0?.i effektiven Formen des Selbstschutzes und der Gegenwehr zu kommen; es ermoglichen, nicht allein Opfer der bkonomischen und politischen Repression zu sein.

Dazu sollten wir im einleitenden Plenum bis etwa 12 Uhr zunachst ein- mal Erfahrungen austauschen, urn dann in kleineren Arbeitsgruppen ge- nauer auf unsere Arbeitsbedingungen und MSglichkeiten der organisier- ten Zusammenarbeit, sowie der Unterstiitzung betroffener Gruppen und Einzelner einzugehen. Folgende Arbeitsgruppen sind vorgesehen:

1. Staatliche Juqendpolitik in Bezua auf Jugendzentren

Anhand eines Berichtes um die Entwicklung und Auseinandersetzungen in einem selbstverwalteten Jugendzentrum werden die staatl ichen Re- striktionen und Probleme der gegenwartigen Jugendzentrumsarbeit dar- gestellt und diskutiert.

2. Staatliche Finanzierungspolitik und Probleme der Juaendverbandsarbeit Hier geht es um die Analyse der SparmaBnahmen, Umverteilungen und Be- schrankungen in der politischen Jugendarbeit der Verbande und um die MSglichkeiten von Bildungsarbeitern und Jugendgruppen, emanzipatorische, interessenorientierte Ansatze gegen verbandsbornierte Anspriiche zu behaupten.

3. MaBnannicn der BAA cieoen Jugendarbeitslosigkeit

Die Anstrengungen der Bundesanstalt fur Arbeit, die Jugendlichen Ar- beitslosen von der StraBe zu bekommen, dieneneher der Verschleierung des AusmaBes und der Ursachen von Jugendarbeitslosigkeit, als daB sie den Betroffenen wirksame Hilfe bringen kbnnten. Neben einer Einschat- zung der FordermaBnahmen der BAA und der Interessenkoalitionen mit Verbanden und Betrieben sollen auch Beispiele von Synthese-Projekten von beruflicher und politischer Bildung vorgestellt werden.

4. Erfahrungen von Arheitsloseninitiat.iven

Die bisherigen Erfahrungen mit Arbeitsloseninitiativen sollen im Hin- blick auf die Organisierbarkeit und MSglichkeiten der Interessenswahr- nehmung von arbeitslosen Jugendlichen genauer diskutiert und MSglich- keiten der Kooperation mit anderen Bereichen gesucht werden.

5. Zum Zusamnenhanq von qewerkschaffrlicher und Juger]^7f"trVms -Arbeit Bislang ist die Jugendzentrumsbewegung weitgehend isoliert von der gewerkschaftl ichen Jugendgruppenarbeit verlaufen, obwohl es in der Lehrlingszentrenbewegung durchaus Beruhrungspunkte gab und auch heute an einigen Orten ein engerer Zusammenhang besteht. Welche Erfahrungen liegen vor und wie kann eine Zusammenarbeit zwischen beiden Bereichen verbessert werden?

6. Betriebliche und gewerkschaftl iche Auseinandersetzungen um Aus- hildungSDlatze nnri Obernahme yon lehrlinqen _

Die Jugendarbeitslosigkeit ist mindestens ebenso ein Problem fur die arbeitenden Jugendlichen im Betrieb. Die Forderung nach qualifizierten Ausbildungsplatzen, gegen Personalabbau und fur Obernahme derausge- bildeten Lehrlinge in ihrem Beruf wird nicht am Verhandlungstisch ent- schieden werden. Bei der gegenwartigen Unentschlossenheit der Gewerk- schaften kommt es, wie die Beispiele von BASF und MERCK zeigen, ent- scheidend auf die Aktivitaten der Jugendlichen im Betrieb an, ob diese Forderungen durchgesetzt werden konnen oder nicht.

JNFORMATIONSDIENST SOZIALARBEIT

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14

Offenbach im Oktober 1976 Einfachnummer - Preis 4,--

Dieser Informationsdienst Sozialarbeit v/ird im Sozialistischen Buro von Gruppen, die im S'oziali'sationsbereich arbeiten, herausgegeben. Der Info dient der Kommuni Ration und Kooperation von Genossen, die mit sozi'ali'stischem Anspruch im Feld der sozialen Arbeit tatig sind.

Folgende H'efte sind noch erlial tlich:

Heft l:S'chwerpunktthema: Fursorgeerzi'ehung(72 S./DM 3,--)

Heft 2:Schwerpunktthema: Sozialarbeit in Institutionen(8o S./DM 3,--)

Heft 5:S'cfiwerpunkttn'ema: Funktion der Sozialarbeit(lo4 S./DM 5,—)

Heft 6:Schwerpunkttliema: Jugendhilferecht(72 S./ DM3, )

Heft 7:Schwerpunktthema: Jugendfiilfetag-Sozialistische Aktion(DM 4, )

Heft 8:Sch'werpunktthema: Reform und Reformismus als Problem prak-

ti'scner Politik i.d. Sozialarbeit (DM4, )

Heft 9:Sch'werpunktthema: Sozialarbeit in Jugendzentren(96 S./DM 5,--)

Heftlo:Schwerpunktthema: Knast und Sozialarbeit (64 S./ DM 3,5o)

Heftll:Schwerpunktthema: Stadtteilbezogene Sozialarbeit I (DM3, 5o)

Heftl2:Schwerpunkttfiema: Stadtteilbezogene Sozialarbeit II (DM 4, )

Heftl3:Schwerpunk"tth'ema: Jugendarbeit und Jugendarbeitslosigkeit(DM 5,

Herausgeber: Sozial i'stisches Biiro

6o5 Offenbach 4, Postfach 591

Verleger: Verlag 2ooo GmbH Offenbach

Erste Auflage: Oktober 1976, 5ooo Exemplare

Alle Rechte bei dem Herausgeber

Vertrieb: Verlag 2ooo GmbH, 6o5 Offenbach 4 Postfach 591, Hohe Str. 28 Postscheck Frankfurt Nr. 61o41-6o4

Preis: Einzel exemplar DM 4,—

bei Abnahme von mindestens lo Stuck 2o% Rabatt Weiterverkaufer(Buchladen,Buchhandel) 4o% Rabatt jeweils zuziiglich Versandkosten

Beilage: O-Nummer von pad. extra Sozialarbeit

Verantwortlich: Redaktionskollektiv Info Sozialarbeit Presserechtlich verantwortlich: Glinter Pabst Offenbach Druck: Hbo-druck Bensheim

INFO SOZIALARBEIT, Heft 14

INHALT

Vorbemerkung zu dieser Ausgabe

Bodo Hager:

Soziale und politische Aspekte der Psychiatrie

Gerhard Kafitz:

Dossier zur Psychiatrie-Enquete

Arezzo - Bericht von einer Reise

Herbert Nagel:

Was heiBt Selbsthilfe?

Entstehung und Praxis der Sozialtherapie Ffm. e.V.

Patientengruppe Sozialtherapie Frankfurt:

Von Beziehungskapital isten und Beziehungsproletariern

Bernd Kreuzberg:

Arbeit in der Heidelberg Free Clinic

Chuck, Heidelberg Free Clinic:

Welchen politischen Sinn haben alternative Projekte?

Michael Honig:

"Han kann nicht mit alien Methoden urn Emanzipation kampfen!' Ein Interview mit Chuck und Werner von der Heidelberg Free Clinic am 7.3.1976

Bernhard Achterberg:

Fragen zum Selbstverstandnis von "Anti-Psychiatrie"

Uschi EBbach-Kreuzer:

Social Work: Eine studentische Selbsthilfeorganisation

Material i en/Kl ei nanzeigen

Den Widerstand organisieren!

Manifest des SB zum Pf ingstkongress 1976

Lokale SB-Gruppen/Kontaktadresse

Seite 3

Seite 5

Seite 9 Seite 17

Seite 21 Seite 28 Seite 31 Seite 35

Seite 39

Seite 49

Seite 57 Seite 75

Seite 79 Seite 81

m*.

BROSCHOREN DES SB - HERBST 1976

ALLE NEUEN UND NOCH LIEFERBAREN TITEL

Referendar & Junglehrer Buch, DM 8 Thesen des SB, DM 5 Hil- debrandt/Olle; Ihr Kampf ist unser Kampf - Ursachen, Verlauf und Perspektiven der Auslanderstreiks 1973 in der BKD, DM 1o Ax- macher: Kritik der Berufsausbildung, DM 7 Redaktionskollektiv "express": Spontane Streiks 1973 - Krise der Gewerkschaftspoli- tik, DM 6 t Politisches Ende der EVA? Dokumentation zum Medien- verstandnis der Geverkschaften, DM 3 Betriebsratswahl Merck 1972; Eine Dokumentation, DM k Informationsdienst Arbeiterbil- dung: Thema "Lohnpolitik", DM 3 Informationsdienst Arbeiter- bildung: Thema "Bildungsarbeit mit Lehrlingen"; DM 5 Portugal - Auf dem Weg zum Sozialismus? Analysen und Dokumente, DM 8 Das Gesundbeitsvesen in Portugal, DM h Eckl: Klassenkampfe in Chile, DM 10 Dokumente zur Entwicklung in Chile (vor dem Putsch von 1973), DM 5 Klassenkampfe und Repression in Italien. Am Bei- spiel Valpreda, DM 5 Kofler/Buro: Vom Handelskapitalismus zum Neoimperialismus der Gegenwart. Eine Einfuhrung in die Entvick- lung der burgerlichen Gesellschaft, DM 5 Conertj Die politi- schen Grundrichtungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, DM 5 Schafer: Die Kommunistische In- ternationale und der Faschismus, DM 8 Bedingungen und Perspek- tiven der Stadtteilarbeit, DM U van Spall: Ubersicht deutsch- sprachiger Periodika der unabhangigen sozialistischen Linken, DM 2,5o Projektstudium am Beispiel Heimerziehung, DM 8 J6- dicke: Arbeitermadchen im Jugendzentrum, DM 1* Knastalltag am Beispiel Mannheim. Der "Mannheimer Gefangnisskandal", DM 7 Kunstreich: Ontersuchung zur Rolle des Sozialarbeiters in der Klassengesellschaft am Beispiel der Jugend- und Familienfursor- ge, DM 1o Fuhrke: Staatliehe Sozialpolitik, DM 8 REIHE ROTER PAUKER: Unterrichtseinheit (UE) Verhaltenssteuerung - Abweichen- des Verhalten, DM h t UE Arbeit, DM U UE Lehrlingsausbildung in der BRD, DM 3,5o Materialien zur Arbeitsfeldanalyse des Leh- rerberufs,'DM k Materialien zur Geschictate der politischen Leh- rerbewegung I, DM 2.5o - II DM 5 - III, DM It Materialien zur Schulbuchproduktion: Analyse, Tendenzen, Alternative^ DM k UE Arbeiterliteratur, DM 5 Modelle zur Sexualerziehung, DM 1 UE Indianer, DM It t PLAKAT-BAUERNVERLAG : Alavi : Theorie der Bau- ernrevolution, DM It Rechtziegler : Westdeutsche Landwirtschaft im Spatkapitalismus, DM 5 Bauer was nun? Beitrage zur Agrar- frage in der BRD, DM It Kemper: Marxismus und Landwirtschaft, DM 5 Bergmann: Agrarpolitik und Agrarvirtschaft sozialistischer Lander, DM 1o Hampicke: Kritik der burgerlichen Agrarokonomie , DM 6 Agrarprobleme und Bauernkampfe in Westeuropa, DM 8 Lieferung gegen Vorauszahlung (portofrei) Der Bestellung ist der Gegenwert in Briefmarken, Bargeld oder als Verrechnungsscheck beizufugen Bestellungen sind zu richten an Verlag 2ooo GmbH, 6o5 Offenbach It, Postach 591 ^^^^^^^^

VORBEMERKUNG ZU DIESER AUSGABE

Im Februar 1976 trafen sich in Gottingen rund vierzig Sozialarbeiter, Studenten, Psychologen und Arzte, urn darliber zu diskutieren, wie der INFO "Psychiatrie" aussehen sollte. Wir einigten uns auf vier Fragen, auf die die Beitrage antworten sollten:

- Welche Erfahrungen haben wir bei dem Versuch gemacht, innerhalb der Anstaltspsychiatrie eine fortschrittliche Arbeit zu machen?

- Welche Erfahrungen haben wir bei dem Versuch gemacht, eine Alterna- tive zur Psychiatrisierung zu entwickeln?

- Welche Strategien im Umgang mit Staat und Behbrden haben wir ent- wickelt, urn alternative Modelle politisch durchzusetzen und zu sta- bilisieren?

- Was heiBt eigentlich: in der Psychiatrie politisch arbeiten?

Diese Fragen zeigen ganz deutlich, daB die ursprlingliche Absicht, die kritische Arbeit von Sozialarbeitern in den verschiedenen psychiatri- schen Bereichen darzustellen, keine groBe Rolle mehr spielte. Der INFO ist nun zu einer Sammlung theoretischer Texte, Erfahrungsberich- ten und Selbstdarstellungen geworden, die vornehmlich von alternati- ven, von auBerinstitutionellen Projekten berichten. Dabei hat sich ein Konzept herausgebildet, das auBerlich in der Ab- folge der Texte sichtbar wird (man sollte sie auch nacheinander le- sen); vor allem aber treten - ungeplant - eine Reihe von zentralen Problemstellungen hervor, die in den verschiedenen Beitragen durchaus unterschiedlich angegangen werden, zu denen auch durchaus unterschied- liche Erfahrungen vorliegen.

Sozialarbeiter in der Psychiatrie mbgen von dieser Konzentration auf auBerinstitutionelle Arbeit enttauscht sein, denn von ihren Problemen ■jst explizit nicht die Rede. Die Herrschaftsmechanismen Totaler Insti- tutionen sind indessen nicht auf die Verwaltungsapparatur der Psychia- trie beschrankt: gerade die alternativen Ansatze zeigen, daB die Re- qeln der Herrschaftsausubung nicht nur fremdgesetzt, sondern integraler Bestandteil unserer Verbal tensmbgl ichkei ten, Werte und unseres poli- tischen Selbstverstandnisses sind. Es findet also in diesem INFO - obgleich es auf den ersten Blick so scheint - keine Spezialisierung auf Probleme der Psychiatrie und auf Probleme alternativer Arbeit statt; vielmehr steht das Rollenverstandnis linker Sozialarbeiter zur De- batte. Die Moral dieses INFO: politisch verstandene Sozialarbeit ist zua11ererst Arbeit an meinem eigenen Verhalten gegenliber dem "Klien- ten". Ha'tten wir uns wieder nur mit Anstaltspsychiatrie beschaftigt, ware wieder nur die Objektivitat, die Anstalt oder sonst was SuBer- liches schuld.

nie Entwicklung und Verankerung alternativer, selbstorganisierter Be- rLlfstatigkeit ist im Bereich psychiatrischer Arbeit offenbar weiter

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fortgeschn'tten als in anderen Bereichen der Sozialarbeit. Auch im Ausland ist die Psychiatrie der vornehmliche Bereich der Entwick- lung von alternativen oder Selbsthilfezentren. Das ist aktuell von Bedeutung, seit auf dem Frankfurter PfingstkongreB "Rotarbeif pro- klamiert, zur Bildung alternativer Berufsstrukturen aufgerufen wurde. Dennoch bieten die Texte nur wenig "technische Hilfe". "Alternative Berufspraxis" ist immer noch zu oft ein studentischer Traum; aber die Zeiten fiir Reformmodelle sind schlecht und der Widerstand der Sozial administration barter denn je. Wieviel CleverneB, Kenntnisse, Durchhaltevermbgen, wieviel Arbeit an der eigenen Existenzangst, Aus- einandersetzung mit dem prekaren politischen Status solcher Projekte notwendig ist, kommt im Ganzen des INFO zu schwach zum Ausdruck.

Damit hangt ein charakteristisches Paradox zusammen.Wer alternative Arbeit aufbauen will, darf nicht blauaugig, er muB ein Profi sein. Er muB sich auskennen mit den Anerkennungs- und Finanzierungsinstan- zen, mit Offentlichkeitsarbeit und Biindnispolitik - zugleich aber muB er authentisch die antiinstitutionellen Interessen und Bedurfnis- strukturen vertreten kbnnen, das heiSt: doch wieder kein Profi sein. Er muB dem "Klientel" des alternativen Projekts gegenubereine Identi- ty finden, die personal und nicht abstrakt-fachmannisch ist, er muB also offen und selbstreflexiv arbeiten. Was Herbert Nagel uber seine Probleme mit "Klienten" in der Sozial therapie Frankfurt schreibt. mag wahrlich nicht nur ihm so gehen: "Ich behandelte ein Problen des an- deren, wahrend er vielleicht einfach ... mit mir kommunizieren wollte. Diese Paradoxie, professionell sein zu mussen - zugleich aber sich auf die Personen, die ins Zentrum kommen, einlassen zu konnen. das ist besonders bei politischen Absichten schwer zu losen. Bleibe ich m t Hi^er Definition des Problems nicht immer auf einer mterpersonellen e sS e ? wSs muB ich tun, wenn ich weiB, daB 9es-Usch.ftlich. Gewalt eben nicht mit der Auflbsung interpersonal ler Krisen und Ver- standigungsbarrieren sich verfluchtigt? Man mochte manchmal e nfach aufstehen und den Leuten sagen, was Sache ist, was sie tun sollen, was dran ist.. .

Alle diese Probleme werden in diesem INFO keineswegs gelbst, zweifel- los aber diskussionsfahig gemacht und einen Schritt weiter, das mei- nen wir schon, geklart.

Dieser INFO SOZIALARBEIT ist in Abstinnnung mit dem Arbeitsfeld GeT Sheitswesen im Sozial istischen Buro entstanden; demnachst erscheint im INFO GESUNDHEITSWESEN ein eigenes Heft zum Thema Psychiatrie . Dieser INFO ist nicht von einer AKS-Gruppe erstellt worden (wie die meisten anderen Nummern), sondern von einer Mehrzah von Einzelperso- nen und Gruppen, die fast ausnahmslos zum ersten Mai mit dem Soziali- stischen Bliro zusammengearbeitet haben.

Bernhard Achterberg Michael-Sebastian Honig

Bodo Hager:

SOZIALE UND POLITISCHE ASPEKTE DER PSYCfflATRIE

Die starke Zunahme psychischer Krankheiten und Behinderungen, (2er Ausdruck "psychische Krankheiten" soil an dieser Stelle nicht weiter erlautert werden.) sowie die bffentlich zugegebene Vernach- lassigung der Psychiatrie stellen ein wachsendes sozial- und gesund- heitspol ltisches Problem dar (vgl. Praambel zum Bericht iiber die La- qe der Psychiatrie in der BRD. Bonn 1975, S. *0 . Es wird verstarkt durch die Tatsache, daB die Psychiatrie fast ausschlieBlich medizi- nisch bzw. cheniotherapeutisch orientiert ist, wahrend die gesell- schaftspolitischen und menschlichen Aspekte der psychiatrischen Be- handlung nur geringe Bedeutung erlangt haben. Die offenkundigen LUk- l<en im pra'ventiven Bereich psychischer Hygiene, den komplementaren Diensten und gemeindenahen Beratungsstel len (besonders fiir die Rand- qruppen und die landliche Bevblkerung) und die fast ausschlieBlich kurative, von den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Patienten ab- strahierende Betreuung weisen auf eine Unter- und Fehlversorgung in diesem Sektor des Gesundheitswesens hin.

Innerhalb der Institutionen der Psychiatrie ist ein "gesellschafts- bezogenes psychiatrisches Denken und eine kritische Oberprufung und Veranderung der therapeutischen Methoden und der bestehenden Organi- sationsformen" (vgl. § 3 der Satzung der Deutschen Gesellschaft fiir soziale Psychiatrie (DGSP)J weitgehend abhangig von dem Engagement der pf|eger und Rrzte, die in den psychiatrischen Institutionen un- mittelbar auf die Patienten einwirken.

nie disziplinierende Funktion der Psychiatrie hat eine lange Tradi- tion. In Zeiten zugespitzter politischer Kampfe, wenn sich die herr- scheiide Klasse bedroht fu'hlt, ja schon im Gerangel burgerlicher Par- teien, wird die Psychiatrie bzw. die psychiatrische Terminologie als nolitische und ideologische Waffe mit dem Ziel eingesetzt, die Glaub- wurdigkeit und Ernsthaftigkeit des Gegners, das heiBt: ihn als Per- son zu zerstbren.

Unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten ist der Begriff der Randgruppe unter dem Abgrenzungs- und AusstoBungsbedurfnis der Mehr- heit zu betrachten. Die Grenze zwischen der Gesellschaft und der Rand- aruppe der psychisch Kranken wird nicht nur durch die Stellung im Pro- duktionsprozeB gezogen, sondern vor allem im Vorurteil der Ausgren-

Die Psychiatrie ist ebenfalls wie die Sozial flirsorge eine gesell- cchaftliche Dienstleistung mit ausgepragter bewuBter Individualisie- lurtg der Klientel. Als Wissenschaft entwickelte die Psychiatrie ihre Theorien unter den Bedingungen der Totalen Institution Irrenhaus, las heiBt: unter Ausklammerung der Lebenszusammenhange der Patienten. naB nicht somatische, sondern psycho-soziale Faktoren krank machen, ■st von der Psychiatrie bisher kaum zur Kenntnis genommen worden.

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Der steigende Anteil der "Alterspsychotiker und Alterssenilen'in den psychiatrischen Klim'ken straft offenkundig das rehabilitative Selbst- verstandnis der Psychiatrie LLigen und la'Bt sie vielmehr als eine gesellschaftliche Instanz zur Selektion und Kontrolle der nicht sel- ten durch den ProduktionsprozeB unbrauchbar gewordenen Individuen erscheinen, die als moralisch minderwertiges Gut zu mdglichst gerin- gen Unkosten verwahrt werden. Das Prinzip der VerwahrungsfUrsorge ist charakteristisch fiir die deutsche Anstal tspsychiatrie.

Das nach wie vor bestimmende Paradigma in der Psychiatrie gent weit- gehend von einem Krankheitsbegriff der "gestbrten Leistung des Orga- nismus" aus. In den letzten fiinfzehn Jahren sind Untersuchungen durch- gefuhrt worden (etwa die Midtown Manhattan-Study; die Mannheimer Stu- die), die einen Zusanmenhang zwischen soziodkonomischen und seeli- schen Erkrankungen, insbesondere bei unteren sozialen Schichten, auf- weisen konnten. Es wird hervorgehoben, da[3 die Diskriminierung und Benachteiligung dieser Schichten in der gesundheitl ichen und wohl- fahrtsstaatlichen Betreuung auch in der Krankheit ihren weiteren Ver- lauf nimmt und diese schlieSlich zu einer unabanderl ichen Verschlech- terung seelischer Gesundheit flihrt.

Das medizinische Krankheitsmodell schlagt aber auch den Erfahrungen ins Gesicht, die der Arzt, der Krankenpf leger und der Sozialarbeiter mit dem Elend der rechtlosen Patienten in den Anstalten machen. Ge- rade die Sozialarbeiter, die in der Psychiatrie bislang unterrepra- sentiert sind, muBten von ihrem Fachverstandnis her am ehesten die Mi sere der psychiatrischen Versorgung kritisieren. Sie konnten fach- liche wie politische Forderungen fur eine Psychiatrie im Interesse der groBen Mehrheit der Bevblkerung erheben.

Die Patienten in den psychiatrischen Kliniken sind weitreichenden Regulations-, Bestrafungs- und Belohnungsregeln unterworfen. Kluge bezeichnete den ProzeB der sozialen Kontrolle der Patienten als eigent- liche "Psychiatrisierung" Oder als "brutale Realitat". Da unter die- sen Umstanden die psychischen Erkrankungen im giinstigen Fall nur in die Latenz gedrangt werden und die Patienten bei geringfiigigen psy- chischen und physischen Belastungen auBerhalb der Anstalt sehr bald in diese zuruckkehren, ist der Ausdruck "Drehturpsychiatrie' gerecht- fertigt (vgl. Enquetezur Lage der Psychiatrie in der BRD - Zwischen- bericht der Sachverstandigenkommi ssion vom 19. Oktober 1973; ferner Material ien 9 & 10 des Bundesmini steriums fur Jugend, Familie und GEsundheit (BMJFG) , Stuttgart 1973). So rufen die Isolation der Patienten in kunstlicher Passivitat, Monotonie und Abhangigkeit den groBeren Schaden in der jeweiligen Person! ichkeitsstruktur hervor Die weitere Folge der zwangsweise eintretenden Hospital isierung ist zweifellos eine schrittweise Entsozialisierung. Der Psychiatneen- auete ist zu entnehmen, daD liber 30 % der Patienten langer als zehn Jahre in der Anstalt bleiben und lediglich 9 % die Institution mner- halb von zwei Jahren wieder verlassen. Kritische Psychiater bekennen^ heute freimutig, da6 der chronische Verfall sogenannter "Psychotiker mit Sicherheit als ein "Kunstprodukt der Psychiatrie" zu werten ist (Richter, Horst-Eberhard: Lernziel Sol idaritat. Reinbek 197<t,S. 239).

Die Totale Institution Irrenhaus bedient sich eines Kommunikations- systems, das die verschiedenen Berufsgruppen in einer hierarchischen

Ordnung und nach Funktionen voneinander isoliert. Unter diesen Um- standen wird die Behandlung der Patienten durch ein therapeutisches Team unmbglich, da ein demokratisches und kooperatives Arbeiten ver- hindert wird. Dabei spielt die uneingeschrankte Machtposition der medizinischen Berufe eine wesentliche Rolle. Neben dem Prinzip der hierarchischen Gliederung ist noch das ausgepragte Bestreben der In- stitutionsfiihrung nach Sicherheit und Ordnung zu nennen. Da Sicherheit und Ordnung sowie das reibungslose Funktionieren auf der einen Seite.und menscnliches Handeln gegeniiber den Patienten auf der anderen Seite ganz unterschiedl iche Erwartungen und Hand- lungsweisen hervorrufen mu'ssen, sind Rollenkonflikte und Identifika- tionsschwierigkeiten mit der Institution die Folge. So mu'ssen die professionellen Ziele und Werte in einer standigen Auseinandersetzung gegen die patientenfeindliche Struktur der Institution durchgesetzt werden. Langfristig flihrt dies zu einer Kraifteverzehrung, Abwertung nd Umdefinition der sozialpadagogischen und therapeutischen MaBnah- men zugunsten des Sicherheits- und Ordnungsprinzips der betreffenden Einrichtungen.

Dieser Konflikt bedeutet erhebliche Verhaltensunsicherheiten, psychi- sche Belastungen und Entta'uschungen, die durch die wenigen positiven Erfahrungen im Praxisbereich kaum aufgewogen werden. Wie gravierend dieses Problem ist, macht sich in der Anstaltspsychiatrie durch die hone Zahl unbesetzter Stellen und durch die starke Fluktuation des Personals bemerkbar.

Eine demokratisierende Berufspraxis in den Institutionen der psychia- trischen Versorgung kann daher nur dann einen Sinn haben, wenn sie das spezielle Aktionsfeld der Anstaltspsychiatrie liberschreitet. Dies hieBe aber auch: sich nach "unten hin" zu sol idarisieren, die Diskri- minierung der Schwa'chsten mitzutragen und dem Druck der gesellschaft- 1 ichen Krafte, die den sozialen Randstatus der psychisch Kranken be- wirken und festigen, auch politisch entgegenzutreten.

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Materialien der AG SPAK

Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise in der BRD Materialien zu Theorie und Praxis der Arbeit im Reproduktionsbereich

M19 M20

M21

M M24

D3

Materialien zur alternative!! Okonomie I

Ein Reader verschiedener, alternativ zur bestehenden Lebens- und Wirtschaftsform entwickelter, auch praktizierter Modelle; eine Kri- tik an den dargestellten Modellen. - 196 S., DM 6,50

Empirie einer Subkultur - Obdachlosensiedlung Miihltal Diese Arbeit stellt die Lebensformen von Obdachlosen als ein subkul- turelles Interaktionsfeld dar, das sich in den Zusammenhang vorindu- strieller Kulturtraditionen einordnen laSt und mitunter durchaus positiv vom Verhalten des ..Normalbiirgers" abweicht. - 220 S., DM 8,50

Materialien zur Arbeit mit psychisch Kranken I

Erfahrungsberichte und Selbstdarstellungen zur Arbeit in Landeskran- kenhausern, zur Selbstorganisation der Betroffenen, zu Kontakt- und Gruppenzentren auBerhalb von Anstalten, zu Selbsterfahrung und Meditation. - 1 22 S., DM 5,-

Materialien zur Arbeit mit Obdachlosen III

Selbstdarstellungen und Arbeitsanalysen von Projektgruppen, die in Obdachlosensiedlungen Oder im Stadtteil Kinder-, Jugend- und Erwach- senenarbeit machen. - 246 S., DM 7,50

Zur Praxis von Vorschul- und Schiilerarbeit mit Obdachlosenkindern

Eine Zusammenstellung von Material und konkreten Anregungen, die auf den Erfahrungen einer Initiativgruppe beruhen. Der theoretische Teil ist kurz gehalten; ausfiihrlich warden praktische Moglichkeiten der Rand- gruppensozialisation aufgezeigt. - 160 S., ca. 50 Abb., DM 7,80

Dart Willi lernen?

Diese Dokumentation gibt den MiEmut einiger engagierter Padagogen iiber einen Modellversuch der Stadt Munster im Rahmen des Volkshoch- schulprogrammes zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fur arbeits- lose und „sozial auffallige" Jugendliche wieder. Sie will Ergebmsse und Einschatzungen dieser Erfahrungen verwertbar machen fur zukunftige Projekte dieser Art sowie Moglichkeiten und Grenzen verdeutlicnen, die der Arbeit in und mit offentlichen Institutionen gesteckt sind. - •-'• DM 3,50

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AG SPAK - Publikationen -, Friesenstr. 13, 1000 Berlin 61

Gerhard Kafitz:

DOSSIER ZUR PSYCHIATRIE-ENOUETE

Nach mehr als vierjahriger Arbeit hat eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte (Commission die "Enquete zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland" vorgelegt, Die Verbffentl ichung hat eine erhebliche Resonanz in der Presse gefunden: der skandalbse Zustand der psychiatrischen Versorgung und die Massenhaftigkeit psychischen Elends wurde zum ersten Mai in groBem MaB publik. Dennoch ist die Enquete voller widersprLichl icher Tendenzen; vor allem hat sich letzt- endlich die traditionelle Psychiatrie dorch gegen die psychothera- peutischen Bestrebungen behaupten konnen. Der Text will die Enquete zum Zwecke eigener LektLire mit dokumentarischem Material strukturie- ren.Eine empfehlenswerte Lesehilfe fur das massige Werk geben A. Finzen und H. Schadle-Deininger in der Reihe "Werkstattschriften zur Sozialpsychiatrie" (Heft 15, 128 Seiten, 4.- DM; Vertriebsan- schrift: SiidstraBe 25, 3050 Wunstorf, H. Schadle-Deininger). Die folgende Dokumentation hebt vor allem auf die Entstehung und die wesentlichen Aussagen der Enquete ab, legt das besondere Augenmerk jedoch auf die nach wie vor problematische Fassung der Begriffe "Krankheit" und "Therapie".

Fnt.stehung der Enquete

Am 5. Marz 1970 brachten di.e Abgeordneten Picard u.a. und die Fraktion der CDU/CSU ihren Antrag zur "Situation der Psychiatrie in der BRD" ein mit einer sehr differenzierten Begrlindung und klaren Forderungen (Dezentralisierung, Regional isierung, Behandlungsmedizin, Sozial- psychiatrie als Kernpunkte der Psychiatrie, soziale Verkriippelung in nsychiatrischen Krankenhausern abschaffen) und dem Vorschlag, den An- trag an den GesundheitsausschuB zu liberweisen. Dieser AusschuB sollte eine Anhbrung von Psychiatern aus dem Bereich der psychiatrischen Landeskrankenhauser', der Universitatskliniken und aus der Verwaltung vornehmen, urn die Untersuchung abzugrenzen und urn die Mbglichkeit der personellen Zusammensetzung einer Kommission zu erbrtern, die die- Untersuchung nun vornehmen kann. (Antrag der Abgeordneten Picard a. und der Fraktion der CDU/CSU zur "Situation der Psychiatrie in Her BRD", Drucksache M\/klh, in: Soz ialpsychiatr i sche Informat ionen ,0/] 1-1972, S. 17-19. Begrundung des Antrags S. 19-1(2.)

Am 3./4- April 1970 fand in der psychiatrischen Klinik der Universi- j-St Hamburg ein sozialpsychiatrischer KongreB mit dem Leitthema "Ruckkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft?" statt, der die r hurtsstunde des "Mannheimer Kreises" war. (Dorner/Plog : Sozial- psychiatrie. Neuwied 1972)

18.1.71 wurde die "Aktion psychisch Kranke" gegriindet

ein Verein "" ' Reform der Versorgung psychisch Kranker. Die Aktion hat das Schwer-

gewicht ihrer Arbeit in unmittel barer Wirkung im parlamentarisch- politischen Feld, wobei sie auch auf der Ebene der Landerparl amente aktiv werden und Kontakte zu den Uberbrtlichen Tragern der Sozial- hilfe und den freien Krankenhaustragern herstellen will. Der Aktion wurde die gesamte organisatorische Vorbereitung und Durchfuhrung der

Enquete Ubertragen. (In den Heften der Zeitschrift "Sozialpsychia- trische Informationen" (zitiert als Sozpslnfo) sind Vorgeschichte und HitergrUnde der Enquete, Zusammenfassung und Arbeitsweise der Sachverstandigenkommission dargestellt worden. Die Zeitschrift er- scheint seit 1971 und wl rd von Mitgliedern der Deutschen Gesell- schaft fur Soziale Psychiatrie sowie Mitarbeitern des Mannheimer Kreises gestaltet.) . . c .

Die konstitutierende Sitzung der Sachverstandigen-Koramssion fand am 31 8 71 in Bonn statt. Zu der Zusammensetzung der Sachverstandi- gen-Kommission meint die Redaktion der "Sozialpsychiatrischen Infor-

mationen": . , , , .

Vie diese Liste der Kommiesionsmitglieder eigentlich zustande kam wird wohl immer das Geheimnis einiger weniger bleiben. 1st ein sol ches Ubergewicht der Vniversitatspsychiatrie zu rechtfertigen? Mtis- sen in einem solchen Gremium Psychiater wirklich unter sich bleiben, sind sie fur alls Fragen "Sachverstandige"? Wo bleiben die Psycholo- qen, SoUologen, Padagogen, Verwaltungsfachleute und Rechtsejcperten, die selbst in den Arbeitsgruppen klagliah repr&sentiert sind? Was far eine Funktion hat die einzige Hchtakademikerin und einzige Frau in dieser Korrmiesion? Gab es fur den gesamten Pflegebereich, der mit der Versorgung psyohisoh Kranker doah viel unmittelbarer ais Krzte konfrontiert ist, wirklich keine qualifizierte Sachverst&ndi- aena die der Bundestag und sein AusschuB doah offenbar gefunden hat- te/wenn er die zWeite Halfte der Anhorungen mit eben solchen niant- /ir-'ptlichen vsuchiatrischen Mitarbeitern bestritt? Z 19 10 1973 wurde als Drucksache 7/1124 des Dt. Bundestag^ der Zwischenbericht der Sachverstandigen-Kommission zur Erarbeitung der Enquete uber die Lage der Psychiatrie in der BRD verbffentHcht. (Zwischenbericht der SachverstMndigenkommission zur Erarbeitung der Enquete uber die Lage der Psychiatrie in der BRD; Drucksache 7/II24 des Deutschen Bundestages, in: Sozpslnfo 19-1974, 5. ii l°-i

Zu dem Konflikt. 7wischen der AG "Psvr.hntherapie" und der Sachver- Tta'ndiqen-kommission: vot Erscheinen des /wiscnenherichts bis zum_ Hauptbericnt

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft fur Psychotherapie, Psychoso- raatik und Tiefenpsychologie (DGPPT) richtete am 10.11 1973 ein Schrei ben an das Bundesministerium fur Jugend, Faimlie und Gesundheit (BMJFG). Dort heiBt es u.a.:

"Wir sind zutiefst beunruhigt, dali die zahlenmaBig starkste G™PPe von psyahisch Kranken, die man als psychtneurotiech und p^ehoeam tisch Kranke bezeichnet, in der EnquSte erschreckend "f^f^* berttcksichtigt worden ist. Diesen eklatanten Mangel unter B*£*™ tung des gegenwartig verbindlichen Organisationsplanes der fW*te noch beheben zu wollen, halten wir filr ausgeschlossen, da dieser ver- sorgungsbereiah in der Sachverstandigen-Kommission personell una sachlich unzureiahend vertreten ist. "

lo -

Die Initiative der. DGPPT wurde vom Vorstand der Allgemeinen Arztli- chen Gesellschaft flir Psychotherapie unterstiitzt. Zu Beginn des Jah- res 1974 wurden die Arbeitsgruppen "Psychotherapie/Psychosomatik" konstituiert und nahmen ihre Tatigkeit auf. Es wurde im Laufe des Jahres zunehmend die Gefahr sichtbar, daB sich die zwei Teile (Psychiatrie und Psychotherapie/Psychosomatik) im Hauptbericht ihrem Inhalt nach nicht zu einera in sich geschlossenen widerspruchsfreien Bericht wlirden zusammenfligen lassen. Die Vertreter des Bundesgesund- heitsministeriums (BMJFG) erklarten Anfang 1975 mit Nachdruck, daB der Deutsche Bundestag als Auftraggeber einen in sich blindigen, wi- derspruchsfreien Bericht erwarte. Es soil nicht verschwiegen werden, daB der EinigungsprozeB gelegentlich am seidenen Faden hing. SchlieB- lich kam man zu der Oberzeugung, daB es mbglich sein mu'Bte, den Hauptbericht in seiner Gesamtheit zu harmonisieren.

Wichtige Aussagen der Enquete

1 . Grundforderung

"Die Sachverstandigen-Kommission hat bereits im Zwischenbericht mit Nachdruck gefordert, daB die Beseitigung grober inhumaner MiBstande unbedingt jeder Neuordnung der Versorgung psyahisch Kranker und Be- hinderter vorauszugehen hat. Sie halt es fur selbstverstandlich, daB in den vorhandenen Einriahtungen filr die Versorgung psyahisch Kran- ker und Behinderter ein ausreichender Standard zur Befriedigung hu- maner GrundbedUrfnisse gewdhrleistet ist. Dazu gehdren ausreichende sanitare Ausstattungen, ein ausreichender Bereiah filr das personli^ che Eigentum und die persBnliche Kleidung sowie eine Inneneinrich- tung, die den heutigen Anspriichen einer Krankenhausunterbringung entspricht." (Enquete, S. A08)

2. Rahmenbedingungen einer Neuordnung der Versorgung

"Die Sachverstdndigen-Kommission ist der Ansiaht, daB folgende Prin-

zipien den Charakter von Rahmenbedingungen besitzen:

Das Prinzip der gemeindenaken Versorgung ;

das Prinzip der bedarfsgerechten und umfassenden Versorgung aller

psyahisch Kranken und Behindertenj

das Prinzip der bedarfsgerechten Koordination aller Versorgungsdien^

das' Prinzip der Gleiahstellung psyahisch Kranker mit kSrperlich Kran- ken." (Enquete S. 408)

3. Zum Bedarf

"Die Charta der Weltgesundheitsorganisation besahreibt Gesundheit als ein Zustand vollkorrmenen korperlichen, psyahischen und sozialen Wohlbefindens, nicht nur definiert durch die Abwesenheit von Krank- neit oder Behinderung. "... "Wie Urttersuchungen aus den USA und Ka- nada gezeigt haben, kbnnten - nach dieser Definition - nur rund 20 % der Erwachsenen-BevSlkerung als gesund bzw. als besahwerdefrei bezeichnet werden." (Enquete S. 66)

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"Erhebungen tiber den Anteil verhaltensauffdlliger, leistungsbeein- trachtigter und behinderter Kinder und Jugendlioher liegen in grSs- serem Umfang nur fur das Schulalter vor. Sie stimmen darin ubereyn, daB bei 20 - 26 % aller Sehulkinder Auffalligkeiten vorhanden sind, die zvmindest in irgendeiner Form einer Klarung bedUrfen. In einer Untersuahung von Kohlsche&i Uber die Haufigkeit von Verhal- tenaauffdlligkeiten und Leistungsbeeintrachtigungen im Sahulanfan- qerjakrgang einer GroBstadt wurde festgestellt, daB 16, S % im Laufe des ersten Sehuljahres erheblioh auffallig warm. 6,0 % vom Sohul- besuoh zuruekgestellt und 8, 7 % einer Sondereinriohtung zugefuhrt wurden." (Enquete, S. 235)

4. Die gegenwartige Versorgung

Die Bestandaufnahme und Analyse der gegenwiirtiger, Versorgung psy- chisch Kranker und Behinderter in der BRD zeigt die katastropnale Unterversorgung in diesem Bereich des Gesundheitswesens auf.

A. Finzen, ein Mitglied des "Mannheimer Kreises", veranschaulicht

diese Aussage: . . v„„m-n+

"Betrachten wir unter diesem Gesiahtspunkt noeh einmal die ^utf der psyahiatvischen Krankenversorgung in unserem Lande, dt-ebrutale ReaUtat, vie E. Klme (in: Psychiatrische Praxis 1 1974, S. 130 - 132) sie genannt hat", (ein Ausdruck, den auch das MdB Picard uber nimmt) "und Uberlegen wir uns dabei, was alles hmzunehmen wir vn Alltaq unserer Praxis gelernt haben. Has bedeutet es etwa, -wenn Hartmann und Meyer (in: Nervenarzt 46, 1974 SI - 8) tonoh- ten dat$ ein GroBteil der daueruntergebrachten Sshizophrenen, die noon wahrend des letzten Jahrzehnts aufgenommen sind, me einer ernstlichen koneequenten und intensiven Behandlung untevzogen war- den sind? Ware das auf ivgendeinem Gebiet der KSrpermedizm vorsteU

h-ZHn Hartmann (Habilitationssehrift 1974) und Sahulte (Bundestage- druaksaohe 474/17, 1970) Ubereinstirnmend feststellen, daB rund die mlfte der sohizophrenen Langzeitpatienten Uberwiegend aus sozialen Grunden in der Anstalt verbleiben? Varum ausgereohnet vn ohnehm Uberfullten psychiatrisahen Krankenhaus? Varum dart meist auf ge-

schlossenen Stationen? ; ,,„„„, j. ±„th-

- wenn Bempv ( Verkstattschriften UNK Tubingen 1/1974) feststellt, daB 95 % alter geriatrisahen Patienten, die in em 70 km_ entferntes Psychiatrisches GroBkrankenhaus verbracht wurden, dort «»™£ „. von 3 Uonaten verstarben, ein Drittel davon in weniger als 10 Tag en. ,

- was bedeuten die groBen Sale, die unwohnlichen TagesrSume, die Ab- schneidung von iedem Besitz, auch von Gegenstdnden des tag lichen tie darfs und eigener Kleidung, die zahlreiche chronisch Krarike irmer Zch Mnnehmln mussen? (s. Foudraine: Wer ist ausHolz? f™\2afrt_

- was bedeutet die unausgefullte Leere des Tagesablaufs der langfri stig hospitalisierten Patienten in den meisten unserer Krankennau

"-und was bedeutet es letztlich, daB die Psychiatrisahen GroBkranken- hauser in unserem Lande zum groBen Teil nur deshalb funktionieren, weil ihre Patienten fur sie arbeiten - Arbeitstherapie nennen WW das " (Finzen: Zur Kritik an der Psychiatrie: Politik mit P5^"'^" Kranken, Refarmkosmetik statt Strukturreform, in: Sozpslnfo Zt-iy/M, S. 9ff.)

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5. Die nicht-stationare fachliche Betreuung

Ober diesen Bereich gibt es bei der 'Bestandsaufnahme' der Enquete wenig zu berichten. Der Teil B der Enquete "Neuordnung der Versor- gung psychisch Kranker und behinderter" (Enquete S. 189-317) liefert einen Orient! erungsrahmen fiir die kunftige Versorgung.

Es werden beschrieben:

- allgemeine nichtprofessionelle und professionelle Beratung,

- Btratungsstellen mit besonderen Aufgaben,

- der praktische Arzt und der Arzt fiir Allgemeinmedizin,

- ambulante Dienste,

- stationare und halbstationare Dienste,

- komplementare Dienste (Obergangsheime, Wohnheime, Einrichtungen fiir Schwerst- und Mehrfachbehinderte, beschiitzende Wohngruppen und Wohnungen, Familienpflege, Tagesstatten, Patientenclubs),

- spezielle rehabilitative Dienste,

- Behindertenzentren,

- Versorgung besonderer Altersgruppen (Versorgung psychisch auffal- liger, gestbrter und behinderter Kinder und Jugendlicher; Versorgung psychisch kranker alter Menschen),

- Versorgung geistig Behinderter;

- Dienste fiir spezielle Patientengruppen (Suchtkranke, Suicidgefahr- dete, psychisch kranke Straftater, Epilepsie-Kranke, Hirnverletzte, NichtseBhafte),

- Psychotherapeutisch-psychosomatische Dienste,

- Blindelung der bedarfsgerechten Dienste in geographischen Bereichen,

- Koordination und Planung.

Besonders wichtig erscheinen die Ausfiihrungen liber die "Psychosozia- le Arbeitsgemeinschaft" (Enquete S. 311 f.), die H.E. Richter in seinem Buch "Fllichten Oder Standhalten" ausfiihrlich referiert.

Kritische Einschatzung der Enquete

1 . Positive Aspekte

- Bestandsaufnahme der katastrophalen Lage der psychisch Kranken und Behinderten in der BRD geleistet;

- Bedeutung von Sektorisierung (Standardversorgungsgebiet) und "the- rapeutischen Ketten" (Beratung, ambulante Dienste, komplementare Dienste .halbstationare, stationare, rehabilitative Dienste) aufge- zeigt;

- Flille von Informationen im Anhang (Untersuchungen, Gutachten, Informationsreisen, Anhbrungen);

- einzelne Punkte wie: Argumente gegen kustodiale, passivierende Psychiatrie (Enquete S. 19) und Beschreibung psychosozialer Arbeits- gemeinschaften (Enquete S. 311).

7. Kritische Einwande

Die Tatsache, dafi nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation nur 20 % der Bevblkerung als gesund zu bezeichnen ist (Enquete S.66), da!3 31 t der Schulanfanger als verhaltensgestbrt bzw. leistungsge- stbrt zu bezeichnen sind (Enqu§te S. 235), und da(3 50 % der Patienten,

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die zum praktischen Arzt kommen, "funktionelle Stbrungen" aufweisen, wird der Definition von "Gesundheit" angelastet, da das mediziniscn- psychiatrische Versorgungssystem diese Patientenmassen nie verkraf- ten kbnne.

Vorschlage zur psychohygienischen Versorgung fehlen weitgehend.

Es wird zum Ausdruck gebracht, daB durch Sektorisierung und "thera- peutische Ketten" die Lage der psychisch Kranken und Behinderten ent- scheidend verbessert werden kbnne. _ ■LM^at.

Erich Wulff meint, daB "ohne daB die Therapeuten sich dessen bewulit werden, sioh ihre therapeutisehen Ziele oft auf die Dimensionen von AnaepaBtheit und Devianz einengen, ihre therapeutisohen MaBnahmen _ auf Verhaltenskontrolle" und weiter: "eine Alternative kann auch %oh ihnen heute nicht anbieten. Vm sie Uberhaupt ausarbeiten zu konnen, ist ale erstes eine kritisohe Distant zur eigenen Praxis ™*™-£- Je wirksamer und unangefochtener die terminologischenPeohtfertigxm gen sind, desto unproduktiver wird die Konfliktdynamik psychiatri- scher Reformen. Statt sioh mit Begriffen zu beruhigen, gilt esVieL mehr, Situationen herbeizufuhren, die die genannten Widerspruche offenlegen und bis zur VnertrSglichkeit verscharfen" Er >chWulff. Therapeutische Gemeinschaft und Sektorprinzip - Konf 1 I kte be, psy chiatrischen Reformen, in: Jahrbuch fur Knt.sche Medizin Bd. 1, S. 43 - 53, Argument-verlag 1976)

las arztliche Honopol der Behandlung psychischer Stbrungen blieb im wesentlichen unangetastet, es wurde auf Fachpsychotherapeuten ausge- wenet Das medizinische Handat (das die in der Bestandsaufnahme ge- na ten KtrophSlen ZustHnda getragen .hat) wird zum therapeuti- sehen Mandat. Was "Therapie" ausmacht, wird mcht gesagt. Bauer sagt dazu: "Mehr Personal wird von alien Seiten gefordert und hesser ausqebildet soil es zudem sein. Wie dieses Personal ausge bildet seinsollte und von wem und welohe Berufsgruppen welehe the- lVpeutischen Aufgaben wahrzunekmen haben, daruber liegt ^njedo^h salon Wieder im Streit. Kommt man gar erst zu der Frage was psy r-niatrische Therapie nun eigentlich sei und Welches Ziel man mit inr veTfoUe lird del Dissensfast total und selbst kleine gemeinsame ZnnZrkmTenzlTsohen den Beteiligten nur noah schwer gefunden wer- den " (Bauer: Zur gegenwart igen Lage der Psych, atrie In der BRD, m. Meue Praxis 1/1975, S. 25"35)

3. Perspektiven

Gesundheitswesen, Wdagog1k..Soziala|teit und Jugendhllfe kSni«n aus der EnquSte lernen. Sektorisierung, "therapeutische Ketten , Koope rationsformen im Sinne des Teams werden auch dort gefordert. »Alle Forderungen und Hoffnungen, die auf eine angemessene plarmas sige Gestaltung sozialer Hilfen zielen, bleiben dcmitjtopisoh ja, die schwierigsten Aufgaben Werden vielfaoh den "**"^^f "j Kraften iiberlassen, wofur die Beimerziehung , der Strafvollzug und die psychiatrisohe Versorgung die peinlicksten .BeUge Men. Statt des Ausgleichs sozialer Ungleichheit soheint die ^rJnlUng gesell sohaftlieher und persOnlicher Vnterprivilegierung die der &™%Z beitgestellte Aufgabe zu sein". (Hans Eyferth: Chaos als Sy eJ Zur Lage der Sozial padagogi k und Sozialarbe, t , .n: Neue Praxis Z/iy/&, S. 87 ff.)

Auf der Basis der in der Enquete erarbeiteten Vorschlage m'UBte eine Kooperation dieser Praxisfelder einsetzen, urn konkrete Vorstellungen liber Planungs- und Leitungsfunktionen zu erarbeiten. Notwendig ist auch die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft OTV, die 1972 eine 14-seitige "Stellungnahme zur Versorgung der seelisch Kran- ken und der geistig Behinderten" verbffentlicht hat und darin u.a. die Forderung nach Umgestaltung der Psychiatrischen GroBkrankenhau- ser und den Aufbau einer bevblkemngsnahen psychiatrischen Kranken- versorgung gefordert hat. Die DTV sagt darin: " Die Gewerkschaft OTV will mit dieser Stellungnahme einen Beitrag leister zu einer baldi- gen und grundlegenden Reform der Versorgung der seelisch Kranken und der geistig Behinderten. Sie bietet alien, die bereit sind, dieses Ziel zu unterstlitzen, ihre Mitarbeit an..."

DaB 10-12 % der Bevblkerung eine fachliche Betreuung benbtigen, ist nicht auf die Mangel des medizinisch-therapeutischen Versorgungs sy- stems zuruckzufiihren. Es ist notwendig zu analysieren, weshalb Fami- lie, Schule, Sozialarbeit und Psychiatrie den riesigen Bedarf nicht bewaltigen konnen, bzw. produzieren. Vor allem muB eine breite Dis- kussion liber den "Therapie-Begriff" , die Rolle der "professionellen Heifer" einsetzen, damit technokratische Lbsungen verhindert werden, wo unter dem Deckmantel "Therapie" sublimere Urterdruckurg fortge- setzt werden kann.

Meines Erachtens ist eine einheitliche abschlieBende WUrdigung der Psychiatrie-Enquete kaum mbglich. Dem Durchbruch zu dem Konzept ge- staffelter gemeindenaher und vor allem ambulanter Dienste steht die kurzatmige Fortschrittlichkeit eines psychosomatischen Ansatzes ge- qenLiber, der als Einzelfallhilfe der nervenarztlich-stationaren Be- handlung, gegen die man sich eben noch wandte, doch zu a'hnlich ist. Was Gemeindepsychiatrie im vollen Sinne dieses Ausdrucks heiBten mu'Bte, ist zu teuer und erforderte auch wohl zuviel Snderung im her- kbmmlichen medizinischen Versorgungs- und Hierarchiesystem.

FUr dieses widerspriichliche Bild symbolisch ist die auBere Gestalt der Enquete: ein Monstrum von weit mehr als 1 000 Seiten, in dem vie- le hbchst wichtige und aufschluBreiche Analysen, Informationen und Stellungnahmen zu lesen sind - nur: wer wagt sich an die massiven Bande uberhaupt heran? So kann der Impetus, der durchaus in dieser Enquete sich niedergeschlagen hat, mangels Leserschaft nicht einmal bekannt, geschweige denn wirksam werden.

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AREZZO - BERICHT VON EINER REISE

Den folgenden Text entnahmen wir dem FS-Info Psychologie der Uni Konstanz. Der Autor war leider nicht zu erfahren. Urspriinglieh war ein weit umfangreicherer Teit mit Informationen aus der Entwicklung in Sachen "Antipsyahiatrie" in Frankreiah, Belgien, Niederlande, Italien, GroR-Britannien und USA geplant. Das war aus Platz- und z.T. Arbeitsgrunden nicht mSglich. Geblieben sind Hinweise auf England in den Texten von B. Achterberg und U. EBbach-Kreuzer, und eben dieser Text, dessen Informationen dock fur Vergleich und Verallgemeinerung besonders geeignet erschienen.

In Italien gibt es seit Beginn der sechziger Jahre eine Bewegung, die sich in der Zwischenzeit zur besta'ndigsten Herausforderung tra- ditioneller Psychiatrie entwickelt hat: die Demokratische Psychiatrie Wahrend bei uns vorwiegend theoretisiert wird (abgesehen von be- schrankten praktischen Versuchen, siehe z.B. Psychiatrische Praxis, Heft 1, 1975) und grundsatzliche Alternativen von der Staatsgewalt verhindert werden (siehe die Geschichte des Sozialistischen Patien- tenkollektivs Heidelberg), entwickelt sich in gewissen Regionen und Provinzen Italiens eine umfassende soziale Psychiatrie, die nicht mehr nur als vorlaufiges Experiment bezeichnet werden kann. Ihre Er- folge kb'nnen nicht einer anfangl ichen B geisterung irgendwelcher Pioniere zugeschrieben werden, wie Basaglia (vgl.: Die negierte In- stitution, Frankfurt 1968) einer war; es geht um mehr. Die bedeu- tendsten Zentren der Bewegung sind zur Zeit die Sta'dte Triest, Arezzo, Ferrara und in der Region Emilia-Romagna zu finden. Wahrend der Semesterferien war ich drei Wochen in Arezzo (Mittelital ien, Region Toscana); ich mochte hier kurz iiber meine Erfahrungen be- richten.

Hniqe Paten zur Klinik

Die Gesamtzahl der Patienten des Provinzkrankenhauses Arezzo liegt bei ca. 400 (Stichtag 10.3.1976: 401; 171 Frauen, 230 Manner). Die Betreuung erfolgt durch 13 Srzte, vier Sozialarbeiter und insgesamt 300 Pfleger (incl. Teilzeitkrafte). Die Zahl der in der Klinik tat- sachlich anwesenden Pfleger betragt pro Turnus ungefahr 45; daraus 1al3t sich ableiten, in welch groBzilgigem AusmaB den Pflegern Erho- lung zwischen den Dienstzeiten zugestanden wird. Tagsliber stehen einem Pfleger acht Patienten gegenliber (von der Gesamtzahl sind jene vierzig abzuziehen, die in sogenannten "Famil ienhausern" leben). Die Patienten sind getrennt geschlechtlich in insgesamt acht Hausern, die sich iiber ein sehr weitla'ufiges Areal verteilen, untergebracht. In flinf Hausern leben Langzeitpatienten (Mindestaufenthalt ein Jahr, 2ahl 1975: 363), die drei anderen iibernehmen Kurzzeitpatienten und

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die ambulante Behandlung. Einer Statistik des Jahres 1975 kann man folgende Zahlen entnehmen: Durchschm'ttsalter Manner 49,7 Jahre, Frauen 55,4 (73,9 % der Langzeitpatienten sind liber 45 Jahre alt). Durchschnittsaufenthalt Manner 18,6 Jahre, Frauen 22,1 (50 % der Langzeitpatienten leben schon zwischen 16 und 30 Jahren in der An- stalt). Soziale Zusammensetzung (samtliche Patienten, 1973): Bauern 22,6 %, Arbeiter 26,1 %, Hausfrauen ("casalinghe", d.h. Frauen ohne Berufsausbildung) 24,4 %, Arbeitslose und Invaliden 15,3 %, Pensionierte 2,9 %, Freiberuf 1 iche 0,8 %, Ubrige 7,2 %. Die psychia- trische Klinik in Arezzo (Stadt ca. 80 000 Einw.) ist die einzige in der von der Koalition der Kommunistischen und Sozialistischen Partei gefuhrten gleichnamigen Provinz (ca. 230 000 Einw.). Es handelt sich somit nicht urn eine "Eliteklinik", deren Reformarbeit etwa durch die Selektion der Patienten ermbglicht wUrde. Die Zielsetzungen der Demokratischen Psychiatrie und zugleich ihr Beitrag zur Veranderung der gesellschaftlichen Verhaltnisse sind: Verhinderung des institutionellen Ausschlusses, Bekampfung der Ideo- logic, die inn tragt und Auslosung des Befreiungsprozesses all derer, die von ihm betroffen oder bedroht sind.

Abbau der Institution

Um langfristig den AusschluBprozeB zu verhindern, mlissen vorerst einmal die offenen und versteckten Gewalt- und Machtmechanismen, die im traditionellen Verstandnis aus dem Zweck der Anstalt abgeleitet werden, tatsachlich aber in erster Linie ihren Fortbestand garantie- ren (Teufelskreis: Entmlindigung der Patienten - Fuhrungsanspruch der Institution), analysiert und bekampft werden. Konkret bedeutet dies in Arezzo:

- Absoluter Verzicht auf physische Gewalt: Isolierzellen, Zwangs- jacken, Bettriemen wurden abgeschafft;

- Ablehnung der ublichen Versetzung von einer "fortgeschrittenen Abteilung in die nachst untere bei zunehmender Regression:

eine solche P'axis ist gekennzeichnet durch die Funktionen der Dis- ziplinierung ("wenn er unruhig ist, gehort er in die Unruhigenab- teilung"; zwei Abteilungen in Arezzo hatten denn auch diesen Namen) und der Verteilung von Privilegien ("er verdient es, auf eine offene Abteilung zu kommen"); zudem ist sie ein wesentliches Element der wohlbekannten Anstaltskarrieren. Die Demokratische Psychiatrie wirkt in Arezzo seit 1971; es ist bis heute gelungen, das Gefalle zwischen den Abteilungen weitgehend auszugleichen. Wenn man eine beliebige Ab- teilung besucht, begegnet man den verschiedensten Krankheitsbildern auf alien mbglichen Entwicklungsstufen.

- KOntinuierliche Offnung der Anstalt nach auBen: im Lauf der letzten flinf Jahre wurden samtliche Abteilungen gebffnet, heute kann jeder- mann jederzeit an jeden Ort gehen. Es klingt unglaublich, aber es ist wahr, und ich habe mich davon uberzeugt, daB nicht irgendwelche versteckten und subtilen Kontrollmechanismen die verschlossenen Turen ersetzen. Der Mythos von der Gefahrlichkeit psychiatrisch Intermer- ter ist in Arezzo erfolgreich bekampft und widerlegt worden. B.es°n_ ders beeindruckend war fur mich die Beobachtung, wer nun tatsachlich von dieser Freiheit Gebrauch macht. Es ist nicht so, daB alle in die Stadt strbmen; vielnehr findet so etwas wie ein ProzeB adSquater Selbsteinschatzung der Patienten statt. Es geht nur der aus, der

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eben in der Lage ist, z.B. in der nachsten Bar sein Bier zu bestel- len und zu bezahlen und dabei vielleicht noch etwas zu schwatzen. Bei denen, die soziale F'a'higkeiten solcher Art im Moment nicht ver* fligbar haben, entwickelt sich offensichtlich kein BedUrfnis, in die Stadt zu gehen, sie begnligen sich mit Spaziergangen im sehr groB* ziigigen Klinikareal. Mit anderen Worten: es ist noch nie etwas vor- gefallen, was die Reformgegner als Argument fiir die Freiheitsbe- schrankungen anbringen kbnnten.

Diese Aufwertung der Stellung des Patienten verlangte insbesondere von den Pflegern groBe Anstrengungen. Ober den Wandel im Selbstbild dieser Leute kbnnte man ein Buch schreiben. Stellvertretend ist die Aussage zweier Pfleger: "Fruher akzeptierten wir die Folle des Wdah- ters, der die Gesellschaft vor dem 'Ivren' schtttzt, heute kampfen wir auf der Seite der Vatienten gegen ihre AussohlieBung" ', ". . . reoht unerwartet muliten wir die Offnung der Abteilung verkraften, wir WuBten nicht, wie wir uns verhalten sollten. . . . Die Pfleger wurden von den Bediirfnissen und Problemen der Patienten riahtiggehend iiber- rannt; schlullendlich erhielten die Anliegen der Patienten mehr Be- deutung als jene der Pfleger. Unter der alten Fuhrung war das anders, ja karri zuerst der Pfleger, dann der Patient."

DaB die Reform bisher derartige Fortschritte erzielte, ist vor allem der Einstellung und Wandlungsfahigkeit des Pflegepersonals zu ver- danken. Ihm konrnt in Arezzo auch die Bedeutung zu, die es aufgrund der Nahe und des Kontakts zu den Patienten verdient.

fiebt den Patienten mehr Macht!

Die Uffnung nach auBen geht Hand in Hand mit der Demokratisierung der Entscheidungsprozesse innerhalb der Klinik. Gemeinsame Versamm- lungen der Hrzte, Pfleger und Patienten werden auf Abteilungsebene alltaglich durchgefuhrt; die gesamte Klinik trifft sich zweimal wb- chentlich in der Vollversammlung.

Die Demokratische Psychiatrie sieht die Ursache der Regression in einem (fiir das Bestehen der traditionellen Klinik notwendigen) Machtverlust des Patienten. Der Hille, in Arezzo das Machtgefalle zwischen Rrzten, Pflegern und Patienten auszugleichen, zeigt sich am deutlichsten in den gemeinsamen Versammlungen, deren wichtigstes 2iel darin liegt, die in den symbolhaften ("irren") Handlungen ein- zelner zum Ausdruck kommende Angst, Aggression und Regression einem kollektiven Verstandnis zuzuflihren und sie zur Institution in Be- ziehung zu setzen. Man versucht, genieinsam in den vorerst unverstand- lichen Akten der anderen die dahinter verborgenen Bedlirfnisse zu erkennen und damit den institutionellen VeranderungsprozeB in Gang zu halten. Die Erfahrung des Patienten, auf institutionelle Entwick- lungen entscheidenden EinfluB ausliben zu kbnnen, flihrt zu einer Soli- dan'tat und Dynamik, die auch "hoffnungslos" Regredierte miteinbe- zieht.

Die Teilnahme an den Versammlungen ist freiwillig, anwesend ist im Durchschnitt etwa ein Viertel der Patienten, wobei wiederum ungefa'hr die Halfte aktiv mitmacht. Aber der stimulierende Effekt, den das Erlebnis gemeinschaftlichen Handelns und Entscheidens auslbst, laBt

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sich bei denen, die einfach nur dasitzen, sehr gut beobachten. Be- sprochen wird, was die Patienten gerade vortragen, die Diskussionen entstehen spontan, Entwicklung und Ausgang sind jeweils ungewiB. An Stoff fehlt es nie, in gemischter Reihenfolge werden organisato- rische Fragen, Aktivita'ten und persbnliche Anliegen (insbesondere Grlinde der Einweisung und Entlassung, Schwierigkeiten der wiederein- qliederung, Probleme in der Familie und am Arbeitsplatz) diskutiert. Die Beziehungen zwischen Krzten, Pflegern und Patienten werden zur Sprache gebracht, Kritik wird geauBert, der sich die Betroffenen ernsthaft stellen. Die Rrzte sind sehr aktiv, versuchen aber, jede Beeinflussung zu vermeiden.

Wenig diagnostische Arbeit, keine "klassischen" Therapien

Diagnosen werden in Arezzo ganz klein geschrieben. Deshalb gibt es auch keine Zusammenstellung von Auftretenshaufigkeit und Verteilung der verschiedenen Krankheitsbilder in der Klimk. Selbstverstandl ich konstatieren die Rrzte (fur sich), daB z.B. in einem Fall das vor- liegt, was man ublicherweise als Schizophreme bezeichnet Oder daB bei einem anderen Patienten jene Merkmale auftreten, die gemaB Lehr- buch den Manisch-Depressiven entsprechen. Medikainente machen solcne Feststellungen notwendig. Aber man ist sich bewuBt, welche sozia en Folqen Diagnosen haben kb'nnen. Und was nutzt es dem Patientenseioer, wenn er weiB, daB er "schizophren" ist? Die Einstellung, die in Arezzo in solchen Dingen vorherrscht, zeigt sich am besten in der Aussage eines Pflegers: "Fruher sagte man: Patient X ist schizophren, Schizophrene reden wirres Zeug, also redet X wirres Zeug. Die Folge war daB sich niemand um X kilmmerte. Seute versuche ich, die tatien ten zu verstehen und eine personliche Beziehung zu ihnen aufzubauen. Und dabei hilft es mir recht wenig, daB ich weiB,der andere ist _ 'schizophren', dieser Titel bringt unsere Beziehung auch mcht wel- ter. "

Die bei uns iiblichen Therapieformen sind in Arezzo nicht vertreten, was nicht auf das spate Erwachen der Psychologie in Italien zuruck- fuhrbar ist. Auch die Analytiker, die sonst das Feld beherrschen, sind nicht anzutreffen. Das Fehlen spezifischer therapeutischer Techniken beruht auf einer grundsatzlichen Entscheidung der Rrzte und ihrer Mitarbeiter in Arezzo: Technisches Wissen bedeute ™>cht- zuwachs fur den, der es anwenden kann und verunmogl iche daher ko lek- tive Auseinandersetzung und Kritik; der Abbau von Statuspnvilegien und die Befreiung des Patienten aus seiner Objekt-Rolle wurden eben- falls verhindert. Die Therapie in Arezzo besteht aus dem tntfal- tunqs- und Darstellungsraum fur den einzelnen und der gemeinschatt- lichen Aktion. Innerhalb dieses Rahmens sind nun al erdings jene Variablen, die fur den Aufbau einer tragfahigen B^ehung notwendig sind, in einem HbchstmaB vertreten: "emotionale Warme", Akzept!eren der Persbnl ichkeit, Selbstkongruenz der Rrzte und Pf leger Die Mug lichkeiten zur Gestaltung seiner Umwelt vermitteln dem P^nten Erfolgserlebnisse, dadurch werden die Selbstsicherheit erhoht. Fremd und Selbstverstarkungsprozesse in Gang gesetzt. Dies »"»"""» ohne daB jemand als Verhaltens- oder Gesprachstherapeut mit wissen schaftlichem Anspruch auftritt.

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Herbert Nagel:

WAS HEISST SELBSTHILFE? -

ENTSTEHUNG UND PRAXIS DER SOZIALTHERAPIE

FRANKFURT E.V.

"Kontakt-Zentrum" steht groli Uber unserem Jahresbericht 1975; der offizielle Name lautet: Sozialtherapie Frankfurt, Frankfurter Verein zur Rehabilitation psychosozial Geschadigter und zur Prevention psychischer Erkrankungen e.V. DaB der offizielle Name etwas zuru'ck- tritt, ist kein Zufall, sondern hangt damit zusammen, daB das Zentrum tatsachlich mehr und mehr Mittelpunkt unserer Aktivitaten geworden ist. Darin liegen unsere MSglichkeiten, aber auch unsere Grenzen.

Wer sind wir, was tun wir?

Wir sind etwa 50 Personen, die mehr oder weniger regelma'Big etwas mit dem Zentrum zu tun haben. In diesem Zentrum liegen drei groBe Raume Parterre, aukerdem gibt es zwei kleine Wohnraume und Ku'che zum Woh- nen fur Notfalle und zum Obernachten. Dort lebt eine Wohngemeinschaft aus ehemaligen Patienten. Geoffnet haben wir, solange jemand da ist, der Lust zum Reden hat - sicher aber taglich von 16 - 22 Uhr. Einen SchTUssel hat so ziemlich jeder, der eine gewisse Zeit im Zentrum war und einen Schlussel haben will - und wer keinen bekommt, dem sagt man warum.

Als festen Termin haben wir nur den Mittwochabend 20 Uhr; das Plenum. Dahin kommt, wer will, wichtige Dinge werden dort diskutiert und be- schlossen. Zu festen Terminen gibt es daneben noch die

- Offentlichkeitsgruppe, die die Tatigkeit im Zentrum nach auBen hi n zu vermitteln versucht, Flugblatter verteilt, in Leserbriefen nicht nur zu Fragen der Psychiatrie Stellung nimmt und hie und da einen Informationsstand im Stadtteil errichtet;

- eine Selbsterfahrungsgruppe, die geschlossen ist;

ebenfalls geschlossen ist die Interaktionsgruppe, die einzige Libri- qens mit therapeutischer Begleitung; sie will gruppendynamische Spiel- erfahrungen ermoglichen und trifft sich Freitagabend;

Donnerstagabend setzt sich eine Gruppe zusammen, die uber Formen der Selbsthilfe diskutiert.

Alle anderen Gruppen treffen sich mehr oder weniger kontinuierlich zum Malen und Basteln je nach Lust und Laune. Sonst trifft man sich oben, trinkt Kaffee, redet, unternimmt etwas oder auch nicht.

Anqestellte besitzen wir nicht - weder zum Putzen, noch fur die Ver- waltung, keinen Arzt, keinen Sozialarbeiter, keinen Therapeuten. An- fangs war das wohl eher eine Frage fehlender Geldmittel - heute dis- . kutieren wir daruber, ob das nicht ein Vorteil ist: allein deswegen schon, weil man uns nicht nehmen kann, was wir nicht haben.

Viele von uns wohnen im Nordend, in der Nahe des Frankfurter Zen- trums, bald die Halfte war in der Psychiatrie, einige fur Jahre. Man-

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che halten sich liberwiegend im Zentrum auf , andere weniger oft; einige leben von Sozialhilfe, andere studieren noch Oder arbeiten; es gibt also groBe Unterschiede der persb'nlichen Geschichte und der sozialen Stellung.

Das Zentrum ist jetzt etwas mehr als ein Jahr alt. So wie es sich in diesem Jahr entwickelt hat, war es durchaus nicht von den ehemaligen Initiatoren geplant. Auf eine Formel gebracht kbnnte man sagen: aus dem Plan einer alternativen Berufspraxis von angehenden Arzten, Psychologen, Sozialarbeitern und Soziologen, die durch neue Formen der Kooperation mit Betroffenen neue Formen der Therapie entwickeln wollten, wurde tendenziell ein Modell der Selbsthilfe von Betroffe- nen. Diese Ver'a'nderung gegen das ursprlingl iche Konzept ging nicht ohne Auseinandersetzungen vor sich; sie flihrte zur Verunsicherung einer Reihe alterer Gruppenmitgl ieder, die sich zuriickzogen; Knsen gab es uberhaupt viele. DaB Selbsthilfeorganisationen meist durch Initiative von auBen entstehen, ist im Augenblick eine Tatsache. Des- halb diirften auch die Auseinandersetzungen zwischen Initiatoren und Betroffenen, die ihre Sache selbst in die Hand nehmen wollen, nicht zufallig sein.

Die Entstehungsgeschichte des Zentrums

Im Spatsommer 1975 setzten sich im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise (AG.SPAK) Studenten der Medizin, der Sozialarbeit, Padagogik mit einigen Sozialarbeitern und angehen- den Krzten zusammen. Sie kritisierten ihr Studium (z.B. die Ausklam- merung der Psychosomatik aus dem Medizinstudium oder die bloBe rest- stellung statistischer Zusammenhange zwischen Schichtzugehbrigkeit und Krankheit), ohne in diese Zusammenhange praktisch unter dem Ge- sichtspunkt ihrer Veranderung eingreifen zu kb'nnen. Fur Arzte, so- zialarbeiter und Berufspraktikanten bestand auBerdem der Wunsch, nicht mehr als isolierte Einzelne ihre Arbeitsbedingungen hinnehmen zu mussen, sondern neue Formen der Praxis und gemeinsame Verarbei- tung von Erfahrungen zu finden (alternative Berufspraxis). So for- mulierten wir das Ziel, neue Formen der Therapie und Behandlung nicht nur in theoretischer Form, sondern auch in einer gemeinsamen Praxis auBerhalb der bestehenden Lehreinrichtungen zu erarbeiten. Die Arbeit der Gruppe war also zu diesem Zeitpunkt der Diskussion ahnlich geplant, wie die Heidelberger Free Clinic ihre Arbeit be- schreibt: als engagierte, solidarische Selbstorgamsation von "Menschen mit einer erworbenen beruflichen und sozialen Legitima- tion" (Vgl. die Dokumentation der Free Clinic: Wir sind zur Diskus- sion bereit; Selbsthilfe durch Sel bstorganisat ion. 5. 16-22),

die sich kurz vor oder nach Beendigung ihres Studiums daruber Gedan- ken machen, wie sie damit "etwas anderes anfangen kbnnen, als sicher zu versanden und zu resignieren" (a.a.O.). Wir wollten mit Leuten zusammenarbeiten, die von ihrer Sozialisation und ihren bkononnschen Mbglichkeiter her nicht daran gewbhnt sind, Probleme diskutieren zu kbnnen und die von ihren Arbeitsbedingungen her dazu gedrangt wer- den, Schwierigkeiten mbglichst unauffallig zu bewaltigen, bis ott nur die Psychiatrie als Ausweg bleibt. Wir wollten verhindern, dab sie der Institution 'Psychiatrie' mit ihren Einweisungs- und Katego- risierungsverfahren so machtlos ausgeliefert sind wie bisher; wir

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wollten an der Art und Weise etwas andern, wie sie nach der Entlassung als einzelne dem Zwang ausgesetzt sind, wieder alleingelassen - meist noch einige Stufen unter ihrer Ausbildung - ihre Arbeitskraft verkaufen mussen, und wir wollten verhindern, daB sie die Fahig- keit, diese Disqual ifizierung zu ertragen, auch noch als einziges Zeichen ihrer Gesundung ansehen zu mussen (aus: Bericht uber die Ent- stehung der Gruppe, Winter 1 971*) -

Plan eines Konmunikationszentrums

Als ein Arbeitszusammenhang, der eine Verbindung von Institutionali- sierung und verschiedenen politischen Tatigkeiten zulaBt, begannen wir, die Einrichtung eines Kommunikationszentrums zu planen. Da wir Kontakt zu einigen ttrzten und Sozialarbeitern des Kbppern hat- ten, das fur Einweisungen aus dem Frankfurter Bezirk Nordend zustan- dig'ist und da viele der Gruppe im Nordend wohnten, beschlossen wir, in diesem Gebiet Raume flir ein Kommunikations- und Beratungszentrum zu suchen. Ein weiterer Grund, den Standort ins Nordend zu legen, war die Tatsache, daB das Nordend noch genugend liberschaubare Struk- turen besitzt (Einkaufszentrum, Kneipen, relative Geschlossenheit) , andererseits genugend zerstbrt ist, urn auch anonym und in Ruhe gelas- sen dort zu wohnen.

Wir warben Mitglieder, schrieben Bettelbriefe, entwickelten Vorstel- lungen daruber, was wir im Zentrum anbieten wollten, entwarfen Frei- zeitangebote, planten "zur Therapie hingeleitende Gruppen", nahmen Kontakte zu Therapeuten auf und sammelten Material zur Information der Dffentlichkeit uber die Lage der psychisch Kranken im Raum Frank- furt. Als wir Ende 1974 recht plbtzlich in der Marti n-Luther-StraBe qeeignete Raume fanden, schlossen wir einen Mietvertrag, obwohl wir gerade mal die Miete flir zwei Monate hatten.

fiemeindenahe

Nach einer muhevollen und ernuchternden Renovierung der Raume saBen wir nun Anfang Februar - Papier und Malzeug unauffallig bereit - und warteten auf die Bevolkerung, wa'hrend wir daruber stritten, ob ge- meinsames Kaffeetrinken und Malen eine revolutiona're oder 'sozial- arbeiterische' Tatigkeit sei.

Zuerst kamen die Nachbarn - wir hatten wa'hrend der Renovierung Infor- mationszettel an die Scheiben geha'ngt. Sie fragten nichts - viel- leicht hatten sie Angst - und wir fragten sie nichts, denn wir hat- ten sicher Angst; aber sie schenkten uns alte Mbbel , Vorhange, einen kriihlschrank, Stiihle, alte Couches - manchmal kommt das noch heute uor Hatte sich nicht inzwischen die Dffentl ichkeitsgruppe gebildet, so druckte sich auch bei uns die Nahe zur Gemeinde nur in Metern aus.

nberhaupt gestalteten sich die Nachmittage der 'Dienstgruppen , die ■ir an vier Nachmittagen der Woche eingerichtet hatten, sehr viel Anders als geplant. Sicher kam es vor, daB jemand aus der Nachbar- crhaft oder auch aus der Klinik vorbeikam und bei Schwierigkeiten /Arbeit Ausbildung, Kontakte) urn Rat fragte; manchmal kam es auch ior daB die Anwesenden dazu etwas sagen konnten, sehr oft uberstie- qen'aber die Schwierigkeiten und die in die Bezugspersonen ( Guten

Tag, wer ist denn hier der Leiter?") gesetzten trwartungen deren zeitliche Mbglichkeiten, Kenntrn's und Engagement. Oft hatte ich den Eindruck, Schwierigkeiten wurden nur erzahlt, urn Sonderrechte und Sonderbeziehungen zu besonders machtig erscheinenden Bezugspersonen zu beanspruchen; was nicht heiBt, daB die Schwierigkeiten, die er- zahlt wurden, nicht auch da waren.

Erst allmahlich merkte ich, daB diese Verh'a'ltnisse von Zutrauen und Macht, Abhangigkeit und Luge von mir als Bezugsperson in gleichem MaBe produziert wurden, wie ich darunter litt und gegenuber der her- kbmmlichen Psychiatrie und meinem theoretischen Wissen in Erfolgs- zwang geriet. Ich meinte, der herrschenden Psychiatrie eine auszuwi- schen, indem ich lernte, rait den Problemen des anderen besser, freier, offener, weniger verlegen umgehen zu kbnnen; ich tat damit genau das selbe, was der Arzt in der Klinik tut; ich behandelte ein Problem des anderen, wahrend er vielleicht nur einfach vermittels eines Pro- blems mit mir kommunizieren wollte.

Aber ich hatte dieses Problem nicht allein; Konkurrenz schlich sich unter den Bezugspersonen ein und Angst vor Oberforderung. Zu diesem Zweck wollten wir unsere Erfahrungen und Fehler an einem Sonderter- min besprechen; dabei kamen wir auf den Gedanken der Supervision. "Ein Psychology ist einer, der nichts anderes kann. weil er an der Uni nichts anderes qelernt hat." [GilaT

Ein Teil unserer Dienstgruppe bestand auf Supervision und plante sogar eine Ausbildung als Therapeuten, die anderen fragten sich, ob die vier Stunden wb'chentlicher gemeinsamer Erfahrung wirklich die Notwendigkeit einer Supervision oder gar einer therapeutischen Aus- bildung begrlinden kbnnten.

Wir stritten uns, trugen unsere Oberlegungen dem Plenum vor und ern- teten heftigste Vorwiirfe seitens der ehemaligen Patienten. Ober die Heftigkeit der Kritik war ich damals ziemlich entsetzt; rlickblickend meine ich, daB damals gegen das ursprungliche Konzept entscheidende neue Obereinkunfte und Ansatze fur ein Selbstverstandnis der Gruppe formuliert wurden. Deshalb will ich einige Passagen aus einem Papier zitieren, das unsere damaligen Oberlegungen kritisierte und die Ober- schrift tragt:

"An die Selbstevfahrungsgruppe ohne Patienten.

Was ich damit sagen will ist, daB ich die Vermutung babe, daB vhr euch in der Abgrenzung von dem 'Patienten' viel weiter abgrenzt, als ihr selbst wollt, und daB die Reaktion, die ihr provoziert, MiB- trauen und Angst ist. Ihr erlebt Patienten irgendwo als Bedrohung, entweder fiir euch oder fiir sich selbst. Ihr mochtet den Schonraum eurer 'Normalitat' benutzen, um mit euren Kngsten besser umgehen zu konnen. Wollt ihr damit sagen, daB normale Leute fiir euch nicht be- drohlich sind? Wollt ihr damit sagen, daB ein Verruckter euch vn grSBere Bedrangnis bringt als ein Normaler? Ich habe den Eindruck, daB ihr etwas Uber die Bedrohlichkeit der Normalitat nachdenken soil tet, z.B. iiber die Gefahren eines normalen Seminars oder die Gefahren einer normalen Frau oder die Gefahren eines normalen Mannes. ■■■

Ich weiB nich genau, nach welchen Kriterien ihr beschlossen habt, wer in die Gruppe kann und wer nicht. Ich weiB nur etwas von ohne Patienten' .damit haben wir itn Zentrum zum ersten Mai eine sozuxie

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und sichtbare Manifestation der Patientenrolle und der Therapeutenrolle durchgesetzt. Das heiBt: ein Patient weiB, daB er Patient ist, Weil er therapiert wird und weil es aulierdem Therapeutenbereiche gibt, zu denen er keinen Zutritt hat. Das Konzept der emotionalen Krisen, d.h. die Vorstellung, daB fiir oeden von uns eine Situation entstehen kann, in der er allein nicht mehr kann und die Vorstellung, daB er diese Schwierigkeiten durahstehen kann, ohne Diskriminierung und Stigmati- sierung, sondern mit der solidarischen Hilfe der anderen, denen es gerade besser geht, ist damit gestorben. . . " Werner R.

Als Folge dieser Diskussion beschlossen wir in unserer Dienstgrup- pe, daB, wer eine Ausbildung machen will, es tun solle - als seine Privatsache auBerhalb des Zentrums. Kurze Zeit spa'ter zogen sich diejenigen, die eine Supervision bzw. Ausbildung wollten, aus unse- rer Gruppe und aus dem Zentrum zurlick.

DaB es im Umgang miteinander in unserem Zentrum oft viele Komplika- tionen gibt, ist unleugbar. Es stimmt auch, daB es in der Art, wie einzelne mit Problemen umgehen, groBe Unterschiede gibt, nur - die Fahigkeit oder Unfahigkeit, diese Unterschiede einzugestehen, gegen- seitig sich deutlich zu machen und liber sie zu kommunizieren, durf- te doch wohl mehr mit eigenen Problemen zusammenhangen als mit etwai- gen objektiven Schwierigkeiten des Umgangs mit psychisch Kranken.

Andererseits halte ich diese Art von Professional isierung nicht fiir zufa'llig. Es waren fast ausschlieBlich Studenten der Psycho-logie und angrenzender Gebiete, die so argumentierten. Als ich kurze Zeit spa'- ter einen alten Bekannten, Lehrer an der Universitat im einschlagi- gen Fachbereich, um finanzielle UnterstLitzung bat, teilte er mir interessiert aber bedauernd mit, er kbnne das Zentrum nicht unter- stiitzen, es sei zu 'unprofessionelT .

rntwicklung des Zentrums zur Selbstorqanisation

Nicht zuletzt durch den Riickzug einer ganzen Reihe ehemaliger Initi- atoren, vor allem aber wegen der sommerlichen Urlaubszeit iibernah- men ehemalige Patienten immer mehr die Aktivitaten des Zentrums. SchlUssel wurden vervielfaltigt und untereinander verteilt. Das Zen- trum wurde taglich gebffnet.

Im gleichen MaBe, indem ehemalige Patienten die Aktivitaten im Zen- trum libernahmen, veranderten sich die Beziehungen untereinander, sie wurden enger. Konflikte wurden persbnlicher ausgetragen. Man begann etwas mehr, gemeinsam zu leben. Das Zentrum erhielt tendenziell Cha- rakterzlige einer Familie mit Vor- und Nachteilen, auch mit dem MiB- trauen Neuem gegenuber.

ng des Zentrums zu von ab, wie unser zustande kam und ntrumserbffnung Kon- ufgenommen hatten ierten, entstand n und ehemalige Pa- Sozialarbeitern aus ik, bei der Entlas-

Tn einer etwa paradoxen Weise hing die Entwicklu Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation da Kontakt zum Psychiatrischen Krankenhaus Kbppern sich entwickelte. Da wir gleichzeitig mit der Ze takt mit Rrzten und Sozialarbeitern in Kbppern a und auch von ehemaligen Patienten Kontakte exist Marz 1975 eine Gruppe, in der sich Bezugspersone tienten aus Frankfurt mit Arzten, Patienten und Kbppern zusammensetzten, um Probleme in der Klin

sung, der Wohnungs- und Arbeitssuche zu besprechen. Leider loste sich im Laufe des Jahres diese Gruppe auf. Die Griinde daflir haben wir noch nicht ganz kla'ren kbnnen. Vielleicht war Kbppern zu went weg von Frankfurt (ca. 30 km Autobahn), vielleicht auch war die Schwierigkeit zu groB, innerhalb der Klinik Arzt zu sein und auBer- halb etwas anderes; vielleicht auch waren Krzte und Sozialarbeiter dariiber enttauscht, daB ihnen das Zentrum und ihr Kontakt im Zen- trum nicht die erwartete Unterstlitzung brachte. Aber auch viele Patienten aus Kbppern blieben nach einiger Zeit weg. Das mag an dem groBen Widerspruch zwischen der Klinik und unserer Gruppe liegen, wo auBer der Mbglichkeit zu Kontakten und einigen wenigen vorbereiteten Freizeitaktivitaten keine festen Gruppen angeboten werden, nichts vorgeplant und auch nichts schiitzend uberwacht wird.

Vergl ichen mit einer Klinik oder einem Heim hat die Struktur unseres Zentrums den Nachteil, daB niemand sicher sein kann, fur seine Pro- bleme auch wirklich einen 'Berater' zu finden (sei es durch ein Ge- sprach, durch eine Spritze oder durch Psychopharmaka) . Sicher gibt es Arzte unter den Mitgliedern des Zentrums und Therapeuten; aber ob sie da sind, und wie sie sich dann verhalten, hangt von ihrer Lust und Zeit ab bzw. von dem Kontakt, den man zu ihnen sucht oder auch nicht sucht; jedenfalls ist ihr Verhalten nicht durch einen Anstellungsvertrag geregelt; es gibt keinen festen Verantwortungs- bereich. Daher soil die Tatsache, daB wir uns wirklich oft helfen und daB am Rande des Zentrums, von den anderen meist unbemerkt, oft nur einmalige Ratschlage, Hinweise, kleine Vermittlungshilfen an alle mbglichen Leute gehen, nicht dariiber hinwegtauschen, daB viele - und vor alien) altere Besucher - nach einmaligem Besuch wegbleiben, viel- leicht, weil es zu chaotisch ist, weil sie keine 'Ansprache' finden oder weil nichts angeboten wird. Selbst wenn es uns schon manchmal gelungen ist, jemanden zu halten, der sonst in die Klinik ha'tte gehen mussen, so waren manchmal die Probleme einzelner fiir uns zu groB oder undurchschaubar - oder besser: unertraglich. Einzelne rieten zu einer Therapie, halfen dabei, einen Therapeuten zu finden; einige Male wuBten wir auch nicht, was wir machen sol Hen, hatten vielleicht noch nicht einmal Lust zu einem Besuch in der Klinik: "Warum sollen wir jemanden besuchen, wenn wir ihn nicht mbgen; das soil en und kbnnen nur die tun, die ihn mbgen!" Ich halte es fur wich- tig, daB ich das weiB, ohne sta'ndig mit Schuldgefuhlen herumlaufen zu mussen. Vielleicht muB ich als einzelner akzeptieren, was ich langfristig in einer Gruppe nicht einfach hinnehmen muB.

Aber es gibt eben Probleme, die wir als Gruppe von Laien und Betrof- fenen nicht Ibsen kbnnen; es gibt Leute, die ihre Probleme so behan- deln, daB sie fiir uns zu schwierig sind. Deutlicher und mit einiger Brutal i tat, deren Griinde nicht nur bei uns liegen: wer dauernd auf akute Hilfe angewiesen ist, dem kbnnen wir als Zentrum - im Augen- blick wenigstens - nicht grundsa'tzlich helfen. Wer nicht in der La- ge ist, wenigstens den Versuch zu machen, auf Abhangigkeitsw'unsche von einem ubermachtigen Arzt oder von einer uberwaltigenden Institu- tion zu verzichten, urn so einen ersten Schritt zu tun, Zutrauen zu sich selbst zu finden, sich nicht fiir krank erkla'ren zu lassen oder sich selbst fiir krank zu erkla'ren, dem kbnnen wir nicht helfen, weil es keine gemeinsame Basis fiir ein gemeinsames Handeln gibt. So gibt es keine Garantie auf eine 'Ansprache' im Zentrum, keine Garantie auf die Ausblendung der Probleme anderer, keine Heilungsgarantie.

Wie die Gruppe hilft, wenn sie hilft

Dieser Nachteil macht aber auch gleichzeitig den Vorteil aus, den die Gruppe bietet. Wenn man hier einen trifft, mit dem man uber ein Problem sprechen oder auch dagegen etwas tun kann, dann darf man sicher sein, daB er es nicht tut, weil er per Bezahlung, Beruf usw. dazu verpflichtet ist, sondern weil er etwas davon hat und daB man es auch selber ist, von dem er etwas hat. So wird man im Zentrum, mehr als in der Klinik, mit der gesellschaftl ichen Wirklichkeit konfrontiert, mit den Auswirkungen des eigenen Verhaltens - selbst wenn die Gruppenstruktur, durch gegenseitige Kritik, Gruppengespra- che und allmahliche Erfahrung die Brutalitat der Gesellschaft und ihre Umgangsformen nicht voll ins Zentrum eindringen laBt. Solange die gesamtgesellschaftl ichen Griinde dafu'r fortbestehen, ware ein absolu^ ter Schonraum auch nur eine Illusion - eben geschlossene Abteilung.

Da es im Zentrum keinen Therapeuten gibt und Bezugspersonen, an die man sich anhangen kann, die auch mit der Zeit dieser Art von ungleich- ma'Biger Kommunikation satt haben, ist man gezwungen, entweder sich allein weiterzuhelfen, oder aber neue Kontakte zur Lbsung von Schwie- rigkeiten einzugehen, neue Formen zu finden. Aus diesem Grunde ste- hen, wenn Schwierigkeiten einzelner im Mittelpunkt stehen, auch weni- ger vergangene, unbewaltigte Probleme zur Debatte, sondern hbchstens deren augenblickliche Auswirkungen. Das heiBt: aktuelle Probleme.

Die Aufgabe der Gruppe besteht weniger darin, Erfahrungen d,er Ver- qangenheit, unbewuBte Wiinsche und Mechanismen aufzudecken: was die Gruppe kann, ist vielmehr, Wiinsche und Mbglichkeiten, deren Erfiil- lung dem einzelnen in seiner Isolation auch dann Schwierigkeiten be- reiten, wenn er sie mit Hilfe einer Therapie entdeckt, leichter und eben nicht als einzelner in die Wirklichkeit umzusetzen. Daher blei- ben auch nur die, denen die Gruppe wirklich hilft: wer hier Schwie- rigkeiten hat, der hat sie sicherlich auch anderswo. Wem die Gruppe nicht hilft, der geht weg, schlimmstenfalls zuruck in die Klinik. "Es gibt keine Bindungen an einen Therapeuten, keine finanziellen Abmachungen, keine offiziellen vertraglichen Verpfl ichtungen" (vgl- M.L.Hoeller: Sel bsth i I fegruppen in der Psychotherapie. in: Praxis der Psychotherapie, Bd. 20, Heft It, Berlin 1975) Eine Selbsthilfegruppe, die ihren Mitgliedern nicht hilft, zerfallt; tendenziell ist also das Zentrum immer vom Zerfall bedroht und es existiert nur, weil das so ist. Man bleibt zusammen, weil es einem hilft, und solange es einem hilft. Die Hilfe kann auch darin beste- hen, daB der einzelne merkt, daB er mit dem Zentrum allein nicht weiterkommt. Deshalb besteht auch die Gefahr, daB auf das Zentrum scheiBt, wem es ganz schlecht geht, so wie der leicht drauf scheiBt, dem es nach Kriterien biirgerlicher Durchsetzungsfahigkeit als einzel- nem wieder gut zu gehen beginnt (bis zuro nachsten Mai). Das Zentrum besteht nur, solange und in dem MaBe, wie es seinen Mitgliedern hilft.

narin liegt ein Grund fiir den sta'ndigen ProzeB der Umorganisatioh von Anfang an, dafiir, daB wir so viele Dinge begonnen und nicht zu Ende gefiihrt haben. An guten Tagen der Kritik sagen wir dazu: warum auch nicht - wir tun es doch nicht fiir andere, sondern fiir uns.

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Patientengruppe Sozialtherapie, Frankfurt:

VON BEZIEHUNGSKAPITALISTEN UND BEZIEHUNGSPROLETARIERN

Es ist nicht leicht, liber das Bezugspersonen/Patienten-Verhaltnis zu schreiben, wenn man selbst mittendrin steckt. Ich bin Patient. 23 Jahre, mannlich, davon 4 Jahre Psychiatrie. Wir schreiben unseren Beitrag in einem Bauernhaus bei Marburg. Hit mir zusammen sind Manfred, Michael und Hans-Jiirgen. Ich bin Thomas. Wir sind allesamt Patienten. Aber wir machen jetzt Urlaub. Auch Pa- tienten mlissen mal ausspannen.

Allerdings: Hier sind wir gar keine Patienten. Es gibt kein absolu- tes Patientsein. Wenn man so richtig in den Machenschaften des Zen- trums drinhangt, ist dies die entscheidende Frage. Bin ich Patient? Und so kam es dazu, daB die Bezugspersonen/Patienten-Problematik monatelang der Hauptinhalt der gemeinsamen Auseinandersetzungen wur- de:

Das Zentrum ist eine Ladenwohnung mit fiinf Zimmern. Das Zentrum kann aber aufgefaBt werden als ein kompliziertes Geflecht von tells gesun- den und teils pathologischen Beziehungen im Sinne von befnedigend Oder unbefriedigend. Netzwerk von Luge und Ehrlichkeit und von Aut- deckunq und Verschleierung. Zwang ebenso wie auch Befreiung. Am Leben gehalten heute weniger durch den Anspruch als durch Gernhaben in den verschiedensten Formen und Abstufungen. Dies ist kurz eine Beschreibung des heutigen Zustands. Sozialtherapie in ihrer chaoti- schen Form: Automatische Therapie durch Eintauchen in wie auch immer geartete Zusammenhange.

Denn das Zentrum war ca. ein halbes Jahr nach seiner Eroffnung ent- eiqnet worden. Kein Wunder, wenn man das Zentrum als Produktions- mittel von Gesundheit oder Krankheit begreift. Es wurde den Studen- ten aus der Hand genommen. Tm Sommer fing das an. Die ersten von der Patientenklasse lieBen sich Schlusselkopien von der Eingangstur machen. Die Initiatoren waren von sich aus nicht auf die Idee gekom- men, das Zentrum in die Hande der "Betroffenen" zu geben. Obwohl ein Geqenmodell zur herkbmmlichen Psychiatrie beabsichtigt war, hatten sich die alten Verhaltnisse reproduziert. Der Schlusselbund war wie- der da, und es wurde erst aufgeschlossen, wenn die Dienstgruppe otti- ziell begann.

Die Bezugspersonen faBten also ihre Anwesenheit im Zentrum als Dienst auf. Dienst am Nachsten scheint mir von vornherein verdacn tiq zu sein. Das Dienst- und Pf lichtgefiihl sprach damals aus alien Gesichtern, auch aus denen der Patienten. So taten denn die Bezubos (eine sarkastische Verschmelzung von "Bezugsperson' und p}ac^° ' d Red ) das ihre: Sie gaben sich progressiv und menschl ich. Die Patienten taten auch das Ihre: sie gaben sich progressiv und normal und vor allem: schimpften, um den Intellektuellen zu schmeichein, auf die totale Institution, die sie aber nicht allzu schnel I verias- sen wollten.

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Es war also festzustellen: Die Bezubos waren unfahig (und nicht will ens) echte, das heiBt verantwortliche therapeutische Verhalt- nisse einzugehen. Andererseits hatten sie Angst vor den Patienten und warfen uns unsere Beziehungswiinsche wie die Erbslinde vor. Viel- leicht hatten sie Angst, daB die Geisteskrankheiten ansteckend sind. Sie furchteten, daB sie von den Schizokokken befallen wlirden. So kam es, daB die gesellschaftlichen Verhaltnisse auBerhalb der Psy- chiatrie exakt reproduziert wurden. Und da vor allem die Beziehungs- situation entlassener Patienten. Hinzuzufiigen ist, daB die Zahl der Bezubos groB, die der Patienten klein war. AuBerdem muB gesagt wer- den, daB ehemalige Patientinnen im Zentrum kaum integriert sind. Die Frauenfrage, die Frage also, wieso Patientinnen zu Bezubo-Frauen kaum einen Bezug finden, ist jetzt end! ich im ersten Stadium der Diskussion. Endlich auf dem letzten Plenum ist die andere Bombe geplatzt. Wir haben uns lang und breit liber Bumsen im Dunstkreis der Sozialtherapie unterhalten. Auf dem Plenum ein absolutes Novum. Bei uns wiederholen sich Zwa'nge aus schizophrenogenen Familien. Tabus, die allerhochstens hinter vorgehal tener Hand gebrochen wer- den, um mal zu libertreiben. Die Tatsache, daB auch Patienten sexuel- le Bedurfnisse haben, konnte also erst jetzt im groBen Kreise be- sprochen werden. Die meisten dieser Tabus und Zwa'nge werden bei uns aber im Unterschied zur Kleinfamilie aufgelbst. Die Patienten waren dabei die treibende Kraft. Ober zu wenig Mitbestimmung der Patien- ten kann sich keiner der Initiatoren beklagen.

Was halt nun die Bezugspersonen im Zentrum, wo ihnen doch dauernd die angestammten Positionen und auf kurz oder lang die Bezubo-Rolle genommen wird? Vielleicht gerade das. Geld kriegt niemand, wir ha- ben keine einzige Planstelle. Berufspraxis ist es auch bei fast nie- mand mehr. In der Psychiatrie arbeiten wollen nur noch die wenig- sten. Beim letzten GroBplenum kam raus: die meisten Bezubos betrach- ten ihre Anwesenheit im Zentrum nicht mehr als Dienst. Ich glaube, es ist jetzt endlich so weit: Die Bezubos fangen an, im Zentrum Therapie zu suchen. Sie erwarten jetzt, daB auch einmal die Patien- ten auf die Bezubos eingehen. Die Austauschbarkeit der Therapeuten- und Patientenrollen ist in Sichtweite. Die Tendenz des Zentrums geht derzeit in Richtung auf eine Selbsthilfegruppe aus Patienten und Nichtpatienten. Fr'uher wechselte die Bezugspersonenbesetzung standig. Es kamen haufenweise Leute, die was "mit Patienten machen wollten". Diese Sorte Linke stieB in beiden Lagern, das heiBt, dem harten (hartna'ckigen) Kern von Bezubos und Patis (!) zunehmend auf Widerstand. Das liegt auch in den auBeren Bedingungen des Zentrums begrundetWir stehen eigentlich dauernd vor dem Bankrott. Gelder mlissen beantragt werden, die Wohnung muB dauernd und zwar billig in Stand gehalten werden. Die existentielle Not - bei einem ZuschuB von 10 000 DM im Jahr - schweiBt schon auch ein biBchen zusammen. Allzuviele Theoretiker, die zum Staubwischen keine Lust haben, ver- kraftet das Zentrum nicht.

r-jn anderer Aspekt, wieso jetzt eine Selbsthilfegruppe aus ganz Ka- □utten und weniger Kaputten mbglich scheint: Die Studenten und un- cere Laienarbeiter sind natiirlich in der Mehrzahl Intellektuelle, ctudieren Medizin, Sozialarbeit und so weiter, dlirfen sich schon = 1 in aller Ruhe auf Arbeitslosigkeit einstellen. Kiirzlich machte ine Lehrerin aus der Dffentlichkeitsgruppe das erste Staatsexamen.

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Wir feierten sie mit einem Trinkspruch: "... und nehmen dich hier- mit auf in unseren erlauchten Kreis von Sozial hilfsempfangern und Frlihrentnern."

Man kann also erkennen, daB objektiv eine Annaherung der Standpunk- te stattfindet. Die Studenten sehen sich vieler ihrer Illusionen beraubt. Die Patienten werden zunehmend stabiler - dies vielleicht gegen den unbewuBten Willen der Bezubos. Die Klassen nahern sich einander an. Ob die Rollenverteilungen sich aufheben lassen, ist noch ungewiS. Denn es stent die Beziehungsfrage im Raura - und das scheint sehr gefahrlich zu sein. Man kann diese Abwehr auch positiv verwerten. Denn bei der Bearbeitung dieser Abwehr kommen ganz ent- scheidende Zusammenhange ans Tageslicht. Wir beginnen uns zu fragen, worauf es bei einer Beziehung eigentlich ankommt. So zeigte sich, als beim Plenum endlich die Sexualitat auf den Tisch kam: Auch die Frauen aus den Frauengruppen ha Hen sich lieber an die starkeren Manner. Dies gilt wohl umgekehrt auch flir die Bezuboma'nner. Wenn manche Linke den Patienten verordnen, sich nicht nach oben zu orien- tieren, sondern mit den Kaputten solidarisch zu sein, dann wird etwas gefordert, was die Bezubos selbst nicht leisten. Ein Stuck, sich nach unten zu orientieren, vermeiden sie jedenfalls tunlichst.

LetztenEndes wird im Zentrum das "Glaskasten"-Gef'Jhl der Patienten bearbeitet. FaBt man diesen Zustand von totaler Isolation als Nie- derschlag einer lebenslang erfahrenen Unsol idaritat auf, so wird im Zentrum Sol idaritat in ihrer psychischen Dimension bearbeitet. Wir machen unsere Gesprache, Aktionen hauptsachl ich am Arzt/Patient- Verha'ltnis fest. Wir meinen, daD die immerwahrende Wiederholung die- ses Verha'ltnisses nicht etwa die Krankheit behebt, sondern sie lm- mer wieder neu erzeugt. "Wer schwach ist, braucht einen Arzt, einen Therapeut, eine Bezugsperson usw." Als ich damals an der Uni so richtig in Schwierigkeiten kam, dachte ich gar nicht daran, bei normalen Personen Hilfe zu finden, also Kommilitonen. Vielmehr dach- te ich, nur ein Psychiater kb'nne mir noch helfen. Aber ein Psychia ter ist eine kunstliche Person, die vom Leid der anderen lebt. Er wies mich in die Klinik ein, und ich war vier Jahre weg vom Fenster.

Obwohl die Sol idaritat im Zentrum zunimmt, miissen wir uns klar sein, daB es auch hier flrzte und Patienten gibt, Beziehungskapitalisten wider Willen, die Bezugspersonen - und Beziehungsproletaner, die Patienten genannt werden, und sich selbst so nennen. Wieso heiBen Patienten eigentlich nicht Patienten-Personen? Dannt alles beim ai- ten bleibt, miissen die Rollen immer wieder reproduziert werden. Aber das ist eine negative Schilderung. Sie beschreibt die mogliche (Re-)Produktion von Krankheit im Zentrum.

Wir sind alle irgendwo zwischen Gesundheit und Krankheit. Den Au^en- stehenden muB dazu gesagt werden, daB wir hier immer wieder von einer Lahmung befallen werden. Dann traut sich memand, einen Scnntt vor Oder auch nur zuru'ck zu wagen. Dann reden wir uber mchts C-)> obwohl wir reden, und wir tun dann auch sehr wenig. Wie in so einer faustdick schizophrenen Familie. Das ist aber auch der Real 1 sinus. Die Lbsung liegt wohl darin, mehr zu geben und mehr anzunehmen. Vielleicht ist es uns mbglich, freigiebiger zu werden, mehr vonein ander zu beziehen, nicht zu sparen, sondern zu leben. Wir mussen auT- passen, daB die Leute im Zentrum sich nicht freiwillig in das Ver- wertungssystem psychischer Krankheit einordnen (eingliedern!).

Bernd Kreuzberg:

ARBEIT IN DER HEIDELBERG FREE CLINIC

Ich bin Diplom-Psychologe und arbeite im Therapieprogramm der Hei- delberg Free-Clinic. "Arbeiten" - das heiBt etwas anderes als an- derswo, beispielsweise in bffentlichen Erziehungsberatungsstellen, in Psychiatrischen Landeskrankenhausern oder ahnlichen Institutio- nen. Die Free Clinic (FC) ist keine Klinik im Ublichen Sinn, mit personaler Hierarchie, Stationen, Betten, Visiten, mit chemischen und kbrperlichen Zwangsjacken (sprich Tabletten, Spritzen, Isolier- raumen).

ATI dies gibt es hier nicht. Die Free Clinic ist eine Ambulanz, in der Menschen al lgemein-medizinisch und psychotherapeutisch betreut werden. Daneben gibt es die Mbglichkeit juristischer Beratung, ein differenziertes Prophylaxe-Programm ("Gruppenprogramm") mit Encoun- ter-, Bioenergetic-, Gestalt-, Massage-, Meditationsgruppen usw. AuBerdem hat die Free Clinic eine spezielle Beratungsstelle flir Frauen.

Die Mitarbeiter der FC sind - sofern sie Vollzeitmitarbeiter sind - qleichgestellt, d.h. sie haben alle bei Entscheidungen gleiches Stimmrecht, sie haben gleiches Gehalt (unabhangig von der Arbeit und von der Ausbildung 650.- DM). "Arbeiten" - d.h. in der FC nicht nur therapeutisch arbeiten, sondern auch Organisatorisches, Ausein- andersetzungen rait Cehbrden fu'hren, Offentlichkeitsarbeit.

nas Therapie-Programm

Das Therapeutische Team besteht derzeit aus drei Psychol ogen und zwei Arzten. Wir machen Einzeltherapien (vor a 11 em Gesprachs- und Gestaltspsychotherapien), Krisenberatung in akuten Notfa'llen, Nach- betreuung flir ehemalige Psychiatrie-Patienten und ehemalige Drogen- abha'ngige, Motivations- und Entzugsgespra'che mit Fixern und anderen Drogenabhangigen, kurzzeitige Beratungsgesprache und langfristige, intensive Gruppentherapie von einem Jahr Dauer. Das psychotherapeutische Programm versteht sich als eine Erganzung zur medizinischen Praxis und arbeitet eng mit dieser zusammen. Unser Ziel ist es, fruhzeitig eine psychotherapeutische Behandlung bzw. Betreuung fur Jugendliche anzubieten, deren besondere psychi- sche Probleme sowie deren soziale Kontakte eine Drogengefahrdung nahelegen Damit wollen wir ein "Absacken" in kbrperliche und/oder psychische Abhangigkeit und die damit einhergehenden Folgen verhin-

Mit^ugendlichen, die bereits "abgesackt" sind, versuchen wir eine langfristige, intensive Therapie im Sinne einer sozialen Rehabili- tation durchzuflihren. Im Falle von Drogenabhangigkeit beraten wir die Jugendlichen Uber die Mbglichkeiten eines kbrperlichen Entzugs und die Weitervermittlung an Therapiehbfe fur drogenabhangige Ju- gendliche.

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Der dn'tte Schwerpunktbereich unserer Arbeit besteht in der Nachbe- treuung von Psychiatrie-Entlassenen bzw. Ex-Usern (die einen Entzug hinter sich haben) mit dem Ziel, einen Ruckfall und erneutes Absak- ken zu verhindern.

Unser Klientel im Therapie-Programm

Wir arbeiten vor allem mit Klienten, die gerade bzgl. psychotherapeu- tischer Versorgung benachteiligt sind: Angehbrige sogenannter Rand- gruppen, Arbeitslose, Nicht-Versicherte, Lehrlinge - allgemein: so- zial Unterprivilegierte. Unser soziales Selektionsprinzip geht damit in eine andere Richtung als dies ublicherweise in der Gesundheitsver- sorgung der Fall ist.

Das bedeutet gleichzeitig, daD wir nicht die Sprachdifferenziertheit bzw. Verbal isationsfahigkeit unserer Klienten als Voraussetzung der "Therapie-Fa'higkeit" ansehen, sondern schichtspezifische Lernruck- sta'nde, Sozialisationsmangel und die Verhinderung bestimmter Erfah- rungen durch therapeutische MaBnahmen abzubauen versuchen.

Therapiekonzeption

Wir sind derzeit noch ein gutes Stuck davon entfernt, ein einheitli- ches Tiierapiekonzept zu haben. Die Diskussionen daruber laufen und was ich im folgenden darstellen werde, sind einige Erfahrungen und Oberlegungen aus meiner Sicht der Dinge.

Zunachst verstehe ich Therapie nicht primar als Anwendung bestimmter Techniken, die Symptome verandern oder beseitigen und den Klienten damit wieder "funktionstuchtig" machen soil en. DaB der Klient - ver- einfacht gesagt - seine Symptome "aufgibt", d.h. bereit ist, sich zu verandern, eingefahrene Verhal tensmuster durch neue zu ersetzen ver- sucht (konkret: aufhbrt zu trinken, fixen usw. ) ist gewissermaBen Voraussetzung zur Therapie. Dieses Aufgeben selbstzerstbrerischer Verhaltensweisen ist eine der Hauptarbeiten, die der Klient leisten muB - und der er oft langanhaltenden Widerstand entgegensetzt.

Ein GroBteil der Therapie nimmt damit die Arbeit am "Widerstand" in Anspruch und das BewuBtmachen jener (Lern-)Mechanismen, die zu einer "Verhartung des Subjekts" als Mechanismus der Anpassung an die ver- harteten Verhal tnisse, zu einer Entfremdung von sich selbst und zur Unfahigkeit gefu'hrt haben, diese Verhartung und Entfremdung aus eige- ner Kraft heraus aufzuheben.

Wenn es also um die Auflbsung von "Verhartung" gehen soil, so darf Therapie nicht nur als instrutnentelles Handeln begriffen werden, son- dern muB in ihren sozialen Aspekten, d.h. als soziales Handeln be- griffen werden. Damit erst wird es ermbglicht, Kommunikationsmuster und Herrschaftsaspekte innerhalb der Therapie (also zwischen Thera- peut und Klient) und innerhalb der Institution durchschaubar zu ma- chen und zwar fur beide: Klient und Therapeut.

Besonders kritisch ist meiner Ansicht nach gerade immer wieder die Zielbestimmung (was soil verandert werden?), da hierbei die "Privat- ethik" des Therapeuten zu einem wesentlichen Machtfaktor werden kann. Ich versuche, die Ziele (und auch die Erwartungen) vor allem zu An- fang der Therapie aber auch spa'ter immer wieder mit dem Klienten zu diskutieren und deutlich zu machen. Dabei erfa'hrt der Klient auch

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meine Vorstellungen und Erwartungen - aber eben als meine und nicht als allgemein verbindliche, die nicht infragegestellt werden diirfen. Im Gegenteil: Ich versuche zu jedem Zeitpunkt der Therapie, unsere Beziehung zu thematisieren und u.U. infrage zu stellen.

Als Therapeut sehe ich mich nicht als eine objektive und neutral e Autoritat, sondern als ein GegenUber mit eigenen Meinungen, Gefiihlen, Erfahrungen, eigener sozialer Lerngeschichte, die in jedem Augenblick in das therapeutische Geschehen mit eingehen und folglich problemati- siert werden miissen.

Therapie wird damit flir mich zu einer Begegnungssituation, in der ge- meinsames soziales Lernen stattfindet. Der Klient lernt meine Sicht der Dinge kennen, ohne den Zwang, diese fur sich zu ubernehmen; er lernt, seine Sicht der Dinge dem gegenliberzustellen, ohne dafiir be- straft zu werden. Ich lerne, seine Sicht der Dinge aus seiner Sicht zu sehen und Erfahrungen mit ihm zu teilen.

Geltenlassen von Erfahrungen

Ich sehe Verhalten als Funktion von Erfahrungen an; auch sogenanntes "abweichendes" bzw. "zu-therapierendes" Verhalten (auf die Proble- matik dieser Begriffe mbchte ich an dieser Stelle nicht eingehen - auch schon deshalb, weil das Indikationsproblem, also wann Thera- pie und wann nicht, flir mich selbst noch ungelbst ist). "Problem" -Verhal ten wird nicht als "Defizit" oder "ExzeB" definiert (zumal gar nicht klar ist, in Hinsicht auf was Verhalten defizita'r oder als exzessiv definiert werden kann), sondern wird als berech- tigter Ausdruck und mbglicherweise einzig mbgliche Form der Person angesehen, auf (oft unertragliche) Umweltgegebenheiten zu reagieren. Es geht flir mich folglich nicht darum, Erfahrungen auszulbschen, umzupolen und Verhalten zu kontrollieren (d.h. wegzukonditionieren oder Alternativverhalten anzukonditionieren) oder auch flir alles seine GrLinde zu finden und damit zufrieden zu sein. Sondern ich ver- suche, Erfahrungen zu akzeptieren und Verhalten als Resultat von Erfahrungen anzusehen. In der Therapie versuche ich nicht, die (mug- licherweise durch bestimmte gesellschaftl iche Agenten als inadaquat bezeichneten) Lbsungsmbglichkeiten des Individuums zu negieren/be- strafen/kontrollieren, sondern neue Lbsungsmbglichkeiten sichtbar zu machen; so daB das Individuum in die Lage kommt, wieder frei zwi- schen verschiedenen Mbglichkeiten wahlen zu kbnnen. Das ist sicher- lich eine hohe Anforderung an den Klienten, insofern er kreativ sein muB, urn sein Verhal tensspektrum zu erweitern. Anders gesagt heilit das: Bei Kenntnis der eigenen Lage (BewuBtsein uber sich selbst) andere Ausdrucksmbglichkeiten zu finden versuchen, andere Reak- tions- und Aktionsmbglichkeiten auszuprobieren (wagen) und sich Be- dingungen zu schaffen, die solche Verhaltensweisen ermbglichen.

Damit keine MiBverstandnisse auftreten: Es sollen nicht die negati- ven EinfluBfaktoren der Umwelt negiert werden oder der Klient da- qegen imunisiert werden ! Im Gegenteil: Das Individuum soil in die Lage versetzt werden, sich aktiv mit seiner Umwelt auseinander zu setzen.

Der Kontrollcharakter der sozialen Umwelt darf nicht ersetzt werden durch einen therapeutischen Kontrollmechanismus, wie dies traditio- nellerweise z.B. durch sogenannte "Etikettierungen" (als "neurotisch",

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"soziopathisch", "schizophren" usw. ) geschieht. Derartige Massif 1- zierungen haben keine reale Fundierung, sondern sind ein Mythos und zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Sanktionen, die ira psychia- trischen Bereich oft zur Legitimierung bestimmter medikamentbser

trischen Bereich oft zur Legitimierung uC:>i, ...... -v.

y'ergewaltigungen und von "nicht-therapiefahig" benutzt werden.

Ich gehe davon aus, daB jeder berechtigt ist zum "Kranksein", "Aus- geflipptsein" usw., und daB solche Erscheinungen bei Offenlegung und Hinterfragen des gesellschaftlichen Kontextes ihre Berechtigung haben. Ausgeflipptsein ist unmittelbarster Ausdruck von Leber unter unertraglichen Bedingungen und gleichzeitig ein Versuch, diesen zu entkommen. Es gilt, diese Bedingungen zu verandern, nicht das Aus- geflipptsein.

Probleme der Institutional isierung und Professional isierung

Obgleich ich versuche, die Klienten in ihrem gesamten Lebensbezug und vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Realitat zu sehen, sind mir jedoch gleichzeitig die Grenzen therapeutischen Arbeitens deutlich. Zwar trennen wir die Klienten nicht von ihren realen Le- bensbereichen (wie es in der stationaren Psychiatrie der Fall ist), aber wir haben auch keinen unmittelbaren Zugang zu diesen Berei- chen. Nicht wir gehen zu unseren Klienten, sondern sie kommen zu uns. Allerdings kommen zu uns Leute, die (laut Statistiken) u'berli- cherweise keine arztli'che oder psychotherapeutische Hilfe aufsuchen wu'rden. Unser Angebot gilt gerade denjenigen, die sonst u'berall zu kurz kommen.

Wir leben nicht mit unseren Klienten zusammen und erfahren ihren Le- bensbezug daher nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Ein weiteres damit zusammenhangendes Problem sehe ich in der Einbeziehung der sozialen Umwelt, d.h. von fczugspersonen, EUern, Lehrern, Arbeit- gebern, Freunden. Wir werden in Zukunft sta'rkere Versuche in dieser Hinsicht machen mussen, obgleich unsere bisherigen Erfahrungen (bei- spielsweise was die Mitarbeit von Eltern betraf) entta'uschend wa- ren. Die Vorurteile waren starker. Unsere Klienten ihrerseits sind untereinander isoliert. Versuche, in der Free Clinic eine Patienten- Vollversammlung zu machen, sind gescheitert. Vom Ideal einer "Sol i- darisierung" sind wir derzeit weit entfernt. Wir sehen jedoch die Mbglichkeit, neue Wege zu gehen, z.B. therapeutische Wohngemein- schaften, Patienten-Clubs oder autonome Gruppen.

Die Begrenztheit von Therapie sehe ich auch darin, daB viele Berei- che trotz Therapie unverandert bleiben - z.B. Wohn- und Arbeitsver- haltnisse. Dem stehen zum Teil groBe Erwartungen der Klienten ge- genuber, alle Probleme "ge"lbst, alle Bedurfnisse erfiillt zu bekom- men. Der Wunsch nach radikaler Anderung innerhalb kurzester Zeit ha'ngt meiner Auffassung nach eng mit der Klassenlage zusammen: Je radikaler diese ist, desto radikaler ist der Anderungswunsch des Betroffenen.

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Chuck, Heidelberg Free Clinic:

WELCHEN POLITISCHEN SINN HABEN ALTERNATIVE PROJEKTE?

Ich glaube, daB Gegenmodelle heute einen entscheidenden Beitrag zur Oberwindung des gesellschaftlichen Status quo leisten kbnnen und mussen.

Sie stellen ein dringend benbtigtes Instrumentarium dar, mit dessen Hilfe neue Wei sen des menschlichen Zusammenlebens experimentell er- probt und tendenziell realisiert werden kbnnen. Damit kbnnen auch politische Auseinandersetzungen (die ja immer von Zielsetzungen, das heiSt: von Traumen ausgehen) auf einer direkter erfahrbaren, weniger abstrakten und damit auch weniger systemimmanenten Ebene stattfinden. DaB sie nicht das Allhei Imittel darstellen, versteht sich von selbst.

Wir halten es fiir falsch, simplifizierend und gefahrlich, nur zwei Extremansatze fur mbglich zu halten, wie dies in der derzeitigen Diskussion oft geschieht:

- Alternativmodelle als Vorwegnahme einer Utopie (mit der -im- oder expliziten Erwartung, die Beispiele wu'rden ohne nennenswerten Wider- stand im Schneeballprinzip immer neue Modelle hervorbringen und so in kiirzer Zeit auf friedlichem Wege zu einer total en Veranderung der Gesellschaft fuhren);

- Alternativmodelle als eskapistische Gl Lick im Winkel-Ideologie kleinbiirgerlicher Individuen, die "echte" politische Arbeit scheuen und so - ob bewuBt oder nicht - eine affirmative Funktion fur die Reaktion erfiillen.

Die erste Position wird von den naiv-gottvertrauenden Ausgefl ippten, die zweite von den orthodoxen Politikos mit den zusammengebissenen Za'hnen vertreten.

Wenn wir an dieser Welt leiden und etwas tun wollen, damit sich die Dinge andern, dLirfen wir weder Starr noch naiv sein. Das erfor-

dert eine ganze Menge einer neuen Art von Mut; auf der einen Seite: Verzicht auf die Identitatsstutze des Dogmas, auf der anderen Seite: Verzicht auf die trligerische Sicherheit eines altgewordenen Babies mit groBen Augen. Dem Verzicht entsprechen Selbstakzeptieren, Selbstverantwortlichkeit und die Fa'higkeit, ohne das Gesicht ver- lieren zu mussen, Kritik ertragen zu kbnnen.

Gegenmodelle diirfen daher nicht nur strukturell und in ihrer unmit- telbaren Wirkung nach auBen gesehen werden, sondern es ist genauso wichtig, den begleitenden ProzeB der BewuBtseins- und Verhaltensan- derung der daran Beteiligten zu verfolgen.

Darin sehen wir eine Mbglichkeit, daB es nach Erreichen des Zieles (namlich der Rnderung gesellschaftlicher Machtverhaltnisse) nicht plbtzlich ganz anders aussieht als in den "Traumen", und Zynismus

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an deren Stelle tritt. Urn auf eine Gesellschaftsordnung hinzuarbei- ten, in der die Herrschaft des Menschen liber den Menschen und die Herrschaft menschgeschaffener Strukturen liber den Menschen auf ein Minimum geschrumpft sind, miissen wir zuerst den gegenwa'rtigen Zu- stand und die Effizienz der bisher angewandten oder in Zukunft an- zuwendenden Mittel analysieren. Unsere Analyse des Jetzt-Zustandes flihrt zu zwei Paradoxien, die sowohl fiir das kapitalistische System als auch - zunehmend deutlicher - fiir die staatssozialistischen Sy- steme gelten; beiden gesellschaftlich-bkonomischen Systemen liegt namlich ein technokratisches Welt- und Menschenbild zugrunde.

1. Es ist flinf Minuten vor zwblf, und zwar nicht nur fiir einzelne Klassen oder Individuen, sondern fiir die gesamte Menschheit.

2. Bei produktiver Anwendung des erreichten technologischen Niveaus ist "Freiheit von ..." und damit "Freiheit zu ..." zum ersten Mai keine wehmlitige Utopie mehr, sondern eine reale Chance fiir den iiber- wiegenden Teil der Menschen.

Zu 1: Die Perfektionierung des materialistisch-industriellen Sy- stems hat zu einem Novum gefuhrt. Die derzeit aktuellsten Bedrohun- qen, zum Beispiel die zunehmende Lebensfeindlichkeit unserer Umwelt, die Gefahr einer Auslbschung der Menschheit durch einen thermonu- klearen Krieg, die zunehmende Entmenschung und Robotensierung von Menschen bedrohen nicht nur mehr - wie zu Krisenzeiten der Vergan- qenheit - fast ausschlie&lich die schwacheren Individuen und Vol Iker, sondern prinzipiell uns alle. Privilegierte Individuen oder Nationen (z B die BRD) kbnnen sich zwar voraussichtl ich noch etwas langer halten und vielleicht auch auf subjektiv weniger unangenehme Art und Weise kaputt gehen. Aber bedroht sind wir alle: jedes privilegierte Individuum und jede privilegierte Nation, ob wir uns dessen nun schon bewuBt sind oder nicht.

Damit ist zumindest prinzipiell eine andere Verlaufsform der Rnde- runq gesellschaftlicher Machtverhaltnisse denkbar als fruher, wo sich die Privilegierten immer mit einiger Sicherheit darauf verias- sen konnten, mit heiler Haut davon zu kommen. Solidaritat ist deshalb heute fur "Privilegierte" nicht mehr eine unverbindliche Leerformel , sondern eine Lebensnotwendigkeit.

Zu 2- Wir machen heute die Geburtswehen einer neuen Mbglichkeit der Organisation des menschlichen Lebens durch - mit alien Risiken. Es ist mbglich geworden, fiir alle eine Befriedigung ihrer Grundbedurf- nisse zu garantieren, wenn wir die Technologie fiir uns statt gegen uns arbeiten lassen. Darliberhinaus gehen wir in der Free Clime da- von aus, daB Menschen vor a 11 em deshalb mehr als andere wollen (Macht, Besitz, Ansehen) und brutal darum kampfen, weil sie (be- wuBt oder nicht) Angst haben, anderenfalls ohnmachtig, arm und ab- gelehnt zu sein.

Wenn nun auch noch durch die Automation der objektive Zwang zu ent- fremdeter Arbeit und entwUrdigender Arbeit hinfallig wird und damn auch das sinnentleerte Leistungsethos, datin haben Menschen die echte Chance, ihr Leben in einer Form zu erleben, in der sie nicht mehr auf die Ersatzbefriedigung immer neuer industrieller gadgets und Symbole angewiesen sind. Dabei gehen wir davon aus, daB der Mensch

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ein Wesen ist, das Selbsterfullung.Kreativitat, Warme und Solidari- tat sucht. Und daB Homo Faber und Homo Ludens sich nicht gegensei- tig ausschlieBen.

Ausgehend von diesen beiden Hypothesen beharren wir auf der Reali- tat der historischen Chance, die heutige Auseinandersetzung urn un- sere Zukunft anders verlaufen zu lassen, als das in der Vergangen- heit mbglich war.

Noch einmal: das bedeutet nicht, naiv zu meinen, "alternativ zu leben" reiche schon, und alles andere wird sich von selbst ergeben. Wir wissen, daB Privilegierte (Individuen wie Nationen) nicht ohne Druck ihre Privilegien aufgeben, selbst wenn es sich dabei offen- sichtlich nur um Pseudoprivilegien handelt und Alternativen vorhan- den sind (wir erleben tagtaglich an uns selbst, wie schwer wir uns tun, Verhaltensweisen aufzugeben, von denen wir genau wissen, v/ie zerstbrerisch sie fiir uns selbst sind). Wir alle, nicht nur die Pri- vilegierten, haben das System verinnerlicht.

Die notwendige Auseinandersetzung wird aber umso weniger destruktiv und sadistisch sein mlissen, je mehr es gelingt, bewuBt zu machen, daB der angestrebte neue Zustand nicht bedrohlich zu sein braucht, sondern eher das Gegenteil ist. Weiterhin: daB es eine Frage des simplen Oberlebens ist, auf Zustande hinzuarbeiten, die bisher be- stenfalls den Inhalt von Traumen darstellen konnten.

Eine Funktion von Gegenmodellen ist es, zu dem notwendigen ProzeB des Werte-Umwertens erprobte Ansatze beizusteuern und in die gesell- schaftliche Diskussion einzubringen. Sie kbnnen dazu helfen.das dumpfe Geflihl zu verhindern, daB man den Ast absagt, auf dem man sitzt. Diese Sorte Angst haben - bis auf die "Verdammten dieser Erde", die offensichtlich nichts mehr zu verlieren haben - fast alle Menschen in den zivilisierten Landern. Das ist bei vorurteilsloser Betrachtung u.E. eine unleugbare Tatsache - auch wenn grundsatzli- che quantitative Unterschiede und unterschiedliche BewuBtseinsfor- men bestehen.

Wir gehen davon aus, daB wir mehrgleisig Politik machen miissen und daB die Gegnerschaft zwischen "politisch Arbeitenden" und "alterna- tiv Arbeitenden" - die in der BRD mehr als in anderen westlichen La'ndern besteht - iiberwunden werden muB. Es besteht fiir uns kein Zweifel daran, daD herkbmmliche politische Arbeit (Veranderung be- stehender Machtverhaltnisse durch organisierten Kampf) weiterhin notwendig ist. DaB aber auch dabei nur gewonnen werden kann, wenn uber der Verbissenheit des Kampfes der urspriingl iche Traum, die Basis des Kampfes, nicht verloren gent, wenn auch hier die Ka'mpfen- den sich Liber ihre eigene Motivation (und nicht nur die derjenigen, fiir die sie zu kampfen vorgeben) klarwerden, wenn sie erkennen, daB es nicht um den triumphierenden Sieg, sondern um die Veranderung selbst geht. Die Trennung zwischen "politischer" und "alternativer" Arbeit kann immer nur tendenziell sein und muB nach und nach ver- schwinden. Jeder Ansatz benbtigt den anderen. Erfahrungen und Resul- tate des einen werden direkt oder indirekt den anderen beeinflussen. Gegenmodelle treffen ein System, das sein statisches Welt- und Menschenbild nach folgendem argumentativem ZirkelschluB verteidigt: Die Dinge sind nun einmal so wie sie sind und deshalb ist es muBig

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zu versuchen, sie zu verandern. Gegenmodelle leisten Arbeit zur ex- perimentellen Oberwindung des gesellschaftl ichen Oberbaus und brin- gen damit ein kulturrevolutiona'res Element in die politische Aus- einandersetzung. Selbst wenn die Ergebnisse dieser Arbeit vora Sy- stem assimiliert werden, verandern sie es;

- sie kbnnen durch Ausbreitung (dies jedoch nur rait Unterstutzung durch "konventionelle" politische Krafte) zu einem direkten gesell- schaftlichen Hachtfaktor werden;

- sie bieten eine Chance, daB Machtauseinandersetzungen produktiver verlaufen und geben damit einfach mehr Mut fur den politischen Kampf.

Am berUhmten Tag X der Veranderung der gesellschaftlichen Machtver- haltnisse wird der neue Mensch nicht von einem Moment zum anderen aus dem Boden gestampft werden kbnnen, selbst wenn die gesellschaft- lichen Voraussetzungen dafur geschaffen wurden. Ob Revolutionar oder nicht: wir alle haben - wenn auch in unterschiedlichem MaBe - das Wertsystem der kapitalistisch-technokratischen Welt verinner- licht. Wenn nicht schon Strukturen und Erfahrungen bestehen, auf die man zuriickgreifen kann, um sie dann weiterzuentwickeln, ist die Gefahr groB, daB sich zwar die Machtverhaltnisse geandert haben, aber das System der Lebensfeindlichkeit weiterbesteht. Alternativ- modelle sind heute ein Weg, um zu erreichen, daB der Sieg morgen nicht nur ein Pseudosieg wird.

Gegenmodelle kbnnen sich auf alien Gebieten bilden, wo eine Ausein- andersetzung mit Werten unserer Gesellschaft moglich ist, also qua- si in alien Lebensbereichen (die Perversion unserer Welt zeigt sich nicht so sehr in den groBen, dramatischen Ereignissen, sondern in der Folge der tagl ichen Begebenheiten).

Ansatze bieten sich vor allem dort an, wo das System schon jetzt den offenen Bankrott erkla'ren muBte, bzw. diese Tatsache nur muhsam verschleiern kann. Oder aber in Nischen, in die sich das System nicht hineinwagt bzw. zumindest vorubergehend aufgibt.

Was diese Experimente inhaltlich einigt, ist zuerst einmal die radi- kale Ablehnung der Gesamtheit des Bestehenden. Dariiberhinaus muB im qegenwartigen Zeitpunkt ein weitgehender Plural ismus legitim sein: unter der Voraussetzung, daB Ergebnisse und Erfahrungen ausge- tauscht und uberprlift werden konnen, und flexibel notwendige Rnderun- gen vollzogen werden kbnnen, und daB eine Zusammenarbeit mit alien fur eine Veranderung des status quo arbeitenden Kraften besteht. Ohne diese Zusammenarbeit kommt es zu einer trUgenschen Idylle.

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Michael Honig:

"MAN KANN NICHT MIT ALLEN METHODEN UM EMANZIPATION KAMPFEN!' _ EIN INTERVIEW MIT CHUCK UND WERNER VON DER HEIDELBERG FREE CLINIC AM 7. MARZ 1976 -

Chuck: Eine wichtige Sache, die wir in den Konflikten mit der Stadt gelernt haben, war, daB ein unheimlicher interner ProzeB in der Gruppe nbtig ist, um den Konflikt nach auBen ausfechten und durch- stehen zu kbnnen. Unsere Taktik nach auSen und unsere Taktik nach innen hin haben sich sehr stark beeinfluBt, das heiBt: wie wir mit- einander umgingen und wie Entscheidungsprozesse zustande gekommen sind.

Werner: Ein gutes Beispiel ist unser Erster Offener Brief.

Chuck: Ich hatte den Brief zuerst al 1 ein geschrieben. Der wurde dann angegriffen - ich wurde da echt zur Schnecke gemacht; zum ersten Mai. Mir war das irgendwie peinlich, denn ich zieh' so Sachen gerne allein durch. Und da haben wir uns dreimal getroffen, um den Brief zu ku'rzen, grammatikalisch und stilma'Big zu bearbeiten und am SchluB muBte ich zugeben: der war jetzt echt besser geworden, als wenn ich das allein gemacht hatte. Klarer, konsequenter in der Aussage. Das war sehr wichtig, auch fur mich.

Werner: Chuck meinte, jetzt sei es Zeit, aktiv- zu werden. Wir miiBten das jetzt machen (den offenen Brief), mu'Bten Unterstutzung kriegen, Offentlichkeit. Die andere Sache war aber, daB wir nicht provokativ werden wollten.

Chuck: Das wichtigste war die Idee: In der Sache fest bleiben, auch mit dem Risiko des Scheiterns, aber nicht zu eskalieren; d.h. meine Interessen zu vertreten und darauf zu bestehen, aber mich nicht auf ein Spiel einlassen, bei dem es darum geht zu gewinnen. Ker gewinnt? Wer triumphiert?

Werner: Dabei bin ich mir aber nie so ganz sicher, ob das nicht doch irgendwo ein Machtspiel bleibt.

Chuck: Mir ist aber wichtig, daB das bewuBt bleibt. In diesem Sinne bin ich auf die letzte Presseerklarung sauer. Ich bin da auf Dich sauer und ich bin auf mich sauer. Du hast gesagt: "Jetzt reicht's, wir haben soviel geschluckt, jetzt zeigen wir auch mal..."-

Werner: Es ging nicht urns Gewinnen allein.

rhuck- Urns Gesicht wahren, uns selbst gegenuber. De facto haben wir Hamit'mehr den Schwanz eingezogen, als wenn wir sie in dieser Form nicht geschrieben und verbffentl icht hatten. Es war eine Handlung, die der Taktik widersprach, nicht zu provozieren, nicht ein Macht- spiel daraus zu machen.

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Michael: Was kann man damit erreichen? Wijrdet I hr sagen, da.G alle politischen Auseinandersetzungen nach dem Muster von Machtspi.elen begriffen und gehandhabt werden konnen?

Chuck: Bisher war das al lermeistens der Fall. Um zu verhindern, daB ein Systemwechsel nicht eine Neuauflage der alten Machtverhaltnisse bedeutet, muB der Stil der Auseinandersetzungen jetzt anders werden.

Werner: Woran wir uns in dieser Auseinandersetzung irgendwie orien- tiert haben, war Wyhl . Das war fur uns ein Vorbild. Man hat immer versucht, uns in eine bestimmte Ecke abzudrangen: "Ihr treibt ab", Oder so Unterstellungen; mir haben sie vorgeworfen: "Du hast im^ SPAK-Konstanz mitgearbeitet, und das ist eine ganz linke Arbeit" usw. Das haben wir versucht aufzufangen und da ganz ruhig drauf ein- zugehen, bzw. die Absurditat der "Anschuldigungen" aufzudecken.

Michael: Was der O.B. Zudel eigentlich fur Interessen in dem Kon- flikt?

Chuck: Die unterschiedlichsten, nur richtig weiB das keiner. Zum Beispiel das Oberschulamt (CDU) hatte ihm montert, daB wir Atteste ausschreiben, mit denen wir "praktisch die Subversion an den Schu- len betreiben". Wir hatten da mal ein Attest fur 'nen Schuler ge- macht, der - ich kann mich erinnern - so reingekommen ist und ge- sagt hat, er halt's nicht mehr aus mit seinem Turnlehrer, er hat Angst, vom Reck zu fallen oder vom Barren und sich war zu brechen und so, und er halt das nicht mehr aus. Ob wir ihm das nicht atte- stieren kbnnten, daB er nicht mehr in den Turnunterricht gehen kann. Und wir, naiv wie wir eben sind, haben das genauso reingeschrieben. Die Schule hat ans Oberschulamt geschrieben, das Oberschulamt an den 0 B Zundel , - da kommt die spezifische Heidelberger kommunal- politische Szene mit ins Spiel - O.B.-Wahlen, Mehrheitsverhaltnisse, sozio-bkonomische Struktur - und man darf nicht vergessen, daB das qanze sich in einer Zeit der allgemeinen gesel lschaftl ichen Restau- rierung abspielte. Die andere Sache ist die ganze Heidelberger Ver- qangenheit, die da hochkommt. Also die Frauengruppe, die in Heidel- berg so mit Hauserbesetzungen und so - das ruft so bestimmte Asso- ziationen wach. Die ist dann plbtzlich bei uns mit dabei. Daruber hinaus noch ein weiterer Grund, den wir vermuten: Im Zuge der soge- nannten Altstadt-"Sanierung" soil, wie wir geruchteweise gehbrt ha- ben, das Haus, in dem sich die Free Clinic befindet, z.T. abgeris- sen werden. Wenn das so ware, und die Free Clinic dann noch best'u'nde, mUBte die Stadt ihr Ersatzrauml ichkeiten verschaffen und das durf- te ziemlich schwierig sein, weil es unseres Wissens nach in Heidel- berg kein vergleichbares Gebaude mehr gibt, auBerdem ware es so teuer und politisch unbequem. Also liegt der Gedanke nah, -daB man uns schon bevor es soweit ist entweder zur Aufgabe treiben will oder uns auf eine andere Weise das Wasser abzugraben versucht - dann stunde halt das Haus einige Zeit leer und kbnnte dann in Ruhe abgerissen werden. Also der Konflikt nur als unauffalliger Zug in einer langerfristigen Planung? Und wir "konkurrieren" dann mit an- deren Institutionen der Jugendarbeit, vertreiben ne "Massenideolo- gie" mit Encounter-gruppen und was weiB ich noch, und das wird ge- fahrlich, da lugt dann das Gespenst des SPK um die Ecke, und damit entsteht von vornherein ein feindlich aufgeheiztes Klima in der Of- fentlichkeit.

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Michael: Und O.B.. Zundel s Konzept war jetzt, Euch auf das Erbe von Release festzulegen und Euch so vom Kern Eurer Arbeit, was ihr Arbeit mit gefahrdeten Jugendl ichen nennt, abzuschneiden.

Chuck: Damit betreibt er eine Politik, die derzeit Liberal 1 in der Sozialarbeit betrieben wird: Ghettoisierung. D.h., daB hier in der Free Clinic nur noch eine bestimmte Art von Menschen sein darf, sich aufhalten kann, abgeschlossen von der Beriihrung mit anderen. Das kann man ja auch in seinem Brief gut nachlesen: Da kam dann das Ar- gument, "normale", "nur" vernal tensgestorte Jugendliche wiirden durch die Gegenwart von Konsumenten illegaler Drogen "verfuhrt" - einfach absurd. Bei uns - solche Sache wurde in der Diskussion wirk- lich aufgebracht, man hbre und staune - sei es ja so sauber und es herrsche eine so angenehme Atmosphare (im Klartext: eigentlich viel zu gut flir unsere "eigentl ichen" Klientel, die "Drogen"leute - also sei das suspekt)

Michael: Dabei kommt er doch in die Klemme, weil ihr nach Richtlinien gefordert werdet, wo von Prophylaxe und so die Rede ist, ihr seid auch als Jugendberatungsstel le anerkannt. Was der O.B. in dem Miet- vertrag mit euch nicht anerkennen will.

Chuck: Der O.B. versuchte, sich zuerst als oberste wissenschaftli- che Autoritat auf unserem Arbeitsgebiet - wo er keine Ahnung hat - zu prasentieren und von dieser Haltung muBte er eben runter.

Werner: Das Timing der ganzen Sache war aber, das muB man auch se- hen, sehr gunstig fur uns. Der offene Brief kam gerade raus, als wir erfuhren: Frau Focke (Bundesminister fur Familie, Jugend und Gesundheit) kommt nach Heidelberg, um sich Projekte anzuschauen, die von ihrem Ministerium gefordert werden. Zu derselben Zeit, aber unabhangig voneinander, fing auch der Konflikt an. Das war auch ein wichtiger Punkt: Ebermann (Drogenbeauftragter des Landes Baden-Wurttemberg.in Heidelberg lebend, und vom O.B. gerne als hbchste Autoritat angeflihrt) kam hierhier, mit der Focke. Die Focke blieb 1 anger als geplant, die blieb nicht nur eine viertel- sondern eine dreiviertel Stunde und trank auch ihren Tee, obwohl sie anfang- lich keinen trinken wollte und flihlte sich dann hinterher unheim- lich wohl und war angetbrnt von unserer "Atmosphare".

Chuck: Sie kam mit nem unheiml ichen Ballast beladen bei uns rein, denn ihr Besuch, funfter in Heidelberg an diesem Tag, hatte nen ner- venaufreibenden Hintergrund: Anklindigung ihres Besuches durch die Heidelberger SPD, "Ausladung" durch Zundel, Absage durch ihren per- sonl ichen Referenten, Krach in der Heidelberger SPD, die deshalb beinahe auseinanderkrachte, nach vielen hin und her stellte sich die SPD dann geschlossen hinter uns und gegen ihren Parteigenossen Zundel, Druck von der SPD auf Frau Focke - Telefonate, Brief, Ce- spriiche, Hektik, GerUchte - na ja, das war der Hintergrund, mit dem heladen sie bei uns ankam. Und am SchluB ging sie dann ganz relaxed raus. Unten im GroBen Raum, wo wir miteinander redeten, ist noch Her Luftballon vom Jan (dem 2jahrigen Kind eines Mitarbeiters) ge- nlatzt, und der Sicherheitsbeamte ist zusammengezuckt. Nicht nur der Sicherheitsbeamte librigens, wir alle waren fur einen Moment auf- qeschreckt, weil wir nicht wuBten, was los war, der Raum war auch

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so proppevoll mit Leuten; diese sich so "knallartig" auflbsende Spannung hat auch mit dazu beigetragen, da6 die allgemein unheim- lich gespannte Atmospha're sich lockerte.

Werner: Das war schon zimlich nervend. Nun merkte sie aber auch, daB die Ra'ume nicht so waren, wie man ihr das erza'hlt hatte. Die Atmospha're in dem Therapieraum ist aber auch echt gut!

Chuck: Und wir haben, auch wenn wir uns intern darUber nicht so klar sind, eine gewisse Ausstrahlung als Gruppe. Und das Haus (das wir dazu gemacht haben, was es jetzt ist - am Anfang war das nur ne alte, vbllig abgefuckte Fabrik) auch, sowas wirkt eben schon. Und davon gehe ich bei der Strategie aus, daS unsre Gegenllber auch Menschen sind und auf sowas reagieren.

Werner: Zundel hatte doch versucht, sie auszuladen. Als das dann doch nicht lief, wurde sie vor"informiert", wir wUrden hier "expan- dieren" und Arbeit machen, die mit der Fbrderungsgrundlage durch ihr Ministerium nichts mehr zu tun hatte. Da haben wir das eben erkla'rt: Wir haben hier nicht ausgeweitet, wir haben unsere Ta'tig- keit differenziert. Das hat ihr echt geholfen, nicht nur, sich gut zu fu'hlen, sondern auch inhaltlich zu akzeptieren, was wir hier ma- chen. Das hat die Wendung gebracht: sie hat selbst gesagt - klar, Differenzierung, die ist nbtig und die machen das hier!

Focke nun auch eine echte Argumentations-

Werner: Ich habe selten einen Politiker gesehen, der so eindeutig Stellung genommen hat fUr ein Projekt. Auch jetzt wieder, nachdem sie diese Dokumentation gekriegt hat ("Wir sind zur Diskussion be- reit!", Dokumentation zur Auseinandersetzung zwischen der Heidel- berg Free Clinic und dem Heidelberger O.B. Zundel urn einen Mietver- trag fur die Free Clinic), einen persbnlichen Brief schreibt und den Besuch von ihren relevanten Mitarbeitern angekundigt hat und ganz eindeutig versucht, diese Sache durchzukriegen.

Chuck: Ja, das hat mien auch sehr gewundert und beeindruckt.

Werner: Natiirlich hat sie daflir auch andere Grlinde und es ware naiv anzunehmen, ihr ganzes Engagement sei nur dadurch gekommen, daB es

ihr bei uns so gut gef iel . Aber immerhin Was uns auch besta'tigte:

der zusta'ndige Sachbearbeiter der Landesregierung sagte uns:

er fa'nde es unheimlich gut, wie er hier Informationen erhalt, die

sachlich und umfassend sind.

Michael: Mich erstaunt das unheimlich, daB solche Leute das tlber- haupt zugeben.

Chuck: Das ist was, wo fur mich ne Grundsatzsache reinkommt: Die Weise, wie ich mich schildere; zum einen gehe ich da nicht naiv- optimistisch ran und plaudere liber meine "privatesten" Phantasien.

Aber ich gehe davon aus, daB, wenn mein Gegenllber nicht ein vbllig verknbeherter Typ ist, es immer noch in ihm drinsteckt, daB er ir- gendwann mal angefangen hat als ein Typ, der Tra'ume hatte. Ich muB aber vorsichtig sein, inwieweit ich mich drauf verlasse. Also nicht naiv, so: alle Menschen sind Brlider, aber auch nicht das Ge- flihl vermitteln, ich nab a'ngstlich was zu verbergen.

Michael: Du nimmst ihn ernst. Du gehst nicht auf I hn zu als auf die Marionette des Kapltals.

Werner: Er ist schon ein Buhmann. Aber er ist nicht der Buhmann, als der er immer hingestellt wird, der liberhaupt nicht mehr Mensch ist. Der nur noch ne Puppe ist, die zu tanzen hat, ne Marionette.

Chuck: Bei Zundel ist das fur mich schwerer, er ist flir mich so ne Art "Angstgegner" - da laufen bei mir ne ganze Menge persbnlicher Filme und Unsicherheiten. Ich fuhl ' mich da schlecht in der Weise, daC ich irgendwie manchmal nicht mehr weiB, was eigentlich mein Ziel war, daB ich mich total eingeschleimt flihle, daB ich mir wah- rend der Verhandlung das Gesetz des Handelns und auch des Denkens vorschreiben lasse. Bei dem kann ich nichts mehr machen mit "offen" Oder "menschlich". Es ist aber jetzt besser als frliher, ich komm' mir nicht mehr so ohnmachtig vor.

Werner: Es war sehr wichtig, dap wir uns grlindlichst vorbereitet ha- ben auf das erste la'ngere Gesprach mit dem O.B. Wir sind mit vier Leuten hingegangen.und wir haben echt die Situation durchgespielt mit alien Argumenten, vor und riickwarts.

Chuck: Und ich habe die Situation und meine Art zu reagieren psy- chodramatisch durchgespielt und Handlungsalternativen erprobt.

Werner: Und wir haben eine bestimmte Sitzordnung gehabt in der Sitzung. Es gab bestimmte Taktiken, wie wir uns gegenseitig unter- stutzten und uns auch auf Fehler hinwiesen. Das ist wirklich so ge- laufen, wir haben das echt so gemacht. Und es war sehr wichtig.

Chuck: Fur mich ist es sehr wichtig, vor so ner Sache genau zu chek- ken: was will ich wirklich erreichen? Und mich dann nicht ins Schleimen bringen lasse.

Werner: Ja, das haben wir auch ziemlich deutlich rausgebracht, 'das war eine echt wichtige Sache fur uns.

Chuck: Ich habe die Situation vorher durchgespielt mit Transaktions- analyse. Daran ist fur mich nichts Lacherliches. Was fur mich nam- lich in der ganzen Auseinandersetzung sehr stark reinkam ist mein "Skript". Bei mir besteht das in diesem Fall darin, daB ich auf einen bestimmten Punkt hinsteuere, wo ich scheitere und dann selbst- aerecht sagen kann: "Seht ihr, ihr seid bbse, ihr seid schuld, daB die Free Clinic kaputt geht"! DaB ich in ner Verhandlung, ganz egal wie die sachliche Lage aussieht, auch irgendwie auf so ne Situation zusteuere, unbewuBt die Weichen stellen helfe fur ein Ergebnis, das dann dieses selbstgerechte Scheitern bedeutet.

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Werner: Ich seh darin Ubrigens kein Verkaufen unserer Position. Es ist eine Form, unsere Position zu vertreten, die uns nichts nimmt von uns selbst.

Chuck: Has ist mein Ziel? Hit nem Verbalradikal ismus komme ich nicht weiter. Das bringt mir nichts, das bringt mir vielleicht das GefLihl, daB ich nicht nachgegeben habe, aber dabei wild um mich gestrampelt habe und am SchluB unterliege ich und habe das GefLihl : Das bringt ja doch alles nichts, so ungefahr.

Michael: In der Niederlage resignierst Du, oder Du kommt ganz groG raus.

Chuck: Ja, selbstgerecht.

Michael: Die anderen sind schuld, die Marionetten des Kapitals oder sonst was Objektives. Du bist es nicht gewesen.

Chuck: Selbstgerechtigkeit ist etwas Gefahrl iches. Sie ftlhrt na'mlich nicht nur zu keiner Vera'nderung, sondern ist auch eine Sache, an die man sich klamniert, auch wenn's noch so destruktiv ist.

Werner: Ich habe in der Auseinandersetzung nicht an SelbstbewuBt- sein verloren. Das ist fur mich wichtig. Ich wollte zwar in der Auseinandersetzung offensiver sein, teilweise habe ich doch das Ge- fLihl gehabt, wir reagieren zuviel. Das war schon meine Angst dabei.

Chuck: Wir konnten das noch nicht aufarbeiten. Aber die Arbeit la'uft doch ganz anders weiter als vorher, und es war fur alle, die neu dabei sind, eine unheimlich wichtige Erfahrung. Es war fur viele das erste Mai, wo sie sich klar wurden, wo sie uberhaupt sind. DaB das unsere gemeinsame Sache ist hier, keine Institution, die von al- leine weiterla'uft. Aber jetzt haben wir den Vertrag endlich, seit Anfang letzter Woche. Jetzt geht's um die Auslegung. Und da mu'ssen wir uns genau uberlegen, wie wir da die Auseinandersetzung fUhren.

Michael: Im Grunde habt i hr ein unheiml iches Schwein. Ihr habt die Focke auf Eurer Seite, die CDU-Landesreg ierung gibt Euch Geld, ihr habt den Drogenbeauf tragten tiberzeugt, ihr habt eine durchweg sehr positive Resonanz in der Fachpresse und eine gute Tages- und wochenpresse. Ich denke jetzt an die vielen kleinen, nicht so pro- minenten soz ialpadagogischen Modelle, die dieselben admini st rat I - ven, politischen und finanziellen Widerstande zu uberwinden haben. Was konnen die von Euch lernen7

Werner: Sie konnen auf jeden Fall mehr mit Offentl ichkeitsarbeit machen, auch wenn das die Gefahr des Sich-Verkaufens und der Public- Relations um ihrer selbst willen in sich birgt. Das ist na'mlich der groBe TrugschluB, daB sie's nicht konnen. Wir haben's im Jugend- wohnkollektiv in Konstanz, wo ich gearbeitet habe, a'hnlich gemacht. Wir hatten einen groBen Artikel in der Brigitte, zwar kein Fernse- hen, aber mehrmals Rundfunk, die Zeitung usw.

Chuck: Du darfst Medienarbeit in der bilrgerlichen Presse nicht nur

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dem Gegner uberlassen. Berichtet wird mit Sicherheit. Nur ist die Frage: wie? Es ist natiirlich auch die Frage, wo hb'rt's auf. Also mit Bayernkurier oder der Welt, da war nichts drin. Der Stern ist schon die Grenze.

Werner: Ich fand es wirklich phenomena 1 , daB wir noch in der Kon- fliktphase es geschafft haben, Presse-Adressen zu sammeln und die Leute zu verstandigen, was da la'uft. Das heiBt, gleich am Anfang haben wir die wichtigsten Adressen rausgesucht usw. Wir haben alle unsere alten Kontakte aufgefrischt. Und es gibt geniigend Leute beim Fernsehen oder anderswo, die daruber gern berichten.

Michael: Das hort sich jetzt so an, als wenn ne gute Medienarbeit wichtiger ware als ne politische SolidaritSt.

Chuck: Bis zu nem bestimmten Grad wu'rde ich das sagen. In nem be- stimmten Stadium von ner Auseinandersetzung: ja. Wobei ich nicht finde, daB das eine das andere ausschlieBt. Aber sich nur darauf zu verlassen, auf der linken Szene irgendwie eine Solidarita't zustan- dezukriegen und die Medienarbeit in der biirgerlichen Presse usw. daruber zu vernachla'ssigen, ist einfach ineffektiv und meines Er- achtens Ausdruck eines "Verl iererspiels". Das eine darf das andere nicht ausschlieBen.

Werner: Fur uns war zum Beispiel die Frage: sollen wir auf die SPD- Wahlveranstaltung kommen, als die Podiumsdiskussion mit der Focke war, zu der wir eingeladen waren, sollen wir dahin gehen? Da hieB es: wir sollten das nicht machen, well i also SPD,das ist ein reak- tionarer Haufen. Und da kam ganz klar die Ru'ckfrage: ja, mit wem konnen wir uns uberhaupt solidarisieren. Sag mir, wo die Linke so stark ist?

Chuck: ...wo sie nicht einfach eine Gemeinschaft von Verlierern ist, die sich halt trotzig zuruckzieht und so'nen verzweifel ten Endkampf macht, aber im Grunde nichts andern kann.

Werner: Unsere Politik ist nicht der Weg durch die Institutionen, aber der Weg durch andere biirgerliche Instanzen, die Medien zum Beispiel.

Chuck: Dabei ist aber eine Sache wichtig: DaB wir mit massiven Wi- dersta'nden in uns selbst und bei unseren "eigenen" Leuten rechnen mu'ssen. Was uns unheimlich genervt hat, war von auBen angeschossen zu werden: Ihr KompromiBler! Das hat mich sehr getroffen. Unsere Taktik setzte auch voraus, daB wir uns immer wieder in dem was wir erreichen wollten, in unserem Ziel, in Frage stellten, kritisch unter die Lupe nahmen, um uns dann aufs Neue zu bestatigen darin, d h. auch, Weg und Ziel immer wieder zueinander in Relation setzen. Sonst kommt irgendwann mal der Punkt, wo man meint, jetzt mllsse mans aber mal "zeigen", weil man genug "geschluckt" habe und mit so einem "Zeigen" - aus dem Motiv des gedemu'tigten Stolzes heraus - landet man m.E. eben meistens auf dem Bauch.

Wie lange halt man so ne Taktik durch, wann ist das Ma3 vol I, das man gerade noch ertragen kann - als ein "ehrlicher" Mensch, der em Ruckgrat hat, das nicht aus Gummi ist?F'u'r die "Psyche" ist eine

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solche Taktik viel schwieriger als eine konfrontative Haltung iiti klassischen Sinn und sie erfordert eine neue Art von "Mut". Da kommt ftir mich so etwas rein wie ein ProzeB der "Umwertung der Werte". Und dabei muB ich mir imraer wieder die Frage stellen, was will ich wirklich, was erhebe ich zum Symbol des "Erfolges". Und da muB ich mich immer gegen das durchsetzen, v/as mir in meiner Sozialisation als "Erfolg" eingetrichtert worden ist bis zur total verinnerlichten, nicht mehr hinterfragten Selbstversta'ndl ichkeit - auch wenn's noch so beknackt und widerspriichl ich ist.

Werner: Auch wenn wir den Konflikt verloren ha'tten, so gab's doch da ein Ereignis, das war so phanomenal, das es allein schon einen unheimlichen "Erfolg" darstellt. Das war in der entscheidenen Situa- tion, als die Verhandlungsdelegation von der ersten verhandlung mit der Stadt zurlickkam, in der diese uns das Ultimatum gestellt hatten: Entweder ihr unterschreibt bis zum 10.2. den Vertrag in der vorliegenden Form (was das Ende der Free Clinic bedeutet hatte) Oder es gibt offenen Krieg (Ra'umungsklage) . Es war also eine exi- stentiell bedrohliche Situation, wir waren sowieso schon unheimlich gestreBt.und nach der normalen Tagesarbeit versammelten wir uns dann gegen 7 Uhr abends alle, die Delegation berichtete und die Diskussion ging dann urn die Frage, unterschreiben wir Oder unter- schreiben wir nicht, welche Konsequenzen - persb'nlich und fUr die Free Clinic - ergeben sich daraus etc. ...Nun, ich kann mich an keine Sitzung erinnern, und ich mach solch'eine Arbeit schon wirk- lich lange - gewdhnlich verlaufen ja solche Sitzungen, wo es urn existentielle Entscheidungen gent, chaotisch, hektisch, aggressiv und mit unheiml ichem Gruppendruck - die in einem solchen Feeling von gegenseitiger Offenheit und Vertrauen, Angstfreiheit und Ge- borgenheit verlief. ... also echt, mir gent's richtig gut, wenn ich nur daran zuriickdenke.

Chuck: Die groBe mystische Episode der Free Clinic ...

Werner: Das war so ne Sitzung, wo alle hinterher mit einem unheim- lich guten Gefuhl rausgegangen sind. Jeder konnte seine flngste, seine Gefuhle .. .

Chuck:

es war keine Gruppendruck-Sache

Werner: Jeder konnte aussprechen, was er wollte, drei Stunden lang wirklich absolut gute Diskussion, mit Erlebnissen. . .

Chuck: ... Aussprechen zu kbnnen, was man s wo man sich gewbhnlich meint, daflir schamen angstlich verbergen zu mlissen, als jemand Hngsten" verfangen ist. DaB es moglich war, Angst, von den anderen abgelehnt zu werden, dann, als wir merkten, dai3 die meisten von ten, ohne falsches Hurrah-Heldentum wirklic SchluB waren wir viel starker, als wenn wir seitigem moral ischen Druck: "Wir mussen..."

o im Hinterkopf hat und und es vor den anderen der in "kleinburgerlichen sich wirkl ich ohne hier offen zulegen, und uns ahnliche Angste hat- h mutig zu sein. Zum das Ganze unter gegen- durchgepeitscht ha'tten.

Werner: Also auch das politische Selbstverstandnis wurde dabei dis- kutiert, von jedem einzelnen.

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Chuck: Also fur mich war das zum ersten Mai eine Sache, wo ich klar und deutlich merkte, dad mir meine Gruppenerfahrungen konkret was bringen und nicht nur so'n Psychoflip sind.

Werner: Ich wiirde auch insgesamt sagen, daB unser "Weltbild" - das ist jetzt so ein lacherlich groBartiges Wort - unsere Vorstellungen von Auseinandersetzungen eben prinzipiell nicht diese aggressive und verbale Art ist, sondern wirklich der Versuch, den anderen zu verstehen. Und damit auch ganz anders mit ihm umzugehen.

Chuck: Wobei uns klar ist, daB "Versta'ndnis" nicht bedeutet: okay, ich tu alles, was Du willst, ja ich versteh dich, wenn Du mir eine runterhauen willst: ich versteh Dich, jaja. Sondern auch meine ei- genen Bedu'rfnisse zu verstehen und zu denen auch zu stehen. Aber was fur mich halt sehr wichtig ist, ist die Frage, bis zu welchem Punkt es moglich ist, reinzufressen, und wie man das eben dadurch a'ndern kann, daB man umwertet. Das bedeutet fur mich auch: ich muB mich in der Arbeit, die ich hier nache, auseinandersetzen mit mei- nem eigenen Wertsystem. Und zwar nicht nur in soziobkonomischen Kriterien, sondern auch, was mich betrofft, in meinen Definitionen von Stolz, Wiirde usw. Ob das auch Sachen sind, die ich so blind Ubernehme, wie sie mir anerzogen sind, und ob ich Widerspriichl ich- keiten darin sehe, Zum Beispiel, wenn ich stolz bin, kriege ich einen auf den Deckel. Was mache ich mit diesem Widerspruch? BewuBt- heit darUber zu erlangen und sich nicht von blinden Reaktionen hin- und herschleudern zu lassen bedeutet nicht, nur zu reagieren, son- dern langer handlungsfahig zu bleiben.

Michael: Das ist eine ganz andere Art politlsch zu agieren, als das jn der linken Szene sonst Qbl ich ist.

uerner: Zum Beispiel das Thomas WeiBbecker-Haus. Das ist eine ganz andere Art. Das ist ein Wohnkollektiv, das sicherlich viel starker unter Druck stand als wir. Mag sein.

Chuck- Und aus einer beschisseneren Situation raus; wir hier du'rfen nicht vergessen, daB wir jetzt unseren Konflikt aus einer relativ geschiitzten Position heraus machten.

uiprner- Aber auf der anderen Seite gabs hier am Anfang auch diese wausdurchsuchungen, Bullen sind hier genauso rumgelaufen mit Ma- rhinenpistolen und es ist auch damals nicht so reagiert worden, wie ^as Georg-von-Rauch-Haus, Oder wie das Thomas-WeiBbecker-Haus drauf °eagierte. Obwohl diese Reaktionen durchaus verstandlich und be- rechtigt sind.

/■h.irk- Also fur mich sind die Gruppenerfahrungen und die Ideologie, CVp sie zum Beispiel in der Humanistischen Psychologie zum Ausdruck Lmi sehr wichtiq, und ich glaube, die haben uns Uber die Jahre Ken Iprag Und"uns einen Ruckhalt gegeben, wobei ich nicht eliBwi flange es noch mit uns weitergeht.und ob nicht jrgendwann m die einzige ehrliche und konsequente Haltung dann bestehen vJird, bewuBt und bffentlich zuzumachen.

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Bernhard Achtcrberg:

FRAGEN ZUM SELBS1 VERSTANDNIS VON "ANTI-PSYCHIATRIE" I

Zeitschriff fiir politische Okonomie und sozialistische Politik

Ursula Schaile- Der Arbeitskampfder Druckarbeiter in der Tarif runde 1976

Hildebrandt/Olle/Schoeller

National untersthiedlkhe

ProduktionsbedinaungenalsSchrankeeiner

gewerkschaftlifhenlnternationalisierung

Manfred Deu tsch man n * Das Elend systemtheoretisiherKrisenanalyse

UlrkhKrause DieallgemeineStruklurdesMonopols

Peter Dudek Engels und das Problem derNaturdialektik

Diefenbach/Grb'zinger/lbsen

Wartenpfuhl/Wengenroth

Wie real ist die Real until y se ?

Altvater/Hoffmann/Semmler Zum Problem derProfitrutenabredinung

Einzelheft DM9.-

imAbo DM7.-

Rotbudi Verlag

Unterdriickung + T&uschung = Entfremdung Unterdriickung + Gewahr-Sein = Zorn BcfroiuiiK = Gcwahr-Sein + Konflikt

] Entfremdung

Die oben stehenden Formeln entnehme ich Claude Steiner (1), der in seinen Prinzipien radikaler Therapie einen Ansatzpunkt zur Diskus- sion setzt, der mir sehr sinnvoll erscheint: "Das erste Prinzip radikaler Psychiatric ist, daB be i Fehlen der Unterdruckung die Men- echen, entsprechend ihrer wirklichen Natur ..., welche auf ihre Sel bsterha 1 tung und Arterhaltung gerichtet ist, in Harmonie mitein- ander und mlt der Natur leben wurden. Unterdruckung ist der Zwang auf Menschen durch Gewalt oder Drohen mit Gewalt, und ist die Quel- le aller menschl ichen Entfremdung.

Die Bedingung menschl ichen Lebens, die "Seelenhei 1 ung" (=Psychiat r ie, o A.) not ig macht, ist Entfremdung. Entfremdung ist das Gefuhl in einer Person, daB man nlcht Tail der menschl ichen Gesellschaft ist, daB man selbst oder alle anderen tot sind, daB man nicht verdient zu leben, oder daB jemand einem den Tod wiinscht. ... Entfremdung ist die Essenz aller psychiatr ischen Zustande. Dies ist das zweite Prin- zip radikaler Therapie: Alles, was psychiatr i sch diagnost iz iert wird, i st falls es nicht eindeutig organischen Ursprungs ist, eine Form der Entfremdung.

nas dritte Prinzip radikaler Psychiatrie lautet, daB jede Entfrem- dung das Ergebnis einer Unterdruckung ist, iiber die der Unterdriick- te in Tauschung oder Myst i f i kat ion belassen wird. ... Das Ergebnis (dieser Tauschung) ist, daB die Person, statt ihre Unterdruckung zu spuren und darauf wiitend zu sein, beschlieBt, daB seine / ihre schlechten Gefuhle sein/ihr eigener Fehler sind. ... Das Ergebnis ... :st die Person ftlhlt sich entfremdet."

Ich'habe diesen Text zitiert, weil ich weitgehend mit ihm uberein- otimme Falls der Einwand erhoben wird (und der wird sicher erhoben) , hier sei mit dem Entfrenidungsbegriff unmarxistisch, undialektisch „der "urn die bkonomische Dimension verkiirzt" umgegangen, so gestehe irh ein daD mich dieser Einwand in diesem Zusammenhang nicht son- dprlich interessiert. Wichtig ist die Erkenntnis, daD psychisches ripnd ein Produkt von Entfremdung, Entfremdung ein Produkt von Un- tprdruckung ist. DaB diese Unterdruckung in ihrem Kern Produkt Hkonomischer Verhaltnisse ist, wird von Steiner zwar nicht ausge- cnrochen, aber auch nicht zuriickgewiesen. In der Perspektive, lm eEnnen der gesel lschaftl ichen Ursachen psychischen Elends ergibt

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sich hieraus keirt Unterschied. Insofern nehme ich Steiners Aussagen weiterhin als Ausgangspunkt, um das Selbstversta'ndnis von "Anti- Psychiatrie'VSelbsthilfe/Sozialtherapie oder wie auch immer zu hin- terfragen: Also, so weit es geht, mefn eigenes Selbstversta'ndnis zu hi nterf ragen .

2. Solidaritat

Und

Warum tust Du, was Du tust?

In der Aufbauphase des Krisenzentrums "K 1 K" (2) in Gbttingen, in dem wir versuchen, unsere Vorstellungen von nichtprofessioneller, solidarischer Hilfe umzusetzen, haben wir verschiedene Gespra'chs- situationen durchgearbeitet. Als hierbei einige Male die Situation auftrat, daB KiK-Arbeiter gefragt wurden, "was raacht ihr hier Uber- haupt? Was soil das? Was habt ihr davon? ..." reagierten etliche mit Aggression und Arger. Hinter dieser Fassade tauchte, nur miihsam verborgen, groBe Unsicherheit auf. Einige versuchten, etwas wie "helfen wollen" auszudru'cken, und waren gekra'nkt, als lhnen das nicht abgenommen wurde. Ich finde die Frage verdammt berechtigt. mich hat diese Unsicherheit etlicher Mitstreiter doch ganz schbn nachdenklich gemacht. Wenn also ein Gesprach Uber unsre Griinde und Ziele nbtig ist, so will ich versuchen, meine eigenen Motive vorzukramen. Vielleicht ist das ein Startpunkt fUr so ein Gesprach:

Ich mache ziemlich viel Beratungs- und Therapiearbeit; sehr oft ma- che ich das einseitig.also nicht auf gegenseitiger Basis wie im Co-Counseling (s.u.), sondern mit Leuten, von denen ich nicht bera- ten werde; mich auch nicht darum hemline. AuBerdem beteilige ich mich am Aufbau des Krisenzentrums. Ich bin also gern in Situationen, wo ich als Berater, Therapeut oder sonstwie unterstlitzend aktiv wer- den kann, wo dies von mir gewUnscht Oder gar erwartet wird. Warum???

a. Faszination

Die Auseinandersetzung mit Problemen und Krisen anderer reizt mich irmier wieder. Es ist nicht Neugier (Geschichten, die ich uber Dritte hbre, interessieren mich sehr wenig; sie belasten mich eher, ich fu'h- le mich hilflos, weil ich doch nichts machen kann). Es ist eher der ProzeB des Durcharbeitens, des Daran-Arbeitens; das "gemeinsame Be- miihen"; der intensive Kontakt, der dabei entsteht; es ist die Mbg- lichkeit, mich zu engagieren, Rtfch einzusetzen.

b. der Uunsch, qebraucht zu werden

Ich weiB von mir, daB mir viel daran liegt, "ntitzlich" zu sein, ge- braucht zu werden. Die Griinde hierfllr liegen ziemlich tief in mei- ner Selbstentfremdung; darin, daD ich mich kaum je um meiner selbst willen akzeptiert fiihle. Wenn ich mich in Beratung o.a. engagiere, dann komme ich mir nicht so sinnlos vor; dann glaube ich eben, daD andere mich akzeptieren.

c. Lernen und Kontakt

Jeder Mensch ist einmalig, trotzdem haben wir etwas miteinander zu tun. Zu Deinen Problemen gibt es Verwandtes in mir; in meinen Schwie- rigkeiten wirst Du einiges von Dir wiederfinden.

Jede Beratungs- und Therapiearbeit - aber besonders die "undogmati- schen" oder "humanistischen" oder "existenzialistischen" Ansa'tze der "Antipsychiatrie" - besteht zum wesentlichen Teil daraus, diese Verbindung lebendig werden zu lassen. Gerade, wenn ich als leben- dige Person anwesend bin, und nicht nur als Klischee oder Berufs- rolle, kann ich vermeiden, den anderen meinen Trip, meine Erfah- rung, meine Lbsungen oder Ratschlage, meine Werturteile aufzuzwin-

gen.

Umgekehrt lerne ich in jeder Begegnung (und besonders in Beratungs- arbeit) etwas Liber mich, z.B.: Frliher habe ich auch in der Bera- tungsarbeit oft versucht, Leute zu beruhigen oder zu trbsten, wenn sie weinten. Heute verstehe ich, daB ich sie damit in meinem Inter- esse manipuliert habe. DaB ich Angst vor Weinen hatte. Ich lernte also" etwas liber meine Angst. Umgekehrt: Da ich es lernte, konnte ich spa'ter weniger manipulativ sein, konnte jederzeit akzeptieren, daB der andere das Recht und die Chance auf seine eigenen Tra'nen braucht. Wenn ich Deine Angst (Wut/Enttauschung/...) wahrnehme, schwingt meine Angst (Wut/Enttauschung/...) in mir mit. Ich lerne sie kennen und komme in etwas mehr Kontakt mit Dir und mit mir.

H. Gemeinsamkeit

Ich weiB, wie oft es mir dreckig geht, ich auf Depressionen fest-

ha'nge, auf dem Geflihl, nicht geliebt zu werden, dem Wunsch, mich

selbst zu tbten, auf starker Selbstable

Ich weiB, wie oft mir dabei ein Gesprachspartner gefehlt hat, je-

mand, bei dem ich in und mit all dieser ScheiBe akzeptiert bin; je-

mand, der mir zuhbrt, wenn ich darliber sprechen mbchte, aber mich nicht

bedrangt, wenn ich nicht sprechen mbchte.

Manchmal bin ich stolz darauf, mit allem "alleine fertig geworden"

zu sein und dabei "viel gelernt zu haben". Aber ich denke, das ist

ein alberner Stolz.

Deswegen mbchte ich gerne in einer Bezugsgruppe sein, wo genug Chan-

cen sind, solche Gesprachspartner zu finden. Ich mbchte mir -

wenn es geht - solche Gesprachspartner nicht kaufen (obwohl es sicher

noch lange Zeit nbtig sein wird, professionelle Therapeuten zu haben.

Ich selbst arbeite teilweise auch professionell ). Ich mbchte auf

keinen Fall an einen Gesprachspartner gelangen, der aus Mitleid,

ocjer um anderen zu helfen, mir zuhbrt. Sondern ich mbchte, daB mein

Gesprachspartner sich deswegen engagiert, weil er weiB, daB ihn

meine Probleme etwas angehen, daB sie potentiell auch seine sind,

daB das Elend gemeinsam ist, und daB er zu anderen Zeiten auch in

Aer umgekehrten Situation ist oder sein konnte.

Gerade deshalb hat auch der andere, der Gesprachspartner, die Chance,

etwa fur sich selbst zu lernen. Der Grundgedanke ist, daB wir uns

aeqenseitig weiterhelfen.

niese Gegenseitigkeit, diese Gemeinsamkeit der Betroffenheit, ist

fur mich ein wichtiger Bestandteil zum Herstellen der Mbglichkeit

von Solidaritat.

p Solidaritat

Solidaritat von anderen Formen des Zusammengehbrigkeitsgefuhls Sterscheidet, ist ihr Gerichtet-Sein auf ein Ziel. Solidaritat ist Gemeinschaft des Handelns.

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Wenn wir unter Solidaritat speziell die Solidaritat der UnterdrUck- ten verstehen, oder der sich befreienden Menschheit, so ist das Han- deln aus/in dieser Solidaritat ein bestimmtes: Der genieinsame Ver- such, sich aus Elend, Unterdrlickung, Entfremdung zu befreien. Voraussetzung hierfiir aber ist das gemeinsame BewuBtsein von der Gemeinsamkeit des Elends der Unterdrlickung, der Entfremdung. Insoweit unsere Angste, unsere Schwachen, unsere Krisen aber Aus- druck und AusfluB unseres Entfremdet-Seins sind, also unseres Un- terdruckt-Seins, also unserer gesellschaftl ichen Existenz, inso- weit ist es also auch wichtig, daB wir in unseren Angsten usw. nicht vereinzelt bleiben, daB wir uns in ihnen und mit ihnen nicht als einzelne kaputte Individuen erleben. Egal, ob wir solche Verein- zelung dadurch ausdriicken, daB wir unser "Kaputt-Sein" wie einen Makel zu verbergen suchen, oder ob wir es wie einen Orden vor uns hertragen und damit herumstolzieren, in beiden Fallen steht dahin- ter das BewuBtsein, es gent hier um "mein Problem", mit dem letzt- lich ich fertig zu werden habe. Ich brauche hier nicht noch einmal aufzufuhren, was die Gesellschaft alles tut, um uns in dieser Ver- einzelung zu halten. Nicht nur die gesamte psychiatrische Praxis und der Hauptteil von therapeutischer und Beratungs-Arbeit sugge- rieren dieses Bild. Auch der subtile Terror des taglichen Leistungs- druckes, der Zwang, o.k. sein zu mussen, machen Leiden zu etwas Unpassendem, Argerlichen . Wenn ich ein braves Kind sein will, werde ich diesen Makel verbergen. Wenn ich ein unartiges Kind sein will, dann zeige ich alien zum Trotz - "bah" - wie kaputt ich bin; und bin stolz darauf.

Beides ist weit entfernt (fast gleich weit) von dem, was ich shier als Gemeinsamkeit des Elendes, und damit als Basis fur mbgliche Solidaritat ansprach.

Insofern ist auch der Slogan "Aus der Krankheit eine Waffe machen" dann irreflihrend, wenn er verstanden wird als Aufruf an eine kleine Minderheit von "Kranken". Vol 1 ig richtig ist der Aufruf naturlich, wenn damit unsere gemeinsame tagtagliche Krankheit/Entfremdung/ Unterdrlickung, wenn damit unser Leiden und die Erfahrung unseres Leidens gemeint ist.

Die gemeinsame Erfahrung dieses Leidens allerdings ist eine Waffe. Denn sie ist ein letztlich unabweislicher Ruf nach Veranderung, nach menschenwLirdiger Existenz.

Ich hoffe, daB gerade aus dem letzten Punkt deutlich geworden ist, daB ich zwischen meinem Engagement in Antipsychiatrie/Selbsthilfe einerseits und meinem Selbstbild, ein politisch bewuBt handelndes Subjekt zu sein, andererseits kein Widerspruch besteht. Ich erlebe mein Handeln in diesem Bereich als libereinstimmend mit meinem poli- tischen Wollen. Denn letztlich setzt mein politisches Wollen an meiner Erfahrung von Elend an. Und darum geht es hier.

3. Rollen/Etikette/ Schubladen/Diagnosen

oder: "mit Dir ist etwas los; komm zu mir, ich kann Dir helfen" Eingangs habe ich aus Steiners Aufsatz (s.o.) zitiert: "Alles, was psychiatrisch diagnostiziert wird, ist, falls es nicht eindeutig or- ganischen Ursprungs ist, eine Form der Entfremdung." Wahrend der Grundgedanke schon von Freud stammt, daB es nicht "Kranke" und"Ge-

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sunde" ira psychischen Bereich gibt, sondern nur unterschiedl iche, von der persbnlichen friihkindl ichen Erfahrung abhangige Antworten auf Bedingungen und Konflikte der Entdeckung, wahrend schon Frieda Fromm-Reichmann (3) 1950 davon spricht, daB es nur ein Kontinuum von Menschen mit unterschiedl icher, aber auch unterschiedlich be- lastender Erfahrung gibt, ist dieser Gedanke doch erst weitaus spa- ter konsequent weitergedacht worden. Insbesondere die Position von Thomas Szasz, dessen wesentliches Werk "The hyth of Mental Illness" schon Anfang der 60er Jahre erschien, aber erst um 1970 wirklich Eingang in die europaische - und noch etwas spater die deutsche - Diskussion fand, war hierfUr wichtig. Szasz weist den psychiatri- schen Krankheitsbegriff vollsta'ndig zuriick, fiir ihn ist man nicht psychisch krank, sondern man wird von der Gesellschaft als krank bezeichnet - abgestempelt! -, wenn man gegen bestimmte Normen ver- stbBt. Diese Normen, etwa soziale, ethische oder auch einfach ge- setzliche, sind aber Herrschaftsnormen. Insofern hat Szasz als wohl Erster erkannt, welche Unterdruckung, welche Gewalt in dem psychiatrischen Krankheitsbegriff liegt. Menschen, die an ihren Konflikten leiden - dies ist die Bestimmung von Szasz fiir jene, die von anderen als psychisch krank bezeichnet werden. Den Versuch, ihnen eine "objektive" Krankheit anzudichten, bezeichnet Szasz als "Oberbleibsel des Glaubens an Damonen und Hexen". (4)

Ich selbst finde es sehr schwer, mich wirklich und vol 1 ig an dieses Denken zu gewbhnen. Wie leicht schleichen sich die alten Begriffe ein! Und wenn sie nicht aus dem Mund konwien, im Kopf ist ein Rest von ihnen da. In London lernte ich einen Typ kennen, der beim ersten Gesprach vol 1 ig unten war, keinen Ueg mehr sah. Wir haben uns lange unterhalten, ich war ziemlich betroffen von der Ausweglosigkeit, die er spurte. Am na'chsten Tag sah ich ihn wieder. Von all seinen qroBen Problemen hatte sich das kleinste gelbst. Das reichte, um ihn uberschwenglich, jubelnd und ausgelassen zu machen. Er rannte nur kurz ins Zimmer, erzahlte mir, wie gut es ihm ging, rannte schon gleich weiter, weil er gar keine Zeit hatte. Ich bin noch damit Deschaftigt, immer klarer und sicherer zu lernen, daB es eben nicht "manisch-depressiv" ist, sondern, daB er halt auf seine Erfahrung reagiert, und zwar so, wie es ihm gema'B ist, zu reagieren. DaB es keinen "Schizophrenen" gibt, habe ich, glaube ich, inzwischen ge- schnallt. Einige meiner Freunde in London, mit denen ich viel zusam- men gemacht habe, sind - wie ich irgendwann vbllig beilaufig erfuhr _ 0ffiziell als "schizophren" abgestempelt. Naja.

<;nweit, so schlecht. Aber die Schwierigkeiten fangen erst an. GewiB .°t es'schwer, sich dies eingefahrene Ka'stchen- und Schubladen- n!nken abzugewohnen. Aber, selbst wenn es gelange. genugte das „frht Denn Tatsache ist, es gibt Ungleichhenten, es gibt unter-

h edliche Rollen. Wenn sich jemand an mich wendet, weil er Proble- S Konflikte, Krisen erlebt, in denen er meine Zuwendung, meine ftMfmerksamkeit. meine Zeit haben mbchte, in denen er sogar mbchte, ,aicb meine qelernten Fahigkeiten einsetze, um ihm bei seinem Wie- d/l Klar-Kommen Unterstutzung zu geben, dann ist die Situation un- d?oich InTewisser Weise bittet er mich, ein Stuck Verantwortung illThn zu ubernehmen. Gut, den Spruch von Perls, daBjeder fur sich fUr ntwortlich ist h ben wir alle schon gelernt. Naturlich stimmt ^^auch Irotzdem iibertragt in jeder Beratungssituation jemand em

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Stuck Mitverantwortung auf jemand anderes; und in Krisensituationen 1st dies Stlick oft ganz schdn groB. Ich halte es fur absoluten Mist, dies zu verleugnen. Es ist gleichzeitig eine Feigheit des Beraters (oder wie Du ihn nennen willst), und eine Mystifikation fur den Betrof- fenen. Geben kbnnen und nehmen kbnnen sind wichtige Teile solidari- schen Handelns. Hierzu gehbrt auch die Bereitschaft, Mitverantwor- tung zu Ubernehmen, wenn und soweit ich 1. darum gebeten bin (keinen Zentiraeter weiter) und 2. ich dazu bereit bin (und keinen Zentiraeter weiter).

Politik der Diagnose

Es ist also rait dem hier vertretenen Anspruch durchaus vereinbar, Verantwortung zu ubernehmen, es ist sogar notwendiger Bestandteil. Um nicht unter der Hand zum Experten zu werden, der "weiB, was rait dem andern los ist", versuche ich, das BewuBtsein der Gememsamkeit der Betroffenheit wach zu halten. (Daruber habe ich ja eben etwas mehr gesagt.) Ich denke, daB dieses BewuBtsein mich. meine Eitel- keit und mein Expertentum einigermaBen im Zaume halten kann. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die bewuBte Ablehnung jeder Psycho- Diagnostik. (Ich mbchte hier nicht eingehen auf die medizinische Diagnostik. Da gibt es auch wichtige Probleme, das Abstempeln von Menschen zu "Fallen" ist sehr krass. Andererseits gibt es auch die Notwendigkeit. Denn Kbrperschaden sind wohl doch real und haben nun mal oft Funktionsstbrungen aller Art zur Folge.) Auch im besten Falle, auch bei groBter Vorsicht und bei bestem Wil- len ist Psychodiagnostik ein Weg zur krassen Selbstentfrentdung und Mystifikation des anderen, der damit zum Dulder, zum Geduldigen, lateinisch- patiens, also zum Patienten und zum Fall wird. Sobald ich anfange, aus dem Verhalten des anderen Mengenangaben oder Kate- qorien zu machen, ist es eben nicht mehr einfach sein Verhalten, sondern ein Indikator fUr irgend etwas, fur irgendeine Sache, die als Fremdkorper in seinem Kopf ist. Diese Fremdkbrper bekommt man und verliert man wie eine Taschenuhr oder eine Darmg_rippe.Sie heis- sen Neurose, Psychose, Psychastienie Oder Psychopathie. Und immer wieder versuchen Hirnchirurgen, diese Fremdkorper herauszuoperieren. Sobald ich diagnostiziere, diagnostiziere ich Etwas. Dies Etwas wird damit als Sonderteil des anderen abgespalten, ihm entfremdet. (Der Psychiator darf das. Aber wenn Du selbst einen Teil von Dir entfremdest und abspaltest, und Du bist unvorsichtig genug, das of- fen zu sagen, dann bist Du "schizophren". )

A. Alternativen

a. fiewahrsein

Es ist nicht immer wichtig, daB ich verstehe, was in Dir vorgeht, wenn ich mit Dir an Deinen Problemen/Konfl ikten/Krisen arbeiten will Wichtig ist, daD Du es verstehst. Aber oft, sogar allermeistens ist es eben dafUr doch wichtig, daB auch ich verstehe. Dies wird ja auch von den halb progressiven Psychologen und Therapeuten als Aus- rede benutzt, eben doch mit Diagnostik zu arbeiten. Welche Alternative gibt es? Zun'a'chst das Zuhbren (nach Frieda Fromm-Reichmann die wichtigste

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Tugend des Therapeuten.) Wenn Du mir erza'hlst und erklaYst, was in Dir vorgeht, wird es Dir selbst auch klar. Das ist der Grund, wes- wegen das einfache Zuhbren so hilfreich sein kann. Es ist auch das Prinzip hinter Rogers' nondirektiver Therapie. Aber nicht nur mein Intel lekt und meine Ohren sind Mittel zum Ver- stehen, sondern mein ganzer Kbrper. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Freud selbst schon erkannt hat. Von ihm stammt schon die fundamentale Einsicht, daB das, was in mir hochkommt und vorgeht, wenn ich Dir begegne, Dir zuhbre, der wichtigste SchlUssel zum Verstehen ist. Wenn •'cli nrn. Dir spreche, werde ich Deine Spannung in mir spliren - oft sogar genau dort, wo Du sie erlebst. Je besser ich in Kontakt mit meinen eigenen GefUhlen, mit meinem eigenen Kor- per bin, desto wacher kann ich miterleben, was in Dir geschieht. Damit entsteht aber auch eine neue Unmbglichkeit: Wenn ich mit Dir an Deinen Problemen/usw. arbeite, r.iuB ich also ganz, mit voller Auf- merksamkeit bei Dir sein, zugleich aber, ebenfalls mit ganzer Wach- heit, meinen eigenen Kbrper und seine Antworten spiiren. Naturlich geht das nicht.

Aber der Weg geht in diese Richtung. Ich kann lernen, etwas mehr gewahr zu sein, was zwischen uns und in mir geschieht.

h. pie Gruppe

Ich habe eben angesprochen, daB ich gern in einer Situation sein mbchte, wo ich einen engagierten Gesprachspartner finden kann, wenn ich ihn brauche. Und auch darum engagiere ich mich selbst. wenn ich nun mit anderen an ihrer Situation arbeite, insbesondere, wenn es um das Durchstehen von Krisensituationen geht, danri werden 0ft auch meine eigenen Probleme ganz schon hochgewlihlt. Damit kann ich aber in der aktuellen Situation meist den anderen nicht anspre- chen, denn der/die ist ja gerade schwer mit der eigenen Situation bescha'ftigt. Deswegen ist mir wichtig, dieses Engagement in einer Gruppe zu tun, damit ich dann auch den Gesprachspartner fiir meine Sache habe, damit ich auch mit meinen Rngsten, mit der Enttauschung Dei MiBerfolgen und Riickschlagen nicht allein gelassen bin. Vielleicnt kbnnen wir in solchen Gruppen auch lernen, anders mit- einander umzugehen. Das wurde heiBen, daB wir auch fiir uns selbst mehr Ehrlichkeit lernen. Und mehr Akzeptieren unserer Schwachen und Schwierigkeiten.

Bei der Gruppe COPE in London habe ich ein biBchen davon, was viel- leicht mbglich ist, erlebt. Und ich habe gelernt, wie wichtig und wie schwer so einfache Dinge sind, wie seine Wiinsche a'uBern, oder Mein sagen.

c co-Counseling (wechselseitige Beratung)

ebenfalls in London bei COPE lernte ich ein Konzept kennen, das e!|Ch in Deutschland erst ganz allmahlich ausbreitet- nu und ich - wir beide haben Probleme/Konflikte/Kri

haben

sen. Wir beide aber auch die Mbglichkeit, einander zuzuhbren. Warum brauche

•rh als Therapeuten einen bezahlten Experten? Wir kbnnen lernen, uns Jpaenseitig zu helfen. Das heiBt also: Wir helfen uns selbst

gegen

denn warum soil en wir alle

uir Uben und lernen erstmal in Gruppen,

£lhler nochmal machen, die andere schon ausprobyt haben? Wir er- kSren uns nicht zu Experten, wir geben keine gut gemeinten Rat-

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schlage, wir moral isieren nicht. Wir nehmen uns einfach ernst.

Wollen wir es so machen: wir treffen uns jede Woche zwei Stunden,

eine Stunde gehb'rt Dir und Deinen Problemen, die andere mir und

meinen Problemen' Und wenn Not an Mann (oder der Frau) ist, dann

treffen wir uns, so schnell es geht.

Ich denke, daB dies Konzept einen sehr wichtigen Schritt in die rich-

tige Richtung bedeutet:

Psychisches Elend ist keine Krankheit und keine Autopanne. Es

braucht keinen Experten oder Techniker. Es gehbrt nicht in Anstalten.

Sondern es ist Teil unseres Lebens, unseres Alltags. Und da gehbrt

es hin.

"Hbr mal, Genosse! Das klingt ja alles: sehr nett. Aber das ist doch ganz schbn utopisch!" - "Ja, und?"

Anmerkungen:

(1) Claude Steiner: Radical Psychiatry, Principles. In: The Radical Therapist (Penguin Bocks, 1974) KlK heiBt: Kontakt in Krisen

Frieda Fromm-Reichmann: Principles of Intensive Psychotherapy, Chicago and London, 1950

Thomas Szasz: Der Mythos von der seelischen Krankheit, in: Keupp (Hrsg.j: Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie, MUnchen, 1972

(2) (3)

(4)

Welche Genossen

haben Erfahrung in der Organisation

von Selbsthilfegruppen

im psychosozialen Bereich(Antipsychiatrie)?

Wir.zum Teil Mitarbeiter an einer Selbsthilfe und Beratungs- organisation, waren an einem Erfahrungs- austausch interessiert!

AF Sozialarbeit-Antipsychiatrie c/o Heinz Klauder Gronerstr. 15/ Telf.o551 - 46128 34 Gbttingen

Uschi Efibach-Kreuzer:

SOCIAL WORK:

EINE STUDENTISCHE SELBSTHILFEORGANISATION

Als ich 1973 meine Arbeit in der "Arztlich-psychologischen Bera- tungsstelle flir Studenten" in Gbttingen aufnahm, sollte ein Teil meiner Tatigkeit darin bestehen, eine studentische Selbsthilfeor- ganisation vorzubereiten. Diese Selbsthilfeorganisation heiBt "Soci- al Work" und existiert inzwischen und verfugt liber Erfahrungen von 2 1/2 Jahren. Das Social Work besteht aus thematisch-orientierten Selbsthilfegruppen und einem Kontakt- und Informationszentrum. Es arbeitet inzwischen zum grc'Bten Teil autonom, ohne die standige Mit- arbeit von Professionellen. Es verfugt uber Raume (eine 3 1/2 Zim- mer Dachwohnung) im Haus der studentischen Beratungsstelle.

Ich mbchte versuchen, anhand der Darstellung dieser Selbsthilfeor- ganisation, Themen, Probleme und Widerspruche zu diskutieren, von denen ich glaube, daB sie typisch sind fur Selbsthilfeorganisationen Uberhaupt:

- Typische Unterschiede zwischen professioneller Therapie und Selbst- hilfe sowie die Frage nach Erfolgsmbgl ichkeiten der Selbsthilfe;

- Konfliktzonen, die sich aus der Organisationsform ergeben : Veran- kerung im Universitatsbetrieb;

- das komplizierte Verha'ltnis zwischen "Selbsthelfern" und "Exper-

- die Traditionen von Selbsthilfe (vor all em der angel sachsischen Lander), die fur die Konzeption des "Social Work" wichtig waren.

Wie begann es?

Es begann mit einem Flugblatt, in dem meine Koll Grundung von Selbsthilfegruppen aufriefen: "DaB die Universi tat, 50 wie sie heute organisie psychische Konflikte aktual i siert, hauptsa'chl ich der Sexual itat, der Arbeit, der Soz ial kontakte, qeweMe, Konkurrenz produziert und daB der stude; fig durch Isolation, Zerspl i tterung und Fremdbes zeichnet ist, all dies erfahren wir taglich in d Studenten. Vor einem Jahr schrieb eine Gruppe au Erfahrungen:

Wjr sitzen in uberfullten Horsalen und Seminarr schen geftillt sind, die wir nicht kennen und auc nen konnen unter diesen Umstanden. Wir sitzen en zU wissen, wer der andere neben uns ist, was er horen uns Monologe von Professoren, Assistenten ten uber Themen an, von denen sje_ glauben, daB s en muBten. Wir konnen unseren Lebenszusammenhan organisieren, da die fast stundl ich wechselnden

egen und ich zur

rt ist, massenhaft

in den Bereichen daB sie Angst, Lan- nt i sche Al Itag hau- timmung gekenn- en Gesprachen mit s GieBen uber i hre

aumen, die mit Men- h nicht kennenler- g beieinander ohne fuhlt und denkt. Wir und alteren Studen- ie un_i interessie- g nicht verniinftig Lehrinhalte, die un-

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seren Interessen, Bediirfnissen und Problemen Jeweils SuGerlich bleiben, unseren Al 1 tag vollig zerspl i ttern. - Wir haben uns nach langem Suchen in Zimmer pressen lassen, die klein und zu teuer sind, die uns voneinander isolieren, so daD wir abends die Platzangst kriegen, weil wir niemand kennen, mit dem wir sprechen konnen. Dann irren wir durch die Stadt, trinken uns einen an oder gehen in ir- gendeine Diskothek, wo wir jedoch das, was wir dort gesucht haben, auch nicht finden.

Angesichts dieser Situation ist es fur den einzelnen Studenten wich- tiger als je zuvor geworden, sich mit anderen Studenten zu informel- len, privaten Gruppen zusammenzuf inden, sei es, urn Erfahrungen aus- zutauschen, zusammen zu arbeiten, freie Zeit zusammen zu verleben, ganz einfach, urn dem isolierenden Durck der un iversi tSren Verhait- nisse nicht vOllig ausgeliefert zu sein.

Wir Mitarbeiter der "Krzl ich-psychologischen Beratungsstel le fur Studenten" untersttitzen diese student ischen Initiativen. Wir haben aber auch mi tbekommen, dab Gruppenbi Idung schwer ist und viele An- sStze scheitern. Mit unserem Vorschlag, eine studentische Selbst- hi lfeorqanisation zu initiieren, wollen wirweitere Gruppenbi Idungs- prozesse untersttitzen. Wir stellen uns dabei Gruppen mit themati- scher Orientierung vor wie z.B.: Partnerkonf i ikte und Sexual i ta't ; Uohngemeinschaften; Soz ial isat ion in der Kleinfamilie (eigene Ent- wicklung, Verhaltnis zu den Eltern); politische Arbeit und Emanz i - pation; Arbeits- und Kommun i kat ionsstrukturen in Seminaren; Prti- fungen und PrUfungsangst usw. Die Gruppen sollen HSgl ichkei ten des Kennenlernens bieten. Die Gruppenmi tgl ieder konnen darUberhinaus versuchen, in qemeinsamer themat i scher Arbeit und Sei bsterfahrung die individuelle Misere im Zusammenhang mit der sozialen Realita't - Hochschule, Priifungen, Berufswah) - auf zuarbei ten und zu vera'n- dern.

Dieser Versuch die Organisier ist, sondern s entwickeln sol trad i t ionel ler Gruppen, in de organisation g tagl ichen Arbe I ichen Therapi tagsproblemat i sowie Fragen d klammert.

hat insofern ung und Gesta ich durch d ie 1 . Von daher

'Therapeuten nen wi r arbei ibt uns auch it in der Ber eformen nur d k erreicht wi er Organisier

exper imente itung der Gr

Tei lnahme a verstehen wi sondern a ten. Die Tei die Mogl ichk atungsstelle er individue rd: hochschu ung des Al I t

1 len, offen uppen nicht 1 ler Gruppe r uns auch Is Mitgl ied lnahme an d eit der Ube , wo haufig 1 l-psychisc lpol it ische ags werden

en Charakter, als

vorstrukturiert nmi tgl ieder erst nicht im Sinne er der jewei 1 igen er Selbsthilfe- rprtlfung unserer mit den herkomm- he Teil der Al 1-

Zusammenhange gewohnl ich ausge-

Wer Interesse an der Sei bsthi 1 feorqan isat ion hat: Am Mittwoch,

30 .1.1 97^* findet urn 20.15 ein Treffen in der Beratungsstel le, Niko-

lausberger Weg 17 statt.

Die Mitarbeiter der 'Arztl ich-psychologischen Beratungsstel le1 : Iris Bartz, Uschi EBbach, Manfred Kuda, Margret Kuda-Ebert, Heinz Schaub, Eckhard Sperling.

Weitere Mitarbeiter: Almuth Massing (Psychiatrische Klinik) und Hans Riebensahm (Lektorat filr Sprecherz iehung) ."

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Auf dieses Flugblatt hin kamen ca. 350 Studenten: Politisch unorga- nisierte Linke, kontaktsuchende Einzelne, Patienten der Beratungs- stelle usw. Auf diesem ersten Plenum wurde erstaunlich gut - trotz der groBen Anzahl der Anwesenden - u'ber die Koneeption des Vorhabens diskutiert. Formuliert wurde vor allem der alte Widerspruch, auf der einen Seite das psychische Leid des Einzelnen nicht wirklich verandern zu konnen ohne die Umwalzung der gesellschaftl ichen Ver- ha'ltnisse, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, in der vorhan- denen Wirkl ichkeit halbwegs leben zu konnen oder politisch zu arbei- ten. Der Versuch der Studentenbewegung, politische Arbeit und per- sbnliche Emanzipation zu verbinden, wurde in Erinnerung gerufen, geriet jedoch zum Appell. Kein Wunder, denn was sich 1974 an linker Politik an den Hochschulen zeigte, waren Parteiaufbauorganisationen, in denen Diskussionen liber psychische Konflikte, organisations-be- dingte Machtbeziehurgen kaum Platz hatten. Daneben gab es kleine Restgruppen der Studentenbewegung, ansonsten herrschte Apathie, eine "linke Offentl ichkeit" gab es kaum noch. Dennoch: Es wurde der Wunsch formuliert, in diesen Sei bsthi Ifegruppen dem Zusammenhang zwischen AuBen und Innen, zwischen Hochschule, Alltag und psychi- schem Leid nachzugehen.

Auf diesem Plenum organisierten sich 14 Gruppen mit den folgenden Themen: Prufungsangst; Sexualitat (4 Gruppen); Uohngemeinschaften; Partnerkonf 1 ikte; Gruppe ohne Thema (3 Gruppen); Probleme nichtaka- demischer Kinder an der Uni; politische Situation an der Uni; Ar- beitsstbrungen; Psychiatrie in Gbttingen. Einige Gruppen wXirden in den ersten Sitzungen von mir und einigen Kollegen geleitet, urn Start- hilfe zu geben, einige Gruppen liefen von Anfang an ohne therapeuti- sche Hilfestellung. .Dieses Plenum fand dann jeweils zu Beginn des Semesters statt, es wird inzwischen ausschlieBlich von Studenten getragen, und auch die Gruppen arbeiten ohne "Experten". Doch dazu spa'ter.

Im Laufe des Sommers wurde dann die leerstehende Wohnung im Dachge- schoB der Beratungsstelle zum Zwecke eines Kontakt- und Informations- zentrums von einer Gruppe von Studenten und mir eingerichtet. Das qelang zum Teil liber Spenden, zum Teil erhielten wir auf Antrage hin Mobel Liber die Kliniksverwaltung, der die Beratungsstelle angeschlos- sen ist, und u'ber das Studentenwerk. Es wurde ein Plakat entworfen, auf dem u.a. in groBen Lettern: Probleme - Kontakte - Selbsthilfe stand. Wir nahmen Kontakte zum Asta auf, berichteten in deren Infos liber uns und lieBen in den Lokalzeitungen liber uns berichten. Ein Taq- und Nachtdienst wurde eingerichtet, wbchentlich einmal trafen sich alle Dienstleute und Vertreter aus den Gruppen, um Erfahrungen auszutauschen. An diesen wochentl ichen Sitzungen nahmen auBer mir lange Zeit der Leiter der Beratungsstelle und - periodisch - ein weiterer Kollege teil .

ugrua Selbsthilfe? - Die Idee und wo sie herkommt

7unachst einmal: was ist eigentlich eine Sei bsthi Reorganisation?: rs handelt sich um sich selbst organisierende Gruppen, deren Mit- niieder sich ohne Experten in einem meist genau eingegrenzten sozial- psychischen Bereich gegenseitig helfen und Entlastungen bneten. In

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der Regel handelt es sich um Individuen mit gleichen Problemen und gleichen Interessen, die sich regelma'Big zu Gruppengesprachen oder gemeinsamen Aktionen zusammenf inden und deren Kontakt, Kommunikation und Vertrauen sich eben Liber diese gemeinsame Problematik herstellt. Einige Sel bsthilfeorganisationen sind eingetragene gemeinnutzige Vereine mit Statut und Vorstand. Dieser Organisationsform liegt meistens der Bedarf an bffentlicher finanzieller Unterstutzung zu- grunde, was in der Regel eine Kontrolle des Geldgebers zur Folge hat -oft eine entscheidende Konf 1 iktzone. Die meisten Sel bsthilfe- organisationen sind jedoch informelle Gruppen. Sie sind meist offen fur neue Mitglieder und verfUgen Uber ein selbst erarbeitetes Vor- gehenskonzept. Oft bestehen Kontakte zu Experten, die bei Problemen oder akuten Notfa'llen zu Rate gezogen werden.

Michael Lukas Moeller hat eine FUlle von Material Uber bestehende Selbsthilfegruppen, vor allem in den USA, zusammengetragen (1). Er verweist auf die wohl alteste und am meisten verbreitete Selbsthil- feorganisation liberhaupt: Die "Alcoholic Anonymous", die 1935 gegrun- det wurde. Auch in der BRD gibt es inzwischen in zahlreichen Sta'd- ten die "Anonymen Alkoholiker" , deren Hauptaufgabe ist, Alkoholiker vom Alkohol zu befreien bzw. diejenigen, die einen Alkoholentzug hinter sich haben, davor zu schutzen, ruckfallig zu werden. Neben den AA nemt Moeller u.a. die Narcatica A. (Medikamentensuchtige) , Gamblers A. (Spiel suchtige) , Overeaters A. und Fatties A. (Fett- sUchtige), Suicids A. (Selbstmordgefahrdete), Schizophrenics A. (Schizo,jhrene), Syanon und Daytop (2 Organisationen flir Rauschgift- suchtige), Stutterers A. (Stotterer), Antirape Groups (Frauen- gruppen speziell zum Schutz vor Vergewaltigungen) , Parents without Partners (alleinstehende Mutter oder Vater) usw. Moeller macht auBerdem auf eine Selbsthilfegruppe aufmerksam, von der er zu Recht sagt, da.J die dort geleistete Prevention von jeder Form traditio- neller Therapie gar nicht geleistet werden kb'nne: Die "Childbeaters Anonymous". "Miitter, die anfallsartig ihre Kinder schlagen, haben eine telefonische Krisenintervention eingerichtet ... Sie hatten in ihrer Gruppenarbeit entdeckt, daB sie den Impuls zu schlagen, an leichtesten Anzeichen der Stimmung, des Verhaltens und der Phanta- sie schon Stunden vorher spliren. In diesem Stadium ruft eine Mutter eine andere an und kann durch telefonische Aussprache die destruk- tive Handlung verhindern. Eine so einfache und angemessene Preven- tion, die wenigstens das grobste verhlitet, kann sich nur aus der Auseinandersetzung mit der konkreten Lebenssituation ergeben, die in Selbsthilfegruppen starker zur Sprache kommt" (2).

Die konkrete Lebenssituation ist auch Inhalt einer Alten-Kampfgrup- pe in den USA, die sich in Anlehnung an die Black Panthers "Grey Panthers" nennt. Sie besteht aus alten Leuten, die, einer Biirger- initiative vergleichbar, flir die Verbesserung ihrer Situation, vor allem in den Altenheimen kampfen, Demonstrationen veranstalten, um gegen ihre Gettosituation aufmerksam zu machen; eine Gruppe, die in der BRD z.Zt. undenkbar ware.

Ebenfalls eher politischen, nach auBen wirksamen Charakter, haben die verschiedenen Selbsthilfegruppen, Zirkel, Wohngemeinschaften in England, speziell in London. (3) Es handelt sich um ein Netz von nichtstaatlichen Sozialhilfestellen, deren Ziel es ist, sozial und psychisch in Schwierigkeit geratenen Personen akute Hilfe zu lei-

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sten, oft auch nur ein "Safe Place" zu schaffen, um jemanden vor dem Zugriff der Polizei oder vor Zwangseinweisung in Nervenkliniken zu schiitzen. In London, wo bisher Hausbesetzungen von der Dffent- lichkeit weit weniger sanktioniert werden als in der BRD, gibt es zahlreiche besetzte Hauser, die als Anlaufstellen, BUros Oder Schlaf- unterklinfte dienen. Eine der wichtigsten dieser Gruppen, "Cope", verfiigt vor allem liber einen Tag- und Nachttelefondienst. Die Leu- te, die dort Dienst tun, sind zum Teil berufstatig, zum Teil leben sie von Sozialhilfe. Offensichtlich sind die vielfaltigen, netzwerk- artigen Kontakte durch die Atmosph'a're einer typisch Londoner Sub- kultur gepragt, was sehr bestimmend fiir die gute Zusammenarbeit und den Zusammenhalt dieser Gruppen zu sein scheint. EinfluBreich waren und sind vor allem die therapeutischen Versuche der Antipsychiatrie, wie sie Cooper und vor alien Laing und seine Mitarbeiter entwickelt und in Kingsley Hall in London praktiziert haben. Die Antipsychia- trie hat die Konzeption der Selbsthilfe insofern gefordert, als sie das Arzt-Patient-Gefalle in Frage stellte, sowie auf die iibli- chen Etikettierungen: krank/gesund, psychotisch/normal verzichtete und stattdessen den Ausdruck und das Durchleben aller individuellen Gefuhle und Denkweisen - eben auch der "psychotischen" - unter- stutzte und ernstnahm. Der Versuch, in Kingsley Hall ein Haus - keine Klinik - zu schaffen, in der Psychotiker zusanmen mit einigen Rrzten leben und ihr Leben dort selbst organisieren, hat bii alien Schwierigkeiten und Konflikten immerhin die Kommunikation und gegen- seitige Unterstutzung der Patienten untereinander gefordert und diesen ProzeB selbst zu einem Therapeutikum gemacht. (4)

Selbsthilfe: den Alltag in die eigenen Hande nehmen statt ihn vorwalten zu lassen

Die Diskussion uber Selbsthilfeorganisationen, die in der Bundes- republik gerade zaghaft beginnt (5), nahm in den angel sachsischen La'ndern bereits in den 60er Jahren ihren Anfang. Empirische und theoretische Arbeiten uber Selbsthilfegruppen entstanden vor allem im Bereich der Sozialarbeit mit Randgruppen und Jugendlichen sowie im Bereich der Hochschule. (6) Die Frage, warum gerade in dieser Phase der sozial en und politischen Entwicklung westlicher Nationen Selbsthilfegruppen sich zu entwickeln beginnen, ist sehr kompliziert, und ich kann an dieser Stelle nur einige Vermutungen daruber anstel- len Zunachst einmal ist die Beteiligung von "Micht-Professionellen" im Bereich "sozialer Dienstleistungen" nichts Neues, sondern ist durch die Entstehung hochspezial isierter Berufe lediglich zuruckge- drangt worden. Was frliher in der GroBfamilie oder uber die Nachbar- schaftshilfe selbstversta'ndlich war, z.B. die Erziehung der Kinder, die Pflege der Alten, die Behandlung von leichten Krankheiten usw., wird heute von Institutionen - Kindergarten, Altenheime, Kliniken - Miernonmen. Institutionen, die oftmals durch unzureichende Versor- nima hohe Kosten sowie durch bUrokratisch-unmenschliche Beziehungs- ?ormen qekennzeichnet sind. So wird man die Entstehung von Selbst- hilfeqruppen als einen Versuch der Rlicknahme historisch verloren „lDanqener "natUrlicher Beziehungsgeflechte" begreifen konnen. (7) nie Selbsthilfebewegung kann als ein Ausdruck des Protests gegen ~ne zunehmende Verwaltung und Kontrolle des Alltags verstanden werden, als Ausdruck des Wunsches nach Selbstbestimmung und Selbst-

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organisation. Vattano sieht die Entschehung von Selbsthilfegruppen als einen Teil der Power to the people-Bewegung. als em lichen der Entwicklung von mehr Demokratie.

Die Misere der Hochschule und des studentischen AT 1 tags- -

An den Hochschulen der Bundesrepubl ik ist in den letzten J«hren, analog zu alien anderen gesellschaftlichen Bereichen ein Veriust an Demokratie zu beobachten, der die Arbeits- und Lernbedingungen in hohem MaBe beeintra'chtigt und ein Klima geschaffen hat, in dem sich eine FUlle von psychosozialen Konflikten aktualisiert . uie "Enttauschungskette Elternhaus, Schule, universitat" (8) bringt vie- le Studenten oft in ausweglose Situationen. die durch Dekompensa- tion, psychosomatische Beschwerden, Sexual- und Arbeitsstorungen, UbermaBige Hrufungsangst usw. gekennzeichnet sind. Der Zusanroenhang von Hochschulstruktur und der Aktualisierung psychischer Kontmte ist kompliziert, spezifisch studentische Stbrungen nur wenig er- forscht (9). Im Folgenden seien nur die wichtigsten Konfliktzonen genannt, die meiner Meinung nach die Misere des gegenwartigen stu- dentischen Alltags ausmachen.

1 Das heutige Angebot an Lehrpersonal und Studienplatzen hat TO! Erweiterungen in den letzten Jahren dem rapide anwachsenden Bedurf- nis nach einer Hochschulausbildung nicht standgehal ten Die Folge sind Massenveranstaltungen, zum Teil verbunden rait ^r RUckkehr

zum rrontalunterricht. in denen die Studenten kauni NWJWAtlttn ha- ben, Lehrinhalte und'deren Vermittlung mitzubestimmen sowie sinnvol I und relativ angstfrei zu lernen. Das bedeutet. daB die Moglichkei- ten, sich liber gemeinsame Arbeit in den Lehrveranstaltungen kennen- zulernen, stark eingeschrKnkt sind. Die folge sind jjolierung das GefUhl der AnonymitSt .sowie bei vielen Studenten einTTe7ita?kung ihrer Kontaktstorungen.

2 Staat und University haben auf den Widerspruch zwischen BedUrf- nis nac Hochschulbildung und realem Angebot .it Reg emen lerunge reagiert. Studienzeitverklirzungen, Verscharfung der Leistungsanfor derungen in vielen Fachern sowie Humerus clausus ** J"]"**™' die sich versta'rkend auf Probleme der PnJfungsangst, ^*Ii5^£- rungen und allgemeine LeistungsUb^r^^erung auswIrkenTTer Numerus S der bereits in~3e!TstjiuTen enorme Konkurrenzkonstellationen entstehen la'Bt, verscharft durch das Ausweichen auf abge egene FScher ohnehln schon vorhandene Motivationsproblem vi el er Stu- denten. h. die Unsicherheit in Bezug auf Studien- und Berufswahl. Lanoe Wartezeiten erzeugen daruber hinaus Erwartungen an Stud i urn t5?!wSf! "e gesellschaftllch nicht eingelbst werden konnen. Die Folge Sind EnttSuschungen und die Unsicherheit daruber. ob sich lances Marten und die Lntbehrungen wahrend des Studiuras Uberhaupt

ohnen. Die steigende Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen vor allem Lehrer, Sozialwissenschaftler, auch Naturwissenschaftler) gibt diesen Zweifeln ihre reale Berechtigung.

3 Die wahrend der Studentenbewegung erreichten EinfluBmbglichkei- ten auf Forschung und Lehre (Drittel pari tat usw.) sind den Studen- ten und dem Mittelbau inzwischen entzogen. Hinzukommen Radikalen- erlaS und Berufsverbote - Realita'ten, die nach einer Phase des En-

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gagements und der Mitbestimmung ein Klima der Resignation und Apathie. zum Teil der Unsicherheit und Angst geschaffen haben.

4. Ilinzukommt ein Faktor der studentischen Sozialisation, der exi- stiert, seitdem es Hochschulen gibt: die relativ lange Ausbildungs- zeit. Der Student befindet sich standig in dem Widerspruch, auf der einen Seite noch keinen Beruf zu haben und damit materiell ab- ha'ngig zu sein (entweder von den El tern oder von staatlichen bzw. privaten Stipendien), sich auf der anderen Seite jedoch in einem Ausbildungssektor zu befinden, der vom sozialen Prestige her allge- raein hoch eingescha'tzt wird und sowohl mit gesellschaftlichen Anfor- derungen (hohe Dual ifikation, "Spitzenkra'fte" usw.) als auch mit Versprechungen(materielle Absicherung, Ansehen) verbunden ist. Die- ser Widerspruch, noch nichts zu sein, doch sehr viel zu werden, flihrt ha'ufig zu Unsicherheiten in Bezug auf die soziale Identitat. die von GefUhlen eigener Minderwertigkeit bis zu ideal isierenden SelbstUberschatzungen reichen.

ch der Sexual ita't und Part- Eltern. Die Mbglichkeiten, therapeutischen Einzel- en zu helfen, sind wegen eschra'nkt. Hinzukommt eine gen Studenten, die erst ere therapeutische Insti- icidale Studenten'). Hier Vorurteil gegenliber psychi- en gegenliber Institutionen,

Hinzukommen spezifische Probleme im Berei nerschaft sowie Ablbsungsprobleme von den diese Konflikte in der Beratungsstelle in oder Gruppengespra'chen anna'hernd bewa'ltig geringer personeller Besetzung stark eing hohe Dunkelziffer von behandlungsbedurfti gar nicht in die Beratungsstelle oder and tutionen gehen [das gilt vor allem flir su ist vermutlich das immer noch vorhandene scher Krankheit wirksam sowie das MiBtrau die diese behandeln.

Dieter Spazier und Jbrg Bopp haben in ihrem Such "Grenzubergange. Psychotherapie als kollektive Praxis" deutlich gemacht, daB sich psychotherapeutisch orientierte Beratungsstellen an der Universitat, die bestenfalls "gegen die pathogenen Auswirkungen einer unertrag- lichen Hochschul situation bei den Patienten therapeutisch angehen" (10) ihrem eigenen Charakter, namlich Institution zu sein, nicht entziehen konnen. Vielmehr weisen die Autoren sehr deutliche Paral- lelen zwischen Hochschulstruktur einerseits und Institution ande- rerseits auf. Ebenso wenig, wie es z.B. dem Studenten moglich ist, den Dschungel Universitat zu Uberblicken, ebenso wenig vermag er Einsicht in die Entscheidungsprozesse einer Beratungsstelle zu ge- winnen. Die Patienten bleiben untereinander vereinzelt, es bleibt heim individuellen Leid, was nur in der therapeutischen Gruppe an- na'hernd anders ist; diese Real ita't entspricht der Isolierung im Mas- senbetrieb Universitat. Eine weitere Parallele ist die Vermeidung Her Aufklarung Uber das methodische Vorgehen gegeniiber den Patien- ten Das hat zur Folge, daB der Therapeut flir den Patienten zum Madier werden kann, was wiederum eine Fortsetzung der Situation an der Universitat ist, wo die Dozenten sich "als Besitzer eines uner- meBlich groBen und schwer zuganglichen Wissens in Szene setzen", m) Die mangelnde Mitbestimmung der Patienten - in der Heidelber- Lr Beratungsstelle, wo Spazier und Bopp arbeiten ,wird ein Mitbe- c+immungsmodell erprobt - entspricht der RUcknahme von Entscheidungs- mHnlichkeiten der Studenten im Universitatsbetrieb. Und schlieBlich bleiben, so Spazier und Bopp. die Zusammenhange von Gesellschaft

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und Krankheit flir den Patienten einer Beratungsstelle verdunkelt, was wiederum der Realitat an der Hochschule entspricht, wo die Ideo- logie wertfreier Wissenschaft immer noch ihre Bluten treibt. So ist eine Beratungsstelle unvermeidbar eine Institution, d.h. "ein Haus, das mit Fremden angeflillt ist" (Rohde).

... und waruni Selbsthilfe dem entgegenwirken kann

Demgeg en liber haben Selbsthilfeorganisationen - und das war eine der wichtigsten Oberlegungen bei der Gr'undung des Social Work - die Chance, sich dem Charakter einer Institution weitgehend zu entzie- hen, d.h., sie vermbgen das Therapeut/Patient-Gefalle, sowie die Ideologie von der Krankheit als individuel lem Versagen zu vermei- den. Der Vorteil des Social Work liegt also darin, daB jemand, der Hilfe braucht, sich nicht an Institutionen, professionelle Thera- peuten, die ihm haufig als anonym und schwer erreichbar erscheinen, wenden mull, sondern an Laien, zu denen sich wegen des gleichen Er- fahrungszusammenhangs oft leichter Vertrauensbeziehungen herstellen lassen. D.h. in dieseni Fall: Der Schritt, ins Social Werk zu gehen, sei es in eine Selbsthilfegruppe Oder zu dem dort anwesenden dienst- habenden Studenten, urn liber seine psychischen Probleme zu sprechen, ist mitunter leichter, als sich in der Beratungsstelle anzumelden. Es gibt dort keinen Therapeuten, der ihm aufgrund seiner Berufsrolle in der Regel als "gesund" und kompetent entgegentritt, der lhn eti- kettiert als behandlungsbedlirftigen Kranken. Stattdessen treffen sich dort Menschen mit ahnlichen Erfahrungszusammenhangen. mit ahn- lichen Konflikten, mit dem Versuch, diese erst einmal zu artikulie- ren und, wenn mbglich, zu gemeinsamen Lbsungen zu kommen. Ich will das nicht ideal isieren. Eine Selbsthilfeorganisation ist bei weitem kein Garant flir egalitare Beziehungen, sie ist auf keinen Fall frei von der Gefahr, in sich selbst eben jene institutionelle Gewalt her- zustellen, gegen die sie sich wendet (z.B. dann, wenn die Gruppen- initiatoren oder die Dienstleute sich wie "kleine Therapeuten" zu flihlen beginnen). Dennoch: Selbsthilfeorganisationen haben eine Chan- ce, Herrschaft, Macht und Angst prozesshaft zu iiberwinden, well sie mit dem Ballast "Institution" nicht befrachtet sind. Selbsthilfeorganisationen zeigen vor allem im Bereich der Drogenab- hangigkeit zum Teil betrachtl iche Erfolge. Scheff spricht von einer Heilungsrate von 55 % bei der Release-Gruppe "Syanon". (12) Daruber hinaus ist die Chance, in einer Selbsthilfeorganisation ein anderes Verstandnis von Krankheit - namlich Ergebnis gesell schaftl icher Realitaten (Familie, Universitat usw.) - zu entwickeln, zumindest gegeben, wenngleich die Erfahrungen der bisherigen Arbeit zeigen, daB die Vermittlung gesellschaftl icher und individuel ler Miseren schwierig ist.

Die Selbsthilfegruppen

Das Social Work besteht, wie gesagt, aus Selbsthilfegruppen und einem Kontakt- und Informationszentrum. Beide Arbeitsbereiche ste- hen insofern in Zusammenhang, als sich die meisten Gruppen in die- sem Kontaktzentrum treffen und sich darliberhinaus Teilnehmer die- ser Gruppen dort oft aufhalten. Die Selbsthilfegruppen werden je-

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weils am Anfang des Semesters in einem Plenum gegrundet, zu dem liber ein Flugblatt eingeladen wird.

Es gibt Gruppeninitiatoren, die sich zu einem bestimmten Thema, z.B. Partner probleme, Wohngemeinschaft, Rollenspiel, Studium und Univer- sitat usw. Gedanken gemacht haben und sich auf dem Plenum vorstel' len. Die Gruppen laufen meistens liber 1 - 2 Semester. Die Gruppen bestimmen selber, wieviel Teilnehmer sie haben mbchten, ob sie of- fen sind flir jeden usw. Sie sind also autonom, bestimmen, wie sie vorgehen und was sie machen wollen, wie oft sie sich treffen usw. Gerat eine Gruppe in eine schwierige Phase, so hat sie die Mbglich- keit, einen Mitarbeiter der Beratungsstelle zu bitten, ein paar Sitzungen an der Gruppe teilzunehmen. Das ist zu Anfang des Beste- hens der Gruppen manchmal vorgekommen, in der letzten Zeit nicht mehr. Mugl ichkeiten gegensei tiger Supervision bestehen darin, daB sich wbchentlich einmal Vertreter der einzelnen Gruppen treffen, urn ihre Erfahrungen auszutauschen. An diesem Treffen nahmen ich und der Leiter der Beratungsstelle lange Zeit teil, inzwischen trifft sich das Gruppenforum ohne uns. Dabei gab es immer das Problem, daD die einzelnen Gruppen die Tendenz haben, sich voneinander zu isolie- ren, sich nach innen abzuriegeln; deshalb war das gemeinsame Tref- fen oft nur von wenigen Gruppenteilnehmern besucht. Vielfaltige Appelle nutzten wenig, was dazu fiihrte, daB oft unbekannt blieb, was in den Gruppen passierte.

Drei Aufgaben des Gruppeninitiators

Wir haben im Laufe der Arbeit vor allem drei wichtige Aufgaben des Gruppeninitiators definieren kbnnen:

1. Er sollte, vor alien Dingen zu Anfang, die Gruppe insofern struk- turieren, als er konkrete Vorschlage zu dem jeweiligen Thema macht, urn' der G'ruppe Angst-Entlastung zu geben. Fur einige Gruppen haben wir z.B. Strukturierungsvorschlage erarbeitet: Zum Thema "Sexual itat" qab es einige Gruppen, die sich pornograf isch-aufklarerische Filme vom Institut flir Sexualforschung Hamburg besorgten, die in einer der ersten Gruppensitzungen gezeigt wurden; danach wurde versucht, uber die Geflihle und Empfindungen, die jeder einzelne hatte, zu sprechen. Am Anfang einer Gruppe mit dem Thema "Kontaktschwierig- keiten" kbnnte z.B. stehen, daB der Gruppeninitiator die verschie- denen Kontakte, die sich im studentischen All tag ergeben (Hbrsall, Seminar, Mensa, Kneipe usw.) schildert, urn so einen Einstieg in das Thema zu finden. Eine solche Strukturierung hat sich erst im Laufe der Arbeit als unbedingt notwendig erwiesen, da in vielen Gruppen in ahnl icher Weise immer etwa Folgendes passierte: Die Teilnehmer kommen zusammen mit bestimmten Erwartungen und Bedlirfnissen: bei- sjielsweise liber ihre Kontaktstbrungen oder ihre sexuellen Proble- me sprechen zu kbnnen, liilfe von anderen zu bekommen, Kontakte zu erweitern usw. Da anfangs in jeder Gruppe aufgrund des mangelnden Kennens un tereinander Angst entsteht, sind die Erwartungen nicht ad hoc zu erflillen. So stand dann auch am Anfang jeweils die Frage: uie kbnnen wir uns kennenlernen, urn eine Atmosphare zu schaffen, die das Reden Liber Probleme liberhaupt erst ermbglicht. Es erwies sich dabei als schwierig, diesen ProzeB des Kennenlernens ohne ein Vorgehens-Konzept zu gestalten. Oft geriet der Appell : "Wir wollen uns kennenlernen" zu einem zahen Kreisen urn sich selber, rief Angstf

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Langeweile oder Aggressivitat hervor. Aus diesen Erfahrungen er- wuchs die Konsequenz, die Gruppen weit mehr nach flexiblen Projek- ten zu strukturieren, wobei neben thematischen Vorschlagen auch ge- meinsame Unternehmungen stattfanden, z.B. gemeinsam ein Wochenende wegzufahren.

2 Eine weitere Aufgabe, die der Gruppeninitiator erfullen sollte, ist die Siindenbockentlastung. D.h. : Wenn die Gruppe - und das pas- siert beinahe regelhaft mindestens einmal - ein solches MaB an Ent- tauschung, Aggressivitat oder Angst entwickelt, daB sie diese Ge- fiihle nicht mehr bewa'ltigt und sie auf das schwachste Mitglied der Gruppe delegiert, sollte der Gruppeninitiator eingreifen, indem er diesen ProzeB verbal isiert oder sich selbst zum Siindenbock macht, indem er die Meinung, Haltung des Sundenbocks noch Ubertrifft und damit die jeweiligen Gefuhle auf sich zentriert.

3. Der Gruppeninitiator soltle darauf achten, dalJ die Teilnejimer im Sinne der themenzentrierten interaktionellen Methode "ich sagen statt "man", d.h. jeweils von ihren authentischen Gefuhlen sprechen statt sich an vorgegebene Klischees zu halten oder die Gefuhle an- derer zu interpretieren.

Das Rotationsprinzip: jeder kann diese Aufgabe wahrnehmen

Wenn eine Selbsthilfegruppe befriedigend verlauft, so werden diese drei Funktionen allmahlich auch von den anderen Teilnehmern, je nach Situation, ubernommen werden konnen. Hier liegt auch der wicntigste Unterschied zu alien professionellen therapeutischen Gruppen: Wahrend sich dort ausschl ieBl ich der Therapeut bestimmter, fur den Erfolg des Gruppenprozesses notwendiger Techniken bedient, die aulier- dem Liber die drei genannten Funktionen hinausgehen bzw. sich auch von ihnen unterscheiden, soil en in Selbsthilfegruppen diese Funktio- nen nach dem Rotationsprinzip von alien Teilnehmern ubernommen wer- den. Die Erfahrungen aus den einzelnen Gruppen bestatigen, dau lmmer dort, wo das annahernd geschieht, ein Gruppenklima der Offenheit und des Wohlgefiihls zu finden ist. Es wurde immer dann schwieng, wenn sich aus der Gruppe heraus - und das muBte nicht unbedingt der Grup- peninitiator sein - ein "Gruppenflihrer" herausschalte, dessen Domi- nanzproblematik offensichtlich war. Oft kann sich eine Gruppe gegen derlei Dominanz nicht wehren. In einer Selbsthilfegruppe, an der ich auf deren Wunsch hin zweimal teilnahm, stellte sich z.B. heraus, dafi der Gruppenfuhrer nur deshalb so schwer zu entmachten war, well er mit sehr subtilen Andeutungen der Gruppe androhte, daB er, falls man inn entthronen wolle, die ganze Arbeit - und er tat viel fur die AuBenarbeit der Gruppe - hinschmeiBen wurde. Das Gruppenklima anderte sich erst, als einige in der Gruppe aktiver wurden, neue hinzukamen und der "Gruppenfuhrer" die Gruppe verlieB.

Selbsthilfegruppen fbrdern Autonomie statt Abhancjigkeit

Selbsthilfegruppen sind also weit mehr als professionell-therapeu- tische Gruppen auf die Aktivita't aller Teilnehroer angewiesen. Exi- stenz und Erfolg von Selbsthilfegruppen sind abhangig von der Be-

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reitschaft der Teilnehmer, von ihren authentischen Erfahrungen zu sprechen, den anderen zuzuhbren, jemanden gegebenenfall s zu entla- sten und Fahigkeiten zu entwickeln, stagnierende, angstmachende Situationen zu bewaltigen. Das, was in der traditionellen Therapie am Ende des therapeutischen ProzeBes stehen soil: Die Kompetenz zur Selbsthilfe wird hier von Anfang an zu einem Schwerpunkt des Prozesses selbst. Darin liegen die Chancen, egal i tare, statt wie in der professionellen Therapie asymmetrische Beziehungen herzustellen. Lukas Moeller spricht vom "Auff orderungscharakter" , der in den Selbsthilfegruppen liegt: "Die Gruppentherapie ist therapeutenzen- triert und niobil isiert dadurch Abhangigkeitstendenzen, Passivita't und Regression. In der Selbsthilfegruppe fehlt der Therapeut, an den man sich anlehnen bzw. anhangen kann. Durch die Auf f orderung , sich selbst zu helfen, werden statt Abhangigkeitstendenzen Autono- mietendenzen aktualisiert. Der psychodynamische ProzeB in einer Selbsthilfegruppe steht also unter ganz anderen Bedingungen, folgt ganz andern Gesetzen ... Wahrscheinlich sind aus diesem Grunde die Interaktionen direkter und harter, tiefe Regression seltener und das Gruppenerlebnis mehr von aktuellen Problemen und weniger von vergangenen Beziehungen, etwa zu den Elternf iguren bestimmt" (13).

Auch Vattano betont, daB in den meisten Selbsthilfemodellen die pjoenyerantwortung (responsibility) eine groBe Rolle spielt, d.h.

Hie Aktivita't des Einzelnen ,sich zu verandern, wird mobil isiert, z.T. auch mit Hilfe moral ischer Kodices, wie z.B. bei den Anonymen Aikoholikern (14).

qplbsthilfegruppen regulieren sich selbst

Das Vermeiden tiefer Regression ist auch als ein wichtiger Selbst- schutz von Selbsthilfegruppen zu verstehen. Die Erfahrungen unserer Selbsthilfegruppen haben gezeigt, daB die Angst und Vorbehalte von Seiten vieler Professioneller, aber auch von Seiten der Studenten unbegrundet sind: DaB namlich Selbsthilfe gefahrlich sei, weil dort ein Fachmann fehle, um schwere Dekompensation, psychotische Schlibe, Suicidal itat usw. aufzufangen. Es herrscht offensichtlich eine gut funktionierende Selbstregulation in diesen Gruppen, so daB man eher sagen kann, daB in ihnen zu wenig als zuviel passiert. Das wird be- statigt durch vergleichende Untersuchungen in den USA, wo Selbst- hilfegruppen und Therapiegruppen verglichen werden, u.a. im Hinblick auf krisenhafte Verlaufe. Ein Ergebnis ist: "Das Schlechteste, was nassiert, war nicht, daB zuviel passierte, sondern zu wenig." (15) Auf der anderen Seite ist mir der Ruf nach dem "Fachmann" einsich- tin und ich nehme ihn ernst. Denn die in der Selbsthilfe geforderte Autonomie ist eine Zumutung. Das Fehlen der Mbglichkeit tiefer Re- gression, wie sie z.B. in der Psychoanalyse geschehen kann, ist ein Manael In der Selbsthilfe wird von den Beteiligten etwas Paradoxes Lprlanqt: sie sollen das bereits (tendenziell ) sein, was sie erst wprden wollen: autonom. Diese Zumutung ist m.E. auch der Grund da- fNr daB trotz des immensen psychosozialen Leids, das therapeutisch vBiiig unterversorgt ist, Selbsthilfeorganisationen nur sehr zbgernd sich zu entwickeln beginnen.

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Typische Unterschiede zwischen Therapie- und Selbsthilfeqruppen

Stanley Dean hat in Anlehnung an N. Hurvitz typische Unterschiede zwischen professional ler Therapie und Selbsthilfe-Gruppen zusammen- gestellt, von denen ich die wichtigsten, die sich auch als Ergebnis unserer Arbeit formulieren lassen, herausstellen mbchte:

Traditionelle Psychotherapie

1. beruflicher, autorisierter Therapeut

2. Honorar

3. therapieorientierte Atmos- phare (PsychiaterbLiro, Klinik usw.

4. Psychiater wird als "normal" wahrgenommen, identifiziert sich nicht mit dem Patienten

5. Therapeut ist kein Rollen- vorbild, setzt keine person- lichen Beispiele

6. Therapeut ist unkritisch, nicht-urteilend, neutral, aufmerksam

7. die Patienten b'ffnen sich einseitig dem Therapeuten gegenliber, Enthlillungen sind geheim

8. Patienten erwarten, nur Hilfe zu bekommen

8. Der Therapeut akzeptiert ... die Krankenrolle, ent- lastet den Patienten, schiebt die Schuld auf die Ursachen

Selbsthilfeqruppen

nichtprofessioneller Leiter,

Gruppenparitat

frei

nichttherapieorientierte Atmos-

phare (Kirchen- und Gemeinde-

raume, Stadtteiltreffpunkte etc.)

Peers sind gleichermaBen leidend,

identifizieren sich untereinander

Peers sind Rollenvorbilder, miissen sich gegenseitig Beispiele geben

Peers sind aktiv, urteilend, unter- stiitzend, kritisch, redend

Peers bffnen sich gegenseitig, Enthiillungen werden geteilt

Patienten miissen auch Hilfe

geben

die Patienten weisen die Krankheits-

rolle zurlick, halten Mitglieder

flir verantwortl ich (16)

Das Verhaltnis: "Selbsthelfer'V'Experte" oder: wie flihle ich mich im Social Work?

Es war fur mich von Anfang an ein Beratungsstelle, entwickelte ein also etwas, von dem man gemeinhin die Studenten - das selber entwic Ziel sein sollte, mich uberfllissi ein Dilemma: denn wer wird schon dem Social Work gegenliber waren s stehungsgeschichte: ein Schwanken Haltung (kbnnen die das denn auch mit dem Drang, Liberal 1 "fachkundi (17) und einem etwas gekrankten L 'ach, die kommen ja ohne mich aus leichte Empbrung darliber verbarg, was meiner Tatigkeit zumindest ah und Geld aufbringen muB, urn es zu

. Widerspruch: ich, Angestellte der Selbsthilfekonzept fiir Studenten, rannimmt, da|3 die Betroffenen - keln. Ich initiierte etwas, dessen g werden zu lassen. Und das ist gern iiberfllissig? Meine Gefuhle tets so ambivalent wie seine Ent- zwischen liberbesorgt-skeptischer wirklich alleine?), verbunden g" Hilfestellung geben zu wollen inks-liegen-Lassen im Sinne von: , wobei sich oftmals dahinter daB die Studenten da etwas tun, ml ich ist, wofiir ich jedoch Zeit lernen; (allerdings auch Geld da-

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fiir bekomme, daB ich es praktiziere). Und selbst wenn ich innerlich bereit bin oder sogar den Wunsch habe, meine Therapeutenprofession im Social Work hintanzustel len, sie la'Bt sich nicht abstreifen wie eine zweite Haut, weil es immer Studenten im Social Work gibt, die diese Rolle an mir sehen wollen und befremdet darauf reagieren, wenn ich beginne, von mir zu erzahlen.

Kontakt- und Informationszentrum

Das Kontakt- und Informationszentrum besteht aus einer zusammen- ha'ngenden Wohnung mit 3 1/2 Zimmern und einer KLiche im Haus der universitaren studentischen Beratungsstelle. Je nach Kapazitat ist dieses Zentrum entweder Tag und Nacht oder bis Mitternacht gebffnet und jeweils von mindestens einem Diensthabenden besetzt. In dieser Wohnung ist auch ein Telefon. Das Zentrum soil etwa folgende Mbg- lichkeiten bieten:

1. Wenn sich jemand in einer akuten Konfliktsituation befindet, soil er die Mbglichkeit haben, mit dem dort Anwesenden zu sprechen oder inn anzurufen. In auBerst schwierigen Fallen besteht die Mbglich- keit der Kontaktaufnahme mit einem Mitarbeiter der Beratungsstelle.

2. die Sel bsthi 1 f egruppen kbnnen sich im Kontakt- und Informations- zentrum treffen.

3. In den Raumen sol len Mbglichkeiten vielfaltiger Kontakte gegeben werden: Musik machen, malen, spielen, Feste feiern usw. Dariiber hinaus kbnnen Uber den Austausch von Adressen Kontakte spezifischer Art geschaffen werden: Studenten mit gleicher Fachrichtung, die sich zu genteinsamen Studien zusammenf inden oder eine Examensgruppe bil- den, die Organisierung von Ferienfahrten, Wohngemeinschaften usw.

4. In Arbeit ist eine Art Infqrmationskartei i, die es dem Studenten ermbglichen soil, sich durch den Dschungel der Universitat besser zurecht zu finden, d.h. die jeweils Diensthabenden sollen liber Bafbg-Bestimmungen, Wohnheimplatze, Numerus-clausus-Modal ita'ten, Studiengange und Examensbestimmungen, Therapiembgl ichkeiten in Gbt- tingen usw. Informationen bereitstehen haben. AuBerdem sind Kontak- te zu einigen Assistenten verschiedener Fachbereich aufgenommen worden, die in besonderen Fallen von Arbeits- und Examensschwierig- keiten mit dem Social Work zusammenarbeiten. Hinzu kommen Einzel- hilfeleistungen, so daB in einigen Fallen ein Student des Social Work jemandem dabei behilflich war, seine Examensarbeit fertigzu- stellen. Das heiBt: das Kontakt- und Informationszentrum ist sowohl eine Art Auskunftbliro als auch Anlaufstelle fiir akute Kriseninter- vention sowie Zentrum fiir vielfaltige Tatigkeiten und Kontakte.

i^nnflikte: das Problem "offenes Haus"

Fine Erfahrung ist, daB gerade der letzte Bereich in der Selbstdar- stellung nach auBen offensichtlich vernachlassigt wurde, so daB im- mer wieder das Image entstand, das Social Work sei ausschlieSlich Anlaufstelle fur "Ausgeflippte". Dieses Problem wurde dadurch er- schwert, daB sich phasenweise Drogensiichtige, arbeitslose Jugendli- cne mit schweren Al koholproblemen, zum Teil auch "Knackies" im social Work aufhielten und das Klima weitgehend bestimmten. Diese Situationen sind jeweils in doppelter Hinsicht problematisch: Zum

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einen gefahrden sie die Existenz des Social Work Jberhaupt. Der halbinstitutionelle Charakter des Social Work - auf der einen Seite eine studentische Selbsthilfeorganisation ohne standige Kontrolle von Seiten der Universitat, auf der anderen Seite Teil des Umver- sitatsbetriebes (Raume) - ermbglicht zwar eine Handlungsautonomie, die sich jedoch nur relativ, in einem bestimmten Spielraum bewegen kann. Zu ernsthaften Konfl iktzuspitzungen ist es bisher nicht ge- koimien. Der zweite schwierige Punkt ist, daB sich viele Studenten, die neu ins Social Work koramen, von einem solchen Kl ima abgestoiien fuhlen Diese Probleme sind immer wieder diskutiert worden Antangs bestand die Konzeption, nichtstudentische Jugendliche nur dann ins Social Work zu integrieren, wenn sich Studenten bereit fanden, nnt ihnen sozial-therapeutisch zu arbeiten. Diese Versuche Sind, was langfristige Arbeit angeht, gescheitert. Was gelang, waren akute Kriseninterventionen: Es passierte einige Male, daB Jugendliche, von Zuhause weggelaufen, im Social Work landeten. Die Hilfestellung, die wir geben konnten, war, herauszufinden, in welcher Situation sich der Jugendliche befand. Das muBte moglichst schnell geschehen, da wir uns sonst strafbar gemacht hStten. In der Regel gelang es, gleich am nachsten Tag einen Termin bei der "Kontaktstelle fur Jugendliche in Gbttingen zu bekommen, die sich speziell urn Probleme von Jugend- lichen kummert. In einem Fall konnte anschlieBend ein familien-the- rapeutisches Gesprach stattfinden, was deshalb leicht moglich war, weil der Leiter der Beratungsstelle, Eckhard Sperling, eine tami- lientherapeutische Abteilung an der Universitat leitet.

Der "Dienst"

Das Arbeitsfeld "Diensf'war immer der problematischste Bereich im Social Work. Auf der einen Seite bestand bei vielen Studenten, die sich urn Dienst bereitfanden, ein diffuses Gefiihl von Oberforderung. das sich jedoch oft nur in der Angst vor dem nicht Vorhersehbaren, vor dem, was an einem Abend auf sie zukommen konnte, auBerte. In der Regel war es oft umgekehrt: Es gab Zeiten, wo nur wemge Studen- ten das Social Work deshalb aufsuchten. weil sie ein konkretes Pro- besprechen wollten. Der zweite Grund fur die Schwiengkeit 1 St mines Erachtens darin, daB die Diensthabenden unter sich nur weniq Kontakt haben. In der Anfangsphase bestanden engere Kontakte durch gemeinsam veranstaltete Wochenenden auf dem Land, wo wir uber die Konzeption des Social Work diskutierten, gemeinsam kochten, aBen und tranken. Das kontinuierlich zu gestalten ist oft deshalb schwie- ria weil die Dienstleute fast jedes Semester wechseln und wir uns standiq neu auf die Suche nach Interessenten machen mussen. Ein oft diskutierter Plan wird nun in Angriff genommen werden: Die Grundung einer Art Balint-Gruppe, die von mir und Bernhard Achterberg gelei- tet wird In dieser Gruppe sollen die Dienstleute die Moglichkeit haben, uber ihre Gefuhle, Kngste usw. zu sprechen, die sie speziell wahrend ihrer Arbeit im Social Work, mit Leuten, die sie urn Rat bit- ten, haben. Diese Gruppe soil auBerdem ein Stuck Selbsterfahrung ermbglichen und die Beziehung zwischen den einzelnen Dienstleuten klaren helfen. Eine weitere Einrichtung ist ein Erstgesprachstrai- ninq das von Bernhard Achterberg eingerichtet worden ist. Die Zu- sammenarbeit mit dem "KiK" (18), das gerade in der Aufbauphase ist, ist eingeleitet; das "KiK" ist vor alien Dingen als Anlaufstelle

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fur nicht-studentische Beviilkerungsgruppen konzipiert.

Die theoretischen Diskussionen, die wir zwischendurch immer wieder flihrten, kreisten in der Regel urn folgenden Punkt: Es wurde als ein Mangel empfunden, daD die gemachten Erfahrungen in den Gruppen und im Kontaktzentrum nicht ausreichend nach auBen, in die Hochschule hineinwirkten. Oft wurde das Social Work als eine Art Insel erlebt, die sich urn die universitare Misere kaum kummert. Das ist, meiner EinschStzung nach, richtig und falsch zugleich. Es ist richtig, weil es uns bisher tatsachlich nicht gelungen ist, liber sicherlich wich~ tige Entlastungen vom Universitatsbetrieb hinaus zu nach auBen wirk- samen Aktionen zu gelangen, die die Hochschulmisere selbst in Angriff nehmen; was wiederum kein Wunder ist bei der derzeitigen politischen Situation. Diese Einschatzung ist jedoch insofern falsch, als ich meine, daB die Moglichkeit der Selbsterfahrung, die Moglichkeit, Liber die eigene Misere zu sprechen, die sich dann in der Regel als kollek- tive herausstellt, die Anstrengung, zu ein wenig anderen Kontakten, als sie an der Universitat vorherrschen.zu gelangen sowie der Ver- such, den Universitatsbetrieb ein Stuck weit zu unterlaufen, durch- aus politische Dimensionen in sich birgt.

Anmerkungen:

(1) Vorgestellt in einem Seminar uber Selbsthilfegruppen auf den Lindauer Psychotherapiewochen 1975 und zusammengefaBt unter dem Titel "Selbsthilfegruppen in der Psychotherapie" , in: Praxis der Psychotherapie, Bd. 20, Heft 4, Berlin 1975. Eine weitere Arbeit von Moeller liber Selbsthilfegruppen ist fur die Juli-Nr. von "Psychologie heute" (Beltz-Verlag) angekundigt. Sie lag bei Re- daktionsschluB noch nicht vor.

(2) M.L. Moeller, Selbsthilfegruppen, a.a.O. S. 4

(3) Einen Teil der folgenden Informationen verdanke ich Bernhard Achterberg, Gbttingen, der mehrere Male in London war und im "Cope" mitgearbeitet hat, sowie Barbel Konrad, Gbttingen, die in diesem Jahr in London war und das Cope und das Synanon besucht hat. C.O.P.E. heiBt: Community Organisation fore People's/ Psychiatric Emergencies

(4) Vgl. die Arbeiten von Laing und Cooper sowie, speziell uber Kingsley Hall, Mary Barns, Meine Reise durch den Wahnsinn, Munchen 1973

(5) 1974 gab es auf der Jahrestagung der "Deutschen Gesellschaft fur Soziale Psychiatrie" in Andernach ein Seminar zum Thema "Selbst- hilfegruppen" (Leitung: Klaus Dbrner, Hamburg). 1975 fand, wie gesagt, zum gleichen Thema ein Seminar in Lindau statt.

ic\ ugi. Vattano, Anthony J., Power to the people: Self-help-groups, v in: Social Work, Vol. 17 (4), Manila 1972, S. 7-15. Scheff, Tho- mas J-, Reevaluation Counseling: S cial Implications, in Journal of Humanistic Psychology, Vol. 12 (1) Waltham 1972, S. 58-71 Kutz, Alfred H., Self-Help-Organizations and Volunteer Participa- tion in Social Welfare, in: Social Work, Vol. 15 (1), 1970. Dean, Stanley R., Self -Help-Group Psychotherapy: Mental Patients Rediscover Will Power, in: The International Journal of Social Psychiatry, Vol. 17 (1), 1971. Berzon, Betty und Lawrence N. Solomon, The Self-Directed Thera-

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peutic Group: Three Studies, in: Journal of Counseling Psycho- logy, Vol. 13 (4), Dubuque 1966

(7) Vgl z B. Thomas J. Scheff, der Liber eine Form der therapeuti- schen Selbsthilfe, die "Peer Self-Help Psychotherapy Groups" sagt: "PSHPG would seem to offer 'artificial' social networks to replace the natural networks (class, extended families, neighbourhood cliques, etc.) that are fast disappearing in the Western World", a.a.O. S. 60

(8) Eugen Mahler, Psychische Konflikte und Hochschulstruktur, Frankfurt/M. 1971, S. 34

(91 Vgl. Eckhard Sperling/Jurgen Jahnke, 2 ischen Apathie und Pro- test Bd 1 u. 2, Bern 1974; Eugen Mahler, Psychische Konflikte und Hochschulstruktur, a.a.O.; Horst-Ulfert Ziolko (Hrsg.) Psychische Stbrungen bei Studenten, Stuttgart 1969; Michael L. Moeller/J.W. Scheer, Psschotherapeutische S udentenberatung, Stuttgart 1974.

(10)Spazier/Bopp, Ffm. 1975, S. 76 11 Spazier, Bopp , Grenzuberga'nge. . ./a.a.O. S. 78

(12)Vgl. Thomas 0. Scheff, [Revaluation Counseling

(13)M.L. Moeller, Selbsthilfegruppen ... S. 10

(14)Vgl. A. J. Vattano, Power to the people ... S. 14 15 Berzon, Betty an Lawrence N. Solomon, T e S lf-Directed Therapeutic Group, a.a.O. Seite 491 (Ubersetzung von rair)

(16)Hurvitz, N., Similarities and differences between peer self-help psychotherapy groups and professional psychotherapy. 9ehalten auf dem 76. Jahrestreffen der "American Psychol. Assoc. 1968 in San Francisco, referiert in: Dean, S., Self-Help Group Psycho- therapy ... a.a.O. S. 146 (Obersetzung von mir)

(17)M L Moeller vergleicht diese Haltung zutreffend imt der

"overprotective mother". Vgl.: Selbsthilfegruppen a.a.O. S. 6.

(18) "KiK" hei(3t "Kontakt in Krisen", vgl. Aufs. Achterberg

a.a.O.S. 60

AUSGEWAHLTE LITERATUR

A.Oie Theoretischen Hintergrlinde

Brlickner P6t6r*

Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Frankfurt 1972 (eva);

Goffman, Erving:

Asyle, Frankfurt 1972 (suhrkamp theone)

Stigma, Frankfurt 1969 (suhrkamp theorie)

Interaktionsrituale, Frankfurt 1974 (suhrkamp theorie)

(Alle Schriften von Goffman, der einen soziologischen Ansatz ver-

tritt, befassen sich vor allem nit der Frage, was zwischen den Men-

schen ablauft, wie "abweichendes" Verhalten entsteFt und behandelt

wird. Durch die zahlreichen Beispiele und eine sehr klare Sprache

gut lesbar.)

- 72

Laing, Ronald D.

Phanomenologie der Erfahrung, Frankfurt 1972, (edition suhrkamp)

Das geteilte Selbst (k&w, neuerdings auch als billiges Tb)

Das Selbstund die Andern (k&w)

Politik der Familie (k&w)

(Laing wird von vielen als der bedeutendste Theoretiker in der Be-

grlindung der Antipsychiatrie angesehen. Er wendet - als ausgebilde-

ter Analytiker - existentialistisches Denken radikal auf jene Berei-

che menschlichen Verhaltens an, die bi'sher als krank abgestempelt

werden. Vgl. etwa auch die psycholog ischen Aussagen von Sartre.)

Parow, Eduard:

Psychotisches Verhalten und Umwelt. Eine sozialpsychologische Inter-

suchung, Frankfurt 1972

Szasz, Thomas:

Geisteskrankheit - ein moderner Mythos. Frankfurt 1973

(Szasz hat sich am konsequentesten mit dem Problem gesellschaftl icher

Herrschaft und UnterdrJckung im Psychiatrie-Bereich befaBt. Er kommt

zu dem SchluR, da|3 es Geisteskrankheit im klassischen Sinne nicht

gibt, sondern daB Patienten etwas von der Gesellschaft gemachtes

sind.)

Eine gute Zusammenfassung uber die Ideengeschichte dieser Ansatze

bietet:

BLihler, Charlotte/Allen, Melanie:

Einfuhrung in die humanistische Psychologie, Stuttgart 74 (Klett:

Konzepte der Humanwissenschaften)

B. Praxis-Berichte, Konzepte (z.T. mit wesentlichen theoretischen Reitragen kombiniert. )

Cooper, David:

Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, Frankfurt 1971 (edition suhrkamp)

Basaglia, Franco (Hrsg.):

Die negierte Institution, Frankfurt 1971 (edition suhrkamp)

Moeller, Michael L.:

Selbsthilfe-Gruppen in der Psychotherapie, in: Praxis der Psychothe-

rapie 20/4 (Berlin 1975)

Spazier, Dieter & Bopp, Jbrg:

Grenzuberga'nge. Psychotherapie als kollektive Praxis, Frankfurt

1975 (edition suhrkamp)

- 73 -

BERUFSVERBOTE

und polititische

DISZIPLINIERUNGEN

im Bereich Sozialarbeit und Erziehung

Preis: DM 2,~

Bezug: FHSS-Komitee gegen Berufsverbote.Gol tzstr. 43/14, 1 Berlin 30

MATERIALIEN/KLEINANZEIGEN

I Bl ickpunkt Auslander, auf 50 S. Untersuchungen Uber die Situation auslandischer Arbeiter in der BRD und anderen Staaten, Berichte von Initiativen, Nachrichten etc. Gegen Voreinsendung von DM 3.- zj beziehen bei Centre EuropSen Iinmigres c/o SCI Rbmerstr. 324, 53 Bonn.

I Aktion Jugendhaus Wertheim - Dokumentation eines uber 6 Jahre dau- ernden Kampfes urn ein selbstverwaltetes Jugendhaus, Erfahrungen und Einschatzungen. Gegen Vorauszahlung von DM 3.50 auf das Konto Aktion Jugendhaus Sparkasse Wertheim Nr. 380 637 9 (Stichwort: Doku), Muhlenstr. 7, 598 Wertheim

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i Pastor Bollmann notgedrungen oder die Veranderung der Welt in Bitterstedt, Werkbuch zur Darstel lung des gesellschaftl ichen Macht - kampfes in der Kirche. Herausgegeben von der ESG Hamburg, Grindel- allee 9, 2 Hamburg 13

i Griines Heft zum Berufsverbot - Aktion Mr. 2 - Berichte, Stellung- nahmen, Aktionen und Material ien. Bezug: Aktion Siihnezeichen, Jebenstr. 1, 1 Berlin 12

Da(3 Du untergehst, wenn Du Dich nicht wehrst, das wirst Du doch ein- sehen - Nachrichten aus einem westdeutschen Gefangnis - ein Bericht Liber die Inhaftierung von Gertrud Will; 52 S., DM 2.-; Bezug: Frauenoffensive, Josephsburgstr. 16, 8 Mlinchen 80 Emanzipatorische Arbeiterbi ldunq "Zusammen Leben - Zusammen Lernen", eine Dokumentation uber den Versuch selbstbestimmter Arbeiterbil- dung im Rahmen eines "selbstverwal teten" Volkshochschulheims. Gegen Voreinsendung von DM 4,50 (Scheck o. Briefmarken) zu bestel- len bei: Renate Rover, Sachsenring 6, 5 Kb'ln 1. Johanna - Duisburger Zeitschrift fiir Jugend, Kultur und Politik, u.a. ein Interview mit dem Drogenexperten Andrew Weil; Bezug: Heiner Wostefeld, Lutherstr. 1, 41 Duisburg 1. Medi en-Material : a) MPZ Nr. 1 Zur Theorie und Praxis politisch- padagogischer Medienarbeit; Nr. 2 Gewerkschaftl iche Medienarbeit; fjr. 3 Zur Medienarbeit mit Jugendl ichen im Freizeitbereich; Bezug und weitere Informationen uber Medienpadagogik-Zentrum Ham- burg e.V., Grindelhof 59c, 2 Hamburg 13; b) Material ien zur Medien- arbeit entwicklungspol itischer Gruppen; Bezug: Zentrum flir audovi- siuelle Offentlichkeitsarbeit, Clemensstr. 120, 8 Mlinchen 40; c) Video-Praxis - Erfahrungsberichte mit und Liber Videoarbeit am Institut fur Publizistik in Miinster, 40 S., DM 2.50; gegen Vorein- sendung von DM 2.50 zu beziehen liber: Karl-Ulrich Burgdorf, Pangelantonweg 1 1 , 44 Miinster.

75 -

I Alternative AdreBbuch '75 - Uber 360 Adressen und Projekte finden sich nach Postleitzahlen geordnet in dem griinen Handbuch, das zum Selbstkostenpreis von DM 6,48 Liber Heike Hesse, Darmstadter Landstr. 180, 6 Frankfurt 70, PScHKto Frankfurt 335309-602 zu be- ziehen ist.

I Kreuzberger Stadtteil zeitung uber die Probleme von Obdachlosen, die Auseinandersetzungen mit der Sozialblirokratie, die Arbeit von Ini- tiativgruppen und den Kampf der Mieter im Stadtteil; Bezug: Ulrike Urban, Fuggerstr. 33, 1 Berlin 30.

0 Schorndorfer Blattle - die Zeitung des JZ Hammerschlag; den ersten Jahrgang (Nr. 1 - 10) gibt es flir DM 6.- in Briefmarken bei Ernst Bartl, Langestr. 25, 7060 Schorndorf.

0 Gegen Knast - Zeitung des Informationszentrums fur Gefangenengrup- pen; Bezug IFG c/o Inga Schaefer, Brandenburger Str. 32, 48 Bielefeld 1.

STELLENANGEBOTE/STELLENSUCHE

I 7ivildiensts telle im Bereich der kirchlichen Jugendarbeit zum Jan /Febr. Wl Th Darmstadt frei. Die Stelle ist an em Zivil dienstmodell (Gruppentreffen und Beratung) angesch ossen und ble- tet auch die Mbglichkeit zur Ableistung eines /nerkennungsj. res; Informationen: Sozialer Friedensdienst. Kiesstr. 18, 61 Darmstadt.

Rpwahmngshilfe Nienburg sucht Sozialarbeiter; Kontakt:

M Alterauge, Goetheplatz 5, 307 Nienburg/Weser, Tel.: 05201/13812 I Sozialarbeiter fur knmmunales Juqendzentrum fur sofort gesucht - mdqlichst mit Berufspraxis. Information 05221/54420

Ktschule im Hochtaunuskreis hat Planstelle fur Schulpsvcholoqen. in Aussicht. Anfragen unter Chiffre 9/12 an Sozialistisches Buro

GeSht'werden 2 Genoss(inn)en fur den Ayfpau eines Jugend- und SnLmikationszentrums (Hauptschiiler- und Berufsan angeraroeit Polit- und Gewerkschaftskurse); erwunscht sind politische und prak- tische Erfahrungen in der Jugend-/Gewerkschafts- und Orgamsations- arbeit sowie der AbschluB als Sozialarbeiter/-padagoge grad. Bewerbungen an: SJD-Die Falken, Walderseestr. 100, 3 Hannover 1,

WohngeSelnSft in Diisseldorf sucht dringend 7;iyildienstleisten- HCn fiir Kinder-und Jugendarbeit im Stadtteil; Tel.: 0211/392994

. ftTbiitsTase HauptschullehreriM25 J) sucht in der Region Dortmund- Haqen - Miinster Arbeit, insbes. mit Hauptschulabgangern und jugend- lichen Arbeitslosen. Angebote unter Chiffre 9/15 an Sozialistisches

Sozialpadaqoqin_irjipl_L sucht Stelle im Raum Frankfurt mbglichst in einer Beratungsstelle Oder im Rahmen eines Projekts mit Jugendli- chen. Nolli Demmer, Florsheimer Str. 9, 6 Frankfurt.

Suche Stelle als Sozialarbeiter ab April 77 (Examen Febr./Marz 77). Studienschwerpunkt: Gemeinwesenarbeit und Familienberatung. Bin

25 J. alt, verh., wohnortunabhangig. Praxiserfahrungen: Praktikum in der Faf'u und in einem Jugendzentrum in Selbstverwaltung; 7-mo- natige Tatigkeit in einem Wohnkollektiv fur straffallig gewordene Jugendliche und in einem Jugendzentrum in Selbstverwaltung seit 15 Monaten. Abgeschlossene Mechanikerlehre.

76

Volkswirt f Dip] ) mit Padagogik im Nebenfach und praktischer Erfah- rung in der Bildungsarbeit sucht Stelle in der auBerschulischen Erwachsenen- Oder Jugendbildungsarbeit. Zuschriften unter Chiffre 9/17 an Sozialistisches Buro.

I Sozialpadaqoge (Dipl) und Sozial therapeut sucht zum Januar 1977 Stelle (auch Teilzeitarbeit) in der Beratungsarbeit, Bildungsar- beit oder Fortbildung sozial padagogischer Berufe; F. Buer, Waren- dorferstr. 138, 44 Munster.

I Padaqogin ("Dipl) mit 1. Lehrerexamen sucht Stelle in der Auslander- arbeit, Frauenarbeit, Jugendarbeit oder Erwachsenenbildung; Team- arbeit Bedingung; Dorothea Staudinger, Sofienstr. 6, 74 Tubingen.

Zwei/Drei Diploiiisozialpadagoqikstiidenten mit langerer Praxiserfah- rung in der Kinderarbeit wollen "alter" werden und suchen Mbglich- keit zur kollektiven Praxis im Bereich der politischen Jugendbil- dung fur ihr Hauptpraktikum (6 Monate), Tips und Angebote bitte

an Schiilerhort Mlinzgasse 7, 74 Tubingen. | Erzieherin, 23 J. mit drei jShriger Beruf serf ahrung, sucht ab Januar

1977 neue Stelle in Heidelberg (z.Zt. in Sonderschule tatig);

Susanne Bulka, Beutingerstr. 25, 71 Heilbronn. I Sozialarbeiter (3) suchen ab Dezember 1976 Berufspraktikantenstel-

len, mbglichst im Bereich Bildung, Beratung, Freizeit, GWA, in

NRW oder Raum Heidelberg; Kontaktadresse: Lutz Reich, Parkstr. 10,

405 Mbnchengladbach 1. I s^j<;he Berufspraktikantenstelle im Raum Hannover - Bremen - Liine-

burger Heide; Dieter Braun, Memeler Str. 11, 2132 Visselhbvede.

MATERIAL I EN/ERFAHRUNGSBERICHTE GESUCHT

I "Jugendarbeitslosigkeit": Gegenbkonomie, Genossenschaftsbewegung,

Selbstorganisation - Ute Wlirtz, Steinfurterstr. 35, 44 Munster. I "Jugendzentren als Beispiel zur Politisierung des All tags".

Dieter Hupka, Goethestr. 13, 404 Neuss. I "Theaterspiel als Methode im politischen ErkenntnisprozeB Jugend-

licher". Beate Miiser, Leimbachshbfer Str. 7, 6418 Hiinfeld 17. | "Amerikanische GWA/Basisorganisationen in USA/Hollandische GWA/

Italienische Stadtteil arbeit/GWA und Stadtteilarbeit in der BRD".

Biete Unkostenerstattung und/oder Materialaustausch.

Rainer Burgey, Sudetenstr. 2, 355 Marburg. I "Schiller- und Lehrlingstheater". Christa Hesse, Nordstr. 32,

44 Munster. I "Al ternativen zur Heimerziehung". K. Ekhoff, Schwachhauser Heer

Str. 103, 28 Bremen. | "Evangelische Jugendarbeit (Projekte, Konzeptionen)".

Hilde Sordon, Ruschhausweg 186, 44 Munster. I "Bildungsurlaub in der BRD - Gesetzestexte, Ausfiihrungsbestimmun-

gen etc.". Rolf Brede, Hauptstr. 66, 5411 Weitersburg. I Suche Material und Adressen flir Diplom-Arbeit: "Al ternativen zur

Heimerziehung"; Christine Crohn, Kirchbauerschaft 40a, 4401 Nord-

walde. I Der BDP/BDJ plant die Herausgabe eines Verzeichnisses von selbst-

organisierten Bildungs- und Tagungsstatten sowie Zeltplatze und

bittet urn entsprechende Adressenangaben (eilt).

Telefon: 0611/777 010.

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ARBEITSFELDMATERIALIEN ZUM SOZIALBEREICH

DEN WIDERSTAND ORGANISIEREN!

MANIFEST DES SB ZUM PFINGSTKONGRESS 1976

Monika Fuhrke: STAATLICHE SOZIALPOLITIK

Eine Untersuchung

zur Entwicklung des Systems

der Sozialen Sicherheit im Kapitalismus

Offenbach im April 1976 - Preis acht Mark

Der PfingstkongreB des Sozial istischen Bliros hat gezeigt, daB sich die Basis im Kampf gegen politische Unterdriickung und dkonomische Ausbeu- tung verbreitet und daB es wirksame Ansatzpunkte der Gegenwehr gibt. Der KongreB hat gezeigt, daB die Linke in der Bundesrepubl ik sich nicht einschuchtern la'Bt, daB sie fahig ist, in solidarischer und kon- struktiver Diskussion Handlungsmbglichkei ten gegen die Repression zu erarbeiten und daB sie bereit ist, diese auch unter den schwierigen Bedingungen der Unterdriickung in sozial istische Praxis und in ihren Lebens- und Arbei tsbereichen umzusetzen.

Das Arsenal der politischen Unterdriickung ist von den Herrschenden in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gescharft und ausgebaut wor- den - von der standigen Diffamierung aller entschiedenen Demokraten iiber juristisch kaum faBbare Diszipl inierungen in Betrieben und Ver- waltungen, in Schulen und Krankenhausern und selbst in manchen Ge- werkschaften bis hi n zu den offenen Berufsverboten, der Anwendung der sogenannten Gewaltparagraphen und den Verscharfungen im politischen Strafrecht und Strafvollzug.

Im Namen der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" werden So- zialisten und Kommunisten und - wie kbnnte es in einem sich ausbrei- tenden Klima von Angst und Denunziation anders sein - zunehmend auch unbequeme Liberale und linke Sozialdemokraten politisch verfolgt. Hier gilt es, den Anfangen zu wehren und nicht erst dann Protest anzumel- den, wenn es bereits zu spat ist. Liberale und Sozialdemokraten, so- weit sie Demokratie noch ernst nehmen, sind genauso zum Widerstand aufgerufen wie Sozial isten und Kommunisten. Bisher wenden sich Sozial- demokratie und Gewerkschaften nur dann gegen UnterdruckungsmaBnahmen, wenn Mitglieder ihrer Organisationen allzu offensichtl ich betroffen sind. Wenn sich jetzt fiihrende Funktionare der soziall iberalen Par- teien aus AnlaB der bevorstehenden Bundestagswahl von den Berufsver- boten zu distanzieren versuchen, so dlirfen wir uns dadurch in unserem Widerstand gegen Repression nicht beeintrachtigen lassen. MaBstab un- seres Handelns kbnnen nicht Erklarungen von Parteien sein, sondern nur Veranderungen in der politischen Praxis.

Im Ausland wa'chst die Kritik an der politischen Repression in der BRD. Dort weiB man aus bitteren Erfahrungen, daB ein Land, das entschiede- ne Demokraten zu inneren Feinden aufbaut und dann verfolgt, auch nach auBen eine reaktionare Politik betreibt. Das westeuropaische Ausland furchtet Vormachtanspruche der BRD und deren zunehmende Bestrebungen, demokratische Bewegungen - und damit insbesondere Kommunisten und So- zialisten - auch in anderen Landern machtpol itisch abzublocken. Die westdeutsche Linke steht so in einer Front mi t alien demokratischen Gruppierungen in Europa und in der Abwehr der politischen Unterdruk-

kung.

Der Kampf gegen politische Unterdriickung und bkonomische Ausbeutung wird nicht allein durch einen KongreB geleistet. Die dffentliche Dar- stellung der vielen Formen von Repression, die breite Diskussion der Abwehrmbglichkeiten, eine bffentliche Manifestation gegen alle Unter-

■m

ilige11 fe risier-

S™^ Und fUr D™°kratie reichen nicht aus. Vnelmehr neqenarbeitPn "r.hangmsvollen Uirkungen der Repression nur d.nn ent ganisieren S«h»?h "^ ^ Widerstand Uber diesen KongreB hinaUS or Pro eB der Oraani ^ '!*" Pf in9stkongreB fur uns nur ein Schn" •tomb der Organlslerung der Gegenwehr gegen alle Formen der Repres

Arbeilsplatz'erfnlf " ^ R*^i0n muB in erster Unie am jeweiM9 fur BetroTfLr r!h9 ^ln d-er Irlf°™tion der Kollegen, in der Hil« tem Widerltand: Bedr°hte' ft^t)iche und nicht zuletzt in org*

indlrik? Be'troffpn erfor*rt fina^ielle Unterstutzung der direkt u,, rufsposition vllZt und Gefa^deten. Jeder, der uber eine feste Be leisten - Wir alll' »* «uf9efordert. finanzielle Unterstutzung »

tltsfonds be annt bu^h ^S-?T Kongre* die GrUndun9 elnes he Aktivltaten 'HUSndM Falle b«°nderer Not, aber auch pol]^s!rS0t

arbeir zu finanH 6 Rept\essi'°n «nd Projekte selbstorgani sierter Anti iw« ?1eren Slnd- Aus dem bisheriqen Spendenauf konmen der St k" r ^ar tTZ ^"/oziaiistischen 'Zll 'werden als GruJ es ist ein If ,,- n F-°nds eln9ebracht. Das ist nicht viel, a»e'

dieses s" id ts onds" ^r' F ?l?eP SP-d^tion zugunS k.

tiven auf sirh IS -Z Gleichzeitig fordern wir die polltlS^n-. gen so fest u n n, 8n uberscha"baren Arbeits- und Wohnzusammenhan

pol tischSiH V°n Repre5si0" "nd ihrer Folgen benotigt auch die pre s onsmaB ahIPA Je!l19e^ die durch Berufsverbote und andere Re ArbeUskraf? ka h d™.Arbei'tsProzeB hinausgeworfen wurden. I^e

iven

an

men aus dem ArbeitsprozeB hinausgeworfen wurden. J nn der 1so lerenden und individual isierenden Wirku keiten und Arbeit^lfl bel.tslosigkeit entgegensteuern. Ihre FKMfl Organisierun un PnlM"™1 ZU einem Instrument der kollektiven Initi run 0 cher orh erUnfl Werden" " wir ™fen d«halb auf und Freizeitproiekte fur ^h f1°r9anisierter "Rotarbeit" wie Lern- un° Stadtteilen Ht i arbeitsl°se Schulabganger, soziale Projekte m

ss ill SiS- '*<«& fesssagr

len, KuftXeit usw 9 V°" emanziPatorischen Unterrlchtsmodel-

pressive S^I^V^lff iSC?W Unterdruckung erfordert, d.B die Offent 11 hke ?t eb a ht "^ lscha«lichen Bereichen zuglei'h a kann, er habe vo allS™ r^' dami * niema"d noch einmal sage" versucht S uel f ^^ Die Politik der RePreSSlLni'

pulieren. Desha b mS sen wir gLSIwJ*1!?^ Me1nung fUr S1'C^ '" - Aktive Bekampfung von Repression °ffefnt\^ke\t herstellen! besondere mit der Linken in llll " erfordert die Zusanimenarbeit in Demokraten und Sozia is?en in h eUp0p^' da die Diszlplinierung vo" Wir rufen sie auf! mi uns U Bund«republ ik auch sie bedroht- und dkonomische AusSeJtung zu ka^pfen9696" politische Unterdruckung

ERFAHRuKgEN KlE HIEREENTSTr,^Tr[!EM PFINGSTKONGRESS GEWONNENEN BEREICHEN DER BUNDESREPUB Tk S ^1^ ARBEITSMOGLICHKEITEN IN ALLEN SETZEN! DIESER KONGRESS Sar N..S ^RA,KTISCHE POLITISCHE ARBEIT UMZU- KAMPF GEGEN DIE UNTERDRoJkUNG FORT' ""'' SETZEN WIR GEMEI

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bei Bank fur G™ei-.J.-„?f^k?nt° Frankfurt Nr. ?q««n.finR nrier GiroW"1

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