Franzosen), S. 220 (Michaelis), S. 224 (v. Sonnenfels), S. 237 u. Anm. 657 (spätere deutsche Aufklärer).

3) De jure belli ac pads (1625), Lib. 11, c. 20, § 1 ; vergl. Günther, Wieder- veigeltung II, S. 105. Eline Beziehung auf diese Definition des Grotius findet sich noch bei R enaz z i , Elem. jur. crim., 1773, Lib. II, c. 5, p. 38 (s. m. Wieder- vergeltung II, S. 197, Anm. 521) sowie bei Püttmann, Elem. jur. crim., 1779, Cap. I, § 24, p. 13, der jedoch § 63, p. 29 auch Senecas Ausspruch anführt. Ausdrücklich dagegen aber v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 343, S. 423, § 346, 8.428 (vergl. m. Wiedervergeltung II, S. 224, Anm. 610); gegen Grotius im allgem. auch Voltaire (s. m. Wiedervergeltung II, S. 197, Anm. 522; Hertz, Voltaire, S. 315).

4) So: Wieland, Geist J, §296, S. 401; s. dagegen aber Merkel, Ver- geltungsidee, S. 4; vergl. auch H. Meyer-Allfeld, Lehrb., § 3, S. 13, Anm. 13.

5) S. z. B. Rathlefs Abhandig. ^Vom Kindermord *^ usw., Anh. I zu seiner Schrift, „Vom Geiste der Kriminalgesetze'^, S. 145. Vergl. im allgem. auch noch Hälschner, Gesch., S. 170/71 u. Anm. 4; Günther, Wiedervergeltung II, S. 237, Anm. 657.

158 IX. Günther

bleiben von Missetaten wird die (ja auch durch den Gesellschafts^ vertrag angestrebte) Wohlfahrt, insbesondere die Ruhe und Sicherheit des Staats, das ^bien public'' (oder ^hien g^neral^, „bien de la 80ci6t6", „utilitö publique*, wie die französischen Schriftsteller es nennen) befördert, und dies ist nach damals allgemein herrschender (übrigens ebenso auch in der Neuzeit wieder von unseren kriminal- politischen Reformern vertretener) Ansicht der oberste Zweck (^le grand [principal, demier] but**) aller Strafe ^), der nur im einzelnen wieder nach verschiedenen Richtungen hin seine Erfüllung finden kann. So zunächst mit Rücksicht auf den Verbrecher selber. Seine Besserung gewährt auch der staatlichen Gemeinschaft Vorteil, näm- lich die Sicherung vor ferneren Übeltaten; sie muß deshalb wenigstens angestrebt werden. Dazu sind dann wohl hier und da schon Einrichtungen empfohlen worden, die mit unserer heutigen „be- dingten Verurteilung" (bezw. „bedingten Begnadigung") unver- kennbare Ähnlichkeit aufweisen, so z. B. in Frankreich von Servin für jugendliche Delinquenten in speziellen Fällen *^) und in schon all- gemeinerer Weise bei uns in Deutschland von Ernst Ferdinand E^lein. »)

1) S. bes. V. Liszt, Strafrechtl. Auf. II, S. 139: ,,Die strafrechtliche Grund- aoschauusg, . . . von der fast sämtliche Schriftsteller der Aufklärungszeit aus- gegangen sind, ... ist dieselbe, wie sie seit einiger Zeit von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Straf rechtslehrer vertreten wird: Salus publica suprenia ex.- Vergl. Abegg im G.-S. 15 il863», S. 114 u. Anm. 11; Löning in d. Z. f . d. ges. Str.-W. 3, S. 249; Hertz, Voltaire, S. 131 ff.; Frank, Die Wolffsche Straf- rechtsphilos., S. 65 u. Anm 12; v.O verbeck, S. 30 u. Anm. 3; Willenbücher. a.a.O. S. 62. Belege aus einzelnen Schriftstellern bei Günther, Wiedervei^gel- tungll, S. 173/74, Anm. 404 (Voltaire), S. 180/81, Anm. 438 u. 441 (Beccaria), S. 198, Anm. 525 u. S. 199, 20U u. Anm. 531 (spätere Italiener und Franzosen), S. 234ff. (deutsche Aufklärungsschriftsteller), S. 255 u. Anm. 708/9 (v. Globig u. Huster); vergl. auch noch G.-S. 61, S. 208 u. Anm. 2.

2) Servin, Über die peinliche Gesetzgebung, Buch I, Kap. 1, Abschn. 4, §8, S. 124: „Ich halte es für nicht unmöglich, (gegen jugendliche Missetäter) eine Art von bedingter Unehre zu erkennen, das heißt ist ihnen eine Probe- zeit zu gestatten, nach deren Verlauf sie, je nachdem ihre Sitten be- schaffen sind, dem Bürger- Staat wieder einverleibt oder auf immer mit Ent- ehrung belegt werden."

3) Klein, Fragmente eines peinlichen Gesetzbuchs, in dessen „Vermischten Aufsätzen" usw., II. Stück, Leipzig 1780, S. 79 (gelegentlich der Besprechung eines «Ehrengerichts'', das für gewisse geringere Delikte eine Art Begnadigung ver- hängen kann). Der Gerichtspräsident soll dabei den Delinquenten u. a. mit fol- genden Worten ansprechen: „Freue dich über die Liebe deiner Nebenmenschen, die dich schonten . . . Aber wisse, das kleinste Verbrechen, welches dich der strafenden Gerechtigkeit von neuem in die Hände liefert, stürat dich wieder in die alte Schande. Nur unter der Bedingung einer künftigen untadel-

Die Strafrechterefonn im Aufklärungszcitalter. 159

Auch an die von vielen für noch moderner gehaltene sog. ,,anbe- stimmte Verurteilung^ wäre in diesem Zusammenhange zu erinnern. Sie bat nämlich schon damals ~ wie v. Liszt ausführlich dargetan hat ebenfalls einen besonders eifrigen Vorkämpfer gefunden in Klein, der sie „als Mitglied des Spruchkollegiums der Hallischen Juristenfakultflt selbst in einer Reihe von Rechtssprüchen zur prak- tischen Anwendung gebracht hat'' und auch ^als Schriftsteller . . . unablässig bemüht gewesen ist, ihr die wissenschaftliche Fassung und die rechtliche Begründung zu geben und ihr so die Stellung in der Gesetzgebung zu sichern." ') Bei den gewöhnlichen Formen des Strafvollzugs dachte man übrigens bei der Besserung weniger an die eigentliche moralische oder sittliche Besserung „denn die Staats- gewalt ist nicht mit emer Hofmeisterstelle zu vergleichen" -), als vielmehr an die sog. politische, bürgerliche oder „physische'' '%

haften Aufführung erhältst du die Verzeihung. Sobald du dich eines neuen Verbrechens schuldig gemacht, verlierst du alle Vorteile des heutigen Tages und wirst auf immer unfähig, von neuem auf ein Ehrengericht dich zu berufen" usw. Vergl. Günther, Wiedervergeltung II, Vorrede, S. IX, Anm. 16; v. Liszt, Strafrechtl. Aufs. II, S. 142.

1) T. Liszt, E. F. Klein und die unbestimmte Verurteilung, ein Beiti'agzur preußischen Kriminalpolitik des IS. Jahrhunderts, Hallische Rektoratsrede (in den Strafrechtl. Aufsätzen usw. II, S. I33ff.), S. 148; vergl. auch Günther, Wieder- vergeltung III 1, S. 66, Anm. 129. Anklänge daran auch sonst hier und da, so z. B. bei v. Red er, Das peinliche Recht II, Kap. XII, § 5S, S. 263, IV, Kap. X, § 20, S. 391 (Zuchthaus auf unbestimmte Zeit); vergl. auch I, Kap. XI, § 7, S. 804), in den Str.-G.-Entwurfen von v. Dalberg (S. 126) und v. Eber st ein (§12, ä. 6: Arbeitshaus auf unbestimmte Zeit); vgl. auch Zaupser, Gedanken usw. Abh. II, S. 66, Anm. * (betreffend eine Art „korrektionellc Nachhaft*^ im Arbeits- hause nach ausgestandener Strafe). Über einen ganz eigenartigen Fall unbestimmter Verurteilung bei Marat s. Günther im G.-S. 61, S. 337, 838, Anm. 1. Über die Gesetzgebung des IS. Jahrhunderts in Preußen und Österreich s. noch weiter unten.

2) V. Grolman, Grundsätze (1. Aufl.), § 106, S. 50.

3) Diesen Ausdruck gebraucht v. Sonnenfels, Grunds. I, §70, S. 456; 8. auch §343, S. 425, Anm. c (vergl. Günther, Wiedervergeltung II, S. 226, Anm. 616). Gegen die damals nur vereinzelt aufgestellte Ansicht, daß Besse- rung der alleinige oder doch der Hauptzweck der Strafe sei (vergl. darüber die Angaben bei Bergk, Übersetzg. von Beccaria II, S. 137 a. E., 140, 15S betr. Schulz, Benj. Rush u. Püttmann; s. auch Zaupser, Gedanken, Abhdlg. II, S. 35; Beseke, Versuch, Kap. G, S. 28) ausdrücklich: Bergk, a. a. 0. S. 280; vergl. auch Michaelis, Mosaisch. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 12, 13, 95 ff.; besonders gegen die moralische Besserung als Strafzweck bezw. Haupt- zweck: V.Soden, Geist I, §36, S. 60, 61;Corrodi inPlitts Rep. f. d. p. R. II, S. 147/8; Kleinschrod, System. Entw. I, §28, S. 64, 67, §48, S. 126 ff., auch III, § 4, S. 15 (nicht Hauptzweck); Bergk, a. a. 0. II, S. 44ff. 47; vergl. auch

160 IX. Günther

d. h. das in Zukunft vorhandene gesetzmäßige äußere Verhalten, das Nicht -Bückfälligwerden. Dazu aber präsumierte man gleichsam die Fähigkeit in der Regel noch schlechthin 0, woneben jedoch auch die heute so weit verbreitete Annahme einer tatsächlichen Unver- besserlichkeit bestimmter Individuen hin und wieder anzutreffen ist 2). Für diese hat man dann beachtenswerterweise schon damals

ebd. I| Vorrede, S. XXII; mehr indirekt auch: Hommel, Übers, v. Beccaria S. 12, Anm. d („Abgewöhnen übler Gewohnheiten^); Malblank, Gesoh. d. P.G.-O. S. 267/8; desgl. die meisten franzosischen Aufklärer (s. Günther, Wieder- Vergeltung II, S. 199, Anm. 527 und G.-S. 61, S. 209, Anm. 1). Dafür aber: Wieiand, Geist I, § 317, S. 42S; Plitt in s. Rep. f. d. peinl. Recht I, Vorrede, S. 18, 21; Gmelin, Grunds., § 15, S. 34ff., § 25, S. 58, Nr. 6 (aber nicht Haupt- zweck); V. Dalberg, Entw., S. 144, 2ülff., 205, vergl. auch S. 117ff., 218ff,

1) Noch weiter ging z. B. t. Dalhcrg, der sogar die moralische Besse- rungsfähigkeit jedes Menschen (d. vor. Anm. a. E.) schlechthin voraussetzte. S. bes. Entwurf, S. 144: „••• weil in jedem Menschen die Besserung immer liegt*^; ebd. S. 205: „ein allgemeiner Grundsatz, . . . daß man an der möglichen Ver- besserung eines Verbrechers niemals ganz vorzweifeln muß, und wenn er auch der eingewurzeltste, ruchloseste Bösewicht wäre.** Vergl. dazu Abeggi. G.-S. 15, S. 126.

2) Über Beccaria (in einem Gutachten vom Jahre 1792 [Esselborn, Überstzg., Anhang 1], S. 184) s. Günther im Arch. für Strafr. 48, S. 2, Anm. 7; vergl. V. Sonnenfels, Grundsatze I, § 101, S. 119 („nach den Stufen der Un- verbesserlichkeit**), §121, S. 145 („unverbesserliche Ausschweiferund Böse- wichte''), §343, S. 425, Anm. c; Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede. S. 98/99 („Bei wie manchem ist die Besserung nicht möglich . . .*); Beseke, Versuch, Kap. 6, S. 37, Nr. 3 („Sollte es Falle geben, daß der Verbrecher duidi Strafen nicht gebessert . . . werden könnte*^), S. 106 („als ein unzubessern- der Mensch'^I); Corrodi in Plitts Rep. U, S. 148 („Die Verbesserung mancher Lasterhafter scheint . . . durch kein gedenkbares Mittel zu bewerkstelligen^); Wieland, Geist I, § 303, 409 ff.: („Nicht alle Lasterhafte werden durch ihre Besserung die Mühe des Menschenfreundes . . . belohnen" usw.; näheres S. 410 über den Begriff des Unverbesserlichen; vergl. auch § 305, S. 412, § 317, S. 428). S. auch noch S ervin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 221 u. 260; Rathlef. Vom Geiste, S. 73 (Präsumtion der Unverbesserlichkeit bei Brandstiftern); V. Red er, Das peinl. Recht II, Kap. XII, §60, S. 265 (Präs. der Unverbeaser- lichkeit bei mehrfach rückfälligen Gotteslästeiem); femer die Angaben in der folgenden Anmerkung. Gegen den, in der Gegenwart besonders von V. Liszt (s. Lehrb., § 13, S. 67 u. § 15, S. 76) und seinen Anhängern aufgestellten (neuestcns übrigens zum Teil auch von Bin ding [Grundriß, Allg. Teil, 7. Aufl., Vorrede, S. XVII/XVIII] anerkannten) Begriff der Unverbesserlichkeit (vergl. die ausführl. Literaturangaben bei Berolzheimer, System V, S. 154, Anm. 4) s. u. a. die Angaben bei Kitzinger, Die IKV., S. 8 u. 134, femer v. Bar, Probleme des Straf rechts, Festrede, Göttingen 1S96, S. 9 ff. und neuerdings besonders Bi rkm ey er im Arch. für Strafr. 48, S. 412, G.-S. 67, S. 125, Münchener Rektorats- rede, S. 12; vergl. auch £. Spira, Die Zuchthaus- und Gefängnisstrafe usw., München 1905, S. 105 u. Anm. *.

Die Straf i-cchtsreform im Aufkläruu^^eitalter. 161

ganz dieselbe Behandlung in Vorschlag gebracht wie noch in der Gegenwart, nämlich die dauernde ^^Unschädlichmachung^' für die bürgerliche Gesellschaft, sei es nun durch den Vollzug der Todes- strafe, durch Landesverweisung oder durch die heute dafür mehr empfohlene lebenslängliche Einsperrung (bezw. Deporatation). 0 lieben der Besserung und Sicherung hat dann weiter auch der Abschreckungszweck damals eine sehr bedeutende, ja im

1) Vergl. im allgem. v. Liszt, Strafr. Aufs. II, S. 139, 140: „Man vergesse nicht, daß die damalige Strafgosetzgebung eine reiche Falle von Sicherungs- strafen zur Verfügung stellte*, nicht nur die (einfache oder verschärfte) Todes- strafe, sondern auch die Landesverweisung, die Verurteilung zu lebens- länglicher Arbeit, ... die Verstümmelung, ja selbst die Brandmar- kung dienten dem Sichcrungszweck."^ In der Literatur findet sich denn auch neben mehr allgemeinen Bemerkungen über Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, öfter als („Ausrottung" bezeichnet und, wie vielfach auch heute, mehr als „außerordentliches Verteidigungsmittel des Naturstandes^ denn als eigentliche Strafe betrachtet [vgl. Michaelis, Mos. Recht VI» Vorrede, S. 68 ff., 71; Mal blank, Gesch. d. P.G.-O., S. 2G7, 268]) bald spezieller dieses oder jenes der genannten Strafmittel als dazu besonders geeignet empfohlen. Beispiele: a) für Unschädlichmachung im allgemeinen bes.: v. Sonnenfels, Grunds. I, §343, S. 425, Anm. c („Abschneidung'' des Unverbesserlichen von der Gesellschaft, „damit er dieselbe nicht femer verletze"); vergl. auch Seeger in PlittsRcp. I, S. 158; Beseke, Versuch, S. 37, Nr. 3 (der unverbesserliche Verbrecher muß „außer Stand gesetzt werden, neue Verbrechen zu begehen"); v. Globig u. Huster, Abhdlg.,S. 155; Kleinschrod, System. Entwickig. III, §4, S. 15, 16 (.Vorsetzung des Missetäters in einen physischen Zustand, wo es ihm unmöglich wird, femer zu schaden"); b) für Unschädlichmachung durch Todesstrafe s. im allgemeinen Michaelis. Mos. Recht VI. Vorrede, S. 71, Nr. 1 und bes. S. Sl (neben anderen Mitteln); Scegcr in Plitts Rep. I, S. 158 (.gänzliche Ausrottung"); Bark- hausen ebd. I, S. 332; Corrodi ebd. II., 8. 151; v. Grolman, Graudsätze § 114, S. 53 (alternativ neben ewiger Freiheitsberaubung); vergl. auch Wieland, Geist I, §305, S 212; c) für Unschädlichmachung durch Vemrteilung zu „gefähr- lichen", schweren, gleichsam als Ersatz der Todesstrafe dienenden („langsam tötenden'' !) Arb citen, wie in Bergwerken und „einigen Fabriken" : Rössig „Vor- erinnerang* zu^Hommcls Philos. Gedanken, S. XXVI, Nr. 12; vergl. auch v. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 188, Anm. ♦(und näheres darüber noch unten S. 175, Anm. 1) und im allg. noch Michaelis, a. a. 0. S. 71, Nr. 7 und S. 77; di durch Landesverweisung: Servin, Über d. pcinl. Gesetzgbg., S. 90 (in Fällen, „wo der Gesetzgeber überzeugt ist, daß . . . Bessemng gar nicht mehr stattfindet**), S. 260/61 (für wiederholt Rückfällig bei Kuppelei, die als „unverbesserlich" gelten); Quistorp, Entw., §305, S. 337 (bei widernatürlicher Unzucht im Rück- fall und der infolgedessen fehlenden „Hoffnung zur Bessemng", übrigens erst nach ausgestandener „Strafe^' und alternativ neben lebenslänglichem Arbeitshaus); V. Globig u. Huster, Abhdlg., S. 244/45 (für als unverbesserlich betrachtete rückfällige „Hurer und Hurenwirte" sowie Kuppler in gewissen Phallen); vgl. weiteres hierzu auch noch unten bei den Anhängern und Gegnern der Landes- verweisung, zu denen bes. auch Michaelis gehört, obgleich er (a. a. 0. S. 71, Archiv (tlr Krimmalanthropologie. 28. Bd. 1 1

162 IX. Günther

ganzen wobl die eigentlich führende Rolle gespielt. ^) Sofern es sich auch dabei nur um den Verbrecher selber handelt (^Spezialprävention^), deckt sich dieser Strafzweck dem Erfolge nach im wesent- lichen schon mit dem der ^politischen Besserung. '^ ^) Es sollten aber zugleich auch andere, zur Begehung von Delikten etwa geneigte

Xr. 4) sie unter den Mitteln der Ausrottung^ mit aufgezahlt hat; e) durch die (auch heute gerade hierfür vielfach befürwortete [b. zur Literatur: Berolz- heimer, Entgeltung, S. 448 u. Anm. 2, 456]) Deportation oder ^Transpor- tation''; s. z. B.: Filangieri, System IV (S, 2), Kap. 33, S. 115 (betr. Deportation auf Inseln) Michaelis, a. a. 0. S. 71, Nr. 2 und 3 und S. 79 (im allgem.); (imelin, Grundsätze, § 27, S. 62; Wieland, Geist II, §511, S. 227, Anm. * (für Notzucht); v. Grolman, Grunds., § US, S. 55 („zuweilen als Surrogat der Todesstrafe zweckmäßig**); s. dagegen aber Schott, Observat de del. et poen. bei Schall, a.a.O. S. 55); f) durch lebenslängliche Einsperrung (in Straf- anstalten): Rathlcf , Vom Geiste, S. 19, 25 und 73 („ewige Gefangenschaf f") ; Klein, Fragmente, a. a. 0. S. 73; v. Soden, Geist I, § 63, S. 101/2. (,cwige Ge- fängnisstrafe*"); Quistorp, Entwurf, §305, S. 337 („lebewieriger Aufenthalt im Arbcitshause*" altemat. neben Landverweisung, vergl. oben unter d); Beseke, Versuch, S. 6; Graebc, Über die Reformation, §42, S. S4 (für mehrmals rück- fällige Diebe als „unverbesserliche Menschen"" „ewiges Zuchthaus''); Klein- schrod, Systemat. Entwickig. i, § 47, S. 125; v. Grolman, Grunds., § 114, S. 55 (altem, neben Todesstrafe). S. auch Marat, Plan de lö^sl. criminelle, p. 223 (G.-S. 61, 2>. 339). Auch Michaelis zählt (a. a. 0. S. 71, Nr. 5) das „ewige Ge- fängnis"" in der allgemeinen Überaicht der Mittel der «Ausrottung*" auf, hält es aber in der praktischen Durchführung für zu kostbar (^. 75 ff.). Vergl. auch schon oben S. 159, Anm. 1 über die sog. unbestimmte Verurteilung, über Ver- stümmelungen und Brandmarkung s. näheres noch unten 8. 179, Anm. 1 u. S. 182, Anm. 1.

1) Über das Überwiegen des Abschreckungszwecks (und sein Ver- hältnis zu den Zwecken der Sicherung und Besserung) bei den Aufklärungs- schriftstellem s. etwa die Angaben bei Gm eil n, Grundsätze, § 14, S. 27, Anm. r und näheres noch bei Günther, Wiedervergeltung II, S. 167 u. Anm. 377. 181 u. Anm. 400, 401, 186/7 u. Anm. 469, 198/99 u. Anm. 526, 215ff. u. Anm. 579, 218ff. und Anm. 591, 223, Anm. 605, 225 und Anm. 6 14 ff., 234/35, Anm. 650, 255 u. Anm. 712. Gegen den Abschreckungszweck hatte sich im allgemeinen Rousseau ausgesprochen (s. Günther, Wiedervergeltung II, S. 165, Anm. 368, S. 167). In Deutschland ist ge^en die Abschreckung anderer ausdrücklich bes. Vezin, Daspeinl. Halsrecht usw., S. 187, 188, Anm. 13 u. bes. S. 194 ff., Anm. 16, aufgetreten (vergl. dazu auch Böhm er, Handb., S. 303); gegen sie als Hauptzweck femer Kleinschrod, Syst. Entwickig. I, § 49, S. 1 29 f f . ; vergl . auch B e r g k . Übers. IV, S. 49ff. ; über Wioland s. noch unten S. 163, Anm. 2.

2) S. ausdrücklich Mal blank, Gesch. der P.G.-O. §66, S. 267 („politische Besserunfz: des Täters, d. i. seine Abschreckung von Übeltaten fürs Künftige*"). Für Abschreckung des Verbrechers selbst in erster Linie: Kleinschrod, System. Entwickig. III, §4, S. 15, 16 und besonders v. Grolman (Grundsätze § Iff., S. Iff., § 105 ff., S. 49ff. und namentl. § 110, S. 51), der Hauptvertreter der sogen. Spezialpräventions-Theorie (vergl. H. Meyer-Allfeld, Lehrb. § 13,

Die Straf rechtsreform im Aafkläningszeitalter. 163

Mitglieder des Staates abgeschreckt werden („Generalprävention^), sei es schon durch die gesetzliche Strafdrohung, worauf später Feuerbach das entscheidende Gewicht gelegt hat^), sei es woran man in dieser Zeit meist noch an erster Stelle denkt durch die Strafvollstreckung an dem Missetäter. 2) Diese soll daher in möglichst breiter Öffentlichkeit 3), ja mit einem gewissen auf die Sinne wirkenden Gepränge vor sich gehen. 4) Gerade in Deutsch- land hat diese Anschauung in der Literatur sich länger zu erhalten vermocht als anderswo. Während in Frankreich z. B. schon Vol- taire geäußert hatte, daß die öffentlichen Hinrichtungsszenen auf die große Masse (^la canaille^) nicht sowohl abschreckend

S. 11 und Anm. 5), als deren „Vorläufer*^ übrigens auch schon Wicland (s. bes. Geist I, §294, S. 398 [und unten Anm. 2]) bezeichnet werden kann (s. Lands- berg, Gesch. III 1, S. 413).

1) Über die zahkeichen Anklänge an die Feuerbachscho Theorie des sog. psychologischen Zwangs bei den Aufklärungsschriftsteilem s. im allg. v. Liszt, Strafr.Aufs.il, S. 380 und Einzelheiten dazu bei Günther, Wicdervergltg. II, S. 82, Anm. 441, 186 u. Anm. 469, 187, Anm. 471, 235, Anm. 650, 243, 244, Anm. 667 u. 668 (das. Erklärung dieser Erscheinung); vergl. auch Arch. f. Straf r., Jahrg. 4S, S. 19 u. Anm. 103. Über Friedrich den Großen s. Willenbücher, a.a.O. Ö. 27.

2) S. Malblank, Gesch. der P. G.-O. S. 267, 268, Nr. 5. Als Hauptvertreter dieser Theorie pflegen in den Lehrbüchern Filangieri (System IV [3,2], Kap. 25, S. 9, Nr. 8 u.Kap.27,S. 19 ff.) und Gmel in, (Grunds., Einltg., §6,8.12 ls.Günther, Wiedervergeltung II, S. 186, 187, Anm. 469 u. 471 u. S. 234, Anm. 650]) angeführt zu worden (s. z.B. H. Meyer-Allfeld, Lehrb., §3, S. 11, Anm. 7; Thomsen, Deutsch. Strafrecht, § 2, S. 28). Ober Beccaria 15, S. 102, 103, § 12, S. 89) s. Esselborn, Einltg., S. 18; über v. Dalberg: Abegg, G.-S. 15, S. 121. Gegen diese Art der Abschreckung (außer Vezin) ausdrücklich auch Wieland, Geist I, § 294, S. 397 ff., § 308 ff., S. 415ff., § 836 ff., 8. 454 ff.; von Neuerem bes. Thom- sen, a.a.O. §2, S. 28.

3) So allgem. herrschende Meinung. S. Malblank, Gesch. d. P. G.-O., § 60, S. 270, Nr. 11: „Die Strafen sind, soweit möglich, öffentlich zu vollziehen, damit durch selbige kein Mißbrauch getrieben und zugleich der öffentliche Eindruck erreichtwerde.^ Vergl. über einzelne Schriftsteller noch Günther, Wiedervorgeltung II, S. 199, Anm. 529, 223, Anm. 605, 236, 237 u. Anm. 654, 256, Anm. 714.

4) S. Malblank, a. a. 0. § 60, S. 268, Nr. 6 (es kuunen „zur Verstärkung des Eindrucks [bei der Todesstrafe] allerlei Feierlichkeiten und äußere Zeichen gebraucht werden"). Vergl. (übereinstimmend, bes. betr. die Todesstrafe) Giaproth, Entwurf II, Abschn. 3, Hauptst 12, § 2, S. 194ff.; Zaupser, (^ed., Abhdlg. 3, 8. 77; Quistorp, Entw. I, Abschn. 4, § 52, S. 62, Anm. c, §55, S.64; Pf laum. Entw., T. I, Abschn. 4, § 45, S. 40; Pli tti i. s. Rep. L Vorrede, S. 2Sff.; Filangieri, System. IV (3, 2), Kap. 80, S. 52. Cber die Praxis des gem. Rechts s. Günther, Wiedcrvergeltung II, S. 9 ff., Anm, 14—16.

11*

164 IX. Günther

als vielmehr anziehend, unterhaltend und belustigend wirkten O7 und in Nordamerika der Philanthrop Josias Benjamin Bush sogar in einer eigenen Abhandlung gegen die Übelstände einer allzu großen ^Publizität^ der Strafvollstreckung aufgetreten war, 2) haben die deutschen Schriftsteller mit großer Zähigkeit an dem altäberlieferten Herkommen^) festgehalten; konnten es doch noch Juristen, die sich selbst bereits zu den Aufgeklärten ihrer Zeit zählten, als einen päda- gogisch „löblichen Brauch'' empfehlen, am Tage einer Hinrichtung die Schulen zu schließen, um auch den Kindern das vermeintlich ab- schreckende Beispiel vor Augen zu führen.^) Konsequenter weise hätte man nun eigentlich auch zu möglichst harten Strafformen grei- fen müssen, allein dem stand die zunehmende Humanität, die Tendenz der Zeit, die Todesstrafen möglichst einfach zu gestalten oder sie gar völlig durch leichtere Straf arten zu ersetzen, hindernd entgegen. Man ist jedoch nicht um einen Ausweg aus diesem Dilemma verle- gen gewesen. An Stelle der früher tatsächlich vollzogenen sog. qua-

1) S. Voltaire, Prix de la justice, Art. II (Bibl. phil. T. V, p. 11): ^Toute .a Canaille . . . court ^ ces spectacles comme au sernion, parcequ'on y entre sans payer**, vergl. Hertz, Voltaire, S. IIb, 119. S. auch Observations sur le traite des dölits et des peines, bei Brissot, Bibl. phil. T. L p. 292: („Les supplices . . . sontlespectacledu peuple") u.Vezin,Da8peinl. Halsrecht, S. llOff. (Anni. 12). Auffälligerweiso konnten sich aber gerade die Franzosen nicht zu der Einführunir der sog. Intramuran-Hinrichtung entschließen. S. v. Liszt, Lehrb., § 160, 8. 257, Anm. S; Mittermaier in der Deutsch. Jur.-Ztg. vom 15. Dez. 1908 (Jahrg. VIII, Nr. 24), S. 555, Sp. 1.

2) Über J. B. Rush (Professor der Chemie in Pennsylvanien) und seine Schrift ^Enquiry into thc effects of public punishments upon criminals and upon Society", London 17S7 (deutsche Übersetzung, Leipzig 1793) s. Böhmer, Handb.. S. 710, Nr. 2575); C.V.Lichtenberg, Die Strafe, die Zuchthäuser und das Zwangserziehungssystem usw., Berl. 1846, S. 235; Günther, Wieder\'ergeltung II. S. 209ff., Anm. 560, S. 237. Anm. 656; v. Liszt, Lehrb., § 60, S. 257, Anm. S. Über J. L. E. Püttmanns dagegen gerichtetes Sendschreiben („Über die öffent- liche Vollstreckung der peinlichen Strafen**) s. Böhmer, a. a. 0., S. 711, Nr. 2577; Günther, Wiedervergeltung II, S. 237, Anm. 656. Eine Prüfung der Gründe Rush's gegen die „Publizität" der Strafvollstrekungen auch bei Kleinschrod. System. Entw., §79, S. 66ff. Übereinstimmend mit Rush: Wagnitz, Histo- rische Nachrichten usw. über die merkwürdigsten Zuchthäuser, Halle 1791, Bd. 1, S. 14. Weitere hierher gehörige Literatur noch bei Böhm ej, Handb., S. 710, 711 ; vergl. auch ebd. S. 307, Nr. 684 und S. 759; v. Liszt, a. a. 0. S. 257, Anm. S.

3) S. über die ältere Praxis in Deutschland Günther, Wiedervergeltg.il, S. 8 ff.

4) So: Zaupser, Gedanken usw., Abhandlung 3, S. 83; noch ausführiicher darüber Claproth, Entw., Teil IJ, Abschn. 3, Hauptst. 12, § 1, S. 193ff. und § 2, S. 195. Vergl. Günther Wieder^'crgcltung II, S. 215, 216, Anm. 579 und S. 223, Anm. 605.

Die Straf rechtsreform im Aufklärangszeitalter. 165

lifizierten oder geschärften Todesstrafen, für die jetzt nur noch ganz vereinzelte Verteidiger auftreten empfahl man wohl mehrfach Scheinexekutionen an den bereits entseelten Körpern der Hingerich- teten oder sonstige, dem Delinquenten zwar nicht mehr fühlbare, dem Publikum aber Schaudern erregende Maßnahmen, wie z. B. das Flechten des Leichnams auf das Ead oder das Aufstecken der Köpfe toder der Hände) Enthaupteter auf Pfähle u. dergl. mehr. 2) Größere Schwierigkeiten hat es schon bereitet, die Freiheitsstrafen (namentlich auch da,^ wo sie als Ersatz der Todesstrafen erschienen) in öffent- lich wahrnehmbare abschreckende Formen zu bringen. Vielfach hat man dieöffentliche Verrichtung schwerer Arbeiten durch die Strafgefangenen auch gerade aus diesem Gesichtspunkte befürwortet ^)

1) S. Malblank, Gesch.derP.G.-O., §60. S. 164, Nr. 6; Kleinschrod, Syst Entw III, § 10, S. 271. „Dai-über sind alle neueren Schriftsteller einig, daß qualifizierte Todesstrafen unangebracht sind, weil sie mehr Schmerz zufügen, als zum Töten notig ist*" Vergl. auch Geib, Lehrb. I, S. 386 und Günther, Wiedervergeltung II, S. 276 u. Anm. 653 und G.-S. 61, S. 822. Als Anhänger der sllteren, von dem Philosophen Chr. Wolff noch verteidigten Richtung (s. Jus na- turae etc., 1740 ff., p. VIII, c. 8, § 601 ff.) erscheinen u. a. (vergl. Böhmer, Handbuch Nr. 675, S. 304) noch Claproth (vergl. schon oben S. 127, Anm. 4) und Beseke (wozu näh. zu vergl. in m. Wiedervergeltung II, S. 2 16 ff. u. Anm. 580, 587 bis 589 u. S. 242, Anm. 665). Über das ausdrückliche Verbot aller Schärf ungen der Todesstrafe im französ. StGB, von 1795 s. näh. noch weiter unten.

2) Dafür bes. v. Soden, Geist § 61, S. 95, 96; Gmelin, Grundsätze, § 46, 8. 100, 101 und § 168. S. 138ff. ; femer Versuch einer geset/^eb. Klugheit (vergL Allg. deutsche Bibl., Band 39, S. 405 1; Rathlef, Der Kindesmord usw., Anhang I zn der Schrift: Vom Geiste usw., S. 158 ff.; Quistorp, Entwurf], Abschn. 4, §52, S. 61,62 u. Anm. b,c und § 126, S. 140,141; Pflaum, Entw. T. I, Abschn. 4, §48, S. 88, 39 (Rädern nach vorheriger Strangulierung und Verbrennen des entseelten Körpers); v.Dalberg,Entwurf, S.141,159; vgl. auch noch Günther, Wiedervergeltung U, S. 216, Anm. 579 (über Claproth) und S. 236, Anm. 654 und G.-S. 61, S. 322, 323 (überMarat). Mehr allgemeine Sätze bei Beccaria, §15, 8.103 (und dazu Esselborn, Einltg., S.18) und Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 27, S. 19 ff., die beide mit der möglichst geringen Pein des Verurteilten doch einen möglichst großen Eindruck der Zuschauer verbinden wollten. Gegen die Scheinexekutionen überhaupt: Kleinschrod, System. Entw. in, § 11, S. 27; vergl. femer v. Red er. Das peinliche Recht I, Kap. IX, § 29, S. 159 („Soll das Publikum ein abschreckendes Beispiel erhalten, wenn ein toter Körper gehängt, ihm die Hände abgehauen oder sonst metzgermäßig behandelt wird, so muß man demselben zuvörderst das Märchen predigen, daß auch entseelte Körper Schmerzen fühlen können"); insbes. gegen das Aufstecken der Köpfe auf Pfähle auch: v. Eberstein, Entwurf, Vorrede, S. 11.

3) 8. bes^Kleinschrod, System.Ent\incklg. I, §32. S. 77 und III, § 28. S 58, §36, S. 71, 72(Öff entliche Arbeiten seine u.a. auch deshalb ,, sehr zweckmäßig. . ., weil siemchr Publizität und Abschreckung mit sich verbinden*^) ; zu vgl. dersei b e, Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten, Würzburg 1789 Abhdlgn. aus dem pein.

166 IX. Günther

Wo man aber an der eigentlichen Einsperrung in den Strafanstalten als Kegel festhalten zu müssen glaubte, da wollte man doch wenig- stens den Schein der Öffentlichkeit noch dadurch retten, daß etwa der Verurteilte vor seiner Abführung zur Straf verbüßung „mit ge- wissen Feierlichkeiten vor das Volk'' geführt und ihm dann hier das urteil verkündet würdet), oder daß gar die Insssaen der Strafanstalten „in jedem Monat einmal durch die Hauptstraßen der Stadt oder des Orts, wo sie gefangen sitzen, mit einer ihr be- gangenes Verbrechen bezeichnenden Inschrift geführt" würden "^j, oder aber auch dadurch, daß die „Gefängnisse an öffentlichen Plätzen und nur mit Gittern vermacht sein" und so „allen Vorüber- gehenden zum Beispiel" dienen müßten. Letzteres haben namentlich V. Globig und Huster in ihrer Preisschrift in Vorschlag gebracht 3), nach der, beiläufig bemerkt, auch die Geldstrafen „auf öffent- lichem Platz entrichtet werden" sollten.*) In einem gewissen Zu-

Rccht I, Nr. 5); ferner v. Roder, Das peinl. Recht I, Kap. XI, § 15, S 311; Gmelin, Grundsatze, §25, S.57, Nr. 5 (für Verrichtung öffentlicher Arbeiten durch die Gefangenen ^zu gewissen Zeiten . . . außer ihrem Gefängnishanse, damit auch andere das tibel (der Strafe) einsehen und also die Strafe einen wirksa- men Eindruck auf andere machen könne^.

1) So: Plitt in 8. Rep. für das peinl. Recht I, Vorrede, S. 20— 21 (mit bes. Beziehung auf Kindesmörderinnen), S. 22(jjihrliche Wiederholung der Ausstellung! ; vergl. Gmelin, a. a. 0. S. 57 (öffentliche „Vorstellung** vor der Abführung in die Strafan6talt);Klein8chrod, System. Entwickle- 1, §28, S. 58, II, § 32, S. 78, Xr.Ji, ebenso (um „dem Mangel an zweckmäßiger Publizität" vorzubeugen); Pflaum, P^ntwurf I, Abschn. 4, § 47, S. 42 (öffentliche Ausstellung bezw. Züchtigung der zum Zuchthaus Venirteilten); s. auch Kloin, Fragmente S. 70 (für vorhergehende öffentliche Züchtigungen auf freiem Platze zur Erhaltung des „exemplarischen Zweckes" der Strafe).

2) b?o Quistorp, Entwurf I, Absch, 1, § 57, S. 68,

3) V. Globig u. Huster, Abhdg., S. 75, wiederholt in Teil n, S. 437 („das Gefängnis muß öffentlich und mit Gittern sein, daß ein jeder hineinsehen kann'^i; Vgl auch Vier Zugaben, S. 104. Übereinstimmend Kl eins ehr od, Syst. Entw. III, § 28, S. 58. Gmelin, Grunds., §25, S. 57, Nr. 5 wünschte, „daß der Zugang (zu d. Strafanstalten) jedermann freigestellt (und) besonders die Jugend manchmal (hinein)geführt" werde. Auch Beccaria hat sich in einem (zusammen mitScotti u. Risi verfaßten) Gutachten über die Todesstrafe vom Jahre 1792(abgedr. bei Esse 1 - born, Anh. 2, S. 190 ff) mit dem Mangel der „Publizitäf* der Freiheitsstrafen beschäftigt u. glaubte diesem bes. dadurch abhelfen zu können, daß man statt einer einzigen, „in einem Winkel der Provinz" gelegenen Strafanstalt solche „in den verschiedenen Städten" errichte, „damit die Strafe sich vor den Augen des Publikums vollziehe" (S. 198).

4) V. Gl obig u. Huster, a. a. 0. II, S. 437. Kleinschrod, Syst Entw. in, § 59, S. 121, Nr. 4 w^ollte öffentliche Bekanntmachung der gezahlten Geldstrafen.

Die Straf rechtsrefonn im Auf klärungszei taller. 167

sammenhange mit dem Grundsatze der ^Pablizität^' der Strafvoll- streckung stehen auch noch zwei andere, damals wiederholt aufge- stellte Forderungen, nämlich einmal die, daß die Strafe, wo es angehe, an dem Orte des begangenen Verbre<5hens vollzogen werde*), sodann auch die, daß sie möglichst rasch auf die Tat folge.-) Hiermit verfolgte man nämlich in erster Linie den Zweck, einem unnötigen Mitleid mit dem Delinquenten vorzubeugen, erst in zweiter Linie allerdings auch den, dem Angeklagten eine längere Ungewißheit über sein Schicksal zu ersparen bezw. dem schon Verurteilten die pein- volle Zeit des Wartens auf die Exekution der Strafe zu verkürzen.^) Da alle von den Aufklärern erwähnten Einzelzwecke der Strafe stets dem Nutzen der Gesamtheit als dem gemeinsamen Oberzwecke dienen sollten, so darf die Strafe auch niemals härter sein, als es zur Erreichung dieses Zieles eben gerade nötig ist^) Schon daraus folgt

1) Über diesen, auch sebon der Praxis des älteren Rechts (vgl. Günther, Wiedervgltg. II, S. 8, Anm. 13) entsprechenden Grundsatz s. u. a. bes.: Klein- schrod, Syst. Entw. II, § 30, S. 72 ff (wo speziell auf den Zusammenhang mit dem Abschreckungszwecke hingewiesen). Vgl. auch Klein, Fragmente S. 70; V. Globig u. Hustcr, Abhdg., II S. 437; Rössig, „Vorerinnerung'' zu Hommels Phil. Ged., S. XXVI, Nr. 14.

2) Schon Beccaria meinte 19, S. llS/19): „Je rascher und näher die Strafe auf das begangene Verbrechen folgt, desto gerechter und nützlicher ist sie"; näher, das. S. 119/20 (vgl. auch § 13, S. 98; Günther, Wieder Vergeltung II, S. 183 u. Anm. 449». Das wurde seitdem herrschende Meinung. Vgl. (über Tomaso Natale) Günther i. Archiv f. Strafr. 48, S. 24 u. Anm. 125; von Franzosen s. bes. Servan, Discours sur V administration etc. (Brissot, Bibl. phil. T. II.), p. 144, 146 ff. (vgl. Günther, Wiedervgltg. II, S. 199, Anm. 528), z. Teil abweichend aber Servin, Über die pcinl. Gesetzg., S. 56. Von Deutschen (vgl. i. allg. m. Wiedervgltg. II, S. 236, Anm. 654) s. bes. v. Sonn enf eis, Grunds. I, § 354, S. 436; Zaupser, Gedanken, Abhdg. 3, S. 77; Michaelis, Mos. Recht, (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 107ff.; Seegor in Plitts Rep. I, S. ISS, Anm. s; Klein, Fragmente, S. 42; v. JSodon, Geist 1, §72, S. 118; Beseke, Vereuch, Kap. VI, Abschn. 5, S.54tf.; v. Globigu-Huster, Abhdg., S. 60, 61, Ziff. 5 u. Teil II, S. 437; v. Dalberg, Entw., S. 138f.; Kleinschrod, Syst. Entw. IT, § 33, S. 79ff.

3) S. darüber ausdrucklich z. B. Servin, a. a. 0. S. 56 (^weil man dem Schuldigen die unnützen Qualen der Ungewißheit ersparen muß"); Kleinschrod, a. a. 0. S. 79; Beseke, Versuch, S. 54, 55; Plitt in s. Repertor. I, Vorrede, S. 30.

4) S. hierüber i. allg. v. Liszt, Strafr. Auff. U, S. 139, der diesen Grund- satz als die „negative Scite^ der bekannten, gleich noch näher zu erwähnenden Forderung der Proportionalität zwischen Verbrechen und Strafe bezeichnet; vgl. v. Overbeck, a. a. 0. S. 33. Im einzelnen s. noch bes. Beccaria, § 2, S. 70; Filangieri, System ly (3, 2), Kap. 27, S. 19ff.; v. Sonnenfels, Grunds. I, § 350, S. 433, § 352, S. 436 (der Gesetzgeber hebt sonst „mit Riesenkräften einen Stroh- halm aus dem Wege"); Michaelis, Mos. Recht VI, Von^de, S, 50; v. Gl ob ig

168 DL GrsTHER

also die Verwerfang annötiger Grausamkeiten (^barbaries inn- tiles'^jO* die außerdem leicht ein übel angebrachtes Mitleid mit den Verbrechern erregen könnten -j nnd endlich ancb noch der Huma- nität widersprechen. Mit Absehen blickt man jetzt anf die harten Strafen der Carolina, fiber die nnter Tölliger Verkennnng ihrer historischen Bedeutung als ein Produkt gesetzgebmscher Unfihig- keit zu räsonnieren zum Modeton gehört') Daß die Barbareien

n. Hnster, Abhd^. S. 59 Vezin, Das peiii]idie Halsredit« & 105 (Adid. 12); Wieland, GeisL I, { 294, S. 39S: v. Dalberg, Entw^ S. 116, 137; Klein- scbrod, Syst. Entw. I, { 35, S. S3 84.

1) S. da^ei^en n. a. schoa Montesqaien (Esprit des lois, L. VI., eh. 12, p.73), Voltaire, (Prix de la justice, Art. XXVIII [s. Günther, Wiedervgltg.il, S. 166/67, Anm. 376]) n. andere Fnuizosen (s. Gfinther, Wiedervgltg. IL S. 199, Anm. 530 o. G.-S. 61, S. 212ff., 213 a. Anm. 2); femer Beccaria, S 2, S. 7U § 15, S. 102ff., § 16, S. 105. Filangieri, System. IV (3, 2), Kap. 30, S. 58, Michaelis, Mos Recht VI, Vorrede, S.51, Bommel, Phil. Ged, § 14, S. 31, § S7, S. 166fr., Übers, v. Beccaria, S. 232, Anm. f. sowie überhaupt fast alle späteren deutschen Anfklirongsachriftateller (s. Günther, Wiedervgltg. II S. 236 n. Anm. 653) ; vgl. andi schon oben S. 165, Anm. 1 sowie die folgende Anmerkung. Monographien darüber lieferten Seeger, Sind scharfe Gesetze einem Staate vortrSglich ?, in Pütts Rep. 1, S. 154 ff. u. Eymar, De nnfincnce de la tH*v^rit6 des peines sur les crimes (Diss. qui a rempli le prix au jugemmt de l'acad^mie de Marseille), 17S9.

2) Dies betonen z. B. ausdrücklich: v. Sonnenfels, Grunds. I, § 353, S.437ff. u. $375, S. 463; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 54; Quistorp, Entw., Vorrede, S. 5; Besehe, Versuch, § 87, Nr. 5; Gmelin, Grunds., $ 23, S. 50; V. Eberstein, Entw., Vorrede S. 7; Klcinschrod, Syst Entw. II, § 35. 8. S4; Bergk, Übersetzg. I, Vorrede S. XXII u. II, S. 79, Anm.*: Filangieri, a. a. 0. S. 53; Servin, Über d. p. Gesetzgbg., S. 70. Vgl. auch Plitt in 8. Repertor I, Vorrede, S, 31; v. Dalberg, Ariston, ebd. 1, S. 30, 31; Seeger, ebd. S. 190. Daß infolge des Mitleids mit dem Täter sogar vollige Straflo8igkeit( „Impnnität**) bewirkt (also die gerade entgegengesetzte Wirkung des Gesetzes hervorgerufen) werden könne, ist seit Beccaria 15, S. 105) eben- falls öfter (namentlich auch gelegentlich der Besprechung der früheren harten Strafen des Hausdiebstahls) bemerkt worden; so u. a. von Voltaire. Com- mentaire, § 18 (BIbl. phil. T. I, p. 250/51), Prix de la justice, Art II (Bibl., phil. T. V, p. 11), Servan, Discours sur radministration etc. (Bibl. phil. T. II), p. 200, Filangieri, System IV (3, 2), Kp. 54, S. 650, Marat (s. G.-S. 61, S. 212, Nr. 3), Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 92, Gmelin, Grundsätze, § 9S, S. 199, Seeger in Pütts Rep. I, S. 197.

3) S. darüber schon v. Grolman, Grunds. (1. Aufl.), Vorrede, S. V u. näheres bei Löning, in d. Z. f. d. ges. 8tr.-W., Bd. 3, S. 240 u. 274/75. Vgl. auch Böhmer, Handb , S. 113 (über Bommel). Übrigens war auch schon die der AufkUbrongs- zcit vorhergehende Generation (Leyser, Böhmer) der Carolina bekanntlich wenig günstig gesinnt gewesen; s. darüber Mal blank, Gesch der P. G.-O.. Kap. 9, § 57, S. 253 ff. vbd. mit § 47, S. 224 ff.; Landsberg, Gesch. III 1, S. »02. Dagegen haben allerdings v. Globig n. Hu st er, Abhdg., S. 264 (u. ebenso Rössig, zu

Die Strafrechtsroform im Aufklärungszcitalter. 169

früherer Zeiten nicht einmal den Abschreckungszweck erfüllt haben, wird von den meisten für ausgemacht gehalten, denn dafür habe schon die abschwächende Kraft der Gewohnheit gesorgt. ,,Je grau- samer die Strafen sind,^ lehrt z. B. schon Beccaria, ,,desto mehr verhärten sich die Gemüter der Menschen . . . .^, so ^daß nach hun- dertjähriger Anwendung grausamer Strafen das Rädern nicht ab- schreckender wirkt als zuerst das Gefängnis^. 0 Dagegen können auch mildere Strafen verbrechen verhütende Kraft erlangen, wenn sich mit absoluter Gewißheit auf ihre Vollziehung rechnen läßt-), so daß „die Strafe dem Verbrechen ebenso unfehlbar" folgt „wie der Schatten dem Körper'' (Servin), und „das Schwert der Gerechtig- keit unerbittlich alle Verbrecher trifft" (Kl ein sehr od). 5) Mit dieser Forderung, die ja auch dem Ausschlüsse des richterlichen Ermessens entspricht, muß dann freilich sowohl die Kriminalverjährung als namentlich auch das Begnadigungsrecht (nicht nur des Richters, sondern auch des Landesherrn) eigentlich ganz in Wegfall kommen, und beide Konsequenzen sind denn damals auch von einer Reihe sonst human denkender Schriftsteller gezogen worden. 4) Während

Hommels Phil. Ged., S. 25, Anm. *) den Verfasser der C. C. C. als den „Bcccaria seiner Zeit" bezeichnet (vgl auch Malblank, a. a. 0. § 61, S. 272ff.).

1) Beccaria, § 15, S. 104; vgl. Günther, Wiedervgltg. II, S. 181/182, Anm. 444; Maillard, £tude histor., p. 82. Übereinstimmend i. wes. auch Montes- quieu (s. Esselborn, a. a. 0. S. 104, Anm. *; vfcl. auch oben 8. 168, Anm. 1); ferner Tomaso Natale (s. Archiv, f. Strafrecht 48, S. 22, 23); Filangieri, System IV (3, 2,) Kap. 30, S. 50/51; Rathlef, Vom Geiste, S. 9, 10; Beseke, Versuch, 8. 30 u. 40, 41; v. Globig u. Hu st er, Vier Zugaben, S. 29; Vezin, Das peinliche Halsrecht, S. 41, 100, 101, 111 ff. (Anm. 12); Pütt in s. Rep. 1, Vorrede, S. 22; v. Dalberg, Entw., S. 115, 116 u. a. m. A. M. jedoch Diderot in s. Noten zu Beccaria (Oeuvres T. V, p. 66, 67).

2) S. Beccaria, § 20 („Gewißheit und Unausbleiblichkeit der Strafen'' usw.), S. 121 ff.: „Eines der wirksamsten Mittel, die Verbrechen einzuschränken, ist nicht die Grausamkeit, sondern die Unausbleiblichkeit der Strafen'' (S. 121). Vgl. Günther, Wiedervgltg. U, S. 182 u. Anm. 446/7; Maillard, a. a. 0. p. 32. Ebenso fidereinstimmend : v. Sonnenfels, Grds. I, §354, S. 437ff., Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 45 und die meisten späteren französischen und deutschen Aufklärungsschriftstelier; vgl. näh. bei Günther, Wiedervgltg. II, S. 199, Anm. 530, S. 236, Anm. 653.

3) Servin, Über die peinl. Gesetzgbg , S. 31; Kleinschrod, Syst. Entw. II» § 34, S. 82.

4) Vgl. betr. die Verjährung im allgem. Geib, Lehrb. II, S. 136; v. Liszt, Lehrb., § 77, S. 293; H. Meyer- Allfeld, Lehrb., § 45, S. 263, Anm. 12. Während Beccaria, § 17, S. 96 ff. noch gemäßigter war und namentlich für leichtere Fälle die Kriminalverjährung (u. a. auch wegen der Möglichkeit der Besserung des Schuldigen) noch zugelassen hatte, wollte namentlich Servin, Über

170 IX. Günther

z. B. noch Montesquieu das BegDadig:ungsrecht als ^eine große Triebfeder gemäßigter Regierungen'' gepriesen, die „bei kluger An- wendung wunderbare Wirkungen hervorrufen'' könne und auch RousseaUfVoltaireunddieEncyklopädistensich prinzipiell noch für die Handhabung des landesherrlichen Gnadenrechts als eines geeigneten Mittels zur Ausgleichung etwaiger Härten des Gesetzes, ja als des „schönsten Attributes der Souveränität" (Encykl., Art. „Grace") ausgesprochen hatten*^), tritt mit Beccaria ein Umschwung der Ansichten hierüber ein^), der seine schroffste Gestalt wohl in den leidenschaftlichen Angriffen des Italieners Filangieri gegen die (denkbaren) Mißbrauche des Begnadigungsrechts gefunden hat^), zu

die peinl. Gesetzgbg.. S. 31, Ul, 123ff, 130ff jede Verjährung grandsätzlicb völlig ausschließen. Ebenso Claproth, Entwurf I, Hauptst. 1, § 24, S. 18, Bcscke, Versuch, S. 93. Nr. 20 u. i. wes. auch Kleinschrod, Syst Entw. II, § 34. S. 82, Nr. 2 (völlige Aufhebung oder doch möglichst enge Begrenzung). Die Verteidiger der Verjährung stötzten sich meist geradezu auf eine Art Prä- sumtion der Besserung des Täters, so bes. v. Globig u. Huster, Abhg., S. 151 ff. und Hommel, Übers., S. 157, Anm. g; vgl. auch Rathlef, Vom Geiste, »S. 142, Gmelin, Grunds., § 265, S. 436ff. u. v. Dalberg, Entw., S. 179, Ziff. 2 u. 3; dagegen aber: Kleinschrod, a. a.O. II, § 102, S. 268 und v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S 272 ff. u. 2S3. Über die Bekämpfung der Begnadigung s. i. allg. Geib, Lehrb. II, S. 152/3; v. Liszt, Lehrb., § 75, S. 2S8; Sternberg, Die Begnadigung bei den Naturrechtslehrem, in d. Z. f. vgl. R.-W. 13 (1899), (S. 321 ff.), bes. S. 399ff.; über Einzelheiten s. d. Text und die folgenden Anmkgn. II Über Montesquieu, Esprit des lois, Livrc VI, chap. 16, p. 79 und chap. 21, p. 81ff. (,,De la clömence du prince") s. Geib, a. a. 0. 11, S. 154, Stern- berg, a. a. 0. S. 399, 400; Esselborn, Übers., S. 122, Anm.*.

2) Über Rousseau (Contrat social, II, 5) s. Stornberg, a. a. ()., S.401, Esselborn, a. a. 0. S 122, Anm.*; über Voltaire: Hertz, Voltaire, S. 459; über dieEnzyklopädistcnu. bes. de Jaucourt; v. Overbeck,a. a.O.,S. 36 ff., 39—43. Zur Erklärung dieser, (im Vergleich zu den Italienern) weniger schroffen Stellung der (älteren) Franzosen zur Begnadigung s. das nähere bei Sternberg, a. a. 0., S. 40lff.

3) Beccaria, § 20, S. 122: „.Je milder die Strafen werden, desto weniger notwendig sind Begnadigung und Verzeihung. Die Gnade also . .. sollte bei einer vollkommenen Gesetzgebung, bei der die Strafen milde und das Gerichts- verfahren geregelt ist, ausgeschlossen sein." Näheres noch S. 122, 123 und §21, S. 123 ff. (gegen „tVeistätten" für Verbrecher) u. dazu Sternberg, a.a.O.. S. 402, 403; vgl. auch Günther im Archiv für Strafr. 48, S. 26, Anm. 129, Birkmeyer, ebd. ö. 98, Anm. 88 a. E., v. Overbeck, a. a. 0. S. 120; Esselborn, a. a. 0. S. 122, Anm*; s. auch oben S. 134, Anm. 1.

4) S. Filangieri, System IV (3,2), Kap. 57, S. 7l2ff. («Von der Straflosig- keit-), bes. S. 715ff., 718ff., 721/22 (gegen .Freistätten-); s. auch schon oben S. 134, Anm. 1; Sternberg, a. a.O. S. 402, 403 ff. u. Anm. 215; vgl. auch noch Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Würzb. 18S4, S. 109, Anm. 1, 110, Anm. 1. Über Tomaso Natalc (bes. als Gegner der , Freistätten'*) s. Günther

Die Strafrechtsreform im AufklSrungpszeitaltcr. 171

dem sich aber auch in Deutschland manche Schriftsteller bekannt haben, wie vor allem v. Globig und Huster in ihrer preisge- krönten Abhandlung 0-

Auch die milden, das Staatswohl befördernden Strafen müssen nun aber stets gerecht sein, und sie sind dies dann, wenn sie zu den Verbrechen in einem richtigen Verhältnisse oder Ebenmaße („Proportion, Proportionalität^, juste proportion") stehen, so daß, wie Friedrich der Große es einmal umschrieben hat, „eines mit dem anderen balanciert" ^); insbesondere muß man dahin streben, die Strafen der „Natur'' oder dem „Geiste" der Delikte anzupassen. Dieser vielgepriesene Satz, der schon von Montesquieu geradezu als

i. Archiv f. Strafr. 48, S. 26 u. Anm. 130. Von den späteren Franzosen sind u. a. (9. Hertz, Voltaire, S. 459 u. Anm. 3 über Bernardi u. Pastoret) als Gegner der Begnadigung bes. zu nennen: Servin, über d. peinl. Gesetzgbg., S. 31 u. r25ff. und Brissot de Warville, Theorie p. 200 ff . (,Jä oii la i^gislation est bonne. les graces ne sont que des erimes contre la loi'')? Observations sur la trait^ des delit set des peines (bei Brissot, Bibl. pbil. T. I), p. SOS ff.; s. auch Marat, Plan de l^gisl. er., p. ISO, 179, 252 (auch gegen Freistätten; vgl. Günther im G.-S. 61, S. 212, 213, 227, Anm. 2).

1) S. i. all^. Sternberg, a. a. 0., S. 405 ff. Herzubeben i. einzelnen bes. noch (außer v. Globig und Huster, Abhdlg., S. 157ff ): v. Sonnenfels, Grunds. I, § 354, S. 438, Beseke, Versuch, Kap. 8, Abschn. 1, S. 87, 88 unter Nr. 9 und Kleinschrod, Syst. Entw. II, § 34, S. 81, Nr. 4 u. § 108ff., S. 280 ff.; übereinstimmend im wes. auch Zaupser, Gedanken, Abhdlg. S. S. 85 ff. u. Abhdlg. 4 (,.Von den Asylen oder Freiungen")^ S. 91 ff.; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 18fif., 45ff.; Gmelin, Qrunds., § 55, S. 118ff. u. §266, S. 437, vgl. auch § 263, S. 434 (gegen Freistätten). Noch Kant bezeichnete in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre'^ (2. Aufl., Konigsb. 1798, S. 236) das Begnadigungsrecht als „das schlüpfrigste" unter allen Rechten des Souveräns, „um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade unrecht zu tun." Ge^en d. volligeVei-werfung des Be- gnadigungsrechts u.a. aber Seeger i. Plitts Rep. I. S. 190/91; Rathlef, Vom Geist, S. 143/44; Hommel, Vorrede zur Übers. Beccarias, S. XXIV u. Phil. Ge- danken, § 54, S. 110, § 57, S. 118ff.; Gr^aebe, Über d. Reformation usw., S. 44. Über Gegner der Begnadigung in der Neuzeit s. H. Meyer-Allfeld, Lehrb., § 46, S. 273, Anm. 14 a. E.

2) S. darüber Stölzel, Suarez, ein Zeitbild aus der 2. Hälfte d. 18. Jahrb., Berlin 18S5, S. 240, 241 u. Willenbücher, a. a. 0., S. 21. Über die Forderung der Proportionalität zwischen Verbrechen und Strafen in Friedrichs des Großen „Dissertation'* (Oeuvres T. IX, p. 26) s. u. a. Günther, Wiedervgltg. II, S. 176, Anm. 418 (u. die das. Angeführten), v. Liszt, Strafr. Aufs. II, S. 139, Willenbücher, a.a.O. S. 19 u. Anm. 1 u. Berolzheimer, System V, S. 222/23, Anm. 54, wo noch eine Stelle aus Friedrichs Briefwechsel mit Voltaire (Oeuvres T. XXIIl, p. 103) angeführt ist.

172 IX. GCnther

^der Triumph der Freiheit^ bezeicbnet^O von Voltaire als das erste Axiom der Straf rechtspflege^ anerkannt worden ^) und der auch ^die Quintessenz des Beccariaschen Buches^ bildet 3), ist Gemein- gut sämtlicher Aufklärungsschriftsteller geworden. 4) Nun unterliegt es zwar keinem Zweifel^ daß man damit zunächst nur dem alten unzweckmäßigen, harten und grausamen Strafensystem, namentlich der allzu häufigen, aus der Geringschätzung des menschlichen Lebens hervorgegangenen Anwendung der Todesstrafe (selbst für so unbe- deutende Delikte wie z. B. Hausdiebstähle) den Krieg erklären wollte^), und das tritt auch ganz unzweideutig zutage, wenn etwa

1) Montesquieu, Esprit des lois, Livre XU, chap. 4, p. 156: «C'est le triomplc de ia libert^, lorsque les lois crimiDelle» tireut chaque peine de la nature particuli^re du crime. Tout l'arbitraire cesse; la peine ne descend point du caprice du legislateur, mais de la nature de la chose ; et ce n'est point Thomme qui fait violenco ä Fhomme.** S. dazu (sowie auch über die fast wörtliche Aufnahme der Stelle in die Instruktion Katharinas II von Rußland v. 1767 für die Kom- mission zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzbuchs: Gfinther, Wiedervgltg. II, S. 169, 170 u. Anm. 3S7; vgl. auch Rieh. Schmidt, Die Aufgaben der Straf- rechtspflege, Leipzig 1895, S. 248/49. Fast ganz gleichlautend mit Montesquieu auch Marat, Plan etc., p. 133 (s. 6.-S. 61, S 220/21 und Anm. 5); im engen Anschlüsse daran femer Bernardi, Discours (Brissot, Bibl. phiLT. VIII), p. 66 ff.

2) Voltaire, £loge histor. de la raison: „Les petites fantee ne seront point punies comme les grands crimes, parce qu'il fautde la proportion ä tout; . . . ce devrait etre le premier axiome de la justicecriminelle'* (zitiert bei Masmontcil, La legisl. crim, p. 257, 25S). Weitere ähnliche Stellen aus Voltaires Schriften bei Günther, Wiedervgltg. II, S. 174, Anm 406-40S; vgl. Masmonteil, a. a. 0., p. 248/49, 258; Berolzheimer, System V, S. 222 n. Anm. 45.

3) So: Wil lenbücher, a. a. 0. S. 18. Über Beccaria (bes. § 19, S. 120, 121 u. § 23, S. 126 ff. („Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafen**) s. näh. bei Günther, Wiedervgltg. II, S. 183 u. Anm. 450, S. 184 u. Anm. 453; vgl. Maillard, £mde histor., p. 37 ff,

4) Vgl. darüber i. allg. M a 1 b 1 a n k , Gesch. der P. G.-O., §60, S. 268/69, Nr. 7^ Kleinschrod, Syst. Entw., II, § 21, S. 4 und von Neueren Hälschner, Gesch. d. brand.-preuB. Strafr., 8. 171, Hertz, Voltaire, S. 135, Masmonteil, a.a.O., p. 257 ff., Richard Schmidt, Aufgaben, S. 21, 111, 248ff., v. Liszt, Strafr. Aufs, n, S. 379 : („Zu den ständigen Forderungen, die bei allen Schrift- stellern dieser Zeit wiederkehren, gehört die „Proportionalität zwischen Verbrechen und Sti-afen"). Über Einzelheiten s. noch Günther, Wiedervgltg. II, S. 168ff. u. Anm. 381, 8. 188 u. Anm. 475, S. 202 n. 203 ff.. Anm. 538, S. 220/21 u. Anm.-597, S. 242 ff. u. Anm. 666 ff., S. 247 ff.; zu vgl. auch Archiv f. Strafr. 48, S. 22 u. Anm. 118 u. G.-S. 61, S. 210 n. Anm. 3, S. 211 u. Anm. 2; s. auch noch unten S. 174, Anm. 1.

5) S. darüber Hertz, Voltaire, S. 135 u. 430 ff; G ü n t h e r, Wiedervgltg. II, S. 168 u. Anm. 381 S. 183 u. Anm. 452, S. 203 u. Anm. 539; Arch. f. SU-afr. 48, S. 21 u. Anm. 115/16; G.-S. 61, S. 211 u. Anm. 1; v. Liszt, Strafr. Auf 8. II, S. 379; vgl. auch noch Rieh Schmidt, Aufgaben, S. 21.

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 173

Voltaire bemerkt, daß keine Verhältnismäßigkeit bestehe ^zwischen einem Dutzend (gestohlener) Servietten und dem Leben^ eines Men- schen i), wenn Beccaria es tadelt, ^daß die Todesstrafe in gleicher Weise den^ treffe, „der einen Fasan tötet, wie den, der einen Menschen umbringt^ '^), oder wenn Hommel sich dagegen empört, daß man ^das Leben eines Menschen und das eines Windhundes^' gleich achte. ^) Andererseits läßt sich aber wohl nicht verkennen, daß durch dieses, an und für sich doch recht dehnbare Dogma zugleich auch die prin- zipiell verworfene Vergeltungsidee gar leicht sozusagen durch eine Hintertür wieder einschlüpfen konnte ^), zumal ihr auch die fast allei- nige Betonung des äußeren Erfolgs der Tat für die Strafausmessung dabei unterstützend zur Seite stehen mußte. ^) Diesem Verhängnis sind denn auch recht viele Schriftsteller, wenngleich teils mehr un- bewußt, ja teils selbst wider Willen, nicht entgangen.^) So enthält schon die mehr spezialisierte Forderung, daß die Strafe den Trieb- federn (Beweggründen), Neigungen od. Leidenschaften, kurz den

1) Voltaire, Dict philos. Art. „Supplices", aect. 3, T.XIII, p. 32 („quil n'y a nulle proportion entre douce serviettcs et la vie*') ; vgl. Günther, Wiedervgltg. II, S. 168, Anm. 382 ; Rieh. Schmidt, a. a. 0., b. 249. Der Ausspruch nimmt übrigens Bezug auf einen tatsächlich vorgekommenen Fall (Hinrichtung der Antoinette Toutan zu Lyon im Jahre 1772); s Masmonteil, a. a. 0. p. 235 u. 248 u. Anm. 2. Ebd. S. 257 u. 25S sind auch noch ähn- liche AusspriicHo Voltaires angefühlt.

2) Beccaria, 5 23, S. 127; vgl. Günther i. Arch. f. Strafr. 48, S. 26,

3) Hommel, Philos. Ged., § 35, 8. 66 u. Vorrede zur Cbers. Beccarias, S. XVII. Ahnliche Bemerkungen auch bei Zaupser, Gedanken, Abhdg. 2. S. 64, Tomaso Natale (s. Arch. f. Strafr. 48, S. 26) n. Marat, Plan etc. p. 154 (9. G.-S. 61, S. 236/37).

4) Über die Verwandtschaft des Grundsatzes mit der Vergeltungsidee (Talion) 8. von den deutschen Aufklärungsschriftstellem bes. Gmelin, Grunds. I, §21, S. 45u. Kleinschrod, Syst. Entw. U, § 21, S. 52 vbd. mit § 24, S. 57 ff. u. 111, § 16, S. 27, Anm. k. Näh. noch bei Günther, Wiedervgltg. II, S. 168, 169, Anm. 384/85, S. 204. 205 ff, Anm. 541, S. 24.8, 244 u. Anm. 669, III 1, S. 79, Arch. f. Strafr. 48, S. 21 u. Anm. 11 3 ff. u. G.-S. 61, S. 221 u. Anm. 1. Vgl. Merkel, Vergeltungsidee, S. 6 : „Jetzt finden wohl die meisten, daß man sich, so lange man das Verbrechen oder den Geist desselben zum Maßstab der Strafe nimmt, auf dem Grunde des Vergeltungsgedankens bewegt.'' Anderer Meinung dagegen bes. v. Liszt, btrafr. Aufs. II, S. 379/80 ff., nur zum Teil auch Klch Schmidt, Aufgaben der Straf rechtspf lege S. 21 vbd. mit S. 111.- u. Anm. 2, S. 306 n. Anm. 2 (und dazu Günther, Wiedervgltg. III 1. S. 511, Anm. 829).

5) Vgl. Frank, Die Wolffsche Straf rechtsphilos., S. 67;Günther, Wiedervgltg. II, S. 168; s. auch oben S. 154, Anm. 2.

6) S. im allgem. Rieh. Schmidt, Aufgaben, S. 240 u. die näheren Belege in meiner Wiedervgltg. U, S. 16S ff., 169, Anm. 384, 173 ff , 183 ff., 188 ff..

174 IX. Günther

„Urquellen" (v.Dalberg) entgegenwirken müsse ohne Zweifel eine gewisse Hinneigung zum Vergeltungsgedanken, was denn auch bei der (noch näher zu erwähnenden) Anwendung auf die einzelnen Fälle bei den meisten bald mehr, bald weniger deutlich hervortritt. Wenn vollends gar Montesquieu meinte, auch die Todesstrafe für Tötungen fließe aus der Natur dieser Verbrechen^), so darf man das mit ihm selber wohl geradezu als eine „espöce de talion"^ be- zeichnen. ^) Wenigstens erscheint es viel konsequenter, als in einem auf der genauen Wiedervergeltung aufgebauten Strafrechte die Todes- strafe für den Mord nicht zuzulassen, wie dies v. Gl ob ig und

190 ff., 202 ff., 204/5 u. Anm. 541, 207/8 u. Anm. 551 u. 553/4, 227, Anna. 620, 242 ff, 248 ff., 253 ff., 261 ff.

1) Belege auch für diese speziellere, bes. seit Beccaria oft wiederholte Forderung bei Günther, Wicdervgltg. II, b. 168 ff., 1S4, 188/S9, Anm. 476, 203/4 u Anm. 540, 220u.Aum.597, 221, u.Anm.600, 222 u.Anra. 603, 226, Anm. 617, 618 u. besondera S. 242 ff., Anm. 667 u. 668; vgl. auch noch Arch. für Strafr. 48, S. 21 u. G.-S. 61, S. 210, Anm. 2 u. 3, S. 220 u. Anm. 1—3. Über den Zusammenhang dieser Forderung mit der Theorie des sog. psychologischen Zwangs (oben S. 163, Anm. 1) s. m. Wiedervgltg. II, S. 244, Anm. 668. Über Be- denken und Einwände gegen die a 11 g e m e i n e Brauchbarkeit derselben (bes. von W i e 1 a n d , dann auch von Gmelin, Kleinschrod, v. Grolman u. a. m.) s. ebd. S. 245 ff., Anm. 670 ff.; vgl. auch S. 246/47, Anm. 676/77 (über Schall u. Stichler).

2) Dafür auch noch andere Franzosen (so bes. der Verf. der Observations sur Ic traite des delits et des peines, iBibl. phiLT.l] p. 271 ; vgl. Günther, Wiedervgltg. II S. 208y Anm. 555) u. deutsche Aufkiarungsschriftst eller, wie bes. z. B. Zaupser u. v. Soden, dann auch Gmelin u. KIeii*nschrod (s. m. Wiedci-vgltg. II, S. 223, Anm. 606, S. 247, Anm, 678; vgl. auch noch S. 239,40, Anm. 662|, während andere sich dagegen erklärten. S. m. Wiedervgltg. II, S. 209, Anm. 559 (betr. d. Fran- zosen) u. bes. S. 240, Anm. 674—676, (über Viktor Barkhansen [in Plitts Rep., Bd. I, ö. 30 2 ff. u. bes. S. 407 ff.] und dessen Kontroverse mit J. E. F. Schall [Von Verbrechen und fctrafen usw., Leipzig 1779, „Anbang**, S. 97 ff., bes. S. 131 ff.].)

3) Montesquieu, Esprit des lois, Livre XIII., chap 4, p. 158: ,.C*est une espece de talion qui fait que la soci^te refuse la sürete ä un citoyen qui en a prive . . . un autre. Cette peine est tir6e de la nature de la chose. Un citoyeu m^rite la mort, lorsqu'il a viele la surete au point qu'il a ötc la vie . . . Cette peine de mort est comme le remöde de la soci^tä malade*^. Vgl. Günther, Wiedervergltg. II, S. 169, Anm. 385 u. S. 172, Anm. 397—399 (das. auch über die fast wörtliche Aufnahme des Satzes in die Instruktion Katharinas n. v. 1767 1. Über das Verhältnis des Chevalier de Jaucourt (in der Ejizyklopädie) zu M ontesquieus obigem J^atze s. n. bei v. 0 v e r b e c k , a. a. 0. S. 28, 29. Eine ausdrückliche Rechtfertigung der Todesstrafo gerade für Jtf o r d unter Bezugnahme auf die T a 1 i o n s i d e e findet sich ferner bei F i 1 a u g i e r i , System IV (3, 2), Kap. 29, S. 23 ff. (s. G ü n th c r, Wiedervgltg. li, S. 187/88, Anm. 473) u. bei M a r a t, Plan de legisl. er., p. 178/9 (ähnlich wie später bei K an t u.

Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter. 175

Huster getan haben 0? oder auch umgekehrt unter angeblicher Verwerfung der Talionsidee die Todesstrafe doch gerade für den Mord besonders zu befürworten, was uns u. a. bei Gmelin und teilweise auch bei Hommel entgegentritt.^)

Überhaupt sind absolute Gegner der Todesstrafe in dieser Zeit viel seltener anzutreffen, als man gemeinhin wohl annimmt '-% da die

Hegel; 8. G.-S.61, 8.321,322); vgl.auchZaupser, Gedanken, Abhdg 2,S.62ff. (s. m. Wiedervgltg. U, ö. 224 u. Anm. 607); R a t h 1 e f, Vom Geiste, ö. 15, vbd. mit S. 17, 29; Beseke, Versuch, S. 35, 41, 92 unter Nr. 15, 101 (u. dazu Böhmer, Handb., S. 289 u. Günther, Wiedervgltg. II, Ö. 240/41, Anm. 663.)

1) Vgl. Abhandlung, ö. 57, Vier Zugaben, b>. bOff. u. dazu Günther, Wiedervgltg. II, S. 257 ff. n. Anm. 720. SSchon die Zeitgenossen haben hierin eine Inkonsequenz erblickt (s. G m e 1 i n, Grunds. ; § 37, S. 82, Anm. b ; Grabe, Über d. Reformation, § 40, S. 76.); jedoch haben die Verfasser der Preisschrift auf andere Weise die Talionsidee zu retten versucht (wie z. B. durch Verurteilung von Giftmischern zu Arbeiten in Giftbergwerken ; s. Abhdg. b. 188, Anm. * u- dazu Günther, Wiedervgltg.il, S. 258, Anm.720; vgl. auch schon oben, S. 161, Anm. 1, c.

2) CberGm elin(Grundsätze) bes. §37, S.82ff. u. § 40ff., S.86ff.) s. G ü n t h e r, Wiedervgltg. II, ö. 247, Anm. 678 a. £.; über Homraol (Übers, von Beccaria, Vorrede, S. XXIff., Philos. Ged., §. 50, 8. 99, § 51, 5S. 102, § 54, b. 107 bis HO u. § 58, S. 118) s. Glaser, Übers., Vorwort, S. 15; vgl. auch G ü n t h e r,, Wiedervgltg. II, S, 240, Anm. 662. Auch R ö s s i g („Vorerinnerung" zu H o m m e 1 s Phil. God., S. XXXIV, Ziff. 1, XXXV ff.), G r a e b e , (Über die Refor- mation, § 22, S. 38 vbd. mit § 30, S. 56, 57) und viele andere Schriftsteller (S. die Zusammenstellung in m. Wiedervergeltung II, ^. 239/40, Anm. 662) sind in dieser Beziehung mehr oder weniger inkonsequent gewesen.

3) Auf eine Aufzahlung sämtlicher Gegner und Anhänger der Todesstrafe in der Aufklärungszeit, deren scharfe Sonderung aus dem im Text genannten Grunde Schwierigkeiten bereitet, muß hier verzichtet werden. Die wichtigsten Namen finden sich schon bei Bergk, Übers, v. Beccaria, Bd. II, S. 65—183 («Meinungen über die Todesstrafe'' und dazu ebendas. S. 183— 268: „Kritik*" dieser Meinungen); vgl. femer auch die Angaben bei Graobe, Über die Reformation, § 23, b. 40ff., § 25, S. 46ff., Gmelin, Grunds., § 36, Ö. 76—84, Klein- echrod, Syst. Entw. III, § 4, S. 15, Anm. 1, sowie bei Böhmer, Handb. d. Lit d. Krim-R., § 107 ff., S. 672 ff. 108, S. 674 ff.: Verteidiger der Todes; strafe, § 109, S. 680 ff.: Gegner der Todesstrafe) ; dazu ans neuei-erZeit: Goib,Lehrb. I, S. 337; Hetzel, Die Todesstrafe in ihrer kultnrgeschichtl. Entwicklung, Berlin 1870, S. 148—194 vbd. mit S. 490— 495; Max Koch, Helferich Peter Stura, München 1879, 8. 210—13 (über den literarischen Streit im „Deutschen Museum'*, 1776 78 zwischen Barkhausen, Runde, Moser u. H. P. Sturz); v. Liszt, Lehrb., $ 60, S. 254 u. Anm. 2; vgl. auch Günther, Wiedervgltg. II an den den verschiedensten Stellen, bes. aber S. 182, Anm. 448, S. 187/88, Anm. '473, S. 201, Anm. 53:i, S. 208, Anm. 558, S. 209 u. Anm. 559, S. 225, 239ff. u. Anm. 662 und S. 245 ff. u. Anm. 671 ff.; femer Arch. f. Strafr. 48, S. 27 ff. u. G.-S. 61, S. 217 u. Anm. 1, 5, S. 218, Anm. 1, 5 u. 6. Während in der Aufklärungs- zeit die Untersuchungen über die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Todes-

176 IX. üfXTHER

meisten dem Staate doch wenigstens gegen ganz besonders gefähr- liche oder gemeinschädliche Verbrecher (wie etwa Meuchelmörder Mordbrenner, Verschwörer, Hochverräter usw.) noch die häufig ans dem Gesichtspunkt eines Not- oder Verteidigungsrechts betrachtete Befugnis zur Aberkennung des Lebens („Ausrottung") einräumen. ^) Als verfehlt müssen sodann die Versuche bezeichnet werden, die Unrechtmäßigkeit der Todesstrafe rechtsphilosophisch zu begründen, was namentlich auch von der unlogischen Ableitung der- selben aus dem Gesellschaftsvertrage bei Beccaria gilt-)

strafe im Vordergrunde des Interesse standen, gehört diese, seitdem ,,von alleo Seiten bereits bis zum Überdruß erörterte Frage'^ (v. Liszi, Straf r. Aufs. H, 8. 394) heute nicht mehr zu den „brennendsten** (s. Köhler, Reformfragen. S. 20), namentlich bei uns in Deutschland, wo sie wegen der Seltenheit der Todesurteile bezw. deren tatsächlicher Vollstreckung keine große praktische Bedeutung hat (s. v. Liszt, Aufs. II, S. 395u. Lehrb., S. 254, Anm. 1), während über ihre ^Kechtsmäßigkeit*' in der Theorie jetzt kaum noch Zweifel bestehen (s. Mittcrmaier in der Deutsch. Jur.-Ztg. v. 15. Dez. 1903, [Jahrg. Vlll. Nr. 24], S. 554, Sp. 2i. Viele halten ihre gänzliche Abschaffung (die u. a. auch auf dem Programm der Sozialdemokratie steht vgl. darüber D o c h o w in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 27 [1907 1, S. 116, Nr. 5), nur noch für eine Frage der Zeit (s. bes. Seuffert, Ein neues Strafgesetzbuch, S. 56, 57; \g\. auch Groß, der i. s. Arch. für Krim.-Anthrop. 26 (1906), S. 73 die Todesstrafe für ,. psychologisch un- möglich*^ bezeichnete), während andere sie, bes. aus politischen Gründen, zunächst in gewissem Umfange noch beibehalten wollen, so z. B. v. L i s z t, btrafr. Aufs. I, S. 1S3, 262 (u. dazu Lohsing in Gross' Archiv 24, S. 163); vgl. auch Köhler, a. a. 0., S. 20; B orolzh ei mer, System V, 8.231, 242; Bin ding, Grundriß, AlIg.Teil, 7. Aufl., Vorrede, S. XVII; Kahl, Das neue Strafgesetzbuch, Vortrag (Neue Zeit- u. Streitfragen, herausgeg. v. d. Gehe- Stiftung, Jahrg. IV, Heft. 6), Leipzig 1907, S. 19; v. Hippel, Strafrechts- reform u. Strafzwecke, Rede, Göttingen 1907, S 10 (mit ausdrückl. Hinweis auf das ^Vergeltungsbedürfnis").

1) So selbst Beccaria, § 16, S. 107 (und dazu Hertz, Voltaire S. 30S) und Voltaire, Prix de la justice, Art. 111. (Bibl. phil. T. V. p. 20 und dazu Günther, Wiedcrvergltg. II. S. 175 u. Anm. 412, 413 u. Masmonteil, La legisl. er, p. 247i; s. ferner Tom aso Natalc (vgl. Günther im Arch. f. Strafr. 48, S. 31); Servin. Über die peinl.Gosbzg.,S. 155; v. Gl olb ig u. Hu st er, Abhandig., S. 16S;Hommel, Phil. Gcd. § 51, S. 102; Plitt i s. Rcp. I, Vorrede, S. 12/13; Kleinschrod, Syst. Entwickl. IIL, § 6, S. 10, § 7, S. 20. Cbcr H. P. Sturz (der mit B e c c a r i a über- einstimmt) s. M. Koch, a. a. 0. S. 211. Vgl. auch noch Günther, Wieder- vergltg., II, S. ISS, Anm. 473 a. E. (über Filangieri), S. 208. Anm. 558 (über de Mablv u. andere Franzosen), z. Teil auch noch S. 239 u. 240, Anm. 662 sowie die schon oben S. 161, Anm .1 angeführten Stellen betr. die Unschädlich- machung („Ausrottung") gefährlicher Verbrecher durch die Todesstrafe.

2) S. B cccaria, § 16, S. 105 ff., dem sich zahlreiche Schriftsteller angeschlossen, von Deutschen z. B. bes. nachdrücklich v. Red er, Das peinliche Recht I. Kap. X, § 9 ff., S. 172 ff. Dagegen mit Recht aber schon von den Zeitgenossen : Diderot

Die Straf rechtsrefonn im Anfklärungszeitalter. 177

Dagegen darf man den von den meisten seit Voltaire voran- gestellten sog. Nützlichkeitsgründen 0 gegen die Todesstrafe im ganzen auch hente noch überzeugende Kraft beimessen.^) Es sind hauptsächlich 3) die allbekannten Einwände, daß die Todesstrafe den Besserungszweck ausschließe,^) den Abschreckungszweck nur mangelhaft erfülle ^) da ja selbst unter dem Galgen, an dem man

i. 8. Noten zu Beccaria (Oeuvres compl. T. IV., p. 67 (vgLEsselborn , a. a. 0. S. 106, Anm.**); Tomaso Natale (s. Günther i. Arch. f. Strafr. 48, S. 29ff. u. Anm. 139.); Zaupscr, Gedanken, Abhdlg. 2,8. 60; Klein, Fragmente, S.36ff.; über Ka^ 8. Esselborn, a. a. 0. S. 106/07, Anm. ♦♦*; von Neueren s. u. a. Glaser, Cbersetzg, Vorw., 8.10—12,14; v. Bar, Handbuch I, S. 234; Hertz, Voltaire, S. 307/S; Maillard, £t. bist, p. 35 ff.; vgl auch noch die Angaben bei Günther, Wiedervergltg. H, S. 182/83, Anm. 448. Über die größere Konsequenz in dieser Beziehung bei Rousseau, der gerade von seinem Gesellschaftsvortrag aus zur Anerkennung der Todesstrafe gelangte (wogegen freilich ausführlich : V e z i n, Das peinliche Halerecht, S. 146 ff. (Anm. 13]), s. Glaser, a.a.O. S. 11 ; Hertz, a.a.O. S.309; Günther, Wiedervergeltung II, S. 183, Anm. 449 a. E. u. Arch. f. Strafr. 48, S. 30, Anm. 140 «mit weiteren Angaben); v. Overbeck, a. a. 0., S. 117 n. Anm. 4; desgl. bei Tomaso Natale, s. Günther i. Arch. f. Strafr. 48, S. 129 u. 130 u. Anm. 139ff.), bei Filangieri (System, Kap. 29, S.23ff.l s. Günther, Wiedervergeltg. II, «. 188, Anm. 473; vgl. Pessina, 11 diritto penale in Italia etc., p. 19, 20. Über Diderot s. v. Overbeck, a. a. 0. S. 27 u. Anm. 3.

1) S. hierzu näheres bes. bei H etzel, Die Todesstrafe usw., S. 153—166; vgl. auch Hertz, Voltaire, Ö. 428ff.; Günther, Wiedervergltg. II, S. 175 u. Anm. 411; Masmonteil, La l^gisl. er., p. 244ff.

2) S. etwa Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 17. Aufl., Leipzig 1896, S. 190ff.; H. Meyer- Allfeld, Lehrb.,§ 48, S. 28lff.; vgl. auch Mittermaier i. d. Deutsch. Jur.-Ztg. vom 15, Dezbr. 1903, ö. 554.

3) Der namentlich für die Verurteilung von Unschuldigen bedeutsame Hin- weis darauf, daß die Todesstrafe „nicht wieder gut zu machen ist'', erscheint in der Aufklärungsliteratur im ganzen seltener. Auch Beccaria hat in seiner Schrift von Verbrechen und Strafen (§16) diesen Grund nicht erwähnt, dagegen findet er sich in dem von ihm (mit Scott! u. Risi) ausgearbeiteten Gutachten über die Todesstrafe vom Jahre 1792. S. Esselborn, Obers., Anhang 2, S, 196 ff. Hommel, Philos. Gedanken, § 52, S. 103 macht u. a. noch eine Art ästhetischen Bedenkens gegen die Todesstrafe geltend, daß es nämlich ^der äußerlichen Schönheit des Landes und der Städte entgegen'* sei, „Galgen und Rad an öffentlichen Plätzen auszustellen''. Vgl. auch Obers, von Beccaria, 8. 134, Anm. a;

4) Vgl. bes. Gmeltn, Grunds, $37, S.82; Kleinschrod, Syst Entw. III, §4, S. 16; s. auch Marat, Plan, etc., p. 132 (G.-S. 61, S.217 u. Anm. 4), mehr indirekt: v. Eberstein, Entw., Einltg., $ 11, 8. 5. Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 95 ff. gelangte umgekehrt aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit der Todesstrafe zu einer grundsätzlichen Verwerfung des Bessemngszweckes bei den eigentlichen Kriminalstrafen (im Gegensatze zu bloßen „Züchtigungen".)

5) S. darüber bes. Beccaria, § 16, S. 109, Tomaso Natale (Archiv f. Stinfr. 48, S. 28,29 u. Anm. 138), Marat, Plan etc., p. 130/31 (s. G.-S. 61, S. 215, 217 u. Anm. 2), Servin, Über die peinl. Gesetzgebung, S. 63 66 u. andere Franzosen

Arohiv fftr Kriminalanthropoloffie. 28. Bd. 12

17S IX. GÜNTHER

Diebe erhängte, die Zuschauer schon bestohlen worden seien , 0 und daß endlich auch die Unschädlichmachung gefährlicher Verbrecher noch auf andere, und zwar dem Gemeinwesen vor- teilhaftere Weise erreicht werden könne, so besonders durch lebenslängliche Freiheitsberaubung verbunden mit nützlichen Ar- beiten.'') Dieser Hinweis auf den Nutzen des Staates ist neben der zunehmenden Humanität auch für die damals fast allgemein geforderte Abschaffung der sog. verstümmelnden Körperstrafen

(9. G ä n t h e r, Wieder Vergeltung II, S. 209 u. Anm. 559) ; f omer v. Globigu. Haster, Abhdig.. S. 6S, 69; Hommel, Phil. Gcd., §50, S. 99, 100, § 52, S. tOSff.; Vezin, Das peinliche Halsrccht, b. lu6ff. (Anm. 12); Kl ein sehr od, Syst Entw. III. § 4., S. 16, § S, S. 22.

1) Diesen Umstand erwähnen ausdrücklich: v. Sonnenfcis, Grunds. L § 375, S. 462, Zaupser, Gedanken, Abhdig. 2, S. 65 u. Hommel, Obers, von Beccacaria, S. 125, Anm. v.; vgl. auch Marat, Plan, p. 130 (s. G.-S. 61, S. 215j; dagegen aber Claproth £ntw., Vorrede, S. VllI und Gmelin, Grunds., § 42, S. 91 (wenig übeizeugend); aus der Neuzeit s. Berolzheimcr, S^'stem, Bd. V, S. 16.

2) Im allgem. s. Kleinschrod, System. Entw. III, § 5, S. 17: ^ Darin werden alle übereinkommen, daß es so lange ungerecht ist, einen Menschen zu töten, als man durch gelindere Mittel ihn ganz unschädlich machen kann". Für Empfehlung nützlicher Arbeiten auf Lebenszeit an Stelle der Todesstrafe bes. (außer Beccaria, § 16, S. 109ff ) noch: Voltaire (s. z. B. Commentairc. § 10 u. 18 [Bibi. phil. T. I, p. 229 ff. u. 251], Prix de la justice, Art III [Bibl. phil.T. V, p. 17, 20] u Art. VIII [p. 26] ; vgl. auch Dict. philos., Art „Supplices", sect l T. XI II. p. 221 ff: s. näheres noch bei M asm on teil, La legisl. crim., p. 224 247, 249, 250; vgl. Günther, Wicdervergltg. II, S. 175, Anna. 411), Fr. P. di Blasi. Sulla legislazione led. Guardione, § 10, p. 40), Sorvin, Über die peinl. Gesetz-. gebung, S. 64, 66ff., Brissot de Warville, Discours (Bibl. phil. T. VI), p. 12> Theorie I, p. 147 ff. und andere Franzosen (s. Brissot, Bibl. phil. T. \\ , p. 73 [Philipon de la Madeleine], T. V. p. 3ü0 iM. le F.]; vgl. Günther Wiedorvergltg. II, S. 209, Anm. 559), v. Sonnen fei s (».Günther, Wiedervgltg. II, S. 225, Anm. 612), Zaupser, Gedanken, Abh. 2., S. 72, v. Reder, Das peinliche Recht I, Kap. X, § 53, S. 227 ff., § 62 S. 241 ff. u. § 71, S. 259 u. a. ni. Ausdrücklich dagegen aber: Bernardi, Discours (Bibl. phil. T. Villi, p. 70ff. im Anschluß an de Mably. Durch die möglichst abschreckende Ausgestaltung der statt der Todesstrafe einzuführenden lebenslänglichen Freiheits- strafe („Knechtschaft") sind übrigens manche Schriftseller, wie u. a. Beccaria, (§16,S. llOff.), diBlasi, Voltaire (s. Mas mon teil a. a. 0. p. 247/48), Serv in, Phil, de la Madeleine (a. a. 0. p. 71/72) dahin gelangt, daß dieses Ersatzmittel, eigentlich noch grausamer erscheint als die Todesstrafe selbst S. dagegen schon Diderot in s. Noten zu Beccaria, Oeuvres compl. T. IV. p. 67; femer die Obsei-^ vatious sur le trait6 des d^lits et des peines (bei Brissot, Bibl. phil. T. I), p. 300; de la Cretelle, Vues (Bibl. phil. T. VI II), p. 344; Schott, Observat de delict. et poenis (bei Schall, a. a. 0., S. 57, Nr. 7); vgl. i. allg. auch v. Liszt, Strafr Aufs. I, S. 262.

Die Straf rechtsreform im Aufklärangszeitalter. 179

ausschlaggebeDd gewesen: sie sind dem Gemeinwesen schädlich, weil der Verstümmelte in der Regel für nützliche Arbeiten unbraach- bar wird und daher dem Staat als Bettler zur Last fallen muß. ^) Weniger skrupulös dachte man dagegen damals noch über die (bloß Schmerz erregenden) körperlichen Züchtigungen, ja ihre Anwen- dung wird, sowohl für sich allein, als auch in Verbindung mit Frei- heitsstrafen,yon manchen ausdrücklich „für sehr nützlich^ (Graebe), auch „dem Endzweck der Strafe . . . angemessen'' (Gmelin) erklärt ^)

1) S. i.allgem. Malblank, Gesch. d. P. G.-O., § 60, S. 269, Xr.8; Günther, Wicdervergeltung II, S. 236, Anm. 653 a. E. Im einzeln, s. bes. etwa : Filangieri, System IV i3, 2», Kap. 48, S. 529, Anm. ♦♦; Brissot de Warville, Discours (Bibl. phil. T. VI), p. 133, Theorie 1, p. 157ff., („une atrocitä politiqu^**); Zaupser, Gedanken, Abh. 2, S. 40; Püttmann, Elcm. jur. er., Praef., p. IIl vbd. mit L. I, c. II, § 71, p. 33; Hommel, Phil. Ged., S. 20; Rossig, „Vorerinnening'' dazu, S. XXV Nr. 6; v. Soden, Geist I, § 62, 8.99; Wieland, Geist I, § 318, S.429, 431 ff; y. Reder, Das peinl. Recht I, Kap. IX, § 14, 8. 151 u. Kap. XI, § 12, S. 308; Graebe, Über die Reformation, § 31, S. 58; Gmelin, Grunds., § 35. S. T5ff. u. Anm.y; Kleinschrod, System Entw. I, §35, S. 84, Nr. 2, III, § 15, S. 84ff; V. Grolmann. Grunds., § 114, S. 53 (auch als iMittel der Unschädlichmachung [s. oben S. 161, Anm. 1] sind verstümmelnde Strafen zu verwerfen). Dafür aber noch (in einzelnen verschiedenen Fällen): Claproth in s. Entw. (als Schärf img der Todesstrafe für Gotteslästerung; s. näheres bei Günther, Wiedervergltg. II, 8. 217 u. Anm. 585; Rathlef, Vom Geiste, S. 63 u. Anhang I: Der Kindes- mord usw., S. 159 (üandabhauen vor der Todesstrafe); Tom aso Natal e, Rifl. pol., p. 45 (als Ersatz der Todesstrafe in schwereren Fällen; vgl. Arch. f. ^trafr. 48, S. 32 u. Anm. 154»; Marat, Plan., p. 179 (vgl. Wiedervergltg. II, S. 202, Anm. 537 u. G.-S. 61, S. 326) ; M. le F., Plan, de legisl. etc. (Bibl. phil. T. V ) p. 391 ; S er vi n Über d. peinl. Gesetzgbg., S. S7ff., 177, 221ff., 260, 293ff. Auch v. Globig u. Huster, Abhdg., S. 73, 196, die im allgem. Gegner der Verstümmelungen sind, wollten sie doch „im Falle der Wiedervergoltung'^ zulassen, was sie jedoch in den „Vier Zugaben"^, S. 93 ff. unter näheren Motivierung wieder aufgegeben haben. Vgl. näh. dazu bei Günther, Wiedervergltg. II, S. 258—260 u. Anm. 724, 725. Naeh Beseke, Versuch, S. 90, 91 sollte mit der „ewigen Zuchthausstrafe*' immer „Abschneidung der beiden Ohrzipfel" verbunden sein, damit „der hierzu verdammte Bösewicht kenntlich sei und nie entfliehen könne, ohne in die Hände der Richter zu fallen.'^

2) S. Graebe, Über die Reformation, § 31, S. 58; v. Red er, Das peinliche Recht I, Kap XII, §5,6, S. 319; Gmelin, Grunds.. §34, S. 73, 74; vgl. auch V. Globig u. Huster, Abhdlg., 8.74: Kleinschrod, Syst Entw. I, §32, 8.78, Nr. 2 („mehrere Anwendung der Leibesstrafe"). Über die Vorzüge der Prügel- strafe, wie bes. ihre Abstufungsfähigkeit, s. auch 8 er v in, Über die peinliche Gesetzgebung, S. 82 ; im allg. über das Für und Wider derselben: Klein* sehr od, Syst Entw. III, § 16, 17, 8. 36 ff. Einen sehr ausgiebigen Gebrauch von ihr (bes. auch in der Form des sog. „Willkomms^ und „Abschieds" bei der Zuchthausstrafe) hat auch Klein, Fragmente (s. bes. 8. 61 ff., 66fL, 70ff.) empfohlen (wogegen mit Recht Böhmer, Handb., S. 263; vgl. auch S. 713.) Für

12*

180 IX. Günther

was in einer Zeit, wo ja anch in den Schulen und beim Militär noch fleißig geprügelt wurde, nicht eben sonderlich Wunder nehmen kann. Als der Natur der Verbrechen besonders entsprechend hielt man die Prügelstrafe vielfach bei Sittlichkeitsdelikten wegen der in dieser Allgemeinheit jedenfalls nicht ganz einwandfreien -— An- nahme, daß ^der Wollust nichts mehr entgegenstehe als körperlicher Schmerz^ i), femer aber auch wohl bei Zufügnng von Verletzungen und sonstigen Akten roher Gewalt^) (in letzterer Beziehung in Über- einstimmung mit manchen Neueren), wobei sich dann die oben er- wähnte Annäherung an die Idee der Talion in recht bedenklichem Gewände zeigt *^) Für die äußerlich wahrnehmbaren, beschimpfen- den Ehrenstrafen, in deren möglichst drastischer Ausgestaltung sich der Volkshumor früherer Zeiten so gern gefallen, schwärmte man

^ Willkomm*^ und „Abschied" bei der Zuchthausstrafe anch Quistorp, Entw., § 57, S. 6S u. V. Ebe rstein, Entw., § 12, S. 6; für obligatorische Verbindung von körperlicher Züchtigung mit Gefängnisstrafe: Wieland, Geist I, §320, S. 43\ Der Vorschlag der Vollstreckung der Prügelstrafe mittels einer Maschine findet sich schon bei v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 97; vgl. Geib, Lehrb.' II, S. 408. Zu den, in dieser Zeit noch ziemlich seltenen, völligen Gegnern der Prügelstrafe darf wohl schon Zaupser gerechnet werden; s. dessen Gedanken, Abhdlg. 2, S. 40.

1) So Kleinschrod, Syst. Entw. II, §23, S. 56, Nr. 6. Übereinstimmend einige französische Aufklärer, wie S ervin (Über d. peinliche Gesetzgbg., S. *»2 vbd. mit S. 195 u S. 248/49), und viele Deutsche aus der Zeit nach 1777. S. d. Belege in mr. Wiedcrvergltg.il, h>. 252 u. Anm. 694; ausdrücklich dagegen aber v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 315, Anm.* u. S. 318 Noch weiter ging Klein, Fragmente, S. 63 (Prügelstrafe für alle diejenigen Verbrechen, „welche ein träges, sinnliches und blos dem gegenwärtigen Eindrucke nachgebendem Gemüt voraussetzen"). Ahnlich auch Kleinschrod, Syst Entw., Bd. III, §16. S. 36.

2) Soz. B. bes. die Franzosen Bri SS ot deWarville (Theorie II, p. 31, 32ff.» u. S e r V i n. (Über die peinl. Gesetzgbg., S. 204 u. 369 ; vgl. Günther, Wieder>'ergltg. II, S. 206/7 u. Anm. 550/51). Über Beccaria, § 27, S. 134ff. s. m. Wiedervergltg II. S. 185, Anm. 459. Vergl. auch Graebe, Über die Reformation, §43, S. 80; v. Dalberg, Entw., S. 141 („öffentliche Schläge" für Verbrechen, die mit „besonderer Grausamkeit^' begangen) u. S. 159, Nr. 2 (für Verwundungen bes. aus Bosheit): V. Ebe rstein, Entw., S. 176, 177 (für boshafte Verletzungen, jedoch neben anderen b trafen) : ursprünglich dafür auch Kleinschrod, der jedoch später seine Ansicht ge- ändert (s. Günther, Wiedervergltg. II, S. 251/52 u. Anm. 693). Auch v. Globigu. Hu st er, die (Abhdlg., S. 89, Nr. 2) gleichfalls gemeint, daß „körperliche Strafen eigentlich nur für gewaltsame Taten folgen*^ sollten, sind darin nicht kon- sequent geblieben. Vgl. Günther, Wiedervergltg. II, S. 262.

3) S. darüber Abegg i. G.-S. 15 (1863), S. 122 und Günther, Wieder- vergltg. II, S. 207, Anm. 553 u. S. 251, 252, Anm. 693. Die zahlreichen Schrift- steller, die neuerdings die Prügelstrafe für sog. „Rohheitsdelikte'^, bes. der heran-

Die Straf rechtsreform im Aufkiärungszeitalter. 181

dagegen weniger mehri); mit der hin und wieder nebst der öffent- lichen Äusstellnng am Pranger^) noch empfohlenen Brand- markung^) verfolgte man zugleich den praktischen Nebenzweck

wachsenden Jugend, befürwortet haben (so jetzt z.B. auch B er olzeim er, System y., S.25$), sollten doch diesen Zusammenhang nicht aus den Augen lassen. Bichtig darüber Heinr. Krauße, Die Prügelstrafe, eine kriminalpolitische Studie, Berl. 1899, S. 118.

1) S. darüber bes. Kleinschrod, Syst Entw. III, § 75, S. 147: „.' . . in einem hohen Grade sind alle Strafen zu mißbilligen, welche den Ver- brecher dem Hohn des Pöbels und dessen Neckereien preisgeben '^ ; vgl. auch V. Sonnenfels, Grunds. I, § 293, 8. 369 ff. A. M. dagegen allerdings noch Rathlef, Vom Geiste, S. 67 (für „spanischen Mantel, Fiddel, Eselreiten u. dergl.*' als Injurienstrafen); ebenso v. Gl ob ig u. Huster, Abhdlg., S. 240, 244 (für ge- wisse n Beleidigungen der Sitten'^ Schandstrafen, „welche lächerlich machen* S wie z. B. Tragen eines gelben Huts oder einer „Eselsmütze** (für Hurenwirte) u. dergl.); vergl. auch v. Eber stein. Entw., § 12, 8. 6 („Auspeitschen auf einem Esel**) u. Teil II, Hauptst. 2, Abschn. 1, $ 2S£f., S. 106 ff. (für Eselreiten, Ausstellung mit einem „Strohkranz" u. dergl. für gewisse Sittlichkeitsdelikte), v. Reder, Das peinliche Hecht I, Kap. XV, § S, S. 338 versprach sich besonders von der (für eine Reihe von Delikten als Nebenstrafe empfohlenen) Anwendung des «Trillhauses** „noch gute Wirkung*^, desgl. in einzelnen Fällen auch von anderen öffentlichen 8chandstrafen (s. I, Kap. XV, § 16, S. 343.) Über die Bekämpfung der (bes. für gewisse Sittiichkeitsdelikte gebräuchlich gewesenen) sog. Kirchenbuße s. näheres noch weiter unten.

2) Für den Pranger („H^s^isen'*) und andere Formen der öffentlichen Aus- stellung (ev. mit Anhängung von Tafeln, die das begangene Verbrechen ver» kündeten) sind noch die meisten deutschen Auf klärungsschriftsteller eingetreten, u. a. auch für ihre Verwendung als zweckmäßige „Vorbereitungen** anderer Strafen, „weil die Publizität derselben dadurch ungemein befördert^ werde. So: Kleinschrod, Syst. Entwickig. III, § 80, S. 157 ff. Ein sehr reichlicher Gebrauch solcher Strafarten findet sich in den Strafgesetzentwürfen dieser Zeit, ganz besonders in dem von v. Eberstein (s. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 236, 237, Anm. 654). Ausdrücklich dagegen aber schon Zaupser, Ge- danken, Abh. 2, S. 40; Bedenken auch bei v. Sonnenfels, Grunds. I, § 293, S. 370. Die Errichtung einer Schandsäale (für die Nachwelt) ist u. a. bes. von Bescke, Versuch (s. z.B. S. 91 u. an anderen Stellen) für bes. schwere Delikte em- pfohlen worden, in beschränkterem Umfange auch von v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, 8. 141/42; vergl. femer noch Qnistorp, Entw. I, § 52, 8. 61 und Pflaum, Entw. I, § 43, S. 39; dagegen aber v. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. XV, § 12, 8. 340.

3) Auch die Brandmarkung ist (wenigstens für gewisse, jedoch im einzelnen recht verschieden bestimmte Delikte), s. noch von einer ziemlichen Anzahl der Auf- klärungsschriftsteiler befürwortet worden, so u. a. von Fr. P. die Blasi, Sulla legisl. etc., § 10, ed. Guardionc, p. 39 (für Diebstahl), Marat, Plan etc., p. 175 (für Prävarikation; s. G.-8. 61, S. 250), Servin. Über die pcinl. Gesetzgbg., 8. 177, 221, 260, 293, 294 (für Abtreibung, Gotteslästerung, Kuppelei, Meineid, Ver- fälschungen), Claproth. Entw. I, Buch 2, Abschn. 4, Hauptst 1, § 2, 8.279 (für Diebstahl im Rückfalle), Rathlef, Kindermord, 8.152 (für Verheimlichung

182 IX. Günther

der event. Wiedererkennung flüchtiger oder rückfälliger Verbrecher *j, wofür sich die Kriminalpolizei der Gegenwart weniger barbarischer Mittel (anthropomethsches Signalement^ Strafregister nsw.) bedient. Die sog. Infamie oder völlige Ehrlosigkeit hielt man durchweg schon für zu hart '^) und nur allenfalls noch da für zulässig (oder geboten), wo sie als Zugabe zur Todesstrafe oder lebenslänglicher Freiheits-

deF Schwaogerschaft nach außerchd. Beischlafet, v. Eber st ein, £nti;^\, § 12. 8. 6 u. aD einzelnen Stollen des bes. Teils, z. B. S. 177. Noch allgemeinere Empfehlung (nämlich für alle zur lebensl. Strafarbeit Verurteilten behuf^i Wiederkennung bei etwaiger Flucht) beiBrissot de W arvi 11 e, Discours (Bibl. phil. T. VI), p. 131 u. Theorie I, p. 150ff. (vergl. Günther, Wieder^-erglig. II, S. 202, Anm. 537). Ahnlich auch : Observations sur le trait^ des d^llts et des peines bei Brissot, Bibl. phil. T. I, p. 296, 300, 301; Phiiipon de la Madeloine, Discours sur la nöccssitß de supprimer les peines capltales, ebend. T. IV., p. 71, 72; M. le. F., Plan de l^gisl. de mati^res criminelles, ebd. T. V., p. 302,3; Bernardi, Discours., ebd. T. VIII,, p. 76; v. Soden, Geist I, §63, S. 101/2 (zur Wiederkcnnung der zum ^ewigen Gefängnis'* verurteilten Verbrecher); vgl. auch Tomaso Natale. Rifl. pol., p. 45 (als Ersatz der Todesstrafe in leichteren Fällen (näh. s. Arch. f. Strafr. 48, S. 32, Anm. 154 ff.); Rathlef, Vom Geiste, S. 25 (zur Bezeichnung gefährlicher rückfälliger Verbrecher); v. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. X, § 71. S. 260 (im allgem. ebenso, außerdem auch bei den verschie- densten einzelnen Delikten neben der „ewigen Zuchthausstrafe'^ oder lebensläng- lichen „Knechtschaft" erwähnt) ; s.auch noch Wieland, Gcistl,§ 319,8.431,32 (gegen Brandmarkung als „eigentliche Strafe'S jedoch noch dafür, sofern sie nur als Mittel zur Kenntlichmachung von bestraften Verbrechern dienen soll.) Dagegen über- haupt aberu.a. (vgl. Böhmer, Handb., S. 712zuNr.2585tLinguet]): Filangieri, System. IV. (3, 2), Kap. 48, S. 53l.ff, 533 vbd. mit Kap. 40, S. 307 ff . {gegen Bd. II, Kap. 25, S. 348, wo er für ,»betrügerisches Falliment" die Strafe noch empfohlen hatte); Zaupser, Gedanken, Abh. 2, S. 40; Püttmann, Elem. jur. crim., § 73, p. 34; v. Globig u. Huster, VierZugaben, S. 142; Kleinschrod. Syst Entw. II § 35, S. 84, Nr. 2; v Grolmnan, Grands. (l.Aufl.), §115, S..54. l) Vgl. darüber die in der vor. Anm. angeführten Stellen aus Brissotde War- villc, Tomaso Natale, Rathlef, v. Soden undWicland und im allg. noch Makarewicz, Einltg. in die Philosophie des Strafrechts auf ontwicklungsgesch. Grandlagc, Stuttg. 1906, S. 229; v. Liszt, Strafr. Ausfs. II., S. 240 (vergl. oben S. 161, Anm. 1).

2) S. bes. v. Dalberg, Entw. S. 142: „Die Worte: Infamie undEnt- c h r u n g müssen ... in Zukunft von den Kriminalgesetzen und der peinlichen Gerichtsbarkeit ganz ausgeschlossen sein"; vergl. auch Versuch einer gesetzgebenden Klugheit usw. (Allg. deutsch. Bibl., Bd. 39, S. 405): „Man hebe alle Infamie auf; s. ferner v. S o n n o n f e 1 s , Grunds., § 360, S. 445 ; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 119, 120: Kleinschrod, System. Entwickig. II, § 35, S. 85 u. III, § 74, S. 144 u. § 75, S. 145 ff. (dagegen als eine ^grausame" u. „unzweckmässige" Strafe); v. Grolmann, Grands., §119, S. 56. Daß von dieser Strafe höchstens nur ein sehr vorsichtiger und seltener Gebrauch gemacht werden dürfe, betonen auch : B e c c a r i a, § 18, S. 1 77 ff., S e r v i n , Über die peinl. Gesctzgbg., S. SSff.; Puttmann, Elem. jur. crim., §26, p. 35;

Die Strafrechtsrefonn im Aufklärungszeitalter. 183

entziehang erkannt wurde. ^) Überhaupt sollten Ebrenstrafen nicht zu häufig verhängt werden, weil sonst leicht auch ^der edle National- stolz eines Volkes sowie die Achtung bei Auswärtigen^^ leiden könnte.^) Im ),Geiste der Verbrechend^ liegen sollten sie nach ziemlich allge- meiner Ansicht vor allem bei Delikten aus ehrloser (oder ,,nieder- trächtiger^O Gesinnung, wie sie in der Regel z. B. bei dem Meineid oder der Verleumdung anzunehmen ist^), sodann aber auch wohl was uns heute befremdlicher erscheint bei strafbaren Handlungen aus ijbertriebenem Ehrgeiz oder falschem Ehrgefühl (,,Point d'honneur'V) wofür besonders der Zweikampf als typisches Beispiel angeführt zu werden pflegt. ^) Ziemlich modern erscheint zum Teil bereits die

y. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. XIV, § 4, S. 335/36; Gmelin, Grunds., § 29, 8. 63; im wes. auch Rathlef. Vom Geiste, S. 24 (^nur bei seltenen Verbrechen"; s. jedoch auch 8. 63 u. Anh. I, S. 152). Über die Beurteilung der „infamierenden Strafen'^ in dieser Zeit s. i. all^^em. auch noch M a 1 b 1 a n k , Gesch. d. P.G.-O., §60, S. 271, Nr. 14; Gei b, Uhrb. II, 8. 424: über die gesetz- liche Beschränkung der Infamie durch Friedrich den Großen (1756) 6. V. Bar, flandb. I, S. 157.

1 ) So indirekt schon Diderot, Noten zu Beccaria (Oeuvres compl. T. IV, p. 69; vgl. E 8 s e 1 b 0 r n, a.a.O. S. 117. Anm. *); s. ferner Observations sur le traite des delits et des peines bei Brissot, Bibl. phil. T. I, p. 306; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 115, 116; Beseke, Versuch, S. 91, Nr. 14 a. E.; Gmelin, Grunds., § 29, S. 67; Kleinschrod, Syst Entw. Ili, §74, S. 143, Pflaum, Entw. I, Abschn. 4, § 46, S. 41 ; v. G r o l m a n , Grundsätze, § 1 19, S. 56. 2) So: Rössig, „Vorerinnung" zu Hommels Philos. Ged., XXV, Nr. 7. Gegen zu häufige Verhängung von Ehrenstrafen (mit näherer Motivierung) auch: Beccaria, § 18, S. 118 (vergl. Maillard, Etüde histor., p. 35); Filangieri, System. IV (3, 2\ Kap. 31, S. 78; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 116; Kleinschrod, Syst. Entw. III, § 75, S. 146.

3) S.dio Belege dafür bei G ü n t h e r, Wiedervergeltung II, S. 191 u. Anm.4SS b.491 (über F i I a n g i e r i), S. 206, Anm. 547 (üb. die Franzosen Marat, Brissot, Bernardi, Servin), 8. 250 u. Anm. 6S6 (über Rathlef, v. Soden, Wie- land, V. Reder, Gmelin), S. 261, Anm. 730 (überv. Glo bi g u Huster).

4) S. d. Belege dafür bei G ü n t h e r, Wiedervergeltung II, S. 222, Anm. 600 (über Michaelis), S. 223, Anm. 604 (über Zaupser), S. 227, Anm. 619 (über V. Sonnenfels) 8. 250, Anm. 687 (über Püttmann, Klein, Gmelin, Wagnitz), S. 261, Anm. 730 (über v. Globig u. Husten; vergl. auch S. 250, Anm. 689 u. 690 (über spezielle Empfehlung de mütigender Strafen für Verbrechen aus Stolz, Hochmut u. Überhebung). S. in dies. Bez. auch schon Beccaria, § 18, S. 118 u. §28, S. 136 (Günther, Wieder\'gltg. II, S. 185, Anm. 459 a. E.)

5) S. die Belege bei Günther, Wieder vergeltg. IT., S. 227, Anm. 619 (über v. Sonnenfels), S.221, 222, Anm. 600 (überv.Segneru.Mich aelis [l(t2torer nicht ohne Bedenken; s. darüber näheres noch weiter unten]), S. 223, Anm. 604(überZaup8er), S. 250/51, Anm. 688 (überRathlef, Quistorp, G m e 1 i n u. a. m.) ; vgl. ferner noch Letroene, Vues sur la justice criminelle

184 IX. GCSTHER

Behandlung der Geldstrafen in der kriminalistischen Anfklänings- literatur. Zwar waren ihnen manche wegen der ihnen anhaftenden Mängel (nachteilige Folgen für die unschuldigen Familienmitglieder^ ungleiche Wirkung für Unbemittelte und für Wohlhabende, möglicher- weise auch Ausbeutung zu Gunsten fiskalischer Interessen) grundsätz- lich abgeneigt 0 oder wollten sie doch nur auf leichtere Delikte, insbesondere die dem Gebiete des Polizeistrafrechts angehörigen be- schränken^), die Mehrzahl der damaligen Schriftsteller aber wollte

(bei B risset, Bibl. phil. T. il), p. 310, Aniu. 1; M. le F., Plan de I^gislatiou etc. (ebd. T. V.), p. 410; vgl. auch Ciaproth, Entw.l, B. II, S. 54, Anm. a.; Beseke, Versuch, S. 101; Kleinscbrod, Syst Entw. III, § 74, S. 143 und Anm. c; dafür sogar noch v. Savigny (vgl. v. Liszt, Lehrb., § 93, S. 32<»). Dagegen n. a. aber Fiiangieri, Syst. IV (3, 2), Kap. 31, 8. 68 ff. u. v. Giobig u. Huster, Abhdig., S. 183 (vgl. Günther, Wiedervergeltung II, S. 261, Anm. 730).

]) S. z. B. Rössig, „Vorerinnerung'^ zu Hommel, S. XXVI, Nr. 10: „Man vermeide soviel als möglich die Geldstrafen" Über die Nachteile der (mög- lichst selten und jedenfalls mit Vorsicht anzuwendenden) Geldstrafen s. auch: v. Soden, Geist I, § 64, 8. 102ff., und II, § 376, S. 12; Wieland, Geist I, § 323 ff., S. 435; v. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. XIII, §§2—4, S. 328/29, § 8, 8.330; Graebe, Reformation, §31,S. 59; Gmelin, Grunds., $31, 8.69, über die Vorzüge s. 8 e r v i n , Über die peinl. Gesetzgbg., 8. 93 ff ; ausführlich über Nachteile und Vorzüge: Kleinschrod, byst. Entw. III, § 56ff., 8. 106 ff.; über Fiiangieri (Kap. 32, 8. 85 ff.) s. d. Text. Die g e g e n die Geld- strafen vorgebrachten Gründe gelten natürlich in erhöhtem Maße noch von der Vermögenskonfiskation. S. dagegen u. a. i. wes. schon Montesquiea, Espr. des lois, L. V, chap. 15 (F r a n k, Die Wolf f schob traf rcchtsphil., b. 68, Anm. 29), femerBeccaria, §17, 8. 117 (vgl. Frank, a.a. 0., 8. 74; Maillard, Et hist, p. 35); Voltaire, bes. Dict. philos. Art. „Confiscation**, T. V, p. 125 ff., Commentaire, § 21 (Bibl. phil. T. I, p. 255 ff.), Prix de la justice, Art XXVII (Bibl. phil. T. V , p. lOOff. ; 8. H e r t z , Voltaire, S. 437 ; G ü n t h e r i. G.-S. 61, S. 224, Anm. 4; Massonteil, a. a. 0. p. 260 ff.); Bernardi, Discours (Bibl. phil. T. VIII), p. 88; V. Sonnenfells, Grunds. I, § 368, 8. 447ff.; v. Soden, Geist I, § 64, 8. 102; v. Red er, Das peinl. Recht I, Kap. XI, § 21, S. 316 u. Kap. XIV, § 2 ff., 8. 327 ff.; v. Gl ob ig u. Huster, Vier Zugaben, 8. 153, Anm.* (jedoch nicht ohne Ausnahmen); v. Daiberg, E^tw., 8. 147; v. Grolman, Grunds., § 122, 8.57. Jedoch finden sich auch dafür (wenigstens für „gewisse Fälle**, bezw. in beschränktem Umfange) Verteidiger vgl. u.a.: Fiiangieri Syst IV (3,2), Kap. 46, 8.434, 440; Marat, Plan, p. 136 ff. (G.-S. 61,8. 225 u. Anm. 2) ; 8 e r v i n , Über die peinl. Gesetzgbg., S. 102 ff.; V. Eberstein, Entw., § 12, S. 6. Zu der ganzenFrage vcrgl. bes. auch noch Kleinschrod, Syst Entw., III, §§ 57, 58, 8. 107, 108, 109 ff. vbd. mit II, § 35, S. 84, Nr. 4 u. § 36, 8. 85ff . ; insbes. über die Vemiögenskonfiskation beim Selbstmorde noch näheres weiter unten.

2) S. bes. Rathlef, Vom Geiste. S. 28, 29 (Geldstrafen sind „wider die eigentlichen Verbrechen nicht anzuwenden''); v. Daiberg. Entw., 8. 145 („Verbrechen aus Bosheit müssen niemals mit Geldstrafen bestraft

Die Straf rechtsi-eform im Aufkinrun^szeitalter. 185

sie doch auch bei schwereren Verbrechen zulassen, und insbeson- dere werden sie hier mit großer Übereinstimmung sowie übrigens auch im Einklänge mit den Ansichten vieler heutiger Schriftsteller i) als zweckmäßiges Strafmittel für alle diejenigen Fälle empfohlen, in denen Gewinnsucht oder Geiz als die regelmäßige Triebfeder des Handelnden anzusehen ist^), wie z. B. namentlich beim Wucher,

werden"), vgl. §177, Ziff. 3, a; 8. auch noch Graebe. Reformation, S. 59 (nur ,,bei geringen Verbrechen*'.) Diese Anschauungen stehen im Gegensätze zu der neuerdings de lege ferenda vielfach befürworteten (s. H. M 03' er- All fei d, Lehrb., § 50, S. 300, Anm. 5) noch größeren Ausdehnung des Gebiets der Geldstrafe.

1) Zu den in meiner Wiedervergeltung III 1, S. 553/54 Anm. 582, S. 554 Anm. SS2, S. 554, Anm. SS3, S.55Sff., Anm. 889 angeführten neueren Schriftstellern, welche Geldstrafe (meist in Kumulation mit längeren P^reiheitsstrafen) für „Ge- winnsuchtsdelikte"* empfohlen, s. Jetzt auch Berolzheimer, Die Ent- geltung usw, S. 467/68 und System V, S. 255 (s. jedoch das. auch S. 254). Über das Hervortreten der Vergeltungsidee dabei s. die in meiner Wieder- vergeltung III 1, S. 81, Anm. 175 u. S. 553/54, Anm. 882, 883 zusammengestellten Angaben u. dazu jetzt etwa noch: Spira, Die Zuchthaus- und Gefängnis- strafe usw., S. 134 („eminente Vergeltnngsstrafe'') u. Berolzheimer, System V, S. 254 („talion ahn liehe" Bestrafung). A. M. dagegen: Hich. Schmidt, Auf- gaben, S. 111, Anm. 2u. S. 306, Anm. 2 (u. dazu zu Günther, Wieder Vergeltung III 1, S. 557/58, Anm. 888).

2) Es ist dies mit geringen Ausnahmen (wie etwa Wieland, Geist I, § 324. S. 436 ff.) die herrschende Ansicht gewesen. S. Rosenfeld in den Mitteilungen der I.K.y., Bd. 3 (1892), S. 141 und die näheren Nachweise bei Günther, Wieder- vergeltung II, S. 223, Anm. 604 (über Zaupser), 8. 2o5/6 n. Anm. 542- 546 (über französische Schriftsteller; vgl. über Marat auch G.-S 61, S. 221 u. Anm. 1, S. 239 327), S. 226, Anm. 619 (über v. Sonnenfels), S. 248 ff. u. Anm. 679, 680, 081 (über spätere deutsche Aufklärungsschriftsteller), S. 261/62, Anm. 731—733 (über v. Globig u. Huster). Über Filangieri s. die folgende Anmerkung. Be- stritten war, ob die Anwendung des Grundsatzes auch auf Diebstähle angebracht erscheine. Dafür z. B. Filangieri, System IV (3,2), Kap. 54, S. 667 (vgl. m. Wiedervergeltung II, S. ]91, Anm. 487); femer Marat, Bernardi u. andere Franzosen, nur in der Theorie, nicht für Durchführung in der Praxis auch Brissot de Warville, Theorie II, p. 60 (n. s. Günther, Wiedervergeltung II, S. 205, Anm. 543); Michaelis, (s. m. Wiedervergeltung II, S. 221, Anm. 599); V. Globig u. Huster, Abhdlg. S. 85, 86 und Vier Zugaben, S. 210 ff. (jedoch hauptsächl. nur für Diebstähle aus Gewinnsucht oder Faulheit [s.m. Wiedervergeltung II, S. 262, Anm. 734/5]). Dagegen schon Montesquieu, Esprit des lois, L. XIT, chap. 4, p. 158 (s. Günther, Wiedervergeltung II, S. 173, Anm. 400)u.Beccaria, § 30, S. 140, 141 (s. Wiedervergeltung n, S. 184) sowie mehrere deutsche Schrift- steller (wie Graebe u. Gmelin; s. Günther, Wiedervergeltung II, S. 249 und 250, Anm. 682 vbd. mit Anm. 683—85); vgl. etwa auch noch Zaupser, Ge- danken, Abhdlg. 2, S. 66 (s. jedoch auch S. 72); v. Soden, Geist I, § 41, S. 68, § 331, S. 370.

186 IX. Günther

dann auch bei Betrug, Erpressung, Münzfälschungen u. a. m. Als eine Einseitigkeit erscheint uns freilich heute die ausschließliche Be- schränkung der Geldstrafen auf solche Fälle, wie sie z. B. von Filangieri befürwortet ist^y einem Schriftsteller, der sonst auf diesem Gebiete sehr gesunde und fortschrittliche Gedanken entwickelt hat, die bald zahlreiche Nachfolger fanden. Er ist es u. a. gewesen, der besonders nachdrücklich hingewiesen auf die Ungerechtigkeit der ein für allemal gleichmäßig fest bestimmten Geldstrafen gegenüber dem notleidenden Armen wie dem Reichen der ohne die geringste Furcht „mit dem Beutel in der Hand auf Verbrechen ausgehen^ könne ^) und daher den auch in der Neuzeit oft wiederholten (und nur im einzelnen noch spezieller gefaßten) Wunsch geäußert hat, bei der Festsetzung des Geldbetrags auf die konkreten Vermögensverhältnisse Rücksicht zu nehmen, ihn insbesondere nach einer Quote vom Vermögen des Übeltäters zu berechen.^) Auch das „Abverdienen*"

1) System IV (3,2), Kap. 32, S. S^, 90; vgl. Rosenfeld, Mitteilungen d- IX V., Bd. 3, S. 141, 175/76; Günther, Wiedervergeltung II, S. 190 Anm. 4S5 u. S. 191, Anm. 4S6/7 (über die einzelnen Fälle). Nur auf Vermögensdelikte wollte grundsätzlich auchQuistorp (Entw., §62, S. 74, 75) die Geldstrafe beschränken.

2) Filangieri, a. a. 0. S. 86, u. zu vgl. überhaupt das. S. 85—88. Vor ihm haben übrigens u. a. auch schon Montesquieu, Esprit des lois, Li vre VI chap. 18, p. 80u. Risi, Observations sur des matiercs de jurisprudcnce crim, bei Brissot, Bibl. phil. T., II p. 78, nach ihm bis in die Gegenwart hinein viele (auch deutsche) ^Schriftsteller, wie aus der Auf klärungscpochc bes. Soden, Greist I, § 64, S. 113, Beseke, Versuch, S. 91, Kleinschrod, Syst Entw. II, §59 ff., S. 111 ff., diesen Übelstand mehr oder weniger betont. Vgl auch schon oben S. 184, Anm. 1. Näheres noch bei Rosen fei d, a. a. O. S. 147 u. Anm. 11, 12 u. S. 148.

3) S. Filangieri, a. a. 0., S. 89, 90 ff. u. dazu Rosenfeld, a. a. 0. S. 174 ff. (Würdigung der Verdienste F*8), S. 177 ff. (Kritik der gegen F. er- hobenen Einwände) u. t^. 187, Anm. 87; vgl. auch Geib, Lehrb. II S. 422; Schmolder, Die Geldstrafe (in seinen „Drei Aufsätzen zur Reform des Straf- rechts", betr. die Freiheitsstrafe, die Berufsverbrecher u die Geldstrafe, Bert. 18S9», S.34 ff.; nt her , Wiedervergeltung II, Vorwort. S. VIII u. Anm. 14 u. S. 190/91 u. Anm. 485; Berolzheimer, System V, S. 255, Anm. 16. Über Vorläufer Filangieris in dieser Beziehung (Carpzov, Frolich v. Fröblichsberg u. Montesquieu [Esprit des lois, Li\Te Vl.ch 18]) s Rosenfeld, a- a. 0. S. 175; vgl. auch Berolzheimer, System V, S. 218 u. Anm. 18u.S.255, Anm. 15 (über Montesquieu); über seine Nachfolger inderAufklärungsepoches. Rosenfeld, a. a. 0. b. 176 u. Anm. 62 u. Berolzheimer, System V, S. 255, Anm. 16. Zu den hier genannten u. zum Teil näher angeführten Schriftstellern (v. Soden, Geist!« § 64 S. 103, WieUnd, Geist I. § 326, S. 442 u. Kleinschrod, Syst. Entw. 111 § 58, S 111 u. § 60, S. 113) s. auch noch Rathlef , Vom Geiste, S. 28, Beseke, Versuch, S. 91, v. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 154 ff. u. v. Grol- man, Grunds. (1. Aufl.), §121, S. 57. Über die Vorschläge der Neuzeit, wonach meist anstatt einer Quote vom Vermögen eine solche vom Einkommen, ins-

Die Straf rech tsrcform im Aufklärungszeitalter. 187

der Geldstrafen durch Arbeit an Stelle des bloßen ^Absitzens", d. h. der Einsperrang für die Fälle der „Uneinbringlicbkeit'^, das heute gleichfalls auf dem kriminalpolitischen Reformprogramm steht i), ist schon damals von manchen in Vorschlag gebracht worden. ^) Endlich wünschte man wohl, um dem öfter erhobenen Vorwurfe der Eigen- nützigkeit des Staats zu begegnen, daß „der Ertrag der Strafgelder zum Besten der Armen oder anderer öffentlicher Anstalten*' (wie Schulen, Strafanstalten, „Manufakturen" usw.) verwendet" werde. ^)

bes. eine Berechnung derselben nach der Steuerstufe (so 11. a. bes. v. Liszt) befürwortet werden, s. näheres aus der umfau^eichen Literatur etwa bei Rosen - feld, a. a. 0. S. 173 ff. 178 ff., u. indess. Verfs. btrafmittcl, S. 310 ff., femer bei Schmolder, a. a 0. S. 35 ff-, Seidler in Conrads Jahrbüchern für Nationalöko- nomie usw., N. F. Bd. 20, S. 246, 250 ff., Reinhardt, Geldstrafe und Buße, Halle Diss. 1S90, S. 70 ff., v. Liszt, Strafrechtl., Aufs. L S. 406 ff., II, S. 117 u. 396; Berolzheimer, Entgeltung, S. 407 und Anm. 1, S. 40$ u. System V, S. 255 (dagegen), Köhler, Reformfragen, S. SOff., H.Meyer-Allfeld, Lehrb., §50, S. 301 u. Anm. 11 ff.

1) S. darüber etwa: Roscnfeld, Mitteilungen d. I.K.V. IV, S. 202 ff. u. bes. S. 210 ff. u. ^trafmittel, S. 314 ff.; Schmolder, a. a. 0. S. 3S ; Reinhardt, a. a. 0. S. 71; Stooß in d. Schweiz Z. für Strafr., /Jahrg. 4 (1891). S. 344 ff.; V. Liszt, Strafr. Aufs. L S. 369 ff., 386 (Literaturangaben, auf S. 37516), II, S. 117.1S; Richard Schmidt, Aufgaben, S. 305 u. Anm. 3, 4; Seuffert, Ein neues St.G.B. für Deutschland, S. 76, 77; Berolzheimer, Entgcltung, S. 469ff., 471 u. Sj^stem V, S. 257 u. Anm. 20, 21.

2) S. bes. V. Globig u. Huster, Abhandlung, S. 98: „Wenn der Ver- brecher (die Geldstrafe) zu tragen nicht imstande ist, so muß sie abgearbeitet werden" (durch Handarbeit); vgl. ebd. S. 93: „kann (der Dieb das Gestohlene und) die Geldstrafe nicht ganz aufbringen, so muß man ihn das übrige ab- arbeiten lassen''; S. 252 (betr. die Geldbußen in den Polizeigesetzen) : „Wenn der Schuldige ganz unvermögend ist, so bat er . . . die Geldbuße abzuarbeiten,'^ vgl. auch noch Vier Zugaben, S. 161 ff. u. 214 ff., 239; dafür ferner: Ser vin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 94; Bescke, Versuch, S. 93,Nr. 22; Kleinschrod, Syst. Ent- wicklung III, § 59, S. 112 (vgl. Rosenfeld, Mitteilungen d. I.K.V. 3, S.210u. Anm. 21); v. Grolman, Grunds. (1. Aufl.), § 122, S. 57, Anm. a („Der Arme muß seine Geldstrafe abverdienen ^). Für Abarbeitung der Entschädigung der Eigentümer durch vermögenslose Diebe s. u. a.: v. Soden, Geist I, § 332, S. 371. Über den von Filangieri (a. a. 0. S. 96) in Anschluß an die attische Gesetzgebung gemachten u. neuerdings von Schmolder (a.a.O., S. 37) wieder aufgenommenen Vorschlag, bis zur völligen Bezahlung der Geldstrafe dem Verurteilten die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zu untersagen, s. Rosen - feld, Mitteilungen d. LK.V. 3, S. 199.

3) S. Quistorp, Entwurf, § 62, S. 74, 75 vbd. mit Kleinschrod, Syst, Entw. III, § 58, S. HO u. Anm. a (Lit.- Angaben); vgl. auch Beseke, Verauch, S. 95, Nr. 8, v. G 1 0 b i g u. H u s t e r , Vier Zugaben, S. 1 53, S e r v i n , Über die peinl. Gesetzgbg., S. 378 und (betr. Verwendung der Konfiskationen) Marat, Plan etc., p. 137 (G.-S. 61, S. 225).

isS IX. Günther

Unter den die menschliche Freiheit beeinträchtigenden Strafmitteln findet die früher so viel mißbrauchte Landesyerweisnng kaum noch ernsthafte Verteidiger, da man zu der Einsicht gekommen, daß dieser „Tausch benachbarter Länder über pestilenzialische Ware^^ ^)

ganz abgesehen von seiner Staats- und völkerrechtswidrigen Beschaffenheit auch zur Erfüllung der wichtigsten Strafzwecke, namentlich aber desjenigen der Besserung, ganz unbrauchbar und vielmehr nur dazu geeignet sei, das Vagabunden- und Bettlertum zu befördern, ja den aus seiner Heimat Verstoßenen in der Fremde aufs neue auf die Bahn des nun vielleicht gewerbsmäßig betriebenen

Verbrechens zu treiben. 2j Denn ein solcher Unglücklicher so führt z. B. Michaelis aus „kann in der Fremde nicht unterkommen und Brot verdienen; wo Polizei ist, leidet man ihn nicht einmal, wenn man weiß, wer er ist, er wird sich also in den Wäldern verstecken, da Gesellschaft finden, und so wird aus dem, der einmal gestohlen

1) So: Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorwort, S. 78; vgl überhaupt das. S. 78, 74 u. 92.

2) S. im allg. 6eib, Lehrb. I, S. 811 u. 11, S. 405. Im einzelnen sind hervor« zuheben als Gegner dieser Straf art etwa (außer Michaelis) bes. noch Vol- taire, Dict. phil, Art, „Bannissement**, T. EI, p. 251/52 (vergl. Hertz, Voltaire, S. 429 u. 480); Brissot de Warville, Theorie I, p. 186/7; Bernardi, Discoure (Bibl. phil. T. VIII), p. 83; Zaupser, Gedanken, Abb. 2, S. 51 ; H 0 m m e 1 , Übers, v. Beccaria, Vorwort, S. XVIII n. S. 152, Anm. e u. an anderen Stellen (vgl. auch G e i b , a. a. 0. 1, S. 311) ; P Q 1 1 m a n n , Eiementa jur.crim. § 74, p. 34; Malblank, Gesch. d. P.G.-O., §49, 8.228; Corrodi in Pütts Repert. I, S. 148/49; Wieland, Geist I, §829 ff., S. 447 ff.; v. Red er. Das peinl. Recht I, Kap. XI, § 20, S. 314/15; Joh. Jak. Cella (Markgrfl. Ansbach- Bayrouthischer Justizrat und Beamter zu Ferrieden), Freimütige Gedanken über Landesverweisungen, Arbeitshäuser u. Bettelschube, Ansbach 1784; Gmelin, Grundsätze, § 23, S. 50, Nr. 5 u. § 26, S. 60ff.; Pf laum , Entw., Teil I, Ab- schnitt 4, § 48, S. 42; v. Dalberg, Entw., S. 146; Kleinschrod, Syst. Entwickl. I, § 35, S. 84, Nr. 3, III, § 45, 46, S. 87 ff. Dagegen wollten sie, wenigstens in beschränktem Umfange , noch zulassen: Fllangieri; System IV (3,2), Kap. 36, S. 188 ff., S ervin. Über die peinl. Gesetzgebung, S. 90 ff. vgl. auch S. 219, 260 u. dazu oben S. 161, Anm. l,d.; v. Sonn enf eis, Grundsätze I, § 859, S. 443/44, (vgl. Günther, Wiedervergeltung II, S. 227, Anm. 619); Quistorp, Entwurf, § 58, S. 70 ff.. §283, S. 310, §305, S. 337 (vgL oben S. 161, Anm. 1, d.); v. G 1 o b i g u. Muster, Abhdlg., S. 77, 79, 244 (vgl. oben S. 161, Anm. l, d.). Vier Zugaben, S. 120 ff. ; v. E b e r s t e i n , Entw., § 12, S. 6. Über die Beseitigung der Landesverweisung durch die Gesetzgebung des 18. Jahr- hunderts (in Preußen schon durch Kab.-Ordre v. 4. Jan. 1744) s. u. a. M al b 1 a n k . Gesch. d. P.G -0., S. 229 u. Anm. a; vgl. auch Hälschner, Geschichte, S. 181 ; V. Bar, Handb. I, S. 157; Willenbücher, a. a. 0. S. 36 u. Anm. 1; Rotc- ring in d. Monatssehr. f. Krim.-Psyeh., 1 (19045), S. 583.

Die Straf rech tBreform im Aufkiärungszeitalter. 189

hatte, ein vom Diebstahl Lebender, dann bald ein Räuber werden^^ 0 Um so lebhafterer Empfehlung erfreute sich dagegen wegen ihrer gleichmäßigen Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit (Zulässigkeit vieler „Modifikationen'^ sowohl die eigentliche Freiheitsstrafe, d. h. die Einsperrung in „wohl eingerichtete'^ Strafanstalten (Zuchthäuser und „Spinnhäuser'', Arbeitshäuser, Gefängnisse, Festungen und andere Arrestlokale) % die seit dem Auftreten des englischen Philanthropen John Howard jetzt allmählich auch in Deutschland anfangen menschenwürdigere Zustände aufzuweisen 3), als auch die schon an

1) Mos. Recht VI, Vorrede, S. 73. Die ErÖrteruDgen der Aufklärangs- fichriftstclier über die Mängel der Landesverweisung erinnern in vieler Beziehung an die durch den Fall des „falschen Hauptmanns von Köpenick^' unlängst wieder mehrfach vorgebrachten Bemängelungen unseres Rechts zur Ortsausweisung in- folge der Polizeiaufsicht (R.St.G.B. § 39). S. hierzu jetzt Mittcrmaier» Die Polizeiaufsicht^ in der Deutach. Juristen-Ztg. v. 1. Jan. 1907 (Jahrg. XII, Nr. 1), S. 26 ff. u. Anm. 1 (Literaturangaben); vgl. auch Kohl er, Reformfragen» S. 36 u. Anm. 1.

2) Vgl. imallgem. Malblank, Gesch. d. P.6.-0., §49, S. 229 ff.; Geib, Lehrb. I, S. 311, 337. Im einzelnen s. u. a. (über die Vorzüge der Freiheits- flti-afen) bes. noch Filangieri, System IV (3,2), Kap. 33, S. 101; Servin, Cber die peinl. Gesetzgbg , S. 70 ff.; v. S o d e n , Geist I, § 62, 8. 98; B e s e k e , Versuch, Kap. 6, Abschn. 2, 8. 42 u. Kap. 7, Abschn. 2, S. 78/79; G m e 1 i n, Grund- sätze, §25, S. 52ff.; Kleinschrod, Syst. £ntw. III, §24. S. 49ff. (während § 25, S. 51 ff. die Bedenken gegen die Freiheitsstrafen würdigt); v. G r o 1 m a n » Grundsätze (1. Aufl.), § 116, S. 54. Insbes. über Verwendung der Arbeits- und Zuchthäuser für Delikte aus Müßiggang und Faulheit s. die Angaben bei Günther, Wiedervergeltung II, S. 252, 253, Anm. 696 (vgl. auch schon oben S. 140, Anm. 1). Cber häufige Androhung der Zuchthausstrafe in den Entwürfen von Beseke, v. Dalbergu. v. Eberstein: ebenda s. S. 253, Anm. 697. Auch der sog. Hausarrest ist vereinzelt schon damals ebenso wie heute (s. u. a. jetzt Auch Groß in d. Monatsschr. für Krim.-Psych. 2, S. 209 gegen v. Liszt, ätrafr. Aufs. II, S. 385, Aschaffenburg, Bekämpfung, S. 236 u. a. m.; vgl. im allg. Rosenfeld, Strafmittel, S. 302) für ganz leichte Delikte ao Stelle der kurzen Gefängnis- (od. Haft-) Strafen empfohlen worden, so z.B. von v. Red er. Das peinl. Recht I, Kap. XIII, § 10, S. 325, v. Dalberg, Entw., S. 146 u. Kleinschrod, Syst Entw. III, § 30, S. 62. Gegen bloße Einsperrung ins Gefängnis ohne Arbeit ausdrücklich : H o m m e 1 , Übersetzg. v. Beccaria, S. 150, Anm. d; gegen die Festungshaft: Klein, Fragmente, S. 74.

3) Daß der Vollzug der Freiheitsstrafen auch der Gesundheit der Ge. f angenen nicht nachteilig sein dürfe, wird in dieser Zeit mehrfach ausdrück- lich verlangt S. z. B. Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 121; Qui- 8 1 o r p, Entw., § 60, S. 73; P f 1 a u m , Entw. I, Abschn. 4, § 49, S. 43; v. S o d e n ^ Geist I, § 62, S. 97; Wieland, Geist I, §322, S. 434 (und dazu Berolz- h e i m e r , System V, S. 224, Anm. 69); v. R e d e r , Das peinl. Recht I, Kap. XI, §6, S. 803; V. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 104; Gmelin, Grund- sätze, § 25, S. 52 ; v. Dalberg, Entw., S. 214, Nr. 2 ; vgl. auch v. G r o I m a n,

190 IX. GÜKTHEB

ältere Vorbilder sich anlehnende dauernde („ewige") oder zeitweilijxe .jKnechtschaff' (esclavage), d. h. die Verwendung von Sträflingen zum Straßen- und Festungsbau LSchanzarbeit^), zum „Graben der Kanäle, zur Errichtung von Dämmen gegen Überschwemmungen, Aus- trocknung von Sümpfen*^ 0> in Bergwerken 2», staatlichen Münzwerk-

Gmnds.i § 117, S. 55. Über sittliche Besserung u. Geistesbildung der Gefangenen 8. bes. V. Dalberg, Entw., S. 201, 203 ff. (vgl. auch oben S. 160, Anm. 1). Nach Ab egg im G.S. 15 (lb63), S. 116, Anm. 3 hat K. v. Dalberg sich lebhaft mit dem Wunsche beschäftigt, das sog. pens3'lvanischc Gefängnis* System (vgl. v. L i s z t , Lchrb., § 61 , S. 255/59) in den Strafanstalten des danaaligen Großherzogtums Frankfurt einzufuhren. Cber schärfere Trennung der Unter- suchungs- u. Strafgefangenen s, u. a. Malblank, Gesch. d. P.G.-O., § 60, S. 271, Nr. 13; vgl. auch G.-S. 61, 5>. 475 ff. (bes. über Marat, Servan u. Brissüt [Bibl. phil., T I, p. 147 ff. u. T. VII. p. 198 ff.]); M. le F., Bibl. phii-, T. V. p- 813 ff. u. a. m.

1) So: Quistorp, Entw., § 57, S. 67 ff., s. auch Grundsätze des deutsch, peinl. Rechts (8. Aufl., 1783), § 78, S. 131); ganz ähnlich der Sizilianer di Blasi. Sulla legislazione etc., § 10 (ed. G u a r d i o n e), p. 39, 40 ; vgl. femer Voltaire (an verschiedenen Stellen; s. näh. bei M a s m o n t e i 1 , La l^gisl. crim., p. 247/4^); Tomaso Nataleis. Archiv f. Strafr. 48, S. 33, Anm. 158); Filangieri. System IV (3, 2), S. 109 ff.; Versuch der gcsetzgeb. Klugheit usw. (Allg. deutsche Bibl. Bd. 39, S. 405); Rössig, „Vorerinneraug" zu Hommels Phil. Ged., S. XXVI, Nr. 11; Gmelin, Grundsätze, § 25, S. 53ff.j Kleinschrod, Syst. Entw. III. § 36, S. 71 ff. vbd. mit § 37, 38, ^. 73 ff., 76 ff. (betr. Einwendungen dagegen) und die schon oben S. 165, Anm. 3 (betr. die erwünschte „PublizitäC* solcher Strafen) an- geführte Monographie Rleinschrods v. J. 1789. Während heute die „Strafarbeit ohne Einsperrung^' meist nur als Ersatz nicht beizuti-eibender Geldstrafen (s. oben S. 187), Anm. 1 empfohlen worden (s. jedoch auch S 0 uf f e r t , Ein neues Strafgesetz- für Deutschland, S. 59 : für Verwendung von Zuchthausstrafüngen zur Bodenkultur), also i. wes. für eine leichtere btrafe als das Gefängnis usw. anzusehen ist, hielten damals manche die Verurteilung zu jenen öffentlichen Arbeiten für schwerer als die zur Zuchthausstrafe (vgl. z. B. K 1 e i n s c h r o d , a. a. 0. III, S. 71, der übrigens, gleich anderu, dabei voraussetzt, daß die Verurteilten „außer der Arbeitszeit sich im Zuchthause oder einem andernVerwahrungs- orte aufhalten** müssen). Über Verwendung von Verbrechern zu lebens- gefährlichen Arbeiten zum Zwecke der Unschädlichmachung s. schon oben S. 161, Anm. 1, c; dagegen aber ausdrücklich v. G r o 1 m a n , Grunds., § UH. S. 55, Anm. 1.

2) Vgl. darüber auch schon oben S. 161, Anm. 1, c u. S. 175, Anm. 1. (über Rössig u. V. G 1 o b i g u. H u s t e r). Speziell dafür die Monographie von Joh Chr. Knötzschker, Von der Verdammung der Missetäter zur Bergarbeit, Leipzig 1795 (u. dagegen: Chr. (rottl. Hübner, Über die Anwendbarkeit der Bergbaustrafe iu Deutschland, Leipz. 1796); vgl. dazu auch Böhmer, Handb., S. 723, Nr. 2641 ff.; s. auch K 1 e i nschrod, Syst. Entw. III, § 36, S. 72, Anm. h., § 38, S. 77. Die zuweilen von Ausländern (wie z. B. dem Sizilianer Tomaso Natale, [s. Archiv f. Strafr. 48, S. 33 u. Anm. 158]) noch einer nützlicheren Ausgestaltung für fähig gehaltene Galeerenstrafe ist in Deutschland damals

Die StrafrechtBreform im Aufkläiiingszeitalter. 191

Stätten oder zu ähnlichen öffentlichen Arbeiten (ohne Einsperrung^ wenn auch event mit Anlegung von Fesseln bei der Arbeit sowie mit Verwahrung in einer Strafanstalt außerhalb der Arbeitszeit) zum Nutzen des Gemeinwesens, das dabei nicht nur die Kräfte, sondern auch die etwa vorhandenen besonderen Fähigkeiten der Ver- urteilten möglichst für sich auszubeuten berechtigt erscheint. 0 Erwähnt sei noch, daß manche die Freiheitsstrafen im e. S für ganz besonders ,,im Geiste des Verbrechens liegend" erachteten bei der Freiheits- beraubung, wobei sich wieder die Annäherung an die Talionsidee sehr deutlich bemerkbar macht ^); eine allgemeinere Fassung hat schon

nur sehr selten noch als zweckmäßig empfohlen worden, so z. B. von v. R e d e r , Das peinl. Recht I, Kp. XI, § 17, S. 812 (wenigstens „bei Abgang guter und hinlänglicher Gefängnisse"); vgl. etwa auch noch Q u i s t o r p, Entw., § 57, S. 68. Ausdrücklich dagegen: Kleinschrod, Syst. Entw. III, § 39, S. 78f f. Die heute so heiß umstrittene Deportation in die Kolonien als Strafe (zur Literatur vgl. u. a. v. L i s z t , Lchrb., § 15, S. 77, Anm. 8; Berolzheimer, Entgltg., S. 460, Anm. 1 u. System V, S. 243/44, Anm. 1 ; K i t z i n g e r, die I.K. V., S. 116 ff.) hat auch damals schon, bes. als Mittel der Unschädlichmachung, Für- sprecher gehabt Vgl. darüber schon oben S. 162, Anm. 1, e. Ausführliche Er- örterung über die Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit dieser Strafart bes. bei Filangieri, System IV (3, 2), Kp. 33, S. 110—119, der (wie auch andere damals) dabei übrigens die Verschickung auf (unbewohnte) Inseln von der Dopoitation in Kolonien sondert

1} So ist Voltaire in Verfolgung des Grundsatzes, durch die Strafe „den Verbrecher, der sich gegen die Interessen der menschlichen Gesellschaft vergangen hat, in den Dienst dieser Interessen zu stellen^ (Frank, Die Wolffsche Straf- rechtsphilosophie, S. 64/65), zu der Forderung gelangt, den Falschmünzer als „excelient artiste** iu den Münzwerkstätten des Staates zu beschäftigen. Vgl. Voltaire, Prix de la justice, Art VII (Bibl. phil. T. V. p. 27 1, s. auch Commentaire, § 17 (Bibl. phil. T. J, p. 250); vgl. Frank, a.a.O., S. 65 u. Anm. 12; Günther, Wiedervgltg. II, S. 175, Anm. 416; Masmonteil, a. a. 0. p. 251. Derselbe Vorschlag kehrt wieder bei Brissot de Warville, Dis- cours (Bibl. phil. T. VI) p. 94 u. Theorie I, p. 315/16, bei dem Pseudonymen M. le F., Plan de legisiation etc. (Bibl. phil. T. V.) p. 424 u. (für den Rückfall) aiicli bei M a r a t , Plan etc., p. 170 (vgl. Günther, Wicdervergltg. II, S. 206, Anm. 546 u. im G.-S. 61, S. 246/247 u. Anm 1), desgl. bei v. G 1 o b i g u. H u s t e r , Abhdg., S. 176 u. Graebe, Über die Reformation, § 3S, S. 72 (vgl. Günther, Wiedervgltg. II, S. 237, Anm. 657. S. 249, Anm. 681). R ö s s i g, „Vorcrinnerung'" zu Hommeis Philos. Ged., S. XXV, Nr. 5 wollte „Holzbeschädiger^ mit Arbeiten in den Geholzen, Ausrotten der Wurzeln usw.'' ivgl. Günther, Wiedervgltg. 11, S. 238, Anm. 657 a. E), Beccaria (§. 31, S. 142) ,.den Tabakschmuggler im Dienst der Tabakregie beschäftigt wissen*^ (Frank, a. a. 0., S. 74).

2) S. bes. V. Globig u. Hustcr, Abhdg., S. 200, 202, Vier Zugaben, S. 107 u. Kleinschrod, Syst Entw. II, Ö. 56, Nr. 5, III, § 29, S 61, (vgl. m. Wiodci-vergltg. II, S. 258, Anm. 699, ?. 255, Anm. 722 u. S. 268, Anm. 738)

192 IX. Günther

der Satz, ,,daß nichts natiirlicber'^ sei, „als daß man denjenigen seiner Freiheit beraube, der sich derselben (durch ihren Mißbrauch) anwürdig machte^ 0? iind von hier aus war es dann nur noch ein Schritt zu der Behauptung, daß „die Einschränkung der bürgerliehen Freiheit"* diejenige Strafe sei, die „in dem Geiste aller Verbrechen'* liege, da sie ja sämtlich „das Verlangen nach Ungebundenheit voraus- setzen^^ 2) Damit war dann die Grundlage für die Ausbildung unseres modernen Strafensystems geschaffen, in dem die Freiheitsstrafen be- kanntlich fast zur „Universalmedizin^' geworden sind.

Über Marat, Plan de K^gisl. er., p. ISO s. m. Wieder vergltg. II, S. 207, 20S u. Anm. 554 u. G.-S. 61, S. 324 u. Anna. 5.

1) So: Kleinschrod, Syst. Entw. III, § 24, S. 50; vgl. v. Globi^ n. Haster, Abhd»:, S. S9, Nr. 2 (und dazu Günther, Wiedervgltg. II, S. 282. Anm. 737); Wagnitz, Historische Nachrichten I, S. s (s. m. Wiedervergltg. IL 8. 253, Anm. 69S); über Marat s. G.-S 61. S 324, Anm. 4 a, E.

2) V. Grolman, Grundsätze (l. Aufl.», 8 131, S. 60.

(Schluß folgt.)*)

*) Nicht mehr benutzt werden konnte leider für diesen Teil des Aufsatzes die Inaug.-Dissertation von EdwinBaumgarten, Das Recht der Persönlichkeit und der Zweckgedankc in Theorie und Praxis des deutschen Strafrechts von der Carolina bis auf Feuerbach, Tüb. 1907, die im § 3, S. 32, .33, Anm. 16 u. bes. in §§ 5—7, S. 49—90 auch die Schriftsteller der Aufklärungszeit berücksichtigt hat.

Kleinere Mitteilungen.

Von Medizinalrat Dr. P. Näcke.

1.

Dr. Y6r^, In memoria m. Wieder ist ein Großer der Wissen- schaft dahingegangen. Am 22. April 1907 starb in Paris Dr. F6t^, bis zuletzt Arzt am Bic^tre daselbst. Es hat wohl wenige Männer gegeben, die in ihrem Leben so viel und so gat gearbeitet haben, wie er. Sein Hauptgebiet war Psychiatrie, Neurologie und Psychologie, doch hat er viele Beiträge auch auf anderen Gebieten der Medizin geliefert. Von seinen größeren Werken seien hier nur folgende namhaft gemacht: les ^pilepsies et les ^pileptiques, 1890, ein grundlegendes Werk; la pathologie des ^mo- tions, 1892; 1e traitement des ali^n^s dans les f amilies, 1893; sensations et mouvement, 1900; d^g^n^rescence et criminalit^, 1900; la famille n^vro- pathique, 1892; Tinstinct sexuel, 1902; les troubles de rintelligence, 1902; Hysteria, epilepsy and the spasmodic neurose, 1897 etc. Daneben hat er noch Tausende von Artikeln geschrieben, die stets interessant und anregend waren und deren Krankengeschichten immer eine Fundgrube bleiben werden. Er war ein scharfer Beobachter, akkurater Experimentator, geistreicher und eleganter Schriftsteller und viel gesuchter Arzt. Ein wahrer Kliniker, wie er sein soll ! Für die Kriminalanthropologie hat er Bedeutendes geleistet, aber fast alle Theorien Lombrosos mit wuchtigen Schlägen bekämpft. Die letzten Jahre seines Lebens füllten Studien experimentell-psychologischer Art aus und sein großes Werk: travail et plaisir, 1904 gibt davon ein glänzendes Zeugnis. Es ist bewunderungswürdig, was er in einem kleinen und schlecht ausgestatteten Laboratorium doch fertig brachte! Er arbeitete fast stets allein und hat wohl keine Schüler hinterlassen. Ein großer, starker Mann, erinnerte er auch in seinem ruhigen, wortkargen Wesen an seinen nor- mannischen Ursprung. Möge sein Name recht lange fortleben und möchten seine Schriften den Zahn der Zeit nicht verspüren! Requiescat in pace!

AfohlT ffir Kriminalanthropologio. 28 Bd.

13

194 Kleinere Mitteilangeii.

2.

Ein Fall von Panik. Paniken sind namentlich bei Theaterbränden^ Schiffsnnfällen etc. bekannt. Eine solche in einem Bergwerke ist mir bisher nicht vorgekommen, d. h. wo ein Grund zur Panik nicht vorlag. Nach dem Gmbenunglfick von Coarri^i*e8 in Frankreich (1906) fuhr eine Kettungsmannschaft mit einem Arzte hinab, um zu retten, was noch zu retten war. Nun wird in der ,, Revue de Psychiatrie^, 1907, p. 165, aus einem Buche von Dervieux, betitelt: ^^tude m^dioo-l^gale de la catastrophe de Courri^res'^ (Paris, 1906), folgendes von dem Verfasser, der Augenzeuge war, berichtet: Plötzlich kommt aus einer Galerie großes Lärmen . . . Leute, welche die Gänge (la mine) zwecks Rettung sondierten, kommen atemlos angestfirzt, zwecklos umherlaufend (courant au hasard) und brflllend: , Feuer! Glocke! Rette sich, wer kann!^ Diese Leute hatten den Begriff aller Dinge verloren . . . Lampen waren während des tollen Laufens in der Finsternis zurückgelassen worden. Und wie nötig wäre gerade Licht gewesen, wenn es nötig gewesen wäre, durch einen anderen Gang (puits) zu fliehen ! . . . In dem Kohlenschmutze gab es ein unbeschreibliches Chaos von Leuten, die sich untereinander balgten, die gegen die Leichen kämpften, welche sie (bis hierher) geschleppt hatten, indem sie dieselben schlugen, beschimpften . . . Alle diese tollgewordenen Retter setzten ihren Lauf fort bis zur Auffahrts- stelle (accrochage) und schlugen sich wild, um hinaufzusteigen . . . Nichts war geschehen, was diese Panik gerechtfertigt hätte . . . Außerdem, unter Einfluß der Kohlenoxydvergiftung, fand man in den ersten Tagen Bergleute, die in den Galerien ohne Gedächtnis, ohne Orientierung, schwankend, fast stupid umherinien . . . Andere, nachdem die Periode der Verwirrtheit vorüber war, bemühten sich, die Lücken ihres Gedächtnisses durch Konfabulationen auszufüllen.'^ Man sieht also eine Reihe klassisclier psychologischer Symptome bis zur vollendeten Psychose bei den verunglückten Bergleuten und eine unbegreifliche Panik mit ihren interessanten psychischen Folgen bei den üettern.

3.

Erröten beimaßet cn. Bresier schreibt in dem Vorworte seiner Schrift: Religionshygiene (Halle, Marhold, 1907) folgendes: „Vor Beginn der Reise hatte ich noch die Äußerung Kaufs gelesen, daß viele Mensdien ciTöten, wenn sie beim Gebet überrascht werden, und hatte seine Erklärung, daß der Fromme, der Zwecklosigkeit des Betens bewußt, sich dessen schäme, widerspruchslos hingenommen. Ich konnte mir nun sagen, daß Kant nur Nordländer hatte beten sehen.^ Dieser Passus frappierte mich sehr. Ich besinne mich nicht, einen Betenden bei uns unter obigen Umständen er- rötet gesehen zu haben. Das sind sicher sehr große Ausnahmen und wenn Kant einmal einen solchen Fall sah, so ist sein Ausspruch, daß „viele er- röten^, sicher falscli. Kant hat namentlich in der letzten Zeit, wie es scheint, schleclit beobachtet und seine Altei*sschrift: ^Über die Macht des Gemüts*^ strotzt von falschen Beobachtungen, laienhaften Ansichten und pranz oberflächliclien Urteilen, sodaß man sogar diese Schrif therangezogen liat, um zu beweisen, daß der große PJiilosoph zuletzt an dementia

Kleinere Mitteilungen. 195

senilis litt. Wie dem auch sei, jedenfalls ist das EiTöten während des Gebets, unter Beobachtung eines Dritten, sehr selten und dann wohl nur bei Hochgebildeten. Wie aber ist es dann zu erklären? K an t's Erklärung ist sicher ftir gewöhnlich eine total verfehlte! Das Nächstliegende ist jedenfalls, daß, da unter den heutigen Gebildeten der dogmatische Glaube immer mehr sdiwindet, ein kindlicher Glaube immer seltener sich vorfmdet, der Betende dessen bewußt wird und unwillkürlich bei Anwesenheit eines Gebildeten nicht eines Ungebildeten sich quasi seiner Bethandlung schämt, freilich dies unedle GefQhl wahrscheinlich sofort unterdrtlcken wird. Nun ist immer- hin die Kant'sche Erklärung, der Betende werde der Zwecklosigkeit seines Gebets inne und schäme sich dessen, bisweilen möglich. Wir stoßen hier nämlich auf das interessante Problem, daß selbst Ungläubige oft doch noch beten und zwar nicht nur .in Geistes- und Leibesnöten. Wie ist dies zu erklären? Im Innern ringen 2 Mächte: der Verstand und das Herz. Jener sagt: es gibt keinen Gott oder wenigstens keinen menschlich zu denkenden, das Herz ersehnt ihn, hofft, trotz des Verstandes, und so fühlt sich auch der Vorurteilsloseste bisweilen in die kindlichen Bahnen gelenkt und betet. Er weiß wohl,, daß schon das Gebet, d. h. das Bittgebet, wie es gewöhnlich geschieht, einem Gotte gegenüber eigentlich eine unwilrdige Handlung ist, da Gott, wie er übermenschlich zu denken ist, nicht durch menschliche Bitten gerührt werden darf. Aber auch die höhere Bedeutung des Gebets: die einer Danksagung oder Vertrauenskundgebung, erscheint einem höchsten Gotte gegenüber völlig überflüssig und zwecklos, freilich ethisch höher, als ein bloßes Bittgebet, das Gottes Ratschluß ablenken soll. Dieses Dualismus im Innern wird man sich nun bei näherer Selbstbeobachtung leicht bewußt und kann sich unter Umständen dessen schämen. Diesen nicht abzuleugnenden Dualismus aber mit manchen Theologen als strikten Beweis für das Vorhandensein eines Gottes hinzustellen, ist ein falscher Schluß. Er beweist eben nur, daß unser Egoismus einen Gott und zwar einen persönlichen Gott wünscht und in weiterem Ausbaue dieser Idee, auch eine Unsterblichkeit der Seele schon das Bestehen einer Seele überhaupt ist eine petitio principii und einen Himmel, wo wir weiter fortleben und unsere lieben Abgeschiedenen wiedersehen dürfen. Welche ungeheure Kluft aber ist zwischen diesem egoistischen Wunsche und einem Beweise für das Bestehen dieser Dinge! Praktische und „reine^^ Vernunft können keinen Pakt schließen und die erstere ist nur eine Konzession an das schwache Fleisch!

4.

Die Wichtigkeit der kollateralen erblichen Belastung. Von jeher ist die erbliche Belastung mit Nerven-, Geisteskrankheiten, chro- nischen Leiden anderer Art, Selbstmord, Apoplexie etc. seitens der Eltern als sehr wichtig hingestellt und das mit vöUigem Recht. Dagegen wollen manche die sogenannte kollaterale Belastung, d. h. seitens der Seitenlinien und Geschwister gar nicht oder nur wenig bewerten. Das geht entschieden über das Ziel hinaus! Wenn die Eltern gesund sind, aber eins oder gar mehrere Geschwister des Unterauchten konstitutionell erkrankt sind, oder auch ein Onkel, eine Tante oder gar mehrere Glieder, so ist dies ein nicht zu

Vj*

196 Kleinere Mitteilungen.

unterschätzender Hinweis darauf, daß im Hauptstamm niclit alles in Ordnung ist, und wenn ein näheres Suchen vielleicht auch nichts bei den Eltern finden kann, so wird es vielleiclit bei den Großeltern oder deren Geschwistern gelingen. Eben lese ich folgendes schöne Beispiel kollateraler Erblichkeit in dem vortrefflichen Buche von A. MorselU: la tuberculosi etc. Torino 1907, p. 21. Verf. fand nämlich bei Frauen, deren Brüder lungenschwindsflchtig waren, einen hohen Prozentsatz (39,5 ®/o) anormaler Schwangersdiaften. Mit Recht fQgt er dem bei: ^das kann nicht Wunder nehmen, wenn man bedenkt, dass die Infektion (i. e. Schwindsucht) der Ausdruck der dystro- phischen Verhältnisse nicht nur der Kranken ist, sondern aller Personen, die mit ihnen von einem oder von beiden Erzeugern stammten. . .^ Selten sehen wir diese Verhältnisse so rein, wie in obigem Bdspiele. Der tuberkulöse Bruder etc. ist also ein Hinweis darauf, daß seine Geschwister wahrscheinlich einen wenig widerstandsfähigen Organismus geerbt haben. Sind gar mehrere Geschwister erkrankt, dann wird die Sache nodi viel wahrscheinlicher. Verwickelter dagegen ist es bei Erkrankung von Onkel oder Tante, doch auch hier kann ein Hinweis gegeben sein, der zu weiteren Nachforschungen und Untersuchungen auffordert^ besonders w^enn reichliche und wichtige Entartungszeichen vorhanden sind, die bekantlich mit Vorliebe bei körperlich oder geistig Minderwertigen auftreten.

0.

Determinismus und freier Wille. Trotzdem wohl alle irgendwie naturgeschichtlich und biologisch Gebildeten und Denkenden Deterministen sind, sogar unter den Juristen, so wird doch der freie Wille als Grund der Sti*afmöglichkeit noch festgehalten, und das mit Hecht. Aber diese schein- bare Inkongruenz der Auffassung wird von vielen nicht empfunden, von anderen verschiedentlich zu erklären versucht. Ich lese z. B. bei West er- m ar ck 1) folgendes : . . sieht der Determinismus die Person selbst in jeder Be- ziehung als ein Produkt von Ursachen an. Er nimmt uiclit an, daß irgend ein Teil seines Willens vor seiner Entstehung durch diese Ursachen be- standen hat; sein Wille wird nicht von ihnen gezwungen, er ist von ihnen hervorgerufen... wir unterscheiden zwischen dem ursprünglichen Selbst einer Person und dem Selbst, das teils angeboren, teils das Er- zeugnis äußerer Umstände ist Sein angeborener Charakter gehört zu seinem ursprünglichen Selbst. . . . Nach den Fatalisten ist der angeborene Charakter gezwungen, und daher kommt persönliche Verantwortung nicht in Frage. Nach den Deterministen ist der angeborene Charakter verursacht, und dies hat mit der PVage der Verantwortlichkeit nichts zu tun. Die sitt- lichen Gefühle haben mit dem Ursprung des angeborenen Charakters eben- sowenig zu schaffen wie die ästhetischen mit dem Uraprung des schönen Objekts."

Dagegen wäre nun so Manches einzuwenden. Der Mensch, der Charakter, ist sicher nur das Produkt von Endo- und Exogenem. Das Äußere kann aber nur auf das Angeborene insoweit einwirken, es entwickeln, unterdrücken

1) Weste rmarck: Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe. Bd. I, Leipzig, Klinkhardt, 1907, p. 277.

Kleinere Mitteilungen. 197

oder umwandeln, als es vorhanden ist. Nicht ursprünglich Vorhandenes kann unmöglich nachträglich erzeugt werden. Das alles bezieht sich also auf Intellekt und Gemüt. Es ist folglich falsch^ wenn Westermarck sagt; die sittlichen und ästhetischen Gefühle hätten mit dem angeborenen Charakter nichts zu tun. Sicher sind ihre Anlagen angeboren und werden nachher nur durch das Milieu beeinflußt. Wer keine Anlagen dazu mitbringt^ bleibt sein Lebelang ein sittlicher und ästhetischer Idiot. Da nun Alles der Anlage nach wenigstens angeboren ist und späterhin durch das Milieu beeinflußt wird, so ist sicher jede menschliche Handlung determiniert, die gute wie die böse; insofern ist sie nicht dem Menschen zuzurechnen, die Guttat nicht als Verdienst, das Verbrechen nicht als strafwürdig. Denn auch der Wille ist seiner Grundlage nach angeboren, seiner Stärke und Qualität nach« Warum lassen wir trotzdem die Zurechnungs- fähigkeit nicht fallen, da jeder freie Wille eigentlich Illusion ist? Wur müssen hier vom Durchschnittsmenschen ausgehen. Derselbe hat eine mittlere Beanlagung zum Guten und Bösen, eine mittlere Stärke des Willens etc. von der Natur mitbekommen. Bei der gleichmäßigen Schulerziehung und der Annahme, daß auch die Familien- erziehung eine leidliche ist, folgert man und das mit Recht daß der Betreffende in der Lage war, im Laufe der Zeit eine gewisse Summe von sittlichen Motiven und Hemmnissen in sich aufzunehmen, die dann in die Determinationskette mit ein- greif en. Geschieht das nun nicht, so strafen wir ihn, weil es ob stets? seine Schuld war, daß er sich keine Mühe gab, sie aufzunehmen und an- zuwenden, trotzdem er die Fähigkeiten dazu hatte. Ob nun letzteres wirk- lich immer zutrifft, könnte nur von Fall zu Fall entscliieden werden, was viel zu zeitraubend wäre. Wir können in der Praxis nur die pathologischen oder an das Pathologische streifenden Fälle ausnehmen und müssen für die große Masse eine Zu- rechnungsfähigkeit statuieren, die freilich strikte im wissenschaft- lichen Sinne nicht gilt, da alles deteminiert ist, auch der gute Wille. Jeder wird aber durch Selbstbeobachtung wissen, daß er nach ernstem Überlegen etc. gute Motive erlangen kann; das für und wider, das bei jedem reifen Entschlüsse entschieden mitspricht, zeugt dafür. Voraussetzung ist jedoch immer, daß er den betreffenden Willen, dies zu überlegen, zu tun, von der Natur mitbekommen hat. Trotz dieses Hin- und Herschwankens der Urteile bis zum Entschlüsse handelt es sich aber nicht um eine eigentliche freie Tat, sondern wieder nur um Determination, die gegeben ist. Wenn nun Westermarck einen scharfen Unterschied zwischen „Gezwungenem Sein*' und „Verursacht Sein^' des angeborenen Charakters macht; so halte ich dies für bloße Spiegelfechterei mit AVorten. Der angeborne Charakter ist durch endogene und meist nicht näher bekannte Ursachen erzeugt und als solcher gezwungen, etwas zu tun oder zu lassen, soweit nicht das Milieu modifizierend eingriff.

6.

Vorsicht bei der Stellung der Diagnose: Homosexualität! Während bekanntlich die Homosexuellen geneigt sind, auf oft nur leiclite

198 Kleinere Mitteilangcn.

Indizien hin Jemanden unter den Großen und Berühmten den Ihrigen bei- zuzählen, stemmen sich wiederum sehr viele Heterosexuelle mit allen Kräften dagegen, einen ihrer Lieblinge zum Urning ,,degradiert'' zu sehen, selbst wenn offenkundige Beweise vorliegen. Also hier gilt es wieder nicht die Mittelstraße zu verlassen und Vorsicht zu üben, andererseits aber dieselbe nicht bis zum äußersten Skeptizismus zu treiben. Wer z. B. unvordngenommen die Biographie und Gedichte Walt. Wliitmann's ^) liest, kann an dessen Homo- sexualität nicht zweifeln, ebenfalls kaum an der Michelangelo's. Nun hat s.Z. H. Fuchs^) versucht, Richard Wagner zu den Bisexuellen und zwar den piatonischen zu zählen, besonders auf Grund seiner Opern und auch seiner merkwürdigen Vorliebe für gewisse Stoffarten. Ich habe dies in meiner Be- sprechung seines Werkes (Das Archiv, Bd. XIII, p. 183), worin ich ausdrück- lich zur größten Vorsicht malmte, als ungenügend für eine Diagnose hin- gestellt. Jetzt versucht Pudor (in „Geschlecht und Gesellschaft, Nr. 3, 1907'^ wieder R. Wagner als Bisexuellen hinzustellen 3), und zwar gleichfalls und allein auf Grund seiner Briefe an eine Putzmacherin, worin er Tcrschiedene Stoffe bestellt. Nun genügt dies noch lange nicht zur sicheren Diagnose, sonst müßten z. B. alle Stoffetischisten Homosexuelle sein, was doch total verkehrt ist. Sie können es sein, brauchen es aber nicht zu sein! Eben- sowenig sind alle Frauen, die gewisse männliche Neigungen aufweisen. Uminden. Zur Diagnose gehören meist mehrere Momente, eines genügt nicht, höchstens wäre dies, wie ich das schon oft sagte die Art der Träume und zwar in Serien. Wie aber die Träume Richard Wagners etc. waren, wissen wir nicht. Pudor leistet sich jedoch an dem gleichen Orte noch folgenden Satz: „Ein Musiker von Talent muß, es ist nicht anders denkbar, in hohem Grade bisexuell veranlagt sein, denn um Musik in sich aufzunehmen, muß man hingebend wie ein Weib sein, unendlich viel mehr hingebend, als gegenüber den anderen Künsten, denn bei der Musik dringt der Ton auf dich ein, zieht in dein Inneres und lebt dort drinnen in dir. Also die verkörperte Receptivität setzt die Musik voraus. Deshalb macht die Musik ihre Jünger bisexuell, wenn sie es noch nicht sein sollten, und macht sie immer mehr bisexuell, wenn sie es sind ^' Die reine Phantasie! Pudor dürfte unter den „Musikern von Talent*^ (Defi- nition?) sicher nur eine kleine Zahl Homo- oder Bisexueller finden, wenn- gleich bekanntlich Künstler und Schauspieler insbesondere ein relativ starkes Kontingent dazu stellen. Man kann sich ganz in eine Musik hineinarbeiten, von ihr erschüttert sein, und braucht deshalb noch lange nicht bisexuell zu sein oder nur zu fühlen. In Bayreuth sitzen sicher die meisten „ge- aichten", tief empfindenden Wagnerianer und wie viele davon sind wohl bisexuell? Wie viele unter den Verehrern und Kennern von Beethoven, Brahms? Bei nur irgend einer kleinen gegebenen Anlage kann man sich ganz in einen Meister hineinarbeiten, mit ihm schwärmen und trauern und man

1) Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen etc. VII. Jahrg. (1905.) Bertz: Walt Whitmann, Bd. I, p. 153.

2) H. Fuchs: Richard Wagner und die Homosexualität. Berlin, Bare- dorf 1903.

3) Zitiert im „Monatsbericht des Wissenschaftl. humanitären Komitees'', Berlin, 1907, 1. Juli, S. 140.

Kleinere Mitteilungen. idd

ist docli nicht bisexuell geworden ! Ganz dasselbe bezieht sich auf Litteratur und anderes. Ist einer aber wirklich bisexuell, dann dürfte er es durch Musik nicht noch mehr werden, wie Pudor sagt. Zu beweisen hat er aber vor allem; daß die Musik jemanden bisexuell machen kann. Die Musik kann vielleicht auch ohne Text sexuell erregen, sicher aber nie homo-sexuali sieren. Man sieht, Pudor versteht von Homosexualität sehr wenig! Und was sagt seine Phrase, daß die Musik in das Innere des Hörers eingehe und drinnen lebe? Erweise mir den wirklich ethisierenden Einfluß der Musik nach ! Derselbe ist so wenig wirklich vorhanden, daß gerade unter großen Musikern genug elende Kerle waren und sicher erscheint auch Richard Wagner nicht als ein wirklich großer Charakter!

7.

Die Wertung des Weibes als Kulturmesser. In einer größeren Arbeit ^) hatte ich gesagt, daß für die Höhe und Gesundheit einer Kultur die Stellung des Weibes im sozialen Leben wahr- scheinlich noch der beste Wertmesser sei; sinke die Stellung, so sei das, meines Erachtens, vielleicht das beste Zeichen einer eingetreteneu Entartung des Volkes. Nun beweist allerdings Westermarck 2), daß für frühere Zeiten dies nicht gilt, indem mehrere der niedersten Rassen die Weiber höher achten als fortgeschrittenere Kulturen. Ich muß demnach meinen Satz ein- schränken, indem ich nun sage, daß Obiges nur für unsere europä- ischen Kulturen zu gelten hat Dann aber scheint mir diese These durchaus richtig zu sein. Gerade weil nun in den romanischen Ländern, besonders aber in Frankreich, die Frau immer noch hoch steht, kann ich mich durch andere Momente, wie: Abnahme der Körpergröße, Zunehmen der Zahl von Militäruntauglidien etc., besonders aber Abnahme der Geburten, nicht überzeugen, daß eine Degeneration hier schon eingetreten sei. Alle diese Momente machen sich auch im übrigen Europa und bei uns geltend und man hat sogar schon vom „sterbenden Europa^ gesprochen! So weit sind wir noch lange nicht! Die Verhältnisse liegen so kompliziert, daß wir die einschlägigen Verhältnisse gar nicht durchschauen und nur einzelne Punkte in dem dichten Gewebe von Ursachen und Wirkungen erkennen können. Foi-twährend wediseln diese Verhältnisse und so ist wohl sicher zu er- warten, daß auch gewisse alarmierende Zeichen nur temporär sind und wieder verschwinden können. Wir sterben noch lange nicht aus oder ab und die „gelbe Gefahr^ ist hoffentlich auch nur eine Chimäre.

8.

Die Feinde der Assoziations-Psychologie. Seitdem die Eng- länder die Assoziations-Psychologie zur allgemeinen Herrschaft gebracht haben und zwar zur Zufriedenheit der Meisten, hat es immer einige Köpfe

1) Näcke: Zur angeblichen Entartung der romanischen Volker, speziell Frankreichs. Archiv für Rassen- und Geselischafts-Biologic, Juli 1906.

2) Westermarck : Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe. Leipzig 1907, p. 529.

200 Kleinero Mitteilangen.

gegeben, die damit nicht übereinstimmten. In den letzten Jahren wetterte immer dagegen Moebius, ohne aber Besseres dafür hinzustellen. Jetzt tat es Cox in Utrecht^). Er wendet sich namentlich gegen Ziehen 's Leitfaden der physiologischen Psychologie und gegen dessen Assoziations-Pbychologie. Er behauptet nun, daß sie zu Unrecht besteht, wie schon die plötzlich entstandenen Gedanken, die „Einfälle'^, beweisen, und die Entsdilüsse, für die keine Motivierung sich finden lasse. Ebenso gelte es von den plötzlich auftauchenden Wahnideen Geisteskranker. Man könne dies nebenbei nur durch eine logische Verarbeitung unterhalb der Bewußtseinsschwelle erklären oder vielmehr so, daß die ^Instinkte'' plötzlich neue Gedanken lösen. Dem kann ich aber durchaus nicht ganz- beistimmen. Sicher ist die Assoziations- lehre nur Theorie, ein Schema, aber von heuristischem Werte. Sicher femer ist es, daß die wenigsten Menschen wissen, wie sie zu einem Entschlüsse oder Gedanken gekommen sind. Derjenige aber, der an Introspektion gewöhnt ist, wird in den meisten Fällen alle oder wenigstens einen Teil der Zwischenglieder und den Ausgangspunkt der Assoziationskette ausfindig machen, so daß per analogiam die große Wahr- scheinlichkeit besteht, daß dies, wenn nicht für alle, so doch für die meisten Fälle gilt. Wo man solches aber nicht nachweisen kann, liegt es immerhin nahe genug, emen ähnlichen, im Unterbewußtsein verlaufenden Prozeß anzunehmen. Daß Trieb, Instinkt plötzlich, wie Cox annimmt, „Einfälle'^, Wahnideen etc. erzeugen, d. h. ohne weitere Zwischenglieder, ist wohl möglicli, sogar wahrscheinlich, wenn auch sicher nicht so oft, wie er glaubt. Meist aber werden unterbewußt eme Reihe schnell ver- laufender Assoziationen doch vorliegen. Dasselbe gilt auch von den plötzlich auftauchenden Wahn-Ideen der Irren, die freilich meist ihre Latenz und daher gewiß auch Assoziationsketten haben. Jeder Trieb, Instinkt ist sicher stark betont und damit stehen die im Leben damit verknüpften Vorstellungen in Verbindung. Gerade das scheip- bare zusammenhanglose Reden Manischer läßt meist unschwer die Assoziationen erkennen. Dasselbe gelingt es öfters auch im Traume nachzuweisen. Also Cox ist sehr weit entfernt, die Assoziationslehre entthront zu haben! Freilicli lehrt diese nun gewisse Erfahrungen kennen, die sich immer wiederholen oder fast immer. Das Wunderbare daran ist nur, warum dies geschieht, da schließlich alle Erklärungen von ^ ausgeschliffenen Bahnen^, Berührungen von Protoplasmafortsätzen etc. doch nur Phrasen sind, die mit der Mode wechseln. Tatsache ist jedenfalls, daß keine Theorie bisher die mästen facta so gut erklärt, wie jene. Richtig ist allerdings, daß meist eine ge- mütlich stark betonte bewußte oder unbewußte Vorstellung (also auch der Instinkt) Ausgangspunkt einer Assoziationsreihe werden kann. Cox hat überhaupt öfters schnurrige Ansichten. So legt er z. B. einen übergroßen Wert auf die de Vries'sche Mutationstheorie '^j wonach ganz plötzlich, unerklärlich eine neue Tier- oder Pflanzenart entsteht und das ist für Cox nicht nur die Hauptursache des Entstehens von Arten und Varietäten, sondern auch der Fixierung und was für uns noch wichtiger ist! es soll dies auch bei der Vererbung und bei Entstehen neuer Eigenschaften der

1) Cox: AprioristiBohe en vrije Vorstellingen. Psychiatrische en Neuro- logische Bladen, 1907, p. 117 ss.

Kleinere Mitteilungen. 201

Fall sein. Bisher konnte man die de Vries'sche Theorie nur an einigen Pflanzen konstatieren. Kein Biolog wird derselben die Bedeutung zumessen, die Cox ihr beilegt. Niemand wird auch dieselbe auf geistige Eigenschaften, auf Instinkte anwenden, wie Jener, der geradezu von plötzlich neu auf- tretenden Instinkten spricht. Er leugnet imgrunde überhaupt Instinkte und glaubt, daß letztere, w^o man sie statuiert, der Umgebung ganz adaptions- fähig sind. Dazu ist zu bemerken, daß wohl niemand jetzt an In- stinkten zweifelt, wenn sicher auch nicht alles Instinkt ist, was dafür gehalten wird. Ebenso sicher ist aber auch zweitens, daß die Abänderungsfähigkeit eines Instinktes nur in sehr geringem Umfange stattfindet. Die Bienen z. B. bauen ihre Waben in ßseitigen Prismen seit der Urzeit. Hin und wieder kommen hier gewisse Unregelmäßigkeiten vor, die wir uns nicht erklären können, und diese sind nicht vererblich. Gerade das Bauen der Honigzellen ist aber eins der Hauptargumente für das Bestehen von Instinkt und wir sehen hier deutlich, wie es im Laufe von Zehntausenden Jahren sicli nicht verändert hat.

9.

AngeblicheVererbung der Neigung zur Ehelosigkeit. Cox >) in Utrecht hat die wunderbare Entdeckung gemacht, daß auch die Neigung zur Ehelosigkeit vererbt wird. Zu diesem Behufe gibt er die Stammbäume von 5 Familien und zeigt, daß hier auf männlicher und weiblicher Seite in der Tat viel mehr über 20 Jahre alte Personen unverheiratet waren, als es sonst der Fall in Holland ist. Er sieht das nun als Beweis dafür an, daß „durch unbewußt wirkende Beweggründe'^, die vererbbar als Neigungen auftreten, dies zu erklären sei. Meiner Ansicht nach ist der Schluß total verfehlt ! Der Gründe für das Nicht-Heiraten sind bekanntlich bei Mann und Frau unendlich viele. Cox hätte müssen jedes der Mitglieder jener 5 Familien genau nach den Gründen zur Ehelosigkeit fragen resp. untersuchen und er würde sicher gefunden haben, daß seine These unhaltbar, wenigstens durch seine sog. Beweise nicht erwiesen ist. Es gibt wohl Fälle bei Männern, wo die libido gering ist oder gar fehlt bei sonstiger Normalität und es läßt sich wohl denken, daß dies übertragen werden kann. Ebenso die nicht allzu- seltene Frigidität der Frau, die trotzdem gewiß nur selten ein Ehehindernis abgibt, da eben trotzdem Grründe für Eingehen der Ehe oft sprechen. Dann könnten auch gewisse vererbbare Abnormitäten an den Geschlechts- teilen vorliegen. An Abneigung durch homosexuelle Anlage, die eventuell vererbbar ist, kann gleichfalls gedacht werden und doch heiraten viele Urninge. Kurz und gut: Die Möglichkeit der Vererbung der Neigung zur Ehelosigkeit ist bei näherem Zusehen eine ganz außerordentlich geringe und darf in concreto nur unter Ausschluß aller anderen Möglichkeiten, die eine scheinbare Vererbung darstellen, be- wiesen werden, was eben Cox nicht getan hat

1) Aprioristische en vrije Vorstellingen. Psychiatrische en Neurologische Bladen, 1907, p. 127.

202 Kleinere Mitteilungen.

10.

Merk würdige Motivation o n an is tisch er Handlungen seitens Geisteskranker. Onanie ist in Irrenanstalten bekanntlich nicht selten, wenngleich lange nicht so häufig, als oft geglaubt wird, allerdings wohl häufiger, als sonst, da verschiedene zentrale und periphere Reizungen vor- liegen können, die libido nicht selten gesteigert ist, die erzwungene Abstinenz mithilft und moralische Hemmungen oft fehlen. Die Motivierung kann also eine sehr verschiedene sein, aber auch bei Normalen. Nun kommen bei Irren als neu hinzu gewisse Wahnideen und wohl bisweilen auch Impulse, d. h. also nidit bewußte Motive und Zwangsvorstellungen. Neulich kamen mir zwei interessante Fälle vor. Ein junger, ca. 30jähriger Kaufmann bietet das klassische Bild einer dementia praecox mit Wiüinideen und Halluzinationen. Er phantasiert dabei das Unmögliche vom Himmel herab und wechselt damit oft, wie es ja gerade bei jenen Irren so häufig geschieht. Er sagte nun einmal dem Arzte, der ihn nach der Ursache seiner häufigen Onanie frug: er sei Gott; Gott habe nun in sich Adam und Eva und letztere verlange die Befriedigung durch seine Onanie! Morgen wird er den Vorgang walirscheinlich anders motivieren und es ist mehr als wahrschemlich, dali es nicht das richtige Motiv war, sondern daß er dies nur durch momentanen Einfall als solches bezeichnete. Es ist das derselbe Kranke, der ausgeprägt den so seltenen Narcismus, d. h. das Insichverliebtsein zeigt Er besieht sich im Spiegel, in reflektierenden Fensterscheiben etc. mit seligem Gesichte, und mit einem Gefühle, das an sexuellen Genuß erinnert Ein anderer, älterer Kranker mit periodischer Manie motivierte seine Onanie damit, daß das Zeug heraus müsse, sonst steige es ihm in den Kopf. Das aber ist sicher keine Wahnidee, sondern ein weitverbreiteter Volksglaube und der „SamenkoUer^ ist ftlr viele die letzte Ursache des Irrseins. Ich bericlitete wohl schon einmal früher, daß eine Mutter beim Besuche ihres epileptischen Sohnes in der Anstalt eine Hure mitbrachte und die Bitte aussprach, ihren Sohn mit jener allein zu lassen, damit ihm der Same nicht in den Kopf steige, wovon sie jeden- falls Heilung der Krampfanfälle erwartete!

Von Dr. Heinrich Svorcik in Keichenberg.

11.

Das Anerbieten einer Prostituierten an einen Bordell- besitzen Ein Bordellbesitzer aus R., welcher sich über Ersuchen des k. k. Landesgerichtes Brunn bei mir wegen Kuppelei zu verantworten hatte, recht- fertigte sein Vergehen u. a. damit, daß ihn die Prostituierten regelmäßig um Aufnahme ins „Geschäft^' bitten und daß somit von einer Verführung ihrer- seits keine Rede sein kann. Er legte mir einige Beispiele solcher Briefe vor, von denen einer für die Leser des A. nicht ohne Interesse sein dürfte. Bezeichnend ist die Behauptung der Schreiberin, sie sei intelligent sowie die Beschreibung der eigenen Reize.

Kleinere Mitteilungen. 203

Der Brief hat einschließlich der Fehler folgenden Wortlaut:

Geehrte Gnädige Frau!!

Nachdem ich Ihre werte Adresse erfahren, so möchte ich bitten ob zu Ihnen kommen kann, daß ich erfahren habe, daß es bei Ihnen sehr gut sei; könnte mir Gnädige Frau vielleicht mittheilen, ob ich kommen kann ich bin zu jeder Zeit bereit zu fahren bitte Gnädige Frau;

Ich bin groß und rothblond strak gebaut 19 Jahre alt und schöne Zähne.

Ich war schon in große Häuser kann mit Gäßte fein sprechen und bin inteligent. Bitte Gnädige Frau mittheilen ob ich komen kann oder nicht aber ich bin 150 Gulden schuldig aber die Gnädige Frau brauclit sidi nicht zu fürchten daß ich daß nicht abzahlen kann, ich habe noch flberal sehr gut verdient und immer meine groß Schulden abgezahlt.

Bitte Gnädige Frau mit sofort zu schreiben ob ja oder nicht.

Achtungsvoll

E. L.

meine Adresse ist:

E. L. in 11. ü.-

Bitte mir sofort zu schreiben.

Bitte Gnädige Frau hier schicke ich mein Bild bin aber sehr schlecht getroffen da dies eine schnell Fotographie ist.

Von Privatdozent Dr. Hans Reichel in Leipzig.

12.

Reservatio mentalis eines Zeugen. Zu einem unerfreulichen Vorkommnis führte eine Verhandlung, die am 30. Januar 1907 vor der 6. Strafkammer des Landgerichts zu Leipzig stattfand. Eine Frauens- person war angeklagt, ihr uneheliches Kind an einem bestimmten Tage in erbarmungsloser Weise mißhandelt zu haben. Als sachverständiger Zeuge ffir die Folgen dieser Mißhandlung war von der Anklagebehörde der Dr. med. X. geladen!. Dieser bekundete unter Eid, er habe das Kind alsbald nach der angeblichen Mißhandlung nach Entkleidung des- selben im Bdsein eines Gendarmen sorgfältig untersucht und hierbei an verschiedenen Körperteilen, insbesondere auf dem Rücken und an den Schenkeln des Kindes Striemen, blutunterlaufene Stellen, Schwielen und dgl. festge- stellt. Die Angeklagte, welche die Beschuldigung allenthalben bestritt, be- rief sich zum Beweise ihrer Unschuld auf das Zeugnis eines von ihr sistierten Arztes Dr. Y. Unter Eid vernommen^ erklärte dieser mit Bestimmtheit, er habe das Kmd einige Tage nach der angeblichen Mißhandlung untersucht, hierbei aber keinerlei äußere Verletzungen am Körper des Kmdes wahr- genommen. Bei dieser Aussage verblieb er auch, als Dr. X., anderweit vorgerufen, seine eigene Vernehmlassung Punkt für Punkt wiederholt und

204 Kleinere MitteilaDgen.

>

überdies versichert hatte, es sei absolut ausgeschlossen, daß die Ver- letzungsspuren nach so kurzer Zelt schon sollten unsichtbar geworden sein. Zur Bekräftigung semer Aussage berief sich Dr. X. auf die Wahrnehmungen des bei der Untersuchung zugegen gewesenen Gendarmen. Der Gendarm wurde sofort beigezogen und bestätigte eidlich die Aussage des Dr. X. Der Vorsitzende hielt nunmehr dem Dr. Y. die Aussage des Gendarmen vor* gab semem Bedenken Ausdruck und richtete schließlich an den Zeugen noch die Frage: „Haben Sie denn das Kind vor der Untersuchung überhaupt ausgezogen?^' Auf diese Frage antwortete der Zeuge mit Nein! Die Angeklagte wurde verurteilt. (6 Bv. 8/07.)

Bespredmngen.

Dr. Hermann Pfeifer, Privatdozent an der Universität Graz: ,,Die Vorschule der gerichtlichen Medizin, dargestellt fQr Juristen. Mit 62 Abbildungen im Text. Leipzig F. C. W. Vogel. 1907. M. 8.00, geb. M. 9.25. Eine wichtige Erkenntnis des letzten Jalirzehntes hat gezeigt, daß der Kriminalist eine beträchtliche Menge medizinischer Kenntnisse brauclit, wenn er seines Amtes richtig walten soll. Er bedarf ihrer gewiß nicht um selber zu pfuschen, sondern um den Arzt, seinen wichtigsten und unent- behrlichsten Sachverständigen zu verstehen, ihn fragen und ausnützen zu können, ohne ihn mit törichten Anliegen zu quälen, kurz: um mit dem Arzt zusammen gedeihliche Arbeit verrichten zu können. In dieser Richtung hat die gerichtlidie Medizin namentlich in letzter Zeit unabsehbar viel ge- leistet und die großen modernen Lehrbücher dieser Disziplin sind von den Lehrbüchern keiner anderen Wissen chaft übertroffen. Aber sie sind nicht leicht zu verstehen, weil sie wegen der Fülle und Schwierigkeit des Stoffes nicht populär, für den Juristen geschrieben sein können. Diesfalls Hilfe und Erleichterung zu schaffen, ist der Zweck des Pfeifferschen Buches. Es ist kein Kompendium der gericlitlichen Medizin, kein Nachschlagebuch für unverstandene Ausdrücke, sondern es will dem Laien, welcher irgend ein großes Lehrbuch der gerichtlichen Medizin zu studieren beabsichtigt, eine kurze aber genügende Darstellung der wichtigsten medizinisdien, chirurgischen, anatomischen, histologischen, physiologischen Orundleliren bieten, deren Besitz ihm das weitere Verständnis möglich macht. Das ist dem Ver- fasser in glänzender Weise gelungen. Überall verständlich, nirgends banal, überall knapp, nirgends zu kurz, vollkommen modern und nirgends mehr voraussetzend als normale Gymnasialbildung, allerdings aber auch guten Wille, das Gebotene aufzugreifen. Es kann jedem jungen Kriminallisten nicht dringend genug geraten werden, dieses ausgezeichnete Werk zu studieren nnd dann erst ein großes Lehrbuch der gerichtlichen Medizin vorzunehmen er hat davon gewiß unschätzbaren Nutzen für seine ganze Arbeitszeit.

Hans Groß.

2.

Dr. med. Moritz Aisberg: „Die Grundlagen des Gedächt- nisses, der Vererbung und der Instinkte.'' (Aus „Grenz- fragen der Literatur und Medizin'', 2. Heft). München 1906. E. Reinhardt Für die Frage des Gedächtnisses interessieren wir uns heute in Bezug

auf Zeugen gerade so, wie für die der Vererbung beim Verbrecher. Es

206 Besprechongen.

kann daher die hauptsächlidi auf Richard Semons ^Mneme'' znrflckftthrende, mit einer Menge aufklärender Einzelheiten nnd Beispiele versehene Arbeit dem Kriminalpsychologen zur Lektüre empfohlen werden. Hans Groß.

3.

Dr. M. Rumpf, Gerichtsassessor: ,,Gesetz und Richter.** Ver- such einer Methodik der Rechtsanwendung. Berlin 1906. 0. Liebmann.

Der Verf., der über ausgebreitete Belesenheit und Kenntnis der Ju- dikatur verfügt, hat es sich zur Aufgabe gestellt, zu erheben, wie der Richter das Gesetz auslegen und anwenden soll. Diese Frage läuft auf die Erörterung hinaus, wie man vorzugehen hat, wenn das Gesetz Lücken aufweist, und wie, wenn seine wörtliche Anwendung im dnzelnen Fall Härte, Ungerechtigkeit, selbst unsinnige Entscheidung ergeben müßte. Ich glaube, daß der Verf. die strafrechtliche Literatur mehr berücksichtigen hätte sollen; er meint, man habe bisher in der Frage: Welche psychischen Faktoren im Auslegen in Tätigkeit treten, noch kein Problem „gewittert^. Ich meine, daß die viele Arbeit, die der subjektiven Kriminalpsychologie, der Psychologie des Richters, Sachverständigen, Zeugen etc. gewidmet wurde, das Problem doch „gewittert^' haben muß.

Im allgemeinen geht die vorliegende Arbeit darauf hinaus, daß der Richter denken muß; wenn Verf. darauf besteht, so hat er ohne Zweifel recht, aber in eine Methodik läßt sich das Denken und gescheidt sein nidit zwängen. Wo uns das Gesetz verläßt, wo die Wissenschaft nicht hilft, wo die Interessenabwägung keine Klärung, schafft, da entscheidet man, wie es vornehmer ist. Mehr läßt sich mit allem Rechnen, Kombinieren und Abstrahieren auch nicht finden.

Seltsam berührt mitunter die Ausdrucksweise des Verf., der von einem „unbegreiflichen Mnß^*, der „Flüssigkeit der Grenzen^ spricht, etwas „vieler- wärts'^ antrifft und von „ungefährem Wissen*' redet Hans Groß.

4.

Bresler: Religionshygiene. Halle, Marhold 1907, 55 S. 1 Mk.

Bisher blieb der Arzt der Reh'gion gegenüber untätig. Seitdem man aber letztere auch psychologisch zu verstehen lernte, mußte der Arzt auf den Plan treten, und so konnte Verf. eine „Reiigionshygiene'^ befürworten. Er weist nacli, daß ein „einheitliches, allgemeines Erfassen Gottes nicht denkbar^' sei, gemeinsam bleibe nur das Verlangen nacli Gott, alles übrige ist nur menschliche dogmatische Zutat. (Selbst dies „Verlangen^' nacli Gott ist aber noch lan^e kein Beweis für Gott ! Ref.) Die Zahl der Zweifler an den Dogmen wird immer größer; das religiöse Bedürfnis aber ist ein „feineres, edleres*^ geworden. Die Psycliiatrie soll nun die „Verjüngung der Religions- pflege und Gesundung des religiösen Lebens in die Wege leiten'^, da sie ja nur angewandte Psychologie ist. Verf. weist nacli, daß die Psychiatrie und Neurologie meist die wahre Religion als solche nicht nur anerkenneor sondern sogar als Vorbeugungsraittel gegen Psychosen empfehlen. Die ge- reinigte Religion wird aber auch von vielen Philosophen und Theologen ge-

Besprechungen. 207

predigt Verf. denkt sich die Religion als auf „Gesetze der angeschlossenen Vorstellungen'' aufgebaut; d. h. unsere Vorstellungen bedürfen einer Er- gänzung über metaphysische Dinge (ob durchaus stets? Ref.), welche dann stark gefühlsbetont werden. So wird die Reli^on eine »^psychologische Realität. Jesu Lehre sei ein Pantheismus (? Ref.) mit erfahrungsreicher Religionspsychologie. Dann wird die Letztere beleuchtet und als die 2 Ziele der Religionshygiene bezeichnet endlich Verf. 1. die Anerkennung der Natur- wissenschaft durch die Reli^onswissenschaft und 2. die Beseitigung der Beligionspfuscherei. Leider wird kaum näher darauf eingegangen.

Dr. P. Näcke.

5.

Laquer: Der Warenhaus-Diebstahl. Marhold, Halle, 1907, 43 S., 1 Mark. Nach den Abhandlungen aus den Nerven- und Geisteskrankheiten.

Verf. stellt zunächst das, namentlich durch die Franzosen Bekannte über obiges Thema zusammen. (Referent bemerkt, daß Dubuisson in seiner Arbeit psychiatrisch unzulängliche Diagnosen macht.) Auch die Deutschen haben manches beigesteuert Verf. erwähnt aber auch die noch unbekannten Warendiebstähle seiteiis der Kinder, nicht bloß solche an Automaten. Alle Beobachtungen von Warenhausdiebstählen zeigen, daß es meist Frauen aus besserem Stande sind, welche gewöhnlich krankhafte Zustände darboten. Die Polizei sollte die Warenhäuser genau bewachen; offene Auslagen bieten stets große Gefahren. Jeder Fall sollte psychiatrisch untersucht werden, auch bez. des gleiclizeitigen Bestehens von Menstruation, Schwangerschaft und Klimacterium. Endlich hätten die Ärzte festzustellen, ob bei leicht Neu- rasthenischen und Hysterischen eine mildere Auffassung Platz zu greifen hat oder ob nicht einfach unlautere Motive den meist wohlüberlegten Dieb- stählen zu gründe liegen. Ref. bemerkt, daß Diebstähle als Zwangshandlungen sicher vorkommen (gegen Dubuisson!), ebenso auch impulsives Handeln^ also ohne jegliches Motiv. Dr. P. Näcke.

6.

Estadistica de la Adroinistracion de justicia en lo criminal durante el ano de 1001 en la Peninsula e islas adyacentes publicata por el Ministerio de Gracia y Justicia. Madrid, 1907.

Auch Spanien macht Fortschritte. Wie uns das vorliegende, einge- gehende Heft beweist, haben fast alle Hauptverbrechen im Jahre 1901 gegen- über dem Jahre 1900 und dem Quinguenium 1896 1901 abgenommen; desgleichen die Zahl der Selbstmorde. 1901 wurden 20 Personen zum Tode verurteilt, die Hinriclitung selbst aber nur in 7 Fällen ausgeführt. Die meisten Delikte gegen die Prrson fanden 1901 in der Provinz Logi'oiio (Norden) statt, überhaupt noch mehr im Norden als im Süden, was man a priori nicht annehmen sollte. Die gegen das Eigentum im Norden ganz tiberwiegend und hier wieder in der Provinz Salamanca. Die meisten An- alphabeten finden sich noch im Süden. Dr. P. Näcke.

208 Besprechungen,

<.

Zeitschrift für Religionspsychologie. Grenzfragen der Theologie und Medizin. Halle, Marhold 1907. Jahrgang 10 Mk.

Herausgeber sind Oberarzt Dr. Bresler und Pfarrer Vorbrodt Zweck: Behandlung 1. der Religionspsychologie, 2. der Anomalien des religiösen Lebens und 3. die Ermittelung der Gesetze einer gesunden Keligionspflege. Bisher war leider die Religion nicht auf die psychologisdie Basis hin unter- sucht worden und doch ist das absolut nötig, soll die Religion unter den Dogmen nicht erstarren. Mitarbeiter sind vorurteilslose Greistliche und vor allem Psychologen und Psychiater. Das 1. vorliegende Heft führt sich sehr gut ein. Vorbrodt behandelt sehr tief und geistreich die Grundlagen der biblischen Religionspsydiologie und Freud die Ähnlichkeiten zwischen Zwangshandlung und Religionsübung. Dann folgen kleine Aufsätze und Notizen. Wir aber rufen ein herzliches Willkommen dem neuen, sehr zeitgemäßen Unternehmen zu. Dr. P. Näcka

8.

R u d e c k : Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland. 2. vermehrte und verbesserte Auflage 1905. Berlin, Barsdorf. 514 S. 10 Mk.

Ein wundervolles Buch für jeden Gebildeten, besonders für den Kulturhistoriker! Möge es weitere Auflagen erleben! Verf. behandelt die öffentliche Sittlichkeit im Verkehr (Badewesen, Prostitution, Kleidung, Vergnügen und Spiele, Stammbücher, Erziehung, Sprichwörter und Volks- lieder), bei Festen (die großen Jahresfeste, Hochzeiten), im Rechte (Rechts- bücher, gesetzliche Bestimmungen), in der Kirche (Skulpturen und Bilder, Kirchenlieder, Predigten, Erbauungsliteratur, Hexenglauben), endlich in Kunst und Literatur (Theater, Flugschriften, Literatur). Aller geschieht in großen Zügen, mit guter Dokumentierung, einem vorzüglichen Register; jedem Hauptabschnitte folgt eine Zeittabelle, die den Fortschritt anzdgt. Die Illustrationen sind wertvoll. Unter öffentlidier Sittlichkeit (Schamhaftig- keit) versteht Verf. die wirklichen Sitten, auf das Sexuelle bezüglich, die aber nicht als unsittlich gelten. Die Durchführung und die Kritik sind geist- reich, die Sprache schön. Viele Vorurteile werden zerstört, vor allem das, daß weniger die fortschreitende Kultur und die Kirche oder Ge setze die Sittlichkeit, die Schamhaftigkeit emporgehoben, als vielmehr materielle Gründe. Verf. zeigt femer von neuem, daß das Scham- gefühl nicht angeboren, sondern anerzogen, daß die Geschichte der Moral eine der Unmoral ist, daß die Einführung des römischen Rechts ganz neue Werturteile einführte und allmählich „anzüchtete^, allerdings nur unter Einwirkung materieller Erwägungen. Die Kirche hat nicht so viele Verdienste für die Hebung der Sittlichkeit, als ihr immer nachgesagt wird. Schließlich „handelt es sich doch überhaupt nur um einen Kompromiß; nicht um Unterdrückung der Sexualität in der Öffentlichkeit, sondern um eine Ordnung. ... In der Öffentlichkeit sind wir heute das Anblicks der Sexualität entwöhnt . . .^ Ob wir deshalb aber w^ahrhaft sittlicher geworden sind als unsere Altvordern, das möchte Ref. billig bezweifeln! Dr. P. Näcke.

X. Ober die mexikanische Gaunersprache (Cal6 mexicano).

Von

AmtBgerichtsrat Sommer.

Die Gaunersprache, die Art und Weise wie der Verbrecher, nament- lich der Gauner, also derjenige, der gewerbsmäßig Verbrechen gegen das Eigentum verübt, sich ausdrückt, ist von Eulturhistorikem wie von Sprachforschem zum Gegenstand des Studiums gemacht worden. Aber auch für den Kriminalisten, den Untersuchungsrichter ist die Kenntnis der Gaunersprache von großem Interesse. Professor Groß, bekanntes Handbuch für Untersuchungsrichter enthält u. a. ein kleines Wörterbuch der deutschen Gaunersprache. Dabei wird auch der Gaunersprache nichtdeutscher Völker gedacht, Engländer, Italiener, Franzosen, Slaven, Ungarn. Merkwürdigerweise wird der spanischen Gaunersprache keine Erwähnung getan. Der spanische Schriftsteller Salillas hat in einem, wenn ich nicht irre 1893 erschienenen Buche El Delincuente Espanol die spanische Gaunersprache behandelt. Dem spanischen Verbrechertum nach jeder Richtung hin verwandt ist das Verbrechertum Mexikos, das wie ein Franzose bemerkt hat, vielleicht das verbrecherischste Land der Erde ist Ein höherer Polizeibeamter Mexicos, Polizeidirektor Roumagnac hat sich zur Aufgabe gestellt, in einem auf eine Beihe von Bänden berechneten Werke Por los mundos del Delito *) die Verbrecherwelt Mexikos vom psychologischen und soziologischen Standpunkt auf Grund persönlicher Erfahrungen und eigener Untersuchungen auf wissenschaftlicher Grundlage zu schildern. Im ersten Band ist ein kurzer Abschnitt der mexikanischen Gauner- sprache gewidmet und ein kleines Wörterverzeichnis beigegeben, das der Verfasser in einem späteren Bande, der das Gefängnisleben in Mexiko behandeln soll, noch zu vervollständigen gedenkt.

1) I. Bd. Lob criminales in Mexico. Mexico Tipofn-.-El Fenix 1905. II. Bd. Crimenes sexuales y pasionales Mexico Libr. BounDt 1906. .

AfDhir fflr Krlmioalanthropoloffie. 28. Bd. 14

210 X. SOMHEB

Bei der internationalen Natar des Gaunertums und der Bedeutung, die die Sprache als Äusserung des Seelenlebens hat, dfirfte die Mit- teilung des kleinen Wörterbuches hier von Interesse sein, zumal das in Mexiko erschienene Buch Roumagnacs zwar nicht teuer, aber um- ständlich zu beschaffen, überdies die spanische Sprache bei uns wenig verbreitet ist

Wie das Gaunertum international ist und mit der Heimat nur einen loseren Zusammenhang bewahrt wie das seßhafte Bürgertum, so hat auch die Sprache des Gaunertums viele fremde Bestandteile in sich aufgenommen. Sie gleicht gewissermaßen den aus bunten Lappen zusammengesetzten Lumpen, in die der Gauner seine Glieder hüllt. Es ist bekannt, ein wie großer Teil der deutschen Gauner- sprache dem Hebräischen entstammt, auch französische Worte oder Sprachstämme sind bekanntlich zahlreich darin vertreten. Aus den örtlichen Verhältnissen erklärt es sich leicht^ daß die deutsche und die mexikanische Gaunersprache wenig Zusammenhang aufweisen können. Gleichwohl scheint dieser Zusammenhang nicht vollständig zu fehlen. Der Ausdruck Calo, mit dem die spanische Sprache das Botwelsch der Gauner bezeichnet, findet sich auch (nach Groß kleinem Wörterbuch) in der deutschen Gaunersprache. Dort bezeichnet Galo schwarz »> Zigeuner. Die mexikanischen Gauner selbst bezeichnen ihre Sprache als Sirigonzia oder Jerigonza (Jargon). Das Wort Lima ■» Hemd findet sich in der gleichen Schreibweise und der gleichen Bedeutung in dem Wörterbuch von Groß wie in dem von Boumagnac, dürfte also wohl gleichen Ursprung sein. Die Gaunersprache kenn- zeichnet sich dadurch, einmal daß sie eine Menge Ausdrücke enthält denen in der Alltagssprache keine Bedeutung entspricht deren Über- setzung man vergebens in irgend einem Wörterbuch suchen würde, die zum Teil fremden Sprachen entstammen, zum Teil aus Wörtern der eigenen Sprache so verdorben sind, daß die ursprüngliche Be- deutung nicht mehr zu erkennen ist Eine andere Klasse von Aus- drücken dagegen findet sich gleichlautend in der Sprache des Alltags- lebens ebensowohl wie in der Gaunersprache, aber mit v^rschied^er Bedeutung. Das gilt ja auch von anderen Fachsprache. Wie in der Jägersprache Schweiß, Wolle, Wechsel, Löffel usw. eine andere Be- deutung haben wie in der Alltagsspraehe, so haben auch die Gauner- sprachen eine Menge Ausdrücke, die an sich unverfänglich in dem Milieu der Gaunersprache ihre besondere d. h. hier verbrecherische Bedeutung gewinnen.

Ein hervorstechender Zug der mexikanischen wie anderer Gaunersprachen ist der groteske Humor, der darin oft derbzotige

über die mexikanische Gaunersprache (Galö mexicano). 211

Formen annimmt, was wiederam auf den engen Zusammenhangs zwischen Verbrechertum und Prostitution hinweist. Zuweilen blitzt selbst ein Funke Poesie durch, so wenn der mexikanische Gauner die Leintücher Palomas nennt, was eigentlich Tauben bedeutet, dann in übertragenem Sinne die weißen Schaumkämme der Wellen, die „Bosse des Neptun^. Betrunkensein gibt der Oaunerhumor mit „dichten^ wieder (trovar, derselbe Stamm wie in Troubadour). Während der deutsche Gauner von einem Genossen, der ihn verrät^ sagt: „Er hat gepfiffen^, sagt der Mexikaner: ^Er hat Wasser ge- spritzt^ oder „Fische ausgerufen'' (von dem Straßenruf der Fisch- händler, die mit gebratenen Fischen handeln, hei^leitet). Zahlreiche Benennungen weist die Gaunersprache für diejenigen Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft auf, mit denen den Verbrecher sein Hand- werk am meisten in Berührung bringt : mit den Polizisten. Der deutsche Gauner bezeichnet den Polizisten als IltiS; den wegen seiner Blut- und Mordgier im Tierreich gefürehteten Bäuber, als „Lampe*^ oder „Licht^, die Polizei als „Greiferei'^ Der Mexikaner nennt den Wächter der heiligen Hermandad „Greifer'' (Garfin), daneben schimpft er ihn „Uhu" (Tecolote) oder „Eidechse" (Tequis). Das Polizeiamt be- zeichnet er als „Schlächterei" oder als „Galgen". Nachstehend gebe ich nun das Wörterbuch wieder. Bei denjenigen Ausdrücken, die sich übersetzen lassen, ist eine Übersetzung beigefügt. Wo das nicht der Fall ist, entspricht dem Ausdruck keine Bedeutung in der spanischen Sprache. Der Verfasser hat mir dabei eine Reihe dankenswerter Aufklärungen gegeben.

Instnunente, Werkzengre, Waffen, KleldmiKssttteke u. s. w.

Chinampinas (Feuerwerkskorper für Kleine Glasstücke, um Börsen abzu-

Kinder (Schwärmer, Frösche), san- schneiden oder im Geeicht zu ver-

grias (Aderlaß). wunden.

Danza (Tanz), Charrasca (Säbel), fUero Messer.

Sutia oder shutia. Schneidendes Werkzeug, Dolch, Messer.

Concha (Muschel), pozo (Brunnen). Börse.

Mondovero ojo (Auge).

Molleja (Magen der Vögel), l Uhr.

Maquina (Maschine).

Amarillo (Gelber). Goldne Uhr.

Bepi. Repetieruhr.

Rienda (Zügel). Uhrkette.

Tuje, vellon (Fließ). Mexikan. Kittel.

Lima (Feile). Hemd.

Cabailoe (Pferde). Unterhosen.

Soprepuesta (Umhang). Jaquet.

14*

212

X. SOMMEB

Degolla (Gaülotine).

Tnbncos (Statzen, Büchse).

Cascorros.

Largas (Aaswdtesohleo, Stiefelhölzer).

Chicharrones, tortagoe.

Yeraniego, tando.

Caero (Hant, Leder), Papelera (Zettel,

Papier). Lisa.

Jaola (Käfig).

Escopidora (Speier), Cohete (Rakete). Güicho. Palomas (Tauben; weiße Schaumkämme

der Wellen), Campanas (Glocken). Colebro f Schlange, ähnl. Boa). Chimichi.

Weite Westen.

Hosen.

Schuhe.

Schlüssel.

VorfaängschI5sser.

Hut

Brieftasche.

Ein Seidenstoff.

Haus.

Pistole.

Tuch.

Bettücher.

Weißer Frauenunterrock.

Umschlagtuch.

Branntwein.

Personen. Gesehleehter. Körperteile.

Jano.

Güisa, jafia.

Piusa.

Lumnia.

Sarra.

Rupante.

Riilo.

Cuatatal.

Gachos.

Tecolote (Uhu), dorais, cuico, garfln

(Greifer), tequis (Eidechse), choco. Pasma. Gorri. Maje, madei-a (Holz) jarano; primo

(Vetter; auch Grande von Spanien),

tio (Onkel). Cruzadora (Kreuzerin). Pcnsadora (Denkerin; maceta de los

piojos (Blumentopf der Läuse). Atlayos.

Saboreadora (Leckermaul). Baisas.

(,'olumnas (Säulen). Masteo. Perdi^o. Gummarros.

Mann.

Frau.

Geliebte.

Prostituierte.

Mutter.

Dieb.

Gauner.

Pferd.

Falsche Zeugen.

Gendarm.

Sichcrheits Wächter.

Bursche.

Der zu Bestehlende. Gimpel.

Ladendiebin. Kopf.

Augen.

Mund.

Hände.

Beine.

Männlicher Geschlechtsteil.

Weiblicher Geschlechtsteil.

Hoden.

Einige Ausdrücke.

€abear gacho. Mocar, refinar.

Das sagen, was ein Anderer tut.

Essen.

über die mexikanische Gannereprache (Cal6 mexicano).

213

Sonar (tönen; ein Instrament spielen).

öffnen.

Trovar (Finden, Dichten).

Trinken, sich betrinken.

Cabear.

Wissen, sehen, vermuten.

Berbear.

Sagen.

Aparamudar.

Hehlen.

Rajar lefia (Holzspalten),

echar agua \

(Wasser spritzen). Cantar juiles \

Bekennen, Angeben.

(Fische ausrofen zmn

Verkauf;. 1

.

Versar (studieren).

#

Verkehren mit Jemand.

Hostigar (necken, züchtigen).

Den Beischlaf vollziehen.

Rupar.

Stehlen.

Trincar (Anknüpfen).

Festhalten, ergreifen.

Arapar.

Geben.

Sutiar, shutiar.

Verwunden m. schneidendem Werkzeug,

Pelarse (sich hären).

Weggehen.

Guasiar.

Entfliehen.

Batir (Ausstoßen).

Gebären.

Archivar (ins Archiv legen).

Ins Gefängnis stecken.

Einige Eigenschaftswörter.

Asoodi.

Etwas Gutes.

Furris.

Etwas Schlechtes oder Häßliches.

^el, nadando.

Nein ; nicht zu tun.

Xido (chido).

Gut, hübsch.

Chupido.

Klein.

Arangön.

Groß.

Perruco.

Alt

De pintada.

Eilends.

Mayate (Mistkäfer).

Aktiver Päderast

Caballo (Stute), mula (Maultier).

Passiver Päderast.

Fürwörter,

Zahlen n. s. w.

Yimis.

Ich.

Yutis.

Du.

Tesco.

Er.

Junio.

Einer.

Junio bati.

Zwei.

Trofo bati.

Drei.

Gefängnisse.

Chero gacho (gebeugt), tabique (Ver- Gefängnis.

schlag). Palacio blanco (Weißer Palast). Gefängnisanstalt.

Camiceria (Schlächterei), patibulo Polizeiamt.

(Galgen).

Gehörte Ansdrtteke.

Vamos ä mocar. Gehen wir essen.

Vamos ä sonar un chicharron. Gehen wir ein Vorhängschloß erbrechen.

214

X. SoncER

Arapame la satia para satiar ä tesoo.

Eatä trovo.

No cabea.

Oaasia de pintada.

Berbeale ä tesco.

No vayas ä rajar lefia.

Chane, chane.

Gieb mir das DoJehmeaser, am den zn

stechen. Er ist betrunken. Es geht nicht €reh eilends weg. Sage diesem.

Daß dn nicht die Wahifaeit sagst! Schweig!

Art IHelMtlhle sossiillilireii*

Irae de concha. Embaisar el pozo. Dar ctiichaiTon (Orgel spielen). Sonar el tortngo.

Dar de Christo (Einen wie Christas miß- handeln, d. h. stoßen, schlagen). Dar de rosquete (Brezel machen). Dar de coscorron (Schlag). Dar de parusca. El retorcipon (die Winde).

Descabezar (enthaupten).

Taschendiebstahl gegen Fraaen verüben. Taschendiebstahl gegen HSnner verüben. Ein Haus aufbrechen. Ein Voriiängschloß öffnen. Eine TOr einstoßen.

Eine Wand durchlöchern.

Ein Dach durchlöchern.

Mit Gewalt rauben.

ührdiebstahl , indem man die Kette

bricht. Uhrdiebstahl, indem man den Ring bricht

XI. Simulation von Paralysis progressiva.

Mitgetoat von JÜBr. Ant. Glos, ünterBUchungsrichter.

Am 30. Jänner 1900 brannte dem Omndbesitzer K. Z. in 6. eine Scheuer ab, wobei auch eine Scheuer eines Nachbarn ein- geäschert wurde. Dba Strafv^ahren wurde ursprünglich gegen un- bekannte Täter eingeleitet und K. Zuy als Zeuge einvernommen, machte detaillierte Angaben über den Wert und die Menge der ihm angeblich verbrannten Vermögensstücke. Im weiteren Verlaufe der Untersuchung wurde der Verdacht r^ge, daß K. Z. falsche Angaben machte und seinen Schaden höher bezifferte; er wurde nun als Beschuldigter ein- v^mommai, wußte aber geschickt sich zu verantworten. Plötzlich verschwand er, und erst nach Jahresfrist stellte er sich selbst dem Gerichte und wurde, da inzwischen seine steckbriefliche Verfolgung eingeleitet war, verhaftet. Er will in Amerika gewesen sein, wo er bei seinem Schwager bessere Pflege suchen wollte, da er krank ge- wesen sei Er sei nicht mehr in der Lage, detaillierte Angaben zu machen, da er infolge eines im Jahre 1899 durchgemachten Typhus an Vergeßlichkeit leide.

Nach erhobener Anklage wegen Betrug und Brandlegung brachte die Verteidigung den Antrag auf Untersuchung des Geisteszustandes des Inkulpaten ein, worin insbesondere dessen abnorme Vergeßlich- keit betont wurde. In der Familie des Inkulpaten litt eine Schwester an Geisteskrankheit, sie starb auch in der Irrenanstalt, sonst lieferte die Anamnese nichts Belastendes. Den Gerichtsärzten, die mit der Untersuchung des Geisteszustandes des Inkulpaten betraut wurden, erscheint er apathisch, gleichgültig, er weiß sein Alter nicht anzu- geben, desgleichen das Jahr des Brandes; weiter konstatierten die Oerichtsärzte schwankende Haltung, träge reagierende Pupillen und gesteigerte Patellarreflexe. Inkulpat lag den ganzen Tag im Bette, ohne ein Wort zu sprechen. Die Sachverständigen erklärten, daß

216 XL Glos

Inkulpat gegenwärtig an progressiver Paralyse leide, zur Zeit der Tat aber zurechnungsfähig gewesen sei.

Am 31. Mai 1902 wurde K. Z. 'als schwer leidend und im Sterben liegend gegen Gelöbnis enthaftet. Sein Zustand wurde weiter beobachtet; anfangs wird berichtet, daB sich dieser nicht ändere, der Kranke sei bettlägerig ; später wird gemeldet, er verlasse das Zimmer, mache aber den Eindruck eines blöden und menschenscheuen Indi- viduums.

Über Auftrag des Gerichtes stattete der Stadtarzt Dr. J. ihm unvermutet einen Besuch ab und fand ihn angezogen im Bett Der Arzt konstatierte hochgradigen Stumpfsinn und beantragte Beobach- tung in einer Irrenanstalt Da nach einer gewissen Zeit gemeldet wurde, daß der Zustand des Inkulpaten sich besserte, wurde er neuerlich den Gerichtsärzten des Gerichtshofes vorgestellt Diese kon- statierten unsicheren Gang, ausdruckslosen wie blöden Blick, apa- thisches Benehmen und gelangten zum Schlüsse, daß Inkulpat seit Jahren geisteskrank, ein beginnender Paralytiker und auch zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig gewesen sei.

Das Strafverfahren wurde eingestellt und E. Z. über Antrag seiner Frau unter Kuratel gestellt. Der Verhängung der Kuratel ging eine neuerliche Untersuchung des Geisteszustandes des K. Z. durch andere Gerichtsärzte voran, welche gleichfalls die Paralysis pro- gressiv mit vollständiger Verblödung konstatierten. Die Versicherungs- summe wurde dem K. Z. nunmehr anstandslos ausgezahlt und seine weitere Beobachtung eingestellt

Am 16. November 1905 strebte K. Z, mittels eines Gesuches die Aufhebung der Kuratel an, und führte er an, daß gegen Ende 1903 sein Zustand sich gebessert habe, er habe selbst die neuen Bauten ausgeführt und auch eine Zeitlang in Wien als Maurer gearbeitet Seine Arbeitsgenossen bezeichneten ihn als einen tüchtigen, sehr ver- nünftigen Arbeiter, der den Eindruck eines zwar nervösen, aber sonst durchaus normalen Menschen mache. Man vernimmt auch Leute seiner Gemeinde, wo man ihn allgemein für einen Simulanten hält; ein Zeuge betont seine besondere Schlauheit und Verstellungskunst, der er auch seine Superarbitrierung vom Militär zu verdanken habe. Der Geisteszustand des K. Z. wurde neuerlich durch jene Gerichts- ärzte, die für die Kuratelsverhängung das Gutachten geliefert haben, untersucht; diese fanden an ihm nichts Abnormes und nennen ihn einen recht intelligenten Menschen, der aus den schwierigen psycho- logischen Prämissen richtige Schlußfolgerungen zieht Die Gerichts- ärzte finden keinen Anhaltspunkt für Paralyse und meinen, daß die

Simulation von Paralysia progi-eesiva. 217

damalige GeisteBstörung entweder erst während der Flacht entstand oder vorgetäuscht wurde. Die Kuratel ttber K. Z. wurde aufgehoben; das hatte zur Folge, [daß nunmehr das Strafverfahren wieder aufge- nommen und K. Tu verhaftet und eine neuerliche Untersuchung des Geisteszustandes desselben durch Psychiater angeordnet wurde.

Das Gutachten stellt fest, daß K. Z. gegenwärtig als geistes- gesund bezeichnet werden muß; sein Bildungsgrad erhebt sich über den des Durchschnittsmenschen. Gleichzeitig verweist das Gutachten darauf, daß die früheren Diagnosen auf Paralysis progressiva unhalt- bar seien; es wird insbesondere betont, daß die Beobachtung im Inquisitenspitale mit ungeschulter Wärterschaft erfolgte und daß die aus den Zeugenaussagen sich ergebende Anamnese nicht genügend ge- würdigt wurde und man sich allzu sehr auf die Angaben der Frau stützte. Die Psychiater heben hervor, daß Inkulpat die gegenwärtig behauptete Amnesie vortäuscht, wobei er mit seinem Mienenspiel und Gesten in dem Fragenden die Vorstellung erwecken will, wie schwer er sich erinnert. Bemerkenswert ist, daß K. Z. im Dorfe als belesener M a n n .bezeichnet wird, der immer aus den Zeitungen das Neueste erzählte und den Gescheiten hervorkehrte. Das Gut- achten hebt hervor, daß es sich auch um eine epileptische Absence nicht handeln kann, da das ganze Leben des Inkulpaten keinen An- halt für Epilepsie biete. Die Psychiater gelangten zum Schlüsse, daß R. Z. auch zur Zeit der begangenen Tat zurechnungsfähig war.

Bei der gegen ihn durchgeführten Schwurgerichtsverhandlung beharrte K. Z. dabei, daß er an Vergeßlichkeit leide und nicht in der Lage sei, in der Sache selbst Angaben zu machen. Die Ge- schworenen verneinten die Schuldfrage mit Stimmeneinhelligkeit, so daß die Frage der Zurechnungsfähigkeit zur Beantwortung nicht gelangte.

Der geschilderte Fall soll nicht dazu dienen, um die Kasuistik der Simulation von Geisteskrankheit, insbesondere der Paralyse zu beieichern, da ja ein vertieftes Studium der Akten, eine gründliche Exploration des Inkulpaten und eine zweckentsprechende Beobachtung es ermöglicht hätten, frühzeitig die Vortäuschung des Krankheits- bildes aufzudecken. Bemerkenswert ist der geschilderte Fall jedenfalls durch die seitens des Inkulpaten bewiesene Energie und Ausdauer im Simulieren. Zugleich ist der Fall ein Beleg für die immer mehr und mehr fühlbar werdende Lücke in dem nach § 134 Ost St.P.O. geregelten Verfahren bei Zweifeln über Geistesstörungen oder über Zurechnungs- fähigkeit ; Tatsache ist, daß heutzutage beinahe in allen größeren Fällen die Untersuchung des Geisteszustandes platzgreift, diese Tat-

218 XI. Glos

Sache ist dem Verbrecher wohl bekannt und wird hänfig genng aus- genützt Es maß auch beachtet werden, daß insbesondere dnreh Zeitungs- berichte über Straffälle, belletristische Literatur, weiters durch die immer stetig wachsende Untersuchung des Geisteszustandes in den Gefängnissen und dergl. verschiedene Kenntnisse aus der Psychiatrie den breiten Schichten des Volkes zugänglich werden, so daß selbst einfache Leute sofort auf hereditäre Belastung, gewisse Krankheiten in der Familie spontan hinweisen, ja sogar sich hiebei der in der Wissenschaft gebräuchlichen Ausdrücke bedienen. Vom kriminali- stischen Standpunkt ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, daß auch der Richter sich die nötigen Kenntnisse auf dem Gebiete der forensischen Psychiatrie aneigne (allenfalls in einem „forensisch- psychiatrischen Praktikum^, siehe hierüber Dr. K Kraepelin: Der Unter- richt in der forensischen Psychiatrie in Aschaffenburgs Monatsschrift 1905), sowie daß die Untersuchung des Geisteszustandes in einer den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden Weise erfolge. Diesbezüglich besteht, wie eingangs erwähnt, eine fühlbare Lücke in der österr. Gesetzgebung, die jeder praktische Untersuchungsrichter schwer empfindet § 134 StP.O. spricht lediglich von dar Unter- suchung durch 2 Arzte, ohne an deren Qualifikation besondere An- forderungen zu stellen; eine Beobachtung in einer Irrenanstalt (das zweckentsprechendste Mittel [Krafft-Ebbing: Lehrbuch d&t ger. Psycho- pathologie S. 25]) ist in der österr. Strafprozeßordnung überhaupt nicht Torgesehen. Prinzipiell ist eine zeitweise Unterbringung in eine Irrenanstalt behufs Beobachtung nicht ausgeschlossen. (Dies be- merkt auch Mayer: Kom. zur österr. StPr.O. I S. 461.) Diese Lücke in der Strafprozeßordnung hatte verschiedene Unzukömmlichkeiten im Gefolge, deren Beseitigung durch die Verordnung des J.-M. v. 6./8. 1902, betreffend die Behandlung geisteskranker (oder einer Geistes- krankheit verdächtiger) Häftlinge, angestrebt wird. Auch diese Ver- ordnung betont, daß eine Abgabe in eine Irrenanstalt zur Erhebung des Geisteszustandes eines Untersuchungsgefangenen im § 134 StP.O. nicht vorgesehen ist und daß diese Maßregel nur dann zulässig sein wird, wenn gerade zwingende Erwägungen einen anderen Weg verschließen, da die dermal bestehenden Irrenanstalten sich nach ihrer ganzen Organisation nicht zur Aufnahme von Gefangenen eignen. In der Mehrheit der Fälle, insbesondere auf dem Lande, ist daher die Möglichkeit, psychiatrisch vorgebildete Arzte mit der Untersuchung des Geisteszustandes zu betrauen, nicht gegeben. Dieser Zustand hat auch zur Folge, daß dem Richter, der, wie Hans Groß in seinem Handbuch für den Untersuchungsrichter treffend bemerkt, an eigenen

Simulation von Paralysis progressiva. 219

Fällen viel lernen kann, die beste Oelegenheitbenommen wird, durch das Studium wissensohaftlioh aufgebauter Outachten seine Erfahrungen auf dem Gebiete der forensen Psychiatrie zu vermehren und sein Wissen zu vertiefen. Bemerkenswert ist, daß die Verteidigung in konkreten Fällen Anträge auf Untersuchung des Geisteszustandes durch Psychiater stellt und diesen Anträgen vielfach in der Art entsprochen wird, dass Inkulpat an den Sitz eines Gerichtes, wo sich Irrenärzte befinden, geschafft wird; freilich bleibt er in den Hafträumen des Gerichtes, wodurch die Beobachtung beeinträch- tigt wird.

XIL Der ,,böse Biick^^ als Mordmotiv.

Von

Dr. Albert Hellwig.

In meiner Abhandlung über die Bedeutung des kriminellen Aber- glaubens für die gerichtliche Medizin („Ärztl. Sachverst-Ztg.'' 1906, S. 328) habe ich kurz darauf hingewiesen, daß der Glaube an den „bösen Blick^ mitunter zu schweren Mißhandlungen mit nicht selten tödlichem Ausgang Anlaß gibt. Manchmal wird man die Tat sogar als Mord oder doch Totschlag charakterisieren müssen.

Im „Schweizer Archiv für Volkskunde" (1906, S. 29) habe ich einen derartigen Fall aus Frankreich erwähnt Ende 1904 fand in Paris eine Gerichtsverhandlung gegen den Maurer Merot aus dem Dorfe George- sur-Moulons statt. Merot hatte einen Nachbar, von dem er behauptete, daß er den ^bösen Blick" besitze und ihm da- durch schon manches Übel zugefügt habe. Der von ihm Getötete so sagte der Angeklagte habe beständig Unglück vorausgesagt, was jedesmal auch eingetroffen sei. Just am Tage seiner Ermordung sei ihm der Nachbar wieder begegnet und habe gesagt: „Was, du bist noch nicht gestorben ? Du hast noch eine Woche zu leben!" Da habe er denn seinen Gegner getötet und glaube, dadurch die Welt von einem Bösewicht befreit zu haben. Die Geschworenen sprachen ihn frei.

Interessant ist, daß die „Zeitschrift für Spiritismus" (Bd. VIH, Leipzig 1904, S. 395) offen erklärt, gleichfalls an die Macht des bösen Blickes zu glauben: Allerdings würde man wohl Wege finden können, um sie anders als durch Mord unschädlich machen zu können.

Kürzlich ist auch in Deutschland ein Mord oder Totschlag passiert, in den der Glaube an den bösen Blick hineinspielt Am 11. Oktober 1906 berichtete das ,,Deutsche Blatt" (Berlin) über diesen Fall folgendes:

Der ,,bd8e Blick'' als Mordmotiv. 221

„Eine rätselhafte schwere Bluttat, bei der eine 61 Jahre alte Frau lebensgefährlich verletzt wurde, ereignete sich gestern vormittag auf dem Hermannplatz. Hier wartete an der Haitestelle der Straßen- bahn der erst kürzlich aus Ungarn zugereiste und Fürstenstraße 16 wohnhafte 20 jährige Schlosser Samuel Kaufmann auf einen Straßen- bahnwagen. In diesem Augenblick ging die 6 t jährige Witwe Cres- centia Sackmeister aus Rixdorf, Wißmannstraße 11, an dem Warten- den vorbei und sah ihn unwillkürlich an. In demselben Moment zog der Bursche einen Dolch, stieß in wahnsinniger Wut auf die alte Frau ein und brachte ihr schwere Verletzungen an der Brust, an den Armen und am Unterleib bei; u. a. zerschnitt er ihr auch die Pulsader der linken Hand.

Einige Männer stürzten sich auf den Wütenden, entrissen ihm sein Opfer, entwandten ihm den Dolch und schlugen ihn halbtot, bis die her- beieilende Polizei ihn aus den Handelnder Lynchrichter befreite. In- zwischen war auch die schwerverletzte Frau zu einem in der Nähe wohnenden Arzt gebracht worden, der sie nach Anlegung von Notverbän- den nach der Rixdorfer Krankenanstalt in der Cannerstrasse bringen ließ, wo sie in hoffnungslosem Zustande Aufnahme fand. Der Attentäter gab bei seiner Vernehmung auf der Polizei über den Grund zu seiner Tat an, daß die von ihm Überfallene Frau den „Bösen Blick^ hätte und ihn, als sie ihn anblickte; behext habe. Darüber sei er so in Wut geraten, daß er blindlings auf die Wehrlose eingestochen habe. Ob der Bursche diese an den krassesten Aberglauben des Mittelalters erinnernde Aussage nur als Notlüge gebraucht hat, um den wahren Beweggrund zu verbergen, oder ob er wirklich an solchen Wahn- witz glaubt, muß doch erst die weitere Untersuchung aufklären/

So wird sich also, wie es scheint^ in nächster Zeit ein Berliner Gericht mit der Frage zu beschäftigen haben, welchen Einfluß der Glaube an den bösen Blick auf die Zurechnungsfähigkeit ausübt Ob der Täter geisteskrank ist oder nicht; läßt sich natürlich nur durch eingehende Untersuchung feststellen. Aber ein's sei doch bemerkt. Nach jener Zeitungsnotiz hat es den Anschein, als ob der Mörder das Opfer im Augenblick der Tat zum ersten Mal gesehen habe. Er konnte also nicht etwa durch verschiedene zufällig eintreffende Unglücksfälle und durch sonderbares Benehmen allmählich zu dem Glauben gekommen sein, daß die Witwe Sackmeister eine Hexe sei. Anscheinend ist ihm also der Gedanke, daß jene ihm unbekannte Frau den bösen Blick habe und ihn behexen wolle, ganz unvermittelt gekommen. Daraus könnte man schließen, daß der Täter das wahre Motiv verbirgt und den Glauben an den bösen Blick nur vorschützt,

222 XII. Hellwig

oder daS er g^teskrank ist Diee wfire aber ein Tmgschlaß, denn Hex^ nnd Lente, die den bösen Blick haben, erkennt man meiatens an bestimmten änß^i^n Merkmalen, an rotnnterlanfenen oder triften- den Angai, an zneammengewaehs^ien Augenbrauen usw^ oft genagt es gar, jemand scharf anznsehen, nm in den Verdacht des bösen Blickes zu kommen. Vielleicht ist Kaufmann dorch einen derartigen Umstand vielleicht in Verbindung mit einem unbehaglichen Gefiihl so erregt worden. Hierauf deutet auch eine Notiz .des ,,Berlin^ Lokalanzeigers'^ vom 13. Oktober, wonach Frau Sad^meister in der Tat einen eigenartigen Blick haben soll. Eigenartig bleibt sein Ver- halten allerdings auch dann. Hoffentlich wird der interessante Fall durch erfahrene Psychiater eingehend analysiert 0

1) Mittlerweile ist, wie mir der Herr Erste Staatsanwalt liebenswürdiger Weise mitteilte, das Verfahren gegen Kaufmann eingestellt, weil er nach dem Gutachten der Psychiater nicht zurechnungsfShig sei. Ohne dies natürlich be- streiten zu können, muß ich doch auf die Möglichkeit hinweisen, daß sieh die Psychiater durch den Hexenglauben des Beschuldigten haben irreführen laasen. In dem Mordprozeß gegen Butala (Ulm 1906) ließen sich einige Sachverständige durch den Hezenglauben des Angeklagten gleichfalls verführen, ihn für un- zurechnungsfähig zu halten, während der Gerichtshof mit Recht den klaren Aus- führungen von Professor Dr. Ganpp (Tübingen) folgte. Auch die interessanten Beeiehungen zwischen Geisteskrankheit und Aberglauben werde ich demnächst in einer größeren Arbeit über „Blutmord und Aberglaube: Tätsadien nnd Hypo- thesen" in der .2^it8chrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft*' näher an- gehen. Mittlerweile sind mir schon wieder mehrere Hexenmorde aus Bußland, Italien, Deutschland und Frankreich bekannt geworden. Ich gedenke sie, dem- nächst zusammenfassend zu bearbeiten. Eine besonders interessante Ermordung einer Hexe, die 1896 vor dem Schwurgericht zu Freiburg i. B. ihre geriditliche Sühne fand, werde ich in der volkshandlichen Zeitschrift „Allemannia'' (Freibor^ i. B.) aktenmässig kurz schildern; die sehr interessanten Gutachten werde ich vermutlich in einer psychiatrischen Zeitschrift mit Glossen besonders publizieren, um dann den ganzen Stoff in Buchform ausführlich zu behandeln. Den Uhner Hexenmord wird Herr Professor Gaupp dankenswerter Weise in diesen Blättern eingehend behandeln.

XIIL Über Schartenspuren. 0

Von

Landgerichtsdirektor Knaue)r in Amberg.

Eine bemerkenswerte Anwendung der Photographie bietet folgen- der Fall:

Am 28. Oktober 1906 worden in S. 4 Stück jnnge Apfelbäume Ton ruchloser Hand abgeschnitten. Der als Täter in Verdacht ge- zogene 75 jährige J. J. stellte die Begehung der Tat entschieden in Abrede. Die Baumabschnitte und drei bei J. J. vorgefundene Messer, wovon er das eine stets in einer Scheide bei sich trug, wurden am 7. November 1906 zur Untersuchung an die König!. Polizeidirektion Dresden eingesendet Das von dem dortigen Polizeiphotographen M. E. erstattete Outachten stellte mit großer Bestimmtheit fest, daß die Bäume mit dem in der Scheide verwahrten Messer des J. J. ab- geschnitten waren. Der Gang der Untersuchung und Beweisführung war im wesentlichen folgender:

Von den zur Prüfung eingesendeten Baumabschnitten erwiesen sich besonders zwei Teile als brauchbar für die Untersuchung.

Durch die auf den Schnittflächen von links nach rechts führen- den, schon mit bloßem Auge sichtbaren Schartenspuren ließ sich feststellen, welche Partie der Schnittfläche dem gegen die Spitze, und welche dem gegen das Heft zugekehrten Teile der Messerklinge entsprach.

Um nun die immerhin feinen Schartenspuren deutlicher sichtbar zu machen, wurden die beiden Abschnitte in doppelter Vergrößerung photographiert

Es ergaben sich auf beiden Schnittflächen in bestimmten Ab- ständen ganz charakteristische, teils in einfachen Linien, teils in

1) Vergl. R. Kockel dieses Archiv Bd. XI, p. 347 u. Bd. XXIII, p. 245, u. A. Schulz Bd. XXIÜ, p. 222.

224 Xin. Knauer

Bündeln verlaufende Schartenspuren, deren Gleicbmfißigkeit über- zeugend dafür sprax^h, daß bei den beiden Baumabscbnitten der Schnitt mit einem und demselben Messer erfolgt war.

Um nun festzustellen, ob die Schnittflächen von einem der drei eingesendeten Messer herrühren, wurden mit den 3 Klingen Wachg- schabeplatten angefertigt, die in dem gleichen Größenverhältnis wie die Schnittfläche photographiert wurden. Es ergab sich, daß nur das in der Scheide befindliche Messer die groben und charakteristischen Scharten aufwies, welche den Schartenspuren der beiden Schnitt- flächen entsprachen. Mit diesem Messer wurde nun noch eine Schabe- platte hergestellt, und zwar mit der im Winkel von 40 Proz. auf Schrägschnitt eingestellten Klinge, und nun zeigte sich, daß die Lage und Entfernung der Schartenspuren auf der Schabeplatte den Sparen auf den beiden Schnittflächen der Baumabschnitte völlig entsprach.

Da es als ausgeschlossen gelten kann, daß eine zweite Messer- klinge existiert, die genau die gleichen und gleichweit voneinander entfernten Scharten besitzt, wie sie in dem zur Untersuchung gestellten Fall beobachtet wurden, so erschien der Schluß gerechtfertigt, daß die Schnittflächen der beiden Baumabschnitte nur von dem in der Scheide verwahrten Messer des J. J. herrührten.

Zur gerichtlichen Aburteilung kam der Fall nicht, weil der An- geklagte kurz vor der Hauptverhandlung starb. An seiner Verurteilung war aber angesichts des vorbeschriebenen, überzeugenden über- führungsbeweises, der auch noch durch andere Verdachtsgründe unter- stützt war, nicht zu zweifeln.

Der Erfolg bei ähnlichen Untersuchungen wird natürlich wesent- lich davon abhängen, daß die betreffenden Baum-, Strauch -Abschnitte möglichst bald in Verwahrung genommen und mit den zu unter- suchenden Schneidewerkzeugen eingesendet werden, damit die Schnitt- flächen tunlichst frisch und die Schneidewerkzeuge tunlichst unverändert zur Untersuchung kommen.

(Akten des k. Landgerichts Amberg No. 41/07).

XIV. Die Strafrechtsreform im Aufkl&rungszeitalter

nebst Vergleichen mit unserer modernen kriminalpolitischen Beformbewegung

von Professor Dr. Ii. Günther, Giessen.

(Schluß.)

Eine sehr verschiedene Behandlung ist in der Aufklärungs- literatnr den einzelnen strafbaren Handlangen zu Teil geworden. Während für viele dasselbe gilt, was v. 61 ob ig und Huster dem Marchese Beccaria zum Vorwurfe gemacht, daß er nämlich ,,über dieses weitläufige und mühsame Feld (in seiner ungezwungenen Betrachtung) mit einigen Sprüngen hinweggehüpft^ sei ^), sind andere hierin zwar gründlicher gewesen ^), weichen aber in der systematischen Darstellung vielfach von einander ab. Manche, wie z. B. die Fran- zosen Voltaire und Marat, haben ihrer Einteilung gewissermaßen eine kriminal-statistische Grundlage gegeben, indem sie mit dem Diebstahl als dem angeblich häufigsten Delikt nicht nur gegen da£ Eigentum, sondern überhaupt beginnen ^), meistens ist jedoch

1) V. Globig und Huster, Abhandig., S. 162, vgl. auch S. 50 ff. und Anm.** Einzelne Schriftsteller (wie z. B. Kleinschrod in seiner ,,Systemat Ent- wicklung'* usw.) haben sich grundsätzlich nur auf die Darstellung der allgemeinen Lehren des Strafrechts beschränkt.

2) Zuweilen überwiegt sogar der ^besondere Teil*^ die allgemeinen Lehren sehr erheblich, so z. B. besonders auffällig in dem St-G.-ELntwurfe von v. Eber- stein, wo die l^teren in der „Einleitung*^ auf nur 6 Seiten, die einzelnen De likte und ihre Strafen dagegen auf 246 Seiten abgehandelt sind.

3) S. Voltaire, Prix de la justice, Art. II (Bibl. phil. T. V., p. 9ff.); Marat, Plan de Ißgisl. crim. (Bibl. phil. T. V.), p. 142ff., 154ff., vgl. G.-S. 61, S. 229, 230 und Anm. 2 und 3. Von deutschen Schriftstellern s. auch noch v. Grolman, Grundsätze (1. Aufl.), § 285 ff., 160ff. (Buch n, TeU 1, Abtlg. 2: „Von den ein- zelnen Verbrechen und den Strafen derselben*^, A, I, Hauptabschn. 1, Kiq). 1: ^Verbrechen, welche das Eigentum der Bürger beeinträchtigen'', Titel 1, Abschn 1, ünterabschn. 1, Abs. 1: „Vom Diebstahl*"). Mit den wichtigsten Sittlichkeitsdelikten („crimes moranx*") beginnt Brissot de Warville, Theorie I, p. 204 ff. seine Darstellung des besonderen Teils.

Anhiv für Erimiiuaanthropologie. 28. Bd. 15

226 XIV. Gltitheb

eine Grnppiening des Stoffes nach der Seh were des Schadens vor- genommen, den die strafbaren Handinngen gewohnlich für die Ge- samtheit nnd deren Wohl enthalten. ^ In dieser Beziehung machen aber nicht mehr wie früher die Beligionsdelikte % sondern in der Regel die sog. Staatsverbrechen den Anfangt), wogegen die als j^Polizei- Vergehnngen^ oder ähnlich bezeichneten leichtesten Straftaten (nnsere modernen „Übertretungen") den Beschluß zu bilden pflegen. *) Im ein-

1)S. Malblank, Geach. der P.G.-O., § 60, S. 266, Nr. 3: „(Die) Größe (der Verbrechen ist) allein nach dem schädlichen Einfloß, den sie in das Wohl de^ Staats haben, zu benrteilen nnd nach diesem Maßstab ihre Rangordnung zn bestimmen/ Vgl. anch schon oben S. 154, Anm. 2 nnd im allgem. noch Alex. Philipsborn, Die Klassifikation der einzelnen strafbaren Handlungen (-> Abk des krimin. Seminars zu Berlin, N. F. Bd. V, Heft 2), Berlin 1906, S. 81 ff. (bes. über Beccaria, v. Globig u. Huster und v. Soden [Geist I, § 2ff. S. 9 ff.]); ebd. S. 80, 81 auch über die Ausnahmen von der im Text genannten Regel.

2) Als Ausnahmen erscheinen z. B. noch das Filangierische ^System" (vgl. darüber i. allg. A. Philipsborn, a. a. 0. S. 85), in dem (IV, 3, 2, Kap. 44, S. 339 ff.) die „Verbrechen gegen die Gottheit*^ allen anderen vorangestellt sind, der Claprothsche Str.-G.-£ntwurf (Teil I, Buch n [„Von den einzelnen Ver- brechen*^], Abschn. 1 [S. 17ff.]: „Von den Verbrechen, welche wider Gott be- gangen werden"), v. Soden s Geist usw., der (I, Abschn. IV [„Von den einzelnen Verbrechen"], § 79 ff., S. 118 ff.) mit der ,, Blasphemie'* und anderen Religions delikten beginnt, und v. Reders Peinlich. Recht, wo (II, Kap. Xm, S. 132 ff.) Ketzerei, Gotteslästemng, Hexerei, Zauberei, Meineid usw. als „Verbrechen gegen Gott" ebenfalls zuerst behandelt sind. Dagegen motiviert z. B. Brissot de Warville, Theorie II, p. 2 ff. die Stellung der Religionsdelikte fast an das Ende seines Systems ausdrücklich damit, daß es sich nach seiner Überzeugung hier um „respecc de crime la moinsimportante, la moins präjudiciable h Tordre social" handle.

3) S. Malblank, Gesch. d. P.G.-O., § 60, S. 266, Nr. 4; vgl. auch Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 143ff.; Quistorp, Entw. L § 79ff., S. 93ff. (anders noch seine „Grundsatze des deutseh. peinl. Rechts, § 118 ff. [auch in den späteren Auflagen); s. darüber A. Philipsborn, a. a. 0. S. 85); v. Globig u. Huster, Abhandig.. S. 3Sff. und 167 ff., Vier Zugaben, S. 52ff., 55ff.; Wieland, Geist 1, § 236, S. 307 ff. u. n, § 342ff., S. Iff.; Gmelin, Grundsätze, § 12, S. 22ff. u. § 5^, S. 122ff.; V. Eberstein, Entwurf, Teil 1, Hauptst. 1, Abschn. 1, § Iff., 8. 7ff.; auch Kleinschrod, System. Entwickl. II, § 12, S. 33 und III, § 133, S. 249ff ,, Klassifikation der Verbrechen"). Anderswo sind dagegen die Staatsverbrechen (luch wohl umgekehrt (jedoch gleichfalls wegen ihrer hervorragenden Bedeutung) an das Ende (oder doch fast ans Ende) des Systems gestellt So z. B. bei Klein, (irundsatze (2. Aufl. 1799), Spcz. Teil, Kap! XI, § 497 ff., S. 397 ff.; vgl. auch Kathlef, Vom Geiste, Abschn. XXI ff., S. 75ff.; v. Dalberg, Entw., S. 169ff. Über die Einteilung der Verbrechen in unmittelbare und mittelbare Ver- lotzungen des Staats (z. B. bei Wieland, Gmelin u. a. m.) im Anschluß an den alteren Meister s. A. Philipsborn, a. a, 0. S. Sl.

4) S. über die damals zum Teil mit besonderer Vorliebe behandelten „Polizei- Vergehungen" und ihre „schwankenden Cirrenzen": Mal blank, Gesch. der P.G.-O.r

Die Straf rcchtsreform im Aufklärangszeitalter. 227

zelnen herrscht dabei natürlich auch wieder noch viel Willkür, überhaupt sind keineswegs sämtliche Delikte in gleichmäßig erschöpfender Weise be- handelt worden, vielmehr stehen im Vordergrunde des Interesse überall bestimmte einzelne Verbrechen, die durch die veränderten Anschauungen der Zeit besonders beeinflußt erscheinen. Diese umgestalteten Ansichten aber gehören den verschiedensten Gebieten an. So sind z. B.damalsinfolge neuer staatsrechtlich -politischer Ideen über die Stellung des Souveräns wonach dieser nicht mehr als „i^age de dieu^' i), als Stellvertreter Gottes auf Erden 2), sondern nach Friedrichsdes Großen bekanntem Ausspruche nur als „erster Diener des Staats" erscheint 3) sowohl, die sog. Majestätsverbrechen im allgemeinen sehr wesentlich ein- geschränkt worden ^) als insbesondere auch die Majestäts beleidigungen

S. 267, Nr. 4 a. E.; Hommel, Übereetzg. von Beccaria, Vorrede S. XXXlVff., Philos. Gedanken, § 71, S. 143ff.; v. Globig u. Hustor, Abhandig., S. 279ff., Viers Zugaben, S. 43 ff., 56 u. bes. 289 ff. ; Job. Jak. Cella, Über Verbrochen und Strafen in Unzuchtsfällen, Zweibrücken u. Leipzig 1787, § 15 ff., S. 19ff.; Klein- schrod, System. Entwickig. II, § 6, S. 15ff.; vgl. auch Wieland, Geist I, § 103ff., S. 143 und im allg. noch Hälschner, Geschichte, S. 171 u. Gcib, Lehrb. I, S. 331. Über eine Dreiteilung der strafbaren Handlungen (in „Verbrechen", „Ver- gehen" und polizeiliche Reate) in der Aufklärungszeit, jedoch auf anderer Grundlage als heute im deutsch. RStG.B. § 1), s. v. Liszt, Lehrbuch, § 26, S. 118. Zu der ganzen Materie vgl. auch noch Philipsborn, a.a.O. § 13 („Die Auf- klärungsliteratur'*), S. 80—86.

1) So noch: Jons 86, Trait6 de la justice criminelle de France, Paris 1771, T. III, p. 681 ; vgl. Masmonteil, a. a. 0. p. 204 u. Anm. 1.

2) Gegen den „falschen Satzes daß die Obrigkeit die unmittelbare Stell- vertreterin Gottes sei, s. u. a. ausdrücklich Rössig, „Vorerinnerung'* zu Hommels Philos. Grcdanken, S. XL Auch Friedrich der Große lehnte „die Ansicht von dem göttlichen Ursprung der fürstlichen Gewalt*' aufs entschiedenste ab. S.Willen- bücher, a. a. 0. S. 31 sowie die folgende Anm.

3) Vgl. dazu auch A. Wislicenus, Friedrichs des Großen Ansichten vom Fflrstcn in seinen Schriften bis 1756, Progr., Leipz. 1906, bes. S. 14. Ganz über- einstimmend mit dem Ausspruche des preußischen Königs ist Marat, Plan etc., p. 167: „Dans tout gouvornement 16gltime lo princo n'est que le premier ministre de la loi" (vgl. G.-S. 61, S. 243 u. Anm. 3). Über den Einfluß dieser neueren Anschauungen auf die sog. Amtsverbrechen s. v. Liszt, Lehrbuch, § 17S, S. 578 und Wachinger in der Vergleich. Darstellung IX, S. 194.

4) Gegen die frühere, sowohl in Deutschland als bes. auch in Frankreich (8. Hertz, Voltaire, S. 26 ff.) ganz ungeheuer gewesene Ausdehnung der „Ma- jestätsverbrechen** s. im allg. schon Montesquieu, Esprit des lois, L. XII, chap. 7, p. 161 (vgl. Esselborn, Übersetzung von Beccaria, S. 133, Anm. *); de Jan- court in der Enzyklopädie, Art. „Löse-majestß" (vgl. v. Overbeck a. a. 0. S. 80 u. Anm. 4); Beccaria, §26, S. 133; Marat, Plan etc., p. 161ff (vgl. G.-S. 61, S. 240); Graebc, Über die Reformation usw., § 35, S. 66; insbesondere gegen die Subsumierung der Münzverbrechen unter jenen Begriff : Montesquieu,

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228 XIV. Günther

in der Bewertung ihrer Strafbarkeit erheblich gesunken. 0 Sodann haben einzelne nationaldkonomische Lehren ihre Spuren in diesem Teile des Strafrechts hinterlassen. Es sei nur erinnert an die besonders von den sog. Physiokraten ausgegangenen Bestrebungen für die Wucherfreiheit ^), infolge deren auch manche Juristen, ganz

Espr. des lois, L. XII, chap. S, p. 162; de Jaueourt, a. a. 0. (vgl. v. Overbeck S. 80 u. Anm.4 u. S. S'2); Marat, Plan, p. 169 (s. G.-S. 61, S. 246i; Rathlef, Vom Geiste, S. 74. A. M. dagegen bes. noch Claproth, Entwurf I (II, 2), S. 3Sff.: zu vergl. auch v. Globig u. Huster, Abhandig., S. I76ff.; Wieland, Geist II, § 396, S. 7S; v. Reder, Das peinl. Recht III, Kap. V, § 1, S. 161 u. § 34ff., 8. 201 ff.; Graebe, Reformation, S. 72. Gegen die barbarische Behandiun^^ der Konigsmörder im älteren Rechte s.bes.: Filangieri, System IV (3, 2i. Kap. 46, S. 430,31 ; Marat, Plan, p. 16^ (G.-S. 61, S. 244); M. le F., Plan de legisl. sur les matiäres criminelles (Brissot, Bibl. phil. T. V), p. 37Sff.; Micha- elis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 5 1 ff. ; v. G 1 o b i g u. II u s t er , Abhandig., S. 1 7 1 ff .. die es sogar wie später Mariat in der Revolutionsepocho (s. G.-S. 61, S. 245 u. Anm. 2),. vielmehr für löblich als strafbar^ hielten, „einen Tyrannen, der sicli auf wirft, umzubringen.'' Dagegen wollte B es eke, Versuch, S. 99, daß für Tötung <les ^ Regenten*^ dem Täter „die Adern geöffnet*^ würden, damit er sich auf dei:: Oerichtsplatze zu Tode blute.

1) Über die Enzyklopädisten und die franzosischen Aufklärer s. im allg. : V. Overbeck, a. a. Ö. S. 125 vbd. mit Hertz, VolUire, S. 432/33 (über Mon- tesquieu [z. B. Espr. des lois, Livre XII, chap. 12, p. 163 ff.] und Voltaire (Prix de la justice, Art. XXI, in d. Bibl. phil. T. V, p. 79 ff.; Dict philos. Art. .Verite-, T. XIV, p. 141)), S. 452/53 (über Brissot de Warville [Theorie 1. p. 271 ff.]); über Marat (Plan etc., p. 162,63) s. G.-S. 61, S. 240—242. Von den deutschen Aufklärern sind für nachsichtige Beurteilung der Majcstätsbeleidignn- gen eingetreten bes.: VVieland, Geist II, § 392, S. 71 (bloße Verbalinjurien seien 4}ntweder ganz zu Tcrzeihen oder nur mit einer ., Polizeistraf c** zu belegen) u. V. Globig u. Huster, Abhandig., S. 173ff. ; zu vgl. auch v. Sonnenfels, Grund- sätze I, § 132, S. 190 (betr.Pasquillanten); Rathlef, Vom Geiste, S. S9; Graebe. Reformation, § 36, S. 69, 70. Ziemlich streng sind dagegen noch v. Reder. JMS peinl. Recht III, Kap. IV, § 23ff., 26ff., S. 152/53, 154ff. u. v. Ebersteiu. Entwurf, S. 20 ff. Auf die auch neuerdings wieder, u. a. von Birkmeyer (in der „Deutschen Revue^ 1S99 [J], S. US ff.), Binding (Lehrbuch, Bes. Teil, 1 12. Aufl., Leipz. 1902), § 35, S. 167) und van Calker (in d. Vergleich. Dai-stclig.. Bd. I, S. 93 u. 109 u. Anm. 1), empfohlene schärfere Sonderung zwischen den Beleidigungen der Würde des Staatsoberhaupts als solchen und denen des Fürsten als Privatmannes hat man auch schon in der Aufklärungazeit (wie z. Teil übrigens auch schon in der gemeinrechtl. Doktrin) gedrungen. S. z. B. bes. Gmelin, Grundsätze, § 62, S. 129ff. u. Klein, Grundsätze (2. Aufl.), § 511, S. 407. Über die Gesetzgebung des preuß. Allg. Landr. s. noch weiter unten.

2 ) S. darüber Röscher, Geschichte der Nationalokonomik in Deutschland, München 1S74, S. 4S0ff.; v. Liszt, Lehrbuch, § 143, S. 4SI; Jsopescul- <irecul. Das Wuchcretraf recht usw., Bd. I, Leipz. 1906, S. 142 ff. u. Anm.6 (über Montesquieu). Über wucherfreundliche Abliandlungen von Turgot (1769 b. JTS9) und Bentham (17S7) s. ebdas. S. 143, Anm.4. Über v. Sonnenfels,

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I

Die Straf rechtsi'eform im Aufklärungszeitalter. 229

besonders nachdrücklich z. B. der Italiener Filangieri, völlige Straflosigkeit des Wuchers verlangt oder doch seine Verweisung in das Gebiet der Polizeifibertretungen befürwortet habend); erwähnt sei in dieser Beziehung ferner, daß die Strafwürdigkeit der Vermögens- delikte und namentlich des Diebstahls sehr beeinträchtigt werden mußte durch die freieren Anschauungen vieler Aufklärer über das Eigentum, das u. a. Beccaria einmal ,,ein schreckliches, vielleicht nicht nötiges Recht'^ genannt hat^), und das von einzelnen Fran- zosen, wie den beiden späteren Revolutionären Brissot de Warville und Marat, sogar fast schon ganz in derselben sozialistisch-kommuni- stischen Weise betrachtet worden ist, wie später von ihrem Lands*

Schriften gegen die Wucherfreiheit (aus den Jahren 1789 u. 1791) s. näh. ebda. S. 144 u. Anm. 1; vgl. auch W.Müller, Josef von Sonnenfeis, S. 112/13; Lands- berg, Geschichte III 1, S. 403/4.

1) Über Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 55, S.701ff. s. Geib, Lehrb.I,. S. 334 u. jetzt bes. Jsopescul-Grecui, a.a. 0. S. 142, 143 u. Anm. 7 (mit weiteren Literatarangaben ). Als bloßes Polizei vergehen wollten den Wucher in Deutsch- land bes. Hommel (Vorrede zur Ubersetzg. von Beccaria, S. XXXVII u. XL, Philos. Gedanken, § 73, S. 149 ff., § 75, S. 151 ff., § 78, S. 155) und v. Globigu. Huster (Abhandlung, S. 241, 249, Vier Zugaben, S. 2S9ff.) behandelt wissen. Dagegen erblickten im Wucher i. d. R. ein strafbares Verbrechen u. a.: Wie land, Geist II, § 487 ff., S. 2 00 ff. u. Gmeiin, Grundsätze, § 118, S. 217, Anm. h; vgl. auch Servin, Über die peinl. Gesetzgebg., S. 357 ff. M. le F., Plan de lögisl. etc. (Brissot, Bibi. phil. T. V), p. 437 bezeichnet den Wucher als den leichtesten Fall des „Diebstahls''.

2) Beccaria, § 30, S. 140; vgl. Hertz, Voltaire, S. 310. In dem Manuskript und in der ersten Ausgabe der Schrift soll übrigens diese Stelle ctrv'as anders (nämlich: „ein schreckliches, aber vielleicht nötiges Recht^) gelautet haben. S. C an tu, Beccaria eildiritto pönale, französ. Übers, von Lacointa et Delpech, Paris 1885, p. 107, Anm. 2; Günther im G.-S. 61, S.-232, Anm. 3; Esselborn Ubersetzg., S. 140. Anm. *♦. In ähnlicher Weise habcu sich auch andere Gegner des Privateigentums in dieser Zeit geäußert, so bes. Morel ly in seinem Code de la nature ou le v6ritable esprit des lois (1755), p. 230 („la dßtestablo propri6t6) vbd. mit p. 30 („les pernicieuses consdquences de la propri6t6") p. 35, 79 („la propri6t6 particuliöre** «. „summi materia mali"), p. Ut („resprit cruel depropri6t6), p. 132, 190 usw.; s. femer de Mably, De la 16gis- lation ou principes des lois (Oeuvres compL, Paris 1790, T. XV), bes. Li vre I, chap. 3, p. 74, 75 („cette malheureuse proprißtö"*), chap. 4, p. 101 ff. u. Brissot de Warville, Theorie II, p. 57, („ce droit terrible [de propri6t6] . . . qui n'est fond4 sur aucun titre''); vgl. auch die folgende Anm. Eine ausdrückliche An- erkennung des Wertes der Sicherheit des Eigentums findet sich dagegen z. B. bei Fr. P. di Blasi, Sulla legislazione etc., § 3, p. 22 ff. u. v. Sonnen fei s, Grund- sätze I, § 138, 8. 166 ff. Über die oft nicht richtig aufgefaßte Stellung Rousseaus- zu dieser Frage s. G.-S. 61, S. 232, Anm. 3 u. näheres bei Liepmann, Die Rechts- philosophie des J. J. Rousseau, Berl. 1898, S. 125 ff. u. Anm. 2.

230 XIV. Günther

manne Pro ud hon mit seinem bekannten geflügelten Worte ,,La pro- pri6t6 c'est le vol" „Eigentum ist Diebstahl". *) Kein Wunder daher, daß sich im Vereine mit der zunehmenden Humanität der Wunsch nach einer leichteren Behandlung dieser Art von De- likten regte. '2) Im einzelnen zeigt sich derselbe besonders in den •eifrig und nicht selten mit deklamatorischem Pomp aufgestellten Forderungen der Abschaffung der Todesstrafe für Diebstahle überhaupt^), der besonders milden Bestrafung oder gar der Straflosigkeit solcher Entwendungen, die von Armen und Bedürftigen aus Not begangen worden sowie endlich der Umwandlung des bisher zum Teil noch

1) In seiner 1840 zu Besangen erschienenen Schrift „Qu'est ce que la pro- pri6t6? ou recherches sur le principe du droit et du gouvemement'' ; s. Günther im G.-S. 61, S. 283, Anm. 1; vgl. G. Bachmann, Geflügelte Worte, 21. Aufl., bearbeitet von Ed. Ippel, Berlin 1903, S. 330, derauf die Ähnlichkeit eines Aus- spruchs bei Brissot de Warville (in seiner schon 1780 erschienenen Jugend- arbeit „Recherches philosophiques sur le droit de propriöt6 et sur lo vol, consi- d§r6s dans la nature et dans la soci§te 1 Abdr. in der Bibl.philos.T. VI, p.263ff.n hinweist Übrigens lautet die einschlägige Stelle aus dieser Schrift nicht (wie Büchmann in den älteren Auflagen seiner „Gofiagelten Worte" angeführt): ^La propri^tö exdusive est un vol dans sa nature", sondern „est uu dölit v^ri- table dans la nature" (s. Bibl. phil. T. Vi, p. 293; vgl. Alexandre, La mus^c de la conversation, 3. 6d., Paris 1897, p. 407). Das nähere über Marat (Plan de 16gisl. crim., p. 143ff.) s. bei Günther im G.-S. 61, S. 232ff. u. Anm. 3.

2) Daß in der Neuzeit besonders unsere Sozialdemokraten für mildere Be- strafung der Eigentumsdelikte im künftigen Recht eingetreten sind (s. darüber Dochow in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 27 S. 116; vgl. auch A. Menger, Neue Staats- lehre, S. 149) kann nicht weiter auffallen, aber auch sonst hat man heute wohl auf das Mißverhältnis hingewiesen, das nach dem geltenden Gesetze zwischen der (zu hohen! Wertschätzung des Eigentums und der (zu geringen) des mensch- lichen Lebens besteht S. z. B. W eh rli, Der Kindesmord, dogmat-kri tische Studie mit Berücks. des französ. und Schweiz. Rechts, Bern 1889, S. 126; Gocpcl in der Deutsch. Juristen.-Ztg. v. 10. Jan. 1905, Sp. 962 ff.; Kahl, Das neue Strafgesetz- buch, S. 2ö, 24; vgl. auch A. Meng er, a. a. 0. S. 149.

3) Diese Forderung begegnet uns damals schon so allgemein, daß besondere Anführungen dafür unnötig erscheinen. Im allgom. s. über die Franzosen mit Voltaire an der Spitze etwa Willenbücher, a. a. 0. S. 41ff.: vgl. auch Hertz, Voltaire, S. 428, Frank, Die Wolffsche Strafrcchtsphilosphic, S. 66, 67, Günther im G.-S. 61, S. 230, 236ff. sowie die folgende Anm.; insbes. betr. Deutschland 8. die Zusammenstellung bei Gmelin, Grandsätze, § 96, S. 194, Anm. b; ebds- u. S. l'J*>, Anm. c auch über die immer seltener werdenden Anhänger der älteren Richtung, zu denen namentlich auch der (dort übrigens nicht erwähnte) Claproth (Entw. I, B. 2, Abschn. 4, Hauptst. 1, § 3 ff., S. 80ff.) gehört. Über die Frage, ob und inwieweit Geldstrafen für Diebstahl angemessen seien, s. schon oben

S. 1S5, Anm. 2 a. E,

4) Sehr nachdrücklich ist dies namentlich veriangt worden von Beccaria § 16, S. 111 vbd. mit § 30, S. 140), Marat (Plan etc., p. 143ff., s. G.-S. 61, S. 231ff.)

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Die Straf rechtsreform im Aafklänmgszeitalter. 231

als ;,qualifizierte'^ Handlung betrachteten sog. Hausdiebstahls in einen gewöhnlichen (wenn nicht gar, wie heute, einen [durch die Antrags- Stellung] „privilegierten^) Fall, wozu man sich freilich, namentlich in Deutschland, nur allmählioh bekannt hat. 0

Vor allem aber mußte die schärfere Trennung von Becht und Beligion, von Verbrechen und Sünde (Laster, Immoralität) eine ganze Beihe früher aufs grausamste bestrafter Delikte zu bloßen moralischen „Schwachheiten^ (oder „Unarten^) umgestalten, die vom Staat entweder gar nicht mehr oder doch nur leicht, etwa als Polizei- übertretungen, verfolgt werden sollten ^) Am deutlichsten zeigt sich dieser

und Friedrich dem Großen (s. Wilienbücher, a.a.O.S.39, 40), die unter einander übrigens aach darin übereinstimmen, daß sie ihre Anschauungen „dem des Diebstahls (bezw. Baubes) Angeklagten in den Mund legen.^ Willenbücher, S. 42; s. ebds. auch noch Anm. 1 (Literatnrangaben) u. S. 39, Anm. 1.

1) Die Bewegung zu Gunsten der leichteren Bewertung des Hausdiebstahls ist hauptsächlich vou Frankreich ausgegangen, wo namentlich Voltaire (s. bes. s. Dict philos. T. XIII, Art. „Supplice**, Sect 8, p. 201 ff.; Commentaire, § IS iBibl. philos. T. I, p. 250/51]; Prix de la justice, Art II [Bibl. phil. T. V, p. 9ff.], eifrig gegen die Härten der älteren Gesetzgebung, die darin einen besonders schweren (todeswürdigen) Treubruch erblickte (s. darüber Hertz, Voltaire, S. 29, 117, 471 u. Günther im G.-S. 61, S. 287 Anm. 5) angekämpft hat (s. Hertz, a. a. 0. S. 429; Günther, Wiedervergeltung II, S. 168 u. Anm. 882 ; Masmonteil, La lägisl. crim., p. 235 ff., 559); vgl. auch schon oben S. 168, Anm. 2. Über Servan (Discours sur Tadminstration etc. [Bibl. philos. T. U], p. 199 ff.) s. Günther Wiedervergeltg.il, S. 203, Anm. 539; vgl. auch noch M. le F., Plan de i^gis- lation etc. (Bibl. phil. T. V), p. 425/26, Bernardi, Discours etc. (Bibl. phil. T. VIH), p. 158ff. u. a. m. Für Gleichstellung mit dem einfachen Diebstahl auch Fiian- gieri, System IV (3, 2), Kap. 54, S. 659/60. Marat (Plan etc, p. 156) wollte zwar für den Hausdiebstahl keine Todesstrafe mehr verhängt wissen, stellte ihn aber in der Strafbarkeit doch noch dem Einbruchsdiebstahle gleich (wogegen z. B. ausdrückl. Vezin, Das peinl. Halsrecht usw., S. 42). Die Mehrzahl der deutschen Aufklärer hielt jedoch in teilweiser Übereinstimmung mit der ge- meinrechtlichen Doktrin (worüber jetzt näh. bes. bei Walter Keller, Haus- und Familiendiebstahl, Bemer Dissert 1905, S. 20 ff. u. Anm. 32 ff.) noch an einer re- höhten Strafwürdigkeit des Delikts fest; daher begnügte man sich wohl damit, die Todesstrafe hier ausdrücklich auszuschließen (s. z. B. Graebe, Über die Re- formation, § 48, S. 86) oder überhaupt zu harte Strafen wegen der drohenden Gefahr der „Impunität'', d. h. der Nichtanzeige des Falles von Seiten des Be- stohlenen, zu verwerfen (s. z. B. Gmelin, Grundsätze, § 98, S. 199 u. die Angaben oben auf S. 168. Anm. 2). Über das Verlangen nach milderer Bestrafung des Kirchendiebstahls s. unten S. 236, Anm. 2.

2) S. darüber im allg. Geib, Lehrb. I, § 58, S. 331/32 ; vgl. etwa auch Mal- blank, Gesch. der P.G.-O., § 51, S. 235, § 55, S. 247ff.; über die Enzyklopädisten 8. V. Overbeck, a. a. 0. S. 32, 33 u. Anm. 1. Feder bemerkt 1786 in seiner Vorrede zu Servin, Über die peinl Gesetzgbg., S. IV: „Man ist einig, daß Sünde und Verbrechen nicht einerlei ist*'. Im einzelnen vgl. bes. noch Beccaria,

232 XIV. GÜÄTHEB

UmBchwuDg der Ansichten erklärlicherweise bei den Verbrechen gegen die Religion, aber anch bei den Sittlichkeitsdelikten iipd mehreren strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben ist er un- schwer zu erkennen. Diese Wandlung der Verhältnisse ist für die Weiterentwicklung unseres Strafrechts von so entscheidendem Ein- flüsse gewesen, daß sie noch eine etwas nähere Betrachtung der Einzelheiten erfordert.

Die Wirkung der Aufklärungsbewegung auf die Religions- verbrechen hat man zutreffend wohl als deren ,,Säkularisation'' be- zeichnet. V) Es sind damals nicht nur die Begriffe ^Zauberei" und ^Hexerei^f gegen die noch Christians Thomasius vergeblich an- gekämpt hatte, schlechthin in das Gebiet des Aberglaubens („Schwach- heit des Verstandes '0 verwiesen worden 2), sondern auch die Ketzerei

§ 24, S. 130/31 (u. dazu Esselborn, a. a. 0. S. 130, Anm. '*'); Hommel, Über setzg. von Beccaria, S. 37, Anm. q, S. 42, 43, Anm. t u. Philos. Gedanken. § 20, S. 89. S 38, S. 69 ff., § 48, S. 96 ff., § 60, S. 121 ff. § 85, S. 162 ff.; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 106ff.; Wieland, Geist I, § 224ff., S 291ff., § 228ff., S. 296ff.; V. Beder, Das peinl. Recht I, Kap. III, §§ 2, 3, S. 41; Graebe, Über die Reformation, § 28, S. 51ff.; Gmelin, Grundsätze, § 11, S. 20ff.; Ceiia, Über Verbrechen und Strafe in Unzuchtsfällcn (1787), § 21, S. 28; Kleinschrod, Syst. Entwickle., I, § 43, S. 99ff., § 134, S. 245; v. Eberstein, Entwurf, Einltg., §} 4, 5,8.3, 4^

1) V. Eohland, Historische Wandlungen der Religionsverbrechen (in der oben S. 143, Anm. 6 angeführten Festschrift), S. 138; vgl. auch v. Overbeck, a. a. 0. S. 125. Dagegen meint Kahl in der Vergleich. Darstellg., Bd. III, S. 13, daß der Einfluß der Aufklärungsbewegung auf die Religionsdelikte „nicht so hoch einzuschätzen"^ sei, „als es gemeinhin geschieht^.

2) Schon Montesquieu (Esprit des lois, Li vre XII, chap. 5, p. 159) hatte die Zauberei als „le crime du monde le plus incertain", Voltaire (Prix de la justice, Art. IX [Bibl. phil. T. V, p. 35], vgl. auch Commentaire, § 9 [Bibl. phil. T. I, p. 226 ff.]) den Hexenprozeß als eine „barbarie idiote*^ bezeichnet (Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilosophie, S. 67 u. Anm. 23, 24), Beccaria 37, S. 154 ff.» aber hielt es überhaupt nicht mehr für nötig, noch näher auf diese bloß ver- meintlichen Delikte einzugehen. Die späteren Aufklärer wollten im wesentl. nur noch Betrügereien durch Ausbeutung des Aberglaubens und der Dummheit bestraft wissen. So sogar schon C laproth, Entw. I, B. II, Abschn. 1, Hauptst. 4, § 1, S. 23, 24; s. femer: Marat, Plan etc., p. 246 (G.-S. 61, S. 450); Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 229ff.; Quistorp, Entw., § 334, S. 372 u. Grund- sätze (8. Aufl. 1783) I, § 14S, S. 26S— 270; v. Soden, Geist I, § 101 ff, S. 139ff.: Gmelin, Grundsätze, §157, S. 283 vbd. mit § 11, S. 21, 22; v. Dalberg, Entw., S. 151; V. Grolmann, Grundsätze, § 530, S. 341. Vgl. im allg. auch noch Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 55, S. 692, 701; Püttmann, Elementa jur. erim., Cap. V, § 132ff., p. 60ff., bes. § 143, p. 65ff. vbd. mit „Praefatio", p.I u. U; Rathlef, Vom Geiste, S. 61; v. Reder, Das peinl. Recht II, Kap. XIV, bes. § 2 ff., S. 2S4ff. u. § 22 ff., S. 314 ff. (der übrigens den Gegenstand noch reichlich

Die Strafrechtsreform im Aafklärungszeitalter. 233

(Häresie), die Apostasie, ja wohl gar der Atheismus (solange dessen Anhänger wenigstens änßeriich noch die Staatsreligion respektierten und ihre Lehren nicht in weiteren Kreisen zu verbreiten suchten) sollten grund- sätzlich vom Staate nicht mehr kriminell verfolgt werden. 0 Denn man wttrde dadurch in Konflikt geraten sein mit der vom Natur- recht aufgestellten Lehre von dem Freiheitsrechte des Einzelnen, einer Lehre, die im Vereine mit der Betonung des Nutzens der Religion für die staatliche Gemeinschaft zur Anerkennung der Glaubens- freiheit, der Gleichberechtigung aller staatlich zugelassenen Be- kenntnisse geführt hat^), auf deren Grund nach Friedrichs des Großen Ausspruch ein jeder „nach seiner Fa^on selig werden" könne. ^) Mit diesen freieren Beligionsanschauungen mußte dann auch

breit behandelt); Bommel, Philos. Gedanken, § 15, S. Sl, § 77, S. 153ff. V. Globig u. Buster, Abhdlg., S. 221 wollten dagegen „eine natuiiicho Zau- berei^, wie z. B. bei der „nur wenig entdeckten Sympathie*^, doch nicht ganz in Abrede stellen.

1) Zur Verwerfung der herkömmlichen Strafen für Ketzerei s. u. a. bes.: Voltaire, Commentaire, §§ 8, 4 (Bibl. phil. T. I, p, 205ff., 209ff.), Prix de la justice, Art. VIII (Bibl. phil. T. V, p. 28ff.), Dict. philos.. Art „Bßr^sie", T. IX, p. 122ff. (u. dazu Frank, a. a. 0. S. 67, Anm. 25); ferner Marat, Plan etc., p. 245 (s. G.-S. 61, S. 120, 121 u. Anm. 8); Brissot de Warville, Theorie U, p. 4; M. le F., Plan de l^gislation etc. (Brissot, Bibl. phil. T. V), p. 854 ; v. Soden, Geist I, § 90, S. 127ff.; v. Globig u. Buster, Abhandig., S. 256; Hommel, Philos. Gredanken, § 85, S. 168 n. dazu Bössig, „Vorerinnernng", S. XII; Graebe, Beformation, § 84, S. 68, 64: v. Grolmann, Grundsätze, §526, S. 287. Im allg. zu vgl. auch noch Servin, Über die peinl. Gesetzgbg, S. 216 ff. ; Püttmann, Elem. jur. crim., Gap. VI, § 145 ff., p. 67 ff. (Strafbarkeit nur bei Ausbreitung der Ketzereien zum Nachteile des Staats); Quistorp, Entwurf, § 885. S. 878 ff., s. auch Gi-undsätze (8. Aufl., 1788), § 145, S. 264/65; Beseke, Versuch, S. 112; Wieland, Geist II, § 406ff.. S. 98ff. (i. d. B. keine weltliche Strafe für Ketzerei, die „für sich betrachtet ...niemals ein Verbrechen*^ ist [§409, S. 97], Ausnahme s. § 410, S. 98); v. Reder, Das peinliche Hecht II, Kap. XIII, 8. 132 ff., insbes. § 9, S. 140 (wie Püttmann); Gmelin, Grundsätze, § 11, S. 20 vbd.u^it § 156, S. 280 ff. Über die (meist nur mit der im Text erwähnten Beschränkung vorgeschlagene) Straflosigkeit des Atheismus s. bes. F i 1 a n g i e r i , System IV (8, 2), Kap. 44, S. 845; Marat, Plan etc., p. 245 (G.-S. 61, S. 448/49) ; Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 214 ff. ; v. G 1 o b i g u. B u s t e r , Ab- handig., S. 256; Bössig, „Vorerinnerung'^ zu Hommels Phil. Ged., S. X; Gmelin, Grundsätze, § 11, S. 21. Strengere Anschauungen hatten noch V. Sonnenfels, Grundsätze, § 64, S. 71 („erklärte Freigeiste nicht zu dulden*^) u. M i c h a e 1 i s , Mos. Becht IV, Vorrede, S. 125 („völlige Gottes verleugner* sind „sehr gefährlich").

2) Vgl. V. Rohland, Historische Wandlungen usw., S. 186-188.

5) Über Friedrichs des Großen Toleranz in Glaubenssachen s. näheres bei Willen buch er, a. a. 0. S. 31, 84. Ähnlichkeit mit dem im Text angeführten

234 XIV. Glnthee

die Gotteslästerung, früher das schwerste aller Delikte^ das in katholischen wie protestantischen Gebieten in gleicher Weise mit dem Tode bedroht war i), eine völlig veränderte Stellung erhalten. Man zälilt sie nun wohl bloß zu den Polizeiübertretungen ^), ja befürwortet gar wie es auch heute vdeder einige radikale Neuerer getan haben *) ihre gänzliche Straflosigkeit. *) Denn ihre Bestrafung bezweckt ja nur

Aussprache des KöniKs hat wiederam (vgl. oben S. 227, Anin. 3) Marat, Plaa etc., p. 245, Anm. 1 („la libert^ laiss^ ächaeun de servir Dieu k sa maniere*"; vgl. Günther im G.-S. 61, S. 447/48, Anm. 4). Über Glaubensfreiheit s. ferner bes. noch Voltaire, Commentaire, § 4 (Bibl. Phil. T. I, p. 211/12), Dict. philo». Art „Hßr^sie", Sect 2, T. IX, p. 130/31 u. Art „Tol^rance", T. XIV, p. 73 ff, und an anderen Stellen (vgl. Frank, a. a. 0. S. 67 Anm. 25) und Hommel, Philos. Gedanken, § 22, S.42, § 47, S. 92ff. nebst Rössigs „Vorerinnerang'' dazu S.Xi.

1) Vgl. Kahl in d. Vergleich. Darstcllg., Bd. III, S. 12, 13.

2) V. Globig u. Huster, Abhandig., S. 252 ff. zahlten dahin überhaupt alle „Beleidigungen der Religion*^, wollten aber die Blasphemie in der Regel („ohne Beziehung auf den besonderen Gottesdienst des Staats*^) überhaupt nicht strafen <S. 255); vgl. Graebe, Reformation, § 32, S. 60 (wenn ausnahmsweise Strafe zu verhängen sei, müsse diese „mehr Polizeistrafe als peinliche sein*^).

3) S. darüber näheres bei Kahl, a. a. 0. III, S. Slff. u. 87 vbd. mit S. 101. Vgl. ferner die Schriften von Rot he, (regen den Gotteslästerungsparagraphen (in den ^Heften zur christl. Welt*^, herausgeg. von Rade, Nr. 57, Tüb. 1906) und von W. Thümmol, Der Religionsschutz durch das Straf recht (§166 d. StG.Bs.), Leipzig 1906, sowie (zu beiden Schriften): v. Kirchenheim, Zur Aufhebung von § 166 R.St.G.B., im Zentralblatt für R.-Wiss., Febr. 1907, S. 81— 83. Für Bei- behaltung des Deliktsbegriffs dagegen ausdrücklich Köhler, Refonnf ragen, S. SO.

4) S. im allg. Geib, Lehrb. I, 8.333; v. Liszt, Lehrb., § 117, S. 396. Für Straflosigkeit der Gotteslästerung schlechthin oder doch in der Regel (wenn ohne öffentl. Ärgernis begangen usw.) sind u. a. bes. eingetreten: Mon- tesquieu und Voltaire (worüber näheres unten S. 235, Anm. 3), Filangieri (vgl. ebenfalls unten S. 235, Anm. 3) und Quistorp, Entwurf, § 283, S. 310. über V. Globig u. Huster und Graebe s. schon oben Anmerkung 2; über Hommel vgl. unten S. 235, Anm. 2. Femer wollte v. Eberstein (Entwurf, S. 82 ff.) für die ganz leichten Fälle keine eigentliche Strafe eintreten lassen, und auch Michaelis (Mos. Recht VI, Vorrede, S. 122), Püttmann <Elem.jur.crim. II, Cap. III, § 107/9, p. 49, 50 vbd. mit .Praefatio**, p. HI), v. Soden (Geist I, § soff., S. llSff. u. bes. § 85, S6, S. 123 ff.), Wieland (Geist II, § 400, S. 83, 85k Gmelin (Grundsätze, § 155, S. 278 ff.) waren grundsätzlich zu einer leichteren Auffassung des Delikts geneigt. Vgl. auch noch die Franzosen M. le F., Plan de lägislat sur les matteres crim. (Brissot, Bibl. phil. T. V) p. 351/52 und Ber- nardi, Discours etc. (Bibl. phil. T. VIII), p. 36ff. Marat (Plan, p. 245/46) wollte die GottesJästerung durch (kürzere oder Längere) Einsperrung in die Irren- häuser „bestrafen", ein Vorschlag, der in der österreichischen Gesetzgebung (17S7) Verwirklichung gefunden hat is. G.-S. 61, S. 349 50, Anm. 5 u. näheres noch weiter unten). Gegen die völlige Straflosigkeit ausdrücklich Schott, Observat. de delictis et poenis etc. (deutsch bei Schall, Von Verbrechen und Strafen, S. 29 u. dazu Schall selbst, S. 29, Anm.*); vgl. auch v. Reder, Das

Die Strafrechtsreform im Aufklärungszeitalter. 235

indirekt den Schatz staatlicher Interessen ^)y nicht mehr, wie man früher angenommen, denjenigen der Gottheit selber, der nicht Auf- gabe des weltlichen Rechts und Gerichts sein kann. Näher begrün- det wird dies bald damit, daß Gott als ein „unendliches Wesen^ („un Stre infini") überhaupt nicht von Menschen verletzt werden könne % bald damit^ daß die menschliche Justiz jedenfalls nicht die Mittel besitze, um die der Beleidigung eines solchen höchsten Wesens entsprechende Sühne zu verwirklichen, weshalb denn schon Mon- tesquieu — dem rasch eine große Schar von Gesinnungsgenossen gefolgt ist das „venger la divinitö" für verwerflich erklärt hatte. ^)

peinJ. Recht II, Kap. XII, § 4 ff., S. 208 ff. u. § 57 ff., S. 262 ff. (z. Teil für [durch Prügel] geschärfte Zuchthausstrafe, ev. [beim 2. Ruckfall] auf Lebenszeit nebst BrandmarkuDg); Pflaum, Entwurf I, § 199, S. 189 (hier abweichend von QuistorpK Besonders rückstandig erscheint noch die Behandlung des Vorbrechens bei Claproth, Entwurf I, B. II, Abschn. 1, Hauptst 1, § 1, S. 17ff. (vgl. Günther, Wiedervergeltg. n, S. 217 u. Anm. 585) und Servin, Über die peinl. Gesetzgbg. S. 221, wo noch Verstümmelungen des „schuldigen Giiedes*^, also in der Regel der Zunge (bei Claproth sogar als schärfender Zusatz zur Todesstrafe!) an- gedroht sind; vgl. auch schon oben S. 179, Anm. 1. Beseke, Versuch, S. US ist nur gegen hartnäckige (rückfällige) Delinquenten streng. (Strafe: lebenslang]. Zuchthaus).

1) Dies betonen von den in der vorigen Anmerkung erwähnten Schriftstellern bes. Michaelis und Wieland; ygl. im allgem. femer noch Rössig, ^Vor- erinnerung'^ zu Hommels Philos. Gedanken, S. XVÜI u. Gmelin, Grundsätze, § 154, S. 277. V. Rohlaud, Historische Wandlungen, S. 187.

2) S. Hommel, Übersetzg. von Beccaria, S. 46, Anm. u. *: «... Niemand kann durch Taten, geschweige denn durch Worte bewirken, daß Gottes Reich zu Grunde gehe*"; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 255: „Welch Unternehmen, . . . dem Schöpfer Genugtuung zu vorschaffen, der gar nicht beleidigt werden kann**; Wieland, Geist II, § 400, S. 85: „Der Mensch ist . . . viel zu ohnmächtig, um sich eines Verbrechens wider die göttliche Majestät schuldig machen zu können*". Vgl. im allg. auch v. Rohland, a. a. 0. S. 187.

3) Montesquieu, Esprit des lois, Livre XII, chap. 4, p. 157: „Le mal est venu de cette id^e, qu'il faut venger la divinit6. Mais il faut faire honorer ia divinitö et ne pas la venger jamais . . . Si les lois des homraes ont ä venger un ^tre infini, elles se rt^gleront sur son infinit^ et non pas sur les faiblesses, suT les ignorances, sur les caprices de la natnre humaine*'. Vgl. Geib, Lehrb. I, S. 332; Hertz, Voltaire, S. 133 u. Anm.' 2, 137/38; Günther, Wiedervergeltg. II, S. 171 u. Anm. 394 u. im G.-S. 61, S. 447 u. Anm. 3; Masmonteil , La Mgislation crim., p. 200; V. Rohland, a. a. O. S. 187. Im wesentl. übereinstimmend mit Montesquieus Auffassung u. a. auch: Voltaire (s. bes. Commentaire, § 5 (Bibl. phil. T. I, p. 21(J/17J; vgl. auch Dict philos., Art. ^lasphOme'*, T. IV, p. 75ff. u. dazu Hertz, a. a. 0. S. 431, Masmonteil, a. a. 0. p. 200, 201 u. Berolz- heimer, System V, S. 222, Anm. 48); Marat, Plan etc., p. 243 („Que les lois se gardent de vouloir venger le ciel" etc; vgl« G.-S. 61, S. 347 u. Anm. 2); Brissot de Warville, Discoure etc. (Bibl. phil. T. VI), p. 116ff.; Filangieri,

236 XIV. Günther

Im Zusammenhange mit dieser leichteren Bestrafung der Verbrechen gegen die Gottheit steht auch die neu aufkommende systematische Behandlung des Meineids als Fälschung oder einer besonderen (erschwerten) Art des Betrugs^) sowie die mildere Ahndung des früher übertrieben schwer bestraften Kirchendiebstahls^ der z. B. nach der Ansicht Filangieris „vor dem Richterstuhl der Vernunft** weit weniger strafbar erscheint als etwa die Tat desjenigen, „der einem Unglücklichen das raubt, was zum Unterhalte seiner Fn- milie notwendig war".'^)

System IV (S, 2), Kap. 44, S. 342 („.... bedarf wohl die Gottheit unser, um ihre Beleidigungen zu rächen ?"); Quistorp , Entwurf, § 283, S. 310 („vielmehr ist die Rache dem höchsten und allwissenden Hichter Himmels und der Erde lediglich zu überlassen*^); v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 255 („. . . wie werden schwache Sterbliche das große Vergehen [gegen das höchste Wesen] rächen können?") Vgl. im allgem. auch noch Michaelis. Mos. Recht VI, Vor- rede, S. 122 u. Gmelin, Grundsätze, § 11, S. 20, 21; ja selbst Servin, der ja in der Bestrafung des Delikts noch allzu konservativ erscheint (s. oben S. 235, Anm. 4 a. E.), verwarf doch die Idee, durch die Strafe die ^Rache des unend- lichen Wesens'^ auszuüben. (Über die peinl. Gesetzgbg., S. 212/13.).

1) Für die Einzelheiten dieser, übrigens erst allmählich und nicht ganz ohne Widerspruch und Schwankungen durchgedrungenen Behandlung des Memeids, in dem man nun nicht mehr eine Mißachtung Gottes, sondern eine Verletzung bloß staatlicher Interessen erblickte, kann hier auf v. Liszt's Monographie ^Meineid und falsches Zeugnis'', S. 130 ff. verwiesen werden, wo die Ansichten der wich- tigsten Aufkläioingsschriftsteller ausführlich dargestellt sind. Vgl. auch v. Liszt, Lehrb., § 180, S. 591 u. v. Rohland, Histor. Wandlungen, S. 139. Von Inter- esse sind vereinzelte Stellen in der Aufklärungsliteratur, aus denen hervorgeht, daß man zum Teil schon damals wie noch heute vielfach (vgl. dazu etwa Köhler, Reformfragen, S. 83i darauf bedacht gewesen, zur Verminderung der Venirteilungen wegen Meineids den Gebrauch eidlicher Beteuerungen einzu- schränken, wenn nicht ganz abzuschaffen. S. z. B. Filangieri, System IV, (3, 2), Kap. 44, S. 361 ; Hommel, Philos. Gedanken, § 15, S. 31; Bergk, Über- setzung von Beccaria f, S. 122/23, Anm. ♦. Michaelis, Mos. Recht VI, Vor- rede, S. 12 meinte, „daß ein religiöses Volk auch ohne bürgerliche Strafe des Meineids bestehen könne". „Von den Mitteln, dem Mißbrauche der Eide vorzubeugen" hat E. F. Klein in seinen „Vermischten Abhandlungen", I Stück (Leipz. 1799), S. 4 ff. gehandelt.

2) S. Filangieri, System IV (3, 2i, Kap. 44, S. 337, überhaupt daselbst S. 356—358 (vgl. Geib, Lehrb. I, S. 835). Für leichtere Behandlung des Kirchen- diebstahls sind u- a. ferner eingetreten: Voltaire (s. z. B. Prix de la justice, Art. II [Bibl. phil. T. V, p. 12, 13] u. näh. bei Masmonteil, a. a. 0. p. 236); M. le F., Plan de legisl. etc. (Bibl. phil. T. V), p. 417; v. Soden, Geist I, § 127, S. 164 (keine Todesstrafe); Wieland, Geist 11, § 478, S. 188 89; Graebe, Re- formation, § 49, S. 87. Über Marat s. G.-S. 61, S. 451. Eine konservativere Be- handlung des Delikts findet sich dagegen bes. noch bei Claproth, Entwurf I B. II, Abschn. 4, Hauptst 1, § 7, S. 83 und Servin, Über die peinl. Gesetzgbg.

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 237

In ganz ähnlicher Weise hat die Entziehung der religiös- sittlichen Grundlage auch auf die Umwertung der Sittlich keits- delikte eingewirkt i), so daß an Stelle der bekannten früheren maß- losen Ausdehnung dieser Gruppe strafbarer Handlungen eine freiere, ja yielfach selbst nach heutigen Begriffen allzu laxe Auffassung trat, die in der Mehrzahl der hierher gehörigen Exzesse nur entschuldbare menschliche Schwächen („Schwachheiten", „Unarten") erblicken wollte, eine Lehre, die in dem „galanten Jahrhundert" erklär- licherweise nur allzu willige Ohren gefunden hat, ganz besonders in Frankreich, wo Voltaire als ihr Hauptvertreter erscheint 2), dann aber auch bei uns in Deutschland. 3) Übrigens haben hietbei

S. 223ff.; vgl. auch v. Eberstein, Entwurf, S. 95 (der jedoch Schärfung der Strafe gegenüber der des einfachen Diebstahls nur für Katholiken wollte).

1) S. Joh. Jak. Cella , Über Verbrechen und Strafe in ünzuchtsfällen, §§ 3—7. S. 4— 13, § 59, S. 95ff.; Geib, Lehrbuch I, 8.338; v. Liszt, Lehrbuch, § 103, S. 366; vgl. auch Berolzheimer, Syst. V, S. 170. Dagegen meint Mitter- mai er in der Vergleich. Darstellung, Bd. IV, S. 12, daß die Aufklärungszeit im ganzen nicht allzu tiefgreifende Veränderungen auf dem Grebiete der Sittlichkeits- delikte hervorgebracht habe.

2) Über Voltaire (z. B. Prix de la justice, Art. XII, XIV u. bes. XIX) s. in dieser Beziehung im allgem. Masmonteili a. a. 0. p. 231: ,,Vo Itaire, qui s'est content^ d'en plaisantcr, toutes ces fautes (d. h. die Sittlichkeitsdelikte) n'6tant ^ ses yeux quo des honteuses ou d'aimables faiblessses'^ ; s. ebds. überhaupt p. 231—235; vgl. auch Frank, Die Wolffscho Strafrechtsphilosophie, S. 68 und Anm. 31. Über Montesquieu s. Günther, Wiedervergeltg. II, S. 171; vgl. auch nnten S. 239, Anm. 1.

3) Selbst Claproth (Entwurf I, B. II, Abschn. 5, Hauptst. 2, § 1, S. 110. Anm. a hielt schon für „Verbrechen, die blos aus Geilheit herfließen, die Schärfe derer Strafen vor unzureichend'^, v. Sonnenfels (Grundsätze I, § 122, S. 147/48) warnte die Polizei davor, „daß sie durch übertriebene Strenge gegen (solche) Schwachheiten nicht etwa zu größeren und schändlicheren Verbrechen Anlaß gebe*^, und (der in dieser Beziehung besonders milde) Hommel (s. Landsberg, Gesch. III 1, Noten 8.255) beklagte es (Philos. Gedanken, S. 66. S. 135 ff. u. [im wes. gleichlautend] Übereetzg. von Beccaria, S. 168, Anm. 1), daß dem Staate so viel „junger Anflug" dadurch verloren gehe, „daß Obrigkeiten, welche es gottselig gut zu machen denken, die fleischlichen Vergehungen allzu hart bestrafen . . ., wodurch sie Abtreibung der Kinder und (Kindcr-)Mord, also einen (für den Staat, ja für das ganze menschliche Geschlecht sehr beträchtlichen) Verlust bewirken^. Zu vgl. ebds. § 28, S 46. §§ 59, 60, S. 121 ff. („da . . . fleisch, liehe Vergehung bloße Sünde ist"), § 69, i^. 139 ff. vbd. mit Übersetzung von Becacria, Vorrede, S. XVIII, XXIX („Fleischliche Vergehen entstehen aus S ch wach- heit, Verbrechen aus Bosheit''), S. XL („fleischliche Verbrechen . . . und andere unartige, nicht aber ungerechte Dinge"), S. 165, Anm. k(bes. betr. die „Sodomi- terey)"; s. auch Rössig, „Vororinnerung" zu Hommels Phil. Ged., S. XIX, XX; femer v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 241 ff., 246 (Blutschande « ,.Unan-

238 XIV. Günther

noch zwei andere, sozusagen mehr objektive Vorstellungen unter- stützend mit eingewirkt, einmal nämlich der Hinweis darauf, daß bei vielen (leichteren) Fällen der fleischlichen Delikte, so u/a. bei den Akten der widernatürlichen Unzucht, kein „dritter" beleidigt er- scheine und insbesondere auch das „gemeine Wohl^ des Staats nicht gefährdet werde sodann die von der neueren Wissenschaft inzwi-

ständigkeif'l, 248; Cella, a. a. 0. § 82, S. 149 (^delicta carais'^ dürfen and müssen „als moralische Unarten nicht schlechterdings und immer gestraft werden'*); vgl. ebds. § 21, S. 28ff. („moralische Vergehungen und Unarten*), § 58, S. 91 (Ehebruch « „moralische Untugend"), § 79, S. 135, § 83, S. 140 (Blutschande = „moralische Unart"). Strengere Auffassung dagegen bes. noch bei Gmelin, Grundsatze, Vorrede, S.XV, XVI u. § 188, S. 235/36, zum Teil auch bei Filangieri, System IV, (3, 2), S. 493 ff. Übrigens sind selbst die frei- sinnigsten deutschen Aufklärer nicht für völlige Straflosigkeit selbst der leichteren Sittlichkeitsdelikte eingetreten, haben vielmehr wegen der auch bei ihnen meist doch vorhandenen Gefährlichkeit für die bürgerliche Ordnung polizeiliche Verfolgung und Bestrafung zugelassen (vgl. Hai sehn er, Geschichte, S. 224); so namentl. auch Cella, a. a. 0. an verschiedenen Stellen, wie bes. § 19, S. 26fr., § 23, S. 34 u. § 24, S. 35 (u. dazu Mittermaier in der Vergleich. Darstellg. IV, S. 12), ferner Hommel, Übersetzung von Beccaria, Vorrede, S. XL, Nr. 2 und Philos. Gedanken, § 78, S. 155 und Graebc, Reformation, § 51, S. 89ff.; vgl. auch V. Globig u. Huster, Abhandig., S. 241 ff. u. bes. Vier Zugaben (Zugabe 3, Hauptst. II: „Sorge der Polizei für die Sitten"), S. 305 ff.

1) S. im allg. V. Liszt, Lehrbuch, § 103, S. 366. Im einzelnen s. be:^. Hommel, Philos. Gedanken, § 60, S. 121 ff. („Fleischliche Vergehungen, wodurch niemand beleidigt wird"), § 69, S. 139ff. („Fleischliche Fehltritte*' sind nur Sünde, nicht aber Verbrechen, wodurch man dem gemeinen Wesen schadet"), vgl. auch Übersetzg. von Beccaria, Vorrede, S. XXIX („Blutschande == nur „Sünde, wodurch niemand beleidigt wird"); Rathlef, Vom Geiste, S. 40 (Unzucht = „ein Verbrechen, wobei niemand beleidigt wird**), S. 53 (betr. Ehebruch), S. 51 (betr. Blutschande); derselbe, Der Kindermord, a. a. 0. S. 171 („da bei der bloßen Unzuchtkeindritterbeleidigtwird");Cella, a.a.O. § 9, S. 15ff. vbd. mit§iy S. 26ff. (es fehlt „die Absicht^ . . . anderen Leuten zu schaden, sie zu belei- digen**), s. auch § 65, S. 101 (betr. Ehebruch), § 83, S. 140 (betr. Blutschande, die nicht zu den „eigentlichen Beleidigungen des Staats" gehöre); vgl. (betr. die gewöhnliche Unzucht, stupnim, „Hurerei" od. Fomikution) auch noch: Servin, Über die peinl. Gesetzgebg., S. 257; v. Soden, Geist H, § 874, S. 10 u. § 384, S. 19; Wieland, Geist II, § 501, S. 216; dagegen aber: Gmelin, Grundsätze, § 133, S. 235 ff. Über die Verwendung des Arguments bei der widernatürlichen Unzucht s. insbes. noch Hommel, Übersetzg. von Beccaria S. 165, Anm. k. und Cella, a. a. 0. § 25, S. 37 sowie von neueren Schriftstellern etwa H. Dorn, Strafrecht und Sittlichkeit, zur Reform des deutschen Reichs- strafgesetzbuchs, München 1907, S. 66 vbd. mit S. 9; vgl. auch Berolzheimer, System V, S. 170, 183 u. bes. S. 185. Speziell dagegen aber schon Gm-elin, Gi-undsätze § 20, S. 44 vbd. mit § 137, S. 242/43 und von Neueren Mitter- maier in der Vergleich. Darstellg. IV, S. 152, Anm. 2, welcher meint, daß die Argumentation „heute einen ernsthaften Juristen nicht mehr Kopfzerbrechen

Die Strafrechtsrefonn im Aufkläningszeitalter. 239

sehen längst widerlegte Annahme einer körperlichen und geistigen Überlegenheit der illegitimen Nachkommenschaft über die „blöden und dummen Pflanzen** des Ehebetts. 0 Dieser letztere umstand

machen" könne. Auch abgesehen von jener Begründung ist wohl die Mehrzahl der Aufklämngsschriftsteller für die Beseitigung oder doch Einschränkung der Strafen (Abschaffung der Todesstrafe) bez w. des Begriffs der widernatürlichen Unzucht, (im Gegensatze zu seiner ungeheueren Ausdehnung im gemeinen Hechte [v^l. Mittermaier in d. Vergl. Darstellg. IV, S. 148, Anm. 1; auch Köhler in Gross' Archiv 24, S. 868 ff.]) eingetreten (vgl. im allg. Geib, Lehrb. I, S. 833; V. Liszt, Lehrb., § 110, S. 385), wenngleich eine Agitation zu Gunsten der „Ho- mosexuellen^, wie sie heutzutage betrieben wird (vgl. zur Lit. [besonders für und wider die Aufhebung des § 175 R.SlG.B.1 im allgem. etwa Berolzheimer, System V, S. 180, Anm. 2, S. 181, Anm. 2 u. S. 182) damals noch unbekannt ge- wesen ist. S. u. a. im wes. schon Montesquieu, Esprit des lois, Li vre XII, chap. 6. p. 159 (vgl. Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilos , S. 68, Anm. 81 a. E.); femer Beccaria, § 36, S. 153 (mehr indirekt); Voltaire, Prix de la justice, Art. XIX {Bibl. phil. T. V, p. 70ff.; vgl. Masmonteil, a. a. 0. p. 234); Marat, Plan de legisl. crim., p. 224 (s. G.-S. 61, S. 389/40); M. le F., Plan de legisl. etc. (Bibl. phil. T. V, p. 452/53) ; B e r n a r d i , Discours etc. (Bibl. phil. T. VII), p. 110; Brissot de Warville, Theorie I, p. 238/39, 242; Servin, Über diepeinl. Gesetzgebg., S. 249 ff., 253 (Strafbarkeit nur bei Ärgernis oder Verführung der Jugend); Hommel, Philos. Gedanken, § 28, S. 46; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 245 ff.. Vier Zugaben, S. 318ff.; Cella, a. a. 0., § 26, S. 37ff., § 27 ff., S.40ff.; § 42 ff., S. 62ff., § 46 ff., S. 70 ff. (der nur polizeiliche Bestrafung, diese aber in recht weitem Umfange zulassen wollte; vgl. oben S. 238, Anm. 8 a. £). Als Anhänger der älteren, strengeren Richtung erscheinen (außer dem schon erwähnten Gmelin [Grunds.,§ ]35ff.,S. 239ff.,§ 244, Anm. v mit ausdrückl. Polemik gegen Montesquieu u. üommel]) mehr oder weniger auch : Claproth, Entw.I, B. U, Abschn. 5.. Hauptst. 2, S. 109/10; Quistorp, Entwurf, §§ 304/5, S. 336—338; Pflaum , Entw. I, §§ 207/8, S. 195/96 ; v. Soden, Geist II, § 411, S. 48ff.; v. Reder, Das peinl. Rocht IV, Kap. IV, §30 ff., S. 86ff.; v. Ebers t ein, Entwurf, S. 111 ff.; mehr vermittelnd dagegen wieder: Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 38, 98 und Wieland, Geist II, § 518, S. 236/36. Über v. Grolman s. n. bei Wachenfeld, Homosexualität u. Strafgesetz, Lpz. 1907, S. 22 u. Mittermaier i. d. Vergl. Darstellg. IV, S. 148. Auffällig erscheint die ungleiche Behandlung der sog. „Bestialität" und der „Päderastie" bei Beseko, der (Versuch, S. 111, Nr. 9) für die erstere lebenslängliches Zuchthaus verhängt wissen wollte, während die letztere „nur vom Prediger als grobe Sünde vorgehalten . . . werden" sollte.

5) So bes. Hommel, Philos. Gedanken, § 66, S. 135ff. (vgl. Geib, Lehrb. I, S. 333; V. Liszt, Lehrb., § 103 S. 366), der dies wieder damit begründet, daß „der Beischlaf (in der Ehe) allzu oft mit Überdruß, auch wohl in tiefen Nahrungs- sorgen vor sich" gehe; auch Zaupser, Gedanken, Abh. 2, S. 47 meinte, daß „die Talente aus einer gewissen physikalischen Ursache bei unehelichen Kindern oft großer als bei den ehelichen soien^, und noch heute scheint zu dieser Ansicht zu neigen H. Dorn, Strafrecht und Sittlichkeit, S. 62, 63. Nicht selten ist zur Begründung der Straflosigkeit bezw. der leichteren Bestrafung gewisser Sittlichkeitsdolikte auch wohl noch der Satz hervorgehoben worden,

240 XIV. Günther

dürfte besonders mit beigetragen haben zu der sehr leichten Beurtei- lung des Ehebruchs, den man nach Voltaires Ansicht gar nicht gerichtlich verfolgen könne, ohne sich zugleich lächerlich zu machen >), den aber auch in Deutschland damals manche nur als eine rein privat- rechtlich zu beurteilende Verletzung des Ehevertrages aufgefaßt haben. -j Daneben findet sich dann freilich auch noch eine strengere An- schauung, wonach der Ehebruch nicht als „eine artige Mode""

daß, ^wo die Natur (schon) strafe'^ (wie z. B. die Mädchen bei einem außer- ehelichen Beischlafe durch Schwangerschaft und Niederkunft), „so daß der Ver- brecher ohne alle Gesetze schon sattsam Ursache hat, die Sünde zu unterlassen, . . . der Gesetzgeber gar nicht strafen^ solle; so: Hommol, Phiios. Gedanken, § 19, S. 37: vgl. Michaelis; Mos. Recht VI, Vorrede, S. 38; Quistorp, Entwurf, f 315, S. 348; Gmelin, Grundsätze, § 147, S. 263, Nr. 2; dagegen aber ausdrucki. bes. Kleinschrod, Syst. Entwickig. II, § 5, S. 13.

1) Voltaire, Prix de la justice, Art, XII (Bibl. phil.*T. V, p. 62): „un crime, que tout le monde est tent^ de commettre, que tout le monde favorvise, quand il est commis, qu'il est si difficile de prouver et dont on ne peut gudre se plaindre en justice, sans se couvrir de ridicule"; s. auch Dict. phiios.. Art. „Adult6re^ T. I, p. lülff. «vgl. Masmonteil, a. a. 0. p. 232/83, auch Geib, Lehrb. I, S. 333). Wörtliche Wiederholung der Stelle aus Voltaires Prix bei Brissot de Warville, Theorie I, p. 22S (der schon im „Discours" iBibl. phiL T. VI, p. 107 ff., bes. p. 109, 113] für mildere Behandlung des Delikts eingetreten). Nachsichtig sind im wes. auch Beccaria, § 36, S. 151ff. und Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 50, S. 573 ff., 577/578 (die beide mehr Verhütung als Be- strafung wollten); nur für leichtere Strafe auch Bernardi, Discours etc. (Bibl. phil. T. VII), p. 117. Dagegen erblickte Servin, Über die peinl. Gesetzgebg. S. 233 ff. im Ehebruch eine „außerordentlich schwere Missetat' (S. 237), die in Frankreich viel zu lax beurteilt werde (S. 238) ; über die Strafe s. ebds. S. 243. Über Marat s. noch unten S. 241, Anm. 2.

2) Vgl. im allgem. v. Liszt, Lehrbuch, § 116, S. 393. Her\'orzuheben bes. Oclla, a. a. 0., § 57, S. 88 ff. u. uamentl. $ 58, S. 89 (Randbemerkung: „Eheliche Untreue sowie jede andere Verletzung eines Privatvertrags begründet keine öffentliche Strafe, sondern bloß eine Verbindlichkeit zur Privat- satisfaktion gegen den anderen Teil"; ebds, S. 91: «Nie ziemt es dem Staate, dieser moralischen Untugend (vgl. oben S. 328, Anm. 3) halber mit dem fiachschwert des peinlichen Richters gegen seine Untertanen zu wüten**; vgl. {betr. d. Strafe) § 63, S. 9Sff., §§ 64, 65, S. lOlff, § 71, S. 118ff.; s. femer v. Sodeu, Geist II, § 395, S. 31, 32 (bes. gegen die Todesstrafe für diesen „Bruch eines Vertrags"). Für mildere Bestrafung im wes. auch Wieland, Geist II, § 508 ff., S. 22 3 ff. sowie (wenigstens tatsächlich) Quistorp, Entw.. § 290, S. 320, Pflaum, Entw. I, § 202, S. 191, v.Dalberg, Entw., S. 156, Nr. li und V. Grolman, Grundsätze, §543/44, S. 353/54. Über Vorschläge zu freierer Behandlung des Ehebmchs in neuerer Zeit s. jetzt bes. die aasführl. Angaben bei Mittermai er in d. Vergleich. Darstellg., Bd. IV,, S. 100 u. Anm. 1, S. 101 u. Anm. 2, der selber für Beseitigung des Deliktstatbestands ist; zu vgl. auch Gautier, Contre la r^pression penale de l'adult^re, in der Schweiz. Z. f. Strafr. 7 (1899), S. 353 ff.; Alfr. Kahn, Die Bestrafung des Ehebruchs in der

Die Strafrechtsreform im AufklSrongszeitalter. 241

behandelt, sondern „mit einer ziemlichen Strafe^ belegt werden sollte^), wobei manche insbesondere noch den weiblichen Teil wegen der dnrch diese Tat oft in Frage gestellten Herkunft der Kinder (^perturbatio sanguinis^) härter bestraft wissen wollten als den Mann. 2) Einigen Einfluß hat jene Höherschätzung der unehe- lichen Kinder femer wohl auch geübt auf die Auffassung der (öfter nur als eine besondere Unterart des Ehebruchs behandelten ^)) Bigamie oder mehrfachen Ehe sowie des Inzests („Blutschande''), Delikte, für deren mildere Bestrafung (bezw. Straflosigkeit) man sich zudem

heatigen Gesetzgebung und de lege ferenda, Tübinger Diss., Stuttg. 1902, S. 55fr., 61 (a. die literatarangaben das. S. 55, Anm. 114); H. Dorn, Strafrecht and Sitt- lichkeit, S. 62ff., 66; Berolzheimeir, System V, S. 173.

1) So: Gmelin, Grundsätze, § 189, S. 247. Für strengere Bestrafung mehr oder weniger auch noch Zaupser, Gedanken, Abh. 2, S. 52; Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 42; Rathlef, Vom Geiste, S. 48; Beseke, Versuch, S. 108, Nr. 3; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 231 und Vier Zugaben, S. 204ff.; ▼. Red er, Das peinl. Recht IV, Kap. VI, § 43, S. 207 ff.

2) Für diese, auf Grund römisch-rechtlicher Ideen (s. Mittermaier, Vergl. Darstellg. IV, S. 93 ff.) ausgebildete Anschauung sind u. a. bes. eingetreten: Montesquieu, Esprit des lois, Livre XXVI, chap. 8, p. 403 und (im wesentL Anschluß daran) Cella, a. a. 0. § 71, S. 118—124; femer Beccaria in seinem Gutachten vom Jahre 1792 (bei Esselborn, Übers., Anhang I, S. 185); S ervin, Über die peinl. Gesetzgebg., S. 243; Rathlef, Vom Geiste, S. 49; wenigstens im Prinzip wohl auch v. Reder, Das peinl. Recht IV, Kap. VI, § 7, S. 139/40 und V. Eberstein, Entwurf, S. 186/87, da sie die Tat der Frau der Folgen halber als schwerer bezeichnen. S. auch noch Bernardi, Discours (Bibl. phil. T. VIII), p. 117 („ce [d. h. die perturbatio sanguinis] serait . . . une raison de diminuer la peine du mari*^, nicht jedoch für dessen völlige Straflosigkeit). Ausdrückl. dagegen aber Marat, Plan de legist crim.. p. 2 10 ff., der sogar am liebsten den Ehemann (als den sr. Meinung nach regelmäßig schuldigeren Teil) strenger als die Frau, mindestens aber gleich (und zwar im ganzen leicht) bestraft wissen wollte. N. s. im G.-S. 61, S. 334 u. Anm. 3, S. 335 u. Anm. 1, vbd. mit S. 329/30 u. Anm. 3. Bezgl. der Behandlung der Frage in der neueren Zeit s. Kahn, Die Bestrafung des Ehebruchs usw., S. 49 ff. u. Anm. 104 (Literaturangaben); Mittermaier i. d. Vergleich. Darstellg. V, S. 94 n. Anm. 1—4 (der selber für gleiche Strafe beider Teile ist); Berolzheimer» System V, S. 173.

3) S. z. B. S ervin. Über die peinl. Gesetzgbg., S. 244; Rathlef, Vom Geiste, S. 53; Quistorp, Entwurf, § 289, S.318, § 297, S. 329/30; v. Globig n. Huster, Abhandig., S. 234; Gmolin, Grundsätze, § 142, S. 252/53; Cella, a. a. 0. § 24, S. 36, Anm.^u. § 73, S. 126; v. Grolmann, Grundsätze, § 546, S. 356 ff. Als bloßes „Lokaldelikt'' war die Bigamie von Voltaire, Prix de la justice, Art. XII. (Bibl. phil. T. V, p. 61) betrachtet worden (s. Hertz, Voltaire, S. 434); vgl. auch Brissotde Warville, Thöorie I, p. 236ff.; M. le F., Plan de 16gisl. etc. (Bibl. phil. T. V), p. 444/45. Ganz übergangen ist ue von Marat in seinem Plan de legisl. criminelle (s. G.-S. 61, S. 335, Anm. 2).

Arehiv fVr Kiiminalanthropolo^e. 28. Bd. 16 .

242 XIV. GüirrHEB

wohl noch auf das ^Natorrecht^ oder das „Naturgesetz^ zu berufen pflegte. 1) Eine strengere Beurteilung bmden dagegen auch damals noch wegen des in den Vordergrund tretenden Umstandes des

1) Za Y^. a) betr. d. Bigamie (bezw. Polygamie) im allg.: v. Liszt, Lehrb., § 115, 8. 892; hervorzoh. namentL: ▼. Soden, Geist II, § 398 ff., S. 54 ff.: «Die Polygamie, von der die Bigamie nur eine Gattung ist, ist eigentlich keine Handlang, die nach dem Naturgesetz das Wohl der Gesellschaft stört Das Gesetz der Natur verbietet die Vielweiberei nicht . . . Das Gesetz der Monogamie ist also nor ein Gresetz der Konvenienz*^ usw. Für mildere Be- strafung des Delikts (insbes. für Ausschluß der Todesstrafe, die z. B. selbst Glaproth, Entw. I, B. II, Abschn. 5, Hauptst 4, S. 112 nicht mebr befürwortete) auch Graebe, Befonnation, § 51, 8. 90 und Cella, a.a.O., § 75, 8. 226ff.; vgl. auch Wieland, Geist II, § 510, S. 225/26. Über die Franzosen s. schon die vorige Anmmerknng und zu ygl. dazu noch Bernardi, Discour» (Bibl. phil. T. VIII), p. 105. Einzelne Schriftsteller (wie z. B. Rathlef , Vom Geiste, S. 5S) wollten die Doppelehe ausdrücklich nur dem Ehebrache gleidi be- strafen, die meisten jedoch härter als jenen; s. z. B. bes. Beseke, Versuch, S. 108, Nr. 6 vbd. mit Nr. 3 u. y. Beder, Das peinl. Recht IV, Kap. VII, § 32, S. 258 ff. vbd. mit Kap. VI, S. 207. FGr Milderung des heate geltenden Rechts: Bartolomaeus in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 25, S. 129/30; für völlige Aufhebung des Bigamie-Paragraphen: Dr. Samuel o in der Schrift »Die Poly- gamie in sozialer und rechtlicher Beziehung'' (Leipz., Spohr, ohne Jahreszahl); vgl. dazu Gross in s. Archiv, Bd. 25 (1906), S. 390. b) Betr. des Inzests (Blutschande) s. im allg. Geib, Lehrb. I, S. 333; v. Liszt, Lehrbuch, § 111, S. 387; Aber die Enzyklopädisten: v. Overb;eck, a. a. 0. S. 93; vgl. auch Mittermaier i. d. Vergl. Darstellg. IV, 8.145, Anm. 3; Aber Voltaire (Prix de la justice, Art XIV [Bibl. phil. T. V, p. 66 ff.]) s. M asm on teil, a. a. 0. p. 233. Vgl. auch M. le F., Plan de l^slation (Bibl. phil. T. V), p. 447 ff.; Ber- nardi, Discours (Bibl. phil. T. VIII), p. 108/9; Brissot de Warville, Thtorie h p. 223ff. In Deutschland ist namentlich Hommel sehr eneigisch g^gendie Überspannung der Strafwürdigkeit des Inzests (dessen Verdeutschung durch „Blutschande* ihm sehr unsympathisch war) aufgetreten. Die Handlung, von deren Strafbarkeit das Natur recht nichts wisse, stelle sich als eine höchstens mit bloßer Kirchenbuße zu belegende Sünde (vgl. oben S. 237, Anm. 3)^ nicht aber als ein eigentliches Verbrechen dar. S. Philos. Gedanken, § 36, S. 67, §§ 59, 60, S. 121 ff. vbd. mit d. Vorrede zur Übersetzung von Beccaria; S. XXIV, XXVni/IX. Für leichtere Bestrafung (bezw. Einschränkung des Tat- bestandes) auch: Rathlef, Vom Geiste, 8. 54, v. Soden, Geist II, §405, 8.41, V. Globig u. nuster. Abhandig., S. 246ff., Vier Zugaben, 8. 313ff., Graebe, Reformation, § 52, S. 92 (weil davon „das Naturrecht eigentlich nichts*^ wisse) und bes. Cella, a. a. 0., § 78, 8. 132ff., § 79, S. 135, § 80, S. 135fr., § 83, 8. 140 (Blutschande . . . gehörtnnter die moralischen Unarten [s. schon oben 8. 238, Anm. 3], wo nicht von eigentlichen Beleidigungen des Staats, der öffentlichen Sicherheit der Mitbürger Ivgl. oben 8. 238, Anm. 1], mithin auch von keiner peinlichen Strafe, sondern von einer hauptsächlich zur Besse- rung der Fehlenden und Aufrechterhaltung des sittlichen Grefiihls gerdchendea Korrektion die Rede sein muß''); vgl. auch noch ebds. S. 141 143 u. § 85, 8. 143 ff. Auch Gmelin, Grundsätze, § 136, S. 241, Nr. I bemerkt, daß «das

Die Strafrechtsreform im AuflEl&ningBzeitalter. 24S

gewaltsamen Handelns die Entführung and die Notzucht^),

Natnrrecht . . . kein Verbot (des Inzests) enthalte^ daß daher die Todesstrafe für alle Fälle „viel zu hart^ sei, ja daß es yielleicht am besten wSre, «die BlatBchande ganz aas der Klasse der Verbxechen aii8(za)tilgen und sie nur als einen Grand an(za)ffiliren, die Strafe derer Verbrechen zn schSrfen, welche durch Beischlaf begangen werden." Für strengere Bestrafong (wenngleich nicht mehr Todesstrafe) sind dagegen u. a. noch; Filangieri, System V (8»2), Kap. 50, § 568/64; Seryin, Über die peinl. Gesetzgbg., & 248/49; Claproth, Entwarf I, B. n, Abschn. 5, Haaptst 3, S. 111; Qaistorp, Entwarf, § 809, S. 340ff.; Pflaam, Entwarf I, S. 210, S. 198; v. Reder, Das peinl. Recht IV, Kap, V, f 28 ff., 8. 120 ff. (jedoch mit Beschränkung auf Aszendenten nnd Deszendenten als Täter); v. Dalberg, Entwarf, S. 156; v. Eberstein, Entwarf, S. 109/tO; 8.aach noch Wieland, Geist II, § 519, S. 287. Aach in neuerer Zeit ist die Straflosigkeit der Blutschande die übrigens die meisten romanischen Rechte und das St-G.-B. der Niederlande im wesentl. nicht als besonderes Delikt kennen (vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 8. 145 u. Anm. 5; Mittermaier, a. a. 0. S. 145 und Anm. 8—5) befürwortet worden. So auch von Mittermaier, a. a. 0. S. 147. Dagegen meint Köhler, Reformfragen, 8. 79, daß die (schon im gelten- den Rechte [R.-St-G.-B. § 178] anerkannte) völlige Straflosigkeit der Inzestuösen absteigender Linie bis zum 18. Lebensjahre recht gut fallen könne.

1) Wegen der angewendeten Gewalt sind diese beiden Verbrechen nicht selten von den übrigen Sittlichkeitsdelikten abgesondert und im System bei den „Freiheitsdelikten*^ (Verbrechen gegen die persönliche Freiheit u. dergl.) oder bei den „Gewalttätigkeiten*^ behandelt worden. S. z. B. 8 ervin, Über die peinl. Gesetzgebg., S. 187 ff. u. S. 196 ff. (im Buch I, Kap. 8, Abschn. 2: „Von Ein- griffen in die natürliche Freiheit*"), s. übrigens auch S. 365ff.; Bernardi, Dis- cours (Bibl. phü. T. Vm), p. 189, 140ff.; Quistorp, Entwurf I, Abschn. 16, § 169, S. 191 ff. und Abschn. 17, § 172 ff., S. 196 ff. (abweichend von s. Grund- sätzen des deutchen peinl. Rechts [3. Aufl. 1788], I, § 486 ff., S. 984fr. n. § 508 ff., S.976f£.); Pflaum, Entwurf I, Abschn. 16, § 180, S. 124ff. u. Abschn. 17, § 133 ff., S. 127ff.; V. Soden, Geist I, § 148, S. 174£f. und § 164, S. 199ff. (im unmittel- baren Anschluß an den Abschnitt „Von der Gewalt^, § 129 ff.); v. Grolman, Grundsätze, § 879 ff., S. 229ff. u. § S85ff., S. 234; s. auch noch Kl eins chrod, System. Entwickig. III, § 185, S. 254, Nr. 6 (betr. d. Entführung). Anders da- gegen noch Wieland, Geistll, § 511, S. 228 u. § 512ff., 8. 229ff.; v. Reder, Das peinl. Recht IV, Kap. VIII, S. 261ff. u. Kap. EL, S. 816ff.; Cella, a. a. 0. § 99, S. 174ff. u. § 109ff., 8. 194ff.; Marat, Plan etc., p. 215ff. u. p. 218ff. (s. G.-S. 61, S. 836—888); s. auch v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 284—236 (betr. die Notzucht). Dafi noch heute Streit über die richtige systematische Stellung der Entführung herrscht, ist bekannt S. einerseits Binding, Lehi^ buch. Bes. Teil, I (2. Aufl., Ldpz. 1902), $ 28, 8. 117 (für Stellung unter die Freihdtsv6rbrechen)i andererseits v. Liszt, Lehrbuch, § 104, S. 368 (für die ältere Behandlung bei den Sittlichkeitsdelikten) und dazu im allg. noch Mittermaier in d. VergL Darstellg. IV, 8. 137 ff. Sehr kasuistische Abstufungen der ein- zelnen Fälle der Entführung bei Wieland, Gdst 11« § 512ff., 8. 228ff. und Filangieri, System IV (8,2), Kap. 50, 8. 566ff., 570ff., der für den schwenten Fall sogar nodi die Todesstrafe wollte (S. 567). Für lebenslängliche Freiheitsstrafe: Servin, Über die peinl. Geeetzgbg., 8. 197; für mehr oder

16*

244 XIV. GUNTHEB

nur daß bei diesem letzteren, meist ja sehr schwer zu beweisenden ^) Verbrechen gleichzeitig öfter anch Zweifel geäußert worden, ob es überhaupt zur Vollendung kommen könne, wenn die An- gegriffene sich energisch zur Wehr setze. ^) Großer Verabscheu- ung begegnet femer durchweg die Kuppelei (und „Hurenwirt- schaft'^), namentlich, insofern sie wie es ja meistens der Fall aus 43chnöder Gewinnsucht begangen wird.^) Während uns dies

weniger strenge Bestrafong der Entführung auch die meisten anderen Schriftsteller, ziemlich milde dagegen Marat, Plan, p. 215ff. (s. G.-S. 61, a 336). Über die Aosnahmestellang der Notzucht in der kriminalist Aufklärung»- terator s. im allg. Hälschnet, Geschichte, 8. 224. Für Todestrafe dafür noch Claproth, Entw. I, B. II, Abschn. 8, Hauptst 1, § 2, S. 106; ausdrückl. dagegen und auffällig milde: Marat, Plan, p. 218 (s. G.-S. 61, S. 337/38). Für strenge Bestrafung (jedoch nicht Todesstrafe) die meisten, s. u. a. besonders S ervin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 187/88, 195; Bernardi, Discours (Bibl. phil.T. VIII), p. 140; Michaelis, Mos. Recht VI, Von^e, S. 91; Rathlef,Voin Geiste, S. 53 ff.; Quistorp, Entwurf, § 173, S. 197; Pflaum, Entw. I, § 134, S. 129ff.; V. Globig u. Huster, Abhandig., S. 236; Wieland, Geist II, § 511, 8. 227 u. Anm.* (für Deportation; vgl. schon oben S. 162, Anm. 1); v. Beder, Das peinl. Recht IV, Kap. VIU, § 28ff., S.313ff.; Gmelin, Grundsätze, § 129, 8. 229 (für „eine der Todesstrafe ziemlich nahe Strafe''); Cella, a.a.O. §§ 104, 105, 8. 184ff., 187ff.; v. Dalberg, Entwurf, 8. 155 (für lebensiängtich. Zuchthaus mit 8chanzarbeit); t. Eberstein, Entwurf, 8. 103 ff.

1) 8. darüber ausdrücklich u. a. bes.: 8 er y in, Über die peinl. Gesetzgbg., 8. 188ff.; Brissot de Warville, Theorie II, p. 79, 80; Claproth, Entwarf I, B. U, Abschn. 8, Hauptst 1, § 2, 8. 107; Rathlef, Vom Geiste, S. 55; t. Soden, Geist I, § 154, 8. 188; v. Globig u. Huster, Abhdlg., 8. 234/35; v. Reder, Das peinl. Recht IV, Kap. VIII, § 14, S. 283ff.; Gmelin, Grundsätze, § 129, S. 229, Anm. 1; Cella, a. a. 0. § 103, S. 179.

2) Vgl. im allgem. v.Liszt, Lehrbuch, § 105, 8. 371. Hervoizuheben bes.: Voltaire, Prix de la justice, Art. XV (Bibl. phil. T. V., p. 68 und dazu Mas- monteil, a. a.O. p. 233); Brissot de Warville, Theorie U, p. 81; Cella, a. a. 0. § 99, 8. 174ff., 181ff.; s. auch noch v. Reder, Das peinl. Recht IV, Kap. VIII, § 1, 8. 261/62, § 11, S. 275 sowie (wenngleich mehr indirekt) 8 ervin, Über die peinl. Gesetzgbg., 8. 188 u. v. Eberstein, Entwurf, Vorrede, 8. 9. Dagegen aber in wes.: M. le F., Plan de lägisl. etc. (Bibl. phil. T. V), p. 450: „Le fait est impossible, qnand Paggresseur est moins fort que celle qul se d^fend 11 est difficile ä forces Egales, il est tr^s-possible, quand la f orce est da cdtö de r homme." v. Gl ob ig u. Hu st er. Abhandig., 8. 235 hatten verlangt, daß der Täter „wirklich bewaffnet*^ gewesen; dagegen aber Quistorp, Entwurf, § 177, 8. 196. Über die österreichische Gesetzgebung vom Jahre 17 87 s. noch unten S. 284, Anm. 4.

3) Auf besonders strenge Bestrafung dieses, von ihnen mit den schSifsten Ausdrucken gebrandmarkten Verbrechens dringen namentlich die Franzosen Marat (Plan etc., p. 220 ff.; vgl. G.-S. 61, S. 338/39) und Servin (Über die pdnL Ge- setzgbg., S. 260). Von Deutschen s. v. Sonnenfels, Grands. I, § 122, S. 147;

Die Strafrechtsreform im Aufklärangszeitalter. 246

auch heute noch ohne weiteres verständlich erscheint, muß es da- gegen — in Anbetracht der sonstigen liberalen Anschauungen auf diesem Gebiet auf den ersten Blick befremden, daß die sogar nach unserem hetitigen Rechte straflose Verführung erwachsener Mädchen (arg. § 182 B.-Str.-6.-B.) den Täter nicht nur zur strikten Erfüllung seiner zivilrechtlichen Verbindlichkeiten (Ausstattung [bezw. auch Alimentation des Kindes] oder Heirat) verpflichten i), sondern nach den Wünschen einzelner Schriftsteller auch wirkliche, unter Um- ständen sogar bis zum Tod oder zu lebenslänglicher Freiheitsberaubung

Qai8torp,Entwurf I,§S27ff., S. 364ff., Pflaum, Entwurf I, § 221 ff., S.209ff.; V. Soden, Geist II, § 418, S. 53ff. u. bes. § 422, S. 57; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 244/45, Vier Zugaben, S. 315; v. Heder, Das peinl. Recht IV, Kap. X, § 20, S. d90ff.; Gmelin, Grundsätze, § 134, S. 238/39; v. Dalberg, Entwurf. S. 107 ff.; v. Eberstein, Entwurf, S. 156/57. Dagegen wollte Cella, a. a. 0. § 82, S. 148 die „Hurenwirtschaft und Kuppelei^ (als Begünstigung der ja i. d. Regel nicht unter die Kriminalfälle gehörigen delicta camis) nur zu den „Polizei-Vergehungen'^ rechnen. Über die Strafe s. noch § 89, S. 149 ff. Eine ausdriicküche Anerkennung der Prostitution („gewerbsmäßigen Unzucht**) und des (schon damals nicht selten zur Verhütung schwererer Sittlichkeitsdelikte empfohlenen) Bordellwesens (vgl. Hälschner, Geschichte, S. 171) als eines „notwendigen Übels*^ (als welches es auch heute wohl noch den meisten erscheint) findet sich u. a.bei Beccaria in seinem Gutachten vom Jahre 1792 (Essel- born, a. a. 0., Anh. I, S. 186); s. femer Rathlef , Der Kindermord usw. (Anh. I zu seiner Schrift „Vom Geiste* usw.), S. 168-170; v. Soden, Geist 11, § 374ff., S. 10, 11, § 378, S. 13 („notwendiges Übel% wenigstens in großen Städten); Wieland, Geist II, §517, S. 234/35 („traurige Notwendigkeit •*); vgl. auch V. Globig u. Huster, Vier Zugaben, S. 311/12. Dagegen für Bestrafung der Prostitution (bezw. gegen die Bordelle) noch Marat, Plan etc., p. 219/20 (s. G.-S. 61, S. 338; Püttmann, Elem. jur. crim., Gap. XXXIX, §§ 569, 572, p. 277, 279; Quistorp, Entwurf, §314, S. 347/48; Pflaum, Entw. I, § 213, S. 200; Gmelin, Grundsätze, § 144, S. 275 vbd.mit § 5, S. 9 ff. (gegen „öffentliche Bordelle*").

1) Die Heirat der Verführten (nicht bloß ihre angemessene Ausstattung) hielten viele Schriftsteller damals bes. aus dem Gesichtspunkte der Verhütung des Kindermordee (vgl. darüber im allg. Mal blank in der [von ihm u. Sieben - kees herausgegebenen] „Aligem. Jurist Bibliothek", Bd. II, St 2 {Nümb. 1782], S. 239/40, Nr. 7 u. Bopp in v. Rotteck u. Welckers Staats-Lexikon, Bd. VIII, [1847], 8. 125) als besonders empfehlenswert. So namentl. v. Globig u. Hnster, Abhandig., S. 243 (Heirat als Regel empfohlen, Ausstattung nur dann, „wenn die Mannsperson von solchem Stande wäre, daß durch eine ungleiche Heirat die ganze Familie leiden würde"); femer Marat, Plan, p. 202 ff. (s. G.-S. 61, S. 332 u. Anm. 3); Quistorp, Entwurf, § 153, S. 174 u. § 319, S.351; vgl. auch V. Soden, Geist U, § 388, S. 21 u. § 389/90, S. 23ff.; Wieland, Geist II, § 454, S. 157. Claproth hat die Heirat sogar bei Verführung von Mädchen unter 16 Jahren sowie bei Notzucht befürwortet (s. Entwurf I, B. II, Abschn. 5, Hauptst 1, §§ 1, 4, S. 106, 109); für letzteres auch Marat, a. a. 0. p. 218ff. (s. G.-S. 61, S. 236/37). Gegen solche „Zwangsehen*^ überhaupt u. a. aber: Filangieri,

246 XIV. GümHEB

ansteigende Eriminalstrafen nach gich ziehen soUte. 0 DieErkla- ning ffir diese Übertreibungen ist nnn freilich nicht allzu schwer za finden: man wollte damit indirekt der Begehung des Kindesmordes vorbeugen, und gerade dies erschien den Aufklärern als eine ganz besonders wichtige Aufgabe der bfirgerlichen Gesellschaft Bildete doch die Frage nach der besten Art der Verhütung des Kindesmordes, eines Verbrechens, „von dem sich die Empfindsamkeit der Zdt ge-

System IV (3, 2), Kap. 50, S. 582; Bathlef, Kindemiord, S. 166; Joh. JaL Cella, Von Strafen unehelicher Schwängerungen, beeonderB von denen diesfills gebiSochlichen Zwangakopnlationen usw., Eriangen 1783, 2. AnfL, Anab. 1784 (ygL daza AUgem. jor. BibL, Bd. IH, St 1, 1788, 8. 187 ff.); Pütt in aemem Bepert f. d. peinL Recht I, Vorrede, 8. 26ff.; TgL aneh Malblank in d. Allg. jur. Bibl., Bd. H, St 2 (1782), S. 240.

1) 8o bes.: Versuch einer gesetzgebenden Klnghdt nsw. (s. Allgem. deatacbe BibL, Bd. 89 [1779], S. 405: Um den Kindesmord zn verhüten, solle „der nn- efaeliehe Beischhif an der Mannsperson am Leib nnd beim Wiederfaolnngsfalle mit ewigem Karrenschieben oder demTode** bestraft werden); TgL daza anch Glaser, Übersetzong, Vorwort, S. 9, Anm. **. Für strenge Bestrafung des Verführers (bes. behufs indirekter Verhütung des Kindesmordes [vgl. darüber im allg. Malblank in der Allg. jur. Bibl. n, 2, S. 239, Nr. 7]) femer namenü.: T.Soden, Gdst I, § 268, S. 310; vgl. SerTin, Über die peinL Gesetzgbgn S. 179 (der übrigens beide Teile bestrafen will); Wieland, Geist 11, § 453, 8. 155 ff. a. bes. § 517, S. 235; prinzipiell anch Gmelin, Grundsätze, § 145, B. 259 <der jedoch in Anm. k Bedenken gegen allzn harte Bestrafung des Verführen hegt); s. auch noch Rössig, „Vorerinnerung*^ zu Hommels Philos. Gedanken, S. XXL Über J. J. Cella, Von Strafen unehelicher Schwängerungen usw. (wo- nach der Verführer, ^wenn er die Verführte nicht heiraten will, ihr den sechsten Teil seines beätzenden Vermögens als eine Aussteuer geben oder, wenn er kein Vermögen hat, auf ein Jahr ins Zuchthans kondamniert werden*^ soUte) s. AUg. jur. Bibl. III, 2, S. 188 ff. Nur für leichtere Bestrafung (jedoch beider Teile): t. Dalberg, Entwurf, S. 156, Nr. 4 u. t. Eberstein, Entwurf, S. 101; Tgl. auch Gmelin, Grundsätze, § 147, S. 263; für leichte Bestrafong nur des Mannes: Rathlef, Kindermord, S. 171 u. Quistorp, Entw., § 3)5, S. 348ff. Gegen Kriminalstrafe für den Mann ausdrÜckl. t. Globig a. Huster, Abhdlg., S. 242/43 (Tgl. oben S. 245, Anm. 2) u. Cella, ünzuchts- fälle, § 23, S. 33, 34, § 51, S. 77, 78 u. § 53, S. 79, 80, Anm. *; gegen die Be- strafung des Mädchens ausdrÜckl. Rathlef, Vom Geiste, S. 42 u. Hommel, Übersetzg.Ton Beccaria, S. 126, Anm. w; s. auch t. Globig u. Huster, Abhandig, S. 190 n. unten S. 251, Anm. 4. Gegen die TÖllige Straflosigkeit des außerehel. Bdschlafs, die «als Mittel gegen den Kindermord ihren Zweck T^ehlt*", aber Gmelin, Grundsätze, § 133, S. 2.B7 u. bes. § 143, S. 255/56 u. Anm. f (Lite- raturangaben). — Auch in der Neuzeit sind übrigens manche wieder für Be- drohung der schwereren Fälle des außerehel. Beischlafs mit Kriminalstrafen (für den Mann) eingetreten, da die Vorschriften unseres geltenden (bürgerlichen Straf-) Rechts dem weibl. Geschlechte keinen genügenden Schutz (bezw. keine ans- rrichende Genugtuung) gewährten. Vgl. darüber z. B. Anton Menger, Neue Staatslehre (3. Aufl.), S. 142/43. Über AbänderungSTorschläge des § 182 R.-St-G.-B.

Die Strafrechtsrefonn im Aufklänmgszeitalter. 247

waltsam ergriffen fand'* ^\ ein derartiges lieblingsthemai daß eine darüber im Jahre 1780 zu Mannheim vom Freiherm E. v. Dalberg und J. D. Michaelis ausgeschriebene Preisanf gäbe 2) allein gegen vierhundert Schriften zu Tage gefördert hat, darunter solche von bekannten oder berühmten Persönlichkeiten, wie z. B. dem schweize- rischen Pädagogen Pestalozzi 3), dem Tübinger Kriminalisten

-de lege ferenda s. auch Bartolomaena in d. Z. f. d. gee. Str.-W. 25, S. 14S, Berolzheimer, System V, S. 171 u. zu der ganzen Frage noch Mittermaier in d. Yei^gl. Dantellg. IV, S. 126 ff. Über die sehr beachtenswerten Vorschläge 4er Strafgesetzbacher für Finnland 3) and Norwegen (§§ 240 ff., 388 ff.), wonach die Pflichten dee Schwängerers (and anderer Personen) gegen&ber der Geschwängerten and der GeseUschaft anter Straf schätz gestellt sind, s. jetzt bes. V. Liszt in d. Vergi. Darstellg. V, S. 124/25; vgl. aach Dochow in d. Z. f . d. ges. Str.-W. 26, S. 905 ff.; H. Dorn, Strafrecht and Sittlichkeit, S. 57. Eine Art Vor- Ifiafer aach dieser Bestimmangen findet sich schon in der Aafklärangsliterator, 80 z. B. bei Qaistorp, Entwarf, § 151, S. 170/71, wonach n. a. der Schwängerer, <„der von der Schwangerschaft Wissenschaft gehabt and den nachhin erfolgten Eindermord, nach allen umständen za arteilen, hat vermaten müssen, gleichwohl (aber) zar Abwendang desselben keine zweckdienlichen Mittel ange- wandt, aach der zaständigen Obrigkeit davon in Zdten keine Anzeige gemacht, . . . den umständen nach aaf drei Monate zam Zachthaase oder halb- jährigem engen Arrest verarteilt werden** sollte; ganz ähnlich Pflaam, Entw. I, Abschn. 13, § 114, S. 107/8; vgl. etwa aach noch Gmelin, Grandsätze, § 68, S. 142—145 a. im allg. Malblank, Allg. jar. Bibl. II, 2, S. 243/44, Nr. 4, d.

1) So: Boppinv. Bottecka.Welckers Staats -Lexikon, Bd. VIU (1847) nnter „Kindermord'*, S. 125.

2) S. Qber die Mannheimer Preisfrage („Welches sind die besten aasführ- baren Mittel, dem Kindermorde Einhalt za tan?**) a. a.: Brissot de Warville, BibLphilos. T. VIU, p. 95ff.; Graebe, Über die Reformation, §20, S. SSff.; Hälschner, Geschidite, S. 172; Landsberg, Geschichte DI 1, S. 416. Eine Übersicht der wichtigsten aas dieser Veranlassang erschienenen Schriften findet sich bei Malblank in der Allg. jar. Bibliothek, Bd. n, St. 2 (1782), S. 233 ff., Gmelin, Grandsätze, § 68, S. 140—143 a. Bopp in v. Rotteck a. Welckers Staats -Lexikon, VIII, S. 125—128. Aach sonst spielen die Vorbeagangs- mittel gegen den Kindesmord in der zeitgenössischen Literatar eine bedeatende Holle (vgl. im allg. Gmelin, a. a. 0. S. 140—145). Hervorzaheben bes. etwa: Beccaria, § 36, S. 153/54; Voltaire, Prix de la jastice, Art VI (Bibl. phil. T. V, p. 26ff.), s. aach Commentaire, § 1 (Bibl. phil. T. I, p. 208); Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 178 ff.; Bernardi, Discoars (Bibl. phil. T. VIU), p. 128; Glaproth, Entwarf I, B. II, Abschn. 3, Haaptst 3, § 10, S. 60£f.; Qaistorp, Entwarf, § 153, S. 172ff.; v. Soden, (Jeist II, § 261ff., S. 298ff,; V. Globig a. Huster, Abhandig., S. 190; Wieland, G^istll, § 453, S. 155£f.; Hommel, Philos. Gedanken, § 63, S. 127 ff.; Graebe , Reformation, § 42, S. 78ff.; TgL aach die Angaben anten S. 251/52, Anm. l, S. 252/53, Anm.l a. S. 253/54, Anm. 2.

3) Pestalozzis Schrift „Über Gesetzgebang and Kindermord, Wahriieiten cmd Träume, Nachforschangen and Bilder** ist zaerst 1780 anonym, dann mit

248 XIV. GUHTHEB

6 m e 1 i n <) nnd dem französischen Be volutionsmanne P e t i o n. ^> Natürlich wenden sich die Sympathien der Verfasser im schar&ten Gegensatze zn den Ansichten früherer Generationen 3) fast allge- mein der unehelichen, von dem Verführer yerlassenen Matter zu, deren trostlose Lage auch in der schönen Literatur jener Tage viel- fach lebhafte Schilderangen erfahren hat (vergl. Schillers Gedicht „Die Kindesmorderin*^).^ ) Bei der Erklarang der Ursachen des Kin- desmordes hat man damals freilich den Einfloß des physiologiscfacD Vorgangs des Gebarens selbst, der nach heatiger Ansicht nicht selten eine Art verminderter Zarechnongsfahigkeit^ begründen soll, noch weniger in Betracht gezogen % am so stärkeres Gewicht legte man

NamenaneDDOPg (nvom Verfasser yon Gertrad imd Lienhard*') 1783 (Frdbaig a> Leipz.) erschienen; in der Aasgabe von Pestalozzis sämtlichen Weisen (durdi L. W. Seiffartti) steht sie im Vlll. Bande (Brandenbg. a. H. 1870). Von bea. Interesse das. S. 88 ff. (von den ^^Qaellen'' des Kindesmordes) n. S. 124 ff. (Vor- beognngsmittel dagegen).

1) Gmelins Aibeit, betitelt ,3esntwortang der Frage: Welches sind die besten ausführbaren Mittel usw.?'', ist 1782 zu Frankf. u. Leipag erschienen (s. Gmelin, Grands., S. 145). Auch £. L. M. Rathlefs (schon öfter angeführte) Abhandlung «Der Kindennord und seine Strafe nebst den Mitteln, demsdben Yorzubengen'' Anhang I [S. 145 ff.] zo des Verfs. Schrift „Vom Geiste der Kriminalgesetze^') ist dorch die Mannheimer Preisfrage veranlaßt worden (s. das. & 146).

2) Die nrsprünglich anonym erschienene und schon vor der Preisyertctloog^ yeröffentlichte Schrift von Jerome Petion (de Villeneave), des späteren Maire von Paris (s. G.-S. 61, S. 174, Anm. 1), worin er bes. mit Nachdradc g^gen die Todesstrafe für den Eindesmord aufgetreten, führte den Titel: „Moyens pro- pos^s pour pr^venir rinfanticide"' (Paris 1782), Abdrack auch in B risset de Warvilles Bibl. philos. T. VII, p. 101— ISl ; vgl. Böhmer, Handb., S. 239/40 n. Günther in G.-8. 61, S. 175, Anm. 2 vbd. mit S. 173, Anm. 1 u. S. 174, Anm. 1.

3) Es wird genügen, hierfür auf Carpzows Practica nova etc. (ed. Frankf. 1677), P. I, qu. 9, Nr. 27, p. 42 zu verweisen, wo der Kindesmord als crime» „crudelissimum" bezeichnet ist Über die verschiedenen (objektiven und subjek- tiven) Gründe für die Auffassung des Verbrechens als besonders qualifiziotea Falls der Tötung im früheren Hechte s. näh. jetzt bes. bei v. Liszt in der Vergl. Darstellg. V, S. 107, 108; vgl auch unten S. 254, Anm. 2.

4) Vgl. im allg. v. Liszt, Lehrbuch, § 84, S. 810, Anm. 1; nSh. bei Mai Koch, Helferich Peter Stuiz, München 1879, S. 211 ff. Über das Verhältnis des Schillerschen Gedichts zu der Schrift Pestalozzis s. Seyffarth, a.a.O. Bd. Vm, Einleitg., S. 8 vbd. mit Morikofer, Die schweizerische Literatur des 18. Jahriiunderts, Leipz. 1861, S. 423/24. Über Ähnlichkeiten des Gedichts mit den AusftLhrangen in H. P. Sturzes Aufsätze gegen die Todesstrafe im „Dentschea Museum"", Jahrg. 1776, St. 12 s. M. Koch, a. a. 0. S. 212, 213.

5) Über das erste Auftreten dieses, in gleicher Weise auch für die eheliche Mutter geltenden Umstandes s. v. Liszt in der Vergl. Darstellg. V, S. 110 a. Anm. 2; vgl. auch Wehrli, Der Kiudesmord usw., S. 50, Anm. 1. Übrigen»

Die Strafrechtsreform im Aufklärangszeitalter. 249

dagegen auf die lediglich dem sittlichen (psychischen) Gebiet ange- hörenden Motive, wie namentlich die von Beccaria, aber vor ihm n. a. auch schon von Friedrich dem Großen betonte Furcht des verführten Mädchens vor der ihr drohenden Schande^) sowie vor den etwaigen Mißhandlungen und Vorwürfen der Eltern (sonstiger

fiadet sich doch auch schon in der Literatur der AnfklSrongsepoche eine ganze Reihe dahin gehender Andeatangen, daß sich die Kindesmörderin bei der Tat in einem mehr oder weniger unzurechnungsfähigen Zustande befunden habe. Vgl. z. B. V. Sonnenfelsi Grundsätze I, § 190, S. 243 („eme nicht gemeine [d. h. ungewöhnliche] GemQtsverstörung"); Pestalozzi, a. a. 0., Werke Bd- VIII, S. 122 ff. („Verwirrung'', „Beunruhigung"), Petion, Moyens pro- posös (Bibl. phil. T. VII), p. 119 („dans ces moments de d^lire et d'^gare- ment*); Graebe, Reformation, § 41, 8.78 („halbe Raserei"); Diez, Über Eindermord (1784), in Plitts Report f. d. peinl. Recht II, 8. 82 („dem Bewußtsein ihrer Sinne beraubt'', „B etäubung "); P,litt in s. Rep. I (1786), Vorrede, S. IS („Zustand einer unverschuldeten Sinnlosigkeit") u. S. 24 («Das Mädchen handelt in der Hinute der Geburt, . . . wenn [diese] hart ist» . . . beinahe wie eine Wahnsinnige'*); y. Eberstein, Entw., § 72, S. 159/60 („die in diesen schmerzhaften Augenblicken betäubte Mutter'*). Über H. P. Sturz s. M. Koch, a. a. 0. 8. 212; über G. J. Fr. Meister, Praktische Bemerkungen aus dem Kriminal- u. Zivilrecht, Gott 1791 ff., I, Bem. 8 („des Gebrauchs der Vernunft und der Willensfreiheit völlig beraubf*) s. Wehrli, a. a. 0. S. 35. Aus- drücklich gegen diese Betonung des „verwinten oder betäubten Zustandes der Kindesmörderinnen'* als eines Momentes von selbständiger Bedeutung aber: Malblank in d. AUgem. jur. Bibl. II, 2 (1782), S. 238. Ähnlich neuerdings auch Gross in seinem Aufsatze „Kriminalpsychologie und Strafpolitik'' im Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. 26, 1906 (S. 67ff.), bes. 8. 75, 76 und dagegen wieder ausführlich Graf Gleispach, Ober Kindesmord, im Archiv, Bd. 27» 1907, S. 224ff., bes S. 234, 24Sff., 248.

1) Über die Priorität' Friedrichs des Großen (in seiner „Dissertation*^, wo es [Oeuvres T. IX, p. 28] heißt, daß sich das verführte Mädchen befinde „dans le cas d*opter ontre la perte de son honnenr ou celle du fruit malheureux qu'elle a con^u'^) vor Beccaria 36, S. 153) s. ausdrückl. v. Liszt in d. Vergl. Daretellg. V, S. 113, Anm. 3; vgl. Willenbücher, a. a. 0. S. 46. Übrigens ist das Motiv der Rettung der Geschlechtsehre auch schon Leyser (in s. Medit. ad Pandectas, Lips. 1741, Sp. 611, Nr. 8, 9, p. 628) bekannt gewesen (s. Wehrli, a. a. 0. S. 35 u. 38; Ciosmann, Die Kindestötung, histor. u. dogmat dargestellt, Erlang. Diss., 1889, S. 16), ja schon im 17. Jahrhundert hatte Antonius Matthaeus (1644) auf die Furcht vor der Schande („infamiae metus") hingewiesen; s. Wehrli, a. a. 0. S. 35; v. Liszt, a. a. 0. S. 112. In der deutschen Aufklärungsliteratur ist dann auf dieses Motiv der Tat von Hommel (Philos. Gedanken, § 19, 8. 37, 38) bis auf Kant (s. Ciosmann, a. a. 0. S. 16, 17) so häufig und nachdrücklich hingewiesen worden, daß noch besondere Belege dafür nicht nötig erscheinen. Vgl. im allg. Malblank in der Allg. jur. Bibl. U. 2, (1782), S. 237, Nr. 1 n. S. 239; Wehrli, a. a. 0. § 8, S. 37ff.; v. Liszt in d. Vergl. Darstellg. V, S. 112ff., 116ff. vbd. mit Dochow in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 26, S. 905 n. Anm. 1 u. Graf Gleis- pach in Gross' Archiv 27, S. 241, Anm. 1, 245, 253ff., 266ff.

260 XIV. GeVTHEB

AngebSriger oder auch der Dienatherrschaft), „die oft strenger und unerbittlicher'' seien „als die Gericbte des Landes^ 0; femer die Sorge um die Erhaltung des Kindes und den dadurch erschwerten Kampf um die eigene Existenz. 2) Um diesen Motiven erfolgrdch entgegenzuwirken, verlangte man vor allen Dingen die gänzliche Auf- bebung der Schand- oder Ehrenstrafen (wie besonders auch der sog. Kirchenbuße), die eine gefühllose Vorzeit schon auf die außereheliche (heimliche) Niederkunft an sich ') gesetzt hatte ^); sodann aber wollte man

1) So; Diez»^ Ober Kindennord, in Pütts Bep. f. d. peinL Recht II, S. 97. DioBer Grand wird seltener und meist nur von den Siteren Sdiriftstelleni hervorgehoben (vgl. i. allg. Malblank i. d. Allg. jor. Bibl. II, 2, S. 2S7, Nr. 3, b; V. Liszt, a. a. 0. S. 112), so z. B. von Pestalozzi, a. a. 0. VIII, S. lllff., y. Soden, Geist I, § 265, 8. S07, Bommel, Philos. Gedanken, § 19, 8. 38; vgl. anvh Petion, Moyens proposös etc. (Brissot, Bibl. phiL T. VU), p. 107.

2) 8. Maiblank, a. a. 0. 8. 237, Nr. 2, vgl. auch Nr. 3, a. Nach Wehrli, Der Kindesmord, S. 35 u. 42, Anm. 1 (der hierfiber im § 9, S. 42 ff. aoafühilicher handelt) soll auf dieses Motiv vor allem G. J. F. Meister in seinen , Praktischen Bemerkungen*^ usw. I (1791), Bemerkg. 8 speziell hingewiesen haben. Vergi. aber ferner auch schon Pestalozzi, a. a. 0. VIII, 8. 91 ff. (u. dazu Seiffarth, a. a. 0. Einltg., 8. 8); Petion, Moyens propos6s etc. (Bibl. phil. T. VII), p. HS; Bathlef , Kindermord, 8. 150, 153ff., v. Soden, GeistI, § 267, 8. 309; Rösaig, «Vorerinnernng'' zu Bommels Philos. Gredanken, 8. XU; Diez in PlittsBq). n., S. 100; Gmelin, Grundsätze, § 68, 8. 138/39; Pütt in s. Bep. I, Vorrede, 8. 13; s. auch v. 8onnenfels, Grandsätze I, § 193, 8. 246/47 n. § 195, 8. 249 (obwohl dieser sonst nicht gerade für milde Behandlung des Kindesmordes ist; Tgl. unten 8. 254, Anm. 2). Aus der neueren Literatur zu vgl. über diesen Umstand noch v.Liszt i. d. VergL Darstellg. V, 8. 112 u. Anm. 2; Aschaffen- burg, Die Bekämpfung des Verbrechens (2. Aufl.), 8. 22; Graf Gleispach in Gross' Archiv 27, 8. 255ff., 26S/69. Über sonstige, seltenere Motive des Deükts s. noch Malblank, Allg. jur. Bibl. II, 2, 8. 237, 238, Nr. 3, a.

3) 8. über die Verheimlichung der Schwangerschaft bezw. der außerehe- lichen Niederkunft (als selbständiges Delikt), bes. in der Praxis des älteren ge- meinen Rechts: C. J. A. Mittermaier in N. Archiv des Kriminalrechts, Bd. 10 (1828), 8. 367ff., 559ff.; v. Wächter im Arch. des Kriminalr., N. F., Jahig. 1835, 8.71ff.; Bopp in v. Rotteck u. Welckers 8taatB-Lexikon, Bd. Vm, 8. 129ff.; Wehrli, Kindesmord, § 20, 8. 115; v. Liszt i. d. Vergl. Darstellg. V, 8. 124, Nr. 1. Für Bestrafung sindu. a. noch eingetreten: Rathlef, Eander- mord, 8. 152 (der hier sehr grausam erscheint); Qnistorp, Entwurf, § 144, S. 162: Pflaum, Entw. I, Abschn. 13, § 107, 8. 102; Wieland, Geist II, § 461, 8. 165, vgl. auch § 457, 8. 160; prinzipiell auch Rossig, „Vorerinnorung^ zu Hommels Phil. Gedanken, 8. XXI (der jedoch hinzufügt, „man lasse der Un- glücklichen Gelegenheit, der 8trafe zu entgehen*^). Dagegen aber ausdrückl 2. B. Voltaire, Commentaire, § 1 (Brissot, BibL phil. T. I, p. 202); Filan- gieri, System IV (3,2), Kap. 50, 8.560; Gmelin, Grundsätze, § 68, 8.146, Nr. 4 a. E. Gegen die Pflicht zur Anzeige unehelicher 8chwangerBchaft (die z. B. Wieland, Geist II, § 457, S. 160 u. v. Eberstoin, Entwurf, § 66,

Die Straf rechtsreform im Aufkläningszeitalter. 251

anch positiv die bedauernswerte Lage der Verfflhrten mSglichst ver- bessem, was nach fast fibereinstimmender Ansicht am zweckmäßigsten dadurch geschehen sollte, daß man die etwa bestehenden Findelhäoser deren mangelhafte Beschaffenheit ziemlich allgemein zugegeben wird 0

8. 157, ja sogar noch v. Qrolman, Gnmdaätze, § 435, 8.273 zarVerhütang des Kindeimordea aufgestellt hatten) ausdrfickl. schon y. Sonnenfeis, GnmdaStze I, § 194, S. 248 (als ngleichsam*^ im Widerstreite „mit dem End- zwecke*', den man dadurch za erreichen snche). Über die preußische Oesetzgebung des 18. Jahrhnndeits s. noch unten S. 287, Anm. 2 und zu der ganzen Frage noch Malblank i. d. Allg. ]ur. Bibl. II, 2, S. 243, Nr. 4 vbd. mit Bopp i. Rotteck u. Welckers Staats-Lezikon Vin, S. 127, Anm. 37.

4) Ffir Aufhebung aller (beschimpfenden oder sonstigen) Ehrenstrafen ffir die uneheliche Niederkunft (die nur dazu dienen können, den Kindesmord oder die Abtreibung zu befördern) überhaupt: Filangieri, System IV (3,2), Kap. 50, S. 562/63; v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 193, S. 246; Zaupser, Gedanken, Abhdlg. 2, S. 40, 41; Glaproth, Entwurf I, B. II, Abschn. 3, Hauptst 3, § 10, S. 60; Pestalozzi, a. a. 0. S. 91; Quistorp, Entwurf, S. 153, S. 174 vbd. mit § 318, S. 351; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 190, s. auch Vier Zugaben, S. 309, 317; Cella, Von Strafen unehelicher Schwängerungen usw., £rl. 1783 (vgl. Allg. jur. Bibl. III, 1, S. 189, 190); Hommel, Philos. Gedanken, § 62, S. 125; Plitt m s. Bep. f. d. peinl. Recht I, Vorrede, S. 26; y|^. auch Rathlef, Vom Geiste, S.42 (oben S. 246, Anm. 1) und Malblank L d. Allg. jur. Bibl. II, 2, S.2S9, Nr. 6 u. S. 240/41, Nr. 1 (gegen die äuOerlichen Schandstrafen, aber doch nicht für Aufhebung »auch aller moralischen Schande*^). Insbes. für Beseitigung der Kirchenbufie s. noch: v. Sonnen- fels, Grunds. I, § 193, S. 246/47; Glaproth, Entw., a. a. 0. S. 60, 64, Anm. a n. I, B. II, Abschn. 5, Hptst 7, S. 115; Michaelis, Mos. Recht VI, Voirede, €.38, 39 u. S. 119, 120; Hommel, Übersetzung von Beccaria, S. 126, Anm. w a. E. u. Philos. Gedanken, § 61, S. 123; Quistorp, Entw., § 64, S. 76, §153, S. 174 (vgl auch Grunds, d. deutsch, peinl. Rechts, 3. Aufl. 1783, 1, § 82, S. 145); Rathlef, Kindermord, S. 151; v. Reder, Das pdnl. Recht I, Eüip. XV, § 5, S. 350; auch Gmelin, § 30, S. 68 u. § 147, S. 263/64 (obwohl dieser gleich Mal blank sonst nicht für Abschaffung aller „Schande*' des unehei. Beischlafs ist; s. § 133, S. 237 u. § 143, S. 257, Anm. g a. E.). Die deutsche Gesetzgebung hat diese Wünsche der Aufklärer übrigens zum Teil bereits im 18. Jahrhundert erfüllt. Selbst in Mecklenburg wurde z. B. die Kirchenbuße schon im Jahre 1753 gänzlich aufgehoben (s. Quistorp, Grund- sätze usw., S. 146, Anm.^; Landsberg, Geschichte III 1, S. 409) und in Preußen die Abschaffung aller „Hurenstrafen'^ unter Friedrich dem Großen (durch Edikt vom 8. Febr. 1765) verordnet; s. Willenbücher, a. a. 0. S. 46. Im neunzehnten Jahrhundert scheint dann aber gegen die freieren Anschauungen der Aufklärungszeit zunächst wieder eine gewisse Reaktion eingetreten zu sein. €harakteristisch dafür z. B. Welcker in v. Rotteck u. Welckers Staats- Lezikon, Bd. V (1847), S. 675 (unter „Geechlechtsverhältnisse'').

1) Daß die Einrichtung der Findelhäuser (vgl. darüber u. a. i. allgem. Beseke, Versuch, Kap. 7, Abschn. 2, Nr. 3, S. 73, Gmelin, Grundsätze, § 5, S. 10, Anm. h, R. Mohl in v. Rotteck u. Welckers Staats-Lexikon, Bd. IV

252 XIV. 6Ü19THEB

in gnt geleitete, auf öffentliche Kosten zu unterhaltende Asyle für gefallene Mädchen und zugleich für deren Kinder nmge^tei), also Einrichtungen schaffe, wie sie in vollkommenerer Gestalt auch in der Neuzeit wieder von den verschiedenen Vereinen für Mütter- und Sang- lingsheime, insbesondere auch von dem im Jahre 1905 begründeten „Bunde für Mutterschutz^ angestrebt und teilweise auch schon ver-

[1846], S. 726 ff. u. neaerdings Kraufi, Der Kampf gegen die Verbiediens- nreacben usw., S. 89ff.) mangelhaft und für sich allein noch niclit genügend sei, den Kindesmord zn verhüten (A. M. z. B. noch Püttmann, Elem. jar. crim., Cap. XXI, § 346, p. 157 und v. Sonnenfeis, Grands. I, § 74, S. S6 in Übereinstimmung mit verschiedenen Franzosen [vgl. Böhmer, Handb., S.221 über Dum 08t], s. aach die folgende Anmerkg.), vielmehr geeignet erschdne, die Unzucht zn befördern, ist in Deutschland bes. seit Hommel (s. Philos. Ge- danken, § 65, S. 132 ff. [anders zum Teil noch Obersetzg. von Beocaria, S. 16S. Anm. 1, wo er nur Bedenken wegen der Kosten äufiert; s. dag^cn aber t. Sonnen fels, a. a. 0. S. 85]) ziemlich allgemein anerkannt worden. S. im aDj^. Mal blank i. d. Allg. jur. Bibl. II, 2, S. 243, Nr. 3, b; femer von Eim&elnen noch R a t h 1 e f , Kindermord, S. 1 53 f f . ; R ö s s i g , Vorerinnernng*^ zn Hommels PhiL Gedanken, S. XXI; Graebe, Über die Reformation, § 42, 8. 78 ff.; Gmelin, Grundfiätze, § 5, 8. 9ff.; Viktor Barkhausen in Plitts Bep. f. d. peinl. Recht I, 8. 399 ff.

1) Die Forderung öffentlicher Gebärhäuser (vgl. darüber im allg. Mal- blank i. d. Allg. jur. Bibl. II, 2, 8. 241/42, Nr. 2, bes. unter a n. b. n. 8. 243, Nr. 3, a) ist schon von Voltaire (Prix de la justice, Art VI [Bibl. phil. T. V, p. 25, 26]) erhoben (s. Hertz, Voltaire, 8. 428; Masmonteil, a. a. 0. p. 209 u. 231) und von Friedrich dem Großen zum Teil verwirklicht worden, wie u. a. aus einem Briefe des Königs an Voltaire vom 11. Okt 1777 (Oeuvres T. XXIII, p. 410) hervorgeht, uk dem es heißt: ^autrefois on avait aasujetti ces pauvres filles (d. h. die Verführten) ä faire des p^nitcnces pnbliqnes dans les ^glises, je les en ai dispensä (vgl. oben 8. 251, Anm. 4); il y a des maisons dans chaque province elles penvent accoucher et Ton se Charge d'61ever leurs enfants"; vgl. Masmonteil, a. a. 0. p. 210; Willen^ücher, a. a. 0. 8. 47 u. Anm. 3. Dafür sind femer u. a. eingetreten: Brissot de Warville. Discours (Bibl. phU. T. VI), p. 80ff., Thßorie I, p. 96 u. II, p. 47, 49; M. leF., Plan de lögislation etc. (Brissot, Bibl. phil. T. V.) p. 400 (neben Findelhäusem); Petion, Moyens proposäs etc. (Bibl. phil. T. VII), p. 127, 12S und bes. 129ff. (gleichfalls neben Findelhäusem); Filangieri, System IV (3,2), Kap. 50, 8. 562/63; v. Sonnenfels, Grunds. I, § 193, 8. 246/47, Anm. i; Rathlef , Elindermord, S. 155 („Das Findelhaus muß^ [um seinen Mängebi abzuhelfen, „ohne die Mutter von dem Kinde zu trennen*^] „in ein Hospital für . . unverehelichte Kindbetterinnen verwandelt werden; näh. s. das. 8. 155 ff.) ; Qui- storp. Entw., § 153, S. 173; v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 190, v|^. auch S. 242; Wieland, Geist II, § 457, S. 159/60 („Eigene Gesetze müssen [dem ge- fallenen Mädchen) den Aufenthalt in öffentlichen Anstalten, wo sie nicht aliein ihre Niederkunft abwarten, sondem auch Gelegenheit finden kann, sich in der Folge ihren Unterhalt zu erwerben, müssen ihr die kräftigste Unterstützung bei der Erziehung ihres Kindes versprechen'^ usw.); Hommel, Philos. Ge-

Die Strafrechtsrefonn im AafklSrungszeitalter. 253

wirklicht worden sind.O S^st wenn der Staat diesen Verpflichtungen nachgekommen ist, außerdem auch noch die Eingehung legitimer Ehen möglichst erleichtert hat^), darf er den Eindesmord kriminell bestrafen. Diese Strafe aber soll nicht mehr wie zu den Zeiten Oarpzows eine Schärf ung gegenüber derjenigen der einfachen Tötung enthalten, sondern umgekehrt eine Milderung, so daß an Stelle der barbarischen Todesstrafen der Vergangenheit (Lebendig- begraben, Pfählen, Säcken, Ertränken), die doch „im geringsten nicht

danken, § 65, S. 132ff.; Rössig, Vorerinnenmg'' dazu, § 42, S. 78; Viktor Barkh aasen in Pütts Bep. f. d. peinl. Recht I, S. 399, 400 („eine gemeine Anstalt, wo [aoßerehelich Gleschwängerte] sich insgeheim aufhalten und nieder- kommen könnten" usw.); s. auch noch P. Frank (Aizt), System einer voli- ständigen medizin. Polizei, Frankf. 1791, Bd. IV, S. 145 ff. Über Bedenken der Gegner solcher Einrichtungen (daß sie nämlich die Unsittlichkeit befördern konnten) s. schon v. Sonnenfels, Grundsätze I, S. 247, Anm. vbd. mit § 75, <S. 87ff , der dieselben aber zu entkräften sucht; aus späterer Zeit s. Welcker in y. Rotteck n. Welckers Staats-Lexikon, Bd. V, S. 675; vgl. auch Bopp, ebd. Bd. YIII, S. 126, Anm. 35 sowie die folgende Anmerkg.

1) Über die Bestrebungen der Neuzeit und ihre bisher (bes. auch in Deutsch- land) eraielten Erfolge s. u. a. den orientierenden Aufsatz von Leopold Katscher, Zur Anstaltsbekämpfung der Kindersterblichkeit, in der «Gegenwart*' vom 8. Sept 1906 (Jahrg. 35, Bd. 70, Nr. 36). S. 148 ff. und dazu aus der Spezialliteratur A. Pappritz, Die Errichtung von Wöchnerinnen- und Säuglingsasylen, eine soziale Notwendigkeit, eine nationale Pflicht (S.-A. aus „Sozialer Fortschritt", Nr. 12/13), Leipz. 1904; Adele Schreiber, Was tut Paris für seine unehelichen Eänder und Mütter, in der Zeitschr. „Mutterschutz'^ (herausgeg. von Dr. phil. Helene Stöcker), Jahrg. I (1905), Nr. 3. Vgl. i. allg. auch noch L. Levin, Die Fruchtabtreibung durch Gifte und andere Mittel, ein Handb. für Ärzte und Juristen, 2. verm. Aufl., Berlin 1904, S. 6, 7, der gleichfalls mit Nachdruck für die Errichtung von „Gebärasylen'' in genügender Zahl eintritt und zum Schlüsse meint, „es wäre kein geringer Ruhmestitel des neuen Jahrhunderts, hier Muster- gültiges geschaffen zu haben, was vergangene Jahrhunderte nicht oder nur ver- einzelt in unzulänglicher Form zu leisten vermochten''. Auf den Umst^d, daß von den 180,000 unehelichen Kindern, die in Deutschland jährlich etwa zur Welt kommen (d. h. etwa 10 bis 12 Proz. aller Geburten; vgl. Gross' Archiv, Bd. 26, S. 100), zunächst natürlich nur ein geringer Bruchteil in den Anstalten Aufnahme Hnden kann, sollte von den grundsätzlichen Widersachern der (viel- fach absichtlich in ein falsches Licht gerückten) modernen Bestrebungen nicht aUzu starkes Gewicht gelegt werden, da die ganze humane Bewegung ja doch ihre Anfangsstadien noch nicht überschritten hat.

2) Die Erleichterung der Ehen ist vielfach nicht nur zur speziellen Verhütung des Eandesmordes (s. z. B. Rathlef , Kindermord, S. 166 ff., v. Soden, Geist I, § 261, S. 301 u. im allgem. Malblank i. d. Allg. jur. Bibl. H, 2, S. 234, Nr. 4), sondern auch als allgemeines Vorbeugungsmittei gegen die Sittlichkeits- üelikte empfohlen worden (so z. B. von Quistorp, Entwurf, § 326, S. 361, v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 242, 246 n. Vier Zugaben, S. 309, v. Reder,

254 XIV. GüirrHKR

geschickt^ gewesen, „Kindesmörderinnen zu schrecken" ^) , schon auf einfache Freiheitsentziehung (wenn etwa auch auf Lebenszeit) oder allerhöchstens auf die gewöhnliche Hinrichtung erkannt werden sollte. 2) Nur vereinzelt ist man damals wohl noch weitergegangen

Das peinl. Recht IV, Kap. IV, § 4, 8. 62 [indirekt], Gmelin, Grandaitze, § 5, S. 9; vgl. auch Bernardi, Discoure [Bibl. phil. T. VIII], p. 110, 116); desgL inabea. eine wdtere Anwendung der „Ehe zur linken Hand", deren Begriff frdlich oft nicht ganz klar erscheint S. bee. Rathlef , Kindennord, S^ 168, t. Globig a. HuBter, Vier Zugaben, S. 310, S17, Gmelin, Grundsätze, § 149, S. 267 n. im allg. noch Malblank, i. d. Allg. jur. Bibl. II, 2, S. 239, Nr. 5 o. Hälschner, Geschichte, S. 171. Außerdem finden sich in der damaligen Literatur als Verhütungsmittel des Kindesmordes unter vielen anderen (s. daifiber die allgem. Zusammenstellung von Kalb i an k in d. Allgem. jur. Bibl. n, 2, S. 238 ff.) bee. auch noch: bessere Erziehung des weiblichen Gesdilechts (soz. B. Bössig, „Vorerinnerung" zu Honunels Philos. Gedanken, 8. XXI; vgL Mal- blank, a. a. 0. S. 238, Nr. 1, auch S. 244, Nr. 6), Belohnungen für dessen Keusch- heit (s. darüber schon oben S. 145, Anm. 1 u. dazu noch Petion, Moyens proposäs etc., a. a. 0. p. 115) und völlige gesetzliche Gleichstellung der unehe- lichen Kinder mit den ehelichen (s. z.B. Qnistorp, Entwurf, § 153, S. 173; vgl. Malblank i. d. Allg. jur. BibL II, 2, S. 244, Nr. 5, b), die auch heute wieder mit Recht als sehr wesentlich betrachtet wird. Dafür z. B. auch der i,Bund für Mutterschutz*' auf s. Generalversammlung zu Berlin am 12./14. Jan. 1907; (vgl. Zentralblatt für R.-Wi8s., Febr. 1907, „Literatur und Nachrichten% S. 47*).

1) So: Diez, Ober Kindermord, in Plitts Rep. II, S. 78. Vgl. auch Pe- tion, Moyens propos^ etc., a. a. 0. p. 107 u. Vezin, Das peinliche Halsrecht usw., S. 106, 107 (Anm. 12).

2) Über diese Umwandlung des Kindesmordes ans einem sog. „qualifizierteD' zu einem „privilegierten'' Fall (in Deutschland) s. imallg. Geib, Lehrbuch I, S. 334/35; v. Liszt, i. d. Vergl. Daistellg. V, S. 106 ff. (das. auch über die ab> weichende Entwicklung des französischen und englischen Rechts). Der Übergang hat sich übrigens nur allmählich vollzogen (s. auch Wehrli, a. a. 0. S. 34). So hat z. B. noch Justus Moser die Milde der neueren Gesetzgebung getadelt (vgl. näh. bei V. Barkhausen in Plitts Rep. f. d. peinl. Recht I, S. 401ff.; M. Koch, H. P. Sturz, S. 214; v. Liszt, Lehrbuch, § 84, S. 310, Anm. 1)» desgl. Runde (im „Deutsch. Museum"^, Aug.-Heft 1777; s. Pütts Repert I, S 298ff.); ja auch v. Sonnenfels (Grundsätze I, § 189, S. 243) hatte noch ge- meint, daß „die Gesetze durch in die Augen fallende Strenge der Strafe (vom Kindesmorde) abzuhalten bedacht sein müßten"; vgl. auch S ervin. Über die peinl. Gresetzgebg., S. 177 (für „scharfe Strafen" für Abtreibung u. Kindes- mord; s. näh. noch unten S. 255, Anm. 1). Eine besondere Untersuchung, ob für die Verschuldung einer Kindesmörderin die Todesstrafe angemessen sei^, er- schien 1798 von C. A. H. Ausdrückl. für die Todesstrafe als Regel z. B. noch: Ciaproth, Entw. I, B. II, Abschn. 3, Hauptst 3, § 10, S. 62, 63 (der für bes. grausame Begehung der Tat sogar noch die geschärfte Strafe des Räderns verlangte); Rathlef, Kindermord, S. 157 ff. (der ebenfalls noch ganz barbarische Schäifungen befürwortete); Quistorp, Entwurf, § 141, 8. 159/60

Die Strafrecbtsrefonn im AnfkläruDgazeitalter. 255

und ffir völlige Straflosigkeit des Delikts eingetreten i), eine Über- treibung der Prinzipien, die ein modernes Seitenstfick hat in der immerhin schon weit eher zn rechtfertigenden (ans dem von vielen ge- rade hier betonten ^popnlationistischen Gesichtspunkte^ freilich nicht zu billigenden) Agitation einzehier neuerer Schriftsteller zn Gunsten der straflosen Vernichtung des keimenden Lebens (^ Abtreibung^ ).^ Auch

vbd. mit § 152, S. 171; Pflaum, Entwurf I, Absdm. 18, § 104, 8. 99 vbd. mit AbflchiL 11, § 92, S. 86; vgl. auch v. Dalberg, Entw., S. 160, Nr. 8. Speziell gegen die Todesstrafe u. a. aber: Brissot de Waryille, Theorie II, p. 48; Petion, Moyens proposte etc. (BibL phil. T. VII), p. 105; Diez in Plitts Bep. f. d. peinL Becht II, 8. 78 (vgl. oben S. 254, Anm. 1); V. Barkhausen, ebendas. I, 8. 407. Über H. P. Sturz s. M. Koch, a. a. 0. S. 21l£f.; fiber Kant: Closmann, Kindestötung, S. 16, 17. Für Verstümmelung und Brandmarkung der Täterin: Servin, Über diepeinl. (xesetzgbg., S. 177/78 (s. dazu y. Rotteck u. Welcker, Staats-Lezikon VIII, 8. 126; vgl auch schon oben 8. 179, Anm. 1 u. 8. 181, Anm. 8); für Brandmarkung auch: Gmelin, Grund- sätze, § 68, S. 140 (falls man die Todesstrafe abschaffen würde); für lebens- längl. Freiheitsstrafe (vgL Malblank, AUg. jur. Bibl. 11, 2, 8. 244, Nr. 5, c) z. B. Wieland, Geist U, § 458ff., S. 161ff. u. Plitt in s. Bep. I, Vor- rede, S.20, 21; für Freiheitsstrafe auf Zeit bes. G. J. Fr. Meister, Prakt. Bemerkungen I (1791) und die meisten neueren Schriftsteller. Über die preoß. Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts s. noch S. 286/87 unten; über eine spätere Be- aktion gegen die vermeintlich zu milde Bestrafung der Kindestötung s. Wehrli, a. a. 0. & 126/27.

1) S. V. Liszt, Lehrbuch, { 84, S. 810, Anm. 1. Daß übrigens hier Servin angeführt ist, scheint - soweit wenigstens dessen Schrift ^De la legis- lation criminelle^ in Betracht kommt auf einem Irrtum za beruhen (vgl. die vorige Anm.), zu dem allerdings eine (z. B. auch von Gmelin, Grundsätze, §68, S. 139, Anm. i und neuerdings wieder von 0. v. Sterneck in Gross' Archiv 22, 8. 75, Anm. 1 zitierte) Stelle aus der Einleitung des „von Ab- treibung'^ usw. handehiden Teils (Buch I, Kap. 8, Abschn. 1, § 2, 8. 176) bei Servin leicht Veranlassung geben kann. Dagegen dürfte hierher wohl Petion gerechnet werden, der in s. Moyens propos^s etc. (Bibl. phil. T. VII), p. 104 bemerkt: «Ce n'est point par des loix pönales qn'on parviendra Jamals ni k pr^venir ni ä arrdter l'infanticide^, s. aach ebd. p. 110, 114; desgl. viel- leicht auch Pestalozzi (worüber zu vgl. Gmelin, Grundsätze, § 68, S. 139, Anm. i).

2) Zu dieser schwierigen Frage (auf die hier nicht näher eingegangen wer- den soll) und ihre (sehr verschiedene und leider oft ziemlich oberflächliche) lite- rarische Behandlung s. jetzt bes. Radbruch in der Veigl. Darstellg. V, S. 160 ff., 18dff.; außerdem etwa noch: Gross ins. Archiv, Bd. 12, S. 845; Schneickert, ebds. Bd. 18, S. 121 ff. u. in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie usw., Jahrg. n (1905), Heft 10, S. 628ff.; 0. v. Sterneck in Gross' Archiv, Bd. 22, S. 78ff.; Schnitzenstein in der Z. f. vgl. R.-W., Bd. 17, S. 411ff. n. i. d. Z. «Gesetz und Recht*^ 7, 20; Ed. Aug. Schröder, Das Recht in der geschlecht- lichen Ordnung usw., 2. Aufl., Leips. 1896, S. 240/41; Lewin, Die Frucht- abtreibnng usw. (2. Aufl., Berl. 1904), 8. 114—120; H. Dorn, Strafrecht und

256 XIV. Günther

eine nach heute geltendem Rechte wirklich straflose TStnng, nämlich der Selbstmord mit Einschloß des Selbstmordversuchs, verdankt diese liberale Behandlung gleichfalls den Bemühungen der Aufklärungszeit Waren auch anfangs unter den Nachwirkungen der Wo Iff sehen Philosophie die Ansichten hierüber noch geteilt 0, so konnte man auf die Dauer doch nicht darüber im Zweifel bleiben, welcher der beiden, immer schärfer gesonderten Klassen: „Verbrechen^ und „unmoralische Handlungen^ der Selbstmord zuzurechnen sei.

Sittlichkeit, S. 53ff.; Berolzheimer, System V, S. 174/75 n. Anm. 15 (literatnr- angaben). Vgl. auch die Berichte von Graf zu Dohna in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 26 (1906), S. 283ff. (bes. fiber Gisela y. Streitberg), von Rade im Jurist Literaturblatt vom 15. Sept 1905, S. 169, Sp. 1 und von Gross in s. Archiv, Bd 22, & 88, 89 (über Marie Raschke) sowie Bd. 23, S. 382 (über J. Guttzeit), von Schultzenstein im Jurist Dteraturbl. v. 16. Okt 1906, S. 186, 8p. 2 (über E. Wachtelborn). Über die Schrift des Mediziners Fr. Ahl- feld, Nasciturus usw., Leipz. 1906 (bes. S. 74 ff., 79 ff.) s. Beling in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 27, S. 832. Über die Stellungnahme des ^Bundes deutscher Frauen- vereine" zu der Frage s. Zentralblatt für R-Wiss., Jan. 1907, S. 39. Betr. Abtreibung u. Kindermord bei den Naturvölkern s. Makarewicz, Einführung in die Philos. des Strafrechts usw., S. 51ff. u. Berolzheimer, System V, S. 174, Anm. 15; vgl. auch G. Bode im Arch. f. Strafr. 53, S. 113ff. u.54, S. 123 ff. Schon die Aufklärungsschriftsteller wollten die Abtreibung der Ldbesfrucht meist gelinder als den „Kindermord*^ bestrafen, obwohl sie freilich in den Systemen oft geradezu nur als eine bes. Art dieses letzteren Delikts aufgefaßt wird (s. z. B. Quistorp, Grundsätze des deutsch, peinl. Rechts [3. Aufl. 1783], I, § 277, S. 526). Ebenso bezügl. der Aussetzung der Kinder z. B. v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 191; vgl. auch Rathlef, Vom Kindermord, S. 154, während Quistorp (Grundsätze I, § 279, S. 528ff. u. §§ 285/6, S.539ff., 542ff.) hierbei die einzelnen Fälle genauer sondert

1) S. Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilosophie, S.42, Anm. 10 (mit näh. An- gaben); v.Liszt, Lehrbuch, §35, S. 156; Willen bücher,a.a.O.S. 44; Ossip. Bern- stein, Die Bestraf ung des Selbstmords und ihr Ende Heft 78 der „Straf rechtl. Abhandlgn.^, herausg. von v. Lilien thal), Breslau 1907, S. 30 ff. Über noch spätere Gegner der liberalen Behandig. des Selbstmordes, insbes. unter den Theologen, s. ebds. S. 34 ff. Die dem Selbstmorde heute eingeräumte systematische Stellung unter den allgemeinen Lehren des Straf rechts (vgl. etwa die Lehrbücher des Strafrechts von Bern er [17. Aufl.], § 53, S. 94, v. Liszt, § 35, S. 156, Anm. 8 u. H. Meyer-Allfeld, § 38, S. 223ff., Nr. 8) statt im „besonderen Teile*^ bei den Totungsf allen (wie noch bei v. Grolman, Feuerbach und Rosshirt; s. dagegen C. G. v. Wächter, Lehrb. des röm.-teutsch. Strafr., Teil I [Stuttg. 1825], § 58, S. 100, Anm. 16) erscheint in der kriminalist Auf- klärungsliteratur noch als seltene Ausnahme, s. z. B. bei Wieland, Geist I, Abschn. 4, Kap. 5 („Von den wahren Gründen der Strafbarkeit gesetzwidriger Handlungen"), § 240ff., S. 314ff. Schärfere Absonderung von den übrigen Totungsf allen jedoch auch bei Rathlef, Vom Geiste, Kap. 23, S. 93 ff. und Quistorp, Entwurf § 252, S. 277ff.

Die Strafrechtsreform im Aufkläningszeitalter. 257

So betrachtete ihn denn schon Beccaria 35, S. 151) zwar als ^eine Sünde..., die Gott bestraft, da er allein auch nach dem Tod bestrafen kann^, aber nicht als „ein Verbrechen vor den Men- schen^. Damit stimmten bald auch viele andere überein, in Deutsch- land — wo sich seit Goethes „Werther" die schöne Literatur der Zeit ebenfalls aufs eifrigste mit dem Thema beschäftigt hat vor allem wiederum Hommel. i) Dabei war man in der günstigen Lage, sich

1) Über Beccaria vgl. auch Bernstein, a. a. 0. S. 2S, 2^. Von Hommels Schriften s. bes. Übersetzung von Beccaria, S. 173, Anm. o: „Es mag die Tat allenfalls Sünde sein, nur kann ich, nach dem gegebenen deutlichen Merkmale eines politischen Verbrechens (d. h. einer Polizeiübertretung), es für ein solches nicht erkennen*^; desgl. ebd. S. ISl, Anm. p: „Die Tat kann ... Sünde sein, die aber zu bestrafen Gott allein sich vorbehalten hat*^; vgl. auch Rhap- sodia Quaest (ed. 1769), bes. obs. 127, auch obs. 896/97 (s. Landsberg, Ge- schichte III 1, S. 397 u. Noten S. 259; Bernstein, a. a. 0. S. 40 u. 58, Anm. 71). Über die schone Literatur der siebziger und achtziger Jahre des Jahr- hunderts (Goethe und der Streit um „Werther'^ [erschienen 1774] bezw. für und wider das „ehrliche Begräbnis'') s. O.Bernstein, a. a. 0. S. 36 40 u. Anm. 65 78 (S. 57—59). Als Gegner der Bestrafung des Selbstmordes (wenn auch zum Teil unter sich nicht g^nz einig über die ethische Bewertung der Tat) sind unter den Philosophen und Juristen (vgl. im allg. Gmelin, Grund- sätze, § 78, S. 164, Anm. s; Geib, Lehrb. I, S. 332; v. Liszt, Lehrbuch, S. 156, Anm. 8; Bernstein, a. a 0. 8. 20-30 u. 40—44) femer (außer Bec- caria und Hommel) bes. zu erwähnen noch: Montesquieu in s. „Lettres Persanes", nicht mehr dagegen im „Esprit des lois** (s. näh. bei Wellauer, Der Selbstmord, insbes. Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord, Benier Diss., St. Gallen 1896, S. 10, 63, 64 u. Bernstein, a. a. 0. S. 21, 22; vgl. auch unten S. 260, Anm. 1); Voltaire, bes. Commentaire, §19 (Bibl. phil. T. I, p. 251 ff.), Prix de la justice, Art. V (Bibl. Phil. T. V, p. 22 ff.), Dict phil., Art „Suicide«, T. XIII, p. 202ff. (s. auch unten S. 259, Anm. 2; vgl. Hertz, Voltaire, S. 433; Masmonteil, a. a. 0. p. 228/29; Berolzheimcr, System V, 8.222, Anm. 47; Bernstein, a. a. 0. S. 22, 23 u. Anm. 33, 34 [S. 53, 54]); Holbach, Systeme de la nature, 1770, T. I, p. 234, T. II, chap. 14, p. 304ff. (vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 23, 24, ebds. S. 24, 25, 26 auch über Rousseau [in seiner „Nouvelle H61oise*^] u. Diderot); Marat, Plan de l^glslation crim., a. a. 0. p. 184/85 (vgl. G.-S. 61, S. 326ff., auch Bernstein, a. a. 0. S. 26, 27); Brissot de Warvillo, Discours (Bibl. phil. T. VI), p. 97, 98, Theorie I, p. 93 u. 323 ff. (vgl. Bernstein, a. a. C S. 27); s. auch noch Bibl. phil. T. IX, p. 230; Servin, Über die peinl. Gesetzgbg, S. 3 10 ff. (und dazu Bernstein, a. a. O. S. 28 sowie näh. noch unten S. 259, Anm. %, S. 260, Anm. 1, u. S. 26], Anm. 1); M. le F., Plan de l^gislation etc. (Bibl. phil. T. V), p. 401; ßer- nardi, Discours (Bibl. phil. T. VIII), p. 129; de Valaz6, Lois penales (in deustcher Übers, 1786, B. lU, Kap. X (s. Bernstein, a. a. C, S. 28; ebd. S. 55, Anm. 40 auch noch über andere Franzosen); Filangieri, System IV (3,2), Kap. 55, S. 679ff. (vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 29, 30); Friedrich .d. Große (s. näh. bei Willenbücher S. 44, 45 n. Bernstein, a.a. 0. S.S3; vgL auch unten S. 258, Anm. 1, S. 259, Anm. 2 u. S. 260, Anm. 2); v. Sonnen -

Axchiy für Kriminalanthropologie. 28. Bd. 17

268 XIV.

für die Beseitigang der Strafe f&r die yoUendete Tat schon auf einen allgemeinen kriminalpolitischen Grundsatz bemfen zn dfirfen, da& nämlich die Strafen stets ^persönliche sein, d. h. sieh nnr g^en den schuldigen Täter selbst richten sollen^), ein Prinzip, dem die

fels, Qnindsfttze, § 187ff., S. 240ff. (vgl. auch Bernatein, a. a. 0. 8. 41); Claproth, Entwurf I, Bd. II, Abachn. 3, Hauptst. 3, § 15, S.68, 60 (wenn- gleich nicht ohne Ausnahme; vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 41); Michaelis, Mos. Recht VI, Vorrede, S. 39; Rathief , Vom Geiste, S. 93, 99lf.; v. Globig o. Huster, Abhandig., S. 193 n. Vier Zugaben, S. 148, 189 u. 346—348 (vgl Bernstein, a. a. 0. S. 42, auch unten S. :261, Anm. 1); Graebe, BeformatioD, § 41, 8. 78; V. Grolman, Grundsätze, § 447, S. 284; vgl. auch noch y. Dal- berg, Entwurf, S. 134, Nr. 3, 4. Über Job. Jak. Cella s. Bernstein, a. a. 0. a 40. Wieland, Geist I, § 240ff., S. 314ff. wollte zwar keine Strafe mehr für den vollendeten Selbstmord, weil er „kein Verbrechen, wenn auch «dne schändliche Handlung" sei 242, S. 317), wohl aber ev. nodi Be- strafung des mißglückten Versuchs (so übrigens auch Bommel, Rhapsodis, oba. 127 iBern stein, a. a. 0. S. 40] und grundsätzlich wohl auch v. Soden, Geist I, § 275, S. 318/19, der seine Ansicht freilich so stark verklausuliert hat, dafi man mit Bernstein, a. a. 0. S. 43 beinahe das Gegenteil herauslesen kann), und zwar wegen der in der Seele der Selbstmörders herrschenden „bösen und schädlichen Gesinnung'^ (s. bes. { 244, S. 320 u. näh. noch bei Bernstein, a. a.0. S. 42, 43). Gerade umgekehrt dagegen wollte Gmelin, Grundsätze, § 79, S, 165/66 u. Anm. t, § 80, S. 167ff. u. S ^U S. 170 den Versuch des Selbst- mordes in d. Regel zwar straflos lassen, die voUendete Tat dagegen die nicht mit dem „Modeton*^ für gCine unsträfliche Handlung*^ oder gar für „eine ent- schlossene Heldentat*^ zu betrachten sei (S. 167) aus dem Gresichtspunkte der Ab- schreckung anderer noch mit Strafe belegen (vgl. dazu auch Bernstein, a. a. 0. S. 43, 44 u. S. 57, Anm. 59 a. E., S. 60, Anm. 90). Für stilles (unfeierücbes), wenn auch nicht geradezu schimpfliches (od. sog. EMs-) Begräbnis als Folge de» Selbstmordes auch Quistorp, Entwurf, { 252, S. 277/78; Pflaum, Entw. I, f 186, S. 176ff.; v. Soden, Geist II, § 273, S. 315/16; Beseke, Versuch, S. 100, Nr. 1 (und dazu Böhmer, Handb., S. 289); v. Eberstein, Entwurf, S. 132. Schimpfliches Begräbnis (auf dem Richtplatze), ja event selbst Exekution der (eigentlich verwirkten) Strafe am Leichname wollten manche noch für den Fall, daß ein Verbrecher sich durch Selbstmord der irdischen Justiz entzogen. VgL bes. Filangieri, System IV (3,2), Kap. 55, S. 691 (wahrscheinl unter dem Einflüsse des römischen Rechts; vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 29, 30): Clap- roth. Entw., S. 69; Rathlef, Vom Geiste, S. 98; Quistorp, Entw. I, § 252, S. 277 vbd. mit S 66, S. 78; Pflaum, Entw. I, § 186. S. 176 vbd. mit § 51, S. 45; V. Eberstein, Entwurf, S. 133ff. Über die Stellung der Siteren eng- lischen Schriftsteller zum Selbstmorde s. Bernstein, a. a. 0. S. 53, Anm. 29; für die Erlaubtheit ist unter ihnen z. ,B. D. Hume, On soidde (gedr. 17 S3) eingetreten.

1) S. darüber bes. Beccaria, { 35, S. 147/48 und ihm folgend Voltaire (s. Hertz, a. a. 0. S. 433; Bernstein, a. a. O.S. 23) und Friedrich der Große (in s. Reskript vom 6. Dez. 1751 betr. d. früheren Selbstmordedikte; s. Willenbücher, a. a. S. 44, 45; Bernstein, S. 33). Im allg. s. noch

Die Strafrechtsreform im AnlklSnmgszeitalter. 259

alten SelbstmordstrafeD, wie das schimpfliche („unehrliche^) Begräb- nis and die Vermöge nskonfiskation i), die ja nur noch die unschul- digen Hinterbliebenen trafen^), aufs ärgste verletzen, weshalb sie als ^nnnütz und ungerecht^ durchaus zu verwerfen sind. ^} Zum>

über den Gnmdsatz der Persönlichkeit der Strafe Marat, Plan etc., p. 136 ff. („Lee peines doivent toe penonelleB"; vgl. G.-S. 61, S. 22S[24 a. Anm. 1, 2 vbd* mit S. 170, Anm. 1 u. S. 176, Anm. 3 [über Robespierre; vgl. auch Bernstein, S. 27]); Brissot de Waryille, Theorie I, chap. 2, p. 34 („La peine ne doit 6tre ßtendue qne sar le coapable*^) und ebendas. p. 190; Bernardi, Discours (Bibl. phil. T. VIII), p. 81ff.; de Pastoret, Consi- dtotioDB sar les lois pönales (1790), T. I, P. II, p. 123 (Bernstein, a. a. 0. S. 27); Bathlef, Vom Geiste, S. 83; Quistorp, Entw., § 65, S. 77, 78; v. ßeder, Daspeinl. Becht I, Kap, IX, § 22ff., S. 154ff. vbd. mit § 29, S. 159 a. Kap. XV, { 18, S. 344; ▼. Dalberg, Entw., S. 138, c; Bergk, Über- setzung vom Beccaria, 8. 61, 62; v. Grolman, Grandsätze, § 128, S. 59.

1) S. darüber nfiheres o. a. bei Guderian, Die Beihilfe zum Selbstmord and die Tötang des Einwilligenden, Teil I, Berl. Diss., 1899, S. 8, 9, Anm. 4 a. Bernstein, a. a. 0. S. 4 16. Insbes. über Frankreich s. noch Hertz, Vol- taire, S. 162; y. Oyer.beck, a. a. 0. S. 101, Anm. 1; Bernstein, S. 18, 19.

2) S. darüber schon Friedrichs des Großen Reskript vom 6. Dez. 1751 (Willenbü eher, a.a.O. S. 44 u. Anm. 2; Bernstein, a. a.0. S. 33); femer Beccaria, § 35, S. 147 a. 151; Voltaire, Commentaire, §19 (Bibl. phil. T. L, p. 253/54), Prix de la jastice, Art V <Bibl. phil. T. V, p. 24), Diet. philos., Art „Confiscation'', T. V, p. 125ff. (vgl. Hertz, Voltaire, 8.433; Mas- monteil, a.a.O. p. 227, 260ff.; Bernstein, a. & 0. S. 23); Marat, Plan etc., p. 1 84/85 (inbes. gegen die Vennögenakonfiskation bei Selbstmord als none terrible tyrannie*, obwohl er im allg. kein Gegner der Konfiskation war; vgl G.-S. 61, S. 225, Anm. 2 vbd. mit S. 327 a. oben S. 184, Anm. 1); Brissot de W arvillCt Theorie I, p. 328; Servin, Über die peinl. Ge- setzgebg., S. 314; Fi lang i er i, System IV (3,2), Kap. 55, S. 686; r. Sonnen- fels, Gnmdsfttze, § 187, S. 241 („Für [den Selbstmörder) fUlt die Strafe aofier den Kreis der Wirksamkeit and ISfit Schmera and Betrübnis nar die schald- losen Angehörigen fühlen**); Rathlef, Vom Geiste, S. 105 (bei dem anehrlichen Begräbnisse des Selbstmörders bleibe nichts übrig als der „anselige Endzweck, die Familie eines Unglücklichen za beschimpfoi^); Wieland, Geeist I, S. 249, S. 327/28, § 250, 8. 329 ff.; Graebe, Reformation, § 41, S. 78 („Strafe, die ohnehin nar U n s c h a 1 d i g e treffen würde*^). Vgl. aach nodi Qaistorp, Entwarf I, § 252, S. 279, Anm. a (if^egen das sog. Eselsb^gräbnis) n. S 253, 8. 280 (gegen die Konfiskation; vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 41); V. Soden, Geist I, § 271, S. 314, § 273, S. 815 a. § 276, 8. 819 (a. daza Bernstein, a. a. 0. 8. 43); Gmelin, Grnndsfttze, { 80 a. E., & 170 (gegen die Konfiskation als «unbillige Strafe^; vgl. Bernstein, a. a. 0. S. 44).

3) So aosdrücklich: Filangieri, System IV (3, 2), S. 668 in Überein- stimmang mit den meisten. Vgl. z. B. Beccaria, } 35, S. 147 („angereoht und tyrannisch"^) n. S. 150 („onnüti and angereoht*^); Michaelis, Moe. Recht VI, Vorrede, S. 39 („die unnütze Strafe des Selbetmoidee''). 3. im allg. auch noch Bernstein, a. a. 0. S. 44, der übrigens hervorhebt, daß die den tsch en

17*

260 XIV. GÜOTHER

Nachweise der Kichtstrafbarkeit anch des Selbstmordversuchs be- durfte man dagegen noch eines weiteren rechtsphilosophischen Hin- tergrundes. Man fand ihn hauptsächUch in dem Satze, daß der Mensch zwar dem Staate verpflichtet sei, solange er lebe, nicht aber auch sein Leben unter allen Umständen für den Staat erhalten müsse, daS es vielmehr Verhältnisse gebe, wo man das Recht, wenn nicht gar die Pflicht habe, einer unerträglich gewordenen Lage durch frei- willigen Tod ein Ende zu bereiten, wie dies u. a. schon Mon- tesquieu in seinen „Lettres Persanes^^) und Friedrich der Große in seiner „Apologie du suicide^ ausgeführt haben. 2) Im Anschluß an Beccaria wird zuweilen auch noch ein Vergleich zwischen einem Selbstmorder und demjenigen gezogen, der dem Vaterlande seine Dienste durch Auswanderung entzieht und zugleich sein ganzes Vermögen niit sich nimmt Dieser letztere erscheint viel strafbarer als der erstere (der ja dem Staate sein Ver- mögen nicht entzieht), denn so meint z. B. Servin er bestehle geradezu sein Vaterland, da er „nur insofern ein Becht an dem Eigentum des Staates*^ habe, „als er denoselben Dienste leistet, wofür derselbe ihm etwas zu Eigentum anweist^, der Selbstmörder da-

Schriftsteller trotz der Mißbilligung der Selbtmordetrafen die Tat selbst doch „ethisch, meistens noch verworfen*^ haben.

1) Montesquieu, Lettres Persanes (1721), Lettre 76 (6d. Firm.-Didot, Paris 1891), p 362/63: „Pourquoi vent-on que je travaille ponr une sod^t^ dont je consens de n'toe plus ... La vie m'a 6t6 donn6e comme une faveur; je puis donc la rendre lorsqu'elle ne Fest plus: Ja cause cesse, Teffet doit donc cesser aussi ... Je suis oblig6 de suivre les lois quand je vis sous les lois; mais quand jen'y vis plus, peuvent-elles melier encore?** Vgl. dazu Wel lauer, Der Selbstmord usw., S. 63, 64, Berolzheimer, System V, S. 218, Anm. 20, 21 u. Bernstein, a. a. 0. S. 21 vbd. mit S. 53, Anm. 81 (über Ähn- lichkeit der Ansichten Montesquieus mit denen Schiopenhauera). Über- einstimmend im wes. auch Servin, Über die peinliche Gesetzgebg., S. 312: „. . . . Kein Gesetz verbindet mich, (den Staat) mehr als mich selbst zu lieben, und da ich (dem Staate) nicht mehr dienen kann, ohne mir dabei ein Übel an- zutun, das ich mehr als den Tod fQrchte, so bin ich berechtigt, <die) Dienste (des Staats) niederzulegen^. S. auch noch Marat, Plan de l^gisl. crim., p. 184/85 (vgl. G,-S. 61, S. 326/27; Bernstein a. a. 0. S. 26, 27 u. S. 55, Anm. 42).

2) S. darüber Zeller, Friedrich der Große als Philosoph, Berlin 18S6, S. Sl u. Anm. 236; Willenbücher, a. a. 0. S. 44 u. Anm. 3; Bernstein, a a. 0. S. 33, 34 u. 56, 57, Anm 58. Auch in der neueren Zeit ist man nicht viel über diese Begründung hinausgekommen. S. z. B. Hals ebner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. I (Beri. 1881), S. 468/69, Berner, Lehrbuch (17. Aufl., Leipz. 1895), S. 94 u. a. m.; vgl. näheres noch bei Well au er, a. a. 0. 8. 39 ff. (im Anschluß an Bindings Übersicht in s. Handb. des Strafrechts I, Leipz. 1885, S. 698, Anm. 9) u. Guderian, a. a. 0. S. lOff., 16ff.

Die Straf rechtsreform im AofklärnngBzeitalter. 261

gegen verlasse „alles, was er hat^, versetze sich gegenüber der Ge- sellschaft also wieder „ganz in den Znstand . . ., in dem er beim Ein- tritt seiner Verbindung (mit ihr) war".*)

Unter den Delikten, die Leib und Leben des Einzelnen gefährden, verdient endlich eine kurze Erwähnung noch der Zweikampf, über dessen zweckmäßige legislatorische Behandlung (Vorbeugung und Bestrafung) man sich schon damals nicht recht einigen konnte, und der auch heute noch sozusagen ein Schmerzenskind unserer Gesetz- gebung geblieben ist. Auch in unseren Tagen ist immer aufs neue wiederholt worden, was schon im Jahre 1784 ganz richtig Prof. Graebe bemerkt hat, daß man bei den nun einmal herrschenden Ansichten die Duelle schwerlich hemmen werde, solange nicht zweckmäßige Ein- richtungen getroffen werden, den Beleidigten anständige Genugtuung zu verschaffen. 2) Trotz aller Bemühungen (neuerdings z. B. von Seiten der deutschen Anti- Duell-Liga) ist aber dieses Problem bisher noch nicht zu allgemeiner Zufriedenheit gelöst worden. 3) Soll nun

1) Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 310, 312 u. 315 im Bach I, Kap. 4, Abschn. 5, § 1 mit der, auch schon äußerlich mit Beccaria 35, S. 147ff. : „Vom Selbstmord und der Auswanderung*^) übereinstimmenden Überschrift „Vom Selbstmord und von Entsagung des Vaterlandes" (vgl. auch Bernstein, a. a. 0. S. 28). Ahnlich auch v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 193 (vgl. Bernstein S. 42); dagegen aber Gmelin, Grundsäte § 28, S. 164, Anm. r. Zu dem ganzen Veigleiche s. bes. auch noch C. G. v. Wächter, Revision der Lehre vom Selbst- morde, im N. Archiv des Kriminalrechts, Bd. 10 (1828), S. 656 ff., bes. S. 661/62 so- wie Wel lauer, a. a. 0. S. 49.

2) Über die Reformation der peinlichen Gesetze, § 42, S. 79. Zu vgl. auch schon Friedrich der Große in seiner „Dissertation" (Oeuvres T. IX, P- 32): „Le point de difficult6 qui reste ä resoudre serait de trouver un exp6- dient qui en conservant Thonneur aux particuliers maintient la loi dans toute sa rigueur"; vgl. dazu Willenbücher a. a. 0. S. 42, 43 und Kohl- rausch in d. Vergl. Darstellg. lU, S. 133 u. 137. Für besseren Schutz der Ehre u.a. auch Zaupser, Gedanken, Abhdlg. 2, S. 39; v. Soden, Geist I, § 295, S. 336ff.; V. Globxg u. Huster, Abhandig., S. 184; Gmelin, Grundsätze, § 75, S. 157. Für die heutige Zeit s. Kohlrausch, a. a. 0. S. 133: „Gelingt es dem Staate, der verletzten Ehre denjenigen Schutz zu geben, der bisher im Duell gesucht wird, so wird dieses verschwinden''; s. jedoch auch ebds. S. 181 ff. betr. d. Zweifel, ob ein solcher Schutz durch eine bloße Reform (Er- höhung) unserer Beleidigungsstrafen möglich sei; desgl. v. Lilien thal in der Deutsch. Jur.-Zeitg. vom 15. Juni 1907, Sp. 673 ff., bes. Sp. 676/77.

3) Über die auch als Zugabe zur Deutschen Juristen-Zeitg., Jahrg. 1905, Nr. 7 erschienenen „Anträge der Deutschen Anti-Duell-Liga** (bes. auch betr. Einführung von „Ehrengerichten'' [von Standesgenossen]) s. im allg. Graf zu Dohna in d. Z. f.d. ges. Str. W. 26, S. 557 ff.; Liepmann in der Monats- schrift für Kriminalpsych. usw., Jahrg. 11 (1905), S. 126 f.; vgl. Kohlrausch, ^ a..O. S. 181 u. Anm. 1, S. 184ff. u. Anm. 2. Ebds. S. 184—189 auch über die

262 XIV. GfhvTHEB

der Zweikampf, so lange er noch gehandhabt wird, bestraft werden, nnd, wenn dies zn bejahen, an wem nnd anf welche Weise? Das sind die Fragen, über die auch in der Anfklämngszeit schon die Meinungen sehr wesentlich auseinander gingen. Während damals viele das Wesen dieser eigenmfichtigen Selbsthilfe verkannten, so daB sie darin lediglich etwa eine „espöce de menrtre^ (Friedrich der Große) Oy ja wohl geradezu eine „fiberlegte Mordtat' e^ blickten (v. Globig und Huster) und daher beide DueOante» (ganz besonders aber den, der seinen Gegner getStet oder verwundet) einer strengen Bestrafung unterwerfen-), andere (wie namentlich von Soden) dagegen umgekehrt womöglich alle beide ganz straffrei anr gehen lassen wollten'), glaubte eine dritte Gruppe mit Beccaria

bei Eiiisetzaiig von Standesge richten zu bewUtigendai Für Ehren- bexw. Standesgerichte sind von den AnfkllningaschTiftBteUein flehen eingetreten in DeatBchland u. a.: v. Soden, Gdsi I, 9 295, S. 337/'3S, nnd Gmelin, Grundsätze, §75, S. 158, Anm. p; von Franzosen s. bes. Servin, Über die peinl. Gesetzgebg., S. 174; vgl. auch Marat, Plan etc., p. ISd (S.G.-S.61, 8. S26 n. Anm. 2). Hier (sowie bei Claproth, Entw. I, B. n, Abschn. 3, Haupst 3, § 1, S. 54, Anm. a, v. Soden, a. a. 0. S 294ff., S. 383£r., Gmelin, a. a. 0. § 75, S. 157ff. u. a. m.) auch fiber die Vorbeugungsmittel gegen den Zweikampf überhaupt (wie z. B. Kontrolle des Waffentra^^ens u. drgl.). Dafl die Vorschriften unseres geltenden deutschen Beichsstrafrechts weit mehr den Charakter von Bekämpfungsmaßregeln als von eigentlichen Stnfbestim- mungen an sich tragen, hat neuerdings bes. A.Thom8en (Grundrifi des dentscben VerbrechensbekSmpfungsrechts, Bes. Teil, Berl. 1906, 8. 82 ff. und Das deatscbe Strafrecht, Beri. 1907, S. 315 ff., 318) betont

1) So: Friedrich der Große in seiner «Dissertation" (Oeuvres T. IX, p. 32/33), wo die Duellanten als „esp^ce de meurtriers'* bezeichnet sind; Tgl. Willenbücher, a. a. 0. S. 43; Kohlrausch, a. a. 0. S. 137. Über Vol- taires feindliche Stellung zum Duell s. Masmonteil, a. a. 0. p. 226/27; über die Enzyklopädisten: v. Overbeck, a. a. 0. S. 101—103; fiberHarat, der (Plan etc., p. 184) ebenfalls für strenge Bestrafung war, s. Günther im G.-8. 61, S. 325/26, 370.

2) 8. (außer v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 185, 183 (,,ich sehe nicht ein, warum solche vorsätzliche Mörder besser daran sein sollten als andere?"}) bes. auch S ervin. Über die peinl. Gresetzgebg., S. 174 (der „jeden, der sich in einen Zweikampf einläßt, als vorsätzlichen Mörder** betrachtete). Mehr oder weniger ähnlich femer: v. Sonnenfels, Grundsätze I, § 185, S. 237/38; Zaupser, Gedanken, Abhdig. 2, S. 38; Claproth, Entw. I, B. II, Abecfan. S, HauptBt. 3, § 1, S. 53; Quistorp, Entwurf I, § 273, S. 800; Pflaum, Entw. I, S 198, 8. 186 ff.; Beseke, Versuch, S. 101 (für Talion im Falle der Tötung; vgl. Böhmer, Handb., S. 289); Wieland, Geist H, § 442, 8. 147, Nr. XVIU; Gmelin, Grundsätze, § 75, S. 154ff.; v. Dalberg, Entwurf, S. 169 u. a. m. Ausdrficklidi gegen diese Auffassung aberRathlef, Vom Geiste, S. 34, 85; gegen die Todes- strafe auch Graebe, Reformation, § 42, 8. 79.

3) V. Soden, Geist I, § 294, 8. 335/36: „Strenge der Gesetzgebung würde

Die Strafrechtsrefonn im Anfklärangszmtalter. 263

^das wirksamste Mittel zur Verhütung dieses Verbrechens^ darin er- blicken zu dürfen, daß man nur den sog. Angreifer, d. h. ,,den^ der die Veranlassung zum Zweikampf gegeben^, bestrafe^ den dagegen ^tüLT unschuldig^ erkläre, „der ohne seine Schuld gezwungen worden^, seine Ehre (die die bestehenden ,,Gesetze nicht zu schützen vermögen*') 2tt verteidigen.^) Besonders hervorgehoben zu werden verdient end- lich noch, daß die auch in der Neuzeit wieder von einzelnen erhobene Forderung, das Duell statt mit der sog. custodia hone4<ita der Festungs- haft mit strengen, entehrenden Strafen (Zuchthaus, Verlust der bttrg^- lichen Ehrenrechte u. dgl.) zu belegen '0, det Aufklärungszeit bereits ganz geläufig gewesen ist Meinte man doch diesen Wunsch mit dem früher schon näher erörterten Grundsatz in Übereinstimmung bringen zu können, die Strafe als Reaktion gegen die entscheidende

nur den Enthusiasmas des Staatsbürgers erhöhen . . . Man verlasse also die Strafe des Zweikampfs ganz. Man suche Mittel gegen ihn, wo sein Grand liegt: im Herzen des Menschen:*^; ebd. § 296, 8.338: ^Bis dahin (nämlich bis Eur Einsetzang von Standesgerichten zur Aburteilung von Beleidigungen [s. oben S. 262, Anm. 4]) kann die Gesetzgebung zwar den mutwilligen Beleidiger strafen, aber ohne die äußerste Ungerechtigkeit nie den beleidigten Mann von Ehre, der sein kostbarstes Gut selbst zu schützen, zu erhalten, zu retten sucht, das ihm die Gesetzgebung mit aller ihrer Macht nicht erhalten kann*^ (vgl. dazu auch Geib, Lehrb. I, S. 335; v.Liszt, Lehrbuch, § 93, S. 327). Von Franzosen s. noch Brissot de Warville, Discours <Bibl. phil. T. VI), p. 98: („Changez Topinion . . . sur Thonneur, mais ne la punlssez pas. La peine est in- suffissante . . ,% Theorie I, p. 325 („Qne les lois cessent donc de lutter contre ce fl6au, le fruit de Topinion public! Qu'on cesse d'armer la main du bourreau contre ces duellistes! C'est une fausse politique" etc.) und Ber- nardi, Discours (Bibl. phU. T. VIU), p. 151.

1) Beccaria, § 29, S. 139, 140. Im weaentl. übereinstimmend Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 51, S. 603ff. u. bes. S. 608ff. Dagegen aber ausdrücklich Servin, Über die peinl. Gesetzgbg., S. 174 u. v. Globig u. Huster, Abhandig., S. 183/84. ~ Claproth, Entwurf, S. 53, 54, Anm. a wollte für den Fall, daß keiner der Duellanten getötet worden, den „Herausforderer** allemal doppelt so hoch als den Herausgeforderten bestrafen. Ebenso der Sache nach Beseke, Versuch, S. 101. Sehr ikasuistisch ist Wieland, Geist II, § 343ff., S. 142 ff.

2) S. darüber im allgem. Eohlrausch in d. VergL Darstellg. III, S. 197 u* Anm. 1 u. S. 198, der aber selber (S. 128, 197 ff.) dagegen ist Hervorzuheben bes. Binding in der Deutsch. Jur.-Ztg., Jahrg. H (1897), Nr. 1, S. 2 ff., bes. S. 4, Sp. 2 u. Anm. 1 u. S. 5, Sp. 1 sowie in sm. Vortrage „Der Zweikampf und das Gesetz** (»— „Neue Zeit- und Streitfragen**, herausgeg. von der Gehe-Stiftung zu Dresden, Jahrg. III, Heft 2), Dresden 1905, bes. S. 11 ff.; femer Landgerichtsrat Thomsen in der Deutsch. Jur.-Ztg., Jahrg. 1902, S. 134, Jahrg. 1906, Sp. 193 ff.; Strantz, ebds. Jahrg. 1906, Sp. 182/83: Hamm, ebds. Jahrg. 1906, Sp. 222 ff. Die Anti-Duell-Liga will die custodia honesta wenigstens durch Gefängnis ersetzen <vgl. Z. f. d. ges. Str.-W. 26, S. 557/58).

264 XIY. GüKTHEB

Triebfeder des Delikts (hier: das übertriebene Ehrgefühl) erscheinen zn lassen. 0 Nor haben sich freilich die Einsichtigeren schon damals nicht verhehlt, daß das Gesetz vergeblich Ehrenstrafen für Hand- Inngen androht, die in der öffentlichen Meinung nichts Ent- ehrendes an sich tragen, nnd daß demnach anch jener vorgeschlagenen Behandlung des Zweikampfs gegenüber das Volksempfinden sich wohl ablehnend verhalten würde. ^) „Könnte jemand", so meinte z. B. der prinzipiell jener Forderung nicht abgeneigte Michaelis, ^das Kunststück erfinden, das Duell, zu dem bloß ein unrecht verstandener Point d'honneur die Triebfeder ist, mit einer (auch) beidemPubliko geltenden Infamie zu bestrafen^, dann aber auch eben nur dann „hätte er das alle Preisaufgaben übersteigende Problem der gesetzgebenden Klugheit . . . gelöst^ ^) Bis heute hat man jedoch auf die „Erfindung" jenes „Kunststücks^ noch immer vergeblich ge- wartet

Fragen wir nun, welche Rückwirkung die kriminalistische Aufklärungsliteratur tatsächlich auf die Gesetzgebung der Zeit ausgeübt hat, so ist zunächst festzustellen, daß fast keiner der größeren europäischen Staaten von der fortschrittlichen Strömung ganz unbe- rührt geblieben ist^), und auch hierin zeigt sich wieder ihre Inter-

1) S. das nähere darüber schon oben S. 183/84, Anm. 4 u. 5. Über die Gegner des Grundsatzes s. anch die folgende Anmerkg.

2) 8. z. B. Filangieri, System IV (3, 2), Kap. 31, S. 68ff. u. bes, S. 76ff.; Observations snr le trait6 des d^lits et des peines (Brissot, Bibl. phü. T. I), p. 315; Gmelin, Grundsätze, § 29, S. 65 u. Anm. t (Ehrenstraf^i „würden mit Schaden gegen solche Verbrechen gebraucht werden, mit welchen man nach ge- meinem Vorurteile keinen Begriff von Unehre verbinden kann, und die gesetzliche Ehrlosigkeit würde zuletzt dem Verbrecher zur Ehre werden . . . [Anm. t] Eben daher sind die entehrenden Strafen wider den [sie] Duell nicht immer zu raten ..."); vgl. ebds. § 75, S. 157; s. auch Klein, Fragmente, S. 75 u.V. Soden, Geist I, § 294, S. 335.

3) Michaelis, Mos. Recht (2. Aufl.) VI, Vorrede, S. 55 (s. Günther, Wieder- vergeltg. II, S. 221/22, Anm. 600), vgl. auch ebds. S. 120, 121 u. S. 117: ,j:hre und Schande hängen eigentlich nicht von den Gesetzen, sondern von der Meinung der Menschen ab . . . Man verbiete einmal das Duell unter der Strafe, daß jeder Duellant zur Schande zeitlebens einen Strick um den Hals tragen soll, so wird mancher sich duellieren, bloß um dies Ordenszeicben zu erringen.*' Eine ähnliche Beurteilung von Seiten des Volks würde wohl auch der Verwirklichung des von V. Glob'.ig u. Huster, Abhandig., S. 184 gemachten Vorschlags zu Teil werden, „diejenigen zu belohnen, welche den angebotenen Zweikampf ausgeschlagen haben'S der sich in ähnlicher Weise auch schon bei Claproth, Entwurf S. 54, Anm. a findet Über Gmelin s. schon oben S. 145, Anm. 1.

4) Da, wie Löning (i. d. Z. f. d. ges. Str.-W. 4, S. 252) bemerkt, für die Auf- klärungsachriftsteller „der Erlaß neuer Strafgesetze nach den hierfür aufgestellten

Die Straf rechtsreform im Aufklärungszeitalter. 265

nationalität. Merkwürdig ist es dabei aber^ daß gerade derjenige Staat, von dem die ganze Bewegung einst ihren Ausgang genommen, Frankreich, erst verhältnismäßig so spät, nämlich kurz vor und während der Revolution 0 dazu geschritten ist, die Forderungen seiner großen Philosophen und Philanthropen in die Tat umzusetzen ^), während lange zuvor in dem uns heute so konservativ erscheinenden Rußland schon Katharina IL in ihrer berühmten „Instruktion für die zur Ver- fertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetzbuche verordnete Kom- mission^ 3) den Versuch gemacht hatte, die Gedanken Montes-

Rezepten das Ziel aller Bestrebungen und Bemühungen*' bildete, so ist es wohl begreiflich, daß die Verfasser es für einen „überschwänglich beglückenden Lohn^ hielten (s. v. S öden, Geist der peinl. Gesetzgbg., Vorrede zur 2. Aufl., S. 8), wenn ihre Schriften wie es tatsächlich öfter der Fall gewesen (vgl. darüber außer V.Soden, a. a. 0. S. 2 auch Graebe, Reformation { 12, S. 23, Hetzel, Die Todesstrafe usw., S. 162, v. 0 verbeck , a. a. 0. S. 126 sowie das unten S. 270, Anm. 3 über Marats Plan de legisl. crim. Bemerkte) „in die Kabinette der Großen*' eindrangen, da sie hierdurch mehr Gutes wirken konnten „als die tiefsten spekulativen Untersuchungen, die in den Studierstuben der Gelehrten verborgen geblieben wären" (Mal blank, Geschichte der P,G.-0., § 52, S. 236). „Die Ge- setzgeber" aber priesen sich ihrerseits „glücklich, die Ehre zu haben, daß sie die wissenschaftlichen Ansichten ihrer Gelehrten durch Gesetze verewigen konnten^ um dadurch den Ruhm philosophischer Regenten einzutauschen". (G. J.A.Mi tter- maier, Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminal rechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern, Bonn 1819, S. 9.) Auf einzelne gesetzliche Bestimmungen aus dieser Zeit ist schon im Vorhergehenden gelegentlich hingewiesen worden. Vgl. bes. S. 165, Anm. 1 a. E., S. 18S, Anm. 2 a. £., S. 234, Anm. 4, S. 251, Anm. 4 a. E., S. 252, Anm. 1, S. 258, Anm. 1 u. S. 259, Anm. 2.

1) S. V. Overbeck, a. a. 0. S. 127. über den sehr hervorragend ge- wesenen „Anteil der französischen Aufklärungsliteratur an der Revolution" über- haupt s. den gleichlautenden Aufsatz von P. Sakmann in der „Beilage zur (Münchener) Allgem. Zeitung**, Jahrg. 1902, Nr. 144 (vom 27. Juni), S. 561 ff.; vgl. auch Günther im G.-S. 61, S. 170 ff. Bezügl. der Meinungsverschiedenheiten über den Einfluß der französischen Aufklärungsschriftsteller auf die „D6claration des droits de Fhomme et du citoyen" vom 26. Juli 1789 s. näheres bei Egon Zweig, Zur Verfassungsgeschichte der französischen Revolution, in der „Beilage zur Allgem. Zeitung**, Jahrg. 1905, Nr. 121, S. 353 ff. u. Nr. 122, S. 363ff.

2) Zur Literatur über die Strafgesetzgebung der französichen Revolutionszeit 8. Günther im G.-S. 61, S. 161/62, Anm. 1 u. S. 192/93, Anm. 8 vbd. mit Wieder- vergeltung, III 1, S. 32, Anm. 40 u. S. 113/14, Anm. 250. Hervorzuheben: Ed. Seligmann, La justice en France pendant la r^volution, Paris 1901 (das. p. 559ff. „Bibliographie^') ; zu vgl. auch Hertz, Voltaire^ Kap. 18, S. 503 ff.

3) Von dieser Instruktion, datiert vom 30. Juli 1767, die Roschor in seiner „Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland^ (München 1874), S. 793 eine „aphoristische Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft" genannt hat, findet sich ein Abdruck (der franz. Übersetzung) in Brissots Biblioth^que philos. T. III, p. 34 ff; Auszüge daraus nach der deutschen Übersetzung (Riga

266 XIV. GÜKTHKB

gnieuB und Beocarias ^in die Spmche des Geaetzgeben za Ober- tragen^ % ja diese Gedanken in dem kleinen GroBherzogtiun Tos- kana (durch Peter Leopold „den Weisen'^)^) und noch firuher in PreuSen (durch Friedrich den Großen) zn wirklicher Dorchf&h- rung gelangt waren. Ist es doch eine der ersten Begiemngshand- Inngen des jungen Königs gewesen, die Folter, die er in seiner ,,Dissertation^ f&r einen „ebenso gransamen, wie nnn&tzen Brauch'' erkUrte '), in seinen Landen so gut wie völlig zu beseitigen ^), woru sich dann eine fast ununterbrochene Reihe fortschrittlicher, tou frei*

IL Mitfto 1768) bei Flathe-Hommel , ÜbeneCznng von Beccaria, Voirede, 8. Xff^ Bergk, Überaetzang von Beocaria I, S. 38 ff. und Böhmer, Haodb. der lit des Krimmalrechts, i 67, Nr. 1056, S. 424 ff. Zur Literatur s. äacfa ^ Angaben bei G&nther, Wiedervergeltung II, & 170, Anm. 388 n. daza jeHt noch Masmonteil, La l^gial. crim., p. 116 n. EsBelborn, Üben. vonBeccaiia, Einltg., S. 40 Q. Anm.**

1) So: V. Liszt, Lehrbach, § 7, S. 36 (betr. Montesqaieua Esprit da lois; vgl. auch schon oben S. 172, Anm. 1 n. S. 174, Anm« 8), womit (betr. Becoaria) za verbinden EsBelborn, a. a. 0. S. 40 u. Pessina, II diritto pönale in Italia etc, p. 18. Über die tatsächliche Nichtvollziehang der Todet- strafe in Rußland unter der Kaiserin Elisabeth s. unten S. 278, Anm. 2.

2) Zur Literatur fiber das-toskanische Strafgesetzbuch von 1786 (in deatsch. Übersetzung abgedr. in Schlözers Staats- Anzeigen, Bd. X, Heft 39, S. 384 ff., 393 ff.) 8. Böhmer, Handbuch, §68, S. 432 ff.; G&nther, Wiederveigeltnng U, S. 26ff., Anm. 26 u. 8. 86, Anm. 185,86 (über die Einwiikung der Ideen Beo- carias auf das Gesetzbuch); Pessina, a. a. 0. p. 1 u. 21 ff. Das Gesetzbuch hat auch Einfluß auf deutsche Strafgesetzentwiirfe ausgeübt, s. z. B. anf den von K. v. Dalberg vom Jahre 1792; s. das. Einleitung, S. 4. Über die Abschaffung der Todesstrafe in Toskana s. noch unten S. 278, Anm. 2.

3) 8. Dissertation (Oeuvres T. IX), p. 28: „un nsage honteux k des chr^tiens et ä des peuples polioös, . . . aussi cruel qu'inutile*; vgl. Willen- bücher, a. a. 0. S. 49 u. Anm. 5. Eine kurze Zusammenstellung der An- sichten der übrigen wichtigsten Aufklärungsschriftsteller über die Folter (auf die hier grundsätzlich nicht naher eingegangen werden soll) hat anlangst Hans Schneickert in diesem „Archiv'', Bd. 27 (1907), S. 343/44 gegeben.

4) S. näheres hierüber (Kab.-Ordre vom 3. Juni 1740 und spätere Eigin- zungen) bes. bei Koser, Die Abschaffung der Tortur durch Friedrich den Großen, in den „Forschungen zur brandenb. u. preuß. Geschichte*^, Bd. VI (ISSl), 8. 233ff. u. Holtze ebds. Bd. VII, S. 128 ff., 133 ff. sowie in dessen Schrift «Die Strafrechtspflege unter Friedrich Wilhelm I.*^ (Beiträge zur brtndenb.-preoß. Rechtsgesch. III), Beriin 1894, Exkure Nr. 20, 8. 71 ff. Zu vgl. etwa ferner noch Hälschner, Geschichte, S. 147; Berner, Die Strafgesetzgebung m Deutschland von 1751 bis zur Gegenwart, Leipz. 1867, § 40, S. 32; Stölzel, Brandenb. -Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, Bd. 11 (1S8S), S. 141ff.; Landsberg, Geschichte III 1, S. 222; Willenbücher, a. a. 0. S. 48 ff., 51 ff. u. Anm. 1 (Literatur). Über Abschaffung der Folter in anderen deutschen Staaten s. u. a. Malblank, Geschichte der P. G.-O., § 53, S. 243ff.

Die Straf rech tsrefoim im Anfklärungszeitalter. 267

sinnigem Qeiste getragener Gelegenheitagesetze angeschlossen hat.!) Ziemlich lange freilich hat es dagegen anch in Preaßen gedauert, bis eine neae, vom Hauche der Aufklärung berührte Geaamtkodi- fikation des Strafrech ts zustande gekommen. Sie ist enthalten im 20. Titel des IL Teils des sog. ^^Allgemeinen Landrechts ffir die preußischen Staaten'^, jenes großartigen, allen Oebieten des Rechts gewidmeten Gesetxeswerkes , das schon unter Friedrich dem Großen begonnen, jedoch erst unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm IL im Jahre 1794 zum Abschlüsse gebracht isL^) Schon sieben Jahre früher (1787) hatte in Österreich Josef IL, des preußischen Königs Gesinnungsgenosse, ein jetzt meist nach ihm als Josef ina^ be- zeichnetes — Strafgesetzbuch erlassen '), das nach Form wie Inhalt den denkbar stärksten Gegensatz zu der bisherigen veralteten, unter

€. G. V.Wächter, Beilagen zu Vorlesungen fiber d. deutsch. Strafr., Leipz. 1881, S. 140; Franz Helbing, Die Tortur (Gesch. der Folter im Kriminalverfahren jiller Völker und Zeiten), Berlin (ohne Jahreszahl), Bd. IT, Kap. XIII, S. 216; Schneie kert, a.a.O., 8. 345. Insbes. fiber Österreich si auch noch: Finger, österreichisches Strafrecht, Bd. I (2. Aufl., Berl. 1902), S. 54 u. Anm. 83; Essel- born, Übers, v. Beccaria, Einltg., S. 50 u. Anm.**; Pessina, II diritto penale, p. 18; über Toskana (G.-B. von 1786, Einltg. u. Art 33) s. Günther, Wieder- vergltg. n S. 26, Anm. 26; über andere nicht-deutsche Staaten: Malblank, «.a.O. § 52,8.241; Hei hing, a.a.O. S. 216; über die Instruktion Katharinas U. von Ruüland v. 1767 (Anm. 113): Böhmer, Handb., S. 424/25.

1) S. darüber Willenbücher, a. a. 0. 8. 3, 14 ff., 35 ff., 47 ff., 63; vgl. auch Malblank, a. a. 0. { 52, S. 237 ff ; Graebe, Über die Reformation, § 8, S 14 ff.; (V.Arnim), Bruchstücke über Verbrechen und Strafen usw., Frankf. u. Leipz. 1803, Bd. I, 8. Uff.; Ab egg, Versuch einer Gesch. der Strafgesetzgbg. und des Strafrechts der brandenb.-preuß. Lande, Berlin 1835, § 26 ff., S. 133 ff.; flälschner , Geschichte, { 20, S. 172 ff.; Berner, Strafgesetzgbg., § 40, 8. 32 ff.; Stölzel, a.a.O. II, 8. 229 ff.; derselbe, Suarez, ein Zeitbild usw., Berl. 1885, 8. 220 ff.; V. Liszt, Strafr. Aufs. 11, S. 140.

2) Zur Literatur über die Entstehungsgeschichte und den Inhalt des preuß. A.L.-R., dessen strafrechtlicher Teil ziemlich allgemein als der schwächste gilt <vgl. o. a. auch v. Liszt, Strafr. Aufs. II, S. 147), s. die Angaben bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, 8. 19, Anm. 3 a. E., S. 23 ff., Anm. 15 ff. u. bes. 17, S. 61, Anm. 118 ff.; vgl. auch noch Landsberg, Geschichte III 1, 8. 465 ff.

3) S. über die österreichische Josef ina (übrigens „das erste aus- schließlich dem Strafrecht gewidmete Gesetzbuch'* [H. Meyer- Allfeld, Lehr- buch, S. 66]) die Literaturangaben bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 26ff. u. Anm. 28 ff., 8. 86 u. Anm. 187 ff. und dazu noch: Landsberg, Geschichte HI 1, S. 520/21; Finger, Österreich. Strafr. I (2. Aufl.), S. 54 f f . n. Lehrbuch des deutsch. Strafrechts I (1904), 8. 56, 57; Hdgei, Geschichte des österrei- -chischen Strafrechts, HeftI, Wien 1904, Kap. 22, 23, S. 7 8 ff. u. 82 ff. Über das nahe verwandte 8t.G.B* f. Westgalizien von 1796 s. m. Wiedervergeltg. in 1, b. 28, 29, Anm. 33 u. S. 92, 93, Anm. 206.

268 XIV. Günther

Maria Theresia erlassenen Kriminal-Eonstitutionydersog. ^^Theresiana'^ ^% bildete. ^)

Diese Gesetzbücher der zwei größten Glieder des damaligen deutschen Reichs^) verdienen nun noch eine etwas nähere Betrach- tung schon deshalb, weil sie beide auf die Rechtsentwicklnng der Folgezeit einen wesentlichen Einfluß geübt haben. *) Die Josefina ist zwar nur wenige Jahre in offizieller Geltung gewesen, aber das Straf- gesetzbuch von 1803, das an ihre Stelle trat, ist von einigen ein- schneidenden Änderungen abgesehen eigentlich nur eine erweiterte Auflage davon und dieses dann wiederum die unmittelbare Quelle des Strafgesetzbuchs vom 27. Mai 1852 gewesen^), das trotz seiner

1) S. zu der Llteraturza&ammenstelluDg betr. die ThereBiana bei Günther, Wiedervergeltg. EI 1, S. 20 ff. u. Anm. 8 ff. (bes. Anm. 10) u. S. 43 ff. u. die Anmerkgn. jetzt bes. Doch: E. v. Kwiatkowsky, Die Constitutio criminali» Theresiana^ ein Beitrag zur Theresian. Reichs- und Rechtsgeschichte, Innsbr. 1904; vgl. auch Landsberg, Gesch. III 1, S. 520; Finger, Österreich. Strafr. I, S. 48 ff. u. Lehrb. d. deutsch. Strafr. I, S. 55; Ho gel, a. a. 0. 1, Kap. 20, S.65ff.

2) V. L i szt , Meineid und falsches Zeugnis, S. 128; S t o o ß in d. Deutsch. Jur.-Ztg., Jahr. VIII (1903), Nr. 24, S. 563, Sp. 2. A. M. anscheinend Wacher- feld , Die Begriffe von Mord und Totschlag in der Gresetzgebg. seit der Mitte des 18. Jahrhrds., Marburg 1890, S. 39 (welcher meint, die Josefina bedeute „keinen Bruch mit der Vergangonheif^). Übrigens ist die Theresiana in neuerer Zeit viel gunstiger beuiteilt worden als von den älteren Schriftstellern. S. dar- über Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 21, Anm. 11 u. dazu jetzt noch v. K w i a t k o w s k y , a. a. 0. S. 137 n. 144.

3) In allen anderen deutschen Staaten ist man damals abgesehen von dem kleinen Fürstbistum Bamberg, wo der (im wes. sich dem Entwürfe Quistorps anschließende) Pfla umsehe Strafgesetzentwurf von 1793 (vgl. oben S. 131, Anm. 3 u. 8. 134, Anm. 4) zehn Jahre (von 1795^1805) in gesetzlicher Geltung gewesen (vgl. Günt her, Wiedervergeltg. IUI, S. 84, 85, Anm. 182 u. J. Heimberger, Die Teilnahme usw., S. 182) nicht über Entwürfe hinaus- gekommen. Wegen der unerfreulichen politischen Verhältnisse des damaligen römisch-deutschen Kaiserreichs, das „die große Aufgabe (der Schaffung eines neuen, gemeinverständlichen und zeitgemäßen Strafrechts) nicht einmal zu stellen verstanden hatte" (v. Li szt, Strafr. Aufs. II, S. 137), konnten die vereinzelten Wünsche, die auf „ein allgemeines neues und dem Geist des Zeitalters an- gepaßtes peinliches Nationalgesetzbuch" für das ganze Reich (s. •V. Soden, Geist usw., 2. Aufl., Vorwort, S. 5) gerichtet gewesen waren (vgl. Böhmer, Handlung, S. 269/70 unter Nr. 639), keine Erfüllung finden. S. hierzu auch noch Graebe, Reformation, § 21, S. 36, 37 u. Ab egg im G. -S. 15 (1863), S. 134.

4) Die außerdeutsche Gesetzgebung des 18. Jahrhunderts (vgl. oben S. 265, Anm. 2 ff.) ist , um den Stoff etwas zu entlasten , im folgenden grundsätzlich nur ausnahmsweise zum Vergleiche herangezogen woi*den.

5) Vgl, V. L i s z t , Lehrbuch, § 7, S. 36 ; S t o o ß in der Deutsch. Jur.-Ztg., Jahrg. VIII (1903), S. 563, Sp. 2. Über das nationale Element im StG.B. von

Die Straf rechtsreform im AnfklSrungszeitalter. 269

anerkannten Reformbedürftigkeit nnd den zahlreichen Versuchen zn seiner Modernisierung offiziell noch immer in Geltung ist. Übrigens hat die Josefina in einzelnen Punkten auch die französische (4e- setzgebung und dadurch indirekt wieder das preußische und das heu- tige deutsche Strafrecht beeinflußt ^ Von viel größerer Bedeutung für das neue deutsche Reich aber ist natürlich der kriminalistische Teil des preußischen Landrechts gewesen, der wenn auch durch manche spätere Verordnungen und Kabinettsordres ergänzt und ver- ändert — im wesentlichen doch über ein halbes Jahrhundert lang die Praxis der Gerichte beherrscht und neben dem französischen Code pönal seine Einwirkung auch bei der Schöpfung des neuen preußischen Gesetzbuchs von 1851 geübt hat, das bekanntlich wiederum als die Hauptquelle des jetzt geltendenden Reichsstrafgesetzbuchs zu betrachten ist. Jedoch auch ganz abgesehen von diesem Verhältnisse zu dem Rechte der Neuzeit ist sowohl die Josefina als das Landrecht, namentlich auch ein Vergleich beider Gesetze miteinander, von all- gemeinem rechtshistorischen Interesse. Obwohl sie nämlich völlig unabhängig von einander zustande gekommen sind 2), zeigen sie doch bemerkenswerte Ähnlichkeiten, denen dann freilich auch wieder sehr viele Verschiedenheiten in Haupt- und Nebenpunkten gegenüberstehen. Im großen ganzen können zunächst beide Strafgesetzbücher als typische Erzeugnisse des Aufklärungszeitalters,insbesonders des sog. aufgeklärten Despotismus bezeichnet werden.^) Weist

1852 8. Gr 088 in 8. Archiv, Bd. 26, 8. 67. Über das Verhältnis des St.G.Bs. von 1803 zur Josefina s. Günther, Wiedervergeitg. III 1, S.29ff.| Anm. 34ff. n. bes. S. 31, Anm. 36, vgl. auch S. 92 ff.

1) S. das nähere (insbes. über die Definition dos Versuchs, die zunächst auf das französische Gesetz vom 22. Prairial des Jahres IV („commencement d'ex^cution*^], dann auch auf den Code pänal von 1810 eingewirkt hat und daraus in das deutsche Straf recht übergegangen ist) bei Eisenmann in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 13, S. 518, 523 ff. vbd. v. Liszt, Lehrbuch, §7, S. 36 a. E., §46, S. 203; vgl. auch Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 28, Anm. 29 a. E., Högel, a. a. 0. I, S. 211 und neuestens Stooß, Z. f. d. g. Str.-W. 28, S. 27 ff. (s. unten S. 291).

2) Vgl. Hälschner, Geschichte, S. 215, Anm. 12.

3) Ober die Josefina s. v. Liszt, Meineid und falsches Zeugnis, S. 129 (^wie kein anderes Gesetzbuch ... erfüllt von dem Geiste der Auf- klärungsperiode"), auch Lehrbuch, S. 36; Hiller in der Strafgesetzgbg. der Gegenwart in rechtsvergl. Darstellg. I, S. 116 (^ein typisches Werk der Aufklärungsperiode*^); vgl. auch noch die Angaben bei Günther, Wieder- vergeltg. III 1, S. 25, Anm. 25. Ober das p r e u ß. A.L.-R. s. u. a. Hälschner, Geschichte, S. 193 u. 227; Loning in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 3, S. 276; V. Liszt, Lehrbuch, S. 37 („ein bezeichnender Ausdruck der den aufge-

270 XIV. G9»THBR

doch das österreichisohe Gesetz schon durch seine herkömmliche Be- zeichnung auf den Namen des freisinnigen Monarchen hin, der nicht nur für ^Anfklämng''^ ^^religiöse Duldung^' und „Gleichheit vor dem Oesetse'^ sehwftrmte 0, sondern tatsächlich auch ^wiederholt persön- lich zielbewußt und tonangebend^ in die Gesetzgebungsarbeit em- gegriffoi hat'); konnte sich doch femer der Franzose Marat auf ,,die sttfle Genugtuung^ berufen, daB mdnere Grundsitze seines ^Plan de lögislation criminelle'' in dieser Kodifikation Aufnahme ge- funden hätten'), und ist doch neben dem Hofrat Franz Georg Edlen y. Keeß, dem Urheber des technisch - juristischen InhaHs des Werkes auch Josef y. Sonnenfels, wenngleich nur für die äufiere, stilistische Fassung, Mitarbeiter gewesen.^) Für das Straf* recht des preußischen allgemeinen Landrechts aber ist hauptsäehlicb Ernst Ferdinand Klein tätig gewesen, den wir im Laufe dieser Ab- handlung bereits mehrfach als Anhänger und Förderer der kriminal- politischen Brformbeweguug kennen gelernt haben. ^) Auf ihn ist

klärten Polizeistaat b^emcbendea Ansiofateii'') ; Edwin Banni- garten, Das Recht der Persönlichkeit uaw., Tübing^ 19QT (vgl. oben S. 192, Arno.'*'), S. 57 („das klassische Gesetzeswerk des aufgeklarten Des- pot i s m u s^).

1) Bern er, Die Strafgesetzgebung, § 22, 8. 18; vgl. Rulf, Kaiser Josef II, der Reformator des Strafrechts, Prag 1882.

2) Högel, Geeehichte I, S. 105.

3) S. Vonede zur 2. Ausgabe des „Plan de l^gislation crimineUe**: vgL Böhmer, Handb., S. 211 u. näheres noch bei Günther im G. a. S. 61, 8. 192, Anm. 1. Auch die Schrift Beccarias, zu dem Joa^II auch persön- liehe Beziehungen gehabt, ist auf den Inhalt des österreichischen St-G.^Bs. Ton 1787 in manchen Punkten maßgebend gewesen. S. näheres bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 86, Anm. 187 u. S. 89, 90, Anm. 197. ^ Interessant ist Beccarias Gutachten über die sog. «politisdien Verbreoben*', d. b. die Polizeiübertretungen in der Josefina (^Brevi riflessioni intoxno al Codioe generale sopra i delitti e pene, perciö che rignarda i delitti politici'') vom Jahre 1792, Ab- druck in deutscher Übersetzg. jetzt bei fisselborn, a. a. 0., Anhang 1, S. 178 ff.; Tgl. auch ebds. Einleitung, S. 52.

4) S. nähere» darüber bei H ö g e 1 , a. a. 0. I, S. 79, 81, 108 vbd. mit S. 188 u. 1 92 ; über die ausgedehntere Mitarbeiterschaft von v. Sonnenfeis am St-G.-B. von 1803 s. Högel, S. 87, 88 u. bes. 108; ygl auch Günther, Wiedervergeltg. HI 1, 8. 95, 96, Anm. 212. Über Fr. G. v. Keeß, zuletzt nofrat der obersten Justizstelle, s. H ögel, a. a. 0. 8. 79 u. 106; vgl. anch Landsberg, Geschichte lU 1, 8. 521.

5) Vgl. u. a. oben 8. 130, Anm. 3, 8. 131, Anm. 3 v. 4 o. S. 158, Anm. 3. Über Kl eins Verdienste um das Landreeht s. u. a. v. Lisat, Stra&eoktUche Aufsätze n, 8. 143ff.; 8t51zel, 8ttarez, 8. 221ff. u. 320ff.: Lands- borg, Geschichte III 1, S. 470 ff.; weitere Angaben noch bei Oialher, Wiedervergeltg. HI 1, 8. 23, Anm. 17; ebds. auch über die andern Kitarbeiter

Die Straf rechtsreform im Aofklärangszeitalter. 271

jedenfalls wohl aach die starke Berücksichtigung der gekrönten Preis- schrift von y. Globig nnd Hnster zurückznffihren, die an mehreren Stellen des strafrechtlichen Teils des Landrechts unverkennbar her< vortritt. 0 Jedoch war Klein immerhin noch zu sehr positiver Jurist^ um zuzugeben, dafi das preußische Straf recht auf Kosten der neuen Ideen völlig von seiner bisherigen geschichtlichen Entwicklung gelöst wäre 2); er hat daher neben der Aufklärungsliteratur im e. S. auch die kriminalistischen Kompendien der noch mehr konservativen Juristen (wie z. B. V. Böhmer, Meister, Paalzow) fleißig zu Kate ge- zogen'), und ganz besonders gilt dies von den „Institutiones juris criminalis'^ des langjährigen „Kanzlars^ der Universität Gießen, des Professors Jobann Christoph Koch. 4) Übrigens ist hieraus kaum ein Nachteil für das Landrecht erwachsen, es wurde vielmehr gerade dadurch vor jenem allzu radikalen Bruche mit der Ye^angenheit bewahrt, der dem österreichischen Gesetzbuch in seiner ursprung- liehen Fassung ein längeres Bestehen unmöglich gemacht hat^).

(insbes. v. Gar m er u. Saarez); vgl. daza aach Landsberg, a. a. 0. 8. 468 ff. n. Noten S. 298. Über die Fehde beaug). des A.L.R8. zwischen Klein und Goethes Jugendfreund und Schwager Joh. G. Schlosser s. Stölzel , Suarez, S. 270 ff.; v. Liszt, Strafr. Aufs. I, S. 144; Landsberg, Gesch. m 1, S. 471/72 und Noten S. 299.

1) S. darüber u. a. bes. Hälschner, Geschichte, S. 198/99: „Daß (die Preisschrift von v. G 1 o b i g und H u s t e r) es war, welche auf die . . . Tendenz der preußischen Strafgesetzgebung einen überwiegenden Einfluß ausübte, kann um so weniger bezweifelt werden, als G 1 o b i g für seine Beurteilung des Ent- wurfs desselben (s. darüber Böhmer, Handbuch, S. 106, Nr. 312) mit dem Preise gekrönt wurde.** Vgl. auch v. Liszt, Lehrbuch, S. 87 u. Strafrechtl. Aufs. II, S. 143; Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 24, Anm. 18 a. E. (mit weiteren Angaben); für die Einzelheiten s. noch Hälschner, Geschichte» S. 201, 203. 204, 220. Über den Einfluß der preisgekrönten Kritik über den Entwurf des A.L.-R. von dem Königsberger Magistratsdiiektor Th. v. H i p p e 1 (s. B ö h mer, a. a. 0. S. 106 unter Nr. 311) vgl. Ab egg, Versuch usw., S. 181 u. y. Liszt, Strafr. Aufs. 11, S. 143.

2) Vgl. Hälschner, Geschichte, S. 208.

8) S. Hälschner, a. a. 0. S. 213; v. Wächter, Beilagen zu Vor- lesungen, S. 143.

4) S. Hälsehne.r, a. a, 0. S. 213 vbd. mit S. 214, 218, Anm. 15, 219, Anm. 16, 222, Anm. 24, 223 u. Anm. 28, 226; v. Wach t er, Beilagea, S. 143; Landsberg, Geschichte III 1, S. 473. Ausführlicheres über Koch (1782-^1808) und seine „Institutiones juris criminaUs'* (1. Ausg. 1758, 9. Ausg. 1791) bei Landsberg, Gesch. III 1, S. 310—314 u. Noten, S. 208—211.

5) S. etwa Hälschner, Geschichte, S. 193 ff. u. 227 ff. (über das A.L.-R.) vbd. mit Henke, Geschichte des peinl. Rechts II, S. 40ff. n. Stooß in d. Deutsch. Jur.-Ztg. VIII, Nr. 24, S. 563, Sp. 2 (über die Josefina).

272 XIV. Günther

Beide Gesetzes werke sind von dem Streben nach Volkstümlich- keit beseelt*), aber ganz verschieden erscheint der von ihnen ein- geschlagene Weg. Die Josefina hat nämlich dabei das Hanptgevncht anf eine möglichst kurze, knappe Fassung ihrer Bestimmungen ge- legt 2), so daß auch ihr äußerer Umfang nur sehr mäßig erscheint und vorteilhaft absticht gegen den dicken Folianten, den noch die breit angelegte Theresiana ausfüllte. Leider hat aber unter dieser Kürze der Sprache vielfach die Deutlichkeit gelitten, so namentlich bei den oft mangelhaften Begriffsbestimmungen und Tatbestands- angaben. 3) Hierin ist nun das Landrecht, dessen Sprache überhaupt, namentlich aber wegen der Reinigung von unnötigen Fremdwörtern, lateinischen Eunstausdrücken und Redewendungen Lob verdient^), dem österreichischen Gesetze überlegen, dafür jedoch ist es seinerseits häufig in eine allzu behagliche Breite, in einen ^professoralen Katheder- ton^ verfallen^) und dadurch natürlich auch im strafrechtlichen Teile wieder viel umfangreicher geworden als die Josefina. „Es ist aber sehr dicke^ hatte schon Friedrich der Große zu einem, ihm im Jahre 1785 vorgelegten anderen Teile des Landrechts als launige Randbemerkung hinzugefügt ^) Und noch aus einem anderen Umstand erklärt sich das verschiedene Format der beiden Gesetzbücher. Beide sind zwar einig in dem von den Aufklärern so nachdrücklich

1) In einer Anmerkung zu dem Entwürfe des A.L.-Rs. (vom Jahre 17S6) hieß es ganz in Übereinstimmung mit den damals in der Literatur herrschenden Ansichten (vgl. oben S. 148, Anm. Iff.): «Das Kriminal-Gesetzbuch muß noch mehr als das bürgerliche ein eigentlicher Volks-Eodex sein, der nicht nur überhaupt dem großen Haufen der Einwohner des Staats so viel als möglich in die Hände zu bringen, sondern auch selbst bei dem Schulunterricht mit zu Grunde zu legen ist.*^ Hälschner, a. a. 0. 199, vgl. auch S. 202.

2) S. V. Liszt, Lehrbuch, § 7, S. 36.

3) Berner, Die Strafgesetzgebung, § 32, S. 25; v. Liszt, a.a.O. S. 36; Ho gel, Geschichte I, S. 84.

4) S. Hälschner, a. a. 0. S. 202 u. dazu jetzt noch bes. Otto Wendt. Über die Sprache der Gesetze, Akad. Rede, Tübingen 1904, S. 2Lff., 24: „Die Rein- heit des Ausdrucks (im A.L.-R.I übertrifft alles, was früher in Deutsch- land in der Gesetzgebung geleistet war, es wird stets anerkannt werden müssen, daß eine neue Epoche der Gesetzgebung mit dieser Arbeit angebrochen war.*"

5) S. Wendt, a. a. 0. S. 20; vgl. v. Liszt, Lehrb , § 7, S. 37. Es entsprach dies eigenüich nicht der Fordeiimg des Entwurfs, wo in einer Anmerkung gesagt war: „(Das Kriminalgesetzbuch) muß . . . aus kurzen und deutUchen Vorschriften bestehen, wonach die Bürger des Staats ihr Verhalten einrichten können^ (s. Hälschner, a. a 0., S. 199).

6) Vgl. Stölzel, Suarez, S. 220, 239; Landsberg, Geschichte IUI, S. 475.

Die Straf recbtsrefoim im Anfklärnngszeitalter. 273

geforderten Ausschlüsse der richterlichen Willkür; während aber die Josefina dieser Forderung in mehr allgemeiner Weise nach- gekommen ist, indem sie ein Verbot jeglicher Analogie auf- gestellt 0 und dadurch zum ersten Male die berühmte, neuerdings wieder (als das freie Spiel rechtsbildender Kräfte lähmend) angefein- deten Bechtsregel „nuUum crimen, nulla poena sine lege^ gesetzlich «auktioniert hat 2), ist das Landrecht durch das Streben nach mög- lichst absoluter Vollständigkeit in allen Bestimmungen in eine über- mäßige, sich in Einzelheiten erschöpfende Kasuistik verfallen 3), die dem Volke das Verständnis des Gesetzbuchs erschweren mußte, statt €S wie man beabsichtigt hatte zu erleichtern.*)

Die sonstigen allgemeinen Lehren vom Verbrechen sind ganz entsprechend ihrer Behandlung in der Aufklärungsliteratur in beiden Gesetzbüchern vernachlässigt worden, in besonders arger

1) S. Josefina, Teil I, Kap. 1, § 1: „Und sind als Kriminal verbrechen nur diejenigen gesetzwidrigen Handlangen anzusehen und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erklärt werden"; ähnlich auch Teil II, Kap. 1, § 1. Das Kundmachungspatent des Gresetzbuchs (vom 13. Jan. 1787) erklärt ausdrücklich, daß man beabsichtigt habe, „bei Verwaltung der strafenden Gerechtigkeit alle Willkur zu entfernen^', und Teil I, Kap. 2, S 13 bestimmt: „Der Kriminalrichter ist an die buchstäbliche Beobachtung •des Gesetzes gebunden, soweit in demselben auf die Missetat die Größe und •Gattung der Strafe ausdrücklich bestimmt ist: Es ist ihm bei strenger Verant- wortung die gesetzmäßig vorgeschriebene iS träfe weder zu lindern noch zu verschärfen erlaubt. Noch weniger ist er berechtigt, die Gattung der Strafe zu ändern" usw. Vgl. im allg. noch Bern er, Strafgesetzgebg., § 25, S. 20; Stooß in d. Deutsch. Jur.-Ztg. VIII, Nr. 24, S. 563, Sp. 1; Finger, Österreich. Strafrecht I, S. 55; Högel, Geschichte I, S. 82; v. Liszt, Lehrbuch, § 7, S. 37. Über die gleiche Richtung der französischen Gesetzgebung (Code penal von 1791) s. Günther im G.-S. 61, S. 203, Anm. 4 u. S. 204, Anm. 1.

2) Bezügl. der neueren Meinungsverschiedenheiten über diese, auch im B.StG.B. § 2, Abs. 1 anerkannte Rechtsregel s. v. Liszt i. d. Z. f. d. ges. Str.-W. 13, S. 355 ff., Mitteilgn. der L K. V. 4 (1894), S. 129ff., Strafr. Aufs. II, S. 390/91; v. Lilien thal i. d. Z. f. d. ges. Str.-W. 14, S. 696 ff.; Birkmeyer im Archiv für Strafr. 48, S. 74 u. 90, 91, Anm. 52; Makarewicz, Einführung in die Philosophie des Straf rechts usw., S. 94, 95, 97 ff.; v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht •(Fragen des geltenden deutsch. Strafr. und seiner Reform), Bd. I (Das Strafgesetz), Berlin 1906, S. 3ff.; Binding, Grundriß, Allgera. Teil (7. Aufl.), § 92, S. 236.

3) S. darüber die bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 24, Anm. 22 an- geführte Literatur. Schon v. Globig u. Huster Abhandig., S. 30 hatten es richtig vorausgesehen, daß bei dem (ja auch von ihnen geteilten) Streben nach möglichster Vollständigkeit „das Gesetzbuch ziemlich dick ausfallen^ würde.

4) S. Hälschner, Geschichte, S. 202, der jedoch (S. 214/15 u. S. 228/29) andererseits zugibt, daß die vom Landrecht beliebte Methode der Behandlung des Rechtsstoffs doch auch wieder manches verdienstliche an sich gehabt habe«

Arohiv fflr Eriminalantbropologie. 2B. Bd. 18

274 XIV. Gt^THEE

Weise aber in der Josefina, die es fertig gebracht hat, sämtliche hierher gehörige Gesetzesvorschriften, so weit sie sich auf die sog. „Eriminalverbrechen^ beziehen, im wesentlichen in 9 Paragraphen ab- zutun J) Dabei sind die Fortschritte, die sich auf diesem Gebiete zeigen, wie etwa bei der Behandlung des Versuchs im österreichi- schen 2) oder bei der Zurechnungslehre im preußischen Gesetz- buch '), in erster Linie mehr auf die juristische Fachliteratur als auf die eigentliche Aufklärungsschriftstellerei zurttckzufQhren ^) ; nur für eine Neuerung zweifelhaften Wertes^), welche die Josefina brachte, scheint diese speziell verantwortlich gemacht werden zu dürfen, nämlich für die gänzliche Abschaffung der Kriminalverjäh- rung«), die freilich im Jahre 1803 schon wieder eingeführt wurde.") Die Notwehr, welche die Josef ina noch in der bisher üblichen Weise, d. h. im Zusammenhange mit den Tötungen behandelt hat^),

1) S. dar&ber HälB ebner, a. a. 0. S. 208, 209, Anm. 3. Außer Teil I, Kap. 1, §§1—9 kommen übrigens auch einzelne Beetimmuni^en aus Kap. 2 lOff.) u. Kap. 7 178 ff.) in Betracht Insbes. über die Teilnahme s. noch H5gei, Geschichte I, S. 193/94; über die Schuldlehre: Loffler, Die Schuldformen des Straf rechts I, S. 186 u. (zum TeÜ dagegen) Högel, a. a. S. 138/39. Beide Gesetzbucher standen noch auf streng iudeterministischem Standpunkte. Vgl. A. L.-R, Teil II, Tit. 20, Abschn. 1, § 7; Josefma, Teil I, Kap. 1, §§ 2, 5 und Teil II, Kap. 1, § 2 (und dazu Högel, a. a. 0. I, S. S2, 84, 165/66).

2) S. Josefina I, Kap. 1, § 9 u. II, Kap. 1, § 4 u. dazu H ögel, a. a. 0. S. 84 u. 210 ff.; vgl. auch schon oben S. 269, Anm. 1.

3) S. darüber näheres bei H ä 1 s c h n e r, Geschichte, S. 208/9 , 210 ff., 213;i4.

4) S. Hälschner, a. a. 0. S. 213|14.

5) Finger, Österreich. Strafr. I, 8. 57 bezeichnet sie mit Recht als einen „Rückschritt".

6) Josefina I, Kap. 7, § 183: »^^cn Verbrechen und Strafbarkeit soll künftig keine Verjährung stattfinden^ usw.

7) Vgl. V. Liszt, Lehrbuch, § 77, S. 293; H. Meyer-Allfeld, Lehr- buch, § 45, S. 263, Anm. 12. '— Weder in Österreich noch in Preußen hat da- gegen die Gesetzgebung das Begnadigungsrecht anzutasten gewagt (s. Josefina I, Kap. 7, § 180 ff.; A, L.-R. Teil ü, TiL 13, § 9ff. vbd. mit Teil I, Tit 20, § 63 n. 201 [vgl. auch unten S. 281, Anm. 1]), während es in Frank- reich in der Tat vorübergehend (von 1791 bis 1801) beseitigt gewesen ist Vgl. dazu V. Liszt, Lehrbuch, § 75, S. 288; Günther im G.-S. 61, S. 227, Anm. 1 (mit weiteren Literaturangaben); Stern berg in d. Z. f. vgl. R.-W. 13, S. 408. Über das Recht zur Bestätigung der Straf urteile in Preußen unter Friedrich dem Großen s. Hälschner, a. a. 0. S. 184ff.; Willen- bücher, a. a. 0. 8. 58ff.

8) S. Josefina I, Kap. 4, §§ 96, 97 u. dazu H o g e 1 , Geschichte usw., Heft II Wien 1905), S. 152, 162, 174ff., 185 ff.

Die Straf rechtsrefoim im Aufklämngszeitalter. 21b

ist insofern im Landrecht schon etwas besser gewürdigt worden, als es sie zwar noch nicht unter die allgemeinen Lehren, wohl aber doch in die Einleitung zu sämtlichen „Privatverbrechen^ gestellt hat.^ Stärker ist begreiflicherweise der Einfluß der Aufklärungsliteratnr auf die Behandlung der Strafe in den beiden Gesetzbüchern ge* wesen,' die übrigens auch hier grundsätzlich nur als die ^ultima ratio^ erscheint, die erst dann eintritt, wenn die Maßregeln der Prophylaxe die Verbrechen nicht zu hindern vermocht haben. Ganz besonderen Nachdruck hat unter offenbarem Einflüsse v. Globig und Husters^) das Allgemeine Landrecht auf solche (nicht-kriminelle) Verhütung von Delikten gelegt Begipnt doch gleich sein erster Paragraph mit dem Satze, daß „eine jede Obrigkeit und jeder Vor- gesetzte im Volke Laster und Verbrechen bei seinen Untergebenen zu verhüten ernstlich beflissen sein^ müsse. Als dafür geeignete Mittel allgemeinerer Art aber werden dann in völliger Überein- stimmung mit der unter den Aufklärern herrschenden Meinung namentlich gute Erziehung der Kinder in Haus und Schule, Achtung vor der Religion und Verhinderung des Müßigangs und. Betteins (durch Anhaltung zur Arbeit bezw. billige Versorgung der Armen und Gebrechlichen und Ausweisung der Fremden) genannt 3), während außerdem noch fast allen wichtigeren Abschnitten über die einzelnen strafbaren Handlungen eine große Anzahl spezieller „Vor- beugungsmittel'' vorangestellt (oder auch nachgeschick) sind, die in dem

1) A. L.-R. n, 20, Abschn. 9 («Von Privatverbrechen"), § 517 ff.; vgl. v. Liszt, Lehrb., § 3S, S. 144 u. näheres beiHälschner, Geschichte, S. 220/21.

2) S. Hals ebner, a. a. 0. 8. 201; Bern er, Straf gesetzgebung,. § 44, S. 37, 88; Günther, Wiedervergeltung Ilt 1, S. 24, Anm. IS und S. 64, Anm. 127.

S) A. L.-R. II, 20, Einltg., §§ 2—4 (mit mehr indirekter Wortfassong). Noch genauere Einzelheiten hatte der Entwurf in dieser Beziehung enthalten. Vergl. darüber Hälschner, a. a. 0. S. 199, 200. -- Weitere Stellen (betr. Vorbeugung) in allgemeiner Fassung (wie §§ 6, 17, 95) s. bei Günther, Wiedervergeltung HI 1, S. 64, Anm. 127. Über die Ermahnung der Elinder zur Sittlichkeit durch die „Eltern und Eraieher*" s. A. L.-B. 11, 20, Abschn. 12, § 992 ff. Vgl. auch noch.§§ 5, (Abschn. 12) § 1024 u. (Abschn. 14) § 1160 u. dazu (betr. die Verwendung des „Arbeitshauses^ überhaupt in Preußen |n damaliger Zeit): v. Liszt, Strafr. Aufs. U, S. 154ff.; s. auch Günther, Wiedervergeltg, III 1, S. 64, 65, Anm. 129. Über Belohnungen für tugendhaftes Verhalten (A. L.-B. n, 20, Abschn. 11, § 784 ff. betr. «Edeknut'' bei Rettung aus Lebensgefahr u. dergl.) bezw. Strafminderung bei Anzeige von Mitachuldigen (II, 20, Abschn. 1, § 58, Abschn. 3, § 118, Abschn. 14, § 1221^ s. bes. Ötker in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 17 (1897), S. 554 u. S. 558/59: vgl. auch Hälschner, a. a. 0. S. 202.

18»

276 XIV. Günther

Bestreben, ein in allen Lebenslagen gesetzmäßiges nnd vorsichtiges Ver- halten der Staatsbürger zn erzielen, häufig geradezu ans Komische grenzen. 1) Wird man doch z. B. durch die im § 1547 zur „Ver- hütung der Feuersbrünste^ ganz allgemein gebotene „Beobachtung der genauesten Vorsicht in Ansehung des Feuers und des Lichts" unwill- kürlich an den bekannten Vers eines alten Nachtwächterliedes erinnert Hiermit war dann jene, alles bevormundende Polizeigewalt geschaffen, die nach den treffenden Worten Hälschners „fast eine jede Lebens- äußerung des Menschen zu überwachen hatte, selbst bis in das Innerste des häuslichen Lebens sich eindrängte, um hier die Beschaffenheit des Eupfergeschirrs, die Art wie Mütter und Ammen mit Säuglingen umzugehen haben, zu beaufsichtigen und schwangere Frauen gegen heftige Gemütsbewegungen durch Strafmittel zu schützen." 2)

Auch hinsichtlich des Zwecks der Strafe stimmen die beiden Oesetzbücher im wesentlichen mit den Ansichten der Aufklärer über- ein. Grundsätzlich ist daher die biblisch-theologische Vergeltungs- idee, die z. B. noch in der Theresiana ganz unverkennbar in Vordergrunde stand, aufgegeben worden.^) Im preußischen Land- recht lassen sich allerdings noch einzelne Zugeständnisse an den Talionsgedanken nachweisen^), während die Josef ina, die aus- drücklich überall nur „das richtige Verhältnis'^, das „billige Ebenmaß^ zwischen Verbrechen und Strafen herstellen will % hierin konsequen-

1) S. Hälscilnery a. a. 0. S. 222 u. v. Liazt, Lehrbuch, S. 37; eine Übersieht der wichtigsten einschlägigen Paragraphen bei Günther, Wieder- vergeltg. III 1, S. 64, Anm. 127.

2).Hftischner, a. a. 0. S. 201 (mit bes. Bezagnahme aof A. L.-R II, 20, Abschn. 11, § 728ff.); vgl. auch Ab egg in G.-S. 15, 8. 119.

8) S. darüber Günther, Wiedervergeltg. Ill 1, S. 66 u. Anm. 130, S. 67 a. .Anm. 133 (über das A. L.-R), S. 86 ff., 90 u. Anm. 19S (über die Josofina) vbd. mit S. 45ff. u. Anm. 64 ff. u. 8. 5Sff. (über die Theresiana); vgl. auch noch unten 8. 283, Anm. 1.

4) S. darüber näheres bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 69 ff. Es mag auch dies wohl mit den Ansichten der v. Globig u. Huster sehen Abhandlung zusammenhängen, in der ja die „Wieder Vergeltung*' als Prinzip zu Grunde gelegt war. 8. m. Wiedervergeltg. III 1, 8^69 vbd. mit II, S. 260 ff. (vgl. auch oben S. 157, Anm. 1 u. 8. 175, Anm. 1.

5) So ausdrücklich schon das Kundmachungspatent vom 13. Januar 1787 („um . . . zwischen Verbrechen und 8trafe dasbilligeEbenmaßzu treffen und die letztere nach einem Verhältnisse zu bestimmen*'). Weitere ähn- liche Stellen aus dem Gesetzbuche selbst (wie bes. I, Kap. 2, §§ 11, 14) sind angeführt in m. Wiedervergeltg. III 1, S. 87, Anm. 191. Über dasselbe Prinzip im toskanischen Gesetzb. von 1786 s. ebds., S. 87, Anm. 190. Über das Streben nach einem gerechten Verhältnisse zwischen 8 c h u 1 d und Strafe

Die Strafrechtsrefonn im Aufklärungszeitalter. 277

ter gewesen ist. Eine bestimmte Strafrechtstheorie liegt übrigens noch keinem der beiden Gesetzeswerke zu Grunde, denn die wenigen Stellen, die in ihnen (sowie den ihnen vorhergegangenen Entwürfen) 0 die Zwecke der Sicherung, Besserung oder Abschreckung betonen ^)y können darauf keinen Anspruch erheben. 3) Es sollten eben bei einer gerechten Strafrechtspflege alle jene Zwecke nebeneinander zum Nutzen des Gemeinwesens angestrebt werden, wenngleich sich freilich nicht verkennen läßt, daß tatsächlich der Abschreckungszweck das Übergewicht erlangt hat Dies gilt nicht nur vom Allgemeinen Landrecht *), das neben den schon recht häufig angedrohten Frei- heitsstrafen — doch auch mit der Todesstrafe, wie man gesagt hat, noch „einen gewissen Luxus getrieben" hat^), sondern nicht

auch im preuß. A. L.-R. s. m. Wiedervgltg. III 1, S. 62, 63, Anm. 123; über die Bestrafaog nacti der Natur oder dem Geiste der Verbrechen in A. L.-R. 8. näh. ebd. S. 79—88 a. Anm. 169— ISl. Der § 24 des Entwurfs hatte aus- drfickHch von „Züchtigung der schädlichen Leidenschaf f^ gesprochen, „die (den Täter) zum Verbrechen bewogen hat''

1) Der Entwurf des A. L.-R. $ 24 hatte die Bestimmung enthalten: „Der Zweck der Strafe ist vorzüglich die Sicherheit des Staats und seiner Ein- wohner, zugleich aber auch die Besserung des Verbrechers durch Züchtigung der schädlichen Leidenschaft** usw. (vgl. die vor. Anm. a. £.); s. Günther, Wiedervergeltg III 1, S. 68, Anm. 124; H. Meyer-Aiifeld, Lehrbuch, § 4, S. 18, Anm. 43.

2) Nähere Mitteilungen hierüber in mr. Wiedervergeltg. III 1, und zwar betr. die Josef ina: S. 87, 88 u. Anm. 198 (Besserung), S. 88 u. Anm. 194 (Prävention, Sicherung), S. 88, 89 u. Anm. 195, 196 (Abschreckung); betr. das A. L.-R.: S. 68 u. Anm. 125/26 (im allgem.), 8. 63, 64 u. Anm. 127 (Prävention, Sicherung), S. 64, 65 und Anm. 128 (Abschreckung), S. 65, 66, Anm. 129 (Besserung).

3) S. (betr. das A.L.-R.) Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 67 und Anm. 131, 132; vgl. auch S. 63, Anm. 126 a. E.; Hals ebner, Geschichte, S. 207 ff.

4) 8. Hälschner, a. a. 0. 208; Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 65, Anm. 128 a. E. Eine Anmerkung zu § 82 des Entwurfs des A. L.-Rs. hatte auch ausdrücklich die „Abschreckung von Verbrechen bei der Menge** für den Hauptzweck erklärt. Vgl. Günther, Wiedervergeltg. ni 1, S. 63 und Anm. 125; ebds. auch über eine Anmerkung ähnlichen Inhalts zu § 1262 des Entwurfs.

5) So: Kostlin in Arndts „Geituania^ II, S. 590. Obgleich dem Gesetzbuche sogar noch mehrere geschärfte Todesarten bekannt gewesen (wie das mUlem und Verbrennen [wohl nicht aber mehr das Vierteilen; s. K 1 e i n; Grundsätze 2. Aufl. 1799, § 85, S. 69, 70; A. M. Hälschner, Geschichte, S. 217, Anm. 14 mit Bezug auf §93]), vermochte doch Klein (in s. „Annalen", Bd. Vni, S. XXII) im Vergleiche zu den früheren Rechtszuständen nicht ganz mit Unrecht darin schon „den Genius einer menschenfreundlicheren und sanfteren Philosophie'' zu erblicken (s. Hälschner, Geschichte, S. 193; Günther,

278 XIV. GüSTHEB

weniger auch yon der Josefina 0, die zwar im Einklang mit den extremsten Aufklärern den kühnen Schritt gewagt hat^ die Todes- strafe (mit Ausnahme der sog. standrechtlichen FSlle) gänzlich zu be- seitigen 2), dafür aber so lange dauernde und durch so barbarische Behandlungsarten (wie z. B. „Anschmiedung^, Hungerkost, hartes Lager, Prügel) ausgezeichnete Freiheitsstrafen eingeführt hatte ^), daß

Wiedervergelt^. JH 1, S. 61, Anm. 118; bildete doch auch die Freiheits- strafe bereits „entschieden den Mittelpunkt des ganzen Straf ensystoms*' (Hälschner, a. a. 0. & 215). Über dieses Strafensystem übertiaupt a. u. a. noch C. y. Lichtenberg, Die Strafe, die ZucbthlUiseT und das Zwangs- eiziehongssystem usw., Berlin 1846, S. 176 ff. a. Günther, Wiederveigeltg III 1, 8. 25, Anm. 23 (mit wdteren Angaben). Über die Beseitigung der Landesverweisung in Preußen s. schon oben 8. 188, Anm. 2.

1) 8. im allg. 8 1 o o ß in d. Deutsch. Jnr.-Ztg., Jahig. Vm, Nr. 24, 8. 563. 8p. 1 u. näheres noch bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 88—90 und Anm. 195—197. Auch die Abschaffung der Todesstrafe erfolgte lediglich aus diesem Gesichtspunkte, nicht (wie im toskanischen St-G.-B. von 17b6 [Einltg. u. Art LI, LIVJ) aus dem des Bessemngszwecks. Näh. darüber bei Günther, a. a. 0. S. 89, 90, Anm. 197.

2) 8. darüber Josefina I, Kap. 2, 20 u. näh. dazu bei Günther, Wieder- vergeltg. III 1, 8.. 27, Anm. 29, S. 89, 90, Anm. 197 (vgl. auch die vorige Anm.) u. Anm. 199. Über das standrechtliche Verfahren s. d. Allg. Kriminal-Ordnung von 1788, §§ 238 ff.; vgl. Esselborn, Übers, v. Beccaria, S. 193, Anm.*

' Schon längere Zeit vorher war übrigens in Österreich der Vollzug der Todes- urteUe tatsächlich eingestellt gewesen ; vgl. darüber Finger; Österreich. Strafr. I, S. 54, 55; HGgol, Geschichte I, S. 72; s. auch Günther, a. a. 0., 8.27, Anm. 29. Ebenso war es in Toskana (seit 1765) gewesmi (s. m. Wiedervergeltg. III 1, 8. 25; v. Liszt, Lehrbuch, § 60, S. 254), und auch in Rußland ist die Todesstrafe, die hier schon 1754 auf politische Verbrechen (im heutigen Sinne des Wortes) beschränkt gewesen (s. v. Liszt, a. a. 0. 8. 254). unter der Regierung der Kaiserin Elisabeth (1741—1762) infolge eines Gelübdes nicht zum Vollzuge gelang^. Vgl. H e t z e 1 , Die Todesstrafe usw., 8. 140. Über die Wiedermnführung der Todesstrafe in Toskana (1790 bezw. 1795) und in Österreich (1795) s. näheres in m. Wiedervergeltg. III 1, 8. 28, Anm. Slff. Der französische Code des d^lits et des peines vom Jahre 1795, P. I, T. 1, Art. 2

schloß jede qualifizierte Todesart ausdrücklich aus.

3) Über das System der Freiheitsstrafen in der Josef ina (I, E^ap. 2, §21ff.l B. näheres bei Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 27, Anm. 30; vgl. auch Finger, Österreich. Strafr. I, S. 56; Hogel, Geschichte I, S. 82ff.; v. Ewiatkowsky, Die Const. crim. Theresiana , S. 137, Anm. 1 ; 8 1 o o ß i. d. Deutsch. Jur-Ztg. VIII, Nr. 24, S. 563, 8p. 2. Der Gipfelpunkt dieser Barbareien, die Strafe der sog. A n s c h m i e d n n g*^ (I, 2, § 25) wurde aller- dings bereits durch Hofdekret vom 7. Mai 1790 aufgehoben (Finger, a. a. 0. S. 56, Anm. 86). Über die (in den Jahren 1788—1790) im Gebrauch gewesene Strafe des Schiffziehons, die in der Wirkung fast einer „langsamen Hin- richtung'^ gleichkam (v. Liszt, Lehrb., § 60, S. 54), s. (außer der darüber m

Die StrafrechtBrefonn im Aufklämngazeitalter. 279

die anscheinend gröfiere Humanität des Gesetzes sich bei nährer Be- trachtung eigentlich in das Gegenteil verwandelt, i) Auf den Ab- schreckungszweck in erster Linie berechnet gewesen sind wohl auch ' die in beiden Gesetzen noch sehr freigebig angedrohten Prügel- strafen 2) sowie die beschimpf enden , äußerlich wahrnehmbaren Ehrenstrafen des Prangers und der Brandmarkung, die namentlich in der Josefina in sehr abstoßender Form erscheint ^) Der Geldstrafe gegenüber ist im ganzen noch ziemliche Zurückhaltung beobachtet worden; im Allgemeinen Landrecht hat sie den Wünschen der Aufklärer gemäß bauptsächUch für ^Gewinnsuchtsdelikte" Ver- wendung gefunden^), für Polizeiübertretungen ist sie in Österreich damals (mit alleiniger Ausnahme des verbotenen Spiels) ausdrücklich ausgeschlossen worden.^)

Wien 1890 erschienenen Monographie von v. Maaeharg) auch Finger, . a. a. 0. S. 55, Anm. 34 u. Högel, a. a. 0. 8. 72 u. 84.

1) 8. darüber etwa v. Bar, Handbuch dee dentach. Strafr. I, 8. 159; Högel, Geschichte I, S. 72 u. bes. S. 82; Esselborn, Übersetzg. von Beccarie, S. 175, Anm.*; vgl. auch Stooß, a. a. 0. 8. 568, 8p. 2.

2) S. über die Josefina (bes. I, Kap. 2, §§ 25, 82; n, Kap. 2, §§ 10, 11) näh. bei Günther, Wiedervergeitg. III 1, S. 27, Anm. 80 u. S. 88, Anm. 195; über das A. L.-R. : ebds. 8. 79, Anm« 167 (mit weiteren Angaben u. dazu noch

. Krauße, Die Prügelstrafe usw., Berl. 1899, S. 51 ff. u. Anm. 146, 147 und 8. 105. Auf den sehr reichlichen Gebrauch des sog. „Willkomms*^ und « Ab- schieds" im A. L.-B. (s. V.Lichtenberg, a. a. 0. 176; Krauße, a. a. 0., 8. 53) dürften die oben (S. 179, Anm. 2) erwähnten Ansichten K 1 e i n s wohl Ton entscheidendem Einflüsse gewesen sein.

3) Über die Prangerstrafc („Schandbühne*') in der Josefina (bes. I, Kap. 2, § 38, II, Kap. 2, § 10, 12) s. Günther, Wiedervergeltg. IH 1, S. 89, Anm. 185; desgl. im A. L.-R.: ebds. 8.80, Anm. 178, a. £.; vgl. v. Lichten- berg, a.a. 0. 8. 176, d. Erst 1848 erfolgte bekanntlich die allgemeine gesetzl. Abschaffung dieser Straf art in Deutschland (vgl. H. Meyer-Allfeld, Lehrb.,

. § 47, 8. 279, Anm. 4). Über die Brandmarkung in der Josefina (bes. I, E:ap. 2, 24, 39) s. v.Bar, Handb. I, 8. 159, Anm. 652; Günther, Wieder- veigeltg. UI 1, S. 27, Anm. 30; Esselborn, a. a. 0. 8. 51; Makarewicz, Einführung in die Philosophie des Strafrechts, 8. 229; desgl. im A. L.-R.: v. Lichtenberg, a. a. 0. S. 176, b; Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 79, Anm. 167. Über den Grundsatz der Verhängung von Ehrenstrafen für Delikte aus ehrloser Gesinnung (im A. L.-R.) s. m. Wiedervergeltung III 1, 8. 79, 80 und Anm. 173.

4) S. dazu i. allg. Günther, Wiedervergeltg. IH 1, 8. 80, 81 u. Anm. 175; ebds. 8. 81 ff., Anm. 176 ff. über die einzelnen Fälle. Über die Berücksichtigung der „Vermögensumstände des Täters'' bei Verhängung der Geldstrafen sowie das Abarbeiten derselben bei Unfähigkeit zur Zahlung ( A. L.-R. II, 20, Abschn. 1, 85, 88, 89, Abschn. 14, § 1262) s. Rosenfeld i. d. Mitteilgn. der LK.-V. 8, 8. 166, 205; Günther, Wiedervergeltg. III 1, 8. 80, 81, Anm. 174.

5) 8. Josef Ina II, Kap. 2, § 10 vbd. mit U, Kap. 4, § 39 (verbotenes Spiel).

280 XIV. Günther

Erfreuliche YerbesseniDgeii gegenüber dem früheren Rechte weisen beide Gesetzbücher, namentlich aber das Landrecht, in ihren den einzelnen strafbaren Handinngen gewidmeten Abschnitten anf^ aber auch diese Keuerungen sind nicht allein den Reform bestrebnngen der Aufklärer, sondern daneben mehr oder weniger auch der in- zwischen fortgeschrittenen juristischen Doktrin zuzuschreiben, so z. B. die bessere systematische Stellung und die schärfere Tatbestands- um grenzung verschiedener, insbesondere mit einander verwandter De- likte i), wie z. B. im Landrecht die von Mord und Totschlag^),, während für die Unterscheidung von Hochverrat und Landes- verrat, die als die Grundlage unseres geltenden deutschen Recht» betrachtet werden darf '), doch wohl zunächst die Aufklärungsliteratur,, und zwar speziell v. Gl ob ig und Husters Preisschrift, vorbildlich gewesen sein mag.^) Einer milderen Behandlung der Staats- und Majestätsverbrechen ist man damals freilich im ganzen noch abge- neigt gewesen. Wenn z. B. das Landrecht für die gewöhnlichen Fälle der sog. tätlichen Majestätsbeleidigungen 197) die Todesstrafe

1) Insbes. erwähnt seien u. a.: die bessere Würdigung der Freiheits- verbrechen (A. L.-K. II, 20, Abschn. 13, § 1073 ff.) und die spezieUe Her- vorhebung der Nötigung in § 1077 (vgl. v. Liszt, Lehrb., § 99, S. 354; Rosenfeld i. d. Vergl. Darstellg. V, S. 397), die Behandlung des Haus- friedensbruchs als selbständigen Veigehens (A. L.-R. II, 20, Abschn. 9^ § 525; vgl. V. Liszt, Lehrb., § 119, S. 402), die schärfere Sondemng der falschen Anschuldigung von der Verleumdung (s. bes. A. L.-R. II, 20, Abschn. 15, § 1431ff.; vgl. v. Liszt, Lehrb., § 182, S. 600; Heilborn in d. Vergi. DarsteUg. III, S. 105; s. auch GQnther, Wiedervergeltg. IUI, S. 69, Anm. 140ff.), die fortschrittlichere Behandlung der Münzverbrechen (A. L.-B. n, 20, Abschn. 7, § 252 ff.; s. auch Josefina I, Kap. 3, § 68 ff.) und der Amtsdelikte (A.L.-R. II, 20, Abschn. 8, §d23ff.: vgl. Wachinger in d. Vergl. Darstellg. IX, S. 195 ff., 200).

2) S. darüber näheres beiUälschner ,^6eschichte, S. 222/23 u. Anm. 28 (über den vermutl. Anschluß an Koch, Inst jur. crim., § 456) vbd. mit Wachen- feld, die Begriffe von Mord und Totschlag usw., S. 141, 147/48. Über die schärfere Sonderung der „Aussetzung'' von der Tötung in der Josefina s. v. L i s z t,. Lehrbuch, § 90, S. 321.

3) 8. V a n G a 1 k e r in d. Vergl. Darstellg. I, S. 4.

4) S. dazu Hälschner, a. a. 0. S. 218 u. Anm. 15; vgl. v. Liszt,. Lehrbuch, § 164, S. 538 (ebds. auch über die Josefina, die gleichfalls schon die beiden Begriffe von einander geschieden hatte.) Ausdrücklich bemerkt Kitzinger in d. Vergl. Darstellg. IX, 8. 1, dafi die zuerst im A. L.-R. (U,. 20, Abschn. 17, § 1495 ff.) begegnende Verwirklichung des Gedankens, „den Be- griff der Gemeingefahr zur Bildung einer selbständigen Gruppe strafbarer Handlungen zu verwerten'', eines „Produkts der Rechtsentwicklung der Auf- klärungszeit", „ohne erkennbare Beeinflussung durch die zeitgenossische Rechtswissenschaft" stattgefunden habe.

Die Strafrechtsreform im Anfklärangszeitalter. 281

androht, so merkt man dabei kaum noch etwas von dem Geiste Frie- drichs des Großen, der auf ihn verfaßte Schmähschriften niedriger gehängt haben wollte, damit man sie besser lesen könne. ^ In beiden Gesetzbüchern zeigen sich femer noch Härten in den Straf bestimmnngen über den Zweikampf^) nnd den Selbstmord 3), bei deren Rege-

1) S. dazu Meents, Die Majestatsbeleidigang in geschichti. und dogmat Beziehungy Erlang. Dias. 1894, 8. 36. Im übrigen zeigt aber die Behandlang der Majestatabeleidigangen im A. L.-R. (II, 20, Abschn. 5, § 196 ff.) in ver- schiedenen Beziehungen Fortschritte gegen früher. Vgl. v. Liszt, Lehrb., § 164, S. 538 u. näheres (bes. auch fiber die Trennung der Beleidigung des Staats- oberhauptes als solchen von der Beleidigung desselben als Privatperson (vgl. oben S. 228, Anm. 1) bei Hälschner, Geschichte, S. Sl8/19; vgl. auch van Calker, a. a. 0. S. 91ff. Über das Begnadigungsrecht des Landes- herm in diesen Fällen s. A. L.-R. II, 20 § 201. Auch die Josefina (I, Kap. 3, § 41 ff.) hatte harte Straf bestimmuugen, obwohl Josef II. persönlich ziem- lich liberalen Ansichten über die, als „UnsinDlge^ zu betrachtenden Majestäts- beleidiger gehuldigt; vgl. Meents, a. a. 0. S. 34 u. Anm. 75.

2) S. in dieser Beziehung über die Josef ina (I, Kap. 4, § 105 ff.) bes.: Hogel, Geschichte II, S. 154, 164, 176ff., 187 ff.; über das A. L.-R. (11, 20, Abschn. 10, § 667 ff.): Klein, Grundsätze (2. Aufl.), § 329ff., S. 257ff., Levi, Die Lehre vom Zweikampf verbrechen, Leipzig 1889, 8. 37 ff. und jetzt bes. Kohl- rausch in d. Vergl. Darstellg. III, H. 137 ff., welcher (S. 138) zum Teil auch gegen die bisher herkömmliche Auffassung (s. z. B. Levi, a. a. Ö. S. 37, auch V. Liszt, Lehrb., § 93, S. 327) auftritt, daß das Landrecht den Zweikampf als „Standesdelikf* behandelt habe. Das Landrecht (§671) wollte die Tötung im Zweikampfe schlechthin als gemeinen Mord bestrafen, die Josefina 107) nur dann, wenn „der Überiehende . . der Ausf oderer (sie) gewesen.'*

3) S. darüber im allgem. v. Liszt, Lehrbuch, § 35, S. 156, Anm. 8; im einzelnen noch (bezügl. der hier z. T. noch sehr rückständigen) Josefina [I, Kap. 4, § 89, i u. § 123 ff.]): Guderian, Die Beihülfo zum Selbstmord usw., S. 9, Anm. 4, S. 18, Anm. 1; Högel, Geschichte II, S. 156ff., 171ff., 183ff., 191; O.Bern- stein, Die Bestrafung des Selbstmords usw., 8.16; bezügl. des (etwas fort- schrittlicheren) preuß. A. L.-R. (II, 20, Abschnitt 11, § 803 ff.): Klein, Grund- sätze, § 264, S. 269; Geib, Lehrbuch I, S. 332; Bernstein, a. a. 0. S. 9 und 44. Wie das A. L.-R. bezügl. der Behandlung des Zweikampfes in wes. mit den strengen Anschauungen Friedrich des Großen (s. Willenbücher, a.a.O. S. 42ff. ; vgl. oben S. 262, Anm. 1) übereinstimmt, so schließen sich seine Vor- schriften über den Selbstmord zwar im wesentl. der für ihre Zeit ja schon recht freisinnigen Fridericiani sehen Gesetzgebung an (Reskr. vom 6. Dezbr. 1751 nebst Erläuterungen vom 28. Okt 1752; s. Hälschner, Geschichte, S. 182; Willenbücher, a. a. 0. S. 44; Bernstein, a. a. 0. S. 8, 9 vbd. mit S. 33, 34 u. 44; vgl. auch schon oben S. 258, Anm. 1, S. 259, Anm. 2 u. S. 260, Anm. 2), jedoch erscheinen die Bestimmungen gegen den Selbstmord von Verbrechern (insbes. § 805 über die Exekution der Strafe am „toten Körper** verurteilter Delinquenten) dem Geiste der Zeit oicht mehr angemessen. Über die Behand- lung des Falls der sog. „mittelbaren Selbstmords*' (Begehung eines Totschlags ,4n der Absicht hingerichtet zu werden'') im A. L.-R. s. das. § 831 ff. u. dazu

282 XIV. GÜNTHBB

lung man sich von alten Vorarteilen noch nicht völlig zu befreien vermocht hat. Auf andern Gebieten sind dagegen die Forderungen der Aufklärer im wesentlichen durchgedrungen, so namentlich hin- sichtlich der Beligionsverbrechen und der meisten Sittlichkeitsdelikte, teilweise auch des Kindermordes, femer bezüglich der leichteren Ein- schätzung des Diebstahls, des Wuchers u. a. m.

Daß man mit der Bestrafung der Religionsveribrechen nur rein weltliche Zwecke (nämlich die Wohlfahrt des Staats, nicht mehr den Schutz der Gottheit) verfolgt hat, zeigt schon deren veränderte systematische Stellung in beiden Gesetzbüchern recht deutlich. Im preußischen Landrecht begegnen wir ihnen nämlich unter der ganz modern klingenden Kapitelüberschrift „Von Beleidigungen der Beligions- gesellschaften" i) mitten unter den Staatsverbrechen 2), während sie in der Josefina sogar in den Abschnitt von den „politischen Verbrechen^, d. h. den Polizeiübertretungen gestellt sind. 3) Die Delikte der „Zauberei^ und „Hexerei^ sind verschwunden^), und nur von einem ^Mißbrauch der Religion zu abergläubischen Gaukeleien^ ist allenfalls noch die Bede (A. L.-B., II, 20, Abschn. 6, § 220). Dagegen glaubte man allerdings im Interesse des konfessionellen Friedens in Österreich noch die Ver- breitung von Irrlehren und Unglauben sowie die Verleitung zum Ab- falle vom christlichen Glauben, in Preußen die Sektenstiftung bestrafen zu müssen. <") Sehr fortschrittlich ist aber die Gotteslästerung,

Hälschner, Geschichte, S. 223, Anm. 29 In Frankreich wurde die Strafe des Selbstmordes durch die Nationalversammlung am 21. Jan. 1790 aufgehoben. VgL Hertz, Voltaire, S. 507; Bernstein, a. a. 0. S. 19 u. 44.

1) S. dazu Kahl in d. Vergl. Darstellg. III, S. 14, 15, nach dem dasLand- , recht, das hierin ^fast unvermittelt modern'^ anmutet, der Wegweiser für das

19. Jahrhundert geworden ist.

2) Nämlich im Abschnitt 6, § 214ff. (zwischen Abschn. 5, „Von Verletzung der Ehrfurcht gegen den ^taaf^ u. Abschn. 7, «Von Anmaßungen und Beeinträchtigungen der vorbehaltenen Rechte desStaats**). VgLHäUchner, Geschichte, S. 220; v. Rohland, Historische Wandlungen usw., S. 139.

3) Im Teil II, Kap. 5 („Von den Verbrechen, die zum Verderbnisse der Sitten führen''), § 61 ff.

4) 8. dazu (bezügl. der Josef ina): Finger, Österreich. Straf r. I, S. 57; Stooß in d. Deutsch. Jur.-Ztg. VIII, Nr. 24, S. 563, Sp. 2. In der Thereslana (Art 58) war die Zauberei zwar noch anerkannt, jedoch auch schon mit „vor- sichtiger Zurückhaltung" behandelt worden. S. v. Ewiatkowsky, Die Const crim. Thereslana, S. 142 u. Anm. 3; vgl. auch Kahl, a. a. 0. S. 13.

5) S. Josefma II, Kap. 5, § 64 (Bestimmung zum Abfalle vom christlichen Glauben usw.), § 65 (Verbreitung von Irrlehren und Unglauben); ebenso übrigens auch noch das St^G.-B. von 1852, § 122 c u. d, aufgehoben durch Ges. vom 25. Mai 1868, aber neuerdings wieder angeregt im 6. St.-G.-Entwurf (s. Zucker im G.-S. 46 [1892], S. 36; Jauck in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 24 [1904], S. 351).

Die Strafrecbtsreform im Aufklänin^^eitalter. 283

welche die Theresiana noch als ,,das erste und ärgste unter allen Lastern^ bezeichnet hattet) behandelt worden. Wegen des dadurch gegebenen „gemeinem Ärgernisses^' tritt in Preußen zwar eine Be- strafung eiu; aber der Täter verliert nicht mehr sein Leben, sondein kommt mit einer leichten Gefängnisstrafe davon 2); in Österreich ist man sogar noch weiter gegangen : man nahm hier den Gotteslästerer überhaupt nicht für voll, präsumierte vielmehr seine ünzurechnungs- fähigkeity so daß er bis zur ^^Besserung^' seines „Wahnwitzes^' ins ,,Tollhaus'' gesperrt werden sollte.^) Der Meineid, den noch die Theresiana als eine „Art Gotteslästerung^' aufgefaßt hatte ^), ist in beiden Gesetzen ganz wie nach den Systemen der meisten Auf- klärungsschriftsteller — nur als ein erschwerter Fall des Betruges be- handelt. ^)

Auch die Sittlichkeitsdelikte, von denen eine ganze Reihe im Josefinischen Gesetzbuch unter die „politischen Verbrechen'' ver-

Über das A. L.-R. (U, 20, Abschn. 6, § 223 ff.: ^Sektenstiftung'') vgl. Häl&chner, Geachichte, S. 220; v. Lissst, Lehrbuch, § 117, 8.396; Kahl, a. a. 0. S. 13.

1) Kahl, a. a. 0. S. 13; vgl. Günther, Wiederver|:eltg. III 1, S. 58ff. u. Anm. 105 ff.; Finger, Österreich. Straf r. I, S. 57. Über ^den übertrieben religiösen Zug'S der überhaupt das Theresianische Gesetzbuch noch kennzeichnet 8 jetzt bes. v. Kwiatkowsky, a. a. 0. S. 143 (mit Belegstellen); vgl. auch Kulf, Josef II usw., S. 3 ff.

2) S. A. L.-R. II, 20, Abschn. 6, §§ 217-219 u. dazu v. Liszt, Lehrbuch, { 117, S. 396 u. Kahl, a. a. 0. S. 15. Sonderbar erscheint die in §217 zugleich mit der Strafe vorgeschriebene „Belehrung des Gotteslästerers" über „seine Pflichten und die Größe seines Verbrechens" im Gefängnisse. Vergl. dazu Hälschner, Geschichte, S. 202.

3) S. Josefina II, Kap. 5, § 61 u. dazu Günther, Wiedervergeltg. III 1, S. 92, Anm. 203 (mit weiteren Literaturangaben) vbd. mit S. 88, Anm. 193 (über noch andere Fälle solcher „unbestimmter Verurteilungen" in der Josefina). Über die im wes. gleiche Behandlung der Gotteslästerer bei J. P. Marat s. schon oben S. 234, Anm. 4. Nach v. Liszt, Lehrb., § U7, S. 396 geht die Bestimmung zurück auf dem Hofrat Freiherm K. A. v. Martini (s. Lands- berg, G^eschichte III 1, S. 383 ff., 403, 521 ff. u. Noten, S. 249, 263). Noch weiter ging die französische Gesetzgebung, wo unter Rousseau schem Einflüsse die Gkitteslästeining ganz ans dem Rahmen der strafbaren Handlungen gestrichen wurde. S. v. Bohl and, Histor. Wandlungen, S. 138. .

4) S. Theresiana Art. 50, § 2; vgl. v. Liszt, Meineid und falsches Zeugnis, S. 137; Günther, Wiedervergeltg. III 1 S. 60 u. Anm. 113.

5) S. Josefina I, Kap. 6 (^Von Kriminalverbrechen, welche auf Vermögen und Rechte Bezug haben**), § 151 ; A. L.-R. II, 20, Abschn. 15 („Von Beschädi- gungen des Vermögens durch Eigennutz und Betrug**), § 1045 ff.; vgl. y. Lisst) Meineid usw., S. 136/37 u. Lehrbuch, § 180, S. 591.

284 XIV. Günther

wiesen worden i), haben durchweg eine der Richtung der Zeit ent- sprechende bedeutende Milderung der Strafe gegenüber dem früheren Becht erfahren.^) Dem oben erwähnten Zweifel mancher Aufklärer an einer VoUendungsmöglichkeit der Notzucht bei ernsthaftem Wider- Stande der angegriffenen Frau ^) entspricht die erhebliche Einschrän- kung des Tatbestandes dieses Verbrechens in der Josefina, die es übrigens unter die Freiheitsdelikte gestellt hat^), ebenso wie dieEnt- führung, die auch im preußischen Landrecht die gleiche systema- tische Behandlung erfahren hat^) In letzterem hat ferner ein in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zuweilen geäußerter

1) Nämlich Ehebruch (Teil U, Kap. 4: „Von den politischen Verbrechen wodurch das Vermögen oder die Rechte der Mitbürger gekränkt werden**, § 44 bis 46), Kuppelei, gewerbsmäßige und widernatürliche Unzucht (Teil n, Kap. 5: „Von den polit Verbrechen, die zum Verderbnisse der Sitten führen", §§ 71—76).

2) Dies gilt von beiden Gesetzbüchern, denn auch im A. L.-B. „macht sich die Richtung der Zeit geltend, welcher die religiöse Basis^ auf der die Be- handlung der Sittiichkeitsdelikte im gemeinen Rechte (sowie bes. auch noch in der Theresiana, worüber zu vergl. v. Kwiatkowsky, a.a.O. S. 143 u. Anm. 3) beruhte, „abhanden gekommen war" (Hälschner, Geschichte, S. 223/24), wenn- gleich seine Strafbestimmungen „den Forderungen des Zeitalters gegenüber immer noch zu hart erscheinen mochten" (Hälschner a. a. 0. S. 224). Vgl. auchHitter- maier in d. Vergl. Darstellg. IV, S. 12.

3) S. näheres darüber oben S. 244, Anm. 2.

4) Josef ina I, Kap. 5 („Von den Kriminalverbrechen, weiche auf die Ehre und die Freiheit unmittelbar Beziehung haben"), § 130: „Notzucht begeht derjenige, der eine Weibsperson in der schändlichen Absicht, sie zu mifibrancfaen, durch gewalttätige Bindung oder durch GehUfen seines Lasters außer Stand setzt, seinen sträflichen Begierden Widerstand zu leisten, und der sie dann in einem solchen gewaltsamen Zustande wirküch mifibrauchetf ' ; § 134: „Auch ist dieses Verbrechens schuldig wer durch vorgezeigte mörderischo Waffen und Drohung, sich derselben su gebrauchen, eine Weibsperson zur Duldung der schändlichen Mißbrauchung nötiget*'. Über die Strafen (L d. R. hartes Gefängnis u. öffentl. Arbeit) s. §§ 132, 133. Über die Behandlung der Notzucht (u. verwandter Fälle) im A. L.-R. (II, 20, Abschn. 12 [„Von fleisch* liehen Verbrechen"], § 1048 ff.), das die Beschränkungen der Josefina nicht auf- genommen hat, obwohl ihnen v. Globig u. Huster (Abhdlg., S. 235) zugeneigt gewesen (vgl. oben S. 244, Anm. 2 a. £.), s. näheres noch bei Bartolomaeus in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 25, S. 136 ff. Die Strafe sollte i. d. R. Zuchthaus (ev. auch Festungs- oder Gefängnisstrafe) von längerer oder kürzerer Daner sein.

5) S. Josef ina I, Kap. 5, § 140 ff.; A. L.-R. II, 20, Abschn. 18 („Von Be- leidigungen der Freiheit*'), § 1095 ff.; s. dazu v. Liszt, Lehrbuch, § 104, S. 368; Bartolomaeus i. d. Z. f. d. ges. Str.-W. 25, S. 145, 148/49; Mlttermaier in d. Vergl. DarsteUg. IV, S. 139 u. Anm. 3. Über die gleiche Behandlung dea Deükts in der Literatur s. schon oben S. 243, Anm. 1.

Die Strafrechtsreform im AnfkläniDgBzeitalter. 286

Wansch 0 seine gesetzliche Festlegung erhalten: nämlich die strengere Bestrafung des Ehebruchs der Frau (gegenüber dem des Mannes) wegen der für sie damit oft verbundenen physiologischen Folgen.^) Während dieses Delikt in dem Josefinischen Gesetzbuche, das den erwähnten Unterschied nicht kennt '), in den Übertretungsabschnitt verwiesen ist 4), finden wir die Bigamie hier sonderbarerweise in «inem Kapitel mit Betrug, Diebstahl, Baub und Brandlegung zusam- mengestellt^) Im Anschluß an die Vorschriften über Kuppelei und „Hurerei ^ (d. h. die gewerbsmäßige Unzucht, Prostitution) Delikte welche die Josefina zwar zu „politschen Verbrechen^ degradiert, aber doch ganz allgemein mit Strafe bedroht hat ^) ist vom preußischen Gesetzgeber auch eine kurze Begelung des Bordellwesens vorgesehen worden, die schon einen ziemlich modernen Anstrich hat^) In ge- wissem Gegensatze zu den freieren Anschauungen mancher Aufklärer

1) Vgl. oben S. 241, Anm. 2.

2) S. A. L.-R. n, 20, Abschn. 12, § 1061—1064 n. dazu v. Liszt, Lebr- bach, § 116, S. 393/94, auch Bartolom aens, a. a. 0. S. 130 (vbd. mit S. 125 tLber die gesetzliche Regelung des ehelichen Geschlechtsverkehre im A. L.-R. II. 1, § 694 ff.).

3) S. Josefina II, Kap. 4, § 44 46. Ausdrücklich hat dies Beccaria in «einem Gutachten über Teil II des Jos. Gesetzbuchs vom Jahre 1792 (Essel- born, a. a. 0., Anh. I, S. 185) bemängelt (vgl. oben S. 241, Anm. 2). In ■beiden Gesetzbüchern war das Delikt nur auf Antrag zu verfolgen (s. Jos. n, § 45; A. L.-B., § 1061). In Frankreich ist vom Jahre 1791—1810 der Ehe« brach straflos gewesen. Vgl. Hittermaier i. d. Vergl. Daretellg. IV, S. 91.

4) S. schon oben S. 284, Anm. 1. Hiergegen bemerkte Beccaria in seinem Gutachten vom Jahre 1792 (a. a. 0. S. 185), daß die Wichtigkeit, das eheliche Band unbefleckt zu erhalten, . . . vielleicht die Aufnahme (des Ehe- brachs) unter die Kriminal verbrechen rechtfertigen könnte.''

5) S. Josefina I, Kap. 6 („Kriminal verbrechen, welche auf Vermögen und Rechte Bezug haben^'), § 175 ff. Über die Behandlung der anscheinend als -dem Ehebruche gleichartig betrachteten ~ Bigamieim A. L.-R. (II, 20, Abschn. 12, § 1066ff.) B. Bartolomaeus, a. a. 0. S. 128/29 u. Mittermaier, a. a. 0. S. 85. Über den Inzest (A. L.-R. § 1039ff.) s. Bartolomaeus, a. a. 0. S. 131.

6) S. Josefina 11, Kap. 5, § 73, 74 (Kuppelei), § 75, 76 (gewerbsmäßige Unzucht; Strafe: zeitlich, strengeres Gefängnis, im Rückfalle jedesmal Verdoppelung der „letzten ausgestandenen Strafe*^). S. dagegen als zu hart: Beccaria in seinem Gutachten vom Jahre 1792 (Esselborn, a. a. 0. S. 186; vgl. auch schon oben S. 245, Anm. 3.) Über die ähnliche Behandlung der Prostitution bei Marat (Plan de lögislation criminelle, p. 219ff.) s. G.-S. 61, S. 338 und Anm. 5.

7) S. A. L.-R. II, 20, Abschn. 12, § 996ff. (Kuppelei), § 999ff. („gemeine Hurerei**), § 1000—1027 (betr. das Bordell wesen)u. dazu Mitte rmai er, a. a. 0. S. 158, 177 u. S. 12, wo er meint, daß sich „inhaltlich^ unsere modernen Prostitutions- bestimmungen nicht allzu sehr von den damaligen unterscheiden.

286 XIV. GÜNTHEK

über die Fälle der sog. „widernatfirlichen Unzucht^ yerrät sich gegen diese Straftaten in der gesetzlichen Ansdmcksweise noch ein ziemlich starker Abschen sowohl im Landrecht als anch in der Josef ina % tatsächlich erscheint jedoch die Bestrafung dieser Hand- lungen (die in Österreich ebenfalls ans dem Gebiete der Kriminal* verbrechen in das der Polizeiübertretnngen verwiesen) in beiden Ge- setzen — im Vergleich wenigstens zu den barbarischen Bestimmungen des früheren Rechts immerhin nicht unwesentlich gemildert^

Das in der zeitgenössischen Literatur so lebhaft erörterte Ver- brechen des Kindesmordes ist vom Josefinischen Gesetzbuch absichtlich nicht speziell hervorgehoben worden 3), so daß die all- meinen Vorschriften über den Verwandtenmord darauf angewendet werden mußten % eine Härte, die nur durch die gänzliche Abschaffung der Todesstrafe auch für diese Missetat in etwas gemildertem Lichte erscheint In Preußen hatte schon Friedrich der Große ganz in Übereinstimmung mit den Aufklärern viel Gewicht auf die Ver- hütungsmittel des Kindesmordes gelegt und gleichzeitig die grausamen

1) Vgl. Josefina II, Kap. 5, § 71 (^Wer die Menschheit in dem Grade abwflrdigt . . .'') A. L.-R. n, 20, AbBchn. 12, § 1069ff. („Sodomiteiei nnd andere dergl. unnaturliche Sünden, welche wegen ihrer Ab&chealichkeit hier nicht genannt werden können . . .**). Vgl. BartolomaeuB in d. Z. f. d. gea. Str.-W. 25, S. 1S5; Mittermaier in d. Vergl. Darstelig. IV, S. 148 n. Anm. 4 u. 5. Zu beiden Gesetzen s. insbes. anch noch Wachenfeld, Homosexualität und Strafgesetz, Leipz. 1901, S. 25 n. 35, der (bes. gegen Wahlberg in v. Holtzendorffs Rechtslexikon, Bd. III, S. 693 [vgl. auch v. Liszt, Lehrb. § 110, S. 385]) die Ansicht vertritt, daß die Josefina nur scheinbar eine viel leichtere Auffassung von diesen Delikten gehabt habe als das A. L.-R.

2 ) S. z. B. Finger, Österreich. Strafr. I, § 57 (Vergleich der Strafe für Bestialität in der Theresiana, die hierfür noch den Feuertod kannte, mit der- jenigen der Josefina). Auch das A. L.-R. ließ für keinen Fall mehr die Todes- strafe zu.

3) In den Entwürfen zur Josefina hatte man allerdings eine besondere, mildere Vorschrift für den Kindesmord im e. Sinne (begangen durch die un- eheliche Mutter) vorgesehen, die jedoch nach sehr eingehenden Verhandlungen darüber nicht in das Gesetzbuch selbst aufgenommen wurde. Vgl. das nähere hierüber jetzt bei Högel, Geschichte II, S. 152, 159, 160, 178-181 u. 188/89.

4) S. Ciosmann, Die Kindestötung, S. 17. Über den Verwandtenmord, s. Josefiua I, Kap. 4, §92 (Strafe: „im 2. Grade langwieriges hartes Gefängnis'', das „noch durch empfindliche Zusätze verschärfet werden'^ sollte). Ausdrückliche gesetzliche Regelung haben dagegen in der Josefina die dem Kindesmorde nahe verwandten Delikte (vgl. oben S. 255/56, Anm. 2 a. £.) der „Abtreibung der Leibesfrucht'' (I, Kap. 4, §§ 89 f. u. 112 ff. [vgl. Lew in, Die Fruchtabtreibung usw. S. 83]) und der „Weglegung der Kinder'' (I, Kap. 4, §§ 89, g u. 116 ff. [vgl. Radbruch in d. Veigl. Darstelig. V, S. 187, Anm. 4]) erfahren«

Die Strafrechtsrefonn im Aafklänm^szeitalter. 287

Strafen des älteren Rechts gemildert 0 Im Anschlüsse hieran hat anch das Landrecht seinen Strafbestimmnngen zunächst ansführliche, mis heute zum Teil recht sonderbar anmutende „Vorbeugungsmittel"^ Yorangeschickt^), hält dann für die Tat selbst zwar noch an der Todesstrafe als Segel fest, will diese aber doch in einfachster Weise (durch Enthauptung mit dem Schwerte) vollziehen, ^) ja für einige be- sondere Falle auch nur Festungshaft, allerdings noch auf Lebenszeit, eintreten lassen.^)

Deutlicher zeigt sich die Fortbildung der Fridericianischen Ge- setzgebung in humanem Sinne bei der Behandlung des Diebstahls im Landrecht Die Freiheitsstrafen, die an Stelle der schon in den vier- ziger und fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts beseitigten Todesstrafe getreten waren*), haben hier noch eine weitere Herab-

1). S. die Kab.-Ordre vom 81. Juli u. Reskript vom 7. August 1740 (betr. Aufhebung der [von Friedrich Wilhelm I 1721/23 noch eingeschärften] Strafe des „Säckens** und ihren Ersatz durch einfache Enthauptung) und die Edikte vom 17. Aug. 1756 u. 8. Febr. 1765 (bes. beti*. die Verhütung des Rindesmordes). Vgl. Hälschner, Geschichte, S. 174 u. Anm. 3, S. 182; v. Bar, Handbuch I, S. 157 u. Anm. 645; Willenbücher, a. a. 0. S. 45ff.

2) S. A. L.-K. II, 20, Abschn. 11, § 888 ff. und dazu Bopp in v. Rot- teck und Welckers Staats-Lexikon Bd. VIII (1847), S. 123ff. Besonders an- stößig erscheint uns heute die oft ang^eführte Vorschrift des § 902, wonach u. a. die Mütter (oder deren Steüvertretorinnen) „ihre Töchter (oder Pflegebefohlenen) nach zurückgelegtem vierzehnten Jahre von den Rennzeichen der Schwanger- schaft und den Vorsichtsmaßregeln bei Schwangerschaften und Niederkünften, besonders von der Notwendigkeit der Verbindung der Nabelschnur . . . unter- richten*' sollten. S. Hälschner, a. a. 0. S. 202; v. Liszt, Lehrb., §84. S. 310. Über die (in Übereinstimmung mit Friedrichs des Großen Edikt vom 8. Febr. 1765, § 2 [vgl. v. Bar, Handbuch I, S. 158, Anm. 645]) noch beibehaltene Pflicht zur Anzeige der Schwangerschaft bezw. Bestrafung der Ver- heimlichung derselben s. A. L.-R. II, 20, Abschn. 11, § 933 ff.

3) S. A. L.-R.U, 20, Abschn. 11, § 965ff. unddazu i.allg.: Klein, Grund- sätze (2. Aufl.), § 345 ff., ö. 267 ff. u. bes. § 853, S. 273 ff.; Bopp in v. Rot- teck u. Welckers Staats-Lexikon VIII, S. 117 u. Anm. 11 (Literaturangaben); vgl. auch Wehrli, Kindesmord, S. 122.

4) S. A.L.-R. II, 20, Abschn. 11, § 968 (bei Zweifel, ob „das Kind lebendig zur Welt gekommen oder in der Geburt noch gelebt habe") u. § 972 ff. (bei Ver- leitung zur Tat durch die Eltern). Vgl. dazu Ciosmann, Kindestötung, S. 17. Für die Abtreibung verhängte das A. L.-B. (II, 20, Abschn. 11, § 985ff.) in keinem Falle mehr die Todesstrafe. Vgl. Klein, Grundsätze, § 360, S. 281; Lew in, Die Fruchtabtreibung, S. 83, 84.,

5) S. die Kab.-Ordre vom 27. Juli 1743 (mit Beseitigung der Todesstrafe für die gewöhnlichen Fälle des Diebstahls) und die Edikte vom 8. April 1750 und 17. Jan. 1751 (die bei Diebstahl „aus Unbesonnenheit, Armut und dergleichen Umständen mehr*^ besondere Milde empfahlen). Näheres noch bei Willen - bücher, a. a. 0. S. 37, 38.

288 XIV. Günther

Setzung erfahren i); ja sie galten nach damaligen Anschauungen für 80 milde, daß Preußen von Dieben und Gaunern aus benachbarten Staaten, wo ihnen vielfach noch der Galgen drohte, förmlich über- schwemmt worden sein soll. 2) Scharf sind freilich noch die Straf- drohungen gegen den Bandendiebstahl geblieben^}, aber dies erklärt fiich unschwer aus dem damals blühenden Bäuberwesen, gegen dessen Unterdrückung auch schon Friedrich der Große aufs energischste vorgegangen war.*) Die Bestrebungen für die Wucherfreiheit endlich haben gleichwie in Frankreich ^) einen vorübergehenden Erfolg in der österreichischen Gesetzgebung zu verzeichnen gehabt, indem im Jahre 1787 durch ein besonderes kaiserliches Patent (vom 29. Januar) in den Erblanden der Monarchie alle bisherigen Wucher- gesetze aufgehoben wurden, wogegen freilich schon 1803 wieder die Reaktion eintrat. <^) Im preußischen Landrecht zeigt sich die freiere, auch von Friedrich dem Großen geteilte^ Auffassung des Wuchers wenigstens noch darin, daß eine Überschreitung des Zinsmaximums nur dann kriminell strafbar sein sollte^ wenn sie zum Zwecke der

1) S. A. L.-B. II, 20, Abschn. 14, § tlOSff. u. bes. § 1121 ff. Insbes. über den Hausdiebstahl, der i. d. Regel bereits zum Antragsdelikt erhoben, £. § 1137ff. vbd. mit § 1122, 1124. Der Müde der Strafen (vgl. auch Berner, Die Straffi^esetzgebung, § 53, S. 43) steht freilich eine unbefriedigende, mit starker Kasuistik durchsetzte juristische Behandlung gerade dieser Deliktsgruppe gegen- über. S. Hälschner. Geschichte, S. 224/25. Gleichfalls unbefriedigend ist hierin •die Joseflna (I, Kap. 6, § 156 ff.), die z. B. gleich der Theresiana, Art 94, § 4 (s. Harburger in d. Vergl. Darstellg. VI, S. 1S6) auch die Unterschlagung 157) noch „ganz in den Diebstahl aufgehen*^ ließ. (v. Liszt, Lehrbuch« § 131, S. 446).

2) S. (V. Arnim,) Brachstucke über Verbrechen und Strafen, I, S. 25 ; Hälschner, Geschichte, S. 226.

3) S. A. L.-R. II, 20, Abschn. 14, § 1208 ff. („Diebstahl und Raub in Ban- ^en""), wo sich (bes. für die Anführer) mehrfach die Todesstrafe (nach § 1210 z. B. durch den Galgen, nach § 1212 sogar durch das Rädern „von' oben her*" zu vollstrecken) angedroht findet; vgl. auch § 11 87 ff. über den Raub.

4) S. Kab.-Ordre vom 13. März 1786; Bern er, Die Strafgesetzgebung, § 40, S. 34; V. Bar, Handbuch I, S. 158; Willenbücher, a. a. 0. S. 20 und Anm. 2.

5) S. darüber jetzt bes. Rieh. Schmidt in d. Vergl. Darstellg. VIII, S. 170 ff. u. Anm. 3.

6) Näheres hierüber bei Isopescul-Grecul, Das Wucherstrafrecht usw. S. 143/44, 145ff.; vgl. auch R. Schmidt, a. a. 0. S. 170; v. Liszt, Lehrbuch, % 143, S. 481/82.

7) S. über die Kab.-Ordres vom 23. und 26. Mai 1779: Willenbücher, a. a. 0. S. 41.

Die Strafrechtarefonn im AufklärungBzeitalter. 289

Verschleierung ^unter irgend einem anderen Namen und Geschäfte^ verborgen worden war.*)

Überblicken wir zum Schlüsse noch einmal die deutsche Straf- gesetzgebung der Aufklärungsepoche, so wird man zugeben müssen daß sie trotz vieler Mängel im einzelnen, trotz so mancher noch unerfüllt gebliebener Wünsche im großen ganzen doch einen un- verkennbaren Fortschritt enthält, daß sie sich darstellt als eine unent- behrlich gewesene Ubergangsstufe von dem alten ^gemeinen*^ Bechte zu der, durch Feuerbachs geniale Arbeiten (insbesondere das bayerische Strafgesetzbuch von 1813) eingeleiteten Epoche der Neu- zeit^). Sie wird deshalb in der Geschichte unseres Strafrechts stets ihren ehrenvollen Platz behaupten. Aber auch für die Gegenwart für die modernen Reformbestrebungen auf strafrechtlichem Gebiete können wir aus ihr lernen. Zunächst zeigt sie uns, daß alle einiger- maßen berechtigten Wünsche des Volkes schheßlich doch früher oder später auch beim Gesetzgeber Gehör und Erfüllung finden, während die mit der jeweiligen Kulturstufe nicht mehr vereinbaren Be- stimmungen verschwinden. Sodann aber lehrt uns jene Epoche der Ge- setzgebung auch, daß nur diejenigen neueren Vorschriften längeren Be- stand zu haben vermögen, in denen sich zugleich noch die Wahrung der sog. „geschichtlichen Kontinuität^ zeigt, daß dagegen allzu kühne Reformen, durch die der Zusammenhang mit den geschichtlichen Wurzeln des heimischen Rechts ganz zerrissen wird, sozusagen nur das Leben von Eintagsfliegen haben können. 3) Das kurze Bestehen

1) S. A. L.-R. II, 20, AbschD. 15, § 1273 ff.; vgl. I80pe8cul-Grecul,a.a. 0. S. 153 u. Anm. 1; s. (über die Strafe [i. d. R. Erlegung des T,ganzen ver- scbriebonen Betrags an Kapital und Zinsen" an den Fiskus]) auch Gunthofi Wiedervergeitung KI 1, S. 83, Anm. 179, 180.

2) Ausdrücklich anerkannt ist dies bezügl. des A. L.-R. von Hälschner, Geschichte, S. 194 (eine „notwendige Vorstuf e*^ der zukünftigen Gesetz- gebung). Über den Einfluß der Anschauungen der Aufklärungszeit bezw. auch des Strafrechts des A. L.-Rs. auf Feuerbach s. llälschner, a. a. 0. S. 230. V. Rohland, Histor. Wandlungen, S. 137 bezeichnet Feuerbach geradezu noch als den „hervorragendsten Vertreter der Auf klärungszeit in derStral- rechtswissenschaft.''

3) 8. über die Wahrung der sog. „Kontinuität^ der Rechtsentwicklung bes. Birkmeyer im Archiv für Straf r. 48, S. 72; vgl. auch Lucas in der Deutsch. Jur.-Ztg. vom 1. Jan. 1906 (Jahrg. XI, Nr. 1), 8p. 29. Richtig bemerkt ferner Oerland im Zentralblatt für Rechtswiss., Jahr^'. 1906 (Bd. XXV, Heft 10), Nr. 298, S. 305: «Will eine Refoim wirklich Lebensfähiges schaffen, so muß sie organisch an die Entwicklung der Vergangenheit anschließen.'' Vgl. auch noch Binding, Grundilß (Allg. Teil», 7. Aufl., Vorworts. XIX (,Fortbildung

Archiv für Kriminalanthropologie. 28. Bd. 19

290 XIV. GÜ2?THEB

der radikalen Nenernngen des Josefinischen Gesetzbuchs in Österreich einerseits, die langjährige Geltung des mehr konservativ gebliebenen Allgemeinen Landrechts in Preußen andererseits sind dafür schlagende Beispiele. Allerdings wird nun der moderne Strafgesetzgeber bei der täglich zunehmenden Intemationalität des Bechts und des Becbts- Verkehrs nicht umhin können, auch im Auslande bestehende Vor- schriften und Einrichtungen, die sich dort bereits bewährt haben, zu berficksichtigen, wie ja denn auch die große wissenschaftliche Vor- arbeit zu unserer Strafrechtsreform auf breitester rechtsvergleichender Grundlage aufgebaut ist. Zweierlei aber und das betont auch das Vorwort zu diesem monumentalen Werke ausdrücklich wird man dabei trotz aller internationalen Zugeständnisse nicht außer Acht lassen dürfen : einmal die Anknüpfung des neuen Gesetzes an unsere heimische Rechtsentwicklung, sodann die Berücksichtigung des Rechtsbewußtseins des deutschen VolkesJ) Nach diesen beiden Seiten hin werden die schier zahllosen Abänderungsvorschläge unseres geltenden Straf rechts, die sich von Tage zu Tage noch mehren, zu prüfen und zu sichten sein, wird man das Untaugliche verwerfen, das Passende aufnehmen dürfen. 2) Freilich eine müh-

des Rechtszustandes der Gegenwart in der Richtang geschichtlicher Überlieferung").

1) Vorwort zur Vergleich. Darstellung., S. V. S. etwa auch (über die Be- rücksichtigung der nationalen Seite des Rechts) Lucas, a. a. 0. Sp. 27 und (über die des Volksbewußtseins) Günther, Wiedervergeltg , II, Vorwort, S. XI; vgl. femer v. Hippel, Strafrechtsreform und Strafzwecke, Göttingen 1907, S. 6, 9, 10.

2) Auf Einzelheiten in dieser Beziehung einzugehen, würde hier zu weit führen. Um jedoch wenigstens das engere, am heißesten umstrittene Grebiet des Strafensystem s kurz zu berühren, so scheint mir die Inangriffnahme einer Reform kaum erfolgreich, ehe man sich nicht über die großen Grundprinzipien (wie z. B. Verwerfung oder Beibehaltung der Vergeltungsidee neben dem Zweckgedanken) einig geworden ist. Hierbei aber dürfte es m. £. allerdings wohl, um die an- erkennenswerten Fortschritte der neueren Richtung im Strafrecbte mit den zur Zeit in ziemlich weiten Kreisen des Volkes doch nun einmal noch herrschen* den Anschauungen zu vereinbaren, zunächst kaum ohne „Kompromisse'^ zwischen der älteren sog. ^klassischen'* und der „modernen^ Schule abgehen, falls nicht alle bereits, geleistete Arbeit am Ende vergeblich gewesen sein soll. S. dafür (in wesentl. Übereinstimmung mit v. Liszt, jedoch gegen Birkmey er, V. Sichart [in d. Z. f. d. ges. Str.-W. 27, S 562] u.a.m.) auch: Mittermaier, in d. Z. für Schweiz. Strafr. 14, S. 145ff.; Spira, Die Zuchthaus- u. Gefängnis- strafen usw., S. 2, 3; Hamm in d. Deutsch. Jur.-Ztg. v. 15. Febr. 1907, Sp. 252; Kahl, Das neue Strafgesetzbuch, S. 17. Daß es weder vom Standpunkte der alten noch der neuen Richtung zu billigen wäre, wenn Strafmittel in die künftig^e Gesetzgebung Aufnahme fänden, die, wie die (befremdlicherweise neuer-

Die Strafrechtsrefonn im Aufkläningszeitalter. 291

same und schwierige Aufgabe! Für ihr endgültiges Gelingen aber läßt die Gründlichkeit, mit der man sie in Angriff genommen, die beste Hoffnung hegen.

dingB in Norwegen [im Str.-G.-B. vom 22. Mai 1902, $ 201 und in Dänemark [durch Ges. vom 1. April 1905, vgl. Mittlgn. der I. K. V. 13, S. 760 u. Z. f. d. ges. Str.-W. 26, S. 235] in gewissem umfange wieder eingeführte) Prügelstrafe, einen unzweifeUiaften Kulturrückschritt bedeuten, sollte eigentlich heute, wo selbst China zu einer Humanisierung seines Strafensystems geschritten (s. darüber Z. f. d ges. Str.-W. 26, S. 576), bei uns in Deutschland kaum noch einer be- sonderen Hervorhebung bedürfen.

♦) Nachtrag zu S. 269, Anm. 1: In seinem Aufsatze „Das Josefinische Strafrecht in den belgischen Niederianden'' (Z. f. d. ges. Str.-W. 28, S. 22 fL) hat C. Stooß näher nachgewiesen, daß „die Franzosen** zwar „das Josefinische Strafgesetz bei der Bestimmung des Versuchs zu Rate gezogen'* haben, daß sie jedoch ,die Formel des Vereuchs, die das französische Strafrecht und seine Nach- bildungen charakterisiert, den ,commencement d'execution* . . . nicht dem öster- reichischen Gesetze" verdanken (a. a. 0. S. 29).

19

XV.

Einige Worte über den internationalen Kurs der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie zu Giessen

vom 15.— 20. April 1907.

Von

Dr. Richard Bauer, k. k. Staatsanwaltssubstitat in Troppaa.

Hans Groß war sicherlich einer der ersten, welcher in der neu- eren Zeit in dem Handbuche für den Untersuchungsrichter darauf hinwies, daß der Straf- insbesondere aber der Untersuchungsrichter gewisse Kenntnisse in der Psychiatrie sein eigen nennen müsse, um seinen Beruf voll und ganz ausfüllen zu können. Langsam nur brach sich dieser Gedanke Bahn, bis er endlich immer stärkere Wurzeln faßte, und fast gewinnt es nun den Anschein, als ob er heute im Be- ginne einer Siegeslaufbahn wäre. Im Großherzogtum Hessen besteht seit dem Jahre 1904 eine Vereinigung für gerichtliche Psycho- logie und Psychiatrie, deren Zweck ist, die psychologischen und psychiatrischen Fragen im Bechtsleben zu erörtern und zu studieren. Die genannte Vereinigung, deren Mitglieder sich aus Juristen und Medizinern zusammensetzen, zählt heute fast 200 Mitglieder und ent- faltet eine äußerst rege geistige Tätigkeit

Wie aus dem ersten Hefte des 4. Jahrganges der von Professor Dr. Gustav Aschaffenburg herausgegebenen Monatsschrift für Kriminal- Psychologie und Strafrechtsreform zu entnehmen ist, sind in diesem Jahre zu den bereits bestehenden Vereinigungen dieser Art auch solche in Halle a. S. und in Holland dazugekommen, und es wäre nur zn wünschen, daß auch in Österreich derartige Vereinigungen entstehen würden. Ein schöner Gedanke wäre es dann, wenn alle diese Ver- einigungen in geistige Verbindung treten und regelmäßig ihre Schriften unter einander tauschen würden.

Die günstigen Erfahrungen nun, welche Professor Dr. Robert Sommer in Gießen bezüglich des Zusammenarbeitens von Medizinern und Juristen in der obenerwähnten hessischen Vereinigung gewonnen

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hatte, bewog denselben im Vereine mit den Professoren Dr. med. Gustav Aschaffenburg aus Köln, Dr. jur. W. Mittermaier aus Gießen und dem Privatdozenten Dr. med Dannemann aus Gießen in der Zeit vom 15. bis 20. April 1907 einen internationalen Kurs abzuhalten, welcher jedenfalls der Idee der juristisch-psychiatrischen Vereinigungen weitere Verbreitung verschaffen sollte. Aus dem Anklänge, welchen dieser Gedanke des Professors Sommer fand, ist zu entnehmen, daß derselbe nicht nur ein glänzender war, sondern auch einem allgemeinen Be- dürfnisse entsprach. 135 Teilnehmer, Mediziner, Juristen, Strafanstalt»- beamte, darunter 21 Österreicher, konnte Professor Sommer am H.Apnl 1907 als Hörer des Kurses begrüßen, welchen Privatdozent Dr. Danne- mann am 15. April eröffnete und mit einem Zitate aus dem Handbuche für den Untersuchungsrichter des Professors Hans Groß, daß sich der Untersuchungsrichter noch einmal auf die Schulbank setzen und am lebendigen Materiale studieren müsse, seinen ersten Vortrag: „Der an- geborene Schwachsinn in Bezug auf Kriminalität und Psychiatrie^ begann. Unter diesem Titel wurden einesteils die Ursachen, welche die Entwicklung des Gehirnes beeinträchtigten und somit den Schwach- sinn des Kindes herbeiführten, die sowohl während des fötalen Lebens als auch nach der Geburt des Kindes entstanden sein können, andern-- teils die verschiedenen Grade des Schwachsinns (Idiotie, Imbezillität) erörtert und dargetan, daß die Erkennbarkeit von leichten Fällen der Imbezillität mitunter recht schwierig und nur durch die Analyse der gesamten Persönlichkeit zu erweisen sei. Nach Aufzählung der Ver- brechen, welche von Schwachsinnigen häufig begangen werden, zu welchen oft ihre Reizbarkeit und Intoleranz gegen Alkohol Anlaß geben, oft auch Eachsucht und Grausamkeit das Motiv bilden, rät Dannemann einesteils zur Bekämpfung des Schwachsinns duröh prophylaktische Maßregeln, andemteils durch Versorgung der Imbezillen in Heimen, in welchen sie für verschiedene Berufe ausgebildet und im Falle der Unverbesserlichkeit dauernd verwahrt werden könnten^ In seinem zweiten Vortrage „Erworbene Geistesschwäche und Kriminalität" er- läuterte Dannemann an zahlreichen Beispielen Fälle des primären Schwachsinns, behandelte die auf organische Änderungen des Sicntral- organs zurückzuführende dementia paralytica, deren Ursprung zumeist in Syphilis zu suchen, und die dementia senilis, bei welch letzterer das häufig an Kindern begangene Sittlichkeitsdelikt besonders die Aufmerksamkeit der praktischen Strafrechtler in Anspruch nahm. Dannemann führte diesbezüglich aus, daß die Konstatierung, daß beim Manne eine gewisse Altersgrenze überschritten sei, an sich noch gar keinen Beweis mache, und daß zur Erreichung eines richtigen Ergeh-

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nisses eine genaue Untersuchung der gesamten Persönlichkeit, der Merkfähigkeit^ des Assoziationsvermögens, des Vorhandenseins von Alkoholismus etc. vorgenommen werden müsse^ wodurch unseres Er- achtens nach Dannemann in einen angenehmen Gegensatz zu manchen Psychiatern tritt, die bei Sittlichkeitsdelikten von älteren Leuten mit Greisenblödsinn oft allzurasch bei der Hand sind, wobei aber zu be- denken ist, daß Straflosigkeit solcher Personen, die dann nach wie vor ihren Geschäften und Vergnügungen nachgehen, das allgemeine Bechtsgefühl auf das Tiefste verletzen muß.

Mit der Schilderung der strafrechtlichen* Verwicklungen der Pa- ranoiker betrat Dannemann ein Gebiet, welches für den praktischen Kriminalisten von der größten Bedeutung ist, da z. B. der Wahn ehelicher Untreue, Größenwahn etc. sehr häufig zu strafbaren Handlungen Anlaß geben und somit die Vertrautheit des Strafrichters mit den Symptomen dieser Krankheitsformen um so gebotener erscheint, als in solchen Fällen mit der psychiatrischen Untersuchung je eher desto besser ein- zusetzen ist

Nach Schilderung einiger transitorischer geistiger Störungen (Me- lancholie^ Manie etc.) ging Dannemann zur Erörterung der Simulation geistiger Erkrankungen über, welche nach seinen Ausführungen bei völliger geistiger Gesundheit sehr selten, dagegen auf der Basis krankhafter Beschaffenheit häufiger auftritt (Ahnlich: „Kriminalpsycho- logie" von Dr. Robert Sommer. Leipzig, Verlag von S. Ambrosius Barth. 1904, Seite 223 und „Das Verbrechen und seine Bekämpfung^ von Prof. Dr. G. Aschaffenburg. Heidelberg 1906, Carl Winters Uni- versitätsbuchhandlung, Seite 169.) Wenn wir auch Dannemanns wei- terer Behauptung, daß der Psychiater heute auf die Dauer durch Simulation nicht *zu täuschen sei, nicht widersprechen wollen, so können wir dennoch nicht umhin, unserem Zweifel über das seltene Vorkommen der Simulation durch geistig völlig Gesunde Ausdruck zu geben. Pannemann schloß seine Vorlesungen mit einem höchst interessanten Vortrage über „Psychologie und Psychopathologie im Polizeiwesen^, wobei er die Anschauung vertrat, daß man auch den Polizeischutzleuten in besonderen Kursen, wie er es vor 3 Jahren in Darmstadt getan, die wichtigsten Grundlehren der Psychiatrie bei- bringen solle, was z. B. bei der Feststellung des Trunkenheitsgrades, des Vorhandenseins eines pathologischen Bausches des Beschuldigten, sowie in vielen anderen Fällen bei Einvernahme der Polizeileute als Zeugen seine nützliche Wirkung äußern würde, weshalb die Um- setzung der von Dannemann gegebenen Anregung in praktische Tat auf das Freudigste zu begrüßen wäre. Sehr originell ist auch der

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Vorschlag Dannemanns, ans solchen psychiatrisch gebildeten Polizei- leaten einen Stock von Vormündern für Geisteskranke zu gewinnen.

Waren die äußerst sachlichen und doch so lebensvoll gehaltenen Vorträge Dannemanns geeignet, auch in dem juristischen Laien das jeweilige Bild der betreffenden geistigen Krankheit fast plastisch vor das geistige Auge zu zeichnen und so dauernd dem Gedächtnisse einzuprägen, so wurde das Verständnis der Hörer noch durch Demon- stration krimineller Geisteskranker im Projektionsbilde und durch Vorführung einzelner Geisteskranker unterstützt, so daß es unseres Erachtens nach kaum unter den zuhörenden Juristen jemanden ge- geben haben wird, der nicht aus diesen Vorträgen einen dauernden Nutzen für seine zukünftige Praxis gewonnen haben dürfte.

Geradezu genußreich waren die Stunden, in welchen Professor Sommer nicht nur durch sein einnehmendes Wesen die Herzen, sondern auch durch die Klarheit seiner wissenschaftlichen Ausführungen die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu gewinnen wußte.

In seinem ersten Vortrage behandelte Professor Sommer das Problem des Ausdruckes psychischer Zustände. Unter Hinweis auf Cartesius, welcher ein sensorinm commune suchte und die Seele in die Zirbeldrüse, also in ein Organ verlegte, wies Sommer auf das Bestreben späterer Zeiten hin, bestimmte Gehirnfunktionen mit be- stimmten Gehimteilen in Verbindung zu bringen, die Vielheit des Seelenvermögens in verschiedene Teile zu lokalisieren, woraus der von Galt vertretene Gedanke des morphologischen Ausdruckes und der von Lavater verfochtene des physiologischen Ausdruckes ent- standen, während die Lehre Lombrosos, daß ein Teil derjenigen In- dividuen, welche das Strafgesetz unter Annahme der freien Willens- bestimmung als Verbrecher bestraft, morphologische, also anatomisch greifbare Kennzeichen habe, in der Lehre Galls wurzelt

Bei Besprechung des Verhältnisses von psychischen und mor- phologischen Abnormitäten im Gebiete des angeborenen Schwachsinns imd der anderen Psychosen behandelte Sommer die Frage, ob sich angeborene Zustände auch in morphologischen Formen, aus- drücken, und führte dabei aus, daß sich verschiedene Formen des angeborenen Schwachsinns durch Abnormitäten des Schädelbaues aus- zeichnen, die sich als Folgen überstandener Gehirnkrankheiten dar- stellen und fügte hinzu, daß sich solche Schädelabnormitäten bei Hydrocephalie, Mikrocephalie und Porencephalie, andere morpho- logische Erscheinungen bei Kretinismus (schwammige Hautbeschaffen- heit [Myxoedem], Hemmung des Knochenwachstums und Störung der Gehimfunktion); bei cerebraler Kinderlähmung (Schädigung der mor-

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phologischen Entwicklung anf der dem Defekte entgegengesetzten Seite) und bei meningitischen Formen der Idiotie (idiotische Schädel- abnormitäten) finden.

Es lasse sich wohl, meint Sommer, ans morphologischen Verhält- nissen der Schluß auf eine Gehimerkrankung, infolge welcher oft an- geborener Schwachsinn und Epilepsie auftreten, ableiten, doch aus der bloßen Tatsache allein, daß jemand ein Degenerationszeichen bat, könne man keinen Schluß ziehen, da ein notwendiger Zusammenhang zwischen Schädelform und Geistesstörung selbst bei den ausgeprägten Fällen dieser Art nicht immer gegeben ist, weshalb die Behauptung unzulässig ist, daß geistige Krankheit immer einen morphologischen Ausdruck finden müsse. Was nun Sommers Stellung zur Lehre Lombrosos anlangt, so behauptet er wohl, daß es keine gesetzmäßige Proportion zwischen der verbrecherischen Beschaffenheit und der Morphologie gibt, ist aber andererseits dennoch der Anschauung, daß es geborene Verbrecher gebe; er zieht aber nicht die Konsequenz daraus, daß diese als Geisteskranke in Irrenanstalten zu internieren, sondern in eigenen Detentionsanstalten zu verwahren seien. (Siehe Sommer, Kriminalpsychologie Seite 318.) Weiter erörterte Sommer die Bedeutung der Vererbung von Eigenschaften in Familien und zeigte an Beispielen, daß sich Eitelkeit, Zerstreutheit, Härte, Mitleid- losigkeit etc. oft durch mehrere Generationen fortpflanzen, anderer- seits auch Generationen überspringen können, und legte den ins- besondere für die Juristen interessanten Unterschied in der Auffassung der früheren sogenannten Kleptomanie, Pyromanie usw. und der heu- tigen Behandlung dieser Fälle dar, gemäß welcher untersucht wird, aus welchen inneren Gründen die Handlung stattgefunden, und die- selbe dann auf Grundlage einer Reihe pathologischer Momente be- urteilt wird. Einen weiteren Gegenstand der Erläuterungen Sommers bildete die Untersuchung der Ausdrucksbewegungen bei Melancholie, Paranoia, Schwachsinn usw. und die Analyse der Ausdrucksbewe- gungen im Gebiete der Epilepsie, des Alkoholismus und der Hysterie. AJIgemeines Interesse erweckten die Versuche, welche zum Thema: „Psychologie der Aussage** gemacht wurden. Professor Sommer pro- jizierte drei photographische Momentaufnahmen durch drei verschiedene Zeiträume auf eine Wand und wählte zur Prüfung, wie viel die Ver- suchspersonen von dem exponierten Bilde auffaßten, zwei Methoden, die des freien Berichtes und die der Fragebeantwortung, indem die Versuchspersonen auf einem Blatt Papier erst ganz allgemein die Frage, was sie gesehen, und dann noch 6 besondere Fragen beant- worten mußten. Die Verschiedenheit der erhaltenen Antworten wirkte

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auf jene, welchen solche Experimente fremd waren, wohl verblüffend, und seien alle, welche vielleicht anläßlich dieses Ergebnisses geneigt wären, nun sämtliche Zeugenaussagen für unsicher und unglaubwürdig zu halten, auf die Worte Professors Sommer verwiesen, der sagt: („Die Forschungen zur Psychologie der Aussage/ Juristisch-psychi- atrische Grenzfragen, Halle a. S. bei Karl Marhold, B. IL Heft 6. Seite 41) „Es führt auch hier, wie man es in der Geschichte der Wissenschaft so oft beobachten kann, die beginnende Einsicht in die Unrichtigkeit lange gehegter Voraussetzungen viele zu einem Skep- tizismus, der nur durch systematische Untersuchungen der eigentlichen Fehlerquellen und der subjektiven Bedingungen der Aussage über- wunden werden kann."

Nicht unerwähnt können wir die Demonstration eines Apparates durch Professor Sommer lassen, welcher zur Analyse der direkten Ausdrucksbewegungen dient und es ermöglicht, ein möglichst feines Reagens auf die minimalsten Bewegungen speziell an der Hand des Lebenden zu schaffen. (Siehe Sommer, Lehrbuch der psychopatho- logischen Untersuchungsmethoden, Urban und Schwarzenberg, Berlin 1899), Seite 97.)

Ein Arm der Versuchsperson wird in eine Schlinge des Apparates gebracht, zwei Finger ruhen auf einer Fingerplatte, und vermittelst einer sinnreichen Konstruktion werden die leisesten Bewegungen der Finger durch Hebel in Form von Kurven auf eine rotierende Trommel auf- gezeichnet. Es ist nun durch diesen Apparat möglich, 1) das perio- dische Auftreten von Zittererscheinnngen bei notorischer und larvierter Epilepsie, 2) die motorischen Wirkungen der Alkoholintoxication in deutlich sichtbarer und meßbarer Weise herauszustellen und damit für die Behauptung, daß periodische Nervenstörung und Alkohol- intoleranz vorliegt, einen greifbaren Beweis zu liefern. (Siehe Sommer a. 0. 0/ Seite 102.)

Wie Professor Sommer mitteilte, war es ihm mittelst dieses Apparates gelungen, eine hartnäckig Taubstummheit simulierende Person, bei welcher die Anwendung der gewöhnlichen Mittel .fehl- geschlagen hatte, dadurch zu überweisen, daß plötzlich, als sie die Hand im Apparate hatte, eine elektrische Klingel ertönte, worauf der Stift auf der Trommel einen solchen Sprung machte, daß kein Zweifel darüber bestand, daß der Betreffende die Klingel gehört hatte und mit der Hand zusammengezuckt war, eine Bewegung, die man ohne Apparat kaum hätte konstatieren können.

Die größte Vielseitigkeit zeigten die Vorlesungen Professor Aschaffenburgs, dessen Vortrag bald sämtliche Hörer gefangen nahm.

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Unter Hinweis auf die entsprechenden statistischen Daten erörterte Ascbaffenbnrg den Einfluß der Jahreszeit, der BassC; Religion, des Berufes, des Aberglaubens, den er bald ausgerottet glaubt, der wirt- schaftlichen Lage usw. auf die Begehung von Verbrechen. (Siehe Aschaffenburg „Das Verbrechen und seine Bekämpfung^.)

Von den Punkten, in welchen wir mit den Anschauungen Aschaffenburgs nicht übereinstimmen, wollen wir nur einen hervor- heben.

Aschaffenburg weist statistisch nach, daß die Unzuchtsverbrechen in Deutschland im März zu steigen beginnen, um im Juli ihren Höhe- punkt zu erreichen und dann wieder abzunehmen, und stellt unter Zurückweisung des von Hans Groß (Archiv. Krim. Antr. B. 12. Seite 370) gegebenen £rklärungsgrundes, nämlich der sich durch die Jahreszeit im Freien darbietenden 6elegenheit| die Vermutung auf, daß die Ab- und Zunahme des Geschlechtstriebes der Brunst der Tiere, wenn auch in sehr abgeschwächter Haltung und erheblich umgestalteter Form entspricht. Zur Widerlegung der Ansicht von Groß führt Aschaffen- burg aus, daß im Jahre 1903 von 106 auf Grund des § 176 III D.StG. Verurteilten 62 im Hause, 35 im Freien, 9 im Zimmer, wie im Freien die Angriffe auf Kinder machten.

Nun ist aber diese Beweisführung entschieden ungeeignet, um die gegenteiligen Behauptungen zu entkräften, denn Erfahrungstatsache ist nur, daß die meisten sexuellen Delikte an erwachsenen Frauens- personen im Freien, an Kindern aber, von welchen der § 176 III D.StG. handelt, eher im Hause begangen werden, da eben von letz- teren weniger Gefahr durch Schreien etc. zu besorgen ist

Um nun zu einem halbwegs verläßlichen Resultate zu gelangen, müßte man die Sittlichkeitsdelikte an Frauenspersonen von denen an Kindern sondern, und dann würde man besonders bei Berücksichtigung des Ergebnisses mehrerer Jahre jedenfalls zu dem Resultate ge- langen, daß die meisten Notzuchtsattentate im Freien, also in der wär- meren Jahreszeit, begangen werden.

Nicht minder anregend als die Ausführungen Aschaffenburgs über die sozialen Ursachen des Verbrechens waren die über die individuellen, als welche er in erster Linie Abstammung und Erziehung in Betracht zieht und darauf hinweist, daß die Kinder aus degenerierten Familien zwar nicht mit angeborenen kriminellen Neigungen ausgestattet, aber vielfach körperlich und geistig minderwertig sind. Dieses minder- wertige Material stelle auch den Hauptbestandteil der späteren Ver- brecher, weshalb es auch begreiflich erscheine, daß . unter diesen Schwachsinn und geistige Anomalien eine so bedeutende Rolle spielen,

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wobei auch za berücksichtigen ist, daß die vernachlässigte Erziehung, insbesondere bei den Unehelichen, einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung dieser Minderwertigen auf der weiteren Laufbahn des Verbrechers besitzt

Bei Besprechung des Themas der Jugendlichen wendete sich Aschaffenburg mit Hecht gegen die Fassung des § 56 D.St.6., der nur die erforderliche Einsicht fordert, allein auf die sittliche Beife keine Bücksicht nimmt, beantragt die Hinaufsetzung der Straf- mündigkeit auf das 16. Jahr und beantwortet die Frage, wie gegen das verbrecherische Kind vorzugehen sei, mit dem Bäte der Abgabe in Fürsorgeerziehung, der Anwendung der bedingten Begnadigung und der Schaffung von Jugendgerichten.

Aschaffenburg teilt die Verbrecher, welche er im Großen und Ganzen als geistig minderwertig betrachtet, ein in 1) Zufalls-, 2) Affekts-, 3) Gelegenheits-, 4) Vorbedachts-, 5) Bückfalls-, 6) Gelegenheits- und 7) Berufsverbrecher, ist ein Gegner der Lehre Lombrosos, insofern dieser behauptet, daß es geborene Verbrecher gebe, welche es auch in den besten Verhältnissen bleiben, während seiner Anschauung nach diese minderwertigen Elemente, würden sie dem schlechten Boden, in dem sie wurzeln, entrissen, würden sie durch Erziehung und kör- perliche Kräftigung gestählt, noch zum größten Teile vor dem so- zialen Untergang bewahrt werden könnten.

Mit vollster Berechtigung nimmt Aschaffenburg gegen Lombroso auch insofern Stellung, als dieser zu den psychologischen Eigen- schaften des Verbrechers auch die Neigung, sich tätowieren zu lassen und die Gaunersprache rechnet. (Vergleiche: Ein Vorlagebuch für Tätowierungen. Archiv. Krim. Antr. B. 19. Groß, Handbuch B. I. Seite 170 Sommer, Kriminalpsychologie, Seite 346.)

Als Moderner ist Ascbaffenburg Anhänger der Schutzstrafe. „Zweck der Strafe ist, die Gesellschaft vor den verbrecherischen An- griffen einzelner Individuen zu schützen.^

Ohne auf die vielen für und wider gellend gemachten Gründe näher einzugehen, möchten wir nur vom Standpunkte des Praktikers auf das Entschiedenste gegen die reine Durchführung dieses Systems Stellung nehmen.

Der erste Vorwurf, den wir diesem Systeme machen, wäre der, daß er das Becbtsbewußtsein im Volke, das doch wie ein kostbarer Schatz gehütet werden soll, unbedingt mit der Zeit untergraben müßte. Muß es denn nicht das Bechtsgefübl auf das Tiefste verletzen, wenn der Bäuber, Mörder, Brandleger, Notzüchtler etc., der 18 Monate in einer Strafanstalt ä la Elmira, weil er Böses getan, als Kranker be-

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handelt wurde (Siehe: Das Reform atorium von Elmira, von Dr. Witry, Archiv. Krim. Anthr. B. 12. Seite 130), der die ganze Zeit vormittags sein Beefsteak gegessen, mittags Zeitung gelesen und abends musiziert hat (Siehe: Wach, Die unbestimmte Verurteilung, Seite 51), nun nach verhältnismäßig kurzer Zeit ^^gebesserf^ spazieren geht, wobei natürUch der Schutz der Gesellschaft ein sehr problematischer bleibt, da ja gar keine Gewähr dafür vorhanden ist, daß der Gebesserte nicht etwa ein raffiniertes heuchlerisches Individuum war, das trotz der Schutz- strafe nun wieder auf die Gesellschaft losgelassen wurde, ohne daß ihm nun die Spezialprävention hemmend gegenüber stünde, da ja ein Aufenthalt in einer derartigen Strafanstalt kaum besonders ab- schreckend, vielleicht eher anziehend wirken kann.

Aschaffenburg meint, daß der Richter nicht imstande ist, ein der Schuld wirklich entsprechendes Strafausmaß im Urteile festzusetzen, denn es sei unmöglich, „eine Formel zu finden, die subjektive und objektive Schuld vereinigt", (Siehe: Aschaffenburg a. o. 0. Seite 218) und zitiert diesbezüglich Wach, der (Die Reform der Freiheitsstrafe, Seite 41) sagt: „Es ist wahr, die richterliche Strafzumessung ist zum

guten Teile Willkür, Laune, Zufall, Ob der Angeklagte

zu 6 oder 5 oder 4 Wochen oder zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt wird, das hängt mehr von der zufälligen Zusammensetzung des Kollegiums, den subjektiven Anschauungen und Anregungen des Richters, seinem Geblüt und seiner Verdauung ab, als von der Schwere des Verbrechens."

Über den Zeitpunkt der Entlassung des Sträflings soll nach Aschaffenburg eine gemischte Kommission entscheiden.

Nun wird es aber kaum einem Zweifel unterliegen, daß, je großer eine solche Kommission wäre, sie sich um so mehr stets auf das Urteil der Strafanstaltsbeamten stützen müßte, weil diese ja schließlieh allein eine gründliche Kenntnis des Sträflings besitzen können. Und nun fragen wir, ob denn unter solchen Verhältnissen die Entlassung des Sträflings nicht von den subjektiven Anschauungen, dem Geblüt und der Verdauung der Strafanstaltsbeamten abhängen würde und ob man bei ihnen diese zufälligen Faktoren als gänzlich einflußlos auch dann ausschalten könnte, wenn dieselben, wie Kräpelin (Die Ab- schaffung des Strafmaßes, Stuttgart 1886) verlangt, „Persönlichkeiten von höchster allgemeiner und fachwissenschaftlicher Bildung, tiefster theoretischer und praktischer Menschenkenntnis und reichster Er- fahrung im Amte" wären?

Indem wir diesbezüglich unserem begründeten Zweifel Ausdruck geben und noch hervorheben, daß man den unverbesserlichen Ver-

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brecher auch im Wege der Sichernngsmaßregeln unschädlich machen könnte, glauben wir, daß speziell nach dem Ergebnisse des 26. deutschen Juristentages in Kiel im September 1906 (Siehe Z. B. 27 Seite 106) es bis zu einem allgemeinen Siegeszuge des unbestimmten Strafmaßes noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Allein, wenn man auch Gegner des unbestimmten Strafausmaßes ist, so kann man doch ein getreuer Anhänger Aschaffenburgs in Bezug auf sein anderweitiges System der Verbrechensbekämpfung, insbesondere bezüglich seiner Anschauungen über den Alkohol sein.

Schon durch Mengen, die zur Hervorrufung eines Bausches noch durchaus nicht groß genug sind, wird, so führte Aschaffenburg aus, eine deutliche Herabsetzung der geistigen Leistungsfähigkeit hervor- gerufen. Es erfolgt eine Störung der Auffassung, der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses. Interessant ist, daß bei den Beaktions- versuchen, bei ganz kleinen Alkoholgaben die Reaktionszeit yerkürzt wird, daß eine vorzeitige Reaktion, und zwar eine Fehlreaktion ein- tritt. Die Kenntnis der psychologischen Alkoholwirkung erklärt auch die Alkoholverbrechen, bei welchen das charakteristische die rasche Reaktion auf einen erfolgten Reiz bildet, also zum Beispiel der Stich mit dem Messer als Reaktion auf eine Beschimpfung, welche als Reiz wirkt Aschaffenburg unterzog auch die klinischen Formen des Al- koholismus einer Erörterung, beschäftigte sich mit dem normalen und pathologischen Rausch und hob die große Wichtigkeit von Trinker- heilstätten hervor. Obwohl Aschaffenburg der Ansicht ist, daß theo- retisch die Zurechnungsfähigkeit der meisten Betrunkenen auszu- schließen sei, so versöhnt er sich doch vom praktischen und krimi- nalpohtischen Standpunkte mit ihrer Verurteilung und befürwortet nur ihre nachherige Übergabe an Schutzvereine. Ebenso praktisch ist auch seine Anschauung, daß man Epileptiker auch dann, wenn ihre Anfälle geraume Zeit nachgelassen haben, aus der Irrenanstalt nicht entlassen soll, da sie sonst immerhin wieder eine Gefahr für die Ge- sellschaft bilden könnten. Was die Verbrechen durch Hypnotisierte und an Hypnotierten anlangt, so neigt Aschaffenburg der Anschauung zu, daß ein Hypnotisierter das nicht tut, was gegen seinen Charakter und Willen geht, und daß sich ein Hypnotisierter nur das gefallen läßt, was er sich gefallen lassen will, eine Anschauung, welche für den praktischen Kriminalisten von der größten Bedeutung ist (Vergleiche: Der Fall Mainone von Dr. Freiherr von Schrenk- Notzing, Archiv Krim. Antr., B. VII., Seite 132, femer „Die gericht- lich medizinische Bedeutung der Suggestion" Archiv Krim. Antr., B. V, Seite 5, „Gerichtliche Psychiatrie*' von A. Kramer, Jena bei

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Gostay Fischer „über die gerichtliche Bedentang der Hypnose'^y Seite 50.)

Im Bezug auf Homosexualität steht Aschaffenburg auf dem Stand- punkte, daß dieselbe meist wohl nicht angeboren sei, befürwortet aber den- noch die Abschaffung des § 175 D.StG., ist aber unter einem für die Hinauf Setzung der Altersschutzgrenze bis auf 18 eventuell 20 Jahre. (Vergleiche : Sommer, Eriminalpsychologie, Seite 245.) Bei Erläuterung der Assoziationsversuche berührte Aschaffenburg auch jene Methode, welche von einigen Schülern Hans Groß's auf dem praktischen Ge- biete als Mittel zum Zweck von Entdeckung des Schuldigen im Straf- verfahren angewendet wurde. (Vergleiche: „Psychologische Tat- bestandsdiagnostik von Max Wertheimer und Julius Elein^' Archiv Krim. Antr., Band XV, Seite 52.) Aschaffenburg spricht sich gegen die Verwendbarkeit dieses Verfahrens in der Praxis aus und befindet sich hiermit in Obereinstimmung mit Hoegel („Die Tatbestands- diagnostik im Strafverfahren", M. Sehr. Krim. Psych., IV. Jahrgang, I. Heft.) und wohl auch mit Prof. Dr. Heilbronner („Die Grundlagen der psychologischen Tatbestandsdiagnostik". Z. B. XVII, Heft 6). Unter „Gutachtertätigkeit und Technik der Gutachten" wurde von Aschaffenburg manche interessante Frage aufgerollt Aschaffenburg ist der Anschauung, daß er sich als Sachverständiger den Wortlaut des betreffenden Paragraphen zur Grundlage seines Gutachtens zu nehmen und z. B. im Falle des § 51 D.StG. zu sagen hat, die freie WillensbestimmuDg sei ausgeschlossen oder nicht; er verwirft den Antrag, sich als Mediziner auf die Klarlegung der Sachlage zu be- schränken und den Einfluß der geistigen Anomalien auf das Handeln zu erörtern, die Schlußfolgerungen aber dem Richter zu überlassen. Im Gegensatze hierzu sagte bei der IV. Hauptversammlung der Hessischen juristisch-psychiatrischen Vereinigung am 17. Juli 1906 zu Butzbach Prof. Dr. Mittermaier: „Aber auch für ganz falsch halte ich die beliebte Praxis, vom Sachverständigen eine bestimmte Meinung über den juristisch wichtigen Vorgang selbst z. B. ob der Angeklagte „zurechnungsfähig" sei, zu verlangen. Das ist eine rein richterliche Aufgabe " (Juristisch psychiatrische Grenzfragen Halle a. S. bei Karl Machold, B. V, Heft 6, Seite 33).

Professor Sommers Ansicht scheint sich diesbezüglich der Aschaffen- burgs sehr zu nähern, wenn nicht ganz zusammenzufallen, denn er äußerte sich am 17. Juni 1906 zu Butzbach (a. o. 0. Seite 56) zu diesem Punkte wie folgt: „Praktisch ist es das Beste, daß man sich gewöhnt, nach einer Darstellung des gesamten psychiatrischen Be- fundes, die von den Juristen gestellten Fragen, soweit sie medizinischer

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Natur sind, im Sinne der Gesetzgebung ganz exakt zu be- antworten, damit der Jurist auf die Fragen, die ihn bei der Rechts- lage interessieren, ganz bestimmte klare Antworten hat". (Vergleiche Sommer, Kriminalpsychologie, Seite 6 ff.)

Bei der am 18. Mai 1906 stattgehabten Beratung der österr. kri- minalistischen Vereinigung hob Primarius Dr. Berze hervor, daß die psychiatrischen Sachverständigen lediglich die Natur der Krankheit festzustellen, nicht aber den Paragraphen zu bezeichnen haben, unter den sie zu subsumieren sei''. Hof rat Prof. Dr. Wagner trat ebenfalls dafür ein, daß der Gerichtsarzt die Subsumption unter das Gesetz auszusprechen, inkompetent sei (Vergleiche „Gerichtliche Psychiatrie von Dr. A. Gramer, Seite 37). Prof. Dr. Loeffler führte dabei aus, daß kein Zweifel darüber bestehe, daß die Gesetzesauslegung aus- schließlich den Juristen obliege, daß aber die gegenteilige Praxis dadurch zu erklären sei, daß der Richter geneigt sei, einen Teil seiner Verantwortung von sich auf den Sachverständigen abzuwälzen. (Mit- teilungen der J. K. V. Band XIV, Heft 2, Seite 435—437). Zweifel- los haben nun theoretisch Mittermaier, Dr. Berze und Dr. Wagner recht, praktisch aber Aschaffenburg, besonders, wenn er behauptet (Geschworenengerichte und Sachverständigentätigkeit" im „Schwur- gerichte und Schöffengerichte/ Heidelberg bei Karl Winter Band I, Heft 2, Seite 108) daß in dem einzigen Falle, in welchem er ver- suchte die Entscheidung, welche Einwirkung ein Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit auf das Zustandekommen von Betrugereien ausgeübt habe, dem Gerichtshofe zu überlassen, einfach um die Er- gänzung seines Gutachtens ersucht wurde. Wir möchten noch zu dem oberwähnten Erklärungsgrunde Loefflers für diese Erscheinung noch einen andern ins Treffen führen, nämlich die psychiatrische Unge- scbultheit der meisten unserer Strafrichter. Wir müssen offen ein- gestehen, daß die wenigsten Strafrichter derartige psychiatrische Kennt- nisse besitzen, daß sie nur auf Grundlage der festgestellten Krankheit die Subsumption unter das Gesetz durchzuführen vermöchten, da hierzu unseres Erachtens ebenso psychiatrische als juristische Kennt- nisse notwendig sind, weshalb es wahrscheinlicherweise noch geraume Zeit bei der bisherigen Praxis bleiben dürfte.

Und da wirft sich nun ganz von selbst die Erörterung der Frage auf, in welchem Maße der Strafrichter auch Psychiater sein soll, da darüber, daß er es sein soll, wohl heute kein Streit mehr be- stehen dürfte. Prof. Sommer meinte bei der vorhin erwähnten Haupt- versammlung in Butzbach, daß die ganze Art und Weise des psychia- trischen Gutachtens so sein soll, daß ein unbefangener Jurist, der mit

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einigen psychologischen nnd psychiatrischen Begriffen an die Sache herangeht, es als überzeugend anerkennen kann, und fugte noch hinzu^ daß es noch soweit kommen werde, daß gewisse psychiatrische Kenntnisse von den Juristen obligatorisch verlangt werden. Aschaffen- bürg sagt diesbezüglich (Geschworenengerichte und Sachverständigen- tätigkeit a. o. 0. Seite 109) folgendes: „Ich möchte deshalb davor warnen, die Kenntnisse der Psychiatrie bei den Juristen soweit vertiefen zn wollen, daß sie sich für sachverständig halten ; es genügt, wenn ihnen die Schwierigkeiten der Diagnose, die Methoden der Untersuchung die Zusammenfassung der Symptome soweit geläufig sind, daß sie den Ausführungen des Sachverständigen folgen können.'^ Diese Auffassung Aschaffenburgs scheint sich mit der Sommers ziemlich zu decken.

Vor der weiteren Erörterung dieser Frage wäre die Stellung des Sachverständigen gegenüber dem Bichter näher ins Auge zu fassen, und stimmen wir diesbezüglich vollkommen mit Prof. Mitter- maier überein, welcher bei der schon mehrfach erwähnten Haupt- versammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach sagte: „Einmal soll der Richter den Sachverständigen als seinen Lehrer ansehen, dem er vertraut; er soll suchen, sich selbst zu unterrichten, sich Verständnis verschaffen zu lassen. Er muß sich deshalb von dem Sachverstän- digen nicht nur einen Lehrsatz sagen lassen, dem er glaubt, sondern zum Verständnis gehört Überzeugung über die Grundlage des Wissens.^ Faßt man nun den Sachverständigen in diesem Sinne als Lehrer des Richters auf, so werden allerdings gewisse Kenntnisse des Letzteren, welche gerade hinreichen; um dem Gange des Gutachtens folgen zu können, nicht genügen, denn der Richter soll ja eine Überzeugung über die Grundlage des Wissens besitzen und dazu gehört offenbar schon ein höherer Grad von Kenntnissen als der, welcher nur befähigt der Erklärung des Gutachtens zu folgen. Gerade dieses höhere Maß von Wissen sollte nun der Richter an- streben, ohne daß damit gesagt sein soll, daß er sich hierdurch dem Sachverständigen gleichstellen, oder dafür halten sollte. Denn der Richter ist ja an das Gutachten nicht gebunden, er kann frei ent- scheiden, um aber mit gutem Gewissen dem Gutachten nicht glauben zu können, ist jedenfalls ein höherer Grad von Wissen erforderlich, da es zweifellos schwieriger ist, stichhaltige Gründe für das Nicht- glauben anzuführen, als sich den Gründen des Gutachtens an- zuschließen.

Von Entscheidung auf das Maß des vom Strafrichter zu fordernden psychiatrischen Wissens dürfte in erster Linie die von demselben be- kleidete amtliche Stellung sein. Zweifellos nimmt in dieser Hinsicht der

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Untersuchungsrichter diejenige Stellung ein, bei welcher das größte Maß psychiatrischen Wissens verlangt werden sollte, da er ja einer der ersten ist, die sich mit dem Beschuldigten eingehender zu befassen Gelegenheit haben. Von seinen Kenntnissen wird es von auf- liegenden Fällen abgesehen abhängen, ob er Spuren einer Geistes- krankheit oder geistigen Abnormität an dem Beschuldigten entdecken, dieselben richtig verwerten und zeitgerecht den Psychiater zuziehen wird oder nicht. Es ist bekannt, daß Schädelabnormitäten sehr häufig als Folgen von durchgemachten Gehirnkrankheiten zurückbleiben. Wie ganz anders nun wird der Untersuchungsrichter mit einiger psychiatrischen Vorbildung z. B. einen Hydrocephalen, einen Epi- leptiker behandeln und die Untersuchung führen, als der Unter- suchungsrichter, dem jegliche psychiatrische Kenntnisse fehlen. Durch des Letzteren Verschulden kann es sich ereignen, daß die geistige Schwäche des Beschuldigten zu spät, vielleicht gar nicht entdeckt wird, weil sich im späteren Laufe des Verfahrens niemand mehr so eingehend mit demselben, als der Untersuchungsrichter befassen kann. Fast ebenso notwendig wie dem Untersuchungsrichter sind auch dem Staatsanwalt psychiatrische Kenntnisse. Bei Befolgung des Grund- satzes, daß ein guter Staatsanwalt stets auch Untersuchungs- richter gewesen sein muß, würde diesem Erfordernis bei der Staats- anwaltschaft immer entsprochen sein. Aber auch dem Zivilrichter werden psychiatrische Vorkenntnisse äußerst nützlich sein können. Es wird gewiß dem Vormundschaftsrichter, der viel mit Unmündigen zu tun hat, von großem Vorteile sein, wenn er über alle Arten des Schwachsinnes sehr gut informiert ist, um denselben eventuell bei dem Jugendlichen zu erkennen und rechtzeitig für dessen Unter- bringung sorgen zu können. Bei Einführung von Jugendgerichten wird man wohl zweifellos von dem Jugendrichter nebst sonstigen Eigenschaften auch eine gewisse Vorbildung in der Psychiatrie ver- langen müssen. Derartige Kenntnisse würden aber auch den Richter, der über eine Kuratelsverhängung wegen Wahn- oder Blödsinn zu entscheiden hat, bei Fällung der Entscheidung auf das Stärkste unterstützen.

Wie und wo soll sich aber der Richter derartige psychiatrische Kenntnisse in hinreichendem Maße verschaffen? Hans Groß meint, (Handbuch, Band I, Seite 174) der Untersuchungsrichter brauche so viel psychiatrische Kenntnisse, um zu wissen, wann er den Psychiater fragen muß. Das sei anscheinend wenig, in der Tat aber sehr viel, deshalb müßte sich der Untersuchungsrichter einige Semester auf die Schulbank setzen und Vorlesungen über Geisteskrankheiten hören.

AxohiT für EiimmAiantkropologie. 2a Bd. 20

306 XV. Bauer

Dieses Mittel, welches allerding^s als das geeignetste anzusehen wäre, wird aber in allen Fällen versagen, in denen der Untersuchnngs- richter nicht in einer Universitätsstadt angestellt ist. Dem Vorschlage Sommers, daß der Jurist an der Universität Vorlesungen über Psychiatrie hören soll, welchem ja im allgemeinen beizupflichten wäre, steht das Bedenken entgegen, daß es für manche Studenten eine Überlastung, für andere wieder, welche der Sache kein Interesse entgegenbringen, die Inskription eine leere Formalität wäre und daß die Ausbildung des bereits im praktischen Leben stehenden Juristen in der Psychiatrie jedenfalls einen größeren praktischen Wert besitzt, als die des Studenten, der sich noch nicht praktisch betätigt hat Wir würden nun speziell für österreichische Verhältnisse den Vor- schlag machen, daß in Zukunft die gerichtliche Psychiatrie einen feststehenden Vortragsgegenstand der Auskultantenkurse bilden soll, welche der Gerichtspsychiater vorzutragen und tunlichst oft mit Demonstrationen an lebendem Materiale in der nächstgelegenen Irren- anstalt zu unterstützen hätte. Diesen Vorträgen könnten auch alle jene Strafrichter beiwohnen, welchen bis jetzt eine genügende psy- chiatrische Vorbildung mangelt, sowie alle jene Bezirksgerichts- adjunkten der nahegelegenen Bezirksgerichte, so daß auf diese Weise sich alle im Strafverfahren tätigen Personen in verhältnismäßig kurzer Zeit gewisse psychiatrische Vorkenntnisse aneignen könnten. Um diesen Kursen größeren Nachdruck zu geben, müßte auch bei der Richteramtsprüfung ein gewisses Maß von Kenntnissen in der Psy- chiatrie und Kriminalistik verlangt werden, denn diese ist ja die Prüfung, bei welcher der Kandidat zeigen soll, ob er für die Tätigkeit des praktischen Lebens reif sei oder nicht Die etwa dagegen er- hobene Einwendung, daß der Auskultant sich alle diese Kenntnisse in der Praxis aneignen könne, ist deshalb unstichhaltig einesteils, weil nicht jeder die Lust und Gelegenheit hat, sein Wissen zu vergrößern, und andemteils, weil doch der geprüfte Auskultant auch schon einen gewissen Grundstock von praktischen Kenntnissen mitbringen soll, um bei selbständiger Tätigkeit, als Gerichtsadjunkt und Erhebungs- richter ersprießlich zu wirken und nicht erst mit einigen mißlungenen Untersuchungen, in denen Ehre und Freiheit von Menschen auf dem Spiele stehen, seinen Weg zur weiteren Ausbildung zu pflastern. Und dieses Ziel ließ sich unseres Erachtens mit Leichtigkeit dadurch er- reichen, daß in den Auskultantenkursen die jungen Juristen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in den modernen Strafrechts- disziplinen ausgebildet würden. (Vergleiche: Einige Worte über die Wichtigkeit des Lokalaugenscheines im strafrechtlichen Vorver&hren

Einige Worte über den internationalen Kurs der gerichtl. Psychologie usw. 307

Yon Dr. Bauer, Archiv Krim. Anthr. Band XV, Seite 343.) Daß aber Interesse unter den jüngeren richterlichen Beamten für Psychiatrie und Kriminalistik vorhanden ist, und daß ihnen nur die gewünschte Gelegenheit zu weiterer Ausbildung fehlt, geht schon daraus hervor, daß sich an dem Kurse in Gießen, obwohl vorauszusehen war, daß bei täglich siebenstündiger, ernster Arbeit nicht viel Zeit für Ver- gnügungen übrig bleiben würde, dennoch 14 Gerichtsadjunkten be- teiligten.

Prof. Mittermaier sprach zuerst über die praktische Bedeutung der Strafrechtstheorien, legte den bekannten Gegensatz zwischen den Klassikern, welche die Tat, und den Modernen die in der Strafe die Gesinnung des Täters treffen wollen, dar, und bekannte sich dann als Anhänger einer Mittelmeinung, welche die Tat bestrafen und dabei auf die Gesinnung des Täters Rücksicht nehmen will. Die Strafe soll, wie Mittermaier ausführte, an eine begangene Tat anknüpfen, soll Reaktion gegen eine begangene Tat, soll ein Übel sein, welches dem Täter zum Bewußtsein bringt, daß er dies nicht hätte tun dürfen und soll Vergeltung, nicht aber Rache sein, weshalb sie sich auch nach der Gesinnung (Charakter) des Täters richten müsse. Mitter- maier behandelte weiter Begriff und Wesen der Zurechnungsfähigkeit und Schuld, die verminderte Zurechnungsfähigkeit, wobei er die ver- mindert Zurechnungsfähigen nicht im Strafausmaße, sondern in der Strafart anders behandelt wissen will, sowie Charakter und Motiv in der Schuld. Den Schluß der Auseinandersetzungen Mittermaiers, dessen scharfsinnige Logik sowohl Juristen, als auch Mediziner in gleich hohem Grade fesselte und befriedigte, bildeten Erörterungen über die Psychologie der Gerichte, der Parteien und des Prozesses. Außerdem suchte Mittermaier, der auch in höchst instruktiver Weise über amerikanisches Gefängniswesen sprach, durch freie Diskussionen das Interesse an den behandelten Fragen zu heben und allen Hörern Gelegenheit zu geben, ihrer Meinung freien Ausdruck zu geben. Am letzten Nachmittage der Woche wurde ein Ausflug nach Butz- bach bei Gießen zur Besichtigung des Gefängnisses und des nahe- gelegenen Zuchthauses in Marienschloß unternommen, wobei in liebenswürdiger Weise in ersterem von Strafanstaltsleiter Clement, in letzterem von Direktor Bomemann die Führerrolle übernommen wurde, und war gewiß wohl niemand unter den Besuchern, welcher diesen beiden Anstalten die Bezeichnung „Musteranstalt^ vorenthalten hätte. Diese Fahrt nach Butzbach, an welcher sich auch die Mit- glieder der hessischen-juristisch-psychiatrischen Vereinigung beteiligten war sicher nicht nur als bloßer Vergnügungsausflug gedacht, sondern

20*

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sollte gewiß das Interesse, an der von der genannten Vereinigung gepflegten Idee, die praktischen Juristen mit dem Strafvollzüge ver- traut zu machen, wecken. Es ist noch nicht so lange her, daß ein richterlicher Beamter, der sich um den Strafvollzug in intensiver Weise gekümmert hätte, unter seinen Berufskollegen kaum ernst ge- nommen worden wäre. Langsam trat auch in dieser Hinsicht ein Umschwung zum Bessern ein und heute dürfte sich jedermann, auch der Anhänger der Vergeltungsstrafe, darüber im Klaren sein, daß eine Änderung des Strafvollzuges wohl eintreten muß. Soll aber der Strafvollzug die ihm gebührende Stellung einnehmen, dann werden sich wohl auch die Juristen damit befassen müssen, und ist vor allem die Forderung nicht von der Hand zu weisen, daß der Richter, der eine Strafe ausspricht, auch die Wirkung derselben kenne. Diese Forderung wird nicht nur von Modernen, wie z. B. von Aschaffen- burg (Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Seite 215 u. 263) der allerdings vom Standpunkte des unbestimmten Strafausmaßes hierfür eintritt, sondern auch von Vertretern der klassischen Richtung, wie z. B. Wach aufgestellt, der (Zukunft des deutschen Strafrechtes, Rede, gehalten in Düsseldorf auf der 75. Jahresversammlung der Rheinisch- Westphälischen Gefängnisgesellschaft, Düsseldorf 1 902 Seite 12) sagt: „Der junge Kriminalist bleibt im Dunkeln über die Straf werte; so noch im Vorbereitungsdienst Daher ist es noch immer so, wie schon der Justizminister von Arnim beklagte, daß Richter Strafurteile sprechen, ohne zu wissen, was sie tun.^ Die Frage, auf welchem Wege nun sich die Juristen die Kenntnis über das Wesen des Strafvollzuges verschaffen sollen, wird heute all- gemein dahin beantwortet: Durch Schaffung von Gefängniskursen für Juristen. Über die Notwendigkeit solcher Gefängniskurse sprach sich Prof. Mittermaier auf der am 17. Juli 1906 zu Butzbach abge- haltenen Hauptversammlung nachstehend in treffender Weise aus: „Der Jurist muß auch den Strafvollzug um seiner selbst willen kennen lernen; einmal gehört dieser, sogut wie der ProzeB zu den Mitteln der Verbrechensbekämpfung, und wer bei dieser mit- arbeiten will, kann dies doch nur dann mit Aussicht auf Erfolg tun, wenn er die Bedeutung der einzelnen Bekämpfungsfaktoren kennt, und der ist kein guter Sozialarzt, sondern nur ein Mathematiker, der nicht das Wesen der Größen kennt, mit denen er rechnet" Auch Staatsanwalt Dr. Wulff en in Dresden (Zur Ausbildung des prak- tischen Kriminalisten. Archiv Krim. Anthr. Band XVI Seite 143) ist der Ansicht, daß praktische Juristen vorübergehend in die größeren Strafanstalten kommandiert werden sollen, um die Angemessenheit,

Einige Worte über den internationalen Kurs der gerichtl. Psychologie usw. 309

Zweckmäßigkeit und Wirkung der yon den Gerichten erkannten Strafen zu studieren, will aber die Lehrzeit auf ein Jahr ausgedehnt wissen, während Mittermaier die Dauer eines solchen Kurses mit 14 Tagen für genügend groß bemessen hält und nach der An- schauung eines gewiegten Praktikers, des Direktor Clement der Straf- anstalt in Butzbach auch schon ein Zeitraum yon 12 Tagen für diesen Zweck ausreichend wäre, vorausgesetzt, daß die Zeit ent- sprechend ausgenutzt würde. Unseres Erachtens ließe sich dieser Vor- schlag in Österreich am Besten so durchführen, daß man mit einer beschränkten Anzahl von Gerichtsbeamten aus allen Eronländem, welche Vorliebe und Verständnis für Gefängniswesen besitzen und sich schon eine gewisse theoretische Vorbildung erworben haben, 1 4tägige Kurse in einer Strafanstalt unter der Leitung eines bewährten Anstaltsbeamten abhält; und könnten die Teilnehmer dieses Kurses, welche dann einen Grundstock von Lehrenden bilden würden, das Erlernte regelmäßig in den Auskultantenkursen vortragen. Später könnten ja diese Kurse erweitert und dann^ wenn sich die Kenntnis der Gefängniskunde verbreitet hätte auch bei der Bichteramtsprüfung einige diesbezügliche Fragen gestellt werden. Auf diese Weise würde der Anfang dazu gemacht, daß der junge Jurist, dem Strafvollzuge, dem offenbar in der neueren Zeit eine größere Bolle beschieden, nicht mehr so fremd gegenüberstände, als bisher. Bei der führenden Bolle, welche Oberstaatsanwalt Hoegel, selbst eine hervorragende Autorität im Gefängniswesen, in Österreich einnimmt, ist zu hoffen, daß Gefängniskurse für Juristen, welche sich schon anderwärts be- währten, in Österreich keine Utopie bleiben dürften.

Zum Schiasse sei noch eine kleine Abschweifung zu dem Zwecke gestattet, um einen Blick auf die Anwendung der bedingten Be- gnadigung im Großherzogtume Hessen zu werfen, was durch die Wichtigkeit der Bolle, welche heute die bedingte Begnadigung, die wir der „sogenannten" bedingten Verurteilung bei weitem vorziehen, spielt, gerechtfertigt sein möge.

Eine Verfügung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 22. Juni 1891 bestimmt unter anderem, daß bei jugendlichen Ge- fangenen die Strafvollstreckungsbehörde stets die Einreichung eines Gnadengesuches der Hälfte der Strafe zu veranlassen hat, ohne daß hiedurch die bestehenden Vorschriften über die vorläufige Entlassung

der §§ 23 ff des Beichsstrafgesetzbuches berührt werden. Eine Ver-

«

* Anmerkung: Verfasser verdankt nachstehendes Material der Liebens- wQrdigkeit des Herrn Oberstaatsanwalt Dr. Buff in Mainz, welchem hierfür noch- mals der beste Dank gesagt sei.

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fügung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 29. Juni 1 895 zu Nr. M. J. 15708 empfiehlt den Strafvollstreckungsbehörden die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung auch dann zu beantragen, wenn mit dem Strafvollzuge noch nicht begonnen worden ist, be- sonders bei Jugendlichen zwischen 12 18 Jahren. Durch eine Ver- fügung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 25. Juni 1896 zu J. M; 16920 wird es dem Ermessen und der Einsicht des Bichters und des StrafvoUstreckungsbeamten überlassen, zu prüfen, ob die Vollstreckung der erkannten Freiheitsstrafe, oder der bedingte Erlaß der ganzen Strafe oder nur eines Teiles derselben, oder endlich nur die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung mit Aussicht auf spätere Begnadigung in jedem einzelnen Falle das geeignetste Mittel sei, um bessernden Einfluß auf den jugendlichen Übeltäter zu nehmen. Die mit der Behandlung von Strafsachen betrauten Beamten, heißt es in der Verfügung weiter, dürfen deshalb nicht unterlassen, die Ursachen zu erforschen, denen die Übeltat ihre Entstehung verdankt. Liegt der Grund in einer schlechten Charakteranlage, m Verwahr- losung der Erziehung, so wird sich in der Regel die Vollstreckung der Strafe empfehlen; dagegen bei Handlungen, die auf jugend- lichen Leichtsinn, Unerfahrenheit, Unbesonnenheit, Verlockung durch Dritte, zurückzuführen sei, kann die bedingte Begnadigung oder Aus- Setzung der Strafvollstreckung von gutem Einfluß anf die Übeltäter sein. Die Verfügung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 17. September 1897 zu J. M. 6769 empfiehlt in Ansehung Jugendlicher eine besonders sorgfältige Prüfung der Frage, ob eine bedingte Aussetzung des Strafvollzugs zu beantragen sei, in Fällen^ in welchen die verhängte Freiheitsstrafe von kurzer Dauer ist, da gerade hier die Möglichkeit besteht, daß die Vollstreckung eher schäd- lich, als vorteilhaft auf den Sträfling einwirke. Die Verfügung des Ministeriums des Innern und der Justiz zu J. M. 9203 bestimmt, daß in allen Fällen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen über einen Monat an jugendlichen Gefangenen vor Ablauf der Hälfte der Straf- zeit zu prüfen ist, ob die zweite Hälfte bedingt oder unbedingt zu erlassen, oder ihre Vollstreckung bedingt aufzuschieben sei Aus diesen Bestimmungen läßt sich entnehmen, daß Hessen die bedingte Begnadigung bei Jugendlichen schon lange vor dem Jahre 1895, allerdings erst nach Verbüßung eines Teiles der Strafe hatte, und dieses Prinzip bis 1. Januar 1903 bevorzugte. Der großherzogliche Justizminister Exzellenz Dr. Dittmar sprach sich in der Sitzung vom 25. Februar 1904 der Zweiten Kammer der Landstände hierüber nachstehend aus: „Die Erfahrungen, die wir mit diesem System

Einige Worte über den internationalen Kurs der gerichtl. Psychologie usw. 311

gemacht haben, waren keine glänzenden, aber auch keine schlechten. Die Erwägungen, auf denen dieses System beruhte, waren die: Läßt man einen Teil der Strafe verbüßen, so wird dem Übeltäter immer der Ernst der Folgen seiner Tat nachdrücklich zu Gemüte geführt; läßt man ihn aber das Strafübel nicht bis zum Ende ausstehen, son- dern erwartet man ihm gegenüber, daß er sich künftig richtig und gesetzmäßig führen werde, in welchem Falle er die Strafe überhaupt nicht bis zum Ende zu verbüßen hat, während er im andern Falle auch noch den jetzt nicht verbüßten Rest zu* verbüßen haben würde, so haben wir uns gedacht ist das ein außerordentlich wirk- samer erziehlicher Zwang für den, der einmal das Gesetz übertreten hat, demnächst auf die Bahn der Gesetzmäßigkeit zurückzukehren."

Auch nach dem 1. Januar 1903, an welchem Tage für die deutschen Bundesstaaten gemeinsame Grundsätze hinsichtlich der Behandlung der bedingten Begnadigung in Geltung traten (Siehe: Die bedingte Begnadigung in den Deutschen Bundesstaaten von Dr. Klee Z Band XIV Seite 69 und Z Band XVI Seite 458) wurde noch teilweise an diesen Grundsätzen festgehalten, und die bedingte Begnadigung nicht nur vor Antritt, sondern auch nach Abbüßung eines Teiles der Strafe in Anwendung gebracht, was unseres Erachtens nach sehr empfehlenswert ist, als ein solches Vorgehen eine äußerst eingehende Individualbehandlung des einzelnen Falles zuläßt

Wenn wir so in Kürze das Ergebnis der einwöchentlichen Vor- lesungen in Gießen überblicken, so müssen wir hervorheben, daß der schwerwiegendste Erfolg derselben einesteils in der Annäherung der Mediziner und Juristen, anderesteils in den mannigfachen Anregungen gelegen ist, welche den Teilnehmern in den verschiedensten Richtungen zuteil wurde, und welche diejenigen, welche sich mit den modernen Fragen noch gar nicht, oder nur oberflächlich beschäftigten, ver- anlassen dürfte, sich dem Studium derselben mit vollem Eifer zu widmen. Und nicht nur in diesem Ergebnisse liegt das große Ver- dienst Prof. Sommers, welcher wohl der geistige Vater dieses Kurses genannt werden kann, sondern auch darin, daß er die Gedanken und Bestrebungen, welche in der juristisch-psychiatrischen Vereinigung gepflegt wurden, vor einer internationalen Zuhörerschaft zur Geltung brachte. Wir werden auf Grund der gemachten Erfahrungen mit der Prophezeihung kaum fehlgehen, daß dieses geistige Samenkorn, welches von Gießen in die Welt hinausgestreut wurde, in den Heimatländern sämtlicher Teilnehmer reiche Früchte tragen werde.

Es wäre nicht nur unvollständig, sondern auch undankbar, diese Zeilen abzuschließen, wollten wir nicht der großen Mühe gedenken,

312 XV. Bauer

welche sich die Veranstalter des Kurses gaben, am allen Wünschen der Teilnehmer gerecht zu werden, wollten wir nicht der Verdienste Er- wähnung tun, welche sich Prof. Sommer, der sogar sämtlichen Teil- nehmern die gastlichen Pforfen seiner Villa öffnete, und Dr. Danne- mann um die Unterbringung der Gäste erwarben, und würden wir nicht in Dankbarkeit der Stadt Gießen gedenken, welche alle Teil- nehmer zu einem Ausfluge und auch zu einem solennen Festessen einlud. Indem wir nun diesen Allen im Namen der öster- reichischen Teilnehmer nochmals den herzlichsten Dank sagen, rufen wir ihnen zu: „Auf fröhliches Wiederschauen nach zwei Jahren bei dem nächsten internationalen Kurse in der gastfreundlichen Stadt an der Lahn!"

XVL Unwahre Geständnisse.

Mitgeteilt Tom Staatsanwälte Dr. Richard Jung in Feldkirch.

L

Anfangs 1890 teilte mir die Gendarmerie in S., wo ich als Gerichtsadjunkt die Geschäfte eines üntersnchungsrichters zu besorgen hatte, mit, daß Stimmen laut seien, das 1875 gebome Mädchen M. St habe Zeichen der Schwangerschaft gezeigt, die verschwunden seien, ohne daß eine Geburt bekannt worden wäre. Ich erklärte, daß die Gendarmerie die Sache im Auge behalten könne, daß aber die bis* herigen Erhebungen, nach denen einige Personen eine Anschwellung des Bauches des Mädchens, ein eigentümliches Halten des Schales und die Wäscherin das Ausbleiben von Wäsche, die von der Monats- regel beschmutzt, behaupteten, zu einem gerichtlichen Einschreiten noch keinen genügenden Anhalt böten, da viel geschwätzt werde, das Zuhalten eines Schales im strengen Winter nur natürlich sei, die fragliche Wäsche vom Mädchen oder deren Mutter selbst gewaschen worden sein konnte, überdies nicht ausgeschlossen sei, daß die menses bei einem erst vierzehnjährigen Mädchen unterbrochen worden seien.

Ich hörte dann mehrere Wochen nichts mehr von dieser Sache und war sehr überrascht, als ich am 1. März den Bericht der Gen- darmerie erhielt, daß die am 7. März 1875 geborene M. St. wegen Verbrechens der Abtreibung der Leibesfrucht »beziehungsweise drin- genden Verdachtes des Kindesmordes" und deren Mutter A. St. wegen Mitschuld hieran eingeliefert worden seien.

Beide wohnten im Schlosse H., wo Militär lag, und war die Mutter Kantinärin.

M. St war tags zuvor in die Postenkanzlei gerufen worden, als sie sich zufällig zur Besorgung von Einkäufen in S. aufhielt Sie wurde dann von den beiden anwesenden Gendarmen, wie der Bericht meldete, „über ihre Schwangerschaft, sowie über die Art der Entbindung

814 XVI. Juno

und Verbleib des Kindes auf das Eingehendste zur Rede gestellt; sie leugnete anfänglich hartnäckig jemals mit einer Mannsperson Umgang bzw. Beischlaf gepflogen zn haben, nnd noch mehr, sich jemals in gesegnetem Znstande befunden zu haben; erst nach längerer vor- genommener Kombination gelang es beiden Postenführem das Mädchen in ein Netz lügenhafter Angaben zu verwickeln und sie so in Ver- wirrung zu bringen, daß sie durch Widerspruche ihrer Aussagen im Leugnen entkräftet, und durch Überweisung der Tat zu einem Geständnisse bewogen wurde. Sie gibt in ihrem Geständnisse an- fänglich an, daß bei ihr in den Monaten September, Oktober, November und Dezember 1889 die monatliche Reinigung ausgeblieben sei und daß sich diese erst anfangs Januar 1890 wieder eingestellt habe, sie will aber angeblich nicht gewußt haben, daß sie sich im schwangeren Zustande befinde. Später gibt St an, wegen öfteren Beischlafes nicht imstande zu sein, die Zeit ihrer Empfängnis angeben zu können; jedoch gibt sie zu, daß die Empfängnis schon im Monat Mai v. J. stattgefunden haben dürfte, da sich die Anzeichen der Schwanger- schaft im Laufe des Monats Juni schon eingestellt hatten."

Nach dem Gendarmeriebericht gab St weiter an, daß ihre Mutter ihre Schwangerschaft gekannt habe und anfangs November von einem Kaiserjäger gelegentlich des Fassens von Tabak für die Kompagnie von der Apotheke in J. (in S. befindet sich eine solche nicht) eine Arznei habe bringen lassen. Diese Arznei sei von der Mutter ab- gekocht und ihr hiervon innerhalb zehn Tagen dreimal je ein Wein- glas voll zu trinken gegeben worden. Die Flüssigkeit habe weißgelbe Farbe und süßlichen Geschmack gehabt Da die beiden ersten Gaben der Arznei ohne Wirkung gewesen, sei die Arznei das dritte Mal stärker bereitet worden. Nach diesem dritten Mal hätten sich die Geburtswehen alsbald eingestellt, weshalb sie sich in das Bett gelegt, dann von dort auf den Abort gegangen sei, wo sie bei Verrichtung des Stuhlgangs das Kind in den Abortschlauch hinunter geboren habe.

Im Berichte wird daran die Bemerkung geknüpft, daß die Ent- bindung doch nicht so leicht vor sich gegangen sein dürfte, weil St nach ihrer eigenen Angabe die Fruchtbewegung schon im Monat September verspürt habe, das Kind daher schon groß gewesen sein müßte, und daß daher Verdacht des Kindesmordes vorliege.

Zum Verhör vorgeführt und befragt, ob sie sich schuldig fühle, antwortete sie zunächst mit einem zaghaften „Nein^. Als sie aber dann um die Gründe befragt wurde, aus denen sie der Gendarmerie ein Bekenntnis der Leibesfruchtabtreibung abgelegt habe, erklärte sie sofort, ihre Angaben vor der Gendarmerie entsprächen der Wahrheit

Unwahre Greständnisse. 315

Der Bericht der Gendarmerie wurde ihr nicht vorgelesen, M. St viel- mehr veranlaßt, den ganzen Vorgang ans Eigenem zu erzählen, wobei nur Fragen zur besseren Aufklärung gestellt wurden. Sie gab an: „Am 15. August 1889 fuhr ich mit P. W., Knappen in H., nach St. zu meiner Schwester. Während der Eisenbahnfahrt von Fr. nach St. wohnte mir P. W. bei. Anfangs August hatte ich noch meine monatliche Begel, die dann aufhörte, um erst wieder am 1. Januar 1890 einzutreten. Beiläufig Mitte Oktober v. J. trug ich Speisen über die Stiege im Schlosse H. und fiel rücklings über die Stiege auf das Kreuz, so daß ich zwei bis drei Tage Schmerzen am Bücken ver- spürte und schwer gehen konnte. Dies kann Georg B. bezeugen. Ende Oktober v. J. sprach ich mit Barbara T. und erzählte mir diese u. a., daß sie in der Hoffnung sei, da ihr die monatliche Beinigung ausbleibe. Jetzt erst wußte ich die Ursache zu deuten, daß auch mir jene Beinigung fehlte. Um jene Zeit wurde mir von Therese H. hinterbracht, daß man erzähle, ich sei schwanger. Ich hatte schon früher bemerkt, daß sich meine Bauchdecke spanne. Schon bevor ich den Sturz auf der Stiege erlitt, zankte mich meine Mutter aus, sagte, daß ich dick werde und daß ich zuviel mit den Jägern spreche. Vor ungefähr IV2 Jahren wurde von den Jägern in der Kantine darüber gesprochen, daß man mit einem Pulver die Frucht der schwangeren Weiber wegbringen könne. Anfangs November v. J. kam ich hierüber mit meiner Mutter zu sprechen und zwar begann ich das Gespräch. Die Mutter war einverstanden, jenes Mittel bei mir anzuwenden und schickte den Kaiserjäger L. M. nach J. in die Apotheke, ohne ihm bekannt zu geben, um was es sich handle. Das Mittel war ein weißes Pulver, dessen Namen ich nicht weiß. Meine Mutter kochte mir das Mittel, dessen Bereitung ich nicht gesehen habe, und ich nahm es in der Früh bei nüchternem Magen ein. Es bereitete mir keine Schmerzen, wirkte aber auch nicht, weshalb ich es nach fünf Tagen, und dann neuerdings nach sieben Tagen ein- nahm. — Einen Tag nach dieser letzten Einnahme ging, als ich auf dem Aborte die Notdurft verrichtete, aus meiner Scheide etwas weg. Die nächsten Tage fühlte ich mich schwach, die Bauchanschwellung verlor sich und die auch etwas angeschwollenen Brüste wurden regel- mäßig. Meiner Mutter erzählte ich sofort, daß etwas weggegangen sei. Dies war ungefähr Mitte November v. J. Als ich das dritte Mal einnahm, hatte die Mutter das Mittel stärker bereitet, und während ich die ersten beidemale nur ein Weingläschen voll trank, nahm ich das dritte Mal um ein halbes Glas mehr. Der Geschmack des Getränkes war süßlich. '^

316 XVI. Jung

Als ihr hierauf vorgehalten wurde, daß sie der Gendarmerie angegeben habe, sie habe schon im Juni v. J. Anzeichen der Schwangerschaft verspürt, was mit dem eher übereinstimmen würde, daß man schon im Oktober von ihrer Schwangerschaft gesprochen, erklärte sie: „Ich bleibe dabei, daß ich am 15. August v. J. emp- fangen haben muß, da ich seit dem Sommer 1886 bis dorthin keinen Beischlaf ausüben ließ und der Knappe P. W. nur einmal nach dem 15. August mit mir den Beischlaf ausübte. Im Sommer 1886 als die gesamte Kompagnie Schießübungen in den Feldern von P. abhielt, ging ich in die Küche, wo der Offiziersbursche war und sprach mit diesem. Derselbe nahm mich dann, ohne etwas zu sagen, auf, legte mich auf das dort befindliche Bett, hob mir den Bock auf, betrachtete mich an den Geschlechtsteilen, legte sich dann auf mich hinauf und führte sein männliches Glied in meine Scheide ein, ohne daß er voll- kommen einzudringen vermochte. Er begann auch den Beischlaf auszuführen, als man die Kompagnie zurückkehren hörte, und ich infolge dessen mich los machte und davonsprang. Zu einem Samen- erguße war es nicht gekommen. Ich füge noch bei, daß ich in der Früh jenes Tages, als ich das dritte Mal das Abtreibungsmittel nahm, schon im Bette Reißen im Bauche verspürte, weshalb ich mich dann auf den Abort begab, wo die Frucht wegging. Die Mutter war damals nicht im Zimmer, sondern schon in der Kantine beschäftigt^

Die Mutter A. St erklärte, sie habe mit ihrer Tochter in ein und demselben Zimmer geschlafen, wisse aber nichts von einer Schwangerschaft derselben, habe um kein Abtreibungsmittel geschickt, kein solches bereitet und würde auf keinen Fall Mithilfe bei einem solchen Verbrechen geleistet haben.

Von den einvernommenen Zeugen wollten tatsächlich einige Ende Oktober und Anfangs November des Vorjahres an M. St Anschwellung des Bauches und der Brüste und gegen Dezember Schlankerwerden der Gestalt beobachtet haben; andere, und gerade diejenigen, die öfters mit M. St. verkehrten, hatten solche Beobachtungen nicht gemacht Eine Zeugin hatte im Oktober M. St im Hemde gesehen und von einer Schwangerschaft durchaus nichts gesehen. Unter den Zeugen befand sich auch der Wundarzt L. K. Er gab an, daß er vom Gerede über die Schwangerschaft der M. St. hörte, sie deshalb Ende Oktober beim Vorbeigehen auf der Straße betrachtete, wobei ihm vorkam, daß M. St einen etwas größeren Bauch habe, so daß er sich dachte, es wäre möglich, daß sie sich in anderen Umständen befinde und zwar ungefähr im vierten Monate. Ende November habe er der M. St einen Zahn gezogen und schien sie ihm hierbei

Unwahre GestSndnisse. 317

schlanker zu sein. Sowohl damals als wie sie im Dezember einige- male um Medikamente für ihre kranke Mutter kam, habe sie auf sein Befragen erklärt, sie habe ihre Regel.

Der Kaiserjäger L. M., der durch ein entferntes Bezirksgericht einvernommen werden mußte, erklärte, er sei nie in die Apotheke in J. gekommen, habe von A. St keinen Auftrag erhalten, etwas von jener Apotheke zu holen, und seien die gegenteiligen Angaben der M. St unwahr.

Von entscheidender Bedeutung wurden die Aussage des Knappen P. W. und die ärztliche Untersuchung, die wegen der notwendigen Berufung eines zweiten Arztes von auswärts und wegen eingetretener Monatsregel bei M. St sich fünf Tage hinausschob.

P. W. gab an, er habe M. St. selten gesehen und ihr nie fleischlich beigewohnt Richtig sei nur, daß er am Frauentage, den 15. Aug. 1889, mit M. St bis zur Eisenbahnhaltestelle H. gefahren, dann zu Fuß mit ihr nach I. gegangen sei, hierauf sie zu einem Wirte in H. zurückbegleitet habe, woselbst M. St. bei Verwandten geblieben, während er nach St. und von dort einige Tage später nach Hause zurückgefahren sei.

M. St wurde infolge dieser Aussage dem P. W. gegenübergestellt und gab an: „Ich habe meine früheren Angaben bei der Gendarmerie und vor Gericht nur aus Furcht gemacht, insbesondere bei der Gendarmerie, da ich bei dieser stark herumgefragt wurde, und da ich glaubte, vor Gericht die dort gemachten Angaben wiederholen zu sollen, da mir meine Unschuld nicht geglaubt wurde. Es hat mit mir noch kein Mann den Beischlaf ausgeübt, und ist auch jene Geschichte unwahr, die ich von dem Offiziersburschen aus dem Jahre 1886 erzählt habe. Alle meine früheren Angaben sind unwahr.^

Ich bemerke ausdrücklich, daß ich auf M. St keinerlei Druck ausübte, um ein Geständnis zu erlangen, da ich von Anfang an Zweifel an der Echtheit des Geständnisses der Gendarmerie gegenüber hatte und mir sofort auffiel, daß M. St vor Gericht in Einzelheiten von ihren Angaben bei der Gendarmerie abwich, was allerdings auch von der verschiedenen Befragensart herstammen konnte.

Der ärztliche Befund ergab: „M. St. ist von schwächlichem, schlankem Körperbau mit ganz geringer Fettentwicklung. Die Brüste sind entsprechend der übrigen Körperentwicklung mäßig stark, ohne Fettpolster, die Warze und der Warzenhof schwach pigmentiert und noch in der Ausbildung begriffen. Die Bauchdecken sind straff und gespannt, die Bauchhaut ohne Pigment und Schwangerschaftsnarben. Die Schamhaare sind spärlich, der Schamhügel ebenfalls mäßig

318 XVI. Juno

entwickelt Die großen Schamlippen sind nur rudimentär vorhanden, die kleinen Schamlippen, die dunkel gefärbt und lederartig hart sind, nicht im mindesten deckend. Das Hymen ist schlaff, dehnbar und ringförmig, mit einer großen Zentralöffnung. Dasselbe zeigt keinerlei Einrisse oder Narben. Die Scheide ist geräumig ohne Falten. Das Scheidenstück der Gebärmutter ragt als ein derber, kegelförmiger Zapfen in die Scheide hinein. Die Gebärmutter selbst ist derb, hart im inneren Durchmesser gegen 5 cm lang.''

Das Gutachten lautete: „Aus der Untersuchung der Person kann nicht abgeleitet werden, daß an M. St der Beischlaf vollzogen wurde. Die Möglichkeit eines stattgehabten Beischlafes ist nicht ausgeschlossen, da das elastische, nachgiebige Jungfernhäutchen das Eindringen des männlichen Gliedes nicht verhindert, da man sogar behufs Unter- suchung mit dem Spiegel in die Scheide hineinkann. Ausgesprochene, ganz bestimmte und unzweideutige Zeichen für eine stattgehabte Schwangerschaft sind nicht vorhanden, was aber nicht ausschließt, daß M. St 3 bis 4 Wochen schwanger gewesen sein könnte. Daß keine länger dauernde Schwangerschaft anzunehmep ist, ist aus der kleinen, derben Gebärmutter zu entnehmen, sowie aus dem spalt- förmigen, keinerlei Einrisse zeigenden Muttermund. Anzeichen für eine gewaltsame Äbtreibung der Leibesfrucht sind nicht vorhanden. Abtreibungsmittel von Farbe und Geschmack, wie es von M. St beschrieben wurde, gibt es keines. Pulver von weißer Farbe kann ein mineralisches Salz sein, ohne daß dasselbe aber die mindeste Eignung zu einer wirksamen Abtreibung der Leibesfrucht hat''

M. St. wurde im Anschlüsse an ihre körperliche Untersuchung noch einmal vernommen, beteuerte ihre Unschuld und fuhr fort: „Ich habe mich bei der Gendarmerie vor dem Einsperren gefürchtet, und da die Gendarmen mir sagten der Arzt E. bestätige meine Schwan- gerschaft, so glaubte ich wirklich, es müsse wahr sein. P. W. gab ich deshalb als Beischläfer an, weil ich von den Leuten gehört hatte, man gebe diesen als meinen Befruchter an, und ich hatte auch von den Leuten gehört, daß ich etwas eingenommen haben müßte, da ich nicht dicker würde. Es ist auch unrichtig, daß im Jahre 1886 der Offiziersbursche mich am bloßen Leibe angegriffen und den Beischlaf versucht habe ; derselbe hat mir nur über den Kleidern mit der Hand zwischen die Füße gegriffen. Da mich die Gendarmen gefragt hatten, ob ich nicht schon früher mit einem Manne zu tun gehabt habe, so habe ich auch jenes in entstellter Form angegeben. Bei Gericht habe ich die Angaben wiederholt, da ich glaubte, ich müßte dajsselbe an- geben wie bei der Gendarmerie."

Unwahre Geständnisse. 319

Auf Grund des ärztlichen Gutachtens und der übrigen Erhebungen setzte ich M. und A. St sofort auf freien Fuß und die Staatsanwalt- schaft gab das Einstellungserklären ab (Akt B. 4, 1890, des Bezirks- gerichtes Sillian).

Ich bemerke hiezu noch, daß Wundarzt K. eine sehr ausgebreitete Praxis hatte, weshalb es erklärlich war, warum das Mädchen auf dessen Meinung großes Gewicht legte, und daß M. St mir auch an- gab, sie habe in der Kantine oft zugehört, wie die Soldaten von ge- schlechtlichen Dingen sprachen.

Das Gerede über ihre Schwangerschaft dürfte wohl auf ihren Fall über die Stiege und die hiebei erlittene Verletzung in der Kreuz- gegend zurückzuführen sein, wodurch ihr Gang durch einige Zeit schwerfällig wurde. Sie mochte nicht nur, wie sie selbst angibt, von Fmchtabtreibungen gehört haben, sondern auch, daß die hiezu ange- wandten Mittel nicht immer sofort, sondern erst bei wiederholter Ein- nahme wirkten. Auch von den Geburtswehen hatte sie sicher schon gehört Aber es fiel mir schon bei ihrer Einvernahme auf, daß sie in keine nähere Beschreibung der Wehen einging, sondern diese nur erwähnte und leichtweg darüber ging. Sie konnte sie naturgemäß nicht beschreiben, weil sie solche nie gefühlt

Hervorzuheben ist noch besonders die Ausgestaltung des Vor- gehens des Offiziersburschen, der sie in einem Alter von It Jahren über den Kleidern abgegriffen hatte, zu einem unternommenen Bei- schlaf, so daß die Fantasie des Mädchens nicht nur ihrer Mutter, sondern bald auch noch einer weiteren Person zum Nachteile ge- worden wäre.

Das Gerede der Leute, die vom Umgange mit Soldaten ver- dorbene Einbildungskraft des Mädchens, das, wie schon aus der Anzeige hervorgeht, ungeschickte Vorgehen der Gendarmen, die von vornherein von der Schuld des Mädchens überzeugt waren und darauf ausgingen, ein Geständnis zu erreichen (es sei erwähnt, daß der er- fahrenere Postenkommandant abwesend war), verbunden mit der leichten Beeinflußbarkeit des Mädchens, das sich gerade im Entwickelungs- zustande befand, riefen dann jenes eigentümliche Gebilde von Wahrheit und Dichtung hervor, wie wir es in ihrem Geständnisse finden.

Es ist dies das eigentümlichste der unwahren Geständnisse, die mir vorgekommen, und es hat mich davor bewahrt, Geständnisse Jugendlicher, die sich nach den Umständen überwiesen glauben, ohne genaue Prüfung für wahr zu halten.

320 XVL Jung

IL

Der Vater der am 22. August 1895 geborenen El. Tr., der Maschinenführer A. Tr., machte bei der Oendarmerie folgende Anzeige:

El. Tr. habe am Sonntag, den 18. März 1906 mit ihrem 4 Jahre alten Bruder oberhalb des Hauses, das am FuSe desA.-berges liegt, Blumen gepflückt Da seien zwei Burschen gekommen, hätten das Mädchen mit der Angabe, sie bekomme dort schöne Blumen, in den Wald hinaufgelockt, den Bruder aber nach Hause geschickt Im Walde angelangt, habe ihr ein Bursche Blumen in den Schoß gelegt, nachdem sie sich auf sein Geheiß niedergesetzt hatte, habe ihr dann die Böcke aufgehoben und sie aufgefordert, sich niederzulegen und die Beine auseinander zu tun. El. Tr. habe dies getan, worauf ihr der Bursche an die Geschlechtsteile gegriffen und mit einem Finger in die Scheide gebohrt habe, trotzdem sie wegen Schmerzen gebeten habe, von ihr abzulassen. Der andere Bursche habe nur zugesehen. Der Bursche sei mit ihr dann gegen das Haus zurückgegangen, beim Daherkommen des vom Bruder verständigten Vaters aber entflohen.

Der Gendarmeriebericht fährt dann fort, daß El. Tr. in dem einen der Burschen R. E. erkannt habe, und gibt wörtlich an: „R E. der beim Bauern M. als Enecht bedienstet ist, gestand dem Gen- darmen H. in Gegenwart seines Dienstgebers und dessen Haushälterin die Tat sogleich ein und gab an, daß der zweite Bursche der in A. bei seinen Eltern wohnte Fr. W. gewesen sei. Dieser Fr. W. wurde ausgeforscht und stellt rundweg in Abrede, am 18. März mit B. E. verkehrt zu haben. Nachdem nun in A. noch ein zweiter Fr. W. von gleichem Alter lebt, wurde auch dieser befragt Da aber Letzterer auch in Abrede stellte, mit B. E. verkehrt zu haben, wurden die beiden W. dem B. E. gegenübergestellt Nun stellte sich heraus, daß die von B. E. gemachten Angaben vollkommen aus der Luft gegriffen waren und keiner der beiden W. mit ihm verkehrt habe. Jetzt gab B. E. an, daß der Bursche, der damals bei. ihm war, von B. sei, daß er aber weder dessen Namen noch dessen Beschäftigung wisse und er denselben früher überhaupt nie gesehen habe. El. Tr. gab an, daß nur B. E. die Unsittlichkeiten begangen habe, während der andere Bursche daneben gestanden sei und zugesehen habe. B. E. gibt dies bald zu, bald sagt er wieder, daß auch der andere Bursche dem Mädchen unter die Röcke gegriffen habe. B. E. ist trotz seines jugendlichen Alters ein sehr geriebener, lügenhafter Bursche. Bei der Zurredestellung gab E. an, daß er nur schauen wollte, was das Mädchen zwischen den Füßen habe; dann sagte er wieder, daß er seine Gelüste durch Greifen befriedigen wollte."

Unwahre GeständnIsHe. 321

IL K. ward am 17. Dezember 1891 geboren, wird von der Ge- meinde gut beleumundet, von Lehrer und Pfarrer dahin beschrieben, daß seine Leistungen in der Volksschule sehr schwache waren, er geistig wenig begabt und in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist, wozu der Pfarrer noch bemerkte, daß er nicht geringe Neigung zum

Eigensinne zeige.

Seine Angaben vor dem Untersuchungsrichter müssen mit gering- fügigen Kürzungen wörtlich angeführt werden; sie lauteten:

„Sonntag, den 18. Mftrz begab ich mich nachmittags zwischen 2 und 4 Uhr auf den A.-Berg, um Veilchen zu suchen. Ich traf dort einen Burschen aus A., mit dem ich 8 Jahre die Schule be- suchte, dessen Namen und Wohnort ich jedoch nicht weiß. Bald darauf sah ich auf der Wiese unter mir Kl. Tr. mit ihrem Brüderchen. Da stieg in mir der Gedanke auf, unzüchtige Handlungen mit ihr vorzunehmen. Wissend, daß Kl. Tr. hochgradig schwerhörig, winkte ich ihr mit der Hand, sie solle heraufkommen, was sie auch tat Ich schickte ihr Brüderchen heim und ging mit Kl. Tr. und dem Kameraden bei 200 Schritte weiter bis unter einigen Tannen und Gestrüpp. Dort hieß ich sie auf einen großen Stern setzen, und forderte sie dann auf, sich ganz niederzulegen und die Beine aus- einander zu spreizen, was sie ohne weiteres tat. Ich stand in einer Erdvertiefung vor dem Steine, während mein Kamerad ungefähr 2 Schritte links vom Kopfe der Kl. Tr. stand und zuschaute. Nach- dem sich Kl. Tr. ganz niedergelegt hatte, schob ich ihr die Röcke hinauf schaute die Geschlechtsteile an und führte dann meinen rechten Zeigefinger bis zum dritten Gliede in die Scheide des Mädchens hinein. Kl. Tr. klagte über Schmerzen und sagte, daß ich sie in Ruhe lassen solle. Ich sagte meinem Freunde, daß Kl. Tr. ein Loch zwischen den Beinen habe, und er lachte dazu. Da ich eine Freude daran fand, die Geschlechtsteile des Mädchens anzuschauen, mit dem Finger daran zu spielen und hineinzubohren, so sagte ich ihr, sie solle ruhig sein, es geschehe ihr nichts, und setzte die unzüchtigen Blicke und Handlungen über V* Stunde fort. Wenn ich mich nicht täusche, führte ich meinen Zeigefinger bis zum dritten Gliede dreimal und meinen rechten Mittelfinger bis etwas über das zweite Ghed zweimal in die Scheide ein. Ich hörte erst dann auf, Unzucht zu treiben, als mir mein Freund sagte, ich soll sie gehen lassen. Als ich dann Kl. Tr. auf die Wiese zurückführte, damit sie heimgehe und ich ihren Vater daher kommen sah, hef ich durch das Gestrüpp und über die Wiesen allein nach Hause."

KL Tr. machte vor Gericht im allgemeinen die gleichen Angaben,

AiohiT für Kiimiiialanthiopologie. 28. Bd. 2 L

322 XVI. Jung

wie sie im Gendarmerieberichte enthalten, nnr behauptete sie, daß sie während der unzüchtigen Handlungen auf einem Steine gesessen sei und sich nie in liegender Stellung befunden habe, wozu sie übrigens der Täter auch nicht aufgefordert habe. Am 19. März sei sie mit ihrer Freundin Ä. H. zur Kirche gegangen ; hierbei sei ihnen R. E. begegnet und sie habe in ihm jenen Burschen erkannt, der sie in den Wald gelockt, an den Geschlechtsteilen betastet und ihr „drei- mal^ mit dem Finger in die Scheide gebohrt habe.

Ihrer Mutter E. Tr. hatte sie die gleichen Angaben gemacht, nnr sprach sie ihr von einem zweimaligen Einbohren in die Scheide. Die Mutter gibt an, daß das Mädchen mit geröteten und geschwollenen Geschlechtsteilen nach Hause kam und von ihr ausgewaschen wurde. Sie bezeichnet das Mädchen als „im höchsten Maße schwerhörig".

Der Vater A. Tr. gab an, sein vierjähriger Sohn habe ihm mit- geteilt, „zwei Jäger^ hätten die Schwester auf den Berg geführt und erschossen. Als er dann den Berg hinaufgesprungen sei, habe er seine Tochter mit einem Burschen, den er vom Sehen aus gekannt, herunterkommen sehen. Der Bursche sei fünf bis sechs , Schritte zurückgeblieben und während er seine Tochter ausfragte, geflohen. Erst durch seine Frau habe er dann erfahren, daß der Bursche B. K. sei. Auf Grund dessen sei er am 22. März zu R. E. gegangen und habe ihn gefragt, warum er Sonntag nachmittags davongelaufen sei. „Es sagte mir, daß er fürchtete, von mir Schläge zu bekommen. Meine weitere Frage, warum er sich denn hätte fürchten sollen, ließ er unbeantwortet Ich fragte ihn dann, wer der zweite Bursche gewesen sei. R. E. leugnete zuerst, am fraglichen Nachmittage in Begleitung eines anderen Burschen gewesen zu sein, gab jedoch dies dann zu, ohne jedoch zu sagen, wer es gewesen sei, indem er mir angab, den Burschen nicht zu kennen. Er ersuchte mich schließlich bei der Gendarmerie keine Anzeige erstatten zu wollen; und als ich ihm erklärte, daß ich den Fall unbedingt anzeigen müsse, fing er zu weinen an und entfernte sich von mir.^

Die ärztliche Untersuchung des Mädchens ergab einen frisch vernarbten Einriß in das halbmondförmige Hymen, der durch Ein- führen eines Fingers in das Hymen, den Angaben des Mädchens entsprechend, entstanden sein konnte.

Auch R. E. wurde ärztlich untersucht Der Befund lautete: „Der Untersuchte macht den Eindruck eines sehr beschränkten Burschen. Er ist von gesundem Aussehen, seinem Alter entsprechend groß, hat ziemlich kräftig entwickelte Muskulatur. Der Penis ist ziemlich groß, befindet ßich in halberigiertem Zustande. Die Eichel

Unwahre Geständnisse. 323

ist von der Vorbaut entblößt, die Hoden befinden sich im Hoden- sacke, sind sehr gut entwickelt Es besteht spärliche Behaarung der Schamgegend. Der Untersuchte gibt zu, häufig onanistische Mani- pulationen an seinem Glied vorzunehmen. Bei Ausführung des ihm zur Last liegenden Deliktes hat er seiner Angabe nach Erektionen gehabt*^ Gutachten: „Der Untersuchte ist dem Befunde nach bereits in das Alter der Geschlechtsreife eingetreten. Sein Delikt hat er jedenfalls unter dem Einflüsse des Geschlechtstriebes begangen.^

Die Voruntersuchung war hiermit abgeschlossen und es erfolgte die Anklage wegen des Verbrechens der Schändung.

Gegen die Anklage wurde ein Einspruch nicht erhoben, neue Beweisanträge zur Hauptverhandlung nicht eingebracht

Bei der Hauptverhandlung erklärte B. K., er sei vollkommen unschuldig und zur Zeit der Tat gar nicht auf dem A.-Berge gewesen. Über Vorhalt der früher abgelegten Geständnisse erklärte er: ,,Er habe bei den Verhören gar nicht gewußt, um was es sich handle, und nur aus Furcht, er könnte eingesperrt werden, zu allem jja'' gesagt Denn der Wachtmeister habe ihm gleich anfangs gedroht, er werde ihn in Arrest tun, wenn er einmal ,)nein^ antworte. Über- haupt habe derselbe ihn nichts gefragt und nur vorgelesen, und habe er gar nichts davon verstanden und damals wie heute nicht gewußt, von was die Rede sei ; trotzdem habe er nur aus Furcht ,Ja^ gesagt Auch der Untersuchungsrichter habe ihm etwas vorgelesen^ ohne daß er etwas davon verstanden hätte. Das Protokoll über sein Geständnis sei ihm zwar vorgelesen und er befragt worden, ob er es verstanden habe, er habe aber trotzdem nicht gewußt, um was es sich handle, und auch hier nur aus Furcht Ja^ gesagt. Er habe nicht einmal gewußt, daß es sich um eine Unsittlichkeit handle.^

Der Verteidiger erwähnte, B. E. soll auf die Frage der Gendarmen, ob er wisse, warum er hier sei, erwidert haben, ja, wegen Steine- herunterwerfens vom A.-Berge.

Der Verteidiger beantragte dann die Einvernahme einer Reihe von Zeugen zum Beweise dessen, daß R. K. am fraglichen Nach- mittage zwischen 2 und 4 Uhr, um welche Zeit die Tat geschehen war, nicht am A.-Berge gewesen sein konnte.

Bei der fortgesetzten Hauptverhandlung gelang dem Beschuldigten der Alibi-Beweis durch eine ganze Reihe unbedenklicher Zeugen. Es wurde durch Augenschein weiter festgesetzt, daß der Beschuldigte dem Untersuchungsrichter als Tatort eine Stelle bezeichnet hatte, die weit ab vom wirklichen Tatorte lag.

Zum psychologischen Verständnisse der Sache ist es aber nötig,

21*

324 XVI. Juno

verschiedene Zengenanssagen, die sich nicht auf den Alibi-Beweis beziehen, auszugsweise wiederzugeben .|

Der Untersuchungsrichter gab an, B. E. habe die Tat anfangs geleugnet und erst über Vorhalt der Anzeige gestanden. Suggestive Fragen seien keine gestellt worden; der Beschuldigte habe in ruhiger Weise geantwortet, und zwar nicht nur mit „jh.^, sondern auch durch eigene Erzählung des Sachverhaltes. R. K. habe ihm auch den Tat- ort gezeigt. Die Eltern des Beschuldigten seien vor dem Verhöre gekommen und hätten ihren Sohn als unschuldig hingestellt, weshalb er das anfängliche Leugnen des Beschuldigten auf Beeinflussung durch die Eltern zurückführte.

Der Eanzleischreiber, der dem Untersuchungsrichter als Schrift- führer gedient hatte, sagte aus, daß der Beschuldigte bald geleugnet, bald wieder gestanden habe, und daß dessen Angaben sehr kurz und mangelhaft gewesen seien.

Der Vater des Mädchens, A. Tr., gab an, er sei zu E. K. gegangen und sei ihm dieser sofort erschrocken vorgekommen. Auf seine Frage, was er am Sonntage mit seinem Mädel gemacht habe, habe R. E. erwidert, er wisse nichts. Erst auf seine Drohung, er werde zur Gendarmerie gehen, habe derselbe erklärt, er sei es gewesen, und auf seine weitere Frage, warum er davon gerannt sei, habe R E. gesagt, er habe gemeint, er (A. Tr.) wolle ihn schlagen.

Vom Mädchen El. Tr. wird festgestellt, daß es früher ganz blind gewesen und jetzt noch kurzsichtig ist Es will in R E. den Täter erkennen, weil er ebenso dick und so groß sei, ein solches Gewand getragen und schwarze Haare gehabt, auch eine Ubrkette getragen habe.

Die elfjährige Eameradin der El. Tr^ die mit ihr am 19. März zur Eirche ging, A. H. sagte aus: El. Tr. habe ihr von dem Vor- falle am vergangenen Tage erzählt, und da hätten sie gerade den ihr wohlbekannten R E. (er wohnt in der Nähe beider Mädchen) gesehen und El. Tr. hätte gerufen: ,,Siehst Du, dieser Bub war auch dabei!", worauf sie erwidert habe, dies sei B. E.

Der Gendarm H. gab an, er sei von A. Tr. über die Sache unterrichtet gewesen. R E. habe, seiner ansichtig geworden, gezittert wie ein Espenlaub. Er habe den Enaben gefragt, was er mit dem Mädel gemacht, worauf derselbe erwidert habe: .„Nichts". Er habe dann R E., ohne ihm ausdrücklich zu sagen, um was es sich handle, gefragt, ob er nicht am A.-Berge gewesen und dort „Schweinereien" gemacht habe. Auf diese Frage sowie auf die weiteren Fragen im Gegenstand habe er immer mit „Ja" geantwortet Als R E. an- fänglich leugnete, habe er ihm allerdings gesagt, wenn er nicht die

Unwahre Geständnisse. 325

Wahrheit sage, werde er ihn einsperren. Vom Steineherunterwerfen habe ihm R K. nichts gesagt. Als geriebenen, lügenhaften Burschen habe er B. E. in der Anzeige nur deshalb bezeichnet, weil dieser ihn betreffs seines angeblichen Kameraden bei der Tat angelogen hatte.

Die Mutter des Beschuldigten sagte aus, ihr Sohn habe ihr mit- geteilt, es sei ein Gendarm bei ihm gewesen und habe er diesem zugegeben, daß er die „Geschichte angestellt^ habe. Nach einigen . Tagen habe ihr der Sohn aber gesagt^ er habe nichts getan, doch wenn er gesagt hätte „nein^, wäre er eingesperrt worden. Sie habe ihm hierauf erwidert, wenn er es getan habe, solle er es sagen.

Der Bezirksarzt, der R K. auf seine Geschlechtsreife untersucht hatte, gab als Zeuge an: B. K. habe auf ihn den Eindruck eines Onanisten gemacht Auf die Frage, ob er (K.) es getan, habe dieser mit ,Ja^ geantwortet und ihm auch gezeigt, wie weit er den Finger in die Scheide des Mädchens hinein gegeben habe, was mit dem objektiven Tatbestande fibereinstimmte. Er (der Arzt) habe aus den Akten als feststehend angenommen, daß B. E. der Täter sei, und habe ihm dieser den Eindruck gemacht, als schäme er sich dessen. Er sei R E. sehr ruhig und freundlich entgegengekommen, doch erkläre sich der Umstand, daß B. E. ihm gegenüber trotzdem gestanden, daraus, daß auch der Untersuchungsrichter anwesend war. Im übrigen habe R E. auf ihn einen minderwertigen Eindruck gemacht und halte er für möglich, daß derselbe suggestibel sei, um so mehr als dies ja auch bei ganz normalen Menschen vorkomme.

Der öffentliche Ankläger trat am Schlüsse der Hauptverhandlung von der Anklage zurück und B. E. wurde freigesprochen (Strafakt Vr. 85/6 des Ereisgerichtes Feldkirch).

Es kann nach den Beobachtungen der Mutter und dem Befunde der Ärzte kaum zweifelhaft sein, daß El. Tr. wirklich geschändet wurde. Die Bezeichnung des B. E. als Täter beruhte aber offenbar auf Selbstsuggestion. El. Tr. hatte B. E., da er in ihrer Nähe wohnte, wohl schon öfters gesehen, ohne mit ihm bekannt zu sein. Als sie nun ihrer Freundin von dem Vorfalle erzählte, sah sie auf einmal R E. vor sich; er kam ihr bekannt vor und sie bezog jetzt diese Bekanntschaft auf den Vorfall vom Vortage. Aber sie sagte zunächst nicht, dieser ist der Täter gewesen, sondern nur „der war auch dabei**. Bis sie nach Hause kommt, ist es ihr dann schon feststehend, daß B. E. der Täter selbst ist, sie gibt hierüber der Mutter Ausdruck und bleibt später bei ihrer so gewonnenen Überzeugung.

Nicht umsonst wird R E. vor dem Vater des Mädchens erschrocken sein; denn dieser erschien vor ihm sicherlich nicht in

326 XVL JuKG

der freundlichsten Stimmung. Als dann die Drohung mit der Gfen- darmerie erfolgte, war es begreiflich; daß der eingeschüchterte, gdstig wenig begabte Knabe zu Allem ja sagte; noch begreiflicher, als der Wachtmeister mit Einsperren drohte. Vor dem Untersuchungsrichter hieß es dann ja und amen sagen, da dem Knaben die Kraft fehlte, die schüchtern vorgebrachte Unschuldsbeteuerung aufrecht zu halten . und zu begründen.

Die Behauptungen R K.'s daß er gar nicht gewußt habe, um was es sich handle, sind übrigens gewiß zu weit gehend ; denn wenn er zugeben muß, daß das ausführliche Protokoll über sein Geständnis vor dem Untersuchungsrichter in seiner Gegenwart angegeben und dann vorgelesen wurde, so muß er von der wider ihn erhobenen Beschuldigung genügend unterrichtet gewesen sein, wenn er auch deren Tragweite nicht begriff. Wir finden auch jene charakteristische Ausschmückung des Tatbestandes bei unwahren Geständnissen, und zwar hier: die Vorgabe, er habe mit dem ihn begleitenden Burschen 8 Jahre die Schule besucht, die Beschreibung des falschen Tatortes und seiner Körperstellung bei der Tat, besonders aber seine Angabe, er habe seinem Freunde gesagt, daß Kl. Tr. ein Loch zwischen den Beinen habe, und daß dieser dazu gelacht habe. Diese von ihm angegebenen Umstände lagen außerhalb des Bereiches der möglichen Suggestion. Auch wird man annehmen müssen, daß R K. mit einem anderen Mädchen irgend welche Unsittlichkeit getrieben, oder mindestens die nackten Geschlechtsteile eines solchen gesehen habe, und dann jene Begebenheit zur näheren Beschreibung der erdichteten benützte. Hingegen ist nicht unbedingt nötig, daß er einmal seine Finger in eines Mädchens Scheide eingeführt hatte, weil ihm wohl beim Ver- höre angedeutet wurde, mit welchen Fingern und ungefähr wie tief er eingedrungen sein dürfte.

Bezeichnend ist, daß er der irrigen Annahme des Vaters des Mädchens und des Gendarmen entsprechend angab oder richtiger wohl nur zugab, das Mädchen in „liegender^ Stellung mißbraucht zu haben, und daß er sofort nach einem Namen des angeblichen Be- gleiters suchte. Als er in letzter Richtung der Unwahrheit überwiesen ward, half er sich vor dem Untersuchungsrichter auf die einfältige Weise, daß er behauptete, der Begleiter sei ein vieljähriger Schul- kamerad gewesen, dessen Namen er nicht wisse. Die falsche Be- zeichnung des Tatortes war dem für ihn glücklichen Umstände zuzuschreiben, daß er nicht zugleich mit dem Mädchen an Ort und Stelle geführt worden war.

Die Hauptschuld an der Verwirrung der Sache traf das Mädchen,

Unwahre GeständniBse. 327

das in R. E. den Täter zu erkennen glaubte, und dessen Vater, der ungestüm den Knaben zur Bede stellte und zu einem Geständnisse zwang.

III.

Dem Gastwirte und Krämer J. R wurde an einem Aprilabende zwischen 9V4 und 10 Uhr eine 4 dm lange und ebenso breite Blech- schachtel mit Geldfächern und einem darin befindlichen Barbetrage von rund 50 K. in Münze entwendet Die Schachtel lag in einer unversperrten Schublade des Schreibtisches in einem Zimmer, das mit dem Gastzimmer durch eine Tür verbunden ist Das Zimmer kann jedoch auch unmittelbar vom Hausgange aus betreten werden, und muß der Dieb von dorther eingedrungen sein, da das Gastzimmer von 2 Gästen besetzt war und der Wirt dort bediente.

Der Bestohlene lenkte den Verdacht auf den 16 Jahre alten B. L., der, 700 Schritte vom Tatorte entfernt, bei seinen Angehörigen wohnt Es war aufgefallen, daß er tags zuvor um Eier kam und, da keine vorrätig waren, verlangte, man solle im Stalle nachschauen, und daß er, obwohl damals abgewiesen, am Tage der Tat vormittags wieder Eier kaufen wollte; daß er am Nachmittage desselben Tages barfuß in die Gaststube kam und, da dort niemand anwesend, ohne weiteres in das Nebenzimmer trat, wo das Geld war. Als er dann die Haus- hälterin erblickte, verlangte er allerdings ein Glas Most Man vermutete, er habe schon bei diesen Gelegenheiten den Diebstahl verüben wollen, zu dem ihn seine genaue Kenntnis der Örtlichkeit und der Personverhäitnisse befähigte.

Die Gendarmerie erhob weiter, daß vor 1 IVi Jahren in einer anderen Wirtschaft 24 h abhanden kamen, die dann B. L., zur Bede gestellt, zahlte; und daß er an einem Februarabende im Jahre 1904 in einem Bäckerladen unter verdächtigen Umständen betreten wurde; endlich daß er am fraglichen Abende auf einige Zeit seine Wohnung verlassen habe und während dieser Zeit den Diebstahl verübt haben könne.

Die Gendarmerie verhaftete daher B. L. Dieser leugnete, den Diebstahl begangen zu haben, und gab an, er sei an jenem Abende gegen 7 Uhr nach Hause gekommen, habe zu Abend gegessen, dann im Konsumverein Einkäufe besorgt, sei gegen 8 Uhr nach Hause gekommen und dann von diesem nicht mehr weggegangen, habe vielmehr mit seinen Familienangehörigen bis gegen ^112 Uhr nachts Karten gespielt. L. blieb auch während seiner Einlieferung in die bei zwei Stunden entfernte Frohnveste des Bezirksgerichtes beim

328 XVL Jung

Leugnen, obwohl ihm der Gendarm die gegen ihn gesamnuelten Be- weise mit dem Bemerken vorhielt, daß er ^jedenfalls der Täter^ sei, und ihm sagte, es sei daher besser zu gestehen, dann sei auch die Verhaftung nicht nötig. In der Frohnveste angelangt, wiederholte der Gendarm seine Aufforderung, zu gestehen, und drückte sich dahin aus, wenn L. die Wahrheit sage, dann könne er „schon'' oder „bald^ gehen. Als nun vom Gefangenenaufseher die Schlüssel in die Hand genommen wurden, erklärte L., daß er das Geld zwar nicht selbst gestohlen, wohl aber die Schachtel samt Geld am gegenständ- lichen Abende vor der Wirtschaft des J. B. auf der Straße von einem unbekannten Burschen in seinem Alter erhalten habe.

Vor dem Untersuchungsrichter gestand L. ein, den Diebstahl ver- übt zu haben. Er habe sich wollen einen Anzug kaufen, wozu er kein Geld gehabt, sei an jenem Abende (nähere Zeitangabe fehlt) zur Wirtschaft des J. B. gegangen, da er öfters Gelegenheit gehabt hatte^ dort den Aufbewahrungsort des Geldes zu sehen, habe sich überzeugt, daß niemand im Gastzimmer ist, sei durch dieses in das Nebenzimmer und habe die Schachtel samt Inhalt genommen (über den Ort des Austrittes aus dem Zimmer fehlt eine Angabe). Die Schachtel habe er sofort in einen Winkel des Biergartens jener Wirtschaft geworfen^ das Geld zu Hause in ein Säckchen getan, das er im Schlafzimmer der Mutter, während diese geschlafen (I), unter einem losen, unter der Bettstatt (!) befindlichen Brette des Fußbodens versteckt habe. Wie viel er Geld genommen habe, wisse er nicht; er habe es nicht gezählt.

Die weiteren Erhebungen ergaben zu Lasten L'. nichts; denn die Angabe der Haushälterin bei J. R., sie habe um V2 10 Uhr abends beim Stadel eine Mannsperson „ungefähr von der Größe des L." ge- sehen, von der sie annahm, sie habe das Gespräch im Gastzimmer belauschen wollen, liefert keinen Beweis gegen L. Dieser war schon am Tage nach der Tat zur Mittagszeit verhaftet worden und befand sich im Besitze von nur 44 h. Allerdings hatte er vormittags einige kleine Ausgaben gemacht, die er aber mit dem Gewinne beim Karten- spiel am Vorabende aufklären konnte.

Das Geld wurde an der von L. bezeichneten Stelle nicht ge- funden; ebensowenig die Blechschachtel. Seine Angaben über die Art des Diebstahls (Einschleichen durch das Gastzimmer und Tragen der Beschuhung) wurden vom Bestohlenen als bestimmt unrichtig erklärt: Der Dieb müsse vom Hausgange und ohne Schuhe in das Nebenzimmer gekommen sein.

Über den Aufenthalt des L. an jenem Abende wissen wir: Eine Frau begleitete ihn vom Konsumvereine nach Hause und verließ dieses

Unwahre Geständnisse. 829

noch vor V^ ^ Uhr. Sofort darauf machte ein Schwager des L. diesen auf einen Mann aufmerksam, der in geringer Entfernung vor dem Hause auf und ab ging ; er schickte L. zu jenem ; L. ging hin, glaubte (falschlich, wie sich später herausstellte), einen gewissen L. fi. zu erkennen, sprach mit ihm einige Worte und wurde von seinem Schwager, der sich auf kurze Zeit entfernte, noch ins Haus zurück- gehen gesehen (auf dieses kurze Verlassen des Hauses dürfte sich die Angabe der Gendarmerie vom Verlassen der Wohnung bezogen haben). Der Schwager kam noch vor 9 Uhr ins Haus zurück und spielte mit L. und den anderen Familienangehörigen bis yi\2 Uhr nachts Karten. Sowohl der Schwager als die Mutter des L. erklären mit Bestimmtheit, daß dieser während dieser ganzen Zeit das Haus nicht verlassen hat Die Mutter gibt auch an, daß es ganz unmöglich ist, daß ihr Sohn das Geld auf die von ihm bezeichnete Weise ver- steckt habe.

Als der Untersuchungsrichter von L. weitere Aufklärungen ver- langte, erklärte L., er habe den Diebstahl nicht begangen, „er habe das Geständnis nur aus Furcht gemacht, er habe gemeint, im Falle seines Geständnisses werde er sogleich freigelassen^. Auch die 24 h, von denen oben gesprochen wurde, habe er nicht gestohlen gehabt, sondern diese nur gezahlt, damit er nicht von Gendarmen verhört oder gar abgeführt werde. Auch im Bäckerladen (1904) sei er mit Unrecht verdächtigt worden, einen Diebstahl versucht zu haben.

Wenn die Angaben seiner Angehörigen richtig sind, so ist es zweifellos, daß L. der Dieb nicht sein konnte. Nur unter dieser Voraussetzung ist es erklärlich, warum L. nicht wußte, daß zur Zeit der Tat im Gastzimmer Gäste anwesend waren, daß er die Höhe des gestohlenen Geldes auch nicht annähernd angeben konnte, daß er (notgedrungen) falsche Angaben über den Verbleib des Geldes und der Schachtel machte, daß er vermied, genaue Angaben über die Zeit des Diebstahls und seine Entfernung vom Wohnhause zu machen.

L. ist nicht nur erst 16 Jahre alt, sondern hat auch die Volks- schule durch 7 Jahre ' mit so geringem Erfolge besucht, daß er seinen eigenen Angaben nach nur seinen Namen lesen und schreiben kann; er stammt aus einer geistig belasteten Familie. Dem Untersuchungs- richter fiel auf, daß L. während des Verhöres eigentümlich spähende Blicke zu dem Drehkhopfe des elektrischen Lichtes warf und sich selbst dann nicht ganz beruhigte, als ihm der Zweck jener Vorrichtung erklärt worden war. L. äußerte auch Furcht, in dem Arreste zu bleiben, da sich dort einer aus dem gleichen Ort einige Zeit früher erhängt hatte.

330 XVI. Juno

Bei solchem Geisteszustände ist es erklärlich^ daß L. auf die wiederholte Aufforderung des Gendarmen, den Diebstahl, dessen er doch überwiesen sei, einzugestehen, in der Hoffnung, dem gefürchteten Arreste zu entrinnen, dessen Schrecken ihm schon der Klang der Schlüssel einflößte, ein falsches Geständnis ablegte.

Das Verfahren wider ihn wurde eingestellt, der wirkliche Dieb bisher nicht ausgeforscht (Akt Z 50/7 des Bezirksgerichtes Dombim.)

XVIL Ein Fall gewohnheitsmässiger Majestätsbeleidigang.

Mitgeteilt von

Dr. Max FoUak, Hof- und Gerichtsadvokat in Wien.

Der Maurer J. T., im Jahre 1852 in Wien geboren und eben- dahin Zuständig, begann seine Verbrecherlanfbahn gelegentlich seines Militärdienstes. Nebst einer Reihe von Disziplinarstrafen zog er sich daselbst eine dreimonatige Kerkerstrafe wegen Veruntreuung, eine dreitägige Arreststrafe wegen Kameradschaftsdiebstahls und eine drei- monatige Straf haft wegen Verkaufes eines ärarischen Montur- stückes zu.

In der Folge erlitt er nachstehende Strafen: Im Jahre 1873 vom Bezirksgericht Stockerau 8 Tage Arrest wegen

Landstreicherei; im Jahre 1874 vom Bezirksgerichte in Krems 48 Stunden Arrest wegen

Landstreicherei; im Jahre 1874 vom Landesgerichte Wien wegen Diebstahls 15 Monate

schweren Kerker und Stellung unter Polizeiaufsicht; im Jahre 1876 vom Landesgerichte Wien wegen Diebstahls 5 Jahre f schweren Kerker;

im Jahre 1882 vom] Landesgerichte Wien wegen Veruntreuung 4 Mo- nate strengen]Arrest;^ im Jahre 1882 vom Bezirksgerichte Weitz wegen Landstreicherei 2 Tage Arrest Nun folgen eine ReiheJ von Abstrafungen wegen Majestätsbelei- digung,, welche J. T. geradezu typisch in der gleichen Weise began- gen hat.

Im Jahre 1882 befand sich T. wegen Verdachtes des Diebstahls in Verwahrungshaft im Gemeindearrest von Brück a. d. Mur. Dort schrieb er einen Zettel mit unflätigen Äußerungen über „Den, der un- sere^Gesetze sanktioniert hat^, und schließt mit den Worten: „darum

332 XVD. PoLLAK

ist jeder, der ein kaiserliches Amt bekleidet, ein Lump. Nehmen Sie dies zu Protokoll; ich bin nicht etwa närrisch, sondern ganz ver- nünftig^, und gab diesen Zettel dem Wachmanne znr Befördemng an den Gemeindesekretär.

Als Motiv dieses Deliktes gab T. damals an, er habe das Delikt begangen, um von Brück a. d. Mur an ein anderes Gericht überstellt zu werden, da er es in dem dortigen Gemeindearreste nicht anshalte. J. T. wurde dieserhalb wegen Majestätsbeleidigung vom Kreisgerichte Leoben zu dreijährigem schweren Kerker verurteilt, den er 1885 verließ.

Noch im selben Jahre meldete er sich auf dem Polizeikommissa- riate Leopoldstadt unter dem Namen Karl Eausch und äußerte, als er dem diensthabenden Beamten vorgeführt wurde, fast wörtlich so, wie in dem genannten Zettel. Er gab diese Worte auch zu Protokoll und fügte hinzu: ^Diese Worte sagte ich, um meine Erbitterung über meine Lage auszulassen .... Ich sagte dies zu dem Zwecke, um über den Winter eingesperrt zu werden.**

Beim Untersuchungsrichter bestätigte er die Richtigkeit dieser Äußerung, leugnete aber die Absicht, hierdurch eine Versorgung zu finden; er meinte: „Ich war damals gereizt, weil ich ganz mittellos war, getrunken hatte ich auch was, und da mich der Kommissar schimpfte, wurde ich böse und machte die beleidigende Äußerung." Bemerkt sei, daß T., der sich ibeim Kommissariate als Bausch mel- dete, das Protokoll mit seinem richtigen Namen unterschrieb. Dies- mal wurde T. wegen Majestätsbeleidigung und Falschmeldung zu einer 18 monatigen schweren Kerkerstrafe verurteilt. Kaum hatte er diese Strafe verbüßt, so wurde er 1887 vom Landesgerichte Graz wegen Maje- stätsbeleidigung zu 4 Jahren schweren Kerkers verurteilt Er befand sich damals in Haft des Bezirksgerichtes Birkfeld und gab dem Ge- fängnisaufseher einen Brief zur Vorlage an das Gericht mit dem gleichen Inhalte, wie ihn der erstgenannte Zettel von 1882 enthält

Damals gab T. als Motiv an, er sei aufgeregt gewesen, der Ge- richtsadjunkt habe ihn einen Gauner genannt, weil er immer unter Polizeiaufsicht sei.

Nach Abbüßung der Strafe und einer kurzen Strafhaft beim Be- zirksgerichte Baden wegen § 1 Vagabundengesetz, erscheint er im Jahre 1891 vom Landesgerichte Wien wieder wegen Majestätsbelei- digung mit 4 Jahren schweren Kerker bestraft Er war damals beim Bezirksgerichte Baden in Haft gewesen und gab während seiner Es- korte nach Wien einen Brief an die Kabinettskanzlei auf, welcher begann:

Ein Fall ^wohnheitsmäßiger Majestfttsbeleldignng. 833

^An die Hof- und Eabinetts-Kanzlei in Wien.

Ich wurde in Graz eines Verbrechens wegen zu einer vierjährigen Eerkerstrafe venirteilt. Gleichzeitig wurde über mich die Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Durch Vermittlung einer mir befreundeten Person entfiel diese Abgabe, Mit Freuden ging ich in meine Heimat, mit dem Bewußtsein zu arbeiten und ein braver Mensch zu werden. Doch ich erfuhr eine bittere Enttäuschung. Nachdem ich der k. k. Polizei-Direktion zur Verfügung überstellt wurde, bekam ich neuerdings die Polizeiaufsicht. Ich bekam kein Dokument, konnte mich nicht legitimieren, und so war alles mit einem Schlage ver- nichtet, so zwar, daß ich in Baden neuerdings 10 Tage Arrest bekam. Nachdem ich einsehe, daß man mich gewaltsamerweise ins Zuchthaus bringen will, so soll es nur um den Preis meines Lebens sein.^

Nun folgen wieder dieselben Schmähungen wie früher, es werden aber noch Drohungen gegen den Eaiser beigefügt.

Als Motiv gab er, bei der Polizei einvernommen, an: „Aus wel- chem Grunde ich das gethan habe, weiß ich nicht. Ich bin hie und da so aufgeregt, wenn ich über meine Lage nachdenke, daß ich dann meiner Sinne nicht mächtig bin.^

Bemerkt sei, daß bei der Verhaftung sich bei J. T. ein dem Brief wörtlich gleichlautendes Eonzept vorfand. Beim Untersuchungsrichter darüber einvernommen^ gab er an: „Als ich am 7. VII. 1. J. meine letzte wegen Verbrechens der Majestätsbeleidigung vom Landesgerichte in Graz vierjährige mir zuerkannte Strafe abgebüßt hatte, wurde ich nach Wien abgeschoben. Ich hatte damals einen Uberverdienst von 4 fl. 70 kr. aus der Strafanstalt bekommen. Ich wollte mich hier als Maurergehilfe fortbringen und begab mich zum Magistrate], um mir ein Arbeitsbuch ausstellen zu lassen. Ich erhielt dies jedoch nicht, da ich den Lehrbrief nicht -beibringen konnte. Dies, sowie der Um- stand, daß ich unter Polizeiaufsicht gestellt wurde, machte mich ganz verzweifelt Planlos kam ich nach Baden und wurde daselbst wegen Nichtbefolgung der polizeilichen Vorschriften in Haft genommen und vom Bezirksgerichte Baden mit 3 Tagen Arrest bestraft Den Anlaß zur Absendung des mir hier vorgewiesenen Briefes an die Eabinetts- kanzlei Seiner Majestät des Eaisers habe ich bereits in meinem poli- zeilichen Protokolle angeführt. Ich kann auch heute nur wiederholen, daß ich nicht weiß, warum ich dies getan habe; es war ein Akt der Verzweiflung über die desperate Lage, in der ich mich befand.^

Aus dieser Straf haft entlassen, wurde er 1895 wieder vom Lan- desgerichte Graz wegen Majestätsbeleidigung zu 4 Jahren schweren

334 XVU. POLLAK

Kerker verurteilt Er schickte damals selbst eine Karte an die k. k. Staatsanwaltschaft mit dem Inhalte des Zettels von 1882.

Er verantwortete sich damals, er habe um einige Sechser! Bier und Schnaps getrunken, da könne man bald närrisch werden; es sei ihm jede Absicht fem gelegen, den Kaiser zu beleidigen, er habe auch nicht die Absicht gehabt, sich eine Versorgung zu verschaffen, er müsse unzurechnungsfilhig gewesen sein.

Er wurde deshalb von den Gerichtsärzten am 11. XI. 1895 bezüg- lich seines Geisteszustandes untersucht, doch konnte weder eine habi- tuelle Geistesstörung, noch eine solche zur Zeit des Deliktes festgestellt werden.

Er verantwortete sich damals den Gerichtsärzten gegenüber da- hin, daß er eigentlich keine Majestätsbeleidigung beging, sondern daß er eine „andere Absicht^ hatte, nämlich das Bestreben nach einer Unterkunft Schon damals suchte er krank zu erscheinen: „so wie er könne doch nur ein Narr handeln".

Im Dezember 1899 aus der Haft tretend, schrieb er mehrere Kor- respondenzkarten, aus welchen deutlich das Bestreben hervorgeht, durch Begehen einer strafbaren Handlung neuerdings in den Kerker zu kommen. Zunächst schrieb er eine offene Karte an einen seiner ehemaligen Arbeitsgeber, welchen er brieflich, jedoch erfolglos, um Unterstützung ersucht hatte, folgenden Inhaltes:

„Geehrter Herr! Nachdem ich auf mein Schreiben keine Antwort erhielt, so mache ich Ihnen bekannt, daß, wenn Sie mir nicht bis morgen 12 Uhr 25 fl. pr. Postanweisung IL Bezirk poste restante senden, so schwöre ich bei Gott, daß Sie Ihre Wohnung lebend nicht betreten. Dann mag mit mir geschehen was will. J. T.^

Weiteres richtete er an das Sicherheitsbureau der Polizei-Direk- tion Wien nachstehende anonyme, jedoch offenl)ar von seiner Feder herrührende Zuschrift:

„Hochlöbliches Agenten-Institut I

Den Raubanfall auf der Landstraße vom 4. auf den 5. nachts

hat J. T. (folgt voller Namen) verübt^). Ich bitte um Diskretion.

Es wurde nämlich eine Frauensperson angefallen. J. T. hält sich in

der Branntweinschänke Igolitzer, Tandelmarktgasse IL Bezirk auf.^

Femer schrieb er an das Polizeikommissariat Leopoldstadt

eine offene Karte mit dem Inhalte des Zettels von 1882 und seinem

vollen Namen.

1) Ein solcher Raubanfall war tatsächlich kürzlich verübt worden.

Ein Fall gewohiiheitsmäßiger Majestätsbeleidi^ng. 335

Endlich schrieb er an das Polizei-Präsidium nachstehenden Brief:

„Hohes Polizei-Präsidium!

Keine Feder ist im Stande das zu schildern, wie man in der Haupt- und Residenzstadt Wien mit armen Leuten verfährt In den Armendepartement sitzen solche schuftige Kerls mitsamt den Ma- gistratsratsekretär, welche mit einer solchen Gemeinheit die Leute abweisen', daß man es gar nicht glauben kann; wenn sich irgend Jemand darüber aufhält, so ist in nächster Nähe ein Gehilfe des Henkers, die man die Vampire der Menschen nennt, beständig in der Nähe um seines Amtes zu walten.

Man rühmt in den auswärtigen Staaten die Humanität des österreichischen Kaiserstaates, aber wenn man die Sache genauer ins Auge faßt,' da muß man sich ekeln über die Zustände, die in Wien herrschen. Die k. k. Polizei-Direktion besteht, vom Präsiden- ten angefangen bis auf den letzten Wachmann aus lauter erbärm- lichen Schuften, die selbst schlechter sind, als der gemeinste Ver- brecher. Ihre Hauptaufgabe besteht, nur Verbrecher heranzuziehen, die sie dann mit eisernen Klammem festhalten, bis einem solchen Menschen der letzte Blutstropfen ausgesogen wird, daß er nicht mehr fähig ist zu arbeiten.

Und die Männer, die im Reichsrate sitzen, schauen zu, sie wissen, daß die allmächtige Polizei in Wien aus lauter Schuften besteht, aber machen trotzdem nichts. Darum sind diese Herren auch nicht viel besser. Nach meiner Ansicht noch viel erbärmlicher. Sie machen Ge- setze, aber was für Gesetze? Lauter solche, wo man den Leuten das Geld aus der Tasche stiehlt unter dem Verwände : es gehört für den Staat.

Pfui Teufel, wenn sie nichts anderes zusammenbringen. Da soll man solche Gesetze respektieren. Ich nicht, denn solche Ge- setze sollen diejenigen halten, die es machen. Die ganze Beamten- schaft Österreichs ist keinen Schuß Pulver wert.

Wenn ich zu schaffen hätte, ich würde sie alle, einen nach dem anderen auf einem hohen Galgen baumeln lassen.

Unser edler Monarch würde gewiß anders handeln, aber leider er ist zu gut, unser Kaiser, das wissen die Herren im Reichsrate, darum machen sie was sie wollen. Darum sage ich offen: Ver* tilget diese Beamtenbrut alle ohne Ausnahme. Nur dann kann es besser werden in Österreich.

Ich bitte diese Zeilen zu veröffentlichen.

Der Schreiber befindet sich im städtischen Werkhause. ^

J. T.

(voller Namen).

336 XVn. POLLAK

Beim Untersuchongsricfater einyeroommeny gab er an: ^Ungefähr 2 3 Tage nach meiner Freilassung wurde mir vom Magistrate der Betrag von 25 fl., welche ich mir in der Strafanstalt erspart hatte, ansgefolgt, und von diesem Betrage lebte ich. Ich habe mehrfach versucht, Arbeit beim Schneeschaufeln zu bekommen, es gelang mir aber nicht, und ich trat daher am 12. oder 13. d. Mts. in das städtische Werkhaus in Arbeit, da ich nur mehr ca. 2 fl. in meinem Vermögen hatte. Nach 2 Tagen verlangte ich meine Entlassung und habe dann die den Akten beiliegenden Briefe und Korrespondenz- karten an die Polizei-Direktion geschrieben.''

,,Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, die Briefe an die Polizei zu schreiben, es packt mich öfters eine Wut über mein unglückliches Schicksal, und dann setze ich mich hin und schreibe derartige Briefe über den Kaiser und die Behörden. Die Karte, in der ich mich selbst des Baubanfalles beschuldige, habe ich geschrieben, um die Polizei auf mich aufmerksam zu machen und weil ich hoffte, dadurch ver- haftet zu werden. Ich habe in der Zeitung von dem Baubanfalle ge- lesen und habe dann diese Karte geschrieben. Die Karte an Schmalz- hofer, der früher mein Lehrherr war, habe ich geschrieben, weil ich hoffte, daß mir Schmalzhofer aus Furcht vor meiner Drohung Geld schicken würde."

Mit Urteil des Wiener Landesgerichtes vom 20. Januar 1900 wurde T. wegen Majestätsbeleidigung und Erpressung zu einer fünfjährigen schweren Kerkerstrafe verurteilt, aus welcher er 1905 entlassen wurde.

Am 3. März 1905 richtete er an die k. k. Hof- und Kabinetts- kanzlei einen Brief, in welchem er dem Kaiser in unflätiger Weise prophezeite, er werde ermordet werden.

Im städtischen Werkhause, wo er damals in Arbeit stand, aus- geforscht und der Polizei vorgeführt, gab T. über das Motiv dieses Schreibens an, er könne darüber gar nichts sagen; es kommen über ihn oft eigentümliche Momente, so daß er nicht wisse, was er mache. Beim Untersuchungsrichter fügte er hinzu, daß er am 3. März nicht betrunken gewesen sei, sich aber erst im Augenblick, als ihm bei der Polizei der Brief gezeigt wurde, erinnert habe, diesen geschrieben zu haben. Er verstehe überhaupt nicht, wie er den Brief geschrieben haben konnte. Aber er habe oft Momente, in denen seine Sinne völlig wirr seien. Er fügt bei: „Ich leugne entschieden, daß ich es getan habe, um mir eine Versorgung in der Strafanstalt zu verschaffen. Seit ich in Graz auf meinen Geisteszustand hin untersucht wurde, hat sich mein nervöser Zustand bedeutend verschlechtert, und habe ich insbe- sondere manchmal jedes Erinnerungsvermögen verloren. Ich bitte da-

Ein Fall gewohnheitsmäßiger Majestätsbeleidigang. 837

her um Untersuchung meines Geisteszustandes, da ich sicher glaube, daß ich die Handlung in einem Zustande momentaner Geistesabwesen- heit begangen habe; ich weiß nicht was in dem Briefe steht, da mir bisher nur die Unterschrift und die Adresse gezeigt wurden, die ich als von meiner Hand herrührend anerkannte/

Von den Gerichtsärzten auf seinen Geisteszustand untersucht, gab T. an (aus dem gerichtsärztlichen Gutachten):

Wo und wann er den Brief geschrieben habe, wisse er nicht, vielleicht habe er Schnaps getrunken und er sei dadurch in Zorn geraten, er wisse nichts vom Briefe, er habe ein schlechtes Gedächt- nis, er merke sich auch öfters einen Namen nicht und so wisse er auch über das Delikt nichts. Es müsse eine Art Krankheit sein, die ihn wie ein Zwang befällt und dazu treibt, die Briefe zu schreiben. Er sei krank, vielleicht könne man diese Art von Krankheit nicht konstatieren. Er habe nicht das Motiv gehabt, eingesperrt zu werden ; auch früher nicht Über Vorhalt seiner damaligen Angaben meint er, wenn es in den Akten stehe, dann müsse es wohl so sein, aber jetzt wisse er kein Motiv zu seinem Delikte. Wenn er in Freiheit wäre und es würde außerkriminell sein Geisteszustand untersucht werden, würde man vielleicht ein anderes Urteil über ihn und seine unglückselige Schreiberei abgeben. Er gibt zu, daß er schon Arbeit hätte bekommen können, aber jede Arbeit nehme er auch nicht an, er habe Bekannte als Maurer und da geniere er &ich, Straßen zu kehren. Übrigens, wenn er ein paar Kreuzer habe, denke er nicht auf die Arbeit und wenn der letzte Kreuzer weg ist, verdrieße ihn alles.

Bezüglich überstandener Krankheiten gibt Ink. an, bei der Kriegs- marine an Trachom gelitten zu haben, in der Strafhaft einmal einen Bronchialkatarrh gehabt zu haben und einmal von einer Katze in die Hand gebissen worden zu sein.

Ink. zeigt eine seinem Bildungsgange entsprechende Intelligenz, er rechnet prompt 11 x 12 132, 35+17 52, er paßt gut auf und reproduziert entsprechend.

In seinem Äußern macht er einen sehr verwahrlosten Eindruck, apathisch, gleichgütig. Er zeigt ein gedunsenes Gesicht mit schlaffen Gesichtszügen, die Pupillen sind gleich und reagieren prompt, Zunge und Finger zeigen einen lebhaften Tremor, die Zunge ist belegt und weicht beim Vorstrecken eine Spur nach links ab ; am linken Vorder- arm ist er tätowiert; am linken Handrücken eine Krone, am linken Unterarm ein Kreuz und gekreuzte Ochsenhömer und T. J. 1868. Die Herztöne sind dumpf, der Puls 84 regelmäßig, die Kniesehnen-

Arehir fflr Kriminalaiithropologie. 28. Bd. 22

338 XVII, POLLAK

reflexe sind vorhanden, bei AagenBchlnß besteht kein Schwanken; am Penis fällt die Pbimosis auf.

Die Gerichtsarzte gaben auf Grand ihres Befundes nachstehendes Gutachten ab:

„Was zunächst die Beurteilung des habituellen Geisteszustandes des Inkulpaten betrifft, so ergibt sich aus dem vorstehenden Be- funde, daß er völlig orientiert, klar und geordnet ist, rasch auffaßt und gut reproduziert Auch aus den anamnestischen Daten ergibt sich kein aetiologischer Grund, der auf eine zu gewftrtigende Geistesstörung schließen ließa Der Inkulpat ist nicht here- ditär belastet, wenigstens ließ sich eine erbliche Belastung nicht nachweisen. Seine Entwicklung ging glatt vor sich. Die Krankheiten, die er überstand, Scharlach, Schafblattern, Eopftyphns haben keine weiteren Folgen für seinen Geisteszustand mit sich gebracht und auch der Sturz von der Leiter im 24. Jahre hat keine Gehirnerschütterung oder sonstige üble Folgen bei ihm gezeigt

Früh schon machte sich bei ihm der Hang zur Masturbation geltend, der er bei der Kriegsmarine und in den verschiedenen Strafanstalten weiter oblag, so daß er nach seiner Angabe im sexuellen Verkehr mit Frauen keine rechte Befriedigung habe und es nicht zum Samenerguß komme. Diese Erscheinung mag auf seine von Kindheit auf betriebene Masturbation zurückzuführen sein.

Eine weitere schwerere Erkrankung hat Inkulpat nicht erlitten, doch hat er in den Tagen seiner Freiheit dem Schnapsgenusse gehuldigt

Schon frühzeitig machten sich bei dem Inkulpaten moralische Defekte geltend, die sich durch schlaffere Erziehung und schlechte leichtsinnige Gesellschaft entwickelten. Er versuchte es erst in ver- schiedenen Lehren bei einem Riemer, dann bei einem Schlosser, doch blieb er nirgends, bis ihn sein Vater zur Kriegsmarine gab. Hier ging es einige Zeit in der strengen Zucht, doch kamen auch hier seine moralischen Defekte zur Geltung, er wurde wiederholt wegen Veruntreuung und Diebstahls bestraft und schließlich wegen Verkaufs ärarischer Monturstücke nach Bestrafung degradiert und entlassen. Seit dem Jahre 1872 erscheint er nun fort kriminell und hat bereits 28 Jahre Straf haft hinter sich.

Im Jahre 1881 erhielt er sein väterliches Erbteil von 2200 fl., das er in kurzer Zeit in leichtsinniger Gesellschaft vergeudete, während er keinerlei Arbeit suchte. In den verschiedenen Straf- haften wurde er wiederholt wegen Renitenz, Aufwiegelung und groben Benehmens disziplinariter gemaßregelt

Ein Fall gewohnheitBinäßiger Majestätsbeleidigung. 339

In den kurzen Pausen, in denen er die Freiheit genoß, lebte er in den Tag hinein, trank mit leichtsinnigen Gesellen, suchte keine Arbeit und wenn er kein Geld mehr hatte, beging er eine Majestätsbeleidigung, um, wie er selbst wiederholt in den Vorakten angab, seine mißliche Lage zu ändern.

Er steht nun bereits das 7. Mal wegen Majestätsbelei- digung vor Gericht, nachdem er schon 21^2 Jahre wegen dieses Deliktes Strafhaft verbüßte.

Dabei liegt der Gedanke nahe, ob nicht der Inkulpat infolge einer psychischen Störung beständig immer dasselbe Delikt begeht, wie es etwa auf Grund von Wahnideen vorkommen könnte. Die genaue Untersuchung^ seines Geisteszustandes hat aber ergeben, daß er keinerlei Wahnideen darbietet, daß er gut auffaßt und für alle Begebenheiten, die nicht sein jetziges Delikt betreffen, ein gutes Erinnerungsvermögen zeigt Er urteilt ganz richtig, zeigt keinerlei Intelligenzdefekte und zeigt eine ziemlich gewshidte Redeweise. Auch Zeichen einer periodischen Geistesstörung bietet der Inkulpat nicht dar. Es kann also von einer habituellen Geistesstörung bei dem Inkulpaten nicht gesprochen werden, wohl ist er aber ein moralisch herabgekommenes Individuum, das verschiedene Inner- vationsstörungen : Schlaffheit des Gesichtes, leichtes Abweichen der Zunge beim Vorstrecken, Tremor der Zunge und Finger darbietet Dazu kommt noch seine erhöhte Reizbarkeit Diese nervösen Symptome bilden aber nur einen Grund für verminderte Wider- standsfähigkeit bei Begehung von Delikten.

Was nun den Geisteszustand des Inkulpaten zur Zeit des Deliktes betrifft, so gibt er derzeit an, daß er sich nicht erinnere, den Brief geschrieben und befördert zu haben. Solche Handlungen, an welche nachträglich die Erinnerung fehlt, können in psychischen Ausnahmszuständen, in Dämmerzuständen, die auf alkoholischer, epileptischer, hysterischer oder toxischer Basis beruhen, statt- finden. Für alle derartigen pathologischen Zustände fehlen aber bei dem Inkulpaten alle Symptome. Er hat weder hysterische noch epileptische Symptome, noch gibt er einen Rauschzu- stand zu.

liegt einerseits keinerlei pathologische Basis vor, auf Grund welcher solche Ausnahmezustände eingetreten wären, so zeigt andererseits die Schrift und der Stil des Briefes keinerlei Zeichen eines abnormen Geisteszustandes zur Zeit des Schreibens, und außerdem muß erwogen werden, daß die Art des Deliktes doch eine planmäßig verfolgte ist, da ja Inkulpat zuerst den Brief

22*

340 XVn. POLLAK

schreiben und ihn dann znm Postkasten tragen mnßte, was doch eine gewisse Z^t in* Ansprach nimmt

Während /^keinerlei pathologische Momente vorliegen, daß In- kulpat znr Zeit des Deliktes in einem psychischen Ansnahmsznstand war, liegen eine Reihe von Momenten vor, daß er das Delikt vor- sätzlich begangen hat und absichtlich einen Erinnemngsdefekt für die Zeit des Deliktes angibt Zunächst hat er schon bei der Polizei Zügegeben, daß er sich erinnere, den Brief selbst in den Briefkasten geworfen zn haben, während er jetzt sich an nichts erinnern will. Das sind Widersprüche, die nicht in pathologischen Gründen liegen. Im Jahre 1895/1899 und auch jetzt hat er selbst um die Unter- suchung seines Geisteszustandes gebeten. Es konnte schon im Jahre 1895 an ihm eine Geistesstörung im Sinne des § 2 Str.G. nicht konstatiert werden und im Jahre 1899 erregte er den Ver- dacht, daß er sich eine bessere Versorgung in der Irrenanstalt da- mit verschaffen wolle.

Für seine Angabe, er verliere zeitweise sein Erinnerungsver- mögen, fehlt jedoch jede pathologische Grundlage.

Wenn er angibt, daß er eigentümliche Zustände habe, etwa so, wie er in der Zeitung las, daß die Kleptomanen unter unwider- stehlichem Zwang einen Diebstahl vollführen müssen in denen er also unter einem förmlichen unwiderstehlichen Zwang zum Schreiben der Briefe mit der Majestätsbeleidigung hingetrieben würde, so muß erwähnt werden, daß es solche monomanische Triebe ohne Grund- lage einer anderweitigen psychischen Störung nicht gibt Bei einem solchen unwiderstehlichen Zwange würde ihm überdies dann die Erinnerung an das Delikt fehlen.

Das Motiv des Deliktes war bisher immer seine mißliche Loge. Schon im Jahre 1882 hat er selbst angegeben, er habe die Majestätsbeleidigung begangen, um in ein anderes Gericht über- stellt zu werden, da er es im Gemeindearrest in Brück nicht aus- hielt; im Jahre 1885 gab er selbst als Motiv an, das Delikt der Majestätsbeleidigung begangen zu haben, um aus seiner mißlichen Lage herauszukommen; im Jahre 1887 und 1891 motivierte er das Delikt mit Aufregung in seiner mißlichen Lage. Seit dem Jahre 1895 versucht er nun immer wieder das Delikt auf seine psychische Störung zurückzuführen, für die jede pathologische Grundlage auch jetzt fehlt Auch vor dem jetzigen Delikte hat er sich in einer mißlichen Lage befunden, sein Geld (120 K.), mit dem er am 29. Januar 1805 aus der Strafhaft in Stein entlassen wurde, war zu Ende, um eine Arbeit scheint er sich nicht umgesehen

£m Fall gewohnheitBinSßiger Majestätsbeleidigung. 341

ZU haben und er mußte nun das Asyl und das Werkbaus auf« suchen.

Seine Lage und morose Stimmung, unterstützt vielleicht von Alkoholgenuß} scheinen ihn wieder zu dem Delikte bewogen zu haben, um sich eine Unterkunft zu verschaffen. Bei seiner mora- lischen Abstumpfung scheint die Strafhaft für ihn nichts Abstoßendes mehr zu haben.

Der Inkulpat ist demnach ein haltloses, moralisch völlig ab- gestumpftes Individuum, das weder eine dauernde Geistesstörung im Sinne des § 2a St.6. aufweist, noch zur Zeit des Deliktes im Sinne des § 2b und c St.6. geistig gestört erschien. Seine Halt- losigkeit und seine nervösen Beschwerden bedingen nur eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Antriebe zum Delikte."

Das kk. Landesgericht Wien in Strafsachen verhängte über

Trittinger mit Urteil vom 27. April 1905 6. Z. ^^-^ wegen

Verbrechens der Majestätsbeleidigung und der Beleidigung von Mit- gliedern des kaiserlichen Hauses eine fünfjährige schwere mit einem Fasttag vierteljährlich verschärfte Eerkerstrafe. In den sich im wesentlichen an das Gutachten der Psychiater anschließenden Gründen wird als vermutlicher Beweggrund für die Handlungs- weise des Angeklagten dessen Absicht bezeichnet, neuerliche weitere Versorgung im Strafhause zu finden. Bei der Strafbemessung wurde als mildernd das Geständnis und die geistige Minderwertig- keit des Angeklagten, als erschwerend die Konkurrenz zweier Verbrechen, der sechsmalige Rückfall und dessen Raschheit an- genommen. Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte die Nichtigkeitsbeschwerde, nicht aber die Berufung an. Diese wurde vom kk. Kassationshofe in nichtöffentlicher Sitzung verworfen. Der Angeklagte büßt seine Strafe derzeit in der Strafanstalt Stein a. d. Donau ab.

Von dort aus wendete er sich gegen Ende 1905 brieflich an mich mit der Bitte, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinen Gunsten zu erwirken. Er behauptete, nicht zu wissen, auf welche Weise der inkriminierte Brief zustande gekommen und zur Post aufgegeben worden sei und berief sich zum Beweise dafür, daß nicht er dessen Urheber gewesen, auf Zeugen, die mit ihm im städtischen Werkhause zusammen gewesen seien, die aber, als ich sie einvernahm, nichts Sachdienliches anzugeben wußten.

Zu Beginn des Jahres 1906 besuchte ioh den J. T. in der

342 XVII. POLLAK

Strafanstalt, um aus eigener Wahrnehmung ein Bild des mir in mancher Hinsicht rätselhaft erscheinenden Falles zu gewinnen. Die Erklärung, die das landesgerichtliche Urteil ftir die Motive der strafbaren Handlung gab, das Streben des Angeklagten nämlich nach neuerlicher Versorgung im Strafhause, schien mir mit seinem Verhalten nach seiner Verurteilung nicht ganz in Einklang.

Ich fand in ihm ein äußerlich den Anschein völliger geistiger Gesundheit erweckendes Individuum, welches sich klar und geordnet ausdruckte, von seiner Lage mit Ruhe und Gefaßtheit als einer ohne sein Verschulden durch Verkettung unglücklicher Zufälle herbei- geführten sprach und durchblicken ließ, daß er sich in der Anstalt höchst unglücklich fühle. Auf näheres Befragen gab er an, seine Situation hauptsächlich deshalb unangenehm zu empfinden, weil er von seinen Mithäftlingen, größtenteils schweren Berufsverbrechern, als „freiwilliger Zuchthäusler'^ gehänselt und über die Achsel an- gesehen werde.

Die Strafanstaltsbeamten erklärten mir seine Unzufriedenheit damit, daß er während seiner früheren Strafzeiten als Maurer in der Anstalt zu arbeiten pflegte und als solcher verhältnismäßige Freiheit genoß. Während seines letzten Aufenthaltes außerhalb der Anstalt sei aber diese Funktion anderweitig besetzt worden, so daß J. T., als er in die Anstalt zurückkehrte, eine andere, ihm offenbar nicht konvenierende Arbeit zugeteilt wurde. Er sei übrigens ein durchaus harmloses, sich in jeder Hinsicht gut aufführendes In- dividuum und an das Anstaltsleben so gewöhnt, daß bei seiner jedesmaligen Entlassung aus der Strafanstalt seiner Rückkehr nach kurzer Zeit als etwas Selbstverständlichem entgegengesehen werde.

Unter diesen Umständen, und da auch Anhaltspunkte für eine neuerliche Untersuchung seines Geisteszustandes mangelten, mußte ich meine Bemühungen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken, als aussichtslos einstellen. Gleichwohl schienen mir die geschilderten Tatsachen zu einer Erklärung seines Verhaltens nicht völlig ausreichend. Es ist auf den ersten Blick zweifellos sehr plausibel, anzunehmen, daß J. T. sowie in früheren Fällen, einfach die ihm zur zweiten Heimat gewordene Strafanstalt wieder beziehen wollte und zu diesem Zwecke die inkriminierte Miyestätsbeleidigung beging; und selbst sein damit kontrastierendes Bestreben, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken, ließe sich aus den oben mitgeteilten Umständen erklären, die ihm diesmal den Anstalts* aufenthalt weniger angenehm als sonst erscheinen lassen mochten« Aber damit steht in Widerspruch seine Reaktion gegen das ihn

Ein Fall gewohnheitsmäßiger Majwtätsbeleidigung. 343

koI^/"'°**5 ^kenntnis unmittelbar nach dessen Fällung. Damals

k^« a';; ^r •''"''' "•'•'* ^^°' ^ «^ *>« seiner Bückkehr Md Hn^? * '^"'*° gewohnten Maurerposten besetzt finden werde;

«•^!^ ? ' Berufung, sondern die Nichtigkeitsbeschwerde WidZl 1. \ ■'"^° gänzlichen Freispruch erstrebt Dieser Fa^T^K 1? ?^^"** "^ •'^ °'"' unlösHch, wie denn der ganze ^1 überhaupt eine bittere Ironie auf den Zweck der Strafe einer- sa«, auf unsere sozialen Zustände andererseits erscheint Der wM-hSf.'" ,f°^®° harmlose, wegen Alters und Krankheit er- rSääS. '"^''' ^''* '•'*' ^ ^^-^ Versorgung», als in

XVIIL Yersnchter Meuchelmord eines Fünfzehnjährigen.

Mitgeteilt von Dr. Biohard Bauer, k. k. StaatsanwaltsBubstitut in Troppau.

Als am 25. März 1906 Josef B. durch eine schmale Gasse des kleinen Ortes 0. in Westscblesien ungefähr um die achte Stunde abends nach Hause ging, hörte er plötzlich eine Frauenstimme rufen: „um Gottes willen, kommt mir zu Hilfe/ und sah beim Näherkommen die ihm bekannte Eaufmannsfrau Lina H. blutüberströmt mit einer Hacke in der Hand vor dem Hause eines Nachbarn stehen, woselbst sie eingelassen wurde, während Joseph B. um den im Gasthause befind- lichen Gatten der Lina H. eilte. Lina H. stammelte nur mühsam die Worte, daß sie der bei ihnen als Lehrling angestellte Rudolf 0. mit einer Hacke überfallen habe, welche sie ihm nach längerem Kampfe entriß, und verlor dann das Bewußtsein. Rudolf 0. wurde nun in der Küche der Wohnung seines Lehrherm festgenommen und dem Gerichte überstellt. Rudolf 0., am 28. Januar 1891 geboren, stammt aus anständiger Familie, genoß die gewöhnliche Volksschul- bildung und trat am 24. Juli 1904 bei dem Kaufmann H., dem Ehe- gatten der Lina H. als Lehrling ein.

Lina H., welche mit der Hacke mehrere Hiebe über den Kopf erhalten hatte, lag durch einige Wochen krank darnieder und gab nach ihrer Genesung Nachstehendes an. Sonntag, den 25. März 1906, abends, war Zeugin allein zu Hause und saß lesend in der Küche. Plötzlich es mochte ungefähr 3/4 8 Uhr gewesen sein kam 0. zu ihr und sagte: „Frau, schauen Sie, was der Kommis X. unter seinem Bette versteckt hat.^ Zeugin, welche glaubte, daß ihr 0. Gegenstände, welche X. im Geschäfte entwendet hatte, zeigen werde, begab sich nun mit 0. in die von diesem und dem Kommis X. bewohnte kleine Kammer, woselbst sie sich bückte, um unter das Bett des X. zu blicken. Kaum hatte sie dies aber getan, so erhielt sie von rückwärts zwei starke Schläge über den Kopf, wurde nun von 0. gepackt und

Versuchter Meuchelmord eines Fünfzehnjährigen. 345

ZU Boden gedrückt, so daß sie in die Knie fiel. Obwohl ihr schon das Blut in Strömen über das Gesicht rann, gelang esxihr dennoch, auf- zuspringen, worauf sie nun 0. bei den Armen faßte und ihr den Mund zuzuhalten versuchte. Da gelang es nun der Zeugin mit den Zähnen einen Finger der linken Hand des 0. zu erfassen und den- selben so mit der Anstrengung ihrer letzten Kräfte zu der versperrten Zimmertür zu schleppen, woselbst 0. nochmals die Hacke gegen sie erhob, die sie ihm aber noch immer dessen Finger mit den Zähnen festhaltend entwand. Endlich gelang es ihr aufzusperren der Schlüssel steckte von innen und zu entfliehen, wohl hauptsächlich deshalb, weil sie bis zum letzten Momente den Finger des 0. nicht losgelassen hatte. An dieser Stelle sei bemerkt, daß 0. ein für seine Jahre gut entwickelter Bursche, Lina H. eine kleine schwächliche Frau war.

Rudolf 0. gab diese Angaben als richtig zu und gab noch fol- gendes an: Neben der Wohnung des Kaufmanns H. befand sich das Geschäft und das Wohnzimmer einer Leinwandhändlerin^ in welch' letzteres er seit dem Jahre 1904 wiederholt mit Hilfe eines Nach- schlüssels eingedrungen war und daselbst Gelddiebstähle verübt hatte, welche sich die Bestohlene absolut nicht erklären konnte. Da nun 0. nur von dem Vorhause seines Lehrherm in das Zimmer der Lein- wandhändlerin gelangen konnte, und Lina H., welche ihrer Kränklich- keit halber auch dann meist zu Hause blieb, wenn alle anderen Hausgenossen fortgegangen, ihm somit bei Ausführung seiner Dieb- stähle hinderlich war, so hatte er schon seit längerer Zeit den Plan gefaßt, dieselbe zu ermorden und mit einer größeren Summe ge- stohlenen Geldes durchzugehen. Auch am 25. März 1906 wollte er wieder stehlen und empfand daher über das Zuhausebleiben der Lina H. solchen Arger, daß er sich entschloß, an diesem Tage seinen längst gefaßten Plan zur Ausführung zu bringen. Zu diesem Zwecke be- reitete er sich in seiner Kammer einen Strick und zwei Beile vor und lockte dann sein Opfer mit der obenerwähnten listigen Vorspiegelung in die Falle, in welche es auch ging und wobei dasselbe nur durch außerordentliche Geistesgegenwart und Entschlossenheit vom Tode bewahrt wurde.

Rudolf 0. wurde am 22. Juli 1906 vom Schwurgericht zu Troppau wegen des Verbrechens des versuchten Meuchelmordes zu schwerem Kerker in der Dauer von 6 Jahren verurteilt

XIX. Identitätsnachweis an Kindern.

Eine anthropologisch-forensische Studie

von

Medizinalrat Br. F. Näoke in Habertusborg.

Schon seit längerer Zeit ist es bekannt, daß gar nicht so selten Lebende oder Tote selbst von den nächsten Angehörigen nicht agnos- ziert oder von anderer Seite fälschlicherweise in Ansprach genommen werden, and zwar durchaas nicht nur in erklärlichen abnormen Zu- ständen. Diesen merkwürdigen Fällen psychologisch näher zu treten, ist eine überaus reizvolle Aufgabe. Der psychologischen Gründe können verschiedene vorliegen, meist in Kombination, an deren Spitze Suggestion und Autosuggestion schreiten. Aber diese Vorkommnisse beanspruchen begreiflicherweise auch einen hohen forensischen Wert und deshalb ist eine Materialsammlung durchaus nötig. Kasuistische Beiträge hierzu liest man nicht selten in den Zeitungsnotizen. Erst kürzlich hat Hellwig in diesem Archiv (Bd. XXVII, S. 352 ff.) über ^einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die Identität von Sachen oder Personen^ berichtet und verschiedene sachgemäße Randglossen darangeknüpft. Ich selbst habe gleichfalls in verschiedenen „kleinen Mitteilungen^ ähnliche Tatsachen besprochen^).

Eine gleiche Frage kann natürlich auch bez. der Kinder ent- stehen, und schon allein das große Kapitel der Kindesunterschiebungen, die namentlich in früheren Zeiten eine so bedeutende Bolle spielten, ist hierfür Beweis genug. Aber auch in neuerer Zeit hört man immer noch zeitweis davon. So hat Kirsten vor Kurzem einen interessan- ten Fall zweifacher Kindesunterschiebung veröffentlicht 2), ebenso Reiche 1^), und in aller Erinnerung ist noch der Fall der Gräfin Kwilecka, der jetzt sogar wieder aufzuleben scheint. Die Psychologie

1) Bd. Vir, p. 339. Bd. XXII, p. 270. Bd. XXVI, p. 360.

2) Das Archiv, XVI, 324.

3) R e i c h c 1 : Ein eigenartiger Fall von Kindesunterschiebang. Dieses Archiv XXVI, 351.

Identitätsnachweis an Kindern. 347

solcher Fälle von Unterschiebungen wie auch von Kindesdiebstählen ohne Unterschiebungen ist eine äußerst interessante und komplizierte, kommt aber für uns hier nicht in Betracht Es mag genügen darauf hinzuweisen, daß bei Unterschiebungen meist dynastische oder reine Erbfragen eine Hauptrolle spielten, die bloßen Kindesdiebstähle heute bei uns sehr selten geworden sind und die Zigeuner gern solcher be- zichtigt werden, hier und da auch wandernde Artisten.

Aber auch sonst kann an Lebende einmal die Frage der Iden- tifizierung herantreten. Hierfür nur ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung. Als ich vor vielen Jahren als Volontärarzt an einer groß- städtischen Entbindungsanstalt fungierte, brach am Tage unter dem Dachstuhle Feuer aus, welches das ganze Dach zerstörte. Gerade darunter, im Stockwerke, lagen in verschiedenen Sälen ca. 30 Wöchnerinnen ' mit ihren Neugeborenen. Es war außer mir noch ein Arzt anwesend und unsere erste Sorge bevor noch Rettungsmannschaften kamen, um die Wöchnerinnen fortzuschaffen bestand darin, die Kleinen fest an die Mütter zu drücken, damit sie in dem Trubel nicht von einander getrennt.würden und so vielleicht Kinder zu falschen Müttern kämen. Denn wer viel mit Neugeborenen zu tun hatte, wird bald bemerken, daß eine Verwechselung hier sehr leicht möglich ist und das aus mehreren Gründen. Zunächst sehen sich sehr viele außerordentlich ähnlich und die Familienähnlichkeit tritt gewöhnlich erst später hervor. Nur in einigen wenigen Fällen sah ich eine frappante Ähnlichkeit zwischen Mutter und Kind. Selbst prägnante Zeichen, wie Adlernase, mißgestaltete Ohren, besonders geformter Kopf etc.sind doch recht seltene Vorkommnisse« Das Gesicht der meisten ist noch verschwommen, die Teile in ihrer endgültigen Gestalt noch nicht fixiert, nur angedeutet Dazu kommt ein zweites Moment Mütter der niederen Volksklassen, besonders wenn sie, wie in den Gebär- anstalten gewöhnlich, unehelich geschwängert sind, sehen sich in der ersten Zeit ihre Kinder nicht so genau auf feinere Details hin an, daß nicht in den ersten Tagen eine Verwechselung möglich wäre. Um so weniger, als viele dem kleinen Wesen grollen und es vielleicht anfangs fast abweisen. Dann ist die Größe und der Ernährungs- zustand der meisten ein ähnlicher und etwa Unterscheidungen bezüg- lich der Kleidung gibt es in diesem Alter noch wenige, am wenigsten bei Armen und in Anstalten.

Je mehr das Kind heranwächst, um so größer wird natürlich die Ähnlichkeit mit [einem der beiden Eltern, doch tritt meist Ver- mischung gewisser Körperzeichen der letzteren ein, so daß dann, wie es so oft geschieht, der eine Beobachter Ähnlichkeit mit dem Vater,

348 XIX. NicKE

der andere mit der Matter findet Wir sind hier leider mehr oder weniger auf das subjektive Ermessen des Einzelnen angewiesen und dies trügt bekanntlich nur zu häufig. Bloß bei ganz prägnanten Ähnlichkeiten stimmen alle überein, damit ist aber streng genommen immer noch kein Beweis für Filiation gegeben. Diese Ähnlichkeit spielt in der Literatur und Kunst ihre Bolle; sie wird für empfind- same Seelen ausgespielt oder es wird gar darauf ein ganzer Plan gebaut So entdecken in dem großartigen Bomane Zola's: TArgent wahrscheinlich der gewaltigsten Epopöe, die es bez. des Schadens und Nutzens des Geldes gibt der scheußliche Geldjude Blum und die Megäre Mächain einen Jungen, der dem Helden des Romans, Saccard, wie aus den Augen geschnitten ist. Damit wollen sie einen Erpressungsversuch in Szene setzen. Man zeigt dem total verwahrlosten, moralisch verblödeten >) 15 jährigen Jungen der Freundin jenes Saccard, der wackeren Madame Caroline. Und es heißt dann (p. 161): „..sie blieb mit offenem Munde stehen, ganz erstaunt über seine außerordent- liehe Ähnlichkeit mit Saccard. Alle ihre Zweifel schwanden, die Vaterschaft war unzweifelhaft.*'

Zola und die meisten anderen werden also nicht den pessimistischen Ansichten Toulouse's^) huldigen, der in einem mit „la recherche de la patemit6'' überschriebenen Kapitel (S. 309 f ) unter anderem folgendes schreibt: „Ich werde vielleicht das Gefühl so mancher verletzen, wenn ich erkläre, daß die Vaterschaft vor einer vernünftigen Kritik nur eine ein- fache soziale Fiktion ist, trotz ihrer großartigen glücklichen Erfolge und obgleich sie die Quelle der reinsten Handlungen der altruistischen Moral ist Dem etwas trockenen Auge des Biologen ist sie^ in den gewöhnlichen Bedingungen der Ehe, nur die reine Hypothese, denn nichts beweist die wirkliche Filiation bei diesem Zustande freier Handlungsfähigkeit (d'activitö libre), in dem sich die Frau befindet und immer mehr befinden wird. . . . Eine Großmutter . . . drückte dieses physiologische Problem durch eine praktische Formel aus; sie nannte die Nachkommenschaft ihrer Tochter „die Kinder ihrer Tochter", während der Nachwuchs ihres Sohnes für sie nur „die Kinder ihrer Schwieger-

1) Zola zeichnet hier vortrefflich den tief Degenerierten, friihzeitig Ent- wickelten, der trotzdem er zuletzt aus seinem Schmutze entfernt und in ein Er- ziehungsheim gebracht wird, in seiner Roheit und Ungebundenheit verharrt, ent- flicht und ein junges Mädchen notzuchtigt. Zola weist auf die erblichen Verhältnisse hin, die allerdings zu denken geben. Saccard hatte s. Z. auf einer Treppe ein junges skrophulöses Geschöpf genotzüchtigt und der Junge war die traurige Frucht dieses Aktes gewesen.

2) Toulouse. Les le^ons de la vie. Paris, librairie universelle 1906.

Identitätsnachweis an Kindern. 349

tochter" waren . . . Die gesetzliche Fiktion der Vaterschaft reali- siert sich im Verhältnis der Solidität der Bande, welche die Gemahlin bindet. Es ist klar, daß die Institution der Ehe . . . eine hohe Schranke für die Emanzipation der Frau nach dieser Richtung hin entgegensetzt . . es ist nicht zweifelhaft, daß um die Filiation des Hauptes der Familie zu sichern, der Harem das wirksamste Mittel ist. unsere Gesellschaft gewährt dagegen die schwächsten Garantieen und zwar in gleichem Maße, als die Fran sieh mehr und mehr von allen Fesseln frei macht, die ihre sexuelle Tätigkeit zügelten. Folglich bestrebt sich die Vaterschaft immer mehr bei vielen Gelegenheiten nur eine soziale Konvenienz zu sein, die durch das Gesetz konsakriert ist . . . Das Vorurteil des Volkes ffir die „Stimme des Bluts^, die Unbekannten eine heimliche Elternschaft offenbaren würde, ist gänzlich illusorisch . . . Das väterliche Gefühl ist nur eine soziale Bildung. Es beruht nicht auf einer physiologischen Basis ... Es entwickelt sich durch Er- ziehung . . .^ Sicher hat Toulouse in vielem Recht In so manchen Ehen mag die Vaterschaft in der Tat nur eine Fiktion sein und zwar nicht bloß in den unteren Schichten. Auch ich sehe in der Ehe keinen absoluten Beweis dafür, daß ein bestimmtes Kind wirklich von dem legalen Vater abstammt Nur mög- liche, wahrscheinliche, sehr wahrscheinliche Gründe mögen wir dafür anführen. Mehr sicher nicht, wenn wir streng kritisch verfahren I Es wäre dies freilich ein trostloser Ausblick, wenn wir hier nicht, wie in so vielen Dingen des Lebens, ein gewisses Vertrauen und einen gewissen Optimismus mitbringen müßten. Eine gute, glückliche Ehe wird doch immer noch die besten Garantieen darbieten, besser als selbst die frappanteste Familienähnlichkeit, da letztere doch auch einmal nur der reinste Zufall sein könnte. Jedenfalls erscheint es nötig, obige Ansichten von Toulouse speziell zji unterstreichen, da die Laien nicht gewohnt sind, hier mit dem „etwas trockenen Auge des Biologen '^ die Dinge sich anzusehen. Ja, man könnte sogar noch einen Schritt weiter als Toulouse gehen und sagen: selbst für die Frau kann die Filiation unsicher sein. Ich denke nämlich vor allem an jene Fälle, wo während der Entbindung BewußÜosigkeit eintrat oder die Kreißende chloroformiert werden mußte und ihr dann ein fremdes Kind unterschoben ward, das sie als das ihrige ansieht Viel öfter allerdings kommt es vor, daß die Mutter selbst nicht weiß, wer der Vater des Kindes ist Abgesehen von Fällen, wo sie ein Unbekannter genotzüchtigt hatte, kommt es bekanntlich nicht selten vor, daß sie mit mehreren Männern verkehrte und dann unter Umständen nicht wissen kann, von wem sie empfangen

360 XIX. Näcke

hat^) Hier wäre es besonders wichtig^ die Paternität festznstellen, schon wegen der Alimentationskosten.

Bisher handelte es sich nur um Lebende. Aber auch von Toten wäre ein Identitätsnachweis oft sehr nötige schon um bei eventaellen Verbrechen den Verdacht und die Becherchen in die richtigen Bahnen zu leiten.

Jedem wird es hierbei wohl zuerst einfallen.^ daß ein solcher Nachweis möglich wäre, wenn schon bei allen Neugeborenen die Bertillonage, vor allem aber die Daktyloskopie in Anwendung käme. Freilich wird man sich sofort sagen müssen, daß 1. erstere praktisch unmöglich durchführbar ist schon die so wünschenswerte Ber- tillonage etc. ganzer Klassen, z. B. der Soldaten, mußte bisher aus technischen und geldlichen Gründen unterbleiben. 2. daß vor allem die Bertillonage wenig Zweck hätte, da der Körper ja noch bis in die zwanziger Jahre hinein wächst Man müßte die Messungen also mindestens mehrmals in dieser Zeitspanne wiederholen, was nicht gut möglich ist Die Daktyloskopie allein käme also in Frage, da sie leicht und billig durchgeführt werden kann und schon am Neugeborenen fast unzerstörbare Zeichen liefert, die sich später nicht in ihrer Konfigu- ration, wenn auch in den Größenverhältnissen, ändern. 2) Soweit sind wir aber noch lange nicht und es kommt darauf an zu wissen, ob wir dies anderweitig bis zu einem gewissen Grade ersetzen könnten. Somit kommen wir zu einigen anthropologischen Erwägungen, die sehr wohl einmal nützlich werden könnten, vorläufig freilich mehr Probleme aufstellen als Lösungen geben.

Das Haar spielt bei Neugeborenen kaum eine Rolle, da es noch zu spärlich vorhanden ist und seine Farbe später häufig genug ändert. Wichtiger erscheint die Kopfform. Es ist sicher, daß manche Neu- geborene ganz ausgesprochene Brachy- oder Dolichocephalen sind, doch waren die meisten, die ich selbst sah, mehr Mesocephalen. An- fängliche Kurzköpfe (mehr noch Mesocephalen) können aber später, wie ich glaube, aucli zu Langköpfen auswachsen, während das Um- gekehrte kaum je eintreten dürfte. Schon bloß die Lagerung im 1. Jahre vermag den Kopfindex zu ändern, allerdings weiß man nicht, ob auf

1) Öfter freilich kommt es vor, daß das Mädchen etc. von dem alimen- tationspflichtigen Manne beschuldigt wird, mit Mehreren verkehrt zu haben.

2) Schwarz (siehe später) macht darauf aufmerksam, daß nnter umständen Identifizierung aus dem Gebiß besser ist, als die Daktyloskopie, z. B. bei Brand- nnd Wasserleichen. Bas ist sicher, aber leider erscheint eine mehr oder weniger ausgedehnte Untersuchung und Registrierung des Gebisses noch viel weniger durchführbar als jene und käme bloß eventuell in Frage.

Identitätsnachweis an Kindern. 351

immer oder nur anf einige Zeit Aber selbst ausgesprochener Enrz- oder Langkopf beides sehr vererbliche Momente! besagen wenig, da sie zu sehr ubiqnitär sind. Man könnte nur sagen, daß ein ganz exquisiter Langkopf bei Neugeborenen selten genug ist, so daß wenn auch ein Elter ihn aufweist, besonders gleichzeitig in den andern Kindern, wohl eine Möglichkeit der Filiation dann ge- geben ist Es haben nun aber sehr häufig Vater und Mutter verschiedene Schädelmaße und so erscheint eine Mischung derselben leicht möglich, obgleich manche Anthropologen es bezweifeln. Da eine Mischung aller Eltemteile denkbar ist, sehe ich nämlich nicht ein, warum hier der Kopfindex eine Ausnahme machen sollte. Zur Erhärtung des Umstandes mußten freilich erst noch vergleichende Untersuchungen einsetzen, welche längere Zeit durchgeführt würden, und zwar an den Köpfen der Kinder und ihrer beiden Eltern. Das ist wohl bisher noch nicht geschehen. Oder aber, was s. Z. der leider so früh ver- storbene ausgezeichnete Anthropolog Mies vorschlug: man unter- suche die Schädel in Grüften, wo mehrere Oeschlechter bei- sammen sind und die einzelnen bezüglich des Geschlechts und Alters bekannt sind.

Genau das Gleiche bezieht sich auf die Augen- und Haarfarbe, die wohl sicher auch Mischfarben aufweisen können. Ich halte also den blonden und brünetten Typus für nicht so unabänderlich wie es manche wollen. Mit auffälligen Kopfformen: Turm-, Spitzkopf, Mikro-, Makro-, Hydrocephalus etc. ist es weiter eine sehr prekäre Sache. Die meisten sind rein pathologische Bildungen, die nur selten in gleicher Art sich vererben ; auch dann ist es noch fraglich, ob es ein wirklicher Vererbungsvorgang ist Ziemlich hartnäckig vererbt sich dagegen der Mongolen- oder Mongoloidentypus, der auch bei uns vorkommt und vielleicht von früherer Vermischung mit Hunnen- oder Slavenblut etc. herstammt, wenn nicht eine bloße pathologische Bildung vorliegt

Vom Gesicht wären spezieller noch anzuführen und zu unter- suchen : die Nase, das Mundorgan und die Ohren. Auffallende Nasen- formen, wie die aufgebogene Nase, die Adlernase etc. erben sich gern fort auch außerhalb von Basseneigentümlichkeiten , aber sie sind doch noch zu häufig und die Vererbungen zu unregelmäßig, als daß man viel darauf geben könnte. Hier kommen Mischungen nur zu oft vor und häufig verändert sich die Nasenform später nicht un- beträchtlich. Eine „Stubsnase" z. B. kann verschwinden, eine kleine Nase auswachsen, spitz werden etc.

Wichtiger erscheint mir das Mundorgan und hier besonders der

352 XIX. Nacke

harte Gaumen und die Zähne. Schwarz 0 behauptet, daß das Erb- lichkeitsgesetz kaum deutlicher zutage träte als in den knöchernen und weichen Mundgebilden, besonders in der Gaumenschleimhaut mit den individuell vererbten wulstähnlichen „rugae*^. Ob und inwieweit dies richtig ist, können nur weitere Nachprüfungen erweisen. Ich selbst habe den Eindruck empfangen, als ob namentlich die Gestalt der Zahnbögen sich leicht vererbt Die Zähne selbst erscheinen ziem- lich irrelevant, wichtiger schon Form und Größe des harten Gaumens. Was mich aber stets frappierte, war der Umstand, daß die sog. Pro- genie, d. h. das Vorragen des Unterkiefers über den oberen me starke Erblichkeitstendenz zeigt. Man denke z. B. nur an die spa- nischen Habsburger. Ich sah bisweilen ganze „Progeneenfamilien''. Weniger häufig ist, wie ich glaube, das umgekehrte Verhältnis: die Prognathie, d. h. also das starke Vorragen und Schiefstehen der oberen Schneidezähne mit ihrem Zahnbogen. Die Progenie ist außer- dem eine ziemlich seltene Erscheinung, wenigstens bei uns, doch sah ich auch, soweit ich mich erinnere, Leute mit dieser Anomalie oder mit „geradem Bisse^^') (d. h. Aufeinandertreffen der Vorderzähne), ohne daß es sonst in der Familie zu beobachten war.

Endlich wäre am Gesicht noch das äußere Ohr zu betrachten. Es ist sicherlich das variabelste Organ und nicht zwei Ohren gleichen sich völlig. Dagegen fand ich bei meinen zahlreichen Untersuchungen an demselben Individuum beide Ohren meist gleichgestaltet, oft bis in die feinsten Details. Bezüglich der Vererbung gleicher Ohrformen kann ich persönlich nichts aussagen, ich finde aber bei Imhofer') (p. 160) daß „die Übertragung besonders hervorstechender Formano- malien der Ohrmuschel von Eltern auf Kinder nicht abzuleugnen^ ist Er gibt einige Beispiele hierfür an und zieht den Schluß, daß „eine Ähnlichkeit des Ohres zwischen Vater und Kind in vielen Fällen, wo die Ehelichkeit der Geburt angezweifelt wird, im positiven Sinne

1) Cbcr die Beziehungen der wissenschaftlichen Zabnheiiknnde zur Kriminal- anthropologie 8. ds. Archiv Bd. XXV, p. 339. Der Aufsatz ist geist- und gedankenreich, aber ganz einseitig und vielfach unrichtii^. So namentlich, wenn Verf. behauptet, daß man aus dem Gebiß auf seelische Eigentümlichkeiten schließen könne, daß zwischen Intelligenz und Gehimgewicht gar keine Be- ziehungen beständen etc.

2) Ich nannte diese Abweichung „halbe Progenie", der ^ganzen'', also dem Vorragen der unteren Vorderzahne vor den oberen entgegengesetzt Siehe: Näcke, Vergleichende Untersuchungen über einige weniger beobachtete Ano- malien am Kopfe. Archiv für Psych, etc. Bd. 28.

3) Iinhofer: Bedeutung der Ohrmuschel für die Feststellung der Identität Dieses Archiv XXVI, 150.

Identitätsnachweis an Kindern. 353

zu verwerten " sei. Letzteren Satz möchte ich freilich positiv

nicht so hinstellen, sondern die gleiche Ohrform eventuell bloß als ein konkurrierendes Unterstützungsmittel der Identifikation gelten lassen und auch nur dann, wenn eine Reihe von Details die gleichen sind, eben weil das Ohr so variabel ist und daher der Zufall um so eher eine Rolle spielen kann. Auch wissen wir nicht sicher^ ob das Ohr des Neugeborenen in den feineren Details sich später ändern kann oder nicht. In den gröberen sicher, ich glaube jedoch auch öfters in den feineren.

Von* den übrigen etwaigen Merkmalen am Kopf und dem Körper, wie Warzen, Feuerroale etc. kann wohl einmal Vererbung stattfinden, aber diese Dinge sind zu alltäglich, als daB sie auffallen müßten. Noch mehr gilt dies vom Schielen, einer ganz eminenten Manifestation der Vererbung. Selten und außerordentlich erblich und familiär ist die Polydaktylie, die Mehrfingerigkeit, daher ein wichtiges Argument, besonders wenn mehrfach in der Familie vertreten. Weniger erblich sind gewisse Abnormitäten der äußeren Geschlechtsteile, wie Hypo- spadie, Kryptorchie etc. Betrachten wir den ganzen Körper, so ist Langwuchs viel häufiger und darum weniger charakteristisch als echter Zwergwuchs. Letzterer ist bei uns so ungeheuer selten, dabei meist erblich, daß dies einen wichtigen Fingerzeig abgeben könnte. Freilich gibt es rein pathologische und nicht vererbte Formen des- selben oder es handelt sich um einen Fall von Schein-Zwergwuchs, Pseudo-Nanismus. Wir haben jetzt z. B. in Hubertusburg einen zirka 40 jährigen Zwerg, dessen Schädel (Wasserkopf) und Rumpf die eines Erwachsenen sind, während die Extremitäten zurück blieben. Also liegt hier ein Fall von Mikromelie, d. h. von Bestehen kleingebliebener Extremitäten vor, verursacht durch einen rhachitischen Prozeß, wie genugsam der Wasserkopf, die Zähne und die verkrümmten Glied- maßen des Patienten beweisen. Freilich wird Zwergwuchs beim Neugeborenen und beim Kind noch wenig hervortreten, sondern erst später.

Gerade daß wir es bloß mit eben Geborenen und höchstens Kindern zu tun haben, erschwert ganz be- deutend die Identifikationsmöglichkeit, da bei Ersteren, selbst bei Annahme einer möglichst großen Erblichkeit, die oben ge- schilderten Momente noch gering ausgeprägt sind. Von der Kopf- formation sahen wir dies schon, aber auch die Progenie dürfte kaum hier hervortreten; ich selbst sah keinen hierher gehörigen Fall« Bezüglich des Ohrs ward schon oben Reserve eingelegt Viel sicherer als alle die besprochenen Momente erscheinen

ArehiT ffir Kriminalanthropoiogie. 28. Bd. 23

354 XIX. Näcke.

dagegen die Fingerabdräcke^ die ganz individuell, stabil und 80 gut wie unzerstörbar sind. Es käme nur darauf an, den hohen oder geringen Vererbungsprozentsatz fest- zustellen, was, vielleicht außer F6rä (wenn ich nicht irre), niemand bisher unternommen hat.

Noch unendlich schwieriger liegen natürlich die Verhältnisse, wo gar etwa eine Frühgeburt in Frage kommt, und das könnte wohl einmal geschehen. Die Fragestellung wird aber weiter noch darnach verschieden sein, je nachdem es sich um lebende oder tote Eltern oder Kinder handelt, und je nachdem die Mutter oder der Vater das Kind genau kennen oder nicht Beschreibt z. B. Vater oder Mutter einen bestimmteren naevus (Feuermal) von ganz bestimmter Größe und Form, an ganz bestimmter Stelle sitzend^ und zwar bevor sie noch das inkriminierte Kind sahen, so ist wohl jeder Zufall ausgeschlossen, besonders wenn etwa noch weitere an- gegebene Eigentümlichkeiten stimmen.

Im allgemeinen wird eine Identifikation am lebenden Kinde immer leichter sein als am toten. Und dort handelt es sich meist um Ansprüche der Legitimität in Unterschiebungs- oder Alimentationa- Prozessen oder um Anerkennung der Echtheit eines Kindes.

Versuche solcher Bekonstruktionen sind wohl schon gemacht worden, zuletzt in interessanter Weise in dem berühmten Prozesse Kwilecka durch Professor Straß mann') in Berlin, in Gemeinschaft mit einem anderen Arzte, einem Maler und einem Beamten des anthropometrischen Meßamtes in Berlin. Den Maler hatte man dazu genommen, um den Eindruck der allgemeinen Ähnlichkeit zwischen der Mutter und dem angeblichen Kinde festzustellen. Diesen Weg möchte ich als zu sehr subjektiv entschieden ablehnen. Als wichtig bezeichneten die Untersucher, daß die Ohren der beiden in Frage kommenden Knaben (des fraglichen 6jährigen Sohnes der Gräfin und des 7 V2 jährigen der Bahnwärtersfrau Meyer) verschieden, während die des fraglichen Grafensohnes denen der Gräfin ähnlich waren und sich dort, wie auch bei der ganzen gräflichen Familie ein deutliches Darwinsches Knötchen vorfand. Das ist freilich herz- lich wenig und das so überaus häufige Darwinsche Knötchen er- scheint absolut belanglos! Ebenso besagt es nicht viel, daß die zwei fraglichen Knaben Kryptorchie darboten, der Graf aber nicht Daß die Nase des Knaben keine Familienähnlichkeit zeigte, will wenig

1) Straßmann: La „Rassomiglianza fisica" in tribnoale. Archivio di Pßichiatria etc. 1904, p. 109).

IdentitätBiuu^weis aa Kindern. 365

bedeuten, da sie nach dem 6. Jahre, wie es scheint, sich bisweilen nidit unwesentlich nodb ändern kann. Mit Becht konnte die Kom- mission nnr eine WahrscheinlichkeitsdiagnoBe stellen und der zu- gezogene Polizei-Inspektor Elatt berichtete vor Gericht von vielen F&Ilen, wo eine frappante äußere Ähnlichkeit trog.

Zum Schlüsse unserer Arbeit stellen wir also folgende Sätze auf:

1. Ski Identifikationszwecken an Neugeborenen oder Kindern ist der bloße Eindruck einer äußeren Ähnlich- keit mit dem einen oder anderen Teile der Eltern zu verwerfen. Selbst der beste Künstler kann sich hier irren!

2. Geben Vater und Mutter in Abwesenheit des Kindes ein ganz bestimmtes Zeichen, noch besser freilich mehrere, als ftlr den Körper desselben charakteristisch an, so ist Zufall fast ausgeschlossen.

3. Absolut sicher wären wohl Übereinstimmungen der daktyloskopischen Bilder an Kind und Eltern und zwar solcher an allen Fingern womöglich, wenn die konstante Vererbung derselben erst einmal erwiesen ist. Um das festzustellen, müßten Vater, Mutter und Kind daraufhin unter- sucht werden, was freilich nicht immer möglich ist Wären bei der Geburt und etwa noch bei der Konfirmation im Geburts- und Kon- firmations-Begister zugleich die daktyloskopischen Abdrücke eines Jeden beigegeben, dann würden Streitigkeiten kaum mehr vorkommen.

4. Die Bertillonage ist hier ganz trügerisch.

5. Kopfform, Augen-, Haarfarbe sind bei ganz Kleinen sehr un- sichere Zeichen und selbst bei Erwachsenen trügerisch.

6. Als noch die besten Vergleichsobjekte scheinen mir der harte Gaumen, die Form der Zahnbögen, die feinere Konfiguration der Ohrmuschel, die Progenie, Polydak« tylie und der Zwergwuchs zu sein, doch müßte vor- her noch der Wahrscheinlichkeitsgrad der Vererblich- keit festgestellt werden, was sicher noch nicht oder nicht hinreichend geschehen ist

7. Die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Diagnose wird sich mit einer Mehrzahl sich gleichender Objekte steigern. Bei Daktyloskopie wenn die Erblichkeit hier erst einmal feststeht, ist dagegen jede weitere Untersuchung überflüssig.

8. Bei anderen selteneren Zeichen, wie Feuermale, Warzen, Abnormitäten der Genitalien kommt die Konkurrenz der Mo- mente in Frage.

9. Wir sehen also, daß sich für unsere Frage alles auf die größere oder geringere Vererblichkeit gewisser kör-

23*

356 XIX. NicKE.

perlichen Abweichungen zuspitzt. Wer diese gelöst hat, be- sitzt den Schlüssel zur definitiven Identifikation von Kindern; als einfachste Lösung würde dann für die meisten Fälle die Daktyloskopie zu gelten haben. Und selbst dann ist nicht zu vergessen, daß positive Ergebnisse wohl fast beweisend sind, negative dagegen nicht, da es bei der großen Mischungsmöglichkeit der elterlichen und großelterlichen Anteile denk- bar wäre, daß daraus ein Wesen entsteht, welches äußerlich, also auch daktyloskopisch, absolut keine Ähnlichkeit mit Vater oder Mutter hätte und doch das Kind sein könnte. Unsicher sind endlich auch die Resultate, wenn das Kind ebensoviel vom Vater als von der Mutter geerbt hat

Bis dahin wird noch viel Wasser ins Meer fließen, aber man wird allmählich dem Problem schon näher kommen und zugleich der ganzen Lehre von der Vererbung einen wesentlichen Dienst leisten. Nicht am wenigsten würde man so z. B. auch der interessanten Frage näher treten, ob Organteile und welche davon mehr von der Mutter oder vom Vater ererbt werden, femer ob der Grad der Vererbung stets derselbe ist oder Abweichungen darbietet, die man eventuell dem Einflüsse des anderen Elters zuschreiben könnte. Man würde an bestimmten Organen, z. B. dem Ohre, der Nase, die wichtigen und die mehr nebensächlichen Details auf Grund der Vererbungsstärke feststellen können u. s. f. Man sieht also: nicht bloß die forense Medizin würde durch solche langwierige und schwierige Untersuch- ungen gefördert werden, sondern auch die Anthropologie aind nicht zuletzt die Biologie. Die Tierzucht hat ja aus den von ihr er- schlossenen Vererbungsgesetzen schon lange einen direkten Nutzen gezogen. Dies könnte vielleicht auch einmal bei der Menschenzucht geschehen, wenn nicht hier ein unübersteigliches Hindernis sich auf- türmte: der krasse menschliche Egoismus, der sich um die Art der Nachkommen nicht weiter kümmert Und so werden alle Vorschläge zu einer „Eugenesie^ des Menschengeschlechts wohl für alle Zeiten auf dem Papiere stehen bleiben, so sehr der wahre Menschenfreund ihre volle Berechtigung auch einsieht

Nachtrag bei der Korrektur.

1. Zu p. 347. Auch in der Ethnographie spielt die Unterschiebung eine gewisse Rolle. So lese ich z. B. bei Stieda (Keferat aus der Russischen Literatur, Archiv für Anthropologie [Neue Folge], Bd. VI, 1907, p. 204) bez. der Syrjänen (am weißen Meere wohnend) folgendes: „Bei Mißgeburten sagen manche, Ikota (eia

Identitätsnachweis an Kindern 357

Qeist) habe das Kind vertauscht, nach andern sind es besondere Geister y Waldmenschen, die die Vertauschung des Kindes machen. Früher suchte man den Ikota zu veranlassen, das Kind zurückzu- geben, aber der Glaube an die Vertauschung der Kinder durch böse Geister wird von Jahr zu Jahr schwächer/ Man sieht daraus den horror der Naturmenschen vor allem Außergewöhnlichen, also hier vor Mißgeburten. Das kann nur durch Hexerei etc. entstanden sein! Es ist das zugleich auch, wie ich glaube, ein Hinweis darauf, daß Mißgeburten scheinbar bei Primitiven seltner sind, als bei uns. Da nun Hexerei, also ein Fremdes vorliegt, geht der Primitive leicht an den Mord solcher Unglückswesen.'

2. Zu p. 35 4. In ganz seltenen Fällen könnte es sich auch um Identifizierung von Zwillingen handeln. Siehe hier- über Dejouany: Archives d'anthropol. crim. 1898, p. 284ss, speziell 287 SS. Verf. kommt zum Schlüsse, daß 2 vorgelegte Neugeborene eventuell Zwillinge sein könnten, was aber nie sicher zu beweisen wäre. Auch hier wäre, glaube ich, die Daktyloskopie sehr wertwoll.

3. Zu p. 355. Zur Daktyloskopie. Vor allen Dingen ist es wichtig, zuerst die Erblichkeitsverhältnisse hier festzustellen. Dies könnte wohl gut an Schulkindern geschehen und dann an deren Ge- schwistern und Eltern zu Hause, was noch nicht geschah, so viel ich weiß. Man würde dann auch finden können, welche daktylo- skopischen Typen sich am meisten vererben, was zu wissen sehr wertvoll wäre. Daß überhaupt alle Fingerabdrücke sich zu- sammen vererben, dürfte wohl nur selten stattfinden. Wir müssen uns also auf weniger gefaßt machen. Sind nun z. B. 7 8 Abdrücke des Kindes denen des Vaters oder der Mutter und zwar an den gleichen Fingern ähnlich, so ist das Resultat bez. der Identität so gut wie zweifellos. Sind es dagegen nur 5, dann wird die Sache schon zweifelhaft, noch mehr bei 3 oder gar 1 . Dann müssen selbst- verständlich um so mehr noch andere Momente in Konkurrenz treten, um die Diagnose mehr oder weniger zu stützen.

XX. Ein eigenartiger Diebsaberglaube in Europa und Asien,

YOA

Dr. Albert Hellwig (Berän-Hwinadoif).

Fast in ganz Europa Ittßt sich der eigenartige Brauch nach- weisen, dafi Diebe, besonders gewerbsmäßige, am Ort der Tat ihre Notdurft verrichten, weil sie glauben, dann nicht entdeckt zu werden, oder wenigstens nicht überrascht werden zu können, s<dange der Haufen warm ist Wenngleich nicht alle Fälle von Beschmutzung des Tatortes auf diesen Aberglauben zurückgehen, manche viehnehr rein physiologischen Ursprungs sind und andere der Bosheit oder Rachsucht des Täters entspringen, ist andererseits doch durdi ein- gehende Detailforschungen festgestellt, daß in der Begd der oben- genannte Aberglaube das treibende Motiv war. Dieser Brauch geht weit in das Mittelalter zurück und wird auch heute noch vielfach beobachtet, wie man überhaupt auch bei den modernsten gewerbs- mäßigen Gaunern aller Art noch auf eine ungeahnte Fülle von ur- aUem Ab^glauben mannigfachster Art stößt Bezeichnend sind die volkstümlichen Ausdrücke für Eothaufen: Wächter, Nachtwächter, Wachtmeister, Posten, Schildwache in den verschiedensten Gegenden Deutschlands, der Schweiz und Österreichs, schildwachten in Holland, sentinelle in Frankreich, uomini di nette in Italien, feris (Hirt) bei den Zigeunern. Einen analogen Brauch haben die arabischen und griechischen Verbrecher, indem sie in dem ausgeraubten Baume viel- fach onanieren. Diese Bräuche gehen vermutlich auf die Idee zurück, daß der Täter irgend etwas am Tatorte als Sühneopfer freiwillig zurücklassen muß, um selber glücklich entkommen zu können. Als derartige Sühneopfer kommen sowohl menschliche Sekrete (Blut,

Ein eigenartiger Biebsaberglaube in Europa und Asien. 359

Sperma, Exkremente) als auch im Besitz des Täters befindliohe Gegen- stände (Mordwaffe, Hut n. s. w.) in Betracht i) Än&erst interessant ist nun; daß die japanischen Diebe nach neuerlichen Mitteilungen von Dr. Hermann ten Kate ^^Aus dem japanischen Volksglauben^ (Olobus" 1906, p. 112) einen anscheinend identischen Brauch haben. Hiemach verrichtet der Dieb in der Nähe des Hauses, in dem er stehlen will, seine Notdurft „und stellt dort eine umgekehrte Bütte. ^ Es wäre nun im höchsten Grade interessant zu erfahren, ob der japanische Diebsglaube auf denselben Glauben wie der europäische! zurückgeht Sehr wichtig wäre es auch, wenn sich in der japanischen Volks- sprache oder Gaunersprache eine den obigen Ausdrücken für mensch- liche Exkremente analoge Bezeichnung nachweisen ließe. Femer wäre zn erforschen, weshalb eine umgekehrte Bütte hingestellt wird und ob dieser Brauch mit dem gmmus merdae wesentlich zusammenhängt, schließlich ob der japanische Brauch originären Ursprongs ist oder dem europäischen Gaunertum entlehnt zu sein scheint Wie mir Dr. ten Kate (z. Z. in Tokio) brieflich mitteilte, ist ihm dieser Diebes- brauch auch aus Jara bekannt Weitere Einzelheiten wußte er zur Zeit nicht anzugeben, will sie aber zu erfahren suchen. Das Vor- kommen des gmmus merdae in Japan bestätigte mir auch mein Kollege, der Kammergerichtsreferendar Dr. phil. et jur. Crasselt, der als Dozent an der Hochschule Tokio längere Zeit in Japan geweilt und dem japanischen Volksleben reges Interesse zugewandt, insbesondere auch über den Aberglauben zahlreiche wertvolle Materialien gesammelt hat Kürzlich bekam ich auf liebenswürdige Veranlassung Dr. ten Kate's folgende Notiz von Dr. K. Miura über den japanischen gmmus merdae: „Die japanischen Diebe entleeren auch manchmal ihre Ex- kremente außerhalb des zu einbrechenden Hauses und dies scheint meist bei Gewohnheitsdieben vorzukommen. Die Ansicht darüber ist geteilt, doch meint man, daß sie dadurch ihr Herzklopfen oder Unruhe bemhigen. Andere Ausdrücke wie Wächter oder Hirt kommen hier nicht vor."^ Leider ist auch diese Angabe nicht ausführlich genug, um ein abschließendes Bild über den japanischen Diebsbrauch zu gewinnen. Immerhin gibt die Notiz einige schätzenswerte Hinweise. Es wird bestätigt, daß die Diebe nicht im Hause, sondern außerhalb des

1) Vgl. meine Skizzen: „Einiges über den grumus merdae der Einbrechei'*' in der Monatsschrift für Kriminal Psychologie und Straf rechtsreform Bd. I (1904) p. 257 ff., n Weiteres über den gnimas merdae*^, ebenda II (1905) p. 639 ff., ^Die Bedeutung des grumus merdae für den Praktiker'^ im « Archiv für Kriminal- anthropologie und Kriminalistik*', Bd. XXIII (1906) p. 188 ff. und die ebendort demnächst erscheinende „Kriminaltaktik und Verbrecheraberglaube. ^

360 XX. Hellwig

Hauses und zwar, wie Kate sagt, in der Nähe, ihre Notdurft ver- richten. Hiemach ist es ausgeschlossen, daß Vandalismus das Motiv hierfür ist, wie es bei uns manchmal vorkommt, wenngleich es irrig ist, wie es mitunter geschieht, diesen Diebsbrauch immer ans Boheit zu erklären. Ob von einigen japanischen Gelehrten gleichfalls ein abergläubisches Motiv angenommen wird, sagt Miura nicht Ich möchte das aber annehmen, da er ausdrücklich sagt, die Ansichten hierüber seien geteilt. Als herrschende Meinung gibt Miura aber an, daß es sich um einen durch die Angst bewirkten rein physiologischen Vorgang handle. Wenngleich das in dem einen oder anderen Falle zutreffen mag, so halte ich diese Ansicht als allgemeines Erklärungs- prinzip für verfehlt' Es wäre dann nämlich nicht zu verstehen, ein- mal, weshalb besonders gerade Gewohnheitsdiebe, die doch bei Ausübung ihres ihnen vertrauten Gewerbes bei weitem nicht so ängstlich zu sein pflegen wie Anfänger, diesen Brauch befolgen, und dann, weshalb die Angst gerade vor Begehung der Tat am größten ist der grumus merdae ist außerhalb des Hauses und nicht, wenn sie sich bei der unmittelbaren Ausführung des Diebstahls im Hause befinden, wobei doch die Gefahr der Entdeckung weit größer ist Deshalb bin ich der Ansicht, daß auch bei dem japanischen Diebsbrauch ein dem europäischen analoger Gedanke zu Grunde liegen wird. Freilich ist dies nur eine Vermutung, aber wie ich glaube, eine begründete, die ich später noch einmal auf Grund weiterer Becherchen als richtig erweisen zu können hoffe.

XXI. Das „Backen'^ von Kranken.

Von Dr. Albert Hellwig (Berlin-Hennsdorf).

Schon in meiner Abhandlung „Der kriminelle Aberglaube in seiner Bedeutung für die gerichtliche Medizin^ 0 habe ich nach- gewiesen, daß zwar schon die alten deutschen Bußbücher es verbieten, ein fieberkrankes Kind in den Ofen zu legen, daß aber dennoch durch all' die Jahrhunderte hindurch sich im deutschen Volke der Glaube an die Heilkraft des Feuers und die hierdurch veranlaßte Prozedur des Backens der Kranken erhalten hat Den dort für die Siebenbürger Sachsen und für Steiermark beigebrachten Beispielen seien einige analoge Bräuche angereiht Ein Ende des 18. Jahr- hunderts erschienenes Buch, das eme wahre Fundgrube für Aber- glauben jeder Art ist, berichtet, daß in manchen Gegenden Deutsch- lands die Dorfhebammen den gefährlichen Brauch haben, kleine Kinder, welche die „zehrenden Dinger^ haben, d. h. nicht gut ver- dauen und infolgedessen schlecht gedeihen, auf eine Kuchenplatte zu legen und in den heißen Ofen hinein- und wieder herauszuschieben, wodurch sie wer weiß wie manches Kind durch die Wirkung der Hitze auf das Gehirn dumm machten oder bei ihm zu künftigen Krankheiten den Grund legten, die dann wohl noch gar, weil die Ursach' unbekannt, der Verhexung zugeschrieben werden !^ ^) Leidet in Pommern ein Kind an einem Ausschlage, der hartnäckig allen sonst gebräuchlichen Mitteln widersteht, so wird es geheilt, wenn man es nackend vor einen frischgeheitzten Backofen legt und die eben ausgelöschten Kohlen über das Kind hinwegscharrt, sodaß es

1) „Arztliche Sachverständigen-Zeitung'', Berlin 1906 Nr. 16 ff., § 7.

2) H. L. Fischer ^Das Buch vom Aberglauben". Neue verbesserte Auflage. Bd. III (Hannover 1794) S. 139 f.

362 XXI. Hellwiq

ganz damit bedeckt ist ^) In Ungarn läSt sich ein mit E^iätze Be- hafteter mit Haasseife tüchtig abreiben, nimmt dann tatsächlich treff- lich wirkende Bäder von gekochtem Hensamen und salbt sich mit Schwefelbutter. „Nach einigen Tagen aber, wenn nach dem Brot- backen der Backofen noch heiß ist, wird der arme Patient hinein- gesteckt, und es gab schon Fälle, daß er bei solcher Gelegenheit ersticken mußte.^^) Hier, wie auch früher, ist betont, daß derartige Prozeduren leicht schädliche Folgen für die Gesundheit der armen Patienten haben können und daß derartige Fälle auch schon vor- gekommen sind.

Zwei Beispiele berichtet das schon oben zitierte ^Buch vom Aberglauben^^ Ein Knabe in Oberschlesien, Thomas Gablunec, litt an der Krätze. Ein Quacksalber riet, ihn in den Backofen zu stecken, nachdem das Brot drei Stunden darin gebacken hatte. Dies geschah auch. Die Mutter ging in die Stube, kam nach einer Weile wieder und fand den Knaben lang ausgestreckt, ohne jedes Lebenszeichen, über und über verbrannt Nur mit größter Mühe gelang es, ihn überhaupt wieder aus der Bewußtlosigkeit zu erwecken, doch verfiel er sogleich in Zuckungen und starb nach zwei Tagen.^)

Ein anderer, beinahe auch tödlich verlaufener Fall ereignete sich im Jahre 1 789 auf Rat eines Wunderdoktors in der Nähe von Kulm- bach, wenn auch nicht durch sein Verschulden. Einem 36jährigen Bauemknecht riet er ein warmes Bad an. Der Knecht meinte, es käme nur darauf an, seinen Körper durch recht große Hitze in Schweiß zu bringen. Um dies zu erreichen, wählte er wie man annehmen darf, veranlaßt durch den allgemeinen Volksbrauch des Backens folgendes Mittel. In einem nahe bei seines Vaters Hanse stehenden Ofen, der zwei Tage lang geheizt worden war, schob er, als das Brot soeben herausgenommen war, ein Brett, versperrte die eine Hälfte des Heizloches recht dicht, um die Hitze möglichst gut halten zu können und kroch hinein. Er wurde aber sofort durch den Dunst so stark betäubt, daß er das Brett verfehlte und daneben auf die glühend heißen Steine zu liegen kam und sich jämmerlich verbrannte. Durch die entsetzlichen Schmerzen aus der Betäubung erwacht, fing er an um Hilfe zu rufen, bis die Seinen, die von der Schwitzkur nichts wußten, herbeieilten und ihn halb geröstet herauszogen. Ge-

1) Rnorrn „Sammlang abergläubischer Gebräache^ (^Baltische Stadien*' XXX VIII, Stettin 18S3) S. 132 Nr. 142.

2) Ferdinand Bronts „Volksmedizin in Südungam*. („Ethnologsche Mitteilangen aus Ungarn" VI, Budapest 1904) S. 51.

3) (H. L. Fischer) a. a. 0. I (Leipzig 1799) S. 189.

Das „Backen^ von Kranken. 863

sicbty Brost, Arme und Hftnde waren entsetzlich zugerichtet, am schlimmsten aber die eine Kniescheibe, die trotz sorgfältiger Behand- lang erst nach binger Zeit heilte, und an dem einem Fuße war die große Zehe ganz weggebrannt. <) Daß diese Prozedur nicht tödlich •endete, kann man fast ein Wunder nennen. Daß sie auf den Aber- glauben zurflckgeht, kann man mit um so größerer Sicherheit ver- muten, als gerade aus Schlesien noch in der allemeuesten Zeit ein, noch dazu tödlich verlaufener, Fall vom Backen von Kranken be- .richtet wurde.

Der Ackerbürger Seh. litt stark an Rheumatismus. Um die Schmerzen zu beseitigen, rieb er die betreffenden Körperteile mit Petroleum ein und legte sich, wie ihm geraten wurde, in einen noch warmen kegelförmigen Backofen. Als man nach einigen Stunden nachsehen wollte, wie dem Patienten diese eigenartige Kur bekommen wäre, fand man nur noch eine Leiche vor. Man nahm an, daß Seh. -durch die sich im Ofen entwickelnden Gase erstickt ist^) Bemerkt sei, daß diese Kur durch die Wärme an und für sich geeignet er- scheint, rheumatische Leiden günstig zu beeinflussen.

Ein anderer Fall wurde Anfangs 1907 aus einem Dorfe in der Nähe von Zürich berichtet Die Einzelheiten sind mir entfallen, da mir •die Notiz leider abhanden gekommen ist. Ich weiß nur noch, daß der Betreffende die Ofenkur oft vorzunehmen pflegte. Durch eine Sohnurvorrichtung vermochte er die Ofentür selber wieder von innen zu öffnen. Eines Tages aber riß diese Schnur und der arme Kranke kam elendiglich um: Sicherlich nicht das letzte Opfer eines Jahr- tausende alten Aberglaubens I

Das Backen von Kranken ist auch in Niederösterreich und bei den Slovaken in Oberungam bekannt. Dort heilt man Atrophie bei Säug- lingen durch Einschieben in den Backofen oder warmes Brot^), und hier wird derjenige, der an der Krätze leidet, mit Petroleum be- schmiert, vorher aber in den warmen Backofen gesteckt, damit die Milbe herauskriecht^)

Über den Brauch des Einbackens von Kindern berichtete kürz- lich der Petersburger Korrespondent der „Hamburger Nachrichten^.

1) H. L. Fischer) a. a. 0. III (Hannover 1794) S. 139.

2) „Bromberger Zeitung", 8. November 1906.

8) H. Moses „Krankheitsbeschwörungen lund Sjonpathiemittel in Nieder- osterreich'' (Zeitschrift für österreichische Volkskande'S Jahrg. IX, 1903, Heft 4).

4) Mor. Kacser „Volksmedizin und Aberglaube beim slovakischen Volke in Oberungarn" (Wiener medizinische Wochenschrift", 1907 No. 32 ff.). In dem mir vom Verfasser freundlichst zur Verfugung gestellten Separatabzug S. 13.

ST

362 XXL Hellwio

ganz damit bedeckt ist^) In Ungarn läSt sich ein mit.^ hafteter mit Haosseife tüchtig abreiben, nimmt dann ti^'|^ lieh wirkende Bäder von gekochtem Heusamen and ^' 4 Schwefelbutter. „Nach einigen Tagen aber, wenn i | ^ | backen der Backofen noch heiß ist, wird der dAf'i % gesteckt, und es gab schon Fälle, daß er beV i v* y « ersticken mußte." 2) Hier, wie auch früher, ^ii/<^ Prozeduren leicht schädliche Folgen für ^'i f ' f # f * Patienten haben können und daß derartf; ^ ^ | ) j * .- gekommen sind. >#*'•*•

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1) „Hsuiiburger Nachrichten' ^ Hamburg, den 15. November 1907, Zweite Morgenausgabe.

Das .Backen*^ tob Kranken. 365

^er Bericht bestätigt, was uns Löwenstimm ^) schon über den "brauch im Lukojanow'schen Kreise über das Backen von ^ ^ -^teilt hat. Löwenstimm berichtet dort auch einen tödlich

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.N ^ ad Strafrecht'* (Berlin 1895) S 140f.

364 XXI. Hellwio ^

Der Gewährsmann hat „vor vielen Jahren" in dem kleinen Dorfe Odinuschka am Ufer des Flusses Petschora die Heilmethode selber anwenden gesehen. Das ganze Dorf ist von altglänbigen Sektierern bewohnt; an der Spitze stand die Frau des Gründers, eine alte Greisin, die gleichzeitig auch die Heilkunst ausübte. Die kleinen Kinder^ die an Ehaehitis litten, kurierte sie durch Einbacken in Teig. Vor Vor- nahme der Zeremonie kroch die Alte langsam auf den Ofen und murmelte dort Gebete. Ein Kind nach dem andern wurde dann auf einen Klumpen Teig gelegt und mit derselben Teigmasse bedeckt^ gerade so als ob man einen ^Pirog", einen großen Teigkuchen backen wollte. Das Kind wurde dann in eins der Körbchen gelegt^ in dem die Bauern der dortigen Gegend ihre Brote zu backen pflegen, die Teigmasse dann mit einem nassen Tuch bedeckt und das Kind dann in den Ofen geschoben. Die Alte fing dann wieder an zu beten. Nach einiger Zeit kroch die Alte in den Ofen und sah nach dem Kinde; es war aber ^noch nicht warm genug." Sie las wieder ein Gebet, das sie kaum beendet hatte, als das Kind im Ofen an zu jammern fing. Die Mutter des Kindes wollte schon die Harke er- greifen, als die Alte sie mit einer energischen Geste zurückwies. „Hab* Geduld, meine Liebe, meine Sonne", sagte sie ruhig, „soll das Kind sterben, so stirbt es ohne deine Hilfe, bleibt es leben, so wird es nicht verbrennen^. Dann holte sie das Kind heraus, das jetzt vollkommen ruhig schlief. Der Teig wurde abgebrochen und das Kind von der Alten mit heiligem Wasser bespritzt. Ein anderes Kind wurde bei dieser Prozedur etwas an- gebrannt, da es vermutlich nicht gut genug in den Teig eingewickelt war. Als unser Gewährsmann drei Jahre später wieder in das Dorf kam, suchte er nochmals die alte Bäuerin auf und fragte sie scherz- haft, was denn ihre „Kinder-Pirogen" machten. „Gesund, alle gesund Nur der Bengel Kuschka ist mir mißlungen." „Was ist mit Kuschka geschehen?" fragte ich. „Das war ein Bengel! Nicht eine Minute lang konnte er Buhe finden, es war nicht möglich ihn in den Teig einzuwickeln; er kroch immer wieder heraus. Da haben wir uns Bat geschaffen: Wir banden ihn an die Harke und schoben ihn in den Ofen .... Ich stehe dabei, lese meine Gebete und sieh' mal, was geschieht? Kuschka, von Kopf bis zur Sohle schwarz von Ruß, kriecht auf allen Vieren aus dem Ofen heraus, denken sie mal: auf allen Vieren! und was war das Resultat? Er starb etwa in einem Jahre, weil er eben nicht genügend eingebacken ist." ^)

1) „Hamburger Nachrichtcn^S Hambarg, den 15. November 1907» Zweite Morgenausgabe.

Das «Backen'^ tob Kranken. 365

n

Dieser Bericht bestätigt, was uns Löwenstimm i) schon über den analogen Brauch im Lukojanow'schen Kreise über das Backen von Kindern mitgeteilt hat Löwenstimm berichtet dort auch einen tödlich verlaufenen Fall aus dem Wilna'schen Kreise und auch die oben ge- nannte Heilkünstlerin hat wenigstens eines der Mädchen tüchtig an- gebrannt. Wundem muß man sich, daß diese gefährliche Gewaltkur überhaupt in relativ wenigen Fällen schädliche Folgen hinterläßt.

Die gebrachten Beispiele zeigen, daß der Gebrauch des Backens noch weitverbreitet ist Die praktische Bedeutung dieser Volkssitte für den Kriminalisten besteht einmal darin, daß er nicht auf Mord schließt, wenn ein Kind hierbei verunglückt oder wenn ein Er- wachsener, der sich in den Backofen gelegt hat, hier jämmerlich ver- brennt und femer darin, daß man, wenn wegen eines derartigen Falles Anklage erhoben wird wegen fahrlässiger Körperverletzung beziehungs- weise Tötung, den uralten heidnischen Aberglauben als mildernden Umstand in Bücksicht ziehen wird.

1) Löwenstimm ,,Aber^laube und Strafrecht'' (Berlin 1895) S 140f.

XXII. Das Ameisenbad als Heilmittel.

Dr. Albert Hellwig in Beriin-Hennsdoif ,

In älteren gerichtsärztlichen ZeitBchriften findet der moderne Kriminalist manch' interessanten Fall, manch' weitvoUe Anregang. Besonders trifft dies zu bei dem Studium des kriminellen Aber- glaubens, bei dem man diese reichhaltigen Quellen noch gamicht berücksichtigt hat. Der im folgenden dargestellte Fall mag gleich- zeitig als treffender Beleg dafür dienen, daß auch die Kenntnis mittel- alterlichen Aberglaubens, dessen Weiterbestehen nicht bekannt ist, unter Umständen von größter praktischer Bedeutung werden kann. Vor ungefähr sechs Jahrzehnten verordnete eine „weise Frau^, namens St, einem Mädchen, welchem infolge von Chlorosis die Menstruation aus- geblieben war, ein Ameisendampfbad. Das Mädchen wurde gleich nach dem Essen in ein Faß gesetzt, in welchem sich ein aus i^- gefähr einer Metze Ameisenhaufen und heißem Wasser bereiteter Aufguß befand, und der Körper mit Tüchern fest verhüllt Das Mädchen bekam infolge dieser Prozedur natürlich bald großen Durst^ zu dessen Stillung ihr von der St Branntwein gegeben wurde. Das Mädchen konnte diese Gewaltkur nicht vertragen^ wurde bald schlaff und starb nach kurzer Zeit an Herzlähmung i). Für die Frage, ob die St sich der fahrlässigen oder gar vorsätzlichen Tötung schuldig ge- macht hat, ist es natürlich von größter Bedeutung, zu erfahren, ob das Ameisenbad auch sonst als Heilmittel in Übung ist In der neueren volkskundlichen Spezialliteratur habe ich darüber keine An- deutung gefunden; doch beweist dies selbstverständlich noch nicht, daß auch im 19. Jahrhundert derartige Heilpraktiken in Deutschland angewendet werden. Schwerer wiegt schon, daß auch ein umfang-

) „Ccntralarchiv für die gesamte StaatBarzneikunde'', Jhg. IT, (Ansbach 1845) S. 664« unter Berafung auf Siebenhaar's Magazin, Bd. 4, Heft 2.

Das AmdBonbad als Heilmittel. 367

raohes Spezialwerk über die Verwendung der Tiere in der deutschen Volkflmedezin zwar zahlreiche Angaben hat über mannigfachste Ver- wendung von Ameisen als Heilmittel in dem geltenden Volksglauben >), dagegen kein einziges, das einen auch nur ähnlichen Brauch be- schriebe. Dagegen finden wir ebendort ein Excerpt aus einem in der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden befindlichen Manuskript

(0. 323) „Ein sehr köstlich Ertzeneybüchlein **, das folgender-

mafien lautet: „Wenn eyne frawe Ihrer zeitt nichtt recht hatt und vor- keltet ist, die Geruinne von manssfeldt Man soll nehmen die großen Sperck (?) Eymissen, so vile, als die aufm häufen istt, die alle mitt- einander In eynenn newen beutel thun vnnd legen sie In eynen kesssei mit wasser, lassen sie wol siedenn, giessen es ab In eyne wannenn und giessen noch ein mhall frisch wasser darauf vnnd lassens woU wieder sieden und giessen es wieder zum eistenn ihn die wanne, setzen sich darein biss an den Nabell ynnd legen den sack mitt Eymissen hinder den ruckken vnnd eine stunde in dem bade geschwiczzettt vnnd darnach In ein Bette gelegett vnnd noch ein mhall geschwiczzett, diss muss man eine woche nach einander thun uud nichtt in die Luft gehen^ '^). Wir haben hier also in dem Kezept aus dem 16. Jahrhundert im wesentlichen die Anweisung für ^e Heilprozedur, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts vorgenommen worden ist Ob etwa dem Ameisenbad tatsächlich irgendwelche therapeutische Wirkung beigemessen werden kann wegen der Ein- wirkung der Ameisensäure, das zu unterscheiden, muß ich den Fach- gelehrten überlassen. Was den von der St. zur Bekämpfung des Durstes gegebenen Branntwein betrifft, so ist er zwar in dem ge- schriebenen Eezept nicht angeordnet Möglicherweise befand er sich aber in der betreffenden Variante, welche durch mündliche oder schriftliche Überlieferung auf die St überkommen war. Möglicherweise hat die St diese Anordnung auch aus sich heraus getroffen. Irgend einen Schluß bezüglich des Dolus läßt sich hieraus keineswegs ziehen, da Branntweingenuß, oft bis zur völligen sinnlosen Berauschung, ein gar häufiges therapeutisches Mittel der Volksmedizin ist. Wenn man fragt, wie es möglich ist, daß die St ein derartiges altes Mittel ge- kannt hat, das anscheinend schon lange nicht mehr angewandt wurde, so muß einmal darauf hingewiesen werden, daß es zwar wahrschein- lich, aber nicht sicher ist, daß das Ameisenbad nicht mehr weiter

1) Johannes Jühling „Die Tiere in der deutschen Volksmedizin alter und neuer Zeit" (Mittweida 1900) S. 84—88, außerdem S. 39, 43, 134, 138, 140, 160, 217, 218, 221, 298, 341.

2) Jühling a. a. 0. S. 84 f.

368 XXn. Hellwio.

verbreitet war, und daß sich erfahrungsgemäß bei einzelnen „weisen Frauen^ und ^Hexenmeistern^ zahlreiche uralte Rezepte Jahrhunderte lang konservieren. Es sei nur erwähnt, daß im Jahre 1 895 bei einem 37 Jahre alten Medikaster und Geheimkünstler in einem kleinen württembergischen Örtchen, der einer alten Schatzgräber- und Wunderdoktorenfamilie angehörte, in der dies Gewerbe schon seit Generationen betrieben wurde, einige hundert handschriftliche und ge- druckte Zauberbücher gefunden wurden ^). Wie uns der vorliegende Fall zeigt, muß man äußerst vorsichtig sein mit der Behauptung, eine bestimmte Heilprozedur sei im Volke nicht gebräuchlich und es sei daher den Angaben des Angeklagten kein Glauben zu schenken, daß er an den Erfolg der Heilkur geglaubt hat Die Folgerung, welche wir weiter daraus ziehen müssen, ist, daß wir nicht verschmähen sollen, uns mit irgend einem Aberglauben oder Volksbrauch vertraut zu machen, weil wir nicht gleich einzusehen vermögen, daß er noch von praktischer Bedeutung werden kann: Eines Tages wird uns seine Kenntnis vielleicht doch noch nutzen!

1) PaulBeck „Die Bibliothek eines Hexenmeisters'^ („ZeitBchrift des Vereins für Volkskunde" Berlin 1905 S. 412-424). Über die beiden Fälle von Grab- schändung, die zur Untersuchung gegen den Hexenmeister Anlaß gaben, ver- gleiche jetzt meine Abhandlung „Zwei eigenartige Fälle von Grabschändung aus Aberglauben" in den ,,Hessischen Blättern für Volkskunde*", Bd. V, 1907, S. 75/82.

XXIII. Erbschlüssel und siebentes Buch Mosis

Von Dr. Albert Hellwig (Berlin-Hermsdorf).

Daß mystische Zauberprozeduren, um Diebe, Hexen und sonstige Übeltäter zu entdecken, heutigen Tages, wie noch vor Jahrhunderten, auch bei den Kulturvölkern in Übung sind, zeigen alljährlich mehrere Fälle, von denen die Zeitungen zu berichten wissen. Besonders häufig kommt der Zauberspiegel und der Erbbuchzauber in An- wendung. Über beide Prozeduren habe ich schon umfangreiche Materialien gesammelt. Einige besonders interessante Fälle, in denen man mit Hülfe eines „Erbschlüssels*' und eines „Erbbuches" Ver- brecher zu entdecken suchte, gedenke ich demnächst auf Grund der Akten eingehend darzustellen. Soeben berichten die Zeitungen über einen neuen Fall, in dem sogar beide Prozeduren zur Sprache kommen^ und der außerdem die Besonderheit hat, daß als „Erbbuch" anscheinend das sattsam bekannte „sechste und siebente Buch Moses" Verwendung gefunden hat, während es sonst in der Regel eine „Erbbibel" oder ein ererbtes Gesangbuch ist. Der Zeitungsbericht lautet folgendermaßen:

„Durch Aberglauben in übles Gerede gekommen ist ein hiesiger Handwerksmeister. Im Dezember vorigen Jahres wurde bei einem hiesigen Geschäftsmann ein Einbruch verübt, der dem Diebe eine größere Summe Geldes einbrachte. Der erwähnte Meister gehörte nun zu denjenigen, die der Bestohlene im Verdacht hatte, den Ein- bruch verübt zu haben, um aber ja keinen Fehlgriff zu machen, zog man einen „klugen und weisen Mann" zu Rate, in der be- stimmten Erwartung, daß es diesem mit dem siebenten Buch Moses und einem mehrmals „vererbten Schlüssel" gelingen müsse, den oder die Diebe zu ermitteln. Mit allem möglichen Hokuspokus und vielerlei Beschwörungsformeln wurde denn nun auch festgestellt, daß der erwähnte Handwerksmeister ein bis dahin völlig unbescholtener

Arohiy für Kriminal anthropologie. 28. Bd. ; 24

870 XXJII. Hellwio. ErbechlOBsel und siebentes Bnch Mosis.

Mann der Dieb sei. Um jeden Zweifel zu beheben, sollte der Bestohlene noch zu einem Kollegen des „weisen Mannes^ nach Gold- berg fahren. Dieser besitzt einen Wanderspiegel, der dem Bestohlenen den Dieb zeigen sollte. Die Feststellungen der „weisen Mfinner^ wurden nun weiter erzählt, und es entwickelte sich daraus ein ganz gehöriger Klatsch, der dem Handwerksmeister zu Gfehör kam. Die Geschichte wird nun ein gerichtliches Nachspiel haben^ <).

Falls der Bestohlene auf der Anklagebank sitzen sollte, werden die Richter seinen Aberglauben in weitgehendem Maße als straf- mildernd in Betracht ziehen müssen; wünschenswert wäre es da- gegen, wenn Polizei und Gericht gegen die „weisen Männer^ energisch vorgehen könnten.

1) ^»Schlesische Zeitung'^, Breslau, 16. Mftrz 1907, mir übereandt von Pastor Schwärs (Kreisewitz, Bezirk Breslau). Quelle ist das «Liegiiitzer Tai^latf". Derselbe Bericht stand auch in verschiedenen anderen Blflttem.

XXIV. Appetitliche Zaubertränke.

Von

Dr. Albert Hellwig (Berlin-Hennsdoif).

Haß und liebe, Trunksucht und allerlei andere Leidenschaften glaubt das Volk auf rein mechanische Weise, durch Einflößung von gar mancherlei Zauber- und Wundertränken erregen und bekämpfen zu können und steht auch in dieser Beziehung im Grunde genommen auf derselben Kulturstufe wie der Australneger oder der Feuerländer. Daß derartige Zauberkuren auch heute noch vielfach gebraucht werden, zeigen die häufigen Zeitungsberichte. Zu bemerken ist da- bei, daß sich auch hier wieder konstatieren läßt, daß der Aberglaube nicht allein auf die unterste Kulturschicht des modernen Europas be- schränkt ist, sondern vielmehr auch unter den „Oebildeten*^ trotz immer fortscheitender Naturerkenntnis immer noch mehr wie genug Gläubige findet So wurde von der Strafkammer zu Freiburg im Breisgau, wie die „Tägliche Rundschau^ (Berlin) vom 1. Juni 1906 meldete, der Kaufmann Theodor Heintz wegen Betruges zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er Aalschleim als Mittel gegen Trunk- sucht vertrieben hatte. Für dies wenig appetitliche Mittel, das ihm 15 bis 20 Pfennig kostete', nahm er 10 Mark. Wie groß trotzdem der Umsatz war, kann man daraus ersehen, daß er bei seiner Ver- haftung bereits 5470 M. eingenommen hatte, während über 3000 M. noch einzukassieren waren. Bei dem Preise darf man wohl an- nehmen, daß sich die Kundschaft dieses Wunderdoktors größtenteils aus Leuten zusammensetzte, die es als beleidigend auffassen würden, wenn man sie nicht zu den Gebildeten zählte. Die volkstümlichen Mittel gegen Trunksucht sind mannigfach und weit verbreitet: Bezeichnend für den trotz aller Temperenzlerbewegungen immer noch gewaltigen deutschen Durst. Meistens sind sie wenig appetitlich ^

1) Vgl. Ad. Wuttke „Der deatsche Voiksaberglanbe der Gegenwart^' S. Bearbeitung von Elard Hugo Meyer (Berlin 1900) §§ 188, 541, 547.

24*

372 XXIV. Heixwio

und oft höchst kurioser Art. Ich habe zahlreiche Materialien dar- über gesammelt, die ich in einer volkskundlichen Zeitschrift yer- öffentlichen werde. Aalschleim als Trunksuchtsmittel habe ich zwar nirgends finden können. Dagegen klingt an dieses Bezept an das in Oldenburg 1) und in Schwaben 2) gebräuchliche Verfahren, einen Aal in Wein oder Branntwein ertrinken zu lassen und den Trank dann dem Säufer zu trinken zu geben.

Noch weniger appetitlich , ja sogar recht gefährlich war jenes Zaubermittel gegen Trunksucht, welches sich nach der ^Eatto witzer Zeitung^ vom 25. April 1906 eine Viktualienhändlerin in Königshütte (Schlesien) verschaffte, um ihren Mann zu kurieren, der ein unver- besserlicher Trunkenbold war und ihr das Leben zur Hölle machte. Auf den guten Rat einiger „weiser Frauen" verschaffte sich die Händ- lerin etwas von dem Waschwasser, mit dem eine Leiche gereinigt worden war und goß dieses dem Manne in den Schnaps. Doch ver- sagte dieses Mittel bei dem trinkfesten Mann. Da erfuhr die ver- zweifelte Frau, daß das „Wasser", das von einer bereits eingesargten Leiche abtropfe, ein unfehlbares Mittel sein solle. Es gelang ihr auch, sich eine derartige Flüssigkeit zu verschaffen und der Mann schluckte den schaurigen Trank „half and half" hinunter. Ob das Mittel seine Wirksamkeit getan oder ob der Mann, dessen Magen auf derartigt verfälschte Spirituosen sicherlich nicht geaicht war, er- krankt ist, hat man leider nicht erfahren können. Branntwein, ge- mischt mit dem Wasser, mit dem eine Leiche abgewaschen ist, ist außer in Schlesien auch in Thüringen als Trunksuchtsgegenmittel bekannt.^) Ahnlich heilt man in der Wetterau einen Trunkenbold gänzlich, wenn man das auf der Leiche gelegene Gesichtstuch in den Branntweinkrug des Trinkers steckt und ihn davon trinken läßt*) Bemerkenswert ist in dem obigen Fall die mir sonst nicht bekannte Steigerung der Intensität des Mittels: Der von der eingesargten Leiche herausquellende Flüssigkeit muß entschieden mehr von der angeb- lichen Heilkraft der Leiche innewohnen, als dem Wasser, mit dem die Leiche abgewaschen ist, das also nur flüchtig mit dem Leichnam in Berührung gekommen ist und den Heilstoff in stark verdünntem Zustande enthält. Ferner ist die Aufmerksamkeit der Kriminalisten

1) Wuttke a. a. 0. § 541.

2) Dr. M. R. Bück „Medizinischer Volksglaube und -aberglanbe aas Schwaben*^ (Ravensburg 1865) S. 53, zitiert bei Johannes Jühling „Die Tiere in der deutschen Volksmedizin alter und neuer Zeit" (Mittweida 1900) S. 20.

3) Wuttke a. a. 0. § 183.

4) eodem.

Appetitliche Zaubertränkc. 373

darauf zu lenken, daß eine sonst unerklärliche Grab- oder Leichen- schändung auf einen derartigen Aberglauben zurückgehen kann, wo- für wir weiter unten aus Bußland ein Beispiel beibringen werden.

Einen andern Fall, in dem man Streit- und Zanksucht durch einen Zaubertrank zu kurieren suchte, berichtete die ^Berliner Morgen- zeitung" vom 24. Januar 1907. Dieser Fall ist um deswillen be- sonders interessant; aber auch traurig, weil das angewandte Mittel äußerst gefährlich war und leicht ein ganzes Dorf hätte verseuchen können und weil der Abergläubische sich einer Leichenschändung schuldig machte, die er in den Bergwerken Sibiriens büßen muß. Der Bericht des Petersburger Korrespondenten jener Zeitung lautete folgendermaßen :

„Zwischen dem Bauern Gluchich und seinem Sohne herrschte fortgesetzt Streit, der beiden das Leben verbitterte und den Vater da- zu trieb, sich einer Dorfzauberin anzuvertrauen. Diese riet dem un- glücklichen Vater, er solle dem Sohne längere Zeit hindurch Wasser zu trinken geben, in dem eine Menschenleiche gelegen habe. Dann werde die Streit- und Zanksucht des Sohnes von selbst aufhören. Da der Bauer wußte, daß vor etwa anderthalb Monaten ein ein- jähriges Kind auf dem Dorfkirchhof beerdigt worden war, schlich er sich nachts auf den Friedhof, scharrte die Kinderleiche aus und warf sie zu Hause in den Brunnen, aus dem Trinkwasser für Menschen und Vieh geschöpft wurde. Einen vollen Monat lag die Leiche im Brunnen, aber die Streit- und Zanksucht des Sohnes wollte nicht nur nicht abnehmen, sondern schien sogar zn wachsen. Eines Tages stieg aber die Leiche an die Oberfläche des Brunnens und wurde auf diese Weise zum Ankläger und Verräter. Bei der einge- leiteten Untersuchung gestand der Vater das Verbrechen der Leichen- schändung, auf die dem russischen Bechte nach Verschickung zur Zwangsarbeit steht, reumütig ein und wurde ins Gefängnis abge- führt. So geschehen im Dorfe Iljino, im Kreise Sarapul des Gou- vernements Wiatka."

Leichenwasser als Zaubertrank ist auch sonst bekannt; so heilt man in Schlesien und Thüringen einen Trunkenbold, wenn man ihm das Wasser, mit welchem eine Leiche abgewaschen ist, im Brannt- wein zu trinken gibt.') Der hierbei maßgebende Gedanke ist offen- bar der, daß das Leichenwasser dieselben Kräfte und Eigenschaften wie der tote Körper hat, also als Totenfetisch gilt; man meint nun, daß wie der Tote verwest, so auch die Trunksucht, beziehungsweise

1) Wuttke a. a. 0. § 183.

374 XXIV. HsLLwia

die Zanksncht vergeben müssen weil der Mnnd der Betreffenden mit dem Leichenwaaser in Berührung gekommen ist. Zu beachten ist dabei, daß sowohl bei der Tmnksacht als auch bei der Streitsucht der Mund dasjenige Organ ist, durch das sich das betreffende Laster nach außen hin manifestiert: deshalb wird das Heilmittel auch hier angewandt Wie aus diesen Überlegungen und Analogien zu schließen, kann jener Zeitungsbericht als zuverlässige Quelle angesehen werden. Bemerkt sei noch, daß nach der Fassung jener Notiz es zwar an- scheinend nur Zufall war, daß gerade die Leiche eines kleinen Kindes zu der Zauberprozedur genommen wurde, daß es aber immerhin auch möglich ist, daß die Leiche eines Erwachsenen für nicht wirksam oder doch nicht für in gleichem Maße heilkräftig gegolten hätte, denn es ist ein bekannter Volksglaube, daß gerade „unschuldige Kinder^ besonders zauberkräftig sind.

Zum Schluß sei noch eine Tragikomödie erwähnt, die sich kürz- lich in Brüssel abgespielt hat, wo eine gebildete Sängerin in den Verdacht des versuchten Giftmordes kam. „Das Deutsche Blatt^ vom 25. Januar 1907 berichtete darüber folgendes:

Der Liebestrank. Eine Angelegenheit, die in Brüssel Auf- sehen erregte, hat sich jetzt in milde Heiterkeit aufgelöst Ein Künstlerehepaar er Maler, sie Sängein vertrug sich schon seit längerer Zeit nicht zum besten. Obgleich sie ein Töchterchen hatten, schienen sie entschlossen, sich scheiden zu lassen, und schon hatten sich zwei Advokaten mit dem Fall befaßt So weit war die Sache, als eines Tages und dann mehrere Tage hintereinander der Ehemann sich nach jeder Mahlzeit von Leibschmerzen gequält fühlte. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf, der sich befestigte, als der Hund des Malers, nachdem er ein für diesen bestimmtes Törtchen gefressen, auf gleiche Weise krank wurde. Und das Dienstmäddien, streng; ins Gebet genommen, verriet schließlich, daß die gnädige Frau allen Speisen des Mannes ein giftiges Pulver beigemischt habe. Da erstattete der Mann die Anzeige, und die Frau legte vor dem Unter- suchungsrichter ein volles Geständnis ab, nur fiel es etwas anders aus, als man erwartet hatte. Die Frau hatte nämlich nicht im ge- ringsten daran gedacht, ihren Mann ums Leben zu bringen ; im Gegen- teil. Nicht Gift hatte sie ihm beibringen wollen, sondern einen Liebestrank. Sie hatte fest geglaubt, daß ihr Mann zärtlicher werden und zu ihr zurückkehren würde, wenn sie ihn häufig von einem wohlbekannten Aphrodisiakum, dem Kantharidin, schlucken ließ. Daß die Wirkung eine ganz andere war, dafür konnte diese Isolde nichts. Der Apotheker, der das Mittel ohne ärztliche Ver-

Appetitliche ZaabertrSnke. 375

Ordnimg abgegeben hatte, wird dafür bestraft werden. Der Maler Tristan aber kehrt jetzt vielleicht doch in die Arme der Gattin znrück, die auf so besondere Art um seine Liebe geworben.''

Hierzu sei bemerkt, daß es sich hier offenbar um die Anwen- dung eines in gesundheitlicher Beziehung recht gefährlichen Zauber- trankes handelte, der auch in Deutschland bekannt ist Dies bezeugt ein Mediziner von umfassenden ethnologischen und folkloristischen Kenntnissen: „Nicht ungefährlich mag die Liebeswut sein, welche die fränkischen Mädchen bei ihren Geliebten dadurch erzeugen, daß sie denselben in Kaffee eine Abkochung von spanischen Fliegen über- geben, denen sie vorher den Kopf abgebissen haben; denn das in diesen Tierchen enthaltene Gantharidin wirkt schwer schädigend auf die inneren Organe, namentlich auf die Nieren, ein.^ ^) Dieser Fall ist besonders um deswillen interessant, weil ein Bichter, dem jener Volksglaube nicht bekannt wäre, bei den Zerwürfnis zwischen den Ehegatten die Angaben der Liebeszauberin für erdichtet halten müfite; daneben sei auch noch darauf hingewiesen, dafi zahlreiche Zauber- mittel, welche sich durch das „sechste und siebente Buch Mosis'' und in anderen weitverbreiteten modernen „Zauberbüchem^ befinden, gleichfalls höchst gesundheitsschädlich sind, sodaß auch von diesem Gesiditspunkt aus ein behördliches Einschreiten gegen diese Schund- literatur Wünschenwert wäre.

1) Dr. EL PI 088 ,,Das Weib in der Natur- and Völkerkunde". 3. Aoü. von Dr. Max Bartels Bd. I (Leipzig 1891) S. 360. Eine neuere Auflage i»t mir augenblicklich nicht zur Hand.

XXV. Regenwarmmedizin.

Von Dr. Albert Hellwig.

Zu welchen höchst eigenartigeD, ebenso ekelerregenden als anter Umständen gefährlichen ^Heilmitteln^' das Volk immer noch seine Zuflucht nimmt, zeigt von neuem wieder folgender Vorfall, den das ,, Hannoversche Tageblatt^ vom 31. August 1906 im Anschluß an das ;^HoxaIer Wochenblatt^ berichtete: „In der Nähe von Intschede war ein Kind schon seit längerer Zeit krank, ohne daß dem Laien eine eigentliche Krankheitsursache erkennbar war; es mußte also be- hext sein. Auf den Bat eines ,weisen^ Mannes wurde dem armen Wesen ein lebender Regenwurm eingegeben, um das Kind zu heilen und den Zauber der bösen Hexen zu brechen. Der Wurm blieb dem Kinde in der Kehle stecken, und so mußte das unglückliche Opfer des dunkelsten Wahnes elendiglich an Erstickung sterben.^

Der Regenwurm wird in der Volksmedizin gar nicht all zu selten als Medikament angewendet i), meistens äußerlich als Salbe, Pulver, Ol, oft aber auch innerUch. So heißt es in einem älteren in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden vorhandenen Manu- skripte: „Wieder den Biß eines thörichten Hundes. Nim vier kleine Würmlein vund schneidt ihnen mit einem faden das Haupt abe vund lege sie in honig, vier aber die zu reibe in Bier vund trincke davon.** In der Oberpfalz gibt man dem Kranken gegen Auszehrung das Pulver von gedörrten ßegenwürmern in der Suppe zu essen 2). In Oldenburg ertränkt man gegen Bheumatismus und Gicht dreizehn

1)JohanneB Jühlin^ „Die Tiere in der deutschen Volksmedizin alter und neuer Zeit" (Mittweida 1900) S. 67, 133- 141, 144, 149, 177, 178, 213, 215, 260.

2) Schon wer th „Sitten und Sagen der Oberpfalz" (1858) S. 38, 2, zitiert bei Jühling a. a. 0. S. 139.

Regen warmmedizin. 377

Begen Würmer in Branntwein und schluckt sie mit ihm hinunter^) und in Pommern gilt es als ein probates Mittel gegen Magenkrämpfe, wenn man eine reife Pflaume aufschneidet, einen Begenwurm hinein- steckt und sie ganz verschluckt^).

Was die Verwendung des Begenwurmes als Heilmittel anbelangt, so ist hierfür vermutlich maßgebend gewesen der allgemeine Glaube an die Entstehung zahlreicher Krankheiten durch „Würmer^. Sicher- lich gaben die Eingeweidewürmer dem parasitären Dämonismus in der ehemaligen Nosologie den eigentlichen Boden. Vielleicht hat nichts den Glauben an Krankheitsdämonen solange forterhalten als gerade der allen bekannte Parasitismus, in dessen faktischer Kenntnis unsere Zeit so große Fortschritte aufzuweisen hat ; namentUch mußten die in fettigem Eingeweide voll von schmierigem Schleim lebenden Bauchwürmer, die aus der crusta vermicularis, der innersten Schleim- haut des Darmes entstehen sollten, dem Eingeweidebeschauer auf- fallen. Gerade in solchen krankhaften Sekretionen (Qualster) mußte der elbische Dämon oder wenigstens ein Stück von ihm sitzen^)."

Vermutlich hat man auch in dem oben geschilderten Fall, der den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen bildete, einen Wurm als Krankheitsursache vermutet, und zwar den „Herzwurm'^, „das ist ein wurm der den Leuten das Herz absperrt und nimand wais, was es ist und sterben gähling daran; es hat Hoerner vom am Haubt wie ein hirsch *).*' Der gemeine Mann glaubt, daß jeder Mensch einen solchen Herzwurm habe und, wenn dieser aus dem Munde krieche und auf die Zunge trete, so müsse er sterben. In Gestalt eines Herz- wurmes können auch die Hexen das Herz des Menschen abspeisen, aufzehren, so daß das Herz dns Menschen nach dem Tode bohnen-, nuß-, erbsengroß zusammengeschrumpft vorgefunden wird; dann hatte etwas am Herzen genagt^). Als Gegenmittel gegen die durch Würmer verursachten Krankheiten nahm man nach dem bekannten Grundsatz der Volksmedizin „similia similibus curare*' auch wieder Würmer ein. So ließe es sich auch in unserem Falle erklären, daß einem „behexten'^ Kind ein Begenwurm eingegeben wird; denn durch das Hexen ent- steht der Herzwurm und dieser wird durch den Begenwurm bekämpft.

1) Strakerjan „Aberglaube und Sagen aus Oldenburg*^ Bd. I Oldenburg 1867 § 111.

2) Knoop in der „Zeitschrift für pommersche Volkskunde'' Bd. V, zitiert bei Jühling a. a. 0. S. 140.

3) Jahling a. a. 0. S. 334.

4) Jühling a. a. 0. S. 338.

5) eodem.

378 XXV. Hellwio

Interessant ist übrigens, daß noch eine Oöttinger Dissertation von 1786 die Begenwürmer als wirksam lobt, besonders gegen Gicht, Gelbsucht, Milzkrankheiten, Lähmungen^ SchlagfluB, Konvulsionen, Krämpfe, Tollwut, Ohrenleiden, Eingeweidewfirmer, Skorpionstiche, Skorbut und Hamverhalten ^).

So geben uns auch hier die volksmedizinischen Parallelen einen brauchbaren Anhidt zur strafrechtlichen Charakterisierung der töd- lichen Heilprozedur. Denn die Anwendung eines derartig verbr^teten Yolksheilmittels wird den daran Glaubenden fast immer vor dem Vorwurf des fahrlässigen Handelns bewahren; mindestens aber ist der Grad der Fahrlässigkeit ein so geringer, daß die Strafe milde ausfallen dfirfte.

1) JQhling a. a. 0. S. 140.

Kleinere Mitteilnngen.

Von Medizinalrat Dr. P. Nftcke.

1.

Nekrolog für Prof. Mendel. Am 23. Juni h. a. ist einer der bedeutendsten Psychiater des Kontinents heimgegangen. Geb. 1839 zu Bunzlau, habilitierte sich M. in Berlin , ward 1884 außerordentlicher Prof^ vor kurzem erst zum Oeheimrat ernannt, und ward als Lehrer und Kousulent hochgeschätzt Nach Gharcot besaß er wahrscheinlich die größte Nervenklinik in Europa und seine Kranken und Schüler vergötterten ihn. Aber auch in der Wissenschaft hat er tiefe Spuren hinterlassen. 1898 begründete er das hochangesehene „Centralblatt für Neurologie und Psychiatrie*' und schrieb viel neurologische und psychiatrische Arbeiten, die sidb alle durch große Klarheit, Ruhe, große Erfahrung und Gründlichkeit auszeichneten. Seine Hauptwerke sind: Progressive Paralyse der Irren (1880); die Manie (1831), der Leitfaden der Psychiatrie (1902) und anderes mehr. Die Juristen interessiert besonders seine intensive forensische Tätig- keit und verschiedene forense Arbeiten, die auch von den Juristen sehr gelobt werden. Seinen zahlreichen Freunden und Bekannten war er ein treuer Berater, stets gütig, hilfsbereit und wahr, was er auch in seiner früheren politischen Tätigkeit bewies. Sein Andenken wird stets in der Wissenschaft erhalten bleiben und auch die Mitwelt kann nur sagen: Er war ein guter und ein ganzer Mann! Requiescat in pace!

Mitgeteilt von Hans Groß. 2.

Falsche Würfel in Japan. Herr Shitara Jsao, Rat am Apel- iationsgerichtshof in Sendai^), Japan, hatte die Güte, mbr 4 falsche Würfel zu senden, die japanischen Falschspielern abgenommen wurden. Leider ist

1) In der Provinz Rikuzen, Ostküste der Insel Nippon mit (1894) 78771 Einwohnern.

380 EJeinere Mitteilungen.

einer der Würfel, gerade der interessanteste, nicht angekommen i). Die übriggebliebenen Würfel sind aus Bein hergestellt, und nicht von gleicher Größe; die Längsseiten der drei Würfel messen 9, S, 7 mm, so daß die drei Würfel nicht dne zusammengehörige Garnitur gebildet haben. Es geht auch aus der folgenden Beschreibung hervor, daß man in Japan stets nur mit emem einzigen Würfel zu spielen scheint; Herr Shitara sagt: „beim Spielen legt man den Würfet „man schüttelt den Würfel^' etc.

Ich bringe den ganzen Brief des Herrn Shitara buchstäblich zum Ab- druck: es ist bewunderungswürdig, wie vortrefflich sich der Asiate im Deutschen auszudrücken vermag.

Sendai, den 16. August 1907.

Geehrter Herr Professor!

Wie geht es Ihnen? Hoffentlich sehr gut Hier bleibt alles beim alten. Herr Tacagi wird Sie auf seiner Reise um die Welt besucht haben und Sie haben wohl von ihm erfahren, wie es hier bei uns zu Hause geht.

Diesmal schicke ich Ihnen 4 Würfel. Einer von ihnen ist abge- brochen. Er war so beschaffen, daß er immer auf einer Flache mit der ungeraden Zahl stand, indem man in der Nähe derselben Blei in den Würfel hineingegossen hatte. Ich wollte das Blei herausholen und machte es dabei ungeschickt, daß eine Ecke desselben absprang. Von den drei anderen ist der kleinste nur mit den geraden Zahlen versehen^ während der mittelgroße nur die ungeraden Zahlen hat. Von dem größten'^) ist jede ungeradzahiige Fläche mit einer Nadel versehen, welche frei heraus- und hineintritt. Beim Spielen legt man den Würfel in einen kleinen tassenförmigen Becher, welchen man in der flachen Hand hält. Man schüttelt den Würfel drin und wirft ihn daraus, indem man den Becher, den man noch immer in der Hand hält, schnell auf den mit einem Tuch überzogene Würfelmatte umstülpt. Dabei fühlt der Spieler geschickt den Würfel mit der Fingerspitze oder schiebt denselben ein wenig auf der Matte, um zu wissen, auf welcher Fläche derselben steht. Wenn er dann durch das Kratzen der Nadel auf dem Tuche merkt, daß der Würfel auf einer un geradzahligen Fläche steht, so kehrt er denselben mit derselben Fingerspitze um eine Fläche um, so daß die geradzahlige Bläche nach oben kommt. Oder überhaupt hindert die Nadel den Würfel am Rollen, so daß dieser in den meisten Fällen auch ohne irgend welches Zutun vonseiten des Spielers von selbst auf der geradzahligen Fläche zu

1) Die Pappschachtel, in der sich die Würfel befanden, kam zerdrückt an; gleichwohl kann der vierte Würfel unmöglich verloren worden sein, da die ai>> gekommenen drei Würfel sorgfaltig in vierfachem zähen Baumwollenpapier ein- geschlagen waren, welches wieder mehrfach hermngelegt war. Der vierte Würfel muß also herausgenommen worden sein, was nur möglich war, wenn man das vielfach herumgelegte Papier aufgeschlagen (und wieder ebenso zusammengelegt) hat. Ich bedaure den Verlust des vierten Würfels lebhaft Nachforschungen, wo er auf der langen Reise verschwunden ist, wären natürlich ganz zwecklos.

2) Dieser größte ist eben der abhanden gekommene.

Kleinere Mitteilungen. 381

stehen kommt. Diese Würfel sind Ihnen nichts neaes, wenn ich Ihnen und Ihren Landesleuten nur zeigen kann, daß die Gauner ihre Sache überall gleich geschickt machen, so ist der Zweck meiner Sendung erreicht.

Hiermit empfiehlt sich mit Hochachtung

Ihr

Shitara Isao.

3.

Herr Prof. Dr. R. A. Reiß in Lausanne schreibt (unterm 28. Juli 1907) an den Herausgeber:

Sehr geehrter Herr Kollege!

Mit vielem Interesse habe ich im letzten Hefte Ihres Archives die Arbeit von Hellwig: „Einige merkwürdige Fälle von Irrtum über die Identität von Sachen oder Personen^' gelesen. Die darin angeführten Irrtümer über die Identität wundern mich garnicht, da solche Irrtümer öfters vorkommen als man denkt. In meiner Praxis habe ich zwei sehr typische Fälle gehabt, die ich Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege, für etwaige Verwendung im folgenden mitteile:

1. Ein Mann stürzt sich in selbstmörderischer Absicht von einer unserer sehr hohen Lausanner Brücken. Der sofort herbeigeholte Poli- zeisergeant glaubt in dem Toten eine recht bekannte Lausanner Per- sönlichkeit zu erkennen. Kurze Zeit nachher kommen Gerichtsarzt, Untersuchungsrichter, der Greffier des letzteren etc. in die Polizeiwache, wo unterdessen der Körper des Verstorbenen untergebracht wurde, und erkennen in dem Selbstmörder ebenfalls die obengenannte Persönlichkeit Jetzt geht ein Polizist die Frau des Verstorbenen von dem Vorfalle möglichst schonend zu benachrichtigen. Sein Erstaunen ist jedoch groß, als der vermeintlich Selbstgemordete ihm, auf sein Klingeln an der Wohnung, selbst aufmacht. Die Leiche war die einer anderen, auch sehr bekannten Persönlichkeit, die höchstens in der Größe und der Bart- tracht etwas Ähnlichkeit mit dem für den Selbstmörder gehaltenen Manne hatte. Alle Leute, vom Untersuchungsrichter angefangen, die die Leiche gesehen hatten, machten denselben Irrtum in der Identität

2. Vor einigen Jahren wohnte ich etwas außerhalb des Stadtge- bietes Lausanne. Der Weg zu meinem Hause führte über eine soge- nannte „passage ä niveau^' oder unbewachten Bahnübergang. Elines Abends, es war, wenn ich mich nicht irre, Ende Februar, kehrte ich mit einem jungen Studenten, der in meiner Gegend wohnte, nach Hause zu- rück. Am betreffenden Bahnübergang angekommen kamen wir gerade dazu, wie einige Leute einen, eben vom Zug überfahrenen, gut gekleideten Mann (Selbstmörder) vom Geleise wegtrugen. Mein Begleiter und ich traten hinzu und besichtigten die nicht sehr verstümmelte Leiche. Der Kopf zeigte nur an der rechten Schläfengegend eine breite, blutende Wunde. Die beiden Vorderarme und Beine waren gebrochen. Ich fand unterdessen den schwarzen, steifen Hut des Verstorbenen, der jedenfalls beim Anprall der Maschine hinweggeschleudert worden war, und fand in ihm die Adresse eines Turiner Hutmachers. Mein Begleiter und ich

382 Kleinere Mitteilungen.

waren also überzeugt, daß es sich nm die Leiche eines Italieners handelte. Wir hatten beide den Toten beim Lichte einer starken Laterne mehrfadi eingehend besichtigt. Nachdem wir noch eine Decke über die Leiche gelegt hatten, gingen wir hinweg. Am anderen Morgen erfuhr nun mein Begleiter, daß der Tote einer seiner Verwandten war, den er oft gesehen hatte. So hatte er also während der relativ langen Zeit, während der wir uns die Leiche betrachteten, seinen Verwandten nicht erkannt, ja er hatte sogar die Leiche für die eines Italieners gehalten.

Die von Hellwig als Erklärung solcher Identitätsirrtümer angeführte Autosuggestion mag wohl teilweise daran schuld sein. Die Hauptursache ist jedoch, wie ich es schon seiner Zeit in m^er „Photographie judici- aire*' angab, wohl die, daß wir die flach auf dem Boden mit meist ge- schlossenen Augen daliegenden Leichen, tatsächlich nicht wiedererkennen. Der Mensch ist so gewöhnt seinen Nächsten in aufrechter Stellung, sitzend oder stehend, zu sehen, daß er sich dessen Bild in dieser Stellung eingeprägt hat. Sieht er denselben nun flach auf dem Boden Begend, von oben oder von unten, so erkennt er ihn in vielen Fällen einfach nicht wieder, da er ihn noch nie, oder doch nur sehr selten so gesehen hat. Wie unbekannt kommt einem oft der beste Freund vor, den man Morgens noch im Bett liegend antrifft!

Die falsche Identitätsbestimmung von Leichen, oft von Sdten der nächsten Angehörigen, schreibe ich hauptsächlich der ungewöhnlichen Lage der Leiche zu. Es kommt natürlich dann noch oft die Veränderung des Ausdruckes des Gesichtes, die geschlossenen Augen, Fehlen der Kleidung hinzu, die die Wiedererkennung noch schwieriger machen Selbst Leute, die sich viel mit Identitätsbestimmungen, wie ich, abgeben kommen oft in solchen Fällen, nur durch die genaue Analyse der em- zelnen Oesichts- und Körperteile zu einem sicheren Resultate. Was nun die Bestimmung der EJeider- und Haarfarbe durch das Publikum be- trifft, habe ich schon so unglaubliche Sachen erlebt, daß es mich nicht wundert, daß blonde Haare für braune und umgekehrt (namentlich wenn sie naß sind) angesehen werden.

Das wären in Kurzem die Bemerkungen, die ich zur Hellwigen'schen Arbeit zu machen hätte.

Ihr

etc.

R. A. Reiß.

Mitgeteilt vom Landgerichtsrat Ungewitt er- Straubing.

4.

Ein Fall von dementia praecox. Der am 10. Mai 1889 ge- borene Tageiöhnerssohn Franz B. war vom Sommer 1904 bis Lichtmeß 1905 bei einem Fabrikbesitzer als Laufbursche verwendet. Als solcher diente er zur Zufriedenheit und zeigte keine absonderlichen Eigenschaften. Später kam aber auf^ daß er während seiner Dienstzeit auf dem Namen seiner Dienstherrschaft Geld und Lebensmittel bei Geschäftsleuten heraus- geschwindelt und Quittungsbücher gefälscht hatte. Auch nach seiner Ent- lassung begmg er solche Handlungen. Als er schließlich noch einen Ein-

Kleinere Mitteilimgen. 383

bnichsdiebBtahl verübte, wurde er verhaftet Nach wenigen Wochen zeigten sich Sparen emer Oeisteskrankheity weshalb er in die Irrenanstalt emgeschafft wnrde^ ans welcher er erst nach IV2 Jahren als gebessert^ nicht aber als geheilt, entlassen wurde.

B. ist erblich belastet, der Sohn eines Trinkers, seine Schwester ist in der Eretinenanstalt nntergebracht Nach dem Gutachten des Irrenarztes leidet der im Pabertätsalter stehende B. an dementia praecox, er zeigte Größenwahnideen abwechselnd mit Verfolgongswahnäußerongen; den Dieb- stahl hat er in semem geisteskranken Znstande verübt, die früheren straf- baren Handlungen sind als Vorläufer seiner später auftretender geistigen Erkrankung anzusehen.

Wegen der strafbaren Handlungen vor Geridit gestellt zeigt B. ein äußerst schüchternes Benehmen, gesteht die ihm zur Last gelegten Hand- lungen zum Teü zu und erklärt im übrigen sich an nichts mehr zu er- innern. Er wurde im Hinblick auf § 51 StGB, freigesprochen.

ürteU des Landgerichts Sti&ubmg vom 11. Mai 1907. AYZ 1117/05.

Besprecliungen.

1.

Adler: Stadie über Minderwertigkeit von Organen. Wien, Urban u. Schwarzen- berg, 1907, 92 S-, 3 Mk.

Eine höchst verdienstliche Arbeit, die gewisse Perspektiven eröffnet, freilich wie dies bei solchen Gelegenheiten nnr zn oft geschieht, öfters über das Ziel hinaus schießend. Das meiste ist allerdings schon bekannt, erscheint aber teilweise in nener Beleuchtung. So sind jetzt z. B. wohl alle darin dnig, da£ jede Erkrankung, also doch auch durch Infektionen, nur auf dem Boden einer angeerbten oder erworbenen Disposition entsteht, also einer Minder- wertigkeit einer oder mehrerer Organe. Ebenso ist die „relative'' Minder- wertigkeit schon bekannt, wie auch die Wichtigkeit der äußeren und be- sonders der physiologischen „Stigmata". Nach „Grundzügen" einer Organ- Minderwertigkeitslehre behandelt Verf. die Heredität, die Anamnese, die morphologischen Kennzeichen, die Reflexanomalien (speziell am Gaumen und Rachen) als Minderwertigkeitszeichen, die mehrfachen Organminderwertigkeiten, die Rolle des Zentralnervensystems und die biologLschen Gesichtspunkte der neuen Lehre. Viele interessante Krankengescliichten sind eingestreut Defi- nitionen von Heredität und Stigmaten giebt Verf. nicht. Vieles ist ent- schieden übertrieben, vielleicht sogar direkt falsch. Auf die Freud'schen Lehren wird geschworen, die doch nur zum Teil richtig sind. Sehr fraglich erscheint es Ref., ob ein minderwertiges Organ wirklich selbst überkompen- siert werden kann, ob stets (was Verf. allerdings später selbst modifiziert) einem minderwertigen Organ ein minderwertiges entsprechendes Stück Zentral- nervensystem entspricht, ob die „segmentäre" Minderwertigkeit berechtigt ist, ob das Genie wirklich Ausdruck eines minderwertigen Organes ist, ob Letzteres stets emb\Tonale Züge zeigt, ob es eine Funktionsanomalie ohne anatomisches Substrat gibt, ob die „Stigmata*' stets nur angeborene sind, ob stets Neoplasmen nur minderwertige Organe betreffen etc. Kurz, man sieht, daß hier eine Revision sehr nötig erscheint! Trotzdem ist die Schrift wertvoll und sehr anregend. Dr. P. Näcke.

2.

Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. H. Bd. 2. H. 3 M. 1907, Marhold, Halle.

Hier interessiert uns folgendes. Zunächst ein Aufsatz von Roemheld über die sog. Zyklothymie, das heißt die leichtere Form der periodischen

Besprechungen. 385

Störungen des Nerven- und Seelenlebens, die zwar eine leidite Form von Psychose ist, aber gewöhnlich niclit als solche angesehen wird und nur zu oft mit Neurasthenie; Hysterie oder Paralyse verwechselt. In Irrenanstalten ist sie sehr selten, oft aber in Sanatorien und in der Sprechstunde. Bei Kindern sah sie der Verf. nicht; in der Hälfte der Fälle bestand bei den Andern schwere hereditäre Belastung, oft gleicher Art. Auslösend wirken oft Menstruation, Verlobung, Wochenbett, Klimakterium etc. Laquer be- spricht sodann ausführlich die Fürsorgeerziehung seiner Debilen und Imbe- cillen, die antisozial werden, unter denen bekanntlich viele Psychopathen sind. Er verlangt mehrjährige gemeinsame Volksschule für Reiche und Arme, damit alle Debile, d. h. auch unter den Wohlhabenden, erkannt und behandelt werden können. Nach der Schule müssen sie in besondere Lehranstalten kommen, am besten in Arbeitskolonien. Personalbogen in der Schule und Fürsorgeregister nach der Schulentlassung werden verlangt. Die Fürsorgeerziehung kann nach Verf. ohne Nachteil in den Händen der Seel- sorger und Pädagogen bleiben, doch mit ärztlicher, besonders psychiatrischer Hilfe. Ref. glaubt, daß am besten auch der Arzt (Psychiater) Leiter solcher Anstalten sein sollte.

Dr. P. Näcke.

3.

Krauss: Historische Quellenschriften zum Studium der Anthropophyteia. Jährlich 4 Bändchen, 20 M. 1906. Leipzig, Deutsche Verlags- Aktien Gesellschaft

Der unermüdliche Folklorist Dr. Fr. Krauss in Wien gibt unter Mit- wirkung hervorragender Fachmänner deutsche und fremde Quellenschriften vergangener Zeiten heraus, die uns das Kulturleben, das Denken und Fühlen des Volkes und zwar in seinen intimsten Seiten, das heißt seine Erotik näher bringen sollen. Der 1. Jahrgang dieses höchst ver- dienstlichen Unternehmens, das den literatur-Kultushistoriker, So- ziologen, Psychologen und Ethnologen in gleiclier Weise interessieren muß, liegt nun vor. Das I. Bändchen enthält in guter Übersetzung mehrere altitalienische Novellen, mit vortrefflicher Einleitung von Ulrich und als Anhang Macchiavellis Mandragola. Es sind Pendants zu den Sachen von Bocaccio, Poggio etc. In dem 2. bis 4. Bändchen gibt Karl Amrain einen ganzen Strauß von Erzählungen und Schnurren deutscher Schwankerzähler (Bebel, Frey, Bobertag etc.), besonders aber reizende Schilderungen aus der Zimmerschen Chronik. Das Ganze gewinnt dadurch noch mehr an Wert, daß unter vielen Schnurren die Angaben ähnlicher auch aus fremden Litera- turen mitgeteilt werden. Die Ausstattung ist eine vornehme und die Exem- plare sind numeriert, damit sie nicht in unrichtige Hand geraten. Die Erzählungen entstammen z. T. höchst seltenen Drucken, spätere sollen sogar teilweis alten Manuskripten entnommen werden.

Medizinalrat Dr. P. Näcke in Hubertusburg.

Archiv für Kriminalanthropolotpe. 28. Bd. 25

386 Besprechungen.

4.

Kötscher: Das Erwachen des Geschlechtshewußtseins. Wiesbaden, Berg- mann, 1907, 82. S.

Verf. behandelt sein Thema erschöpfend, in blühender Sprache, an der Hand mannichfacher Beispiele nnd sehr anregend. Hunger und Liebe, Zelleben, und Sexualität^ die Differenzierung von Mann und Weib, die Homo- Bi- und HeteroSexualität, die Faktoren des Geschlechtstriebs, die psychische Entwickelung des Geschlechtstriebs, das Schamgefühl, der Schmerz als Er- reger der Sexualität, das Gefühlsleben in der Pubertätszeit, erotische Sym- bolien, die 1. Liebe, Selbstmorde aus Liebeskummer, Heimweh, Aben- teuerlust, jugendliches Verbrechertum, Pubertätspsychose, endlich die Prophy- laxe und Behandlung der Gefahren der Pubertätszeit bilden die wichtigsten Themata. Man wird dem Meisten sicher beistimmen, besonders bezüglich der Prophylaxe und Therapie. Verf. fordert mit Recht eine gesunde Sozialpolitik, die Koedukation in der Schule und frühzeitige sexuelle Auf- klärung, Schulärzte, Wegfall der Züchtigung auf das Gesäß, Hinaufrücken des straf mündigen Alters bis mindestens auf das vollendete 14 Jahr, und bis zum 18. Jahre Prüfung der Strafmündigung, eine verständige Für- aorgeerziehung, Berufsvormundschaft und (dann aber erst) Jugendgerichte Abschaffung des § 175. Hier nur einige kleine Einwendungen des Re- ferenten. Der Altruismus ist wohl mehr aus dem Geschlechtstrieb, als aus dem der Sympathie entstanden. Daß die Liebe der Mutter zum Kinde über- wiegend geschlechtiich ist, erscheint zweifelhaft, ebenso, daß die älteste Ge- sellschaftsform nur aus Männern bestand; die Promiskuität oder vielmehr der an solche nahe Zustand der also bereits die Einehe in sich schloß war sicher auch innerhalb desselben Stammes da. Was der psychologische Zusammenhang von Grausamkeit und Wollust ist, wissen wir nicht, auch werden Schmerznerven vielfach geleugnet. Nur ausnahmsweise erregen Prügel etc. sexuelle Gefühle. Ref. bedauert es endlich, daß Verf. immer noch von morai insanity spricht. Dr. P. Näcke.

5.

Otto Groß: Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irresein Kraepelins, Leipzig, Vogel, 1907, 50. S.

Verf. hat uns wieder eine tiefgründige psychologische Untersuchung geliefert, die große Perepektiven eröffnet. Er stellt sich ganz auf die Seite Freud's und sucht den Einfluß „verdrängter^* Komplexe auf das manisch-depressive Irresein nachzuweisen, an der Hand eines sehr schönen Falles aus der Kraepelin 'sehen Klinik. Hier war nämlich während der Krank- heit das Symptom der Kleptomanie aufgetreten, das nach Groß der Aus- druck eines verdrängten sexuellen Affekts war, ein Beweis, der dem Ref. nicht ganz einwandsfrei erscheint. Die Broschüre ist schwer zu verölehen, liest sich noch schwerer als Wernicke, aber man hat auch etwas davon, doch will es dem Ref. scheinen, als ob Verf. in seinem Enthusiasmus für die Freudsche Theorie doch zu weit geht. Die Theorie Freuds ist, wie von den meisten wohl mit Recht behauptet wird, stark übertrieben und seine Psychoanalysen sind oft rein subjektiv und phantastisch und das gilt

Besprechungen. 387

aoch z. T. von denen seiner Anhänger. Groß stellt mit Recht an die Spitze seiner Abhandlung den Satz: ,,aUe Forschung in der Psychiatrie ist not- wendig moni8tisch^^ Wemicke's Sejanktionslehre, sowie seine eigene von der ^^Seknndärfunktion^^ sucht er mit der Ideogenitätstheorie Freud's mehr oder mmder zu identifizieren. Verf. untersucht dann eingehend die Spaltungs- und Eomplex-Phänome, ihr Abdrängen und das Übertragen ihres Affekt- wertes auf einen anderen damit in Verbindung stehenden Assozations- prozeß. Immer sucht er alles auf biologische Verhältnisse zurückzuführen. Jedes psychische Geschehen ist für ihn zugleich ein physiologisches. So ist auch der zh-kuläre Mechanismus biologisch praeformiert. Verf. schildert nun die Stöimngen, die daraus das manisch-depressive Irresein erzeugen; die sog. „Mischzustände'' dieser Form sind nach ihm meist durch ideogene Komplikation bedingt. Die Schrift wird sicher eine sehr wichtige Ergänzung und Begründung des manisch-depressiven Irreseins bleiben. Dr. P. N ä c k e.

6.

Weygandt: Die abnormen Charaktere bei Ibsen. Wiesbaden ^ Berg- mannU; Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. 1907, 16 S. 0,80 M. Eine außerordentliche feine, kurze psychologische Charakteristik der Hauptpersonen bei Ibsen. Besonders eingehend werden Peter Gynt und die „Wildente^' behandelt. Verf. zeigt, daß Ibsen, wie auch die meisten andern Dichter (Goethe, Shakespeare) besser die Psychopathen schildern, als die eigentlichen Geisteskranken, die mehr oder minder falsch gezeichnet sind. Und das ist ja aucli nur natürlich, meint Referent ; Psychopathen sieht der aufmerksame Dichter alle Tage um sich, dagegen nicht die eigenüichen Geistes- kranken, die er fast nur in den Irrenanstalten sehen könnte. Bloße Intu- ition ersetzt hier n i e die Erfahrung ! Sehr wahr ist die Bemerkung Weygandts^ daß die Psychopathischen wohl dramatisch wirken und Helden sein können^ nie aber die Geisteskranken. Dr. P. Näcke.

7.

Ereuser: Geisteskrankheit und Verbrechen. Wiesbaden, Bergmann, 1907^ 73 S. 1.80 M. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.

Vei-f. spricht auf Grund von 182 Begutachtungen krimineller Geistes- kranken. Er schildert eingehend und ausgezeichnet in klinischer und psychologischer Hinsicht, welche Päychosen am meisten zu Verbrechen neigen und zu welchen. Das Meiste ist ja bekannt. Bedauerlich ist,, daß Verf. die Kraepelin'sche Einteilung des Irreseins fast ganz ablehnt. Bei Verbrechen und Geisteskrankheit findet er einen gemeinsamen Nähr- boden, aber doch ungleichartige Keime. Durchaus nicht jeder Verbrecher ist geisteskrank. Der freie Wille ist zu negieren. Mehr als die Mani& kommt für Verbrechen die Melancholie in Betracht. Die Familienmorde sind hier oft nur ein „erweiterter" Selbstmord. Ein Drittel der weiblichen Exploranden ward der Brandstiftung beschuldigt Ernstiiche Versuche zur Simulation von Psychosen sah Verf. verschwindend selten. Er meint femer, daß bei Idioten Sittiichkeitsdelikte zahlreich seien, weil bei ihnen die libida normal sei; das ist aber unrichtig und bezieht sich nur auf Schwachsinnige.

25=^

388 Besprechungen.

Der eigentliche Idiot besitzt keine oder nur geringe libido. Nur an relativ wenigen Verbrechen beteiligen sich Geisteskranke wesentlich mehr als Normale. Vorbestraft sind am meisten die psychopathisch Entarteten und die Epileptiker. Ob man die „Haftpsychosen** wirklich als eine Unterart anderer Krankheitsfonnen gelten lassen soll, erscheint Kef. zweifelhaft. Vor- trefflich sind aber Verf. 's Ideen bez. des Strafrechts und des Strafvollzuges. Den Standpunkt der Unschädlichmachung ,,geborener** und „unverbesser- licher** Verbrecher hält er für einen traurigen. Dr. P. Näcke.

8.

Bloch: Der Ursprung der Syphilis. Jena, f^cher 1901. 313 S. Erste Abteilung.

Eine mustergiltige kritische, grundgelehrte Abhandlung von höchstem Interesse ! Es handelt sich nidit bloß darum, festzulegen, woher die f Qrditer- liche Lustseuche entsprang, sondern auch wie und warum sie sich aus- breiten mußte. Ein ganzes Stück Kulturgeschichte und Geschichte wird vor unserm Auge aufgerollt. In dem vorliegenden Bande wird beinalie er- drückend nachgewiesen, daß die Syphilis zuerst in Europa 1495 und zwar im französischen Heere Karls VIII von Frankreich, in Neapel in furchtbarster Weise auftrat, und zwai* als eine bis dahin noch allen Ärzten unbekannte Kranklieit; daß sie von Spanien stammte, die im Söldnerheere des Franzosenkönigs dienten und denjenigen, die aus der be- lagerten Festung Castelnuovo in Neapel hinausgetrieben wurden ; daß man in Spanien vorher diese Seuche in Sevilla und Barcelona kannte, daß sie mitgebracht wurde von den Gefährten des Columbus von seiner 2. Reise nach Haiti (Espanola), daß endlich seit Urzeiten dort und in Südamerika etc. die Syphilis heimisch war und bereits daselbst, namentlich in Mexico, eine genaue Kenntnis und Behandlung der Syphilis, besonders mit Gua- jak und Sarsaparilla stattgefunden hatte. Endlich steht es fest, äaß diese Krankheit in der ganzen übrigen Welt erst nach der Entdeckung Amerikas bekannt wurde. Sonach ist es nach Verf. ganz ausgeschlossen, daß sie vorher schon in Europa war und dafür bringt Verfasser noch weitere Zeugnisse. Speziell in einem 2. Bde. der bald folgen wird! soll das Nichtbestehen der „Altertums-Syphilis** noch weiter bewiesen werden. Kef. ist in der Tat jetzt (gegen früher) vom amerikanischen Ur- sprung der Syphilis durch Verf. so ziemlich überzeugt worden und er glaubt auch jetzt kaum noch, daß es möglich sein wird, die „Altertums- Syphilis** zu retten. Es spriclit zu viel dagegen, dafür bis jetzt kaum irgend etwas Positives. Dr. P. Näcke.

9.

A. Morselli: La tuberculosi nella etiologia e nella patogenesi deile malattie nervöse e mentali, Torino, 1907. 239 8.

Verf., Sohn des berühmten In-enarztes in Genua, hat in vorliegendem Buche eine ausgezeichnet kritische, klinische und experimentelle Studie ge- iefert, die entschieden eine Lücke ausfüllt. Er faßt nicht nur alle die

Besprechnngen. 389

weitzeratrentea Arbeiten auf diesem Gebiete zusammen, sondern fügt eigene Beobachtungen und Experimente hinzu. Wichtig ist es, daß von neuem aufgezeigt wird, wie Tuberkulose in der Familie, be- sonders aber die der Mütter, für Nerven- und Geisteskrank- heiten der Nachkommen belastend wirkt, indem sie den Organismus schwächt und dazu disponiert, was von den meisten Deutschen bisher bestritten, dagegen von den Franzosen und Italienern etc. schon längst behauptet ward. Weiter wird gezeigt, daß durch die Giftwirkung des Tuberkelbazillus nicht nur der Charakter etc. des Tuberkulösen geändert wird, sondern auch verschiedene echte Psychosen entstehen können, nur daß, wie Ref. mehr noch als Verf. be- tonen möchte, das post hoc ergo propter hoc, sehr schwierig in concreto zu entscheiden ist. Aber die Intoxikation kann noch weiter führen, zu Selbstmord, Verbrechen (auch sexuelle!), Prostitution etc., und mit Recht verlangt dann Verf. für solche Fälle den Ausspruch der Unzurechnungs- fähigkeit oder wenigstens der verminderten Zurechnungsfähigkeit Eme Verdeutschung dieses ganz vortrefflichen Buches wäre sehr erwünscht.

Dr. P. Näcke.

10.

Toulouse: Les le9ons de la vie. Etudes sociales. Paris, 1906, librairie universelle. 318 S.

Verf. hat seinen 2 anderen Büchern sozialen Inhalts, die hier schon besprochen wurden, kürzlich ein drittes, das obige, hinzugefügt, das eben- falls die früher hervorgehobenen Vorzüge der Eleganz der Sprache, die großen sozialen Ausblicke und das feine Eingehen in das soziale Ge- triebe zeigt. Speziell behandelt werden 3 große Kapitel: „le dressage humain^', die soziale Tätigkeit und die beiden Geschlechter bei ihrer Arbeit und in der Ehe. Hier wirklich ist das Angenehme mit dem Nützlichen ver- bunden. Dr. P. Näcke.

11.

Siemerling: Streitige geistige Krankheit. III. Band des Handbuchs der gerichtlichen Medizin, herausgegeben von Dr. Schmidtmann, 9. Aufl. des Casper-Liman'schen Handbuchs. Berlin, Hirsch wald 1906, 727 S. 20 M.

Dieser Band ist als ganz hervorragend zu bezeichnen und dürfte bez. der Reichhaltigkeit der mitgeteilten Gutachten (68) fast einzig dastehen. Da sie meist in extenso wiedergegeben sind, bilden sie für den Arzt, Gerichtsarzt und Juristen eine wahre Fundgrube, auch für den Psychiater. Die meisten stammen vom Verf. und sind, wie nicht anders zu erwarten war, ausgezeichnet abgefaßt Den einzelnen Kapiteln der Psychosen und alle sind hier vertreten geht eine kurze und klare Darstellung voraus, die freilich dem Psychiater kaum Neues bietet, aber überall das möglichst Gesicherte darstellt und strittige Punkte höchstens nur berührt und stets zur höchsten Vorsicht mahnt Der allgemeine Teil befaßt sich mit der Darstellung der allgemeinen Grundsätze und des Ver-

390 Besprechungen.

fahrens in Zivil- und Krixninalforum. Die Literatur ist ziemlich voll- ständig vertreten, doch traf Ref. hier auf verschiedene Lücken und sein Name war unter den Autoren bez. der Homosexualität nicht genannt, trotz- dem er mehr darüber geschrieben hat als die meisten Anderen. Ausge- zeichnet sind besonders die Kapitel über hysterische und epileptische Geistes- störungen klargelegt und überall zeigt sich die große Erfahrung und Vorsicht des Verfassers. Er ist nicht dafür, daß man im Gutachten den Ausdruck „verminderte Zurechnungsfähigkeit*' annimmt. (? Kef.). Mit Hecht empfiehlt er, daß im Protokoll« Fragen und Antworten wörtlich wiedergegeben werden; auf Reue ist nichts zu geben^ zur Unterstützung der Diagnose können Entartungszeichen helfen, besonders die seelischen ; es gibt keine Gefängnispsychose, nicht einmal charakteristische Färbungen in Gefängnissen. Mit Recht warnt er vor zu schneller Diag- nose eines Schwachsinns. Leider nimmt Verf. erworbene Fälle von Homo- sexualität an, ohne Beweise vorzubringen und scheint die bisexuelle Anlage zur Erklärung der Inversion nicht anzunehmen, welch letztere er aber an sich nicht als Zeichen einer Psychose oder Minderwertigkeit ansieht. Das Ganze ist ein schönes Zeugnis deutschen Gelehrtenfleißes und vor- sichtiger Kritik. Dr. P. Näcke.

12.

Weste rmarck: Ursprung und Entwickelung der Moralbegriffe. Erster Band. Verdeutscht Leipzig 1907, Klinkhardt, 632 S.

Ein vorzügliches Buch des berühmten schwedischen Ethnologen und Soziologen. Der vorliegende 1. Bd. behandelt auf 279 Seiten Allgemeineres über der Gefühlsursprung sittlicher Urteile (Ref. hält den utilitaristischen für den richtigen!), über Gefühlsregungen, Wille, Bewegründe etc. Dieser Teil schemt dem Bef. der schwächere zu sein und ist von Wundt und Störring viel eingehender und wissenschaftlicher behandelt worden. Der spezielle Teil dagegen (vom Töten im allgememen, das Töten von Eltern, Kranken, Kindern, Ungeborenen, Sklaven, Weibern, die Menschenopfer, Bluti*ache, Entschädigung, Todesstrafe, der Zweikampf, Körperverletzung, Barmherzigkeit, Gastfreundschaft, Hörigkeit, Sklaverei) ist ausgezeichnet dar- gestellt, an der Hand kritisch gesichteten Materials, z. T. eigenen, und genetisch geordnet, d. h. also von den Naturvölkern bis zur Neuzeit. Für den Juristen bildet das Ganze ein wichtiges Supplement zur vergleichendea Rechtsgeschichte, da diese ja eigentlich nur ein Teil der Kulturgeschichte ist. Besonders gern werden alte Gesetze der Orientalen, die von Hummu- rabi, der antiken Völker und von modernen die der alten und modemea Engländer und Schweden angeführt. Wir sehen wieder so recht, daß der Keim der sogenannten Tugenden nirgends fehlt, nur Quantitätsuntersohiede bestehen, ebenso aber auch, was freilich Verf. weniger betont, daß die Gesetze mehr dem Egoismus der oberen Schichten entsprangen. Wieder- holt weist Verf. darauf hin, daß die Kirche zur Abschaffung häßlicher Einrichtungen, wie z. B. der Sklaverei, nur wenig oder nidhts beitrug, dieselbe vielmehr besonders wirtschaftlich bedingt war. Man wird den meisten Schlüssen des gelehrten Verf.'s voll beitreten. Ein Sachregister wäre sehr zu wünschen. Dr. P. Näcke-

Besprechungen. 391

13.

Iwan Bloch: Das Sexualleben unser Zeit etc. 4 6. verb. und vermehrte Auflage. Berlin, Marcus, 1908, 19—40 Tausend. Schon ca. 9 Monate nach der 1. Auflage (1907), die wir kürzlich hier ausfahrUch besprachen, ist die 4. 6. nötig geworden. Sicher ist daran weniger der pikante, als der gediegene Inhalt Schuld und der Er- folg ist somit ein durchaus gerechtfertigter. Mehrfache Ergänzungen, Zu- sätze und Literaturnenheiten im Anhang wurden eingeführt, sodaß der Um- fang des Ganzen um einige Seiten zunahm. Der Hauptvorzug ist jetzt ein ausführliches, absolut nötiges Register. Eine Reihe von Punkten, die ich in meiner letzten Kritik besprach, sind leider nicht berücksicht worden.

Dr. P. Näcke.

14.

N. 0. Body: Aus eines Mannes Mädchen jähren. Berlin, Riecke. 218 S. (1907).

Man weiß, daß die sog. „errenrs de sexe'^ gamicht so selten smd und forensisch wichtig werden können. Von der Psychologie der davon betroffenen Individuen wußte man bisher so gut wie nichts. Diese Lücke ist durch obiges hochinteressante Buch nun ausgefüllt worden. Verf. (Pseu- donym), veranlaßt durch Presber, der das Vorwort geschrieben hat, gibt hier in seiner Autobiographie, die überall den Eindruck ernster Wahrheit macht, die tragischen Konflikte kund, die er, als Psendohermaphrodit ge- boren und als Mädchen erzogen, durchzumachen hatte, bis er nach dem 20. Jahre endUch gerichtlich Männerkleidung und Männernamen annehmen durfte, nachdem er lange die tiefe Kluft, die zwischen ihm und dem weiblichen Geschlecht bestand, bitter vermerkt hatte. Das Buch ist voll der fernsten Psychologie, ausgezeichneter Ratschläge für Eitern und Lehrer und es ist nur schwer zu glauben, daß Verf. erst 23 Jahre alt sein soll. Hirschfeld hat ein Nachwort geschrieben, das mit Recht den hohen psychologischen Wert des Buches hervorhebt. Schade nur, daß das bunte Titelblatt und der Titel selbst sehr nach Reklame und Sinnenkitzel riechen!

Dr. P. Näcke.

15.

Nävrat: Der Selbstmord. Eine soziaiärztliche Studie. Wiener Klinische Rundschau. No. 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10, 12, 14, 15, 16, 17, 19. 1907.

Bezüglich des Selbstmordes ist noch vieles sehr dunkel, daher jede neue Schrift willkommen, besonders aber obige. Verf., Irrenarzt, hat ersichtlich sehr eingehende Studien gemacht, bringt manches aus eigener Erfahrung uud berücksichtigt namentlich die österreichischen Verhältnisse. Ursprünglich tschechisch geschrieben, ist es übersetzt worden, leider aber, wie der Verf. dem Ref. schrieb, vielfach verstümmelt. Trotzdem ist es hochinteressant und man wird wohl dem Meisten beipflichten können. Nach einem all- gememen Teile folgen die Selbstmordmotive, die verschiedenen endo- und exogenen Einflüsse, die Arten des Selbstmordes, seine Häufigkeit, sowie

392 Besprechtmgen.

die Begründung. Spezieller wurden die Selbstmorde im Heere, in Oefäng- niesen und im Irrenhause betrachtte. Mit Recht glaubt Verf. mit Masaryk, daß der Selbstmord kein Naturgesetz sei; dazu sind die Ursachen doch zu viele und meist kombinierte. Die verschiedenen en- und exogenen Ein- flüsse werden richtig bewertet, die Gefährlichkeit der Presse etc. hervor- gehoben. Verf. glaubt, daß von den Angehörigen selten (? Ref.) Psychose als Grund der Tat vorgeschützt wird. Krankhaftem Geisteszustände weist er 70,7% aller Fälle zu, den Affekten 25,6^/0. Gewissensbisse rechnet er zu ersteren (stets? Ref.). Es ist, meint Ref. und Verf., unrichtig, die bestehende Geistesstörung durch die Sektion sicher nachweisen zu wollen. Die sog. Erblichkeit faßt er richtig als eine Disposition auf, auf die dann der Nachahmungstrieb wirkt. Die Rolle von Liebe und Eifersucht ist keine große, 2 o/o bei M. und 3^/o bei W. (Das dürfte wohl etwas zu niedrig seüi! Ref.) Dagegen wird die große direkte und indirekte Rolle des Alkohols betont. Gegenüber Verf. möchte Ref. doch glauben, daß bei Juden der Selbstmord häufiger ist, weil hier relativ mehr P&ychopathen sind, ebenso läßt sich manches dafüranführen, daß ceteris paribus die Religion lüs solche nicht ganz gleichgültig ist. Ob mehr Ledige oder Verheirathete sich ent- leiben, hängt von mancherlei Umständen ab. Dr. P. Näcke.

16.

Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik. Herausgegeben von Dr. phil. Helene Stoecker. Sauerländer, Frankfurt 6 Hefte im Halbjahr, 3 M.

Schon früher hat Ref. dies, jetzt im 3. Jahrgang stehende, hochver- dienstliche Unternehmen warm empfohlen und es hat gehalten, was es ver- sprochen : „Ledige Mütter und deren Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen^', hat es praktisch durchzuführen gesucht und bereits schöne Früchte gezeitigt , wie die Arbeiten von Dr. Mai'cuse „Aus unseren bis- herigen Erfahrungen und Erfolgen'' (1906) und von Maria Lischwenska: „Unser praktischer Mutterschutz" (1907) beweisen. Es gilt da namentlich für die armen unehelich Geschwängerten und ihre künftige Kinder zn sorgen, weiter aber auch die Ehereform anzubahnen, gegen die Prostitution anzukämpfen etc. Mitglied dieses so nützlichen Bundes (Sitz Berlin W., Res- beritzerstr. 8) kann Jeder werden, der jährlich einen Mindestbetrag von 2 M. einsendet. Aber auch die Zeitschrift selbst ist warm zu empfehlen, wie jede einzelne Nr. bezeugt, und schon die stattiiche Zahl der bedeutenden Mit- arbeiter genügsam beweist. Das Januarheft 1907 enthielt z. B. einen interessanten Aufsatz von Ellen Key: Die Gorki-Frage, dann einen von Helene Stöcker über die deutschen Brownings und den Beginn einer wert- vollen Untersuchung von Havelock Ellis über Ursprung und Entwickelung der Prostitution. Auch die für den 3. Jahrgang angekündigten Aufsätze sind für den Menschenfreund anheimebid. Man darf die Zeitschrift nicht etwa als ein Organ verrückter Frauenrechtierinnen ansehen, sondern es ist ein fachwissenschaftliches Blatt mit hohen idealen Zielen, das jeder Warmherzige nach Kräften unterstützen sollte. Dr. P. Näcke.

Besprechungen. 393

17.

Kompendien des österreichischen Rechtes. Das Strafprozeßrecht. Syste- matisch dargestellt von Dr. Julius Vargha, o. ö. Professor der Rechte an der Karl-Franzens-Üniversität in Graz. Zweite vermehrte Auf- lage. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1907 (8«, XII und 468 Seilen).

Vorliegendes Werk ist entschieden als eine erfreuliche Erscheinung zu begrüßen. Der österreichische Strafprozeß hat nur drei systematische Bear- beitungen in deutscher Sprache erfahren; die von Rulf, die sich jedoch gar zu eng an die Legalordnung und den Wortlaut des Gesetzes an- schließt, die von Uli mann, die in vielem als veraltet bezeichnet werden muß, und die von Vargha, welche an demselben Fehler litt, der nun- mehr durch die soeben erschienene zweite, reichlich vermehrte Auflage glücklich beseitigt erscheint. Daß es unter solchen Umständen an einem geeigneten Lehrbehelf für die Studierenden gebrach, ist klar, und wenn Vargha, was Umfang und Inhalt seines Systems anlangt, zunächst die Bedürfnisse der Studierenden vor Augen hatte, so hat er den einzig rich- tigen Weg gewählt. Es wu-d die wichtigste Literatur angeführt, jedoch jeglicher gelehrte Beweisapparat sorgfältig vermieden; die Rechtspreclmng wird nur in vereinzelten Fällen herangezogen. Hingegen wird durch ent- sprechende Bezugnahme auf die einzelnen Kapitel darauf hingewiesen, daß der Strafprozeß ein einheitlich Ganzes ist, und dadurch, daß neben histo- rischen Rückblicken sich auch Ausblicke auf das künftige Recht befinden, der Gedanke der Fortbildung des Rechts nach Gebülir berücksichtigt; in der einen wie der anderen Richtung faßt sich aber Vargha sehr kurz, denn das geltende Recht darzustellen ist seine Aufgabe, welche er niemals aus den Augen läßt.

Vargha ist im großen ganzen ein Anhänger jener Grundsätze, welciie dem östen*eichischen Strafverfahren in seiner gegenwärtigen Gestalt zugrunde liegen. Der nchterliche Anklagebeschluß, wie ihn die deutsche StPO. kennt, ist ihm sehr unsympathisch; desgleichen will er von einer Abschaffung der Geschworenen und von ihrer Ablösung durch Scliöffen- gerichte nichts wissen. Hingegen tritt er für eine Fortbildung des Prinzips der Waffengleichheit ein und will nicht nur die Verteidigung dort, wo sie heute noch ausgeschlossen ist (Vorverfahren, Berufung gegen die Strafe, Behandlung eines Wiederaufnahmeantrags usw.) zu Worte kommen lassen, sondern auch de lege lata eine weitgehendere Berücksichtigung der Ver- teidigung seitens des Gerichts, als gegenwärtig die Praxis mancher Ge- richte zugestehen will. Seine Wünsche pro futuro lassen sich kurz dahin zusammen fassen, mit jener Methode zu brechen, die Grillparzer mit den Worten „auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben^ in einer Weise gekennzeichnet hat, die wir in Österreich sehr gut zu würdigen verstehen.

Das System, das Vargha semer Darstellung zugrunde legt, hat insofern einen Fehler, als er die Zeitbestimmungen der StPO. bei der Zu- ständigkeit der Gerichte als „zeitliche Zuständigkeit '^ behandelt. Allem schon die Tatsache, daß der Strafprozeß eine Wiedereinsetzung kennt, spricht sehr gegen diese Auffassung. Tatsächlich ist aber die Zeit ds solche

394 Besprechungen.

kern Kompetenzgi'und, sie hat nicht auf die Zuständigkeit des Gerichts^ sondern lediglich auf die Möglichkeit prozessnaleo Handelns Einfluß; nicht die Kompetenz des Gerichts, sondern die Berechtigung zur Vornahme dieses oder jener Brozeßakts geht durch Zeitablauf verloren. Wäre Varghas Ansicht richtig, so müßte an Stelle des zeitlich unzuständigen Gerichts ein anderes treten, was aber nicht der Fall ist; ja doch! Das Standgericht verliert nach § 439 St-P.-O. seine Zuständigkeit, wenn die vor ihm ver- handelte Sache nicht nach drei Tagen urteilsmäßig erledigt werden kann; doch gerade diesen Fall erwähnt Vargha in diesem Zusammenhange nicht. Davon abgesehen, kann Yarghas Anordnung des Stoffs nur zugestimmt werden und die gemeinschaftliche Darstellung des Verfahrens vor den Gerichtshöfen erster Instanz mit dem vor den Geschworenen, sowie der un- mittelbar daran anschließende Abschnitt über das bezirksgerichtliche Ver- fahren ist eine vortreffliche Zusammenfassung des ordentlichen Strafprozesses und läßt auch die Darstellung des Rechtsmittelverfahrens in einer recht übersichtlichen Weise zu.

Daß beim Wirkungskreis der Oberstaatsanwaltschaft die Aufsicht über die Strafanstalten keine Erwähnung gefunden hat, ist deshalb zu bedauern, weil ohnedies dem Strafvollzug in Österreich zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die Ansicht, daß der Generalprokurator gegebenenfalls verpflichtet ist, die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu erheben^ ist leider arg. „kann'* in §.33 StPO. unridhtig. Auch sonst entwickelt Vargha dann und wann Ansichten, welche nicht auf allgemeine Zustimmung rechnen können. Doch geht dies nicht anders bei einem System und soll keineswegs ein Tadel sein. Im Gegenteil! Seine Arbeit ist im höchsten Grade verdienstvoll und stellt sie sieh auch in erster Linie als ein Lehrbuch dar, so soll damit keineswegs gesagt sein, daß Vargha nur für Studierende ge- schrieben habe. Auch dem Praktiker wird das Werk ob seiner Klarheit im Ausdruck und Übersichtlichkeit in der Behandlung des Stoffes ausge- zeichnete Dienste leisten und es wäre zu wünschen, daß auch Richter,. Staatsanwälte und Verteidiger sich dieses Werks als Wegweisers bedienen. Die Beherzigung der von Vargha vertretenen Ideen wäre ein Gewinn für die Praxis. Ist ja Vargha aus der Praxis hervorgegangen und hat er es in meisterhafter Weise verstanden, die Wechselbeziehungen zwischen Theorie und Praxis zu beleben. Ernst Loh sing.

18.

A. Schmidtmann: „Handbuch der gerichtlichen Medizin^'^ herausgegeben unter Mitwirkung der Prof. Dr. Haberda, Eockel, Wachholz, Puppe, Ziemke, Ungar und Siemer- ling. 9. Auflage des Caspar-Limanscben Handbuches. 2. Band mit 63 Abbildungen im Text und dem General- register. Berlin 1907. Aug. Hirschwald. Mit diesem Bande, der sich dem schon erschienenen ersten und dritten Band würdig anschließt, ist das große Werk vollständig geworden. Auch dieser Band ist selbstverständlich in erster Linie für Gerichtsärzte ge- schrieben, aber alles ist so klar und einfach gehalten, daß jeder Kriminalist^ dem an seiner Ausbildung gelegen ist, das Buch mit größtem Nutzen lesen wird. Dies wird namentlich durch die reiche Kasuistik ein wertvolles und

Besprechungen. 395

reichlich vermehrtes Erbe aus dem guten, alten Caspar-Liman erreicht. Gut dargestellte Fälle versteht jeder , und mit ihrer Hilfe kann er auch den ihm etwa zu schwierigen Text verstehen. Auf den ersten Blick hat es fast den Anschein, als ob an Fällen zuviel gebracht worden sei aber Fest- stellung von Tatsachen und ihre Sammlung ist heute nicht nur die Grund- lage aller Forschung, sondern auch das Wichtigste für Belehrung. Wer die ausgezeichnete Geschichte gesammelter und gut dargestellter Fälle einmal studiert hat, wird sich gewiß des betreffenden Falles erinnern, wenn ihm bei der Arbeit ein ähnlicher unterkommt. DaS die Kasuistik trotz der vielen Ver- fasser so gleidiartig und abereinstimmend durchgearbeitet erscheint, hat wohl auch darin seinen Grund, daß sich alle an das allerdings mustergiltige Bei- spiel Caspar-Iiman's gehalten haben. Der vorliegende Band enthält ,,Tod durch Trauma** (Puppe); „Tod durch Erstickung^' (Ziemke); „Kindesmord" (Ungar). Hans Groß.

19. Der Pitaval der Gegenwart. Herausgegeben von Prof. Frank

Polizeidirektor Röscher und Reichsgerichtsrat Schmidt.

Tübingen J. C. B. Mohr. HI. Bd. 4. Heft, bringt einen außer- ordentlich merkwürdigen und vortrefflichen Fall einer Handschriftfälschung, in welchem ein Unschuldiger verurteilt wurde und eine längere Strafe ab- büßen mußte. Im Wiederaufnahmeverfahren gelang es dem Verfasser, Dr. Postelberg in Wien, durch einen höchst komplizierten und mühsamen Be- weis die Unschuld des Verurteilten und die Schuld der mitlerweile ver- storbenen Täterin darzutun. Der Fall ist in mehrfacher Weise sehr lehrreich. Auch der zweite Fall von St. Anw. Brendler, m welchem es sich um Wieder- aufnahme zum Nachteile des Freigesprochenen handelt, ist juristisch und psychologisch interessant. Hans Groß.

20. Dr. med. Moritz Olsberg: „Die Grundlagen des Gedächtnisses, der Vererbung und der Instinkte" (aus „Grenzfragen der Literatur und Medizin". 2. Heft) München 1906. E. Reinhardt. Für die Frage des Gedächtnisses interessieren wir uns heute in Bezug auf Zeugen gerade so, wie für die der Vererbung beim Verbrechen. Es kann daher die hauptsächlich auf Richard Semon's „Mneme^^ zurückführende, mit einer Menge aufklärender Einzelheiten und Beispiele versehene Arbeit dem Kriminalpsychologen zur Lektüre empfohlen werden. Hans Groß.

21. Dr. M. Rumpf, Gerichtsassessor: „Gesetz und Richter". Ver- such einer Methodik der Rechtsanwendung. Berlin 1906. 0. Liebmann. Der Verf., der über ausgebreitete Belesenheit und Kenntnis der Ju- dikatur verfügt, hat es sich zur Aufgabe gestellt, zu erheben, wie der Richter das Gesetz auslegen und anwenden soll. Diese Frage läuft auf die Erörterung hinaus, wie man vorzugehen hat, wenn das Gesetz Lücken aufweist, und wie, wenn seine wörtliche Anwendung im einzelnen Fall

396 Besprechangen.

Härten, Ungerechtigkeit, selbst ansinnige Entscheidung ergeben müßte. Ich glaube, daß der Verf. die strafrechtliche Literatur mehr berücksichtigen hätte sollen; er meint, man habe bisher in der Frage: welche psychischen Faktoren im Auslegen in Tätigkeit treten, noch kein Problem „gewittert". Ich meine, daß die viele Arbeit, die der subjektiven Kriminalpsychologie, der Psychologie des Richters, Sachverständigen, Zeugen etc. gewidmet wurde, das Problem doch „gewittert^* haben muß.

Im allgemeinen geht die vorliegende Arbeit darauf hinaus, daß der Richter denken muß; wenn Verf. darauf besteht, so hat er ohne Zweifel recht, aber in eine Methodik läßt sich das Denken und Gescheidtsein nicht zwängen. Wo uns das Gesetz verläßt, wo die Wissenschaft nicht hilft, wo die Interessenabwägung keine Klärung schafft, da entscheidet man, wie es vornehmer ist. Mehr läßt sich mit allem Rechnen, Kombinieren und Ab- strahieren auch nicht finden.

Seltsam berührt mitunter die Ausdrucksweise des Verf., der von einem „unbegreiflichen Muß", der „Flüssigkeit der Grenzen" spricht, etwas „vieler- wärts** antrifft und von „ungefährem Wissen" redet. Hans Groß.

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